Rehabilitation, Physikalische Medizin und Naturheilverfahren [1. Aufl] 9783540334132, 3540334130, 3540334114

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Rehabilitation, Physikalische Medizin und Naturheilverfahren [1. Aufl]
 9783540334132, 3540334130, 3540334114

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Springer-Lehrbuch

Chr. Gutenbrunner J.-J. Glaesener

Rehabilitation, Physikalische Medizin und Naturheilverfahren Mit 62 Abbildungen und 57 Tabellen

123

Professor Dr. med. Christoph Gutenbrunner Medizinische Hochschule Hannover Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation Institut für Balneologie und Medizinische Klimatologie Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover

Dr. med. Jean-Jacques Glaesener Allgemeines Krankenhaus St. Georg Abteilung für Fachübergreifende Frührehabilitation und Physikalische Medizin Lohmühlenstr. 5 20099 Hamburg

ISBN-10 3-540-33411-4 ISBN-13 3-540-978-3-540-33411-8 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. springer.com © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Peter Bergmann, Heidelberg Lektorat: Ursula Illig, Stockdorf Projektmanagement: Axel Treiber, Heidelberg Design: deblik Berlin Satz und Reproduktion der Abbildungen: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck: Stürtz GmbH, Würzburg SPIN 10983386 Gedruckt auf säurefreiem Papier

15/2117/AT – 5 4 3 2 1 0

V

Vorwort »Rehabilitation, Physikalische Medizin, Naturheilverfahren« ist nach der 9. Novelle der Approbationsordnung für Ärzte einer von 12 Querschnittsbereichen und somit Bestandteil der Pflichtlehre geworden. Um diesen sehr umfassenden Bereich, der neben dem Fachgebiet der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin auch die Naturheilverfahren beinhaltet, lernbar zu machen, musste für das vorliegende Buch eine Gliederung gewählt werden, die – wie alle Gliederungen – dem ganzheitlichen und personenorientierten Ansatz der Rehabilitation widerspricht. So werden in der klinischen Praxis die Diagnostik in Physikalischer Medizin und Rehabilitation immer parallel und miteinander verzahnt durchgeführt. Auch die Behandlung und Rehabilitation eines Patienten wird stets Elemente aus allen drei Bereichen des Querschnittsbereiches enthalten. Die aus didaktischen Gründen gewählte Gliederung soll eine leichte Orientierung ermöglichen und umfasst: 4 Physikalische Medizin 4 Rehabilitation 4 Naturheilverfahren Jeder dieser Abschnitte enthält Kapitel zu Grundlagen und Definitionen, zur Diagnostik (Ausnahme: Naturheilverfahren) sowie zu Therapiemitteln bzw. Interventionen. Durch diese Vorgehensweise tritt der klinische Bezug zu Patienten und Rehabilitanden mit bestimmten Krankheiten oder Behinderungen in den Hintergrund. Eine systematische diagnosebezogene Darstellung der Physikalischen Medizin und Rehabilitation sowie der Naturheilverfahren hätte den Rahmen dieses Buches gesprengt. Dennoch haben wir den klinischen Bezug in den einzelnen Kapiteln durch Fallbeispiele hergestellt. Die gewählte Systematik entspricht einem von den Fachgesellschaften erarbeiteten Konsens. Das Buch eignet sich somit zum Nachschlagen und systematischen Lernen. Selbstverständlich können Unterrichtsveranstaltungen auch in anderer Weise, z. B. patientenzentriert aufgebaut werden. Aber auch in diesem Fall wird auf das systematische Lernen und Nachschlagen nicht verzichtet werden können. An dieser Stelle soll auch darauf hingewiesen werden, dass die Physikalische Medizin und Rehabilitation nicht nur Bestandteil der studentischen Lehre ist, sondern weltweit ein eigenständiges medizinisches Fachgebiet darstellt. In Deutschland gibt es seit 1992 eine eigene Facharztbezeichnung »Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin« mit fünfjähriger Weiterbildungszeit. Arbeitsbereiche sind Abteilungen für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Abteilungen für Frührehabilitation in Akutkrankenhäusern, ambulante und stationäre Rehabilitationseinrichtungen und der niedergelassene Versorgungsbereich (Vertragsarztpraxis, Privatpraxis). Weitere Zusatzweiterbildungen für Ärzte mit anderen Facharztbezeichnungen im Bereich des Fachgebietes sind »Physikalische Therapie und Balneologie«, »Rehabilitationswesen«, »Manuelle Medizin« und »Naturheilverfahren«. Mit Ausnahme von Malta gibt es in allen europäischen Ländern entsprechende Facharztbezeichnungen, wenn auch mit regionalen Unterschieden: So liegt die Betonung des Faches in angelsächsischen und skandinavischen Ländern stärker auf der klinischen Rehabilitation (umgangssprachlich: »rehabdoctor«), während in Südeuropa die Physikalische Medizin stärker betont wird (umgangssprachlich: »physiatrist«) (Info über das Fachgebiet in Europa: www.euro-prm.org). Die Physikalische Medizin und Rehabilitation ist als wissenschaftliches Fachgebiet in allen Europäischen Ländern durch wissenschaftliche Fachgesellschaften vertreten, die ihrerseits Mitglieder der Europäischen und Internationalen Organisationen sind (www.esprm.org; www.isprm.org). Infos über die Fachgesellschaften in den deutschsprachigen Ländern finden sich unter www.dgpmr.de; www.members.aon.at/oegpmr; www.rheuma-net.ch; www.simfer.it.

VI

Vorwort

Die Herausgeber danken allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und auch dafür, dass sie im Interesse einer einheitlichen Gliederung eigene Vorstellungen zurückgestellt haben. Darüber hinaus wird dem Springer-Verlag, insbesondere Herrn Treiber und Herrn Bergmann von der Abteilung Lehrbuch für die gute Kooperation herzlich gedankt. Ein besonderer Dank gilt auch der Lektorin des Buches, Frau Illig, die in konsequenter und sehr konstruktiver Weise letzte Ungereimtheiten und Schwächen beseitigt hat. Nicht zuletzt danken wir den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Klinik Physikalische Medizin und Rehabilitation der Medizinischen Hochschule Hannover und der Abteilung für Fachübergreifende Frührehabilitation und Physikalische Medizin des AK St. Georg für die zahlreichen Beiträge, Korrekturen und die Mithilfe bei der Erstellung der Abbildungen. Dies gilt insbesondere für Frau Daniela Östreich für ihre wichtigen Ergänzungen aus Sicht der Sportwissenschaften sowie für Frau Doris Lemke, Frau Fadime Candir, Frau Regina Klahn, Frau Irmgard Jönsthövel und Frau Margot Grewohl. Hannover und Hamburg, im Sommer 2006 Universitätsprofessor Dr. med. Christoph Gutenbrunnner Dr. med. Jean-Jacques Glaesener

VII

Übersicht über die didaktische Gliederung des Buches

Der neue Gutenbrunner/Glaesener Einleitung Kurze Übersicht zum Kapitelinhalt

34

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

3.1.1 Definition und Grundlagen

> > Einleitung

Leitsystem führt durch die Sektionen

3

In diesem Kapitel werden die wichtigsten Therapiemittel in der Physikalischen Medizin einzeln abgehandelt und ihre Indikationen und Kontraindikationen angegeben. Da die Krankengymnastik und die Ergotherapie neben den (basalen) Therapietechniken auch komplexe Therapiekonzepte umfassen, werden sie in diesem Buch an zwei Stellen abgehandelt: In diesem Abschnitt werden zunächst die wichtigsten Techniken und ihre Wirkungen,

Verweise auf Kapitel, Tabellen und Abbildungen zur Quervernetzung der Information

Indikationen und Kontraindikationen beschrieben. Die komplexen Konzepte und ihre Anwendung in der Rehabilitation sind Gegenstand der 7 Kap. 6.1 bzw. 7 Kap. 6.2.

3.1

Wichtig: Zentrale Informationen auf einen Blick

> Krankengymnastik ist ein Teil der Bewegungstherapie. Sie versucht, mittels aktiver und passiver Bewegungen Krankheiten zu behandeln und insbesondere krankhaft gestörte Körperfunktionen zu verbessern.

Übergänge bestehen zur Medizinischen Trainingstherapie und Sporttherapie, die ebenfalls Bewegungsübungen zu therapeutischen Zwecken nutzen, aber stärker auf die trainierenden Wirkungen von Bewegungsübungen abzielen (7 Kap. 3.3). Neben den therapeutischen Techniken umfasst die Krankengymnastik auch eine anwendungsbezogene Diagnostik (Befunderhebung).

Krankengymnastische Techniken Chr. Gutenbrunner, J.J. Glaesener

Inhaltliche Struktur: Klare Gliederung durch alle Kapitel

Zahlreiche Abbildungen veranschaulichen komplexe Sachverhalte

Tabellen: Kurze Übersicht der wichtigsten Fakten

Nach dem deutschen Physiotherapeutengesetz bezeichnen sich Krankengymnasten heute als Physiotherapeuten. Ihr Tätigkeitsfeld wurde um andere Physikalische Therapiemittel erweitert (z. B. Massagen). Daher sind die Begriffe Krankengymnastik und Physiotherapie nicht gleichzusetzen. In diesem Kapitel wird die von Physiotherapeuten durchgeführte Bewegungstherapie (= Krankengymnastik) abgehandelt.

a

b

. Abb. 3.3a, b. Haltungsschulung auf dem Pezziball. a Ausgangsstellung, b Dehnen ventraler Strukturen (Aus HaarerBecker und Schroer 1996)

. Tabelle 3.1. Krankengymnastische Techniken

Gruppe

Beispiele

Passive Techniken

Passives Durchbewegungen, Lagerungstechniken, Extensionen, Traktionen

Aktive Bewegungen

Aktiv-assistives Bewegen, resistive Bewegungen (aktive Bewegungen gegen Widerstand)

Komplexe Bewegungen

Übung komplexer Bewegungsabläufe (z. B. Gehen, Greifen)

Übung spezieller Aktivitäten

Transferübungen (z. B. Bett–Rollstuhl, Rollstuhl–Toilette), Gehübungen, Übung von Aktivitäten des täglichen Lebens (»activities of daily living«, ADL)

Herz-Kreislauf-Training

Ausdauerleistungstraining, aber auch Übungen zur Erhaltung der Orthostasereaktion

Atemübungen

Übungen zur Steigerung der Inspirationstiefe und Verminderung von Totraumatmung

Mechanische Stimulationen

Triggerpunktbehandlung, Querfriktionen, Fazilitationstechniken, Vibrationen

Übungen mit Geräten

Übungen mit dem Pezziball oder im Schlingentisch

Entspannungstechniken

Postisometrische Relaxation, Atmungstechniken

Übersichten/Aufzählungen: Wichtige Fakten werden übersichtlich dargestellt und erleichtern das Lernen

Cave: Vorsicht! Bei falschem Vorgehen Gefahr für den Patienten

39 3.1 · Krankengymnastische Techniken

Navigation: Kapitel und Seitenzahlen für die schnelle Orientierung

3

! Durch Krankheit oder Verletzung geschädigte

Indikationen der manuellen Lymphdrainage 5 Primäre und sekundäre Lymphödeme 5 Lipödem 5 Ödeme bei venöser Insuffizienz inkl. Ulcus cruris venosum 5 Posttraumatische Ödeme 5 Ödeme im Rahmen des chronisch-regionalen Schmerzsyndroms (Morbus Sudeck) 5 Sklerodermie

ä Beispiel Ein 57-jähriger übergewichtiger Mann klagt über seit 6 Wochen bestehende tiefsitzende Rückenschmerzen mit Ausstrahlung in den linken Oberschenkel (dorsolateral). In der klinischen Untersuchung wird eine Hyperlordose der Lendenwirbelsäule bei schwacher Bauch- und Rückenmuskulatur, eine Blockierung (7 Kap. 3.4) des linken Sakroiliakalgelenks (SIG) und Verspannung der paravertebralen Muskulatur festgestellt. Eine gravierende Strukturstörung konnte mit bildgebenden Verfahren ausgeschlossen werden. Verordnet werden eine dreimal wöchentliche Krankengymnastik mit passiver Mobilisierung des SIG, Übungen zur aktiven Aufrichtung des Rumpfes sowie postisometrische Entspannungsübungen der Rückenmuskulatur. Darüber hinaus wird eine Anleitung zu selbstständigem Training der Rumpfmuskulatur und die Einübung rückenschonender Bewegungsabläufe empfohlen. Die SIG-Mobilisierung führt zu einer raschen Schmerzreduktion, insbesondere der pseudoradikulären Schmerzausstrahlung. Im Verlauf der Therapieserie (10-mal) verbessert sich auch die Körperhaltung des Patienten. Nach 8 Wochen der Selbstbehandlung ist auch der Trainingszustand seiner Rumpfmuskulatur gebessert.

Organe und Organsysteme dürfen nicht überlastet bzw. weiter geschädigt werden.

Folgende Grundregeln sind in jedem Fall zu beachten: 4 Gelenkmobilisationen sind kontraindiziert bei akuten Entzündungen der betroffenen Gelenke, bei Bandrupturen oder starken Beeinträchtigungen der mechanischen Belastbarkeit von Bändern und Knochen. 4 Vorsicht geboten ist beim Muskeltraining der betroffenen Muskulatur bei allen traumatischen und entzündlichen Muskelerkrankungen. Anhaltspunkte können erhöhte CK-Werte sein, die allerdings auch bei Muskelüberlastungen (»Muskelkater«) auftreten können. 4 Ausdauerleistungstraining ist kontraindiziert bei akuten Myokardschäden, Aneurysmen, unzureichend eingestellter arterieller Hypertonie sowie bei allen schweren und konsumierenden Erkrankungen. p Wichtig ist bei jeder Verordnung von Krankengymnastik, dass vom Arzt die Grenzen der Belastbarkeit angegeben und dem Therapeuten mitgeteilt werden.

3.1.7 Dosierung und Kombinations-

möglichkeiten Ähnlich wie bei Indikationen und Kontraindikationen können auch für die Dosierung keine allgemeingültigen Regeln aufgestellt werden, Therapieziel und der Belastbarkeit des Kranken abhängig ist. Zu verordnen sind in jedem Fall die Dauer der Einzelbehandlung.

Hydrogalvanische Bäder

Fazit

Das hydrogalvanische Vollbad (Stangerbad) erfolgt in speziellen Badewannen mit flächenhaften am Wannen-

Krankengymnastische Techniken bestehen aus aktiven oder passiven Bewegungen und zielen

rand befestigten Elektroden bei einer indifferenten Wassertemperatur von 36–38°C. Geachtet werden muss auf eine optimale Lagerung des Patienten in der Wanne, ggf. mit Fußstütze. Vorsicht ist geboten bei akuter Lumbalgie, da es zu einem kyphotischen Durchhängen der Lendenwirbelsäule kommen kann. Die elektrische Polung erfolgt in der Regel von kranial nach kaudal, d. h. Anode am Kopf, Kathode an den Füßen.

stets auf Funktionsverbesserungen. Es kann sich dabei um eine kausale Therapie handeln, wenn das zu behandelnde Krankheitsbild durch Funktionsstörungen ausgelöst und charakterisiert ist. Dies ist z. B. häufig bei chronischen Zervikal- oder Lumbalsyndromen aber auch beim metabolischen

Der klinische Fall Typische Fallbeispiele zum Thema

6

Vertiefungswissen Interessante Zusatzinformationen, die über das Grundlagenwissen hinausgehen

Fazit: Wiederholung der wichtigsten Fakten zu jedem Krankheitsbild zur Vorbereitung auf die Prüfung

Hervorhebungen der wichtigsten Schlüsselbegriffe

Praxistip Hinweise von erfahrenen Anwendern zur praktischen Umsetzung des Erlernten

XI

Inhaltsverzeichnis I.

Physikalische Medizin

1

Grundlagen der Physikalischen Medizin

1

1.1 1.2

Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6 1.2.7 1.2.8

Reiz-Reaktions-Prinzip . . . . . . . . . . . Entlastung und Schonung . . . . . . . . Hemmung und Bahnung, Habituation Sensomotorische Adaptation . . . . . . Funktionelle Adaptation . . . . . . . . . Trophisch-plastische Adaptation . . . . Neuroplastizität . . . . . . . . . . . . . . . Psychische Wirkungen und Verhaltensänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielstellungen . . . . . . . . . . . . . . . Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

2 3 3 4 4 5 5 8 9

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

10 11 11 12 12 12

2

Diagnostik in der Physikalischen Medizin 13

2.1 2.2

Spezielle Anamneseverfahren . . . . . . . . 14 Funktionsbezogene klinische Befunderhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

2.2.1

Funktionsbezogene Untersuchung des Bewegungsapparates . . . . . . . . . . . . . . . 16 Funktionsbezogene Untersuchung des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Funktionsbezogene Kreislaufuntersuchung . . 24

2.2.2 2.2.3

2.3

Funktionsbezogene apparative Messverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

2.3.1 2.3.2 2.3.3

Muskelfunktionsanalyse . . . . . . . . . . Nervenfunktionsanalyse . . . . . . . . . . Bewegungsanalyse (inkl. Stand- und Ganganalyse) . . . . . . . . . . . . . . . . . Algometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thermographie . . . . . . . . . . . . . . . . Arthrosonographie . . . . . . . . . . . . . . Kreislauf- und Lungenfunktionsanalyse .

2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7

. . . 25 . . . 25 . . . . .

. . . . .

. . . . .

26 27 29 29 29

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3 3.1

Therapiemittel in der Physikalischen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Krankengymnastische Techniken . . . . . 34

3.1.1 3.1.2 3.1.3

Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . . . 34 Techniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Wirkungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . 36

3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7

Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . Dosierung und Kombinationsmöglichkeiten

38 39 39 39

3.2

Ergotherapeutische Techniken. . . . . . . . Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . . . Anamnese und Befunderhebung . . . . . . . . Behandlungsverfahren und Techniken . . . . Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit . . Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . Dosierung und Kombinationsmöglichkeiten

43 43 43 44 47 48 49 49

3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7

3.3

Sporttherapie und Medizinische Trainingstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . 49

3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5

Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . Methoden und Therapiemittel . . . . . . . Sporttherapeutische Konzepte . . . . . . . Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit Indikationen, Kontraindikationen und Kombinationsmöglichkeiten . . . . . . . . . Manuelle Medizin . . . . . . . . . . . . . . Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . Chirodiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Blockierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Techniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit Indikationen, Kontraindikationen und Kombinationsmöglichkeiten . . . . . . . . . Massagetherapie . . . . . . . . . . . . . . . Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . Klassische Massage . . . . . . . . . . . . . . . Manuelle Lymphdrainage . . . . . . . . . . Unterwasserdruckstrahlmassage . . . . . . Lymphtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . Definition und Grundlagen . . . . . . . . . Techniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindikationen . . . . . . . . . . . . . . .

3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6

3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4

3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4

. . . .

. . . .

49 50 50 54

. . . . . . .

. . . . . . .

54 55 55 56 57 58 60

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

60 61 61 62 63 64 64 64 65 68 68

3.7

Elektro- und Ultraschalltherapie . . . . . . 69

3.7.1 3.7.2 3.7.3 3.7.4 3.7.5 3.7.6 3.7.7

Definition und Grundlagen . Niederfrequenztherapie . . Mittelfrequenztherapie . . . Hochfrequenztherapie . . . Indikationen . . . . . . . . . . Kontraindikationen . . . . . Ultraschalltherapie . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

69 69 72 73 73 73 73

XII

Inhaltsverzeichnis

3.8

Wärme- und Kälteträgertherapie . . . . . . 75

3.15.2

Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

3.8.1 3.8.2 3.8.3 3.8.4

Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit Wärmeträgertherapie . . . . . . . . . . . . . Kälteträgertherapie . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

75 75 76 78

3.16

Heilmittelverordnung und Heilmittelrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

3.9

80 80 80 82 84 84 84 84 86 88 88 88

Heilmittelverordnung . . . . . . . . . . Heilmittelrichtlinie . . . . . . . . . . . . Grundbegriffe der Heilmittelrichtlinie Heilmittelkatalog . . . . . . . . . . . . .

3.10.1 3.10.2 3.10.3 3.10.4 3.10.5

Hydrotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . . . Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit . . Methoden und Therapiemittel . . . . . . . . . . Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . Balneotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . . Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit . . Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . Dosierung und Kombinationsmöglichkeiten

3.16.1 3.16.2 3.16.3 3.16.4

3.11

Klimatherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

3.11.1 3.11.2 3.11.3 3.11.4 3.11.5

Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . Klimaexposition . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindikationen . . . . . . . . . . . . . . Inhalationstherapie . . . . . . . . . . . . . Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . Techniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikationen, Kontraindikationen und Dosierung . . . . . . . . . . . . . . . . . Phototherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition und Grundlagen . . . . . . . . . Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit UV-B-Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . UV-A-Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Photosole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Photochemotherapie . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen und Richtlinien . . . . . . Nebenwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindikationen . . . . . . . . . . . . . . .

3.9.1 3.9.2 3.9.3 3.9.4 3.9.5

3.10

3.12 3.12.1 3.12.2 3.12.3 3.12.4

3.13 3.13.1 3.13.2 3.13.3 3.13.4 3.13.5 3.13.6 3.13.7 3.13.8 3.13.9

. . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

90 91 92 93 94 94 94 94 97

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

98 98 98 99 99 99 100 100 100 100 101

3.14

Diagnostische und therapeutische Lokalanästhesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

3.14.1 3.14.2 3.14.3 3.14.4 3.14.5 3.14.6

Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . . . Diagnostische Lokalanästhesie (DLA) . . . . . Therapeutische Lokalanästhesie (TLA) . . . . Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindikationen . . . . . . . . . . . . . . . . Nebenwirkungen und Vorsichtsmaßnahmen Komplextherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . . .

3.15 3.15.1

101 102 103 104 104 104 104 104

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

108 108 109 110

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

II.

Rehabilitation

4

Grundlagen der Rehabilitation . . . . . . . 113

4.1 4.2

Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Allgemeine Rehabilitationsziele . . . . . . 118

4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4

4.4 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4

Allgemeine Rehabilitationsziele auf der Patientenebene . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Rehabilitationsziele auf der Ebene des Rehabilitationssystems . . . . . Allgemeine Rehabilitationsziele auf der Ebene der Körperfunktionen . . . . . . . . Allgemeine Rehabilitationsziele auf der Ebene der Aktivitäten und Teilhabe . . . . Indikationsstellung und Zuweisung . . Rehabilitationsformen . . . . . . . . . . . Medizinische Rehabilitation . . . . . . . . . Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation) . . . . . . . . . . Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (soziale Rehabilitation) . . . Sonstige unterhaltssichernde und ergänzende Leistungen zur Teilhabe (finanzielle Zuschüsse) . . . . . . . . . . . . .

. . 119 . . 119 . . 119 . . . .

. . . .

141 121 124 124

. . 131 . . 131

. . 131

4.6

Rechtliche Grundlagen und Finanzierung der Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

5

Diagnostik in der Rehabilitation . . . . . . 135

5.1 5.2 5.3

Rehabilitationsanamnese . . . . . . . . . . Assessmentinstrumente . . . . . . . . . . . Methoden zur Beurteilung von Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . Kriterien der Rehabilitationsbedürftigkeit und -fähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . Evaluation des Rehabilitationsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialmedizinische Leistungsbeurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.4 5.5 5.6

. 136 . 137 . 143 . 145 . 147 . 148

XIII Inhaltsverzeichnis

6

Rehabilitative Interventionen . . . . . . . . 149

6.1

Krankengymnastische Konzepte . . . . . . 151

6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben im rehabilitativen Prozess . Krankengymnastische Konzepte . . . Durchführung . . . . . . . . . . . . . . .

6.2

Ergotherapeutische Konzepte . . . . . . . . 158

6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5

Grundlagen . . . . . . . . . . . . Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . Assessment . . . . . . . . . . . . Ergotherapeutische Konzepte . Durchführung . . . . . . . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

158 159 160 160 162

6.3

Logopädie . . . . . . . . . . . . . Definition und Grundlagen . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . Umgang und Kommunikation mit Aphasikern . . . . . . . . . . Dysphagietherapie . . . . . . . Definition und Grundlagen . . . Pathophysiologie . . . . . . . . . Einteilung . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

162 162 165 166

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Therapie . . . . . . Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . . Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Zerebrale Seh- und Wahrnehmungsstörungen, Neglect . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnisstörungen . . . . . . . . . . . . . . Apraxien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einschränkungen von Exekutivfunktionen, Affekt und Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . Medikamentöse Therapie . . . . . . . . . . Psychostimulanzien . . . . . . . . . . . . . . . Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spastikreduzierende Medikamente . . . . . Schmerzmittel bei neuropathischen Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rehabilitative Pflege. . . . . . . . . . . . . . Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflegekonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

167 168 168 168 170 170 172 174 174 175

6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4

6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5

6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.5.4 6.5.5 6.5.6

6.6 6.6.1 6.6.2 6.6.3 6.6.4

6.7 6.7.1 6.7.2 6.7.3

6.8 6.8.1 6.8.2

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

151 151 151 155

. 176 . 176 . 177 . . . . .

178 179 180 180 181

. . . . .

182 182 183 183 184

Angehörigenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Rehabilitation bei Patienten mit schwerem erworbenem Hirnschaden . . . . . . . . . . . . 185 Funktion des Angehörigen im therapeutischen Prozess . . . . . . . . . . . . . 186

6.8.3 6.8.4 6.8.5

6.9

Voraussetzungen für den Einsatz der Angehörigen in der Rehabilitation . . . . . . . 187 Berücksichtigung der Probleme des Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Hilfestellung für den Angehörigen . . . . . . . 187

Rehabilitative Hilfsmittel . . . . . . . . . . Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . . Hilfen für Aktivitäten des täglichen Lebens . Hilfsmittel zur Mobilität . . . . . . . . . . . . . Hilfsmittel zur Kommunikation . . . . . . . . Prothesenversorgung . . . . . . . . . . . . . . Weitere therapeutische Hilfsmittel . . . . . .

. . . . . . .

188 188 189 190 191 192 192

6.10.1 6.10.2 6.10.3 6.10.4

Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . . . Physikalisch-medizinische Schmerztherapie Medikamentöse Schmerztherapie . . . . . . . Psychologische Schmerztherapie . . . . . . . .

193 193 195 197 199

6.11

Psychologische Interventionen . . . . . . . 202

6.11.1 6.11.2

Definition und Grundlagen . . . . . . . . . Psychologische Aufgabenfelder in der medizinischen Rehabilitation . . . . . . . Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . Indikationen für psychologisch-psychotherapeutische Maßnahmen . . . . . . . .

6.9.1 6.9.2 6.9.3 6.9.4 6.9.5 6.9.6

6.10

6.11.3 6.11.4

. . . 202 . . . 202 . . . 204 . . . 204

6.12

Künstlerische und körperorientierte Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

6.12.1 6.12.2 6.12.3 6.12.4

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musiktherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunsttherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperorientierte Therapien . . . . . . . . . Patientenschulung . . . . . . . . . . . . . . Definition und Grundlagen . . . . . . . . . . Bewältigung einer chronischen Krankheit Schulungsprogramme . . . . . . . . . . . . .

6.13 6.13.1 6.13.2 6.13.3

. . . . . . . .

. . . . . . . .

205 206 208 209 211 211 211 212

6.14

Arbeits- und berufsbezogene Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

6.14.1

Wechselwirkungen zwischen Gesundheit und Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . . . Rehabilitation der Rentenversicherung . . Arbeitsbezogener Rehabilitationsbedarf . Inhalte der arbeits- und berufsbezogenen Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6.14.2 6.14.3 6.14.4

. . 214 . . 214 . . 215 . . 216

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

XIV

Inhaltsverzeichnis

III.

Naturheilverfahren

7

Definitionen und Klassifizierung der Naturheilverfahren . . . . . . . . . . . . 219

7.1 7.2

Begriffe und Definitionen . . . . . . Naturheilmittel und Konzepte der Naturheilverfahren . . . . . . . . . . Natürliche Therapie . . . . . . . . . . Alternative Therapie . . . . . . . . . Wissenschaftlicher Nachweis . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7.3 7.4 7.5

. . . . . 220 . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

221 222 224 225 226

8

Methoden und Anwendung der Naturheilverfahren . . . . . . . . . . . . . 227

8.1

Klassische Naturheilverfahren . . . . . . . . 228

8.1.1 8.1.2

Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Therapieformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

8.2

Komplexe Konzepte der Naturheilverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

8.2.1 8.2.2

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Konzepte, die auf Erstbeschreiber oder traditionelle Philosophien zurückgehen . . . 240

8.3

Klinisch-pragmatische Anwendung von Naturheilverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 244

8.3.1

Diabetes mellitus und metabolisches Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Chronisch-rezidivierende Atemwegserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Osteoporose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

8.3.2 8.3.3

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

XV

Autorenverzeichnis Dr. med. Marc Oliver Armbruster Allgemeines Krankenhaus St. Georg Abteilung für Dermatologie Lohmühlenstr. 5 20099 Hamburg

Dr. med. Michael Bernateck Medizinische Hochschule Hannover Rheumatologie Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover

Dr. med. Inge Ehlebracht-König Reha-Zentrum Bad Eilsen Brunnenpromenade 2 31707 Bad Eilsen

Prof. Dr. med. Christoph Gutenbrunner Medizinische Hochschule Hannover Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation Institut für Balneologie und Medizinische Klimatologie Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover

Dr. med. Hanno Irle Deutsche Rentenversicherung Bund Referat 0441 Postfach 10704 10704 Berlin

PD. Dr. med. Gerald Küther PD Dr. med. Matthias Fink Medizinische Hochschule Hannover Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover

Medizinische Hochschule Hannover Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover

PD Dr. med. Ines-Helen Pages Dr. med. Michael Gadomski Tristanstr. 4 80804 München

Prof. Dr. med. Axel Gehrke Medizinische Hochschule Hannover Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover

Dr. med. Jean-Jacques Glaesener Allgemeines Krankenhaus St. Georg Abteilung für fachübergreifende Frührehabilitation und Physikalische Medizin Lohmühlenstr. 5 20099 Hamburg

Klinikum der Stadt Ludwigshafen Institut für Physikalische und Rehabilitative Medizin Bremserstr. 79 67063 Ludwigshafen

Dr. med. Anselm Reiners Städtisches Klinikum München GmbH Klinikum Bogenhausen Klinik für Frührehabilitation und Physikalische Medizin Englschalkinger Str. 77 81925 München

Dr. med. Anett Reißhauer Universitätsklinikum Charité Medizinische Fakultät Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation Schumannstr. 20/21 10098 Berlin

Dr. med. Andreas Römer Städtisches Klinikum München GmbH Krankenhaus München-Schwabing Abteilung Physikalische Medizin und medizinische Rehabilitation Kölner Platz 1 80804 München

PD Dr. med. Christian Sander Allgemeines Krankenhaus St.Georg Abteilung für Dermatologie Lohmühlenstr. 5 20099 Hamburg

Dr. med. Melanie Schimmer Allgemeines Krankenhaus St. Georg Abteilung für Dermatologie Lohmühlenstr. 5 20099 Hamburg

Priv. Doz. Dr. med. Dr. med habil. Peter Schöps Städtisches Klinikum München GmbH Klinikum Harlaching Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität Klinik für Physikalische Medizin, Spezielle Schmerztherapie und Rehabilitation Sanatoriumsplatz 2 81545 München

Dr. med. Heidrun SchröterMorasch Städtisches Klinikum München GmbH Klinik für Neuropsychologie Klinik für Frührehabilitation und Physikalische Medizin Klinikum Bogenhausen Englschalkinger Str. 77 81925 München

XVI

Autorenverzeichnis

Prof. Dr. med. Angela Schuh

Prof. Dr. med. Edgar Seidel

Dr. med. Thomas van de Weyer

Ludwig Maximilians-Universität Institut für Gesundheits- und Rehabilitationswissenschaften Marchioninistr. 17 81377 München

Sophien- u. Hufelandklinikum Zentrum für Physikalische und Rehabilitative Medizin Henry-van-de-Velde-Str. 2 99425 Weimar

Allgemeines Krankenhaus St. Georg Abteilung für fachübergreifende Frührehabilitation und Physikalische Medizin Lohmühlenstr. 5 20099 Hamburg

Dr. med. Wilfried Schupp

Prof. Dr. med. Ulrich Smolenski

Fachklinik Herzogenaurach Abteilung für Neurologie und Neuropsychologie In der Reuth 1 91074 Herzogenaurach

Universitätsklinikum Jena Institut für Physiotherapie Erlanger Allee 101 07740 Jena

Dr. med. Thomas Stamm Dipl.-Psych. Monika Schwarze Medizinische Hochschule Hannover Koordinierungsstelle für angewandte Rehabilitationsforschung Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover

Westküstenklinikum Heide Klinik für Frührehabilitation und Geriatrie Esmarchstr. 50 25746 Heide/Holstein

1

I. Pysikalische Medizin 1 Grundlagen der Physikalischen Medizin Chr. Gutenbrunner

1.1

Definition

–2

1.2

Wirkprinzipien

1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6 1.2.7 1.2.8

Reiz-Reaktions-Prinzip – 3 Entlastung und Schonung – 4 Hemmung und Bahnung, Habituation – 4 Sensomotorische Adaptation – 5 Funktionelle Adaptation – 5 Trophisch-plastische Adaptation – 8 Neuroplastizität – 9 Psychische Wirkungen und Verhaltensänderung

–3

1.3

Zielstellungen – 11

1.3.1 1.3.2 1.3.3

Prävention – 11 Therapie – 12 Rehabilitation – 12

Literatur

– 12

– 10

2

1

Kapitel 1 · Grundlagen der Physikalischen Medizin

> > Einleitung In diesem Kapitel sollen die grundlegenden Wirkprinzipien der Physikalischen Medizin aufgezeigt werden. Die einzelnen Anwendungen führen zu direkten Reaktionen des Körpers und lösen langfristige Regulationsverbesserungen aus. Hieraus leiten sich die wichtigsten Therapieziele der Physikalischen Medizin ab.

1.1

Definition

4 Langfristige Anpassungsreaktionen bei wiederholtem Einsatz der Therapien Bekanntlich führt beim Training jede einzelne Trainingseinheit zur Ermüdung, die Trainingsserie aber zu einer Leistungssteigerung mit verminderter Ermüdbarkeit. Grundlage für das Verständnis dieses Reiz-Reaktions-Prinzips ist die Adaptationsphysiologie, die die Reaktionen auf Veränderungen der Umwelt systematisch gliedert (7 Kap. 1.2). Aktive und passive Therapien

Obwohl die meisten therapeutischen Mittel1 der Physikalischen Medizin auf physikalischen Prinzipien beruhen, definiert sie sich nicht nach diesen Therapiemitteln. Vielmehr geht die Bezeichnung auf »physis« (griech. = Natur) zurück (vgl. »Physio«-logie = Lehre von den [gesunden] Körperfunktionen). Auch die englische Bezeichnung »physical medicine« hat nichts mit der Physik zu tun, sondern charakterisiert die Orientierung an körperlichen (physiologischen) Reaktionen auf die Therapiemittel (vgl. sprachlich: »physical training« = körperliches Training; »physical fitness« = körperliche Leistungsfähigkeit). Dem entspricht auch die amerikanische Kurzbezeichnung für den Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin: »physiatrist«. > Die Physikalische Medizin ist ein Bereich der Medizin, der die physiologischen Reaktionen auf äußere Reizsetzungen therapeutisch nutzt (ReizReaktions-Prinzip, 7 Kap. 1.2.1).

Sie könnte somit auch als »Physiologische Medizin« bezeichnet werden. Für das Verständnis von Wirkungen und Wirksamkeit2 der Physikalischen Medizin muss daher ein Grundwissen um die Reaktionen des Körpers auf äußere Reize vorausgesetzt werden. Dies können sein: 4 Direkte unmittelbare Wirkungen auf die therapeutischen Reize 4 Gegenregulatorische Reaktionen während oder nach Reizapplikation 



Ausnahmen gibt es in Balneologie (7 Kap. 3.11), Klimatherapie (7 Kap. 3.12), einigen Bereichen der Elektro- und Ultraschalltherapie (7 Kap. 3.7) sowie der therapeutischen Lokalanästhesie (7 Kap. 3.14) Als »Wirkungen« werden die direkten Reaktionen auf ein Therapiemittel bezeichnet, und zwar unabhängig davon ob sie in der Krankenbehandlung sinnvoll sind. Die »Wirksamkeit« beschreibt demgegenüber sinnvolle Wirkungen auf bestimmte Krankheiten oder Krankheitssymptome

Häufig werden die Therapiemaßnahmen in »aktive« und »passive« Therapien unterteilt. Diese Einteilung orientiert sich an der Bewegungs- und Handlungsaktivität des Patienten. Vor dem Hintergrund physiologischer Reaktionen auf die physikalischen Therapien ist diese Unterteilung aber nicht relevant. So können auch sog. passive Therapien erhebliche Auslenkungen autonom gesteuerter Funktionen bewirken (Blutdruckanstieg oder -abfall, Durchblutungssteigerung oder -drosselung u. a.), bei serieller Anwendung auch mit der Folge adaptiver Umstellungen in den betreffenden Funktionssystemen.

Die Physikalische Medizin, die, wie alle medizinischen Fächer, einen diagnostischen und einen therapeutischen Bereich einschließt, umfasst nach einem Konsensusbeschluss der Fachgesellschaften die folgenden Therapiemittel3: 4 Krankengymnastik 4 Ergotherapie 4 Sporttherapie 4 Medikomechanik4 4 Manuelle Therapie 4 Massagetherapie 4 Gleich-, Niederfrequenz- und MittelfrequenzStromtherapie 4 Hochfrequenztherapie 4 Ultraschalltherapie 4 Phototherapie 4 Wärme und Kälteträgertherapie





Die Gliederung dieses Buches weicht aus didaktischen Gründen in einigen Punkten von dieser Liste ab Dieser Begriff beschreibt die funktionelle Behandlung mit mechanischen Therapiegeräten wie z. B. Bewegungsschienen, Schlingentisch und medizinisches Gerätetraining. Diese finden sich in den 7 Kap. 3.1, 3.3 und 6.9

3 1.2 · Wirkprinzipien

4 Hydrotherapie 4 Balneotherapie 4 Klimatherapie

Wirkprinzipien

1.2

1

4 Einen großen Zeitbedarf von Wochen bis Monaten haben Anpassungsreaktionen, die mit Gewebewachstum verbunden sind, wie z. B. das Muskeltraining. 4 Im Prinzip können auch Lernprozesse als Adaptationen auf kortikaler Ebene aufgefasst werden. »Unspezifische« Reize

Der Physikalischen Medizin zugrunde liegende Prinzipien und Prozesse 5 5 5 5 5 5 5 5

Reiz-Reaktions-Prinzip Entlastung und Schonung Hemmung und Bahnung, Habituation Sensomotorische Adaptation Funktionelle Adaptation Trophische und plastische Adaptation Neuroplastizität Verhaltensänderung

1.2.1 Reiz-Reaktions-Prinzip > Der Körper reagiert auf äußere Reize, die die gewohnten Umgebungseinflüsse nach Art oder Intensität überschreiten, kurzfristig mit Gegenregulationen und langfristig mit Adaptationen, deren Sinn es ist, die Toleranz gegenüber neu auftretenden Reizen zu steigern bzw. die Regulationskapazität zu erhöhen.

Die Veränderungen der körperlichen Regulationen können dabei auf sehr unterschiedlichen Ebenen erfolgen: 4 Bereits die peripheren Gewebe besitzen die Möglichkeit, autonom und außerordentlich rasch ihre Toleranz gegenüber Reizen zu steigern und Schutzmechanismen auszubilden (z. B. auf O2-Mangel). 4 Der auf Reize folgende afferente Erregungseinstrom kann auf Rückenmarksebene nerval gehemmt werden, was z. B. zu einer Erhöhung der Schmerztoleranz führen kann. 4 Mitreaktionen vegetativ gesteuerter Systeme können auf der Ebene der Formatio reticularis kurzfristig gedämpft werden (Habituation). 4 Längerfristige vegetative Umschaltungen führen zu funktionellen Adaptationen verschiedener autonom gesteuerter Funktionen wie Blutdruck- oder Thermoregulation.

In diesem Zusammenhang wird häufig fälschlicherweise von »unspezifischen Reizen« gesprochen. Dem widerspricht, dass alle äußeren Reize wie Wärme, Kälte, Druck, Vibration, Kraft u. a. auf spezifische Rezeptoren oder Rezeptorsysteme treffen. Auch chemische Reize rufen in der Regel für eine Substanz typische Primärwirkungen hervor (7 Kap. 3.10). Allerdings kommt es – wie erwähnt – beim Überschreiten gewisser Kapazitätsgrenzen zusätzlich zu generalisierten Mitreaktionen des vegetativen Nervensystems und der hormonellen Systeme (insbesondere Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse), die für verschiedene Reizqualitäten identisch sein können. Dies führt dazu, dass unterschiedliche Reize durchaus zu ähnlichen Reaktionen führen. Es gibt also keine unspezifischen Reize, sehr wohl aber unspezifische Reaktionsanteile.

Von Interesse ist, dass Anwendungen, deren unmittelbare Wirkungen zunächst gegensätzlich sind, bei Langzeitanwendung zu denselben Adaptationen führen können. So besteht z. B. die unmittelbare Reaktion auf eine einmalige körperliche Ausdauerbelastung in einer Erhöhung des systolischen Blutdrucks. Im einzelnen Kohlensäure-(CO2-)Bad sinkt der Blutdruck ab. Regelmäßiges körperliches (Ausdauer-)Training führt aber genau wie die wiederholte (serielle) Anwendung von CO2-Bädern zu einer Blutdrucknormalisierung. Bei Überdosierung adaptogener Reize kann es auch zu negativen Auswirkungen auf den Körper kommen. Besonders gut untersucht sind solche Phänomene bei der Muskelüberlastung. Bei trainingsbedingten Muskelbelastungen können bekanntlich Schmerzen der trainierten Muskulatur entstehen, die mit einer Verzögerung von mehreren Stunden eintreten und bei stärkeren Muskelüberlastungen am zweiten Tag ihr Maximum erreichen. Im Rahmen dieses sog. Muskelkaters tritt parallel zu den Schmerzen ein deutlicher Kraftverlust auf, der bis zu 2 Wochen nach einer einmaligen Muskelüberlastung anhalten kann. Schließlich kommt es mit einer Verzögerung von 2–4 Tagen zu u. U. mas-

4

1

Kapitel 1 · Grundlagen der Physikalischen Medizin

siven Anstiegen der Serumkonzentration von aus Muskelzellen stammenden Enzymen (Kreatinkinase u. a.). Alle diese Symptome sprechen dafür, dass es sich beim Muskelkater um eine echte Schädigung des Muskelgewebes handelt. Für die Therapie von besonderer praktischer Bedeutung ist die Tatsache, dass nach eingetretener Muskelüberlastung die Weitertrainierbarkeit der betroffenen Muskulatur durch isometrische (Anspannung ohne Muskelverkürzung) Trainingsreize aufgehoben ist, sodass ein effektives Training erst nach ca. einer Woche wieder möglich wird. > Die Reizintensität muss unter Beobachtung der Reaktion des Patienten individuell dosiert und ggf. einschleichend gesteigert werden.

1.2.2 Entlastung und Schonung Es ist ein sehr altes therapeutisches Prinzip, dem kranken Organismus durch Schonung eine raschere Ausheilung zu ermöglichen (z. B. Bettruhe bei akuten Erkrankungen, Ruhigstellung nach Knochenbrüchen). Aus adaptationsphysiologischer Sicht führt jedoch jede Schonung in erster Linie zu einem Funktionsverlust, der als Deadaptation bezeichnet wird (Muskelatrophie bei erzwungener Ruhigstellung, Kalziumverlust des Knochens bei Bettruhe). > Schonphasen, die den Gesamtorganismus oder ganze Organsysteme betreffen, müssen möglichst kurz gehalten werden (Frühmobilisation) oder ganz vermieden werden.

Dennoch ist eine dosierte Entlastung im Rahmen der Physikalischen Medizin ein wichtiges Therapiemittel, das wesentlich zur langfristigen Befundstabilisierung beitragen kann. So müssen auch nach heutiger Auffassung akut entzündete oder gereizte Gelenke bis zur (durch andere Therapiemaßnahmen erreichten) Rückbildung des Reizzustandes entlastet werden. So wird beispielsweise bei einem Reizzustand der Achillessehne (Achillodynie) als Sofortmaßnahme ein Fersenkeil verordnet, der dazu führt, dass die Achillessehne beim Gehen teilweise entlastet, weil sie nicht bei jedem Schritt maximal gedehnt wird. Gleichzeitig ist es krankengymnastische Aufgabe, spezielle Deadaptationen, z. B. der gelenkführenden Muskulatur oder des Kreislaufs, durch adäquate Reiz-

setzungen zu verhindern (z. B. durch kontralaterales Muskeltraining, durch das die Muskelatrophie ruhiggestellter Muskelgruppen wirksam verhindert werden kann). Eine besondere Bedeutung kann das Therapieprinzip der Schonung aber für den Abbau von Fehladaptationen oder einem pathogenetisch bedeutsamen Circulus vitiosus gewinnen. Am Bewegungssystem können sich solche Fehladaptationen z. B. in Muskelverspannungen und -schmerzen äußern. Diese können durch mechanische Entlastung (Traktion, Schlingentischaufhängung u. a.) gebessert werden.

1.2.3 Hemmung und Bahnung,

Habituation Ein dem genannten Prinzip der Verminderung eines krankhaft verstärkten Erregungseinstroms ähnliches Therapieprinzip stellt die Hemmung (Inhibition) und Bahnung (Fazilitation) dar. Das bedeutet, dass durch gezielte Reizung organeigener Steuerungselemente (Propriozeptoren) von Muskulatur und Gelenken Bewegungsabläufe gehemmt oder gebahnt (erleichtert) werden können. Auch diese überwiegend auf Rückenmarksebene gesteuerten reflektorischen Reaktionen sind vor allem zur Überwindung pathologischer Aktivierungen oder Hemmungen der Skelettmuskulatur, wie sie oft im Rahmen neurologischer Krankheitsbilder vorkommen, therapeutisch nutzbar. Sie stellen häufig eine wichtige Voraussetzung für die Anwendung anderer übender oder trainierender Techniken dar. Fazilitierend wirken z. B. das repetitive phasische Dehnen eines Muskels oder das Bestreichen oder Beklopfen der Haut über dem zu aktivierenden Muskel. Bei Patienten nach Schlaganfall besteht z. B. häufig das Problem, dass bei Anstrengung oder Stress die Muskulatur eine pathologisch erhöhte Spannung (Tonuserhöhung) aufbaut. Ziel der Therapie ist es, den Tonus durch Inhibition zu normalisieren, um die noch vorhandene Willkürmotorik beüben zu können. Dabei können fazilitierende Techniken hilfreich sein. Die Habituation stellt einen Hemmmechanismus dar, der Mitreaktionen vegetativer Funktionen bei therapeutischen Reizen (z. B. Blutdruckanstieg bei Kaltreizen) hemmt. Die Steuerung erfolgt auf der Ebene der Formatio reticularis. Die Veränderungen sind instabil und bilden sich rasch wieder zurück. Über die therapeutische Bedeutung der Habituation ist allerdings we-

5 1.2 · Wirkprinzipien

nig bekannt. Da auch die Schmerzempfindlichkeit gedämpft wird, kann hierdurch aber z. B. die Verträglichkeit von Kaltreizen erhöht werden.

1.2.4 Sensomotorische Adaptation Bei vielen neurologischen Erkrankungen sowie bei Funktionsstörungen und Krankheiten des Bewegungssystems ist die Veränderung von Bewegungsmustern ein wichtiges Ziel der krankengymnastischen Behandlung. Eine solche Verbesserung koordinativer Leistungen durch Übung eines bestimmten Bewegungsablaufs beruht in erster Linie auf einer Bahnung dieses Bewegungsmusters. Als zugrunde liegende Mechanismen wurden früher allein funktionelle Veränderungen an den synaptischen Spalten und der motorischen Vorderhornzellen angenommen. Heute ist erwiesen, dass es durch häufige Wiederholung gleichartiger Impulse zu Aufzweigungen an den Dendriten und einer Faseraussprossung kommen kann (sog. Synapsenhypertrophie). Dieses Phänomen gehört zur Neuroplastizität, die weiter unten noch eingehender besprochen wird (7 Kap. 1.2.7). Drei Stufen der sensomotorischen Adaptation Die Tatsache, dass Bewegungsübungen zu strukturell nachweisbaren Veränderungen an den Nervenzellen führen können, erklärt die hohe Spezifität der Adaptation auf koordinative Übungsreize. So ist beispielsweise für krankengymnastische Übungen bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen nachgewiesen,

6

. Abb. 1.1. Motorischer Lernprozess mit (obere Kurve) und ohne Pausen (untere Kurve). (Nach Rutenfranz und Iskander 1966; aus Gutenbrunner und Hildebrandt: Handbuch der Balneologie und Medizinischen Klimatologie. Springer 1998)

1

dass ein direktes Üben eines Bewegungsablaufs zu besseren therapeutischen Ergebnissen führt als indirekte Übungen. Bei einseitigen Geschicklichkeitsübungen findet sich aber auch eine Verbesserung der Koordination auf der Gegenseite, die etwa 50% der Koordinationsverbesserung der beübten Seite ausmacht. Dies spricht dafür, dass in gewissem Umfang auch eine indirekte, vermutlich kortikal gesteuerte Zunahme koordinativer Leistungen möglich ist. Von praktischer Bedeutung ist dieses konsensuelle Üben, wenn krankheitsbedingt oder durch Unfall eine direkte Beübung einer Extremität nicht möglich ist. Für die Beteiligung kortikaler Funktionen beim sensomotorischen Lernen spricht auch die Tatsache, dass durch die Vorstellung von Bewegungsabläufen (mentales Üben) koordinative Leistungen verbessert werden können, ein Effekt der bei bloßem Beobachten eines Bewegungsablaufs nicht eintritt.

p Die Zunahme der Geschicklichkeit nimmt im Übungsverlauf schon nach wenigen Minuten exponentiell ab. Nach kurzen Pausen kann aber wieder ein weiterer Übungserfolg erzielt werde. Daher sind unterbrochene Übungseinheiten immer effektiver als kontinuierliche (. Abb. 1.1).

1.2.5 Funktionelle Adaptation Es wurde schon erwähnt, dass bei wiederholter Anwendung verschiedener physikalischer und balneologischer Therapieverfahren funktionelle Adaptationsprozesse

6

1

Kapitel 1 · Grundlagen der Physikalischen Medizin

verschiedener vegetativ gesteuerter Funktionen (z. B. Blutdruck, Thermoregulation) ausgelöst werden können. Dabei sind Mitreaktionen auch in nicht unmittelbar gereizten vegetativ gesteuerten Funktionssystemen – z. B. im Immunsystem und im Gastrointestinalsystem – möglich (Kreuzadaptationen). Die funktionelle Adaptation wird über Nebennierenrindenhormone gesteuert und ist vor allem durch folgende Phänomene charakterisiert: 4 Adaptive Normalisierung von Funktionsgrößen 4 Phasisch-periodische Reaktionsstruktur 4 Abhängigkeit der Reaktion vom individuellen vegetativen Reaktionsvermögen

. Abb. 1.2. Konvergenz des systolischen Blutdrucks im Verlauf medizinischer Heilverfahren. (Nach Gutenbrunner u. Ruppel 1992; aus Gutenbrunner und Weimann: Krankengymnastische Methoden und Konzepte. Springer 2004)

. Abb. 1.3. Veränderung des Blutdrucks bei medizinischen Kuren in Abhängigkeit vom Ausgangswert. Schraffierter Bereich: Zielwert der Konvergenz. (Nach Gutenbrunner u. Ruppel 1992; aus Gutenbrunner und Weimann: Krankengymnastische Methoden und Konzepte. Springer 2004)

Adaptive Normalisierung. Damit wird das folgende Phänomen bezeichnet: Im Verlauf mehrwöchiger funktioneller Adaptationsprozesse eintretende Veränderungen eines Messwertes sind vom individuellen Ausgangswert abhängig: Hohe Werte nehmen ab, niedrige zu und Normalwerte verändern sich im Mittel nicht (. Abb. 1.2). Das bedeutet, dass sich die entsprechenden Funktionswerte auf einen Zielwert hin bewegen (. Abb. 1.3). Definitionsgemäß muss dieser Zielwert bei der funktionellen Adaptation einem regulativen Optimum entsprechen. . Abbildungen 1.2 und 1.3 verdeutlichen dies am Beispiel des systolischen Blutdrucks im Verlauf kom-

7 1.2 · Wirkprinzipien

1

. Abb. 1.4. Schematische Darstellung eines phasisch-periodischen Adaptationsverlaufs. (Nach Hildebrandt 1998; aus Gutenbrunner und Hildebrandt: Handbuch der Balneologie und Medizinischen Klimatologie. Springer 1998)

plexer Heilverfahren: In . Abb. 1.2 ist die Konvergenz der Blutdruckwerte in dem mehrwöchigen Behandlungsverlauf gut zu erkennen. (Der Abfall des Blutdrucks in den ersten Behandlungstagen ist auf eine Entspannungs- bzw. Entlastungsreaktion zurückzuführen.) . Abbildung 1.3 zeigt, dass der Bereich, der keine Werteveränderung aufweist und dem Zielwert des Normalisierungsprozesses entspricht, tatsächlich im Bereich des Normwertes des systolischen Blutdrucks von 120 mmHg liegt. Für diesen Bereich ist nachgewiesen, dass er mit einer optimalen Blutdruckregulation verbunden ist. Die durch die adaptive Normalisierung erzielte Regulationsverbesserung ist der Grund für eine das Therapieende überdauernde Stabilität der Behandlungsergebnisse (Langzeitbehandlungserfolg, sog. Hafteffekt) nachgewiesen. Die adaptiven Normalisierungsprozesse betreffen sehr verschiedene, der vegetativen Regulation unterliegende Körperfunktionen. Normalisierungsprozesse, die durch physikalische und balneologische Therapien ausgelöst werden, können z. B. auch Verdauungsfunktionen (Magen-, Gallenblasen- und Darmmotorik, Magensekretion), urogenitale Funktionen (Uromotorik) und Immunfunktionen betreffen. Auch das Körpergewicht und Stoffwechselfunktionen unterliegen bei funktionellen Adaptationsprozessen einer adaptiven Normalisierung.

(. Abb. 1.4). Dominierende Zeitstrukturen sind dabei eine gedämpft ausklingende etwa siebentägige Periodik (reaktive Zirkaseptanperiodik). Es kommen aber auch fünf- und zehntägige Perioden vor (Zirkadekanund Zirkasemidekanperiodik), letztere überwiegend bei älteren Menschen und bei Patienten mit vermindertem vegetativem Reaktionsvermögen. Dabei stellen die genannten Periodendauern nur statistische Häufungen dar, die einen gewissen Streubereich besitzen. Auch spontane Heilungsverläufe weisen eine entsprechende Verlaufsstruktur auf, was den Schluss nahe legt, dass es sich bei diesem Adaptationstyp um einen natürlichen Heilungsvorgängen sehr ähnlichen Prozess handelt.

Phasisch-periodische Verlaufsstruktur. Funktionelle



Adaptationsprozesse verlaufen in der Regel nicht linear, vielmehr zeigen sie eine phasisch-periodische Verlaufsstruktur, bei der sich ergotrope5 Phasen mit erhöhter vegetativer Labilität und trophotrope6 Phasen ablösen

p Die Kenntnis der periodischen Verlaufsstruktur ist für die Behandlung insofern von Bedeutung, als die ergotropen Auslenkungen um den 7., 14. und 21. Behandlungstag mit erheblichen Befindensstörungen (sog. Therapiekrisen) und vorübergehenden Verschlechterungen des objektiven Befundes einhergehen können (z. B. Blutdruckanstieg, muskuläre Verspannungen). Abhängigkeit vom individuellen vegetativen Reaktionsvermögen. Naturgemäß besitzt die Auslösung von

Anpassungsprozessen eine starke Abhängigkeit vom individuellen vegetativen Reaktionsvermögen. Als Pa-



Ergotropie = Leistungseinstellung der vegetativen Regulation, z. B. mit erhöhtem Blutdruck und erhöhter Herzfrequenz Trophotropie = Erholungseinstellung der vegetativen Regulation, verbunden mit verstärkten Wachstumsprozessen z. B. Zellregeneration

8

1

Kapitel 1 · Grundlagen der Physikalischen Medizin

rameter der Reaktionsprognostik eignet sich das Frequenzverhältnis von Puls und Atmung (QP/A; 7 Kap. 2.2.3). So zeigen Ruhewerte des QP/A von unter 4,0, d. h. weniger als 4 Pulsschläge pro Atemzyklus, ein vermindertes, darüber liegende Werte ein erhöhtes vegetatives Regulationsvermögen an. Eine Verminderung der vegetativen Reaktionsfähigkeit ist auch bei chronischen Krankheiten sowie im höheren Lebensalter beschrieben. Für den Therapieverlauf bedeutet das verminderte Reaktionsvermögen das gehäufte Auftreten sog. spätreaktiver Verläufe mit der stärksten ergotropen Auslenkung in der dritten Behandlungswoche.

1.2.6 Trophisch-plastische Adaptation Im Gegensatz zu den weitgehend unspezifischen Reaktionen der funktionellen Adaptation stellen die durch Übungsreize auslösbaren trophischen und plastischen Adaptationen hochspezifische Anpassungsprozesse dar. Sie sind durch Wachstumsprozesse von Geweben gekennzeichnet, wobei das Wachstum sowohl die Zellzahlen (z. B. Erythropoese) als auch die Zahl einzelner intrazellulärer Funktonseinheiten (z. B. Myofibrillen) betreffen kann. In der Regel werden trophisch-plastische Adaptationsprozesse von spezifischen Hormonsystemen (z. B. Erythropoietin, Somatotropin) gesteuert und haben einen höheren Zeitbedarf (Wochen bis Monate) als die funktionelle Adaptation. Die Ergebnisse trophisch-plastischer Adaptationen sind bei Wegfall des adaptogenen Reizes wieder rückläufig, sodass zur Aufrechterhaltung des Adaptationsergebnisses eine Fortsetzung der Therapie, ggf. mit geringerer Reizdichte, erforderlich ist. Naturgemäß führen trophisch-plastische Adaptationen zu Spezialisierungen. Positive Kreuzadaptationen sind nicht bekannt; im Gegenteil scheint die Spezialisierung zu Funktionseinschränkungen in anderen Systemen zu führen. So weist z. B. eine einseitig auf Kraftentwicklung trainierte Muskulatur u. U. eine verschlechterte Feinmotorik auf. Muskelkrafttraining Ein besonders gut untersuchter trophisch-plastischer Trainingsprozess ist das Muskelkrafttraining. Die beim Krafttraining mit Intensitäten von über 40% der Maximalkraft entstehenden morphologischen Veränderungen der Muskulatur bestehen überwiegend in einer Vermehrung von Myofibrillen im Sinne der

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Faserhypertrophie. Eine Faserhyperplasie, wie sie in Tierversuchen nachgewiesen werden konnte, spielt beim Menschen offenbar keine Rolle. So unterscheidet sich die Muskelfaserzahl von Krafttrainierten nicht wesentlich von der Untrainierter. Auch die prinzipiell mögliche Umwandlung von Muskelfasertypen scheint im Verlauf des Muskelkrafttrainings keine wesentliche Rolle zu spielen. Neben der Muskelhypertrophie scheint beim Krafttraining aber auch die neuralen Adaptation eine wichtige Rolle zu spielen, insbesondere in der Frühphase von Trainingsprozessen. Sie kann einerseits in der Rekrutierung möglichst aller motorischen Einheiten, andererseits aber auch in einer Zunahme der Entladungsfrequenz der Motoneurone bestehen. Auch auf der Ebene der intramuskulären Koordination sind Adaptationen möglich.

Auch die langsameren Wachstumsprozessen unterliegenden sog. bradytrophen Gewebe des Bewegungssystems zeigen belastungsabhängige trophisch-plastische Adaptationen: 4 Zug- und Druckbelastungen sind entscheidende Stimuli für den Knochenaufbau: So ist beispielsweise bekannt, dass ein vergrößertes Körpergewicht zur Substanzvermehrung im Femurknochen führt und dass bei Sportlern sportartspezifische Adaptationen des Knochenmineralgehaltes vorliegen. Ähnlich wie in der Muskulatur kommt es bei Schonung (längerdauernde statische Entlastung, z. B. bei Bettruhe oder im Extremfall bei Raumfahrern), im Knochen zu einem Substanzverlust. 4 Auch ligamentäre Strukturen und Sehnen unterliegen einer belastungsabhängigen Adaptation und Deadaptation, wobei nach neueren Untersuchungen auch Heilungsprozesse nach Teilrupturen durch dosierte mechanische Belastungen beschleunigt werden können. 4 Obwohl die Heilungspotenz von Gelenkknorpel als eher gering anzusehen ist, scheinen dosierte mechanische Belastungen den Stoffwechsel von Knorpelsubstanz stimulieren zu können. p Der Kalziumverlust des Knochens bei Bettruhe kann durch täglich dreistündiges Stehen, nicht aber durch etwa gleichlange Ergometerarbeit im Liegen verhindert werden. Dies spricht dafür, dass die Intensität von Druckreizen wichtiger ist als häufige Reizwiederholungen.

9 1.2 · Wirkprinzipien

1.2.7 Neuroplastizität > Unter Neuroplastizität werden alle adaptiven Veränderungen des Nervensystem zusammengefasst, die mit 5 einer Zunahme von Nervenverbindungen im Kortex, 5 einer Veränderung der kortikalen Repräsentationsfelder für bestimmte Funktionen oder 5 morphologischen oder funktionellen Veränderungen peripherer Neurone einher gehen.

Das bedeutet, dass es sich einerseits um längerfristige (anhaltende) Veränderungen der funktionellen oder anatomischen Verknüpfungen zwischen verschiedenen Hirnarealen oder der Neubildung von Repräsentationsfeldern für bestimmte Körperfunktionen in der Hirnrinde handelt. Andererseits können die funktionellen Eigenschaften von Nerven, wie z. B. die Nervenleitung verändert werden. In beiden Fällen kann es sich um funktionelle Veränderungen oder aber auch um ein strukturelles Wachstum handeln. Unter dem Begriff der Neuroplastizität werden heute also auch Adaptationsprozesse subsumiert, deren funktionellen Aspekte bereits früher beschrieben worden sind, wie z. B. das motorische Lernen (7 Kap. 1.2.4). Durch die neuen bildgebenden Untersuchungstechniken wie die Positronenemissionstomographie (PET) und die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) ist es möglich geworden, die früher nur funktionell beobachteten Übungseffekte der Aktivität bestimmter Hirnareale zuzuordnen. So ist der Nachweis gelungen, dass sich die Aktivierung bestimmter Hirnareale durch Übung beeinflussen lassen.

Inzwischen ist bekannt, dass kortikale Plastizität zu einem erheblichen Teil induzierbar ist, und zwar durch Läsionen des zentralen peripheren Nervensystems, durch motorisches Training und durch repetitive Reizung bestimmter Hirnareale. Ebenso wird dieser Effekt nach neueren Untersuchungen durch gezielte Übungen erreicht. Nach Schädigungen der Großhirnrinde konnte z. B. beobachtet werden, dass bei gezielter Übung ausgefallener motorischer Funktionen neue Repräsentationsfelder für diese Funktionen in benachbarten noch intakten Hirnarealen entstehen können. Folgende Phänomene der Neuroplastizität sind heute bekannt:

1

4 Übernahme gestörter Funktionen durch benachbarte Hirnareale (Vikariation). 4 Morphologische Veränderungen an definierten kortikalen Repräsentationsfeldern, induziert durch sensible Stimulation, Erfahrung und Lernen (Plastizität kortikaler Repräsentationsfelder). 4 Die Wiederherstellung von axonalen und dendritischen Nervenendigungen (Aussprossung von Nervenendigungen), die im peripheren Nervensystem zu funktionellen Nervenverbindungen führen kann. Im ZNS ist dieser Prozess erschwert, u. a. weil die als »Leitschiene« dienenden Schwann-Zellen fehlen und die als Narbengewebe auftretenden Gliazellen und Astrozyten eine Barriere darstellen. 4 Eine Sprossung von Axonen aus benachbarten intakten Nervenzellen (kollaterale Axonsprossung). 4 Ein Funktionsverlust eines von der primären Läsion weiter entfernt liegenden Hirnareals (Diaschisis), der vermutlich auf einer GABAergen Inhibition beruht und sich durch lokale Noradrenalingabe im Experiment bessern lässt. 4 Die Verbesserung der Signalübertragung an Synapsen (synaptische Plastizität), die einen funktionellen Aspekt der Neuroplastizität beschreibt. 4 Eine Anregung der Neuroplastizität durch ein an Reizen reiches Umfeld (»enriched environment»), wobei nach Tierversuchen einiges dafür spricht, dass die Bildung von Wachstumsfaktoren im Gehirn (»nerve growth factor», NGF) angeregt wird 4 Neubildung von Nervenzellen aus neuralen Stammzellen (Neurogenese). Dieser Prozess konnte in einigen Hirnregionen nach Ischämie nachgewiesen werden. Ob eine therapeutische Nutzung z. B. durch Transplantation von Stammzellen in Läsionen (z. B. Rückenmark) möglich ist, wird derzeit wissenschaftlich geprüft. Das relativ junge Forschungsgebiet der Neuroplastizität gibt eine Reihe von Erklärungsansätzen für klinisch beobachtbare günstige Effekte der Übungsbehandlung und wird vermutlich in Zukunft auch die medikamentöse Therapie von zentralen und peripheren Nervenläsionen beeinflussen. Forced-use-Therapie Ein Beispiel für die praktische Anwendung der Erkenntnisse der Neuroplastizität stellt die sog. Forceduse-Therapie nach Schlaganfall dar. Hier wird der

6

10

1

Kapitel 1 · Grundlagen der Physikalischen Medizin

Patient z. B. bei Hemiparese nach Schlaganfall und erhaltener motorischer Restfunktion der betroffenen Extremität durch Ruhigstellung der gesunden Seite dazu gezwungen, die betroffene Seite für Alltagsbewegungen zu gebrauchen. Hierdurch soll die Neuroplastizität des Kortex angeregt werden.

1.2.8 Psychische Wirkungen und

Verhaltensänderung Zwischen Psyche und Bewegung bestehen Wechselwirkungen. So können Stimmungen und psychische Erkrankungen die Körperhaltung und Bewegungsabläufe unmittelbar beeinflussen (Ausdrucksmotorik). Umgekehrt kann körperliche Aktivität unmittelbare Auswirkungen auf die Stimmung haben. Wechselwirkungen zwischen Psyche und Motorik Die Mechanismen für den erstgenannten Zusammenhang scheinen heute weitgehend aufgeklärt zu sein und können über direkte neuronale Verschaltungen zwischen limbischem System und Locus coeruleus mit muskeltonusregulierenden absteigenden Bahnen des Rückenmarks erklärt werden. Demgegenüber sind in Bezug auf die Beeinflussung psychischer Funktionen durch aktive Bewegungen trotz zahlreicher neuerer Erkenntnisse noch viele Fragen offen. So ist bekannt, dass bei körperlichen Belastungen in Abhängigkeit von deren Intensität und

6 . Abb. 1.5. Veränderung der Angstsymptomatik im Laufe einer 10-wöchigen Behandlung mit Ausdauertraining, Clomipramin oder Plazebo, gemessen an der Panik- und Agoraphobieskala, die eine Fremdbeurteilung darstellt. (Nach: Broocks, A.: Psychische Erkrankungen und körperliche Aktivität. In: Bundesärztekammer (Hrsg.): Fortschritt und Fortbildung in der Medizin, Band 26 (2002/2003). Deutscher Ärzte-Verlag 2002)

Dauer verschiedene opioide Peptide (Endorphin u. a.) freigesetzt und Schmerzschwellen angehoben werden. Letztgenannter Effekt ist durch den Endorphinantagonisten Naloxon hemmbar. Aber auch Serotonin, Noradrenalin und Dopamin dürften mit ihren Einflüssen auf das limbische System an bewegungsinduzierten psychischen Reaktionen beteiligt sein. Auffällig ist bei all diesen Untersuchungen allerdings, dass sie erst nach starken und längerdauernden (ca. 60 min) körperlichen Belastungen messbar werden und somit nicht als Erklärung für die leicht zu beobachtenden unmittelbaren psychischen Effekte der Bewegung (sog. elementarer Bewegungsgenuss) herangezogen werden können. Vielmehr ist auch hier ein direkter neuronaler Mechanismus zu vermuten.

Längerfristige Veränderungen von psychischen Parametern sind nachgewiesen, z. B. für Depressivität und Angst. So zeigt . Abb. 1.5 ein Beispiel für Patienten mit Angststörungen, die sich in einer Gruppe mit Ausdauertraining innerhalb von 10 Wochen etwa gleich stark gebessert haben wie eine Vergleichsgruppe mit Psychopharmakatherapie. Beide Therapiegruppen waren im Vergleich zur Plazebokontrolle signifikant besser. Entsprechende Ergebnisse liegen auch für die Depression vor. Der Mechanismus für diese psychischen Wirkungen ist noch nicht vollständig aufgeklärt. Vermutlich spielen aber funktionelle Adaptationen mit Veränderung der vegetativen Tonuslage eine Rolle. Darüber hinaus können sich im Rahmen des Therapiefortschrittes durch den Rückgang von Beschwerden und durch

11 1.3 · Zielstellungen

das verbesserte Körpergefühl positive psychische Wechselwirkungen ergeben. Hinzu kommen Einflussmöglichkeiten über die soziale Aktivierung, die insbesondere bei der Gruppentherapie einen hohen Stellenwert einnimmt. Bewusst genutzt werden psychische Wirkungen der Bewegung im Rahmen der sog. Körperorientierten Psychotherapien (7 Kap. 6.12). Bei vielen chronischen Erkrankungen sind Verhaltensänderungen anzustreben, die nur durch Lernprozesse angebahnt werden können (7 Kap. 6.11 und 6.13). Neben dem Vermitteln von Einsichten (Verstehen) ist auch das praktische Einüben neuer Verhaltensweisen von großer Bedeutung, was z. B. auch in Bezug auf das Bewegungsverhalten gilt. Bei gleichzeitigen positiven Körpererfahrungen verlaufen Lernprozesse rascher und führen zu stabileren Ergebnissen.

1.3

Zielstellungen

Zielstellungen der Physikalischen Medizin 5 Prävention (Krankheitsvorbeugung) 5 Therapie (Krankenbehandlung, Kuration) 5 Rehabilitation (Behandlung von Krankheitsfolgen)

1.3.1 Prävention Prävention ist definiert als die Vorbeugung von Krankheiten, wobei allgemein unterschieden wird zwischen 4 Primärprävention, die auf die Verhinderung von Neuerkrankungen zielt, 4 Sekundärprävention, durch die das Auftreten schwerer Krankheitsstadien verhindert werden soll, wenn schon eine manifeste Krankheit vorliegt (z. B. Osteoporose, Atherosklerose), und 4 Tertiärprävention, die darauf abzielt, Komplikationen und schwere Krankheitsfolgen zu verhindern und somit Überschneidungen zur Rehabilitation aufweist.

Die Früherkennung ist strenggenommen der Sekundärprävention zuzurechnen, da sie nur dann zu Ergebnissen führt, wenn Krankheitszeichen diagnostizierbar sind.

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Primärprävention. Die Physikalische Medizin spielt bei

der Primärprävention insofern eine Rolle, als die Regulationsfähigkeit fast aller Organ- und Regulationssysteme durch gezielte serielle Reizsetzungen verbessert werden kann. Hierdurch kann die Entwicklung vieler chronischer Krankheiten verzögert oder verhindert werden, wie z. B. im Herz-Kreislauf-System (Bluthochdruck, Atherosklerose u. a.), beim Stoffwechsel (metabolisches Syndrom) und im muskuloskelettalen System (Osteoporose). Auch für einige Krebsarten ist eine reduzierte Auftretenswahrscheinlichkeit durch Bewegung nachgewiesen. So führt z. B. eine regelmäßige richtig dosierte Bewegung zu einer besseren Kreislaufregulation, verbesserten Lungenfunktion, einer verbesserten Muskelausdauer, einer optimierten O2-Transportfunktion sowie einer vergrößerten Festigkeit von Ligamenten und Knochen und hat darüber hinaus positive Einflüsse auf die unspezifische Infektabwehr. Auch für regelmäßig wiederholte thermische Reizsetzungen sind zahlreiche positive Wirkungen bekannt, z. B. im Bereich der Kreislauf- (Blutdruck) und Thermoregulation sowie beim Immunsystem. Sekundärprävention. Sekundärprävention durch phy-

sikalische Therapiemaßnahmen ist beispielsweise möglich bei Blutdruckregulationsstörungen, Rückenschmerzen und Osteoporose. Bei Blutdruckregulationsstörungen führt die oben besprochene funktionelle Adaptation zu einer Regulationsverbesserung, die das Entstehen einer manifesten Hypertonie verhindern oder zumindest hinauszögern kann. Bei der Sekundärprävention von Rückenschmerzen spielen die Kräftigung der Rumpfmuskulatur (Rücken- und Bauchmuskulatur) sowie die Verbesserung der Bewegungskoordination eine wichtige Rolle. Bei Osteoporose ist es wichtig, einen weiteren Knochenabbau durch dosierte Belastung zu verhindern. So ist nachgewiesen, dass ein Fortschreiten der Knochendichteverminderung durch regelmäßige Bewegungstherapie verhindert werden kann. Tertiärprävention. Beispiele für eine wirksame Tertiärprävention finden sich im 7 Kap. 1.3.3) sowie im 7 Abschnitt II.

12

1

Kapitel 1 · Grundlagen der Physikalischen Medizin

Wellnessprogramme Die meisten in Freizeiteinrichtungen angebotenen Wellnessprogramme erfüllen die Qualitätsansprüche einer wirksamen Prävention nicht, weil 5 eine adäquate Dosierung physikalischer Therapiemaßnahmen fehlt (keine serielle Anwendung, zu viele Maßnahmen in zu kurzer Zeit), 5 neben oder statt physikalischen Therapien mit nachgewiesener Wirksamkeit solche mit fehlendem Wirkungsnachweis und zweifelhafter Wirksamkeit angewendet werden, 5 eine gezielte Auswahl der Anwendung nach individuellen Gesundheitsmerkmalen fehlt.

sem Bereich nehmen funktionell wirksame Therapien einen zentralen Platz ein, z. B. beim Erlernen kompensatorischer Bewegungsmuster oder zur Verbesserung der Lungen- und/oder HerzKreislauf-Funktionen.

Ein extremes, aber eindrucksvolles Beispiel, wie durch Übung Ersatzfunktionen ausgebildet werden können, ist z. B. die Fähigkeit von Menschen, die ohne Arme leben, mit den Füssen zu schreiben, zu essen und andere Tätigkeiten auszuführen. Aber auch die enorme Geschicklichkeit, die Menschen mit Gehunfähigkeit beim Handling von Rollstühlen erlangen können, und die Kräftigung der Schultergürtel- und Armmuskulatur bei Rollstuhlfahrern verdeutlichen, in welchem Maße 1.3.2 Therapie kompensatorische Fähigkeiten entwickelt werden können. Dies erklärt auch die Zusammenfassung von PhyDie Therapie (auch als Kuration bezeichnet) beinhaltet sikalischer Medizin und Rehabilitation zu einem medidie Linderung und Beseitigung von Krankheiten oder zinischen Fachgebiet. Krankheitssymptomen und steht heute noch im Zentrum des ärztlichen Handelns. Dabei sind physikalische Therapieformen Teil eines Behandlungskonzeptes bei Literatur Erkrankungen des Bewegungs- und Nervensystems (z. B. chronische Polyarthritis, M. Parkinson) sowie bei Drexel H, Hildebrandt G, Schlegel KF, Weimann G (1990) Physikalische Medizin, Band 1. Thieme, Stuttgart vielen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auch bei einigen Hildebrandt G (1998) Therapeutische Physiologie. In: GutenKrankheiten anderer Organsysteme gibt es physikalischbrunner Chr, Hildebrandt Chr, Hildebrandt D (Hrsg) Handmedizinische Therapien, so z. B. in der Pädiatrie, Pneubuch der Balneologie und medizinischen Klimatologie. mologie, Urologie, Gynäkologie, Dermatologie u. a. Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 5–84 In einigen Fällen stellt die Physikalische Medizin sogar einen kausalen Behandlungsansatz dar, wie das Beispiel metabolisches Syndrom zeigt: An seiner Entstehung ist die Insulinresistenz wesentlich beteiligt. Durch Ausdauertraining kann die Empfindlichkeit der Insulinrezeptoren gesteigert werden, während sie bei Bewegungsarmut abnimmt. Daher können die Symptome des metabolischen Syndroms, wie Glukoseintoleranz, Hyperlipidämie und arterielle Hypertonie, durch Ausdauertraining vermindert werden. Optimal ist die Kombination von Ausdauertraining und kalorienreduzierter Diät.

1.3.3 Rehabilitation > Die Rehabilitation zielt definitionsgemäß auf die Verhinderung oder Abschwächung negativer Krankheitsfolgen und den Ausgleich von entstandenen (Dauer-)Schäden (7 Kap. 4). In die6

2 2 Diagnostik in der Physikalischen Medizin J.-J. Glaesener, Chr. Gutenbrunner 2.1

Spezielle Anamneseverfahren – 14

2.2

Funktionsbezogene klinische Befunderhebung – 15

2.2.1 2.2.2 2.2.3

Funktionsbezogene Untersuchung des Bewegungsapparates – 16 Funktionsbezogene Untersuchung des Nervensystems – 20 Funktionsbezogene Kreislaufuntersuchung – 24

2.3

Funktionsbezogene apparative Messverfahren – 25

2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7

Muskelfunktionsanalyse – 25 Nervenfunktionsanalyse – 25 Bewegungsanalyse (inkl. Stand- und Ganganalyse) Algometrie – 27 Thermographie – 29 Arthrosonographie – 29 Kreislauf- und Lungenfunktionsanalyse – 29

Literatur

– 30

– 26

14

Kapitel 2 · Diagnostik in der Physikalischen Medizin

> > Einleitung

2

Ziele der Diagnostik sind: 5 Feststellung der den Beschwerden zugrunde liegenden Krankheit (Krankheitsdiagnose) 5 Feststellung der Art und des Ausmaßes der funktionellen Krankheitsauswirkungen (Funktionsdiagnose) 5 Gezielte Verordnung der physikalischen Therapie Hiezu stehen spezielle Anamneseverfahren, funktionsbezogene klinische Untersuchungsverfahren und apparative Messverfahren zur Verfügung. In der Physikalischen Medizin wird der Begriff »funktionell«, anders als in vielen anderen Gebieten der Medizin, für die Beschreibung einer Störung von Körperfunktionen (z. B. Stehen, Sitzen, Bewegungen, Kreislauffunktionen, Schlucken) verwendet. Funktionsstörungen sind meistens Folgen struktureller Schäden, können aber auch ohne nachweisbare Veränderungen der Körperstrukturen vorkommen (Funktionserkrankungen).

2.1

Spezielle Anamneseverfahren

Beim Erheben der Anamnese sollte dem Patienten zunächst Zeit gegeben werden, seine Beschwerden spontan ausführlich zu schildern. Die daraus gewonnenen

Informationen sind die entscheidende Basis für die Diagnose, zumindest aber für die gezielte weitere Befragung und die anschließende Untersuchung. Es folgen gezielte Fragen zum zeitlichen Auftreten (erstmaliges Auftreten, Verlauf, Abhängigkeit von der Tageszeit), zum Charakter der Beschwerden sowie zu verstärkenden und entlastenden Situationen (z. B. Lageabhängigkeit; . Tab. 2.1 und 2.2). p Zur Quantifizierung der Beschwerden können bei der Anamnese verbale Beschreibungen der Beschwerdeintensität (z. B. Schmerzskalen) und der funktionellen Krankheitsauswirkungen (z. B. Länge der schmerzfreien Gehstrecke, Zahl der Treppenstufen) hinzugezogen werden.

Als dritter Schritt wird der Patient nach Vor- und Begleiterkrankungen sowie nach bislang durchgeführten Therapiemaßnahmen (medikamentöse und physikalische Therapie) befragt, wobei zwischen wirksamen und unwirksamen Therapieversuchen unterschieden wird. Auch daraus lassen sich Rückschlüsse auf die zugrunde liegende Krankheits- und Funktionsdiagnose ziehen. Schließlich müssen auch potenziell krankheitsbeeinflussende Lebensbedingungen beruflicher und privater Art (z. B. sitzende Tätigkeit, Überkopfarbeiten, Nacht- und Schichtarbeit, Wohnumfeld, Familie, Freizeitaktivitäten) mit in die Anamneseerhebung einbezogen werden (7 Kap. 5).

. Tabelle 2.1. Wichtige Fragen der Anamneseerhebung bei Beschwerden am Bewegungssystem

Parameter

Schmerz

Erstmaliges Auftreten

Plötzlich, schleichend, ausgelöst durch bestimmtes Ereignis

Entwicklung und Verlauf

Stetig zunehmend, intermittierend, tageszeitabhängig, vorwiegend nachts, bewegungsund/oder belastungsabhängig

Lokalisation

Streng lokalisiert, wechselnde Lokalisation, diffus, ausstrahlend (segmental und pseudoradikulär)

Schmerzcharakter

Dumpf, pochend, schneidend, brennend, einschießend

Schmerzbegleitende Sensationen

Missempfindungen, Schweregefühl, Lähmungsgefühl, »eiserner Ring«, »Kralle«

Schmerzbegleitende Funktionsstörungen

Muskelschwäche, Koordinationsstörungen, Unsicherheit, »Versagen« der Extremität

Auslöser

Langes Stehen, langes Gehen, Sitzen in tiefem Sessel, Arm heben über Horizontale, Tragen einer Last, Rumpfvorneige, Rumpfdrehung, flaches Liegen auf dem Rücken

Entlastungen

Rumpfaufrichtung, Ablegen des Armes und Schonhaltung, Bauchlage

15 2.2 · Funktionsbezogene klinische Befunderhebung

2

. Tabelle 2.2. Wichtige Fragen der Anamneseerhebung bei Beschwerden am Nervensystem

Parameter

Schmerz

Erstmaliges Auftreten

Plötzlich, schleichend, ausgelöst durch bestimmtes Ereignis

Art der Beschwerden

Missempfindungen, Krämpfe, Taubheit, Schwäche, Steifigkeit, Zittern, Störung der Feinmotorik

Entwicklung und Verlauf

Stetig zunehmend, intermittierend, tageszeitabhängig, situationsabhängig

Lokalisation

Den ganzen Körper betreffend, einzelnes Körperareal, diffus, umschrieben, Dermatom, peripheres Nervenversorgungsgebiet

Begleitende Symptome

Schmerz, vegetative Störungen (z. B. Schwitzen, Kreislaufstörungen, Flush, Schlafstörungen), Sprech- und Sprachstörungen, Sehstörungen, Schluckstörungen, Müdigkeit

Auslöser

Rückneigen oder Drehen des Kopfes, Vorstrecken des Armes, große Schritte, längere Gehstrecke

Entlastungen

Steifhaltung des Nackens, Schonen des Armes, Vorbeugen

Erstmaliges Auftreten

Plötzlich, schleichend, ausgelöst durch bestimmtes Ereignis

Damit sind schon wesentliche »Puzzle-Steine« für die Diagnosestellung gesammelt. Sie werden durch die sich anschließende klinische Untersuchung ergänzt. ä Beispiel Ein rüstiger, 70-jähriger Patient beklagt rezidivierende starke Rückenschmerzen, die insbesondere beim längeren Gehen auftreten. Es hindere ihn daran, Spaziergänge mit seiner Frau zu machen, sei mittlerweile sogar ein Handikap beim Einkaufen im Einkaufszentrum. Die gezieltere Befragung ergibt, dass mitllerweile die beschwerdefreie Gehstrecke auf ca. 150 m beschränkt ist. Die Schmerzen werden dann unerträglich und strahlen über beide Gesäßhälften in die Außenseiten beider Oberschenkel aus. Es tritt ein zunehmendes Lähmungsgefühl in beiden Beinen auf, das ihn zwingt, stehen zu bleiben. Durch kurzes Sitzen oder durch Stehenbleiben in Vorneigehaltung des Rumpfes klingen die Beschwerden wieder ab und er kann dann wiederum eine Strecke von fast gleicher Länge bewältigen. Im Liegen verspürt er überhaupt keine Schmerzen. Die mehrtägige Fahrradtour im vergangenen Monat habe er gänzlich ohne Schmerzen absolvieren können. Die anamnestischen Angaben ergeben den dringenden Verdacht auf eine lumbale Spinalkanalstenose. Die Verdachtsdiagnose wird durch die anschließende klinische Untersuchung und die Kernspintomographie der Lendenwirbelsäule bestätigt.

2.2

Funktionsbezogene klinische Befunderhebung

Die klinische Untersuchung beginnt mit der Beobachtung der Bewegungsabläufe beim Betreten des Untersuchungszimmers, besser beim Aufstehen aus den Sitzmöbeln des Wartebereiches. Besonders zu beachten sind das Gangbild, die ersten Schritte, die Körperhaltung und die Flüssigkeit der Bewegungsabläufe. Dies setzt sich fort beim Betrachten des Auskleidens (z. B. Schulterbeweglichkeit, Bücken). Schließlich gehören dazu das Hinlegen, das Drehen auf der Untersuchungsliege und das Wieder-Hochkommen, auch wenn diese Bewegungen zu einem späteren Zeitpunkt der Untersuchung erfolgen. Bei der Beobachtung der Bewegungsabläufe wird auf Schonhaltungen und Bewegungseinschränkungen geachtet sowie typische Ausweichbewegungen (z. B. Abstreifen des Pullovers in Vorneigehaltung des Rumpfes, um ein aktives Heben des betroffenen Armes zu vermeiden; das Hinsetzen zum Vermeiden des Einbeinstandes beim Abstreifen der Hose). Bei der Inspektion, die am weitgehend entkleideten Patienten von vorne, hinten und von der Seite erfolgen muss, wird besonders auf Körperhaltung, Körperform, Zustand von Muskulatur und Haut geachtet (. Tab. 2.3). Daran schließt sich die funktionsbezogene klinische Untersuchung der wichtigsten Funktionsbereiche (Bewegungsapparat, Nervensystem, Herz-Kreislauf-System).

16

Kapitel 2 · Diagnostik in der Physikalischen Medizin

. Tabelle 2.3. Wichtige Parameter der Inspektion

2

Parameter

Normabweichungen

Körperhaltung Körperform Muskulatur Haut und Subkutangewebe Gelenke

Haltungsschwäche, Schonhaltung ( . Abb. 2.1), Fehlhaltung Asymmetrien, Fehlbildungen, Gibbus, Tannenbaum (Osteoporose) Symmetrie, Atrophien, Hypertrophie Schwellung, Ödem, Farbveränderung (Zyanose, Rötung oder Abblassung), Narben Schwellung (Gelenk und periartikulär), Rötung, Formveränderung, Fehlstellung

. Abb. 2.2. Fixieren der Skapula bei Untersuchung des Glenohumeralgelenkes

prüfung werden Inklination, Reklination, Seitneigung und Rotation der Halswirbelsäule, der Brustwirbelsäule und der Lendenwirbelsäule getrennt geprüft.

. Abb. 2.1. Schonhaltung bei akuter Lumbalgie

2.2.1 Funktionsbezogene Untersuchung

des Bewegungsapparates Untersuchung der Wirbelsäule Die Untersuchung der Wirbelsäule muss zum Aufspüren der Beschwerdeursache detailliert erfolgen. Geprüft werden sowohl die Beweglichkeit ganzer Wirbelsäulenabschnitte (globale Bewegungsfunktion) als auch die Bewegungen zwischen 2 benachbarten Wirbeln (segmentale Bewegungsfunktion). Bei der globalen Bewegungs-

< Mitbewegungen der angrenzenden Rumpfanteile (z. B. Brustwirbelsäule und Schultergürtel bei Untersuchung der Halswirbelsäule) müssen durch standardisierte Untersuchungsgriffe vermieden werden (. Abb. 2.2). Alle Bewegungsprüfungen werden vom Untersucher langsam durchgeführt.

Zusätzlich können mit manualmedizinischen Kenntnissen die Bewegungen in einzelnen Bewegungssegmenten (2 benachbarte Wirbel einschließlich der dazugehörigen Bandscheiben der Ligamente und Muskeln) geprüft werden (segmentale Bewegungsprüfung). Dies erlaubt eine gezielte Lokalisation der Störung. Die Dokumentation der Bewegungsausmaße erfolgt nach der Neutral-Null-Methode (. Abb. 2.3). Zusätzlich sind der Tonus der Muskulatur, Bewegungsschmerzen, bewegungsabhängig ausgelöste Parästhesien (Missempfindungen) und Dysästhesien (Sensibili-

17 2.2 · Funktionsbezogene klinische Befunderhebung

2

a

b . Abb. 2.3a,b. Untersuchungsblatt nach der Neutral-Null-Methode am Beispiel der oberen (a) und unteren (b) Gliedmaßen

tätsstörungen) sowie Schmerzausstrahlungen zu dokumentieren. Für die einzelnen Wirbelsäuleabschnitte gibt es zusätzliche spezielle Bewegungsprüfungen und Messparameter: Halswirbelsäule. Im Bereich der Halswirbelsäule wird

der Kinn-Jugulum-Abstand gemessen (Distanz zwi-

schen Kinnspitze und Sternum bei maximaler Flektion der Halswirbelsäule). p Die in maximaler Flektion der Halswirbelsäule geprüfte Rotationsbewegung gibt Hinweise auf mögliche Störungen der Kopfgelenksbeweglichkeit z. B. Atlas-Okziput oder Atlas-Axis. In 6

18

2

Kapitel 2 · Diagnostik in der Physikalischen Medizin

Lendenwirbelsäule. Ein gebräuchliches Maß für

maximaler Reklination weisen Störungen der Rotation auf segmentale Bewegungsstörungen der unteren Halswirbelsäule bzw. des zervikothorakalen Übergangs hin. Brustwirbelsäule. Ein gebräuchliches Maß für die Beweglichkeit der Brustwirbelsäule ist das Zeichen nach Ott, welches die Veränderung einer Messstrecke von 30 cm ab Dornfortsatz C7 nach kaudal bei maximaler Vorbeuge dokumentiert (z. B. 30/34). Zusätzliche Informationen über die Starre des Brustkorbes gibt die Messung der Atembreite (Thoraxumfang bei maximaler Inspiration und Exspiration) bzw. der Atemexkursionen.

die Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule ist das Zeichen nach Schober, das die Veränderung einer Messstrecke von 10 cm ab Dornfortsatz S1 nach kranial bei maximaler Vorbeuge dokumentiert (z. B. 10/13). p In Bauchlage kann Druck auf den Dornfortsatz eines Wirbels ausgeübt werden. Wenn diese »Ventralisierung« des Wirbelkörpers gegenüber dem darunter oder darüber liegenden Wirbelkörper extrem schmerzhaft ist (»positiver Federungstest«), kann die entsprechende Bandscheibe mitbetroffen sein.

. Abb. 2.4. Messblatt für die Wirbelsäulenuntersuchung nach der Neutral-Null-Methode

HWS: Kinn-Brustbein-Abstand bei maximaler Vor- (Norm: 0–1 cm) und Rückwärtsneigung (Norm: 17–20 cm) 0

45°−70°

70°−45°

Vorneigen/Rückneigen

0

45°

45°

Seitneigen re./li. 0 80°–60°

60°–80°

0

30°–45°

Drehen re./li.

BWS und LWS: Seitneigen re./li.

30°–40°

Drehen im Sitzen re./li.

0

Jugulumabstand im Liegen

a a‘ b

a : a‘ = 30 : 34 b : b‘ = 10 : 15

b‘

Finger-Boden-Abstand Finger-Zehen-Abstand a) Ott: Messstrecke 30 cm kaudal C7 (a:a') b) Schober: Messstrecke 10 cm kranial S1 (b:b') Schulter-/Beckentiefstand re./li. Seitverbiegung sagittale Verbiegung (kyphotische oder lordotische Fehlform)

19 2.2 · Funktionsbezogene klinische Befunderhebung

Mittels der manualdiagnostischen Untersuchung der verschiedenen Abschnitte der Wirbelsäule können Rückschlüsse auf die gestörte Bewegungsrichtung der betroffenen Zwischenwirbelgelenke gezogen werden. Dieses betrifft im Bereich der Lendenwirbelsäule insbesondere die Flexion und die Extension, im Bereich der Halswirbelsäule vor allem auch die Rotation und im Bereich der Brustwirbelsäule die Seitneigung (. Abb. 2.4; 7 Kap. 3.4). p An Schmerzen im Bereich der Iliolumbalregion sowie bei Hüft- und Knieschmerzen sind häufig auch reversible Bewegungsstörungen der Sakroiliakalgelenke (SIG) beteiligt. Sie können durch verschiedene einfache Tests erfasst werden wie z. B. dem sog. Vorlaufphänomen: Im Stehen legt der Untersucher die Daumen auf beide Spinae iliacae superiores und fordert den Patienten auf, sich langsam vorzubeugen (. Abb. 2.5). Laufen die beiden durch den Daumen markierten Knochenpunkte unterschiedlich schnell oder unterschiedlich weit nach oben, kann eine Blockierung vorliegen, die dann durch einen mobilisierenden Handgriff in der Regel beseitigt werden kann (7 Kap. 3.4).

Zur Untersuchung der verschiedenen Wirbelsäulenabschnitte gehört auch zwingend die Palpation der paravertebralen Muskulatur sowie die Prüfung der Druck-

2

schmerzhaftigkeit von definierten Knochenpunkten, Ligamenten und Gelenkstrukturen z. B. Facetten- und Kostotransversalgelenke. Untersuchung der Gelenke Wichtige Kriterien für die Untersuchung der Gelenke sind die Prüfung von aktiver und passiver Beweglichkeit sowie die Prüfung der Bewegungen gegen Widerstand zum Abklären des Funktionsstatus der zugehörigen Muskulatur. Auch hier dient zur Dokumentation der Gelenkbeweglichkeit in 3 Ebenen die Neutral-Null-Methode. p Bei der Untersuchung eines bewegungseingeschränkten Gelenkes, z. B. nach einem Unfall, gibt das Gefühl des Untersuchers am Bewegungsende (Endgefühl) Aufschluss über die Art der Störung und den noch möglichen Spielraum des Bewegungszugewinns unter Therapie. Ein »federndes Endgefühl« deutet auf eine ligamentäre bzw. muskuläre Ursache der Bewegungseinschränkung hin, ein »hartes Endgefühl« auf einen knöchernen Stopp.

Neben der Prüfung von Gelenkbeweglichkeit und Endgefühl werden in der manuellen Medizin auch Translationsbewegungen geprüft (Gelenkspiel). Diese Prüfung ist insofern von Bedeutung, als jede Gelenkbewegung an den artikulierenden Knorpelflächen eine Gleitbewegung darstellen (7 Kap. 3.4). Daher führen gestörte Gelenkleitbewegungen auch zur Verminderung des Bewegungsumfanges (bei einem konvexen Scharniergelenk z. B. zur Gegenseite). Diese Prüfung gibt Hinweise auf eine manualmedizinische Behandlung (z. B. repetitive Mobilisationen im Sinne dieser Gleitbewegung). ä Beispiel Eine 74-jährige Patientin zog sich bei einem Sturz auf dem Weg zu ihrem Hausarzt eine subkapitale Humerusfraktur rechts zu. Diese wird am darauf folgenden Tag im Krankenhaus osteosynthetisch versorgt. In der Folge entwickelt sie eine schwere Pneumonie, auf der Basis der schon bestehenden Bronchitis. Nach

. Abb. 2.5. Vorlaufphänomen des Sakroiliakalgelenks (SIG): Die Daumen des Untersuchers markieren die Spina iliaca posterior superior beiderseits. Bei Blockierung eines SIG wandert der gegenseitige Daumen bei Vorbeugung des Patienten weniger schnell nach kranial (Pfeile)

Extubation und Mobilisation ergibt die Untersuchung des Schultergelenkes eine ausgeprägte Einschränkung sämtlicher Bewegungsausmaße im Sinne eines Kapselmusters (Außenrotation stärker eingeschränkt als Abduktion, Abduktion stärker eingeschränkt als Innenrotation). Beim Prüfen dieser Bewegungsrichtungen ist jeweils eine extreme Schmerzhaftigkeit

6

20

2

Kapitel 2 · Diagnostik in der Physikalischen Medizin

auslösbar, lange vor Erreichen des entsprechenden Endgefühles. Vor Beginn der physiotherapeutischen Behandlung ist eine intraartikuläre Infiltration des Gelenkes erforderlich, um den akuten Reizzustand der Kapsel zu beheben. Anschließend tritt das jeweilige Endgefühl beim Prüfen der Beweglichkeit gleichzeitig mit dem Beginn der Schmerzen auf.

Untersuchung der Muskulatur Die Untersuchung der Muskulatur umfasst Kraft, Tonus, Länge bzw. Dehnbarkeit sowie eine differenzierte Analyse der Schmerzhaftigkeit. Die klinische Kraftprüfung erfolgt über maximale isometrische Anspannung gegen den Widerstand der Untersucherhand, und zwar immer im Seitenvergleich. Die Ergebnisse werden in Kraftgraden klassifiziert und dokumentiert: 4 Grad 0: Keinerlei Aktivität sichtbar und fühlbar 4 Grad 1: Sichtbare Kontraktion ohne Bewegungseffekt 4 Grad 2: Bewegungen möglich unter gleichzeitiger Ausschaltung der Schwerkraft 4 Grad 3: Bewegungen gegen die Schwerkraft möglich 4 Grad 4: Bewegungen gegen Widerstand möglich 4 Grad 5: Normale Muskelkraft mit Überwindung auch erhöhter Widerstände Der Muskeltonus wird palpatorisch beurteilt, wobei im Seitenvergleich zwischen normal, verspannt (hyperton) und tonusgemindert (schlaff, hypoton) unterschieden wird (zu Spastik und Rigor s. u). Häufig werden in der Muskulatur umschriebene Verhärtungen palpiert. Der Entstehungsmechanismus dieser sog. Myogelosen ist bis heute ungeklärt. Darüber hinaus kommen schmerzhafte Muskelpunkte vor, die eine Schmerzausstrahlung hervorrufen (triggern) und als Triggerpunkte bezeichnet werden. Diese können mit geeigneten manualtherapeutischen Techniken oder Infiltrationen beeinflusst werden. Die Muskeluntersuchung umfasst zusätzlich die Prüfung von Dehnfähigkeit und Länge der Muskulatur. Dieses erfolgt aus standardisierten Ausgangspositionen und setzt die volle Gelenkbeweglichkeit voraus. p Die Feststellung verkürzter Muskeln ist ein diagnostischer Hinweis auf wiederholtes oder längeres Bestehen der Funktionsstörung. Das Aufdehnen dieser Muskeln kann für den weiteren Therapieverlauf entscheidend sein.

2.2.2 Funktionsbezogene Untersuchung

des Nervensystems Bei der Inspektion wird zunächst auf Mimik, Gestik, Haltung und Gangbild des Patienten geachtet. Hierbei lassen sich häufig schon Rückschlüsse auf neurologische Störungen ziehen, z. B. bei Vorliegen einer Hypooder Hyperkinesie. Die Untersuchung beginnt mit der Funktionsprüfung der Hirnnerven. Prüfung der Motorik. Zunächst werden die willkürli-

chen Bewegungen im Bereich aller 4 Extremitäten und des Rumpfes geprüft zum Ausschluss einer Lähmung. Hierzu dient u. a. der Armhalteversuch, bei dem eine Pronations- und Absinktendenz eines Armes einen Hinweis auf eine latente Parese gibt. Gleiches gilt für den Beinhalteversuch in Rückenlage mit beidseits angewinkelten Hüft- und Kniegelenken, bei dem das Absinken eines Unterschenkels auf eine Lähmung deutet. Eine isolierte Lähmung der Hand, d. h. eine Monoparese, kann ein Hinweis auf ein tumoröses Geschehen im Bereich der kontralateralen Hirnrinde sein. Eine Halbseitenlähmung (Hemiparese) ist ein Hinweis auf eine Läsion der inneren Kapsel, häufig als Folge eines Infarktes der Arteria cerebri media oder einer Massenblutung. An der unteren Extremität werden speziell die folgenden motorischen Funktionen geprüft: 4 Monopedaler Zehenstand (ggf. 10- bis 20-mal in Folge): Schwäche oder Ausfall sind Hinweis auf eine Läsion der S1-Wurzel. 4 Fersengang: Schwäche oder Ausfall sind Hinweis auf eine Läsion der Nervenwurzel L5, ggf. auch der Wurzel L4. 4 Großzehenhebung, Zehenhebung und Zehenbeugung gegen Widerstand: Ausfall oder Schwäche sind Hinweis auf eine Läsion der Wurzel L5. 4 Kniestreckung gegen Widerstand: Schwäche ist ein Hinweis auf eine Läsion der Wurzel L4. 4 Kniebeugung gegen Widerstand in Bauchlage: Schwäche ist ein Hinweis auf eine Läsion der Wurzel S1. 4 Hüftbeugung gegen Widerstand: Schwäche ist ein Hinweis auf eine Läsion der Wurzel L3. Prüfung des Muskeltonus. Auch der physiologische

Spannungszustand der Skelettmuskulatur sowohl in Ruhe als auch bei Kontraktion des Muskels kann durch Schädigungen zerebraler und auch zerebellärer Bahnen

21 2.2 · Funktionsbezogene klinische Befunderhebung

nachhaltig verändert werden. Eine spastische Lähmung ist ein Hinweis auf einen Ausfall des ersten Motoneurons, eine schlaffe Lähmung in der Regel ein Hinweis auf eine Schädigung des zweiten Neurons. Bei extrapyramidalen Störungen sind die Tonusveränderungen nicht mit Paresen verbunden. Ein deutlich erhöhter Muskeltonus kann auch auf spastisch veränderte Muskulatur hindeuten. Die Spastik kann bei vorsichtiger gleichmäßiger passiver Bewegung minimal bleiben. Sie entsteht unter funktioneller Beanspruchung der Muskel und nimmt bei brüsken passiven Bewegungen zu (»Taschenmesserphänomen«) und lässt dann plötzlich wieder nach. Man unterscheidet Spastik von Rigor, bei dem eine konstante Tonussteigerung der Muskulatur vorhanden ist, in Beugern und Streckern gleichermaßen ausgeprägt. Es findet sich ein anhaltend zäher Dehnungswiderstand. Spastik kann sich auch in wiederholten unwillkürlichen Muskelkontraktionen (Kloni) äußern. Muskelatrophie. Muskelatrophien und Faszikulationen der Muskulatur werden bei der exakten funktionellen Untersuchung gezielter Bewegungen der unteren Extremität festgestellt. Sie weisen auf Läsionen peripherer Nerven hin bzw. von Nervenwurzeln oder sogar eines gesamten Plexus (Plexus cervicobrachialis bzw. Plexus

lumbosacralis). Umschriebene Atrophien kleiner Muskeln, z. B. der kleinen Handmuskeln, können manchmal ein erster Hinweis auf zentralnervöse Schädigungen, z. B. einer amyotrophischen Lateralsklerose, sein. Sie können auch Folgen peripherer Nervenschädigungen sein: 4 Parese des Nervus medianus: »Schwurhand«: Atrophie des Daumenballens 4 Parese des Nervus ulnaris: »Krallenhand«: Atrophie des Hypothenars und der Mm. interossei 4 Parese des Nervus radialis: »Fallhand«: Parese der Handstreckermuskulatur am Unterarm Reflexprüfung. Die Reflexprüfung gehört zwingend zur funktionsbezogenen Untersuchung des Nervensystems. Reflexe sind unwillkürliche Antworten auf Stimuli afferenter Nervenbahnen, denen eine Kontraktion eines isolierten Muskels als Reflexantwort folgt (. Tab. 2.4). In Einzelfällen sollten auch die pathologischen Reflexe geprüft werden. Sie sind Fremdreflexe und werden auch als Pyramidenbahnzeichen bezeichnet. Sie weisen auf eine Läsion zentraler motorischer Neurone im Gehirn oder im Rückenmark hin, bei der in der Regel neben pyramidalen auch extrapyramidale Bahnen betroffen sind.

. Tabelle 2.4. Wichtige Reflexe

Reflex

Höhenlokalisation

Eigenreflexe (Muskeldehnungsreflexe) der oberen Extremität Bizepssehnenreflex Brachioradialisreflex Trizepssehnenreflex Trömner- und Knipsreflex

C5–C6 C5–C6 C6–C8 C7–C8

Eigenreflexe (Muskeldehnungsreflexe) der unteren Extremität Adduktorenreflex Patellarsehnenreflex Tibialis-posterior-Reflex Achillessehnenreflex Rossolimo-Reflex

L2–L4 L3–L4 L5 S1–S2 S1–S2

Physiologische Fremdreflexe (die Stimulation von Exterorezeptoren der Haut führt zu einer Kontraktion an der Muskulatur des Erfolgsorgans) Bauchhautreflex Kremasterreflex Bulbokavernosusreflex Analreflex

2

Th6–Th12 L1–L2 S3–S4 S3–S5

22

Kapitel 2 · Diagnostik in der Physikalischen Medizin

Babinski-Zeichen

2

Ein Beispiel für einen pathologischen Reflex ist das Babinski-Zeichen. Es wird durch kräftiges Bestreichen der lateralen Fußsohle ausgelöst. Bei positivem (pathologischem) Zeichen kommt es zu einer Extension der Großzehe bei gleichzeitiger Plantarflexion der Kleinzehen, meistens mit Spreizphänomen der Zehen.

Sensibilitätsprüfung. Die Prüfung der Sensibilität be-

rücksichtigt zunächst die vom Patienten angegebenen, subjektiv empfundenen sensiblen Reizsymptome. Hierzu gehören Parästhesien (»Kribbeln, Prickeln, Ameisenlaufen, elektrisierende Schmerzen«) und Dysästhesien (als quälend empfundene Missempfindungen). Beide sind häufig Hinweise auf Schädigungen peripherer Nerven und Nervenwurzeln. Neben den streng dermatombezogenen Missempfindungen finden sich bei funktionellen Erkrankungen des Bewegungsapparates häufig auch unscharf begrenzte, nicht segmentbezogene Dysästhesien (»pseudoradikuläre Reizzustände«; . Abb. 2.6). Es wird im Weiteren gezielt nach Sensibilitätsausfällen gesucht. Differenziert wird dabei zwischen Ausfällen der »Oberflächen«- und »Tiefensensibilität« (. Abb. 2.7). Bei der Sensibilitätsprüfung werden verschiedene Empfindungsqualitäten zunächst in verschiedenen Hautarealen, dann durch sukzessive Stimulation an derselben Stelle untersucht. . Abb. 2.6. Beispiel für die Lokalisation von Missempfindungen oder Schmerzen im Rahmen einer pseudoradikulären (nicht wurzel- bzw. segmentbezogenen) Symptomatik: Schmerzausstrahlung und typische Triggerpunkte im Verlauf des M. piriformis. (Nach Travell u. Simons 2000)

4 4 4 4 4 4 4

Berührungsempfindung Schmerzempfindung Temperaturempfindung Vibrationsempfindung Bewegungsempfindung Lageempfindung Kraftempfindung

Diese Empfindungsqualitäten werden im Seitenvergleich untersucht. Die Methodik der Untersuchung ist den neurologischen Lehrbüchern zu entnehmen. Dabei bestimmt man Grenzen der Ausfälle und dokumentiert sie nach einem Schema der peripheren bzw. segmentalen sensiblen Innervation. Nervenkompressionstests. Entsprechend ihrer ober-

flächlichen Lage zwischen Knochen und Haut lassen sich einige Nerven der oberen Extremität und der unteren Extremität manuell komprimieren. Mit diesen Tests lassen sich die von den Patienten beklagten Parästhesien reproduzieren. So kann ein direkter Hinweis auf eine chronische Druckschädigung des Nervs objektiviert werden. Stechende Schmerzen im Versorgungsgebiet des geschädigten Nervs hingegen deuten auf eine länger zurückliegende Kontinuitätsunterbrechung hin (. Tab. 2.5). Nervendehnungstests. Mit den Nervendehnungstests wird eine Reizung einer Nervenwurzel bzw. isolierten Nerven ausgeschlossen bzw. objektiviert. Der bekann-

23 2.2 · Funktionsbezogene klinische Befunderhebung

2

. Abb. 2.7. Einteilung der wichtigsten Empfindungsqualitäten. (Nach Masuhr u. Neumann 1999)

. Tabelle 2.5. Kompressionssyndrome peripherer Nerven der Extremitäten

Syndrom

Nerv

Region der Störung

Provokationstest

Sulcus-ulnaris-Syndrom

N. ulnaris

Ellenbogengelenk

Druck im Bereich des Sulcus n. ulnaris

Pronator-teres-Syndrom

N. medianus

Unterarm

Gezielter Druck im Bereich des M. pronator teres distale Ellenbeuge

Karpaltunnelsyndrom

N. medianus

Handgelenk

Positives Hoffmann-Tinel-Zeichen: Beklopfen des Retinaculum flexorum Positives Phalen-Zeichen: Dysästhesien nach anhaltender passiver maximaler Dorsal- oder Volarflexion des Handgelenkes

Meralgia paraesthetica

N. cutaneus femoris lateralis

Lateraler und ventraler proximaler Oberschenkel

Palpation und Druck im Bereich des Ligamentum inguinale

Hinteres Tarsaltunnelsyndrom

N. tibialis

Sprunggelenk medial

Druck hinter der Spitze des Innenknöchels

Morton-Metatarsalgie

Nn. digitales plantares

Vorfuß Unterseite

Druck der Metatarsalköpfchen gegeneinander

Obere Extremitäten

Untere Extremität

teste Nervendehnungstest ist die Prüfung des LasègueZeichens (»straight leg raising«). In Rückenlage wird das gestreckte Bein vom Untersucher in streng sagittaler Richtung angehoben. Positiv ist das Lasègue-Zeichen nur, wenn Schmerzen im Bereich der Gesäßhälfte oder des Rückens vor Erreichen des Endes der Dehnfähigkeit der Ischiokruralmuskulatur (im Vergleich zum Ausmaß der gestreckten Beinhebung auf der Gegenseite) auftreten. Je nach Ausmaß des Bandscheibenvorfalls oder Lage des Prolapses kann auch die Nervenwurzel L5 oder S1 der Gegenseite irritiert sein. Es kommt dann zu einem sog. »gekreuzten positiven Lasègue-Zeichen«, wobei der Nervenschmerz auf der Gegenseite der ur-

sprünglich beklagten Rückenschmerzen beim LasègueTest auszulösen ist. p Bei verkürzter ischiokuraler Muskulatur kann es bei Prüfung des Lasègue-Zeichens auch zu Dehnungsschmerzen dieser Muskeln kommen. Sie beruhen nicht auf eine Dehnung der Nervenwurzel. Im Unterschied zu dem typischen LasègueSchmerz sind diese Schmerzen lokal auf den Muskel begrenzt und strahlen nicht bis in den Fuß aus. Hierbei handelt es sich um den sog. »Pseudo-Lasègue«. Daher ist es wichtig, bei Prü6

24

2

Kapitel 2 · Diagnostik in der Physikalischen Medizin

fung des Lasègue-Zeichens auch den Ort der Schmerzen zu erfragen und ggf. einen gesonderten Muskelverkürzungstest anzuwenden.

Eine Irritation der Wurzel L3 oder L4 führt zu einem positiven umgekehrten Lasègue-Zeichen (»prone knee bend test«). In Bauchlage und bei gestrecktem Hüftgelenk wird das Kniegelenk gebeugt und die Ferse an die gleichseitige Gesäßhälfte angenähert. Auch dieser Test wird im Seitenvergleich geprüft. Bei positivem Test kommt es zu einem heftigen Schmerz im Verlauf des N. femoralis, deutlich zu unterscheiden von einem muskulären Dehnungsschmerz der Quadrizepsmuskulatur, insbesondere des M. rectus femoris. Entsprechende Tests finden sich auch an der oberen Extremität, bekannt als ULNT (»upper limb neural tension test«). Mit diesen Tests lassen sich gezielt Irritationen des N. radialis, des N. medianus oder des N. ulnaris objektivieren. Sie sind auch bei Wurzelirritationen im Bereich der HWS positiv. Ein globaler Test auf durale Reizung ist der sog. »Slump-Test«. Im Sitzen nimmt der Patient bewusst eine schlechte Haltung ein mit maximaler Flexion der Halswirbelsäule, maximaler Flexion der Brustwirbelsäule und Kyphosierung der Lendenwirbelsäule. Bei gleichzeitigem tiefem Ausatmen wird abwechselnd das linke und das rechte Kniegelenk passiv gestreckt. Damit sind die neuralen Strukturen sowohl im Bereich des Spinalkanals sowie im Bereich der unteren Extremität maximal gedehnt und es kann zu einem einschießenden Schmerz am Ort der Kompression der Dura kommen. Koordinationsprüfung. Die Prüfung der Koordination

konzentriert sich auf das geordnete Zusammenspiel der Muskeln. Diese Prüfung ist zwingend erforderlich, wenn Stand und Gang des Patienten unsicher sind (Ataxie) bzw. seine Haltung auffällig ist und viele Bewegungen nicht mehr sicher durchführbar sind. 4 Standataxie: Fallneigung, Standunsicherheit, Gleichgewichtsstörung 4 Rumpfataxie: freies Sitzen nicht mehr möglich 4 Gangataxie: breitbeiniger Gang und ausfahrende, manchmal schleudernde Bewegungen der unteren Extremitäten Gezielte Tests bieten sich bei der Prüfung der Koordination an (genaue Durchführung s. Neurologie-Lehrbücher). Diese Funktionstests dienen nicht nur der Krankheitsdiagnose, sondern liefern auch Hinweise für

die spezifisch zu verordnende Physikalische Therapie, insbesondere bezüglich die Krankengymnastik und Ergotherapie.

Koordinationstests 5 Stand und Gang – Romberg-Versuch: Stehen bei eng zusammenstehenden Füßen mit geschlossenen Augen (möglicher Hinweis auf Spinalataxie oder Zerebellärataxie) – Unterberger-Tretversuch: Treten auf der Stelle mit geschlossenen Augen (möglicher Hinweis auf Vestibularis- oder Kleinhirnläsion) 5 Zielbewegungen – Finger-Nase-Versuch (FNV): bei Verfehlen des Ziels durch den Finger spricht man von Dysmetrie oder Hypermetrie – Knie-Hacke-Versuch (KHV): das Verfehlen der Kniescheibe durch die hochgezogene Ferse der Gegenseite ist ebenfalls ein Hinweis auf Dysmetrie oder Hypermetrie 5 Feinmotorik – Diadochokinese: rhythmisch alternierendes Supinieren und Pronieren beider Hände – Feinmotorik der Finger: rasches Opponieren von Daumen gegenüber sämtlichen Fingern der gleichen Hand 5 Untersuchung des Tremors – Ruhetremor – Haltetremor – Intentionstremor

2.2.3 Funktionsbezogene Kreislauf-

untersuchung Arterielle Versorgung. Die arterielle Durchblutung

wird klinisch untersucht durch Inspektion der Hautdurchblutung und Palpation der Arterien an definierten Untersuchungspunkten. Zusätzlich können Strömungsgeräusche bei der Auskultation ein Frühsymptom einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK) sein. Schließlich gibt es Funktionsprüfungen wie die Lagerungsprobe nach Ratschow und die Faustschlussprobe. Bei der Lagerungsprobe nach Ratschow

25 2.3 · Funktionsbezogene apparative Messverfahren

liegt der Patient in Rückenlage, die Beine sind rechtwinklig senkrecht angehoben. Für 2 Minuten lässt man den Patienten die Füße kreisen oder wippen; danach kann er sich aufsetzen und die Beine locker herabhängen lassen. Normalbefund: diffuse Hyperämie nach 5 Sekunden, Venenfüllung nach 10 Sekunden. Pathologischer Befund: fleckige oder diffuse Abblassung der Fußsohle, verspätete Venenfüllung, Schmerzen. Entsprechende Phänomene können an der oberen Extremität bei der sog. Faustschlussprobe (wiederholtes Öffnen und Schließen der Hand) beobachtet werden. Venöse Versorgung. Bei Venenerkrankungen sind insbesondere trophische Störungen (Verfärbungen und Verhärtungen von Haut und Unterhaut), Varikosis und Beinumfangsdifferenzen zu beachten. Bei der Palpation kann der Schmerz bei Daumendruck in die Fußsohle ein Hinweis auf eine tiefe Beinvenenthrombose sein (Payr-Zeichen). Darüber hinaus gibt es spezifische Tests auf Feststellung von Klappeninsuffizienzen im Venenbereich sowie der Venendurchgängigkeit. Sie haben wegen der einfach durchführbaren Doppler-Untersuchungen der Gefäße an Bedeutung verloren. Untersuchung von Herz und Atmung. Die funktions-

bezogenen Untersuchungen des Herzens und der Atmung sind heute ausschließlich apparativ. Vegetative Reaktionsweise. Ein einfacher Test zur Ab-

schätzung der individuellen vegetativen Reaktionsweise eines Patienten stellt die Messung des Puls-AtemFrequenzverhältnisses dar. Dabei wird die Herzfrequenz (Radialispuls) getastet und die Atmung beim liegenden Patienten beobachtet. Die Pulsfrequenz wird während 20 spontanen Atemzügen gezählt und das Ergebnis durch 20 geteilt (= Puls-Atem-Quotient [QP/A]). Ein QP/A von über 5,0 deutet auf eine erhöhte vegetative Reagibilität, Werte zwischen 3,0 und 5,0 eine mittlere Reagibilität und eine unter 3,0 liegende Werte auf eine verminderte Reagibilität hin.

2.3

Funktionsbezogene apparative Messverfahren

Funktionsbezogene Messverfahren in der Physikalischen Medizin umfassen zahlreiche zum Teil sehr unterschiedliche diagnostische Methoden. Das Spektrum reicht von einfachen Winkel- und Distanzmessung

2

(s. o.) bis hin zu aufwändigen apparativen Verfahren, die teilweise Spezialkliniken vorbehalten bleiben. Die größten Fortschritte innerhalb der vergangenen 10 Jahre betreffen die Stand-, Gang- und Bewegungsanalyse. Im Rahmen dieses Buches werden lediglich die Verfahren, die sich in der klinischen Praxis durchgesetzt haben, behandelt. Selbstverständlich können auch alle anderen Verfahren der klinisch-apparativen und bildgebenden Diagnostik (Röntgen, Computertomographie, Magnetresonanztomographie, Szintigraphie) bei entsprechender Fragestellung in der Physikalischen Medizin indiziert sein.

2.3.1 Muskelfunktionsanalyse Zur Objektivierung der Muskelkraft werden heute standardmäßig 2 Verfahren eingesetzt: 4 Isometrische Kraftmessung, bei der in der Regel die maximale Muskelkraft bei wiederholten Kurzkontraktionen bei gleichbleibender Winkelstellung bzw. Muskellänge gemessen wird. Diese Methode eignet sich zur Dokumentation von Trainingsverläufen. Sie ist zur klinischen Diagnostik weniger geeignet. 4 Isokinetische Kraftmessung, bei der über das gesamte Bewegungsausmaß eines Gelenkes die Muskelkraft kontinuierlich dokumentiert wird. Diese Methode ist apparativ sehr aufwändig und eignet sich für die Untersuchung schwacher und in den koordinativen Fähigkeiten beeinträchtigter Muskeln (. Abb. 2.8). Sie ist für eine differenzierte klinische Untersuchung der funktionellen Defizite bei Erkrankungen und Verletzungen am Bewegungsapparat geeignet.

2.3.2 Nervenfunktionsanalyse Mit der Elektromyographie (EMG) lassen sich Muskelaktionspotenziale ableiten zur Beurteilung und Differenzierung neurogener bzw. myogener Schädigungen. Die konzentrischen Nadelelektroden bestehen aus einem Platindraht und einer indifferenten Elektrode als Hülle. Der ruhende, entspannte Muskel, in den die Nadel an mindestens 3 Stellen eingestochen wird, ist normalerweise elektrisch stumm. Jede Spontanaktivität ist somit als pathologisch zu werten. Als Folge der willkürlichen Kontraktion eines Muskels entsteht eine Aktivie-

26

2

Kapitel 2 · Diagnostik in der Physikalischen Medizin

. Abb. 2.8. Messkurve der isokinetischen Kraft für verschiedene Hüftund Kniebewegungen einer Versuchsperson. (Aus Schönle: Rehabilitation. In: Grifka (Hrsg.): Praxiswissen Halteund Bewegungsorgane. Thieme 2004)

(Nm)

(Nm) Hüftflexion

200

200

100

Hüftextension

100

0

0 0

30

60

90

(º)

(Nm) 200

90

60

30

0 (º)

(Nm) Hüftabduktion 200

Hüftabduktion

100

100

0

0 30

0

0

(º)

(Nm)

30

(º)

(Nm) Knieextension

Knieflexion

300

300

200

200

100

100

0

0 30

60

90

(º)

30

60

90

(º)

rung zahlreicher motorischer Einheiten und damit ein sichtbares Indifferenzmuster der Muskelaktionspotenziale (MAP). Mit der Elektroneurographie (ENG) lässt sich die motorische und sensible Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) ableiten. Dies geschieht mittels Oberflächenelektroden und dient vorwiegend zur elektrophysiologischen Diagnostik peripherer Nervenläsionen. Die Zeit zwischen dem Reizimpuls (im proximalen Verlauf des Nerven) und der Reizantwort (am distalen Muskel abgeleitet) wird als Latenz bezeichnet und mittels folgender Formel ermittelt:

4 Visuell evozierte Potenziale (VEP) 4 Akustisch evozierte Potenziale (AEP) 4 Somatosensibel evozierte Potenziale (SEP)

Distanz zwischen proximalem und Reizpunkt (mm) 0005 = NLG (mm/ms) Differenz der proximalen und distalen Latenzzeiten (ms)

Zur Objektivierung von definierten Bewegungsabläufen sowie von anderen koordinativen Fähigkeiten des Körpers wurden standardisierte apparative Verfahren entwickelt. Sie finden heute zunehmend Eingang in die klinische Praxis. Ganganalysen werden entweder mittels Videoaufzeichnungen des Bewegungsablaufs, durch Registrierung markierter Knochenfixpunkte über Infrarot- oder Ultraschallsensoren oder durch Messung von Boden-

Mit den evozierten Potenzialen lassen sich umschriebene und disseminierte Prozesse des zentralen und peripheren Nervensystems lokalisieren. Man unterscheidet

Sie gehören – in der Hand des Neurologen – zur Standarddiagnostik der multiplen Sklerose, jedoch auch zur Überwachung der Komatiefe sowie zur Höhenlokalisation von Rückenmarksprozessen.

2.3.3 Bewegungsanalyse

(inkl. Stand- und Ganganalyse)

27 2.3 · Funktionsbezogene apparative Messverfahren

reaktionskräften über in Gehbahnen eingelassene Kraftmessplatten (Kistler-Platten) durchgeführt. Darüber hinaus gibt es Messsysteme, die auf der Basis von EMG-Registrierungen arbeiten. Die Messergebnisse erlauben eine differenzierte klinische Diagnostik und eignen sich zum Nachweis von Therapieeffekten auf das Gangbild. Als objektive Messparameter des Gangbildes erfasst man z. B. das Abrollmuster und die Schrittfolge (Kadenz). Die Stabilität des Stehens bzw. die vermehrten Ausgleichbewegungen im Rahmen neurologischer Störungen werden ebenfalls mittels Kistler-Platten aufgezeichnet, wobei die Stärke auftretender Kraftschwankungen als Maß der Koordinationsstörungen gilt. Auch für einzelne Bewegungsabläufe gibt es heute Registriersysteme, die analog zu den Ganganalysen arbeiten, so z. B. zur Registrierung der Halswirbelsäulenbewegungen. Hier ist die diagnostische Aussagekraft allerdings noch unklar. Sämtliche Bewegungsanalysen können wie die Muskelfunktionsanalysen auch mit Oberflächen-EMG-Messungen kombiniert werden. Ein einfaches Testverfahren für die Objektivierung funktioneller oder anatomischer Asymmetrien des Körpers ist der Zwei-Waagen-Test, für den 2 Personenwaagen so nebeneinander in den Boden eingelassen werden, dass die obere Waagenfläche mit dem Boden abschließt. Klinisch relevant ist der Zwei-Waagen-Test vor allem in der Gehschule nach Totalendoprothesenimplantation an Hüften oder Knien, wenn die Patienten nach einer Entlastungsphase das betroffene Bein stufenweise wieder belasten dürfen. Ein wichtiges und einfaches Verfahren zur Analyse der Druckverteilung auf die Fußsohlen im Stehen ist die Podographie: Der Patient steht auf einer Glasscheibe – ein unter dieser Scheibe angebrachter Spiegel erlaubt es, den Fußabdruck optisch zu beurteilen. Dieses Verfahren kann wichtige Hinweise für die Einlagenversorgung geben und ist auch beim diabetischen Fußsyndrom von großer Bedeutung. Neben diesem einfachen Verfahren stehen heute auch technisch verfeinerte Podographen zur Verfügung, bei denen die mit einer Kraftmessplatte aufgezeichneten Druckwerte mit einer geeigneten PC-Software analysiert werden.

tensität so objektiv wie möglich zu messen und zu dokumentieren. Verständlicherweise gelingt dieses nur in einer Art Approximationsverfahren, d. h. mit dem Bestreben, sich dem subjektiven Erleben »Schmerz« so nah wie möglich anzunähern. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Feststellung der aktuellen Schmerzintensität und der Feststellung der Schmerzempfindlichkeit. Schmerzintensität. Obwohl der Schmerz »subjektives Erleben« ist, hat sich herausgestellt, dass er mittels Fragebogenverfahren reliabel quantifiziert werden kann. Neben dem sehr ausführlichen Schmerzfragebogen der Deutschen Gesellschaft für Algesiologie1 bietet sich hier die Visuelle Analog-Skala (VAS) an. Auf einer 10 cm langen Linie soll der Patient die Intensität der Schmerzen zu einem gewissen Zeitpunkt zwischen 0 (keinerlei Schmerzen) und 10 (stärkste vorstellbare Schmerzen) benennen und dokumentieren. Ein ähnliches Verfahren ist die Visuelle Rating-Skala (VRS), bei der die Linie durch eine mit Zahlen besetzte Skala ersetzt ist. Neuere Fragebogenverfahren zur Schmerzmessung bewerten nicht nur den Schmerz selbst, sondern erlauben auch eine Beurteilung des Chronifizierungsgrades. Diese von Gerbershagen entwickelte Skala ist insofern von Nutzen, als sie so früh wie möglich eine Chronifizierungsgefahr erkennt, die dann ein multimodales Therapieprogramm zur Folge haben muss. Bewertet werden neben den Schmerzen Therapieversuche verschiedener Art sowie Begleitsymptome (. Abb. 2.9). Schmerzempfindlichkeit. De Schmerzempfindlichkeit

kann über mechanische, thermische und elektrische Schmerzschwellenmessungen geprüft werden. Die wichtigste Messmethode für die Praxis ist die Druckalgometrie. Hier wird an verschiedenen sensiblen Punkten des Körpers bzw. empfindlichen Druckpunkten (»tender points«) der Schmerz unter einem standardisierten Druck (in der Regel zwischen 1,5 und 3 kg) gemessen. Die entsprechenden Geräte haben entweder einen Konus an der Spitze oder eine Druckfläche von maximal 0,5 cm2.

2.3.4 Algometrie Mit zunehmender Wertigkeit der Schmerztherapie besteht gleichzeitig auch das Bedürfnis, die Schmerzin-

2

1

Adresse: Schmerztherapeutisches Colloquium e.V. Geschäftsstelle: Hainstr. 2, 61476 Kronberg/Taunus

28

Kapitel 2 · Diagnostik in der Physikalischen Medizin

2

. Abb. 2.9. Chronifizierungsscore nach Gerbershagen (Aus: Basler et al.: Psychologische Schmerztherapie. Springer 2004)

29 2.3 · Funktionsbezogene apparative Messverfahren

ä Beispiel Eine Patientin klagt seit mehr als 6 Monaten über Schmerzen in praktisch sämtlichen Regionen des Körpers, vor allem jedoch im Schulter-Nacken-Bereich, an beiden Ellenbogengelenken, im Bereich beider Gesäßhälften und Hüftknochen sowie an beiden Kniegelenken. Verbunden sind diese undulierenden Schmerzen mit Allgemeinsymptomen wie Erschöpfung, Störung des Nachtschlafes, wechselnden Diarrhöen und Obstipationsphasen, starke Schweißneigung und Kopfschmerzen. Die Patientin ist mutlos und klagt über zunehmende Auswirkungen ihrer »Schmerzkrankheit« auf ihr familiäres und soziales Umfeld. Unter der Verdachtsdiagnose einer Fibromyalgie (»generalisierte Tendomyopathie«) werden an den vom American College of Rheumatology festgelegten 18 »tender points« die Schmerzempfindlichkeit mittels eines Druckalgometers gemessen. Wenn mehr als 13 dieser symmetrisch am Körper verteilten Punkte positiv sind, bestätigt dieses die Verdachtsdiagnose eines fibromyalgischen Syndroms.

2.3.5 Thermographie Bei der Thermographie werden Unterschiede der Oberflächentemperatur der Gewebe erfasst und diagnostisch ausgewertet. Voraussetzung für reproduzierbare Messergebnisse sind 4 eine gleichmäßige Raumtemperatur von ca. 20– 24°C, 4 eine ausgeglichene thermische Ausgangssituation des Patienten (keine Kälte- oder Hitzeexposition, keine körperlichen Anstrengungen sowie 4 die vergleichende Messung (am günstigsten im Vergleich beider Körperhälften). Unterschieden werden kann zwischen flächenhaften (Thermokameras) und punktuellen Messungen, die entweder berührungsfrei (Infarotstrahlungsmessung) oder als aufzuklebende Thermode durchgeführt werden kann. Diagnostisch wichtig ist die Thermographie zur Objektivierung von Unterschieden der Hauttemperatur z. B. bei CRPS (»chronic regional pain syndrome«) und Reizzuständen bzw. Entzündungen von Gelenken. Sie eignet sich auch zur Therapiedokumentation im Verlauf physikalischer Therapieserien. Die Erwartungen

2

an die Thermographie bei der Identifizierung von Krankheiten (z. B. Tumoren) haben sich nicht erfüllt, zumal sensitivere bildgebende Verfahren zur Verfügung stehen.

2.3.6 Arthrosonographie Die Ultraschalluntersuchung von Gelenken, Sehnenansätzen, Schleimbeuteln und Muskulatur gehört als nichtinvasives Verfahren zwingend in das diagnostische Instrumentarium der Physikalischen Medizin. Mit diesem Verfahren, bei dem Ultraschallwellen von verschieden dichten Anteilen des Gewebes unterschiedlich absorbiert bzw. zurückgeworfen werden, erlaubt eine indirekte Bildgebung des unter dem Ultraschallkopf liegenden Gewebes. Zum einen können somit Verkalkungen in Muskulatur, Sehnengewebe, Kapsel, d. h. in den Weichteilen, eindeutig objektiviert werden. Zum anderen lassen sich unter dem Ultraschallkopf dynamische Bewegungen vollziehen, die das Gleiten von Sehnengewebe bzw. unterschiedlichen Gewebsschichten gegeneinander zeigen. So lassen sich mit dem Ultraschallkopf auch problemlos ödematöse Verquellungen entlang von Sehnen nachweisen, desgleichen Zystenbildungen (z. B. Baker-Zyste in der Kniegelenkskehle) und schließlich auch Rissbildungen in hautnahen Sehnenanteilen.

2.3.7 Kreislauf und Lungenfunktions-

analyse Kreislauf- und Lungenfunktionsprüfungen dienen in der Physikalischen Medizin und Rehabilitation meistens weniger der Krankheitserkennung als der Beurteilung der Belastbarkeit und der Dokumentation von Therapieeffekten. Die kardiopulmonale Belastbarkeit wird heute standardisiert mittel Fahrradergometers und kontinuierlicher EKG-Registrierung und engmaschigen Blutdruckkontrollen durchgeführt. Klinisch relevante Parameter sind 4 Herzfrequenzanstieg mit steigender Belastung in Watt. Der Schnittpunkt der im aeroben Bereich linearen Kurve zwischen Belastung in Watt (Abszisse) und Herzfrequenz (Ordinate) mit der 130/minPulslinie wird als »physical working capacity« (W130; . Abb. 2.10) bezeichnet und ist ein gut stan-

30

2

Kapitel 2 · Diagnostik in der Physikalischen Medizin

. Abb. 2.10. Graphische Ermittlung der »physical working capacity« für 130 Pulse pro Minute aus den messwerten einer Fahrradergometrie mit stufenweiser Belastung. Die Bestimmung kann nur im Bereich des linearen Zusammenhangs zwischen Belastung und Herzfrequenz (also im aeroben Bereich) vorgenommen werden

dardisiertes Maß für die kardiopulmonale Leistungsfähigkeit. 4 Pathologische EKG-Veränderungen, die ein Abbruchkriterium darstellen können (ST-Streckenveränderungen als Ischämiezeichen, Zunahme von Rhythmusstörungen u. a.). 4 Pathologische Blutdruckreaktionen (stärkere Anstiege des diastolischen Blutdrucks oder systolische Blutdruckabfälle. 4 Muskuläre Erschöpfungssymptome. Zur Trainingssteuerung im Rahmen der medizinischen Trainingstherapie und Sporttherapie wird eine Kontrolle des Laktatblutspiegels (Überschreiten der anaeroben Schwelle) empfohlen. Die Spiroergometrie ist in der Regel nur in einem spezialisierten Umfeld durchführbar und ein Spezialfeld der pulmonologischen Diagnostik und Behandlung. Die Lungenfunktionsdiagnostik im Rahmen der Physikalischen Medizin umfasst mindestens die Vitalkapazität (VK), den Atemstoßwert in einer Sekunde (FEV 1,0), den maximalen exspiratorischen Fluss (MEF) und die forcierte exspiratorische Vitalkapazität (FVC).

Fazit Die Diagnostik in der Physikalischen Medizin besteht aus Anamnese, körperlicher Untersuchung einschließlich Funktionsprüfungen und apparativen Verfahren. Neben der Krankheitsdiagnose sollen insbesondere der Funktionszustand und das Therapiepotenzial ermittelt werden. Eine besondere Bedeutung hat dabei die eingehende und differenzierte Anamnese.

Literatur Debrunner HU, Hepp WR (1994) Orthopädisches Diagnostikum, 6. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Dvorák J, Dvorák V (1997) Manuelle Medizin – Diagnostik, 5. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Masuhr KF (1998) Neurologie, 4. Aufl. Hippokrates, Stuttgart Rude J, Werner G, Diehl R, Klimczyk K (2002) Checkliste Physikalische und Rehabilitative Medizin, Naturheilverfahren. Thieme, Stuttgart New York

1 3 3 Therapiemittel in der Physikalischen Medizin 3.1

Krankengymnastische Techniken – 34

3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7

Chr. Gutenbrunner, J.-J. Glaesener Definition und Grundlagen – 34 Techniken – 34 Wirkungsmechanismen – 36 Wirksamkeit – 38 Indikationen – 39 Kontraindikationen – 39 Dosierung und Kombinationsmöglichkeiten – 39

3.2

Ergotherapeutische Techniken – 43

3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7

A. Reiners, A. Römer Definition und Grundlagen – 43 Anamnese und Befunderhebung – 43 Behandlungsverfahren und Techniken – 44 Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit – 47 Indikationen – 48 Kontraindikationen – 49 Dosierung und Kombinationsmöglichkeiten – 49

3.3

Sporttherapie und Medizinische Trainingstherapie – 49

3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5

E. Seidel Definition und Grundlagen – 49 Methoden und Therapiemittel – 50 Sporttherapeutische Konzepte – 50 Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit – 54 Indikationen, Kontraindikationen und Kombinationsmöglichkeiten – 54

3.4

Manuelle Medizin

3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6

U. Smolenski Definition und Grundlagen – 55 Chirodiagnostik – 56 Blockierung – 57 Techniken – 58 Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit – 60 Indikationen, Kontraindikationen und Kombinationsmöglichkeiten – 60

– 55

3.5

Massagetherapie – 61

3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4

A. Reißhauer Definition und Grundlagen – 61 Klassische Massage – 62 Manuelle Lymphdrainage – 63 Unterwasserdruckstrahlmassage – 64

3.6

Lymphtherapie – 64

3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4

A. Reißhauer Definition und Grundlagen Techniken – 65 Indikationen – 68 Kontraindikationen – 68

3.7

Elektro- und Ultraschalltherapie – 69

3.7.1 3.7.2 3.7.3 3.7.4 3.7.5 3.7.6 3.7.7

J.-J. Glaesener Definition und Grundlagen – 69 Niederfrequenztherapie – 69 Mittelfrequenztherapie – 72 Hochfrequenztherapie – 73 Indikationen – 73 Kontraindikationen – 73 Ultraschalltherapie – 73

– 64

3.8

Wärme- und Kälteträgertherapie

3.8.1 3.8.2 3.8.3 3.8.4

Chr. Gutenbrunner Definition und Grundlagen – 75 Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit Wärmeträgertherapie – 76 Kälteträgertherapie – 78

– 75

3.9

Hydrotherapie – 80

3.9.1 3.9.2 3.9.3 3.9.4 3.9.5

J.-J. Glaesener Definition und Grundlagen – 80 Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit Methoden und Therapiemittel – 82 Indikationen – 85 Kontraindikationen – 85

– 75

– 80

3.10 Balneotherapie – 85 3.10.1 3.10.2 3.10.3 3.10.4 3.10.5

Chr. Gutenbrunner Definition und Grundlagen – 85 Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit – 86 Indikationen – 88 Kontraindikationen – 88 Dosierung und Kombinationsmöglichkeiten – 88

3.11 Klimatherapie – 90 3.11.1 3.11.2 3.11.3 3.11.4 3.11.5

A. Schuh Definition und Grundlagen – 90 Klimaexposition – 91 Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit Indikationen – 93 Kontraindikationen – 94

– 92

3.12 Inhalationstherapie – 94 3.12.1 3.12.2 3.12.3 3.12.4

Chr. Gutenbrunner Definition und Grundlagen – 94 Techniken – 94 Inhalate – 97 Indikationen, Kontraindikationen und Dosierung – 98

3.13 Phototherapie – 98 3.13.1 3.13.2 3.13.3 3.13.4 3.13.5 3.13.6 3.13.7 3.13.8 3.13.9

M. O. Armbruster, M. Schimmer, C. A. Sander Definition und Grundlagen – 98 Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit – 99 UV-B-Therapie – 99 UV-A-Therapie – 99 Photosole – 100 Photochemotherapie – 100 Voraussetzungen und Richtlinien – 100 Nebenwirkungen – 100 Kontraindikationen – 101

3.14 Diagnostische und therapeutische Lokalanästhesie – 101 3.14.1 3.14.2 3.14.3 3.14.4 3.14.5 3.14.6

A. Gehrke Definition und Grundlagen – 101 Diagnostische Lokalanästhesie (DLA) – 102 Therapeutische Lokalanästhesie (TLA) – 103 Indikationen – 104 Kontraindikationen – 104 Nebenwirkungen und Vorsichtsmaßnahmen – 104

3.15 Komplextherapie – 104 J.-J. Glaesener, Chr. Gutenbrunner 3.15.1 Definition und Grundlagen – 104 3.15.2 Beispiele – 105

3.16 Heilmittelverordnung und Heilmittelrichtlinie – 108 3.16.1 3.16.2 3.16.3 3.16.4

E. Seidel Heilmittelverordnung – 108 Heilmittelrichtlinie – 108 Grundbegriffe der Heilmittelrichtlinie – 109 Heilmittelkatalog – 110

Literatur

– 110

34

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

3.1.1 Definition und Grundlagen

> > Einleitung

3

In diesem Kapitel werden die wichtigsten Therapiemittel in der Physikalischen Medizin einzeln abgehandelt und ihre Indikationen und Kontraindikationen angegeben. Da die Krankengymnastik und die Ergotherapie neben den (basalen) Therapietechniken auch komplexe Therapiekonzepte umfassen, werden sie in diesem Buch an zwei Stellen abgehandelt: In diesem Abschnitt werden zunächst die wichtigsten Techniken und ihre Wirkungen, Indikationen und Kontraindikationen beschrieben. Die komplexen Konzepte und ihre Anwendung in der Rehabilitation sind Gegenstand der 7 Kap. 6.1 bzw. 7 Kap. 6.2.

3.1

> Krankengymnastik ist ein Teil der Bewegungstherapie. Sie versucht, mittels aktiver und passiver Bewegungen Krankheiten zu behandeln und insbesondere krankhaft gestörte Körperfunktionen zu verbessern.

Übergänge bestehen zur Medizinischen Trainingstherapie und Sporttherapie, die ebenfalls Bewegungsübungen zu therapeutischen Zwecken nutzen, aber stärker auf die trainierenden Wirkungen von Bewegungsübungen abzielen (7 Kap. 3.3). Neben den therapeutischen Techniken umfasst die Krankengymnastik auch eine anwendungsbezogene Diagnostik (Befunderhebung).

Krankengymnastische Techniken 3.1.2 Techniken Chr. Gutenbrunner, J.-J. Glaesener

Nach dem deutschen Physiotherapeutengesetz bezeichnen sich Krankengymnasten heute als Physiotherapeuten. Ihr Tätigkeitsfeld wurde um andere Physikalische Therapiemittel erweitert (z. B. Massagen). Daher sind die Begriffe Krankengymnastik und Physiotherapie nicht gleichzusetzen. In diesem Kapitel wird die von Physiotherapeuten durchgeführte Bewegungstherapie (= Krankengymnastik) abgehandelt.

Die wichtigsten krankengymnastischen Techniken sind in . Tab. 3.1 aufgeführt. Die krankengymnastischen Schulen werden in 7 Kap. 6.1 näher dargestellt. Passive Techniken. Passive Bewegungen von Gelenken

und Lagerungstechniken dienen zur Vorbeugung von Kontrakturen und zur Verbesserung der Beweglichkeit der betreffenden Gelenke. Weitere passive Techniken sind die Behandlung durch achsgerechten Zug an der Wirbelsäule (Extensionen) oder an einer Extremität bzw. einem Gelenkpartner (Traktionen). Dieser Zug

. Tabelle 3.1. Krankengymnastische Techniken

Gruppe

Beispiele

Passive Techniken

Passives Durchbewegungen, Lagerungstechniken, Extensionen, Traktionen

Aktive Bewegungen

Aktiv-assistives Bewegen, resistive Bewegungen (aktive Bewegungen gegen Widerstand)

Komplexe Bewegungen

Übung komplexer Bewegungsabläufe (z. B. Gehen, Greifen)

Übung spezieller Aktivitäten

Transferübungen (z. B. Bett–Rollstuhl, Rollstuhl–Toilette), Gehübungen, Übung von Aktivitäten des täglichen Lebens (»activities of daily living«, ADL)

Herz-Kreislauf-Training

Ausdauerleistungstraining, aber auch Übungen zur Erhaltung der Orthostasereaktion

Atemübungen

Übungen zur Steigerung der Inspirationstiefe und Verminderung von Totraumatmung

Mechanische Stimulationen

Triggerpunktbehandlung, Querfriktionen, Fazilitationstechniken, Vibrationen

Übungen mit Geräten

Übungen mit dem Pezziball oder im Schlingentisch

Entspannungstechniken

Postisometrische Relaxation, Atmungstechniken

35 3.1 · Krankengymnastische Techniken

3

sem Bereich bestehen Übergänge zur Ergotherapie, die noch stärker handlungsorientiert ist und auf die Verbesserung der Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) abzielt (7 Kap. 3.2). Herz-Kreislauf-Training. Hierunter werden in der Akut. Abb. 3.1. Stufenbettlagerung zur Entlastung der lumbalen Bandscheiben

bewirkt eine (vorübergehende) mechanische Entlastung von Gelenkstrukturen und kann neurophysiologische Rückwirkungen auf die das Bewegungssegment betreffende Muskulatur haben (Techniken zur Lösung von Gelenkblockierungen 7 Kap. 3.4). Ein Beispiel für eine Lagerungstechnik zur Entlastung der Bandscheiben stellt die Stufenbettlagerung dar (. Abb. 3.1).

phase leichte Ausdauerbelastungen und Übungen der Orthostase verstanden, die der Erhaltung der Kreislaufregulation trotz Immobilisation des Patienten dienen. Im eigentlichen Sinne beinhaltet das Herz-Kreislauf-Training Ausdauerübungen mit Trainingsintensitäten oberhalb des gewohnten Leistungsbereiches (Trainingsschwelle), die zum Ziel haben, die kardiopulmonale Leistungsfähigkeit zu steigern. Darüber hinaus gibt es spezielle Übungen zur Verbesserung der peripheren Durchblutung und Sauerstoffutilisation (z. B. bei peripherer arterieller Verschlusskrankheit). Atemübungen. Die Atmungstherapie dient der Verbes-

Aktive Bewegungen. Aktive Bewegungen von Gelen-

ken und Bewegungseinheiten dienen zum Bahnen und Einüben bestimmter Bewegungsabläufe. Aktive Bewegungen gegen Widerstand (»resistive Bewegungen«) können auch zu Trainingszwecken genutzt werden, wie zum Muskeltraining und zur Verbesserung der mechanischen Eigenschaften von Ligamenten, Sehnen und Knochen. Komplexe Bewegungen. Sie dienen zur Anbahnung und Übung komplexer Bewegungsabläufe und zur Verbesserung der Koordination. Bei Schädigungen des ZNS ist die direkte Übung komplexer Bewegungen besonders geeignet, um die Alltagsfunktionen wiederherzustellen (7 Kap. 1.2.7). p Bei der Durchführung komplexer Bewegungen im Bewegungsbad können zusätzlich die bewegungserleichternden (fazilitierenden) Wirkungen des Auftriebs und die durch die Viskosität des Wassers bedingte Möglichkeit zu Widerstandsübungen therapeutisch genutzt werden.

serung der Atemfunktion, wie z. B. der Steigerung der Inspirationstiefe und der Verminderung von Totraumatmung. Bei länger dauernder Immobilisation ist die Atmungstherapie wichtig, um Pneumonien vorzubeugen. Eine spezielle Form der Atmungstherapie ist die autogene Drainage, bei der die Patienten Atem- und Hustentechniken lernen, mit denen sie auch zähen Schleim aktiv aus Lunge und Bronchien entfernen. Diese Technik ist z. B. bei Mukoviszidose von essenzieller Bedeutung (7 Kap. 6.1). Mechanische Stimulationen. Neben der Bewegung kommen in der Krankengymnastik auch andere mechanische Stimuli zur Anwendung, so z. B. gezielte Druckausübung über schmerzhaften Muskelverhärtungen (Triggerpunkte) oder Querdehnungen (Friktionen) von Sehnen oder Sehnenansätzen (. Abb. 3.2). Sie dienen meist zur reflektorischen Muskeldetonisierung (7 Kap. 3.5). Weitere Beispiele sind die reflektorische Bewegungsanregung (Fazilitation) durch gezielte Duckausübung und die Atmungsanregung und Sekretlösung durch Vibrationen und Klopfungen.

Übung spezieller Aktivitäten. Bei schwer geschädigten

Übungen mit Geräten. Auch in der Krankengymnastik

Patienten in der Akutphase von Erkrankungen und in der Nachbehandlung nach Operationen, ist es häufig notwendig, spezielle Alltagsfunktionen mit den Patienten zu üben. Beispiele hierfür sind der Übergang vom Bett in den Rollstuhl (Transfer), das Gehen (mit und ohne Gehhilfen), das Treppensteigen u. a. In die-

werden technische Hilfen eingesetzt, und zwar sowohl zur Unterstützung von Übungen (z. B. Kippbrett, Pezziball; . Abb. 3.3) als auch zur Erleichterung bestimmter Bewegungen und Aktivitäten (Schlingentischaufhängung, motorgetriebene Bewegungsschienen, Gehhilfen u. a.; 7 Kap. 6.9). Einen Sonderfall stellt das gerätege-

36

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

4

3

. Abb. 3.2. Technik der Querfriktion

4

4

a

b

. Abb. 3.3a, b. Haltungsschulung auf dem Pezziball. a Ausgangsstellung, b Dehnen ventraler Strukturen (Aus HaarerBecker et al.: Physiotherapie in Orthopädie und Traumatologie. Thieme 1996)

stützte Training dar, das als Medizinische Trainingstherapie (MTT) bezeichnet wird (7 Kap. 3.3). Entspannungstechniken. Sie können speziell zur Muskelrelaxation (z. B. postisometrischen Relaxation) oder auch zur allgemeinen Entspannung (z. B. Bewusstmachen der Atmung) dienen. Neben diesen Techniken gibt es in der Krankengymnastik eine Vielzahl unterschiedlicher Konzepte und Schulen, die spezielle Wirkprinzipien nutzen oder die genannten Techniken in besonderen Kombinationen verwenden. Einige dieser Konzepte werden im 7 Kap. 6.1 beschrieben. Diese krankengymnastischen Konzepte beruhen zum Teil auf speziellen Theorien der Bewegungsentstehung und -entwicklung. Aus Platzgründen können hier nur einige Konzepte schlaglichtartig beleuchtet werden. 4 Konzepte, die auf speziellen Techniken beruhen. Beispiele sind die Krankengymnastik im Bewe-

4

4

gungsbad (Entlastung durch Auftrieb) und die Schlingentischtherapie (Entlastung durch Aufhängen von Körperteilen; . Abb. 3.4), die Gelenkentlastungen zur Bewegungsförderung (-fazilitation) nutzen. Schulen, die speziell auf die Beseitigung von Gelenksdysfunktionen und die damit zusammenhängenden Muskeldysbalancen abzielen, sind die Manuelle Therapie (7 Kap. 3.4) einschließlich des Maitland-Konzepts (Prinzip der manualmedizinischen Behandlung der Gelenkblockierung; . Abb. 3.8). Neurophysiologische Therapiekonzepte, die auf Theorien der frühkindlichen Entwicklung von Bewegungsabläufen beruhen und sie auch auf das Wiedererlernen von Bewegungen nach akuten Schädigungen übertragen (z. B. das Entwicklungsneurologische Konzept nach Bobath, die Entwicklungskinesiologie nach Vojta und die propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation (PNF). Trainingstherapien, wie das isokinetische Muskeltraining oder die medizinische Trainingstherapie (7 Kap. 3.3). Konzepte, die auf Übungen für spezielle Organe bzw. Organsysteme beruhen, wie z. B. die Atmungstherapie und die Skoliosetherapie nach Lehnert und Schroth. Entspannungstherapien und körperorientierte Psychotherapien. Sie nutzen die psychosomatischen bzw. somatopsychischen Funktionszusammenhänge zur Therapie von psychischen und organischen Funktionsstörungen und Erkrankungen. Beispiele sind die progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen, die funktionelle Integration nach Feldenkrais oder die konzentrative Bewegungstherapie.

3.1.3 Wirkungsmechanismen Die Anwendung krankengymnastischer Techniken löst eine Reihe verschiedener direkter und indirekter Reaktionen im Organismus aus (. Tab. 3.2; ▶ Kap. 1.2). Dabei sind die Reaktionen des Patienten naturgemäß unterschiedlich und hängen von Krankheit, Alter, Geschlecht und konstitutionellen Faktoren ab. Vor allem die adaptiven Langzeitwirkungen werden von der physiologischen Anpassungsfähigkeit des Patienten beeinflusst. Wichtige Prinzipien sind (7 Kap. 1.2):

37 3.1 · Krankengymnastische Techniken

3

Entlastung und Gelenkschutz. Grundsätzlich sind Ent-

lastung und Ruhigstellung immer dann sinnvoll, wenn akute Schäden oder Entzündungen vorliegen. Sie ermöglichen Reparations- und Erholungsprozesse. Physiologisch bewirkt jede Immobilisation aber Abbauprozesse (Deadaptationen), die sich z. B. in Muskelatrophie, Gelenkkontraktur, Verlust an Knochenfestigkeit oder Verschlechterung der Kreislaufregulationen äußern. ! Immobilisationen sind auf möglichst kurze Zeiträume zu begrenzen, da sie zu Abbauprozessen führen. Inhibition und Fazilitation. Über Reflexbögen des Rü-

ckenmarks kann die Reizung von Propriozeptoren von Muskeln, Sehnen und Gelenkstrukturen zu Aktivierungen (Fazilitation) oder Hemmung (Inhibition) der Muskelaktivität führen. Dieser Mechanismus kann z. B. bei den neurophysiologischen krankengymnastischen Konzepten zur Aktivierung gehemmter Muskeln oder zur Spastikhemmung genutzt werden.

a

Sensomotorische Adaptation. Durch wiederholtes Üben

bestimmter Bewegungsabläufe kann die Koordination verbessert werden. Hierbei können periphere (funktionelle Veränderungen an den motorischen Endplatten und Neuritenaussprossungen) und zentrale Mechanismen (Aktivierung funktionell inaktiver Nervenverbindungen [schlafende Synapsen] und Neubildung von Nervenverbindungen [Neuroplastizität]) beteiligt sein. b . Abb. 3.4a, b. Schlingentischaufhängung der Beine. a Stabile Becken-Bein-Aufhängung, b mobile Becken-Bein-Aufhängung (Aus Haarer-Becker et al.: Physiotherapie in Orthopädie und Traumatologie. Thieme 1996)

Funktionelle Adaptation. Die Verbesserung der Regu-

lation von vegetativ gesteuerten Funktionen hat klinische Bedeutung bei der Behandlung von Herz-Kreis-

. Tabelle 3.2. Krankengymnastische Techniken, nach Wirkprinzipen geordnet

Gruppe

Beispiele für Techniken

Entlastung und Gelenkschutz

Krankengymnastik im Bewegungsbad, Schlingentischaufhängungen

Fazilitation und Inhibition

Mechanische Stimulationen, Triggerpunktbehandlung

Sensomotorische Adaptation

Aktive und komplexe Bewegungen, Übungen spezieller Aktivitäten

Funktionelle Adaptation

Herz-Kreislauf-Training

Trophische und plastische Adaptation

Medizinische Trainingstherapie, andere Muskeltrainingstechniken

Verhaltensänderung

Übung spezieller Aktivitäten

Psychische Adaptationen

Entspannungstechniken, Ausdauertraining

38

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

lauf-Funktionen und bei der Wiederherstellung normaler Schmerzschwellen bei chronifizierten generalisierten Schmerzsyndromen.

3

Trophische und plastische Adaptation. Von den bekannten trophischen und plastischen Adaptationen sind in der Krankengymnastik die Verbesserung der Muskelkraft, die Steigerung der Festigkeit von Sehnen und Ligamenten und die verbesserte Knochenstabilität von praktischer Bedeutung. Zu beachten ist, dass trophisch-plastische Wachstumsprozesse für ihre Ausbildung stets mehrere Wochen benötigen. Verhaltensänderung und psychische Adaptation. Bei zahlreichen Erkrankungen (chronische Lumbalsyndrome, Adipositas, metabolisches Syndrom etc.) ist eine Verhaltensänderung für den Therapieerfolg wichtig. Was das Bewegungsverhalten anbetrifft, kann die Krankengymnastik durch Anleitung und Übung hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Darüber hinaus kann regelmäßiges Bewegen auch psychische Funktionen beeinflussen, was z. B. bei depressiven Patienten und Patienten mit chronischen Schmerzsyndromen klinisch relevant ist.

3.1.4 Wirksamkeit > Die Krankengymnastik stellt eine funktionelle Therapie dar. Daher ist ihre Wirksamkeit nicht nur von der Krankheitsdiagnose abhängig, sondern wird entscheidend von den funktionellen Auswirkungen, die die Krankheit im Einzelfall hat, bestimmt.

Eine gute Wirksamkeit ist insbesondere dann zu erwarten, wenn 4 bei Erkrankungen des Bewegungssystems muskuläre Insuffizienzen oder Dysbalancen, Gelenksdysfunktionen (Hypermobilität, Blockierungen), Ligamentosen und neuromuskuläre Fehlsteuerungen an der Symptomatologie beteiligt sind (7 erstes Fallbeispiel), 4 bei Erkrankungen des Nervensystems Bewegungs- und Koordinationsstörungen vorliegen (7 zweites Fallbeispiel), 4 bei Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein Bewegungsmangel zugrunde liegt oder das Krankheitsbild durch die bekannten Trainingsadaptationen gebessert werden können,

4 bei Atemwegserkrankungen Störungen der Atemtechnik und Lungenbelüftung sowie Verschleimungen vorliegen, 4 bei Urogenitalerkrankungen Dysbalancen oder Insuffizienzen des Beckenbodens eine Rolle spielen, 4 bei bettlägerigen Patienten immobilisationsbedingte Schäden drohen oder ein erhöhtes Risiko von immobilisationsbedingten Erkrankungen besteht (Pneumonien, Thrombosen), 4 altersbedingte Bewegungs-, Koordinations-, Ventilations- und Kreislaufstörungen vorliegen. ä Beispiel Ein 57-jähriger übergewichtiger Mann klagt über seit 6 Wochen bestehende tiefsitzende Rückenschmerzen mit Ausstrahlung in den linken Oberschenkel (dorsolateral). In der klinischen Untersuchung wird eine Hyperlordose der Lendenwirbelsäule bei schwacher Bauch- und Rückenmuskulatur, eine Blockierung (7 Kap. 3.4) des linken Sakroiliakalgelenks (SIG) und Verspannung der paravertebralen Muskulatur festgestellt. Eine gravierende Strukturstörung konnte mit bildgebenden Verfahren ausgeschlossen werden. Verordnet werden eine dreimal wöchentliche Krankengymnastik mit passiver Mobilisierung des SIG, Übungen zur aktiven Aufrichtung des Rumpfes sowie postisometrische Entspannungsübungen der Rückenmuskulatur. Darüber hinaus wird eine Anleitung zu selbstständigem Training der Rumpfmuskulatur und die Einübung rückenschonender Bewegungsabläufe empfohlen. Die SIG-Mobilisierung führt zu einer raschen Schmerzreduktion, insbesondere der pseudoradikulären Schmerzausstrahlung. Im Verlauf der Therapieserie (10-mal) verbessert sich auch die Körperhaltung des Patienten. Nach 8 Wochen der Selbstbehandlung ist auch der Trainingszustand seiner Rumpfmuskulatur gebessert.

ä Beispiel Eine 38-jährige Frau mit linksseitigem Mediainfarkt und inkompletter Hemiparese rechts zeigt im Bereich der unteren Extremität funktionell vor allem eine Fußheberschwäche und ein unsicheres Gangbild. Verordnet wird Krankengymnastik mit rumpfstabilisierenden Übungen, aktiver Beübung der Fußhebermuskeln rechts, Gehübungen zunächst am Gehbarren und später auf dem Laufband. Darüber hinaus

6

39 3.1 · Krankengymnastische Techniken

soll das Treppensteigen geübt werden. Zur Verbesserung der Gangsicherheit wird ein Unterarmgehstock links verordnet. Im Verlauf der dreimal pro Woche durchgeführten Therapie verbessert sich das Gangbild, sodass die Patientin nach sechs Wochen mit Unterarmgehstock auf ebenem Boden bis zu 100 m gehen und, ohne zu stolpern, Treppen steigen kann. Wegen der fortbestehenden Fußheberschwäche wird zusätzlich eine dynamische Fußheberorthese (7 Kap. 6.12) verordnet.

Nicht für alle Indikationen liegen kontrollierte Therapiestudien als Wirksamkeitsnachweis vor, sodass einige Indikationen nur aus dem Wirkungsmechanismus oder aus langjährigen Therapieerfahrungen hergeleitet werden können.

3.1.5 Indikationen Wichtige Indikationsbereiche für die Krankengymnastik und geeignete Techniken sind in . Tab. 3.3 zusammengefasst. Die Indikationen für die Krankengymnastik in der Rehabilitation sowie die Anwendung spezieller krankengymnastischer Konzepte werden in 7 Kap. 6.1 beschrieben. > Für die praktische Indikationsstellung und Verordnung von Krankengymnastik muss das Therapieziel und die angewendete Technik vom Arzt verordnet werden (7 Kap. 3.16). Der Behandlungsfortschritt ist regelmäßig vom Arzt zu kontrollieren. Bei ausbleibenden Funktionsverbesserungen sind Indikation und Therapieverordnung sowie ggf. auch die Therapiedurchführung zu überprüfen.

Dem trägt im ambulanten vertragsärztlichen Bereich auch die Heilmittelrichtlinie Rechnung, in dem auf den Heilmittelrezepten neben der Krankheitsdiagnose stets auch bestehende Funktionsdefizite und Therapieziele mit angegeben werden müssen (7 Kap. 3.16).

3.1.6 Kontraindikationen > Generelle Kontraindikationen für die Krankengymnastik gibt es nicht. Sehr wohl bestehen aber für einzelne krankengymnastischen Techniken Kontraindikationen (7 Tab. 3.4).

3

! Durch Krankheit oder Verletzung geschädigte

Organe und Organsysteme dürfen nicht überlastet bzw. weiter geschädigt werden.

Folgende Grundregeln sind in jedem Fall zu beachten: 4 Gelenkmobilisationen sind kontraindiziert bei akuten Entzündungen der betroffenen Gelenke, bei Bandrupturen oder starken Beeinträchtigungen der mechanischen Belastbarkeit von Bändern und Knochen. 4 Vorsicht geboten ist beim Muskeltraining der betroffenen Muskulatur bei allen traumatischen und entzündlichen Muskelerkrankungen. Anhaltspunkte können erhöhte CK-Werte sein, die allerdings auch bei Muskelüberlastungen (»Muskelkater«) auftreten können. 4 Ausdauerleistungstraining ist kontraindiziert bei akuten Myokardschäden, Aneurysmen, unzureichend eingestellter arterieller Hypertonie sowie bei allen schweren und konsumierenden Erkrankungen. p Wichtig ist bei jeder Verordnung von Krankengymnastik, dass vom Arzt die Grenzen der Belastbarkeit angegeben und dem Therapeuten mitgeteilt werden.

3.1.7 Dosierung und

Kombinationsmöglichkeiten Ähnlich wie bei Indikationen und Kontraindikationen können auch für die Dosierung keine allgemeingültigen Regeln aufgestellt werden, da sie von angewendeter Technik, Therapieziel und der Belastbarkeit des Kranken abhängig ist. Zu verordnen sind in jedem Fall die Dauer der Einzelbehandlung, die Häufigkeit und die Dauer der Therapieserie sowie ggf. die Belastungsintensität (insbesondere bei trainierenden Übungen). Einige Kombinations- und Dosierungsbeispiele sind in . Tab. 3.5 zusammengestellt. Kombinationen mit anderen physikalischen Therapieverfahren und Medikamenten sind insbesondere sinnvoll zur: 4 Analgesie (z. B. Kryotherapie, Analgetika; 7 Kap. 6.10) 4 Muskeldetonisierung (z. B. detonisierende Massage, Wärmeanwendungen, Muskelrelaxanzien) 4 Abschwellung (z. B. physikalische Entstauungstherapie) (▶ Fallbeispiel)

40

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

. Tabelle 3.3. Wichtige krankengymnastische Indikationen und geeignete krankengymnastische Techniken (Auswahl)

3

Bereich bzw. Organsystem

Krankheitsgruppe

Geeignete Techniken

Aktives und passives Bewegungssystem

Funktionelle, degenerative und entzündliche Erkrankungen der Gelenke und der Wirbelsäule einschließlich der Nachbehandlung nach Unfällen und Operationen (z. B. chronische Rückenschmerzen, Zustände nach Bandscheibenoperationen, Arthrosen, chronische Polyarthritis)

5 Mobilisationen 5 Muskelbalancierung zum Tonusaus-

Funktionelle, degenerative und entzündliche Erkrankungen sowie traumatische Schäden des zentralen und peripheren Nervensystems, einschließlich frühkindliche Hirnschädigungen, Schlaganfall, Schädel-Hirnverletzungen und neuromuskuläre Systemerkrankungen

5 Üben von Bewegungsabläufen 5 Neurophysiologische Techniken ein-

Funktionelle und chronische Herz-KreislaufErkrankungen einschließlich Blutdruckregulationsstörungen sowie kardiale und periphere Durchblutungsstörungen

5 Ausdauerleistungstraining 5 Übungen zur Verbesserung des

Zentrales und peripheres Nervensystem

Herz-Kreislauf-System

gleich

5 Haltungs- und Bewegungsschulung 5 Muskelkräftigung und Belastungssteigerung bradytropher Gewebe

schließlich Bahnung von Bewegungsabläufen und Hemmung von muskulären Hypertonien und Spastik 5 Muskeltraining

venösen Rückstroms

5 Übungen zur Verbesserung der peripheren Durchblutung und der Sauerstoffutilisation (dynamisches Muskeltraining)

Lunge und Atemwege

Lungen und Atemwegserkrankungen einschließlich chronisch obstruktiver Lungenerkrankungen, Asthma, Mukoviszidose sowie zur Pneumonieprophylaxe

5 Atmungstherapie 5 Ausdauerleistungstraining

Stoffwechselsystem

Stoffwechselerkrankungen und Übergewicht, insbesondere die dem sog. metabolischen Syndrom zugerechneten Stoffwechselstörungen

5 Ausdauerleistungstraining

Psyche

Psychische Erkrankungen einschließlich Depressionen und Angsterkrankungen sowie Psychosomatosen

5 Ausdauerleistungstraining 5 Körperorientierte Verfahren 5 Entspannungstechniken

Organe des kleinen Beckens

Funktionelle Erkrankungen und Störungen des kleinen Beckens, insbesondere Inkontinenzbehandlung

5 Muskelbalancierung 5 Beckenbodentraining

Geriatrie

Erkrankungen des Alters bzw. des alternden Menschen einschließlich altersbedingter Bewegungs- und Koordinationsstörungen sowie zu Prophylaxe von Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen

5 Je nach Krankheits- bzw. Störungsbild

Frühmobilisation bei allen schweren akuten Krankheitsbildern Atmungstherapie Orthostasetraining Herz-Kreislauf-Training

5 Passives Durchbewegen 5 Transferübungen

Akut- und Intensivmedizin

Schwangerschaft

und individueller Leistungsfähigkeit, z. B. auch Medizinische Trainingstherapie (7 Kap. 3.3)

5 Schwangerengymnastik 5 Geburtsvorbereitung 5 Rückbildungsgymnastik

41 3.1 · Krankengymnastische Techniken

3

. Tabelle 3.4. Beispiele für Kontraindikationen der Krankengymnastik bzw. der krankengymnastischen Techniken

Gruppe, Übung

Beispiele

Lagerungstechiken

Flachlagerung bei Wurzelreizzustand L5/S1, Bauchlage bei Wurzelreizzustand L3/L4

Extensionen, Traktionen

(Frische) Frakturen, Bandrupturen, Risiko von Einklemmungsphänomenen beim Nachlassen der Traktion

Resistive Bewegungen

Dekompensierte arterielle Hypertonie, Aortenaneurysma, unzureichende Rumpfstabilität

Manuelle Mobilisation

Irreversible Gelenkhypomobilität, akute Entzündungen oder Traumen im betroffenen Gelenk, Knochendefekte entzündlicher oder traumatischer Genese, cave: Mobilisation und Manipulation der oberen Halswirbelsäule bei fehlendem Dens axis (angeborene oder erworbene Densaplasie)

Herz-Kreislauf-Training

Ejektionsfraktion unter 30%, instabile Angina pectoris; alle dekompensierten Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen

Atemübungen

Seufzeratmung bei chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (»sustained maximal inspiration«, SMI)

Mechanische Stimulationen

Krankheitsbedingte oder iatrogene Gerinnungsstörungen

Übungen mit Geräten

Unzureichende Rumpfstabilität, Bandscheibenprotrusionen, multiple Sklerose

Übungen nach dem Brügger-Konzept

Lumbale Spinalkanalstenose

Gangschule, Stehtraining

Unzureichende Rumpfstabilität, Triggerung eines erhöhten Muskeltonus in der betroffenen Extremität

4 Förderung des vegetativen Gleichgewichts (Hydrotherapie, Balneotherapie), insbesondere bei chronischen Erkrankungen wie dem chronischen generalisierten Schmerzsyndrom oder Depression Weitere sinnvolle Kombinationen werden im 7 Kap. 3.15 genannt. ! Eine Analgesie muss dem Therapeuten bekannt sein, da die Schmerzgrenze in der Krankengymnastik ein wesentliches Dosierungskriterium darstellt! ä Beispiel Ein 25-jähriger Patient mit vorderer Kreuzbandruptur links hat 6 Wochen nach operativer Versorgung eine Kniegelenksbeweglichkeit von 0–10–75° (NeutralNull-Methode, Normwerte: (5–10)–0–(120–150)°; 7 Kap. 2.2], eine Insuffizienz des Musculus vastus medialis und eine deutliche Knieschwellung bei sonst reizloser Wundheilung. Neben der Verordnung von Krankengymnastik (Kräftigung des M. vastus medialis, schrittweise Kniegelenksmobilisierung und

einer Gangschulung) werden zusätzlich tägliche manuelle Lymphdrainagen zur Verbesserung des Lymphabflusses im Kniegelenksbereich (7 Kap. 3.6) verordnet. Nach 3 Wochen ist die Schwellung weitestgehend verschwunden. Die Kniegelenksbeweglichkeit beträgt 0–0–100. Die noch bestehende Quadrizepsinsuffizienz wird in der medizinischen Trainingstherapie mittels isokinetischen Übungen (7 Kap. 3.3) 6 Wochen lang weiterbehandelt.

Fazit Krankengymnastische Techniken bestehen aus aktiven oder passiven Bewegungen und zielen stets auf Funktionsverbesserungen. Es kann sich dabei um eine kausale Therapie handeln, wenn das zu behandelnde Krankheitsbild durch Funktionsstörungen ausgelöst und charakterisiert ist. Dies ist z. B. häufig bei chronischen Zervikal- oder Lumbalsyndromen aber auch beim metabolischen

6

42

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

. Tabelle 3.5. Beispiele für die Dosierung einer Krankengymnastik und für eine sinnvolle Kombination mit anderen physikalischen Therapiemaßnahmen. (Bei Verordnung nach der Heilmittelrichtlinie (7 Kap. 3.16) sind u. U. zwei Rezepte auszustellen)

Krankheitsdiagnose

Funktionsdiagnose

Krankengymnastik mit Dosierung

Weitere physikalische Therapien mit Dosierung

Zervikobrachiales Syndrom

Starke Einschränkung der Rotationsbeweglichkeit der Halswirbelsäule, Blockierungen C5/6 beiderseits, starke Verspannungen des M. trapezius

Haltungsschulung, Muskelbalancierung im Schultergürtel, manualtherapeutische Mobilisierung mit weichen Techniken (3-mal pro Woche 30 min, insgesamt 10–12 Einheiten, je nach Verlauf Verlängerung der Serie um weitere 6 Einheiten)

Wärmetherapie des Schultergürtels (z. B. über Fangopackungen und detonisierende Muskelmassagen (3-mal pro Woche 20 min, 10–12 Einheiten)

Gonarthrose (Panarthrose aller drei Gelenkkompartimente)

Schmerzhaft eingeschränkte Kniebeugung Beginnende Quadrizepsatrophie

Patellamobilisation, Muskelbalancierung, Schulung des Bewegungsablaufes, Quadrizepskräftigung (3-mal pro Woche, 30 min, 10–12 Einheiten)

Lokale Kryotherapie z. B. mittels Kaltluft (täglich 15 min, 12 Einheiten). Nach Abschluss der KG-Serie: medizinische Trainingstherapie mit Quadrizepstraining in der geschlossenen Kette (täglich 30 min für 4 Wochen)

Apoplex

Hemiparese links mit sensiblen Störungen und Koordinationsstörungen beim Gehen und Handgebrauch

Innervationsschulung, Gangschulung (täglich 45 min, 20 Einheiten, je nach Verlauf Verlängerung der Serie um weitere 10 Einheiten)

Ergotherapie (3-mal pro Woche 45 min, 12 Einheiten), manuelle Lymphdrainage, Elektrostimulation

Karpaltunnelsyndrom

Nächtliche Parästhesien, beginnende Daumenballenatrophie

Manualtherapeutische Mobilisationen der Handwurzelknochen, Kräftigung der Daumenballenmuskulatur, Muskelbalancierung Schultergürtel und Arme (3-mal pro Woche 30 min 10 Einheiten)

Ergotherapeutische Übungen mit Anleitung zu Eigenübungen (2-mal pro Woche 30 min) und Lagerungsschiene für die Nacht

Asthma bronchiale

Flache Atmung, Hustenreiz, unökonomischer Einsatz der Atemhilfsmuskulatur

Atemgymnastik und Anleitungen zu Eigenübungen (3-mal pro Woche, 20 min)

Inhalationstherapie (2-mal täglich 10 min)

Verschiedene schwere Erkrankungen (Begleittherapie)

Bettruhe aufgrund schwerer Erkrankung

Passiv-assistives Durchbewegen der Extremitätengelenke und Atemtherapie (täglich 30 min)

Vibrationsmassagen, Kalte Extremitätenwaschungen (täglich morgens)

3

Syndrom der Fall. Bei strukturell bedingten Erkrankungen, Infektionserkrankungen sowie spezifischen Stoffwechseldefekten ist sie als symptomatische Therapie aufzufassen. Die Krankengymnastik kann

bei chronischen Erkrankungen und bei bleibenden Schäden im Sinne der Rehabilitation wesentlich zur Kompensation bestehender Funktionsdefizite beitragen.

43 3.2 · Ergotherapeutische Techniken

3.2

Ergotherapeutische Techniken A. Reiners, A. Römer

Die Ergotherapie wird in diesem Buch, ähnlich wie die Krankengymnastik, in zwei getrennten Kapiteln dargestellt. In diesem Kapitel werden zunächst die wichtigsten ergotherapeutischen Techniken und ihre Wirkungen, Indikationen und Kontraindikationen beschrieben. Die komplexen ergotherapeutischen Konzepte und ihre Anwendung in der Rehabilitation sind Gegenstand des 7 Kap. 6.2.

3.2.1 Definition und Grundlagen > Ergotherapie (früher als Arbeits- und Beschäftigungstherapie bezeichnet) begleitet, unterstützt und befähigt Menschen, die in ihren alltäglichen Fähigkeiten eingeschränkt oder von Einschränkung bedroht sind. Diesen Menschen soll es ermöglicht werden, für sie bedeutungsvolle Betätigungen in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit in ihrer Umwelt durchführen zu können. Ziel der Ergotherapie ist es, Betätigung zu erreichen. Gleichzeitig wird Betätigung als therapeutisches Medium eingesetzt (DVE 2003).

Die Ergotherapie orientiert sich an der Handlungsfähigkeit des Patienten, was nach der ICF-Klassifikation (7 Kap. 4) den Kategorien der Aktivität und Partizipation entspricht. Rehabilitative ergotherapeutische Konzepte (7 Kap. 6.2) beinhalten auch die Anpassung der Umgebung an die funktionellen Bedürfnisse der Betroffenen (ICF-Klassifikation: Umweltfaktoren). Folgende Faktoren beeinflussen die Behandlung: 4 Sensomotorische und neuropsychologische Fähigkeiten des Patienten 4 Sozioökonomischer Hintergrund des Patienten 4 Primärpersönlichkeit des Patienten

3.2.2 Anamnese und Befunderhebung Am Beginn der Behandlung in der Ergotherapie steht eine auf diesen Bereich zugeschnittene Anamnese und 1

Der Begriff der Betätigung beschreibt eine Abfolge sinnvoller Handlungen

3

Befunderhebung, die durch standardisierte Untersuchungen und Testverfahren komplettiert wird. In der Rehabilitation kommen spezielle Assessmentverfahren hinzu (7 Kap. 6.2). Die ergotherapeutische Anamnese erfasst sowohl in freier als auch in systematisierter Befragung des Patienten und ggf. der Angehörigen 4 die subjektiv erlebten Einschränkungen des Patienten, 4 die Situationen, in denen Probleme auftreten und 4 bezieht auch das Umfeld des Patienten (häusliches Umfeld, Arbeitsplatz, Freizeitverhalten, klinischer Alltag) mit ein. Ergänzt wird die Anamnese durch standardisierte Fragebögen (»self-reports«), die bestimmte Problembereiche eines Patienten erfassen und eine Beurteilung der Veränderung dieser Probleme im Verlauf der Behandlung ermöglicht. Die Befunderhebung (. Tab. 3.6) umfasst Beobachtung, körperliche Untersuchung und Funktionsprüfungen. Sie wird durch spezifische Tests ergänzt, die eine quantitative Erfassung bestimmter Merkmale im Vergleich zu Normwerten erlauben. Beobachtende Verfahren, die sowohl in freier als auch als standardisierte und systematische Beobachtung durchgeführt werden, können die sozial-kommunikativen Fähigkeiten und die Handlungskompetenzen erfassen. Durch die standardisierte Beobachtung ist auch eine objektive Verlaufsbeobachtung, die die Veränderungen im Handeln und im Verhalten des Patienten zeigt, möglich. So werden bei Patienten mit neuropsychologischen Defiziten (z. B. Störungen der Orientierung oder der Handlungsplanung) Alltagsaufgaben (z. B. Rasieren, Essenszubereitung, Einkaufen) aufgetragen. Der Therapeut begleitet den Patienten und beobachtet die auftretenden Defizite (Verwechseln von Zahnpasta mit Rasiercreme, »Haftenbleiben« in Entscheidungssituationen). Die ergotherapeutischen Tests beziehen sich überwiegend auf Fälle mit 4 Störungen der Handfunktion und der oberen Extremität, 4 Störungen in den Alltagsfunktionen und 4 neuropsychologischen Defiziten.

44

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

. Tabelle 3.6. Befunderhebung in der Ergotherapie Anamnese

5 Interviews (systematisch durchgeführte Erstgespräche) und strukturierte Fragebögen 5 Self-reports (Eigenauskunftsfragebögen über vom Patienten selbst erlebte Problembereiche)

Befunderhebung

5 Beobachtung und Inspektion: Beschreibung des Funktionsbildes anhand der Beobachtung des Patienten in Alltagssituationen (z. B. Ausweichbewegungen, Vernachlässigung einer Körperseite) und bei standardisierten Aufgaben (z. B. Handling von Gegenständen) 5 Körperliche Untersuchung und Funktionsprüfungen: Erfassen von Bewegungs- und Muskelfunktionen, Sensibilitätsprüfungen

Tests

5 Sensomotorische Testverfahren, z. B. Sensibilitätstest, SODA (»Sequential Occupational Dexterity Assessment«) 5 Neuropsychologische Tests 5 Geriatrische Testverfahren, z. B. Aktivitäten zur eigenständigen Lebensführung, »Geldzählen« nach Nikolaus (5 Kap. 4)

Assessments, Skalen

5 Skalen für die Selbstständigkeit bei Aktivitäten des täglichen Lebens, z. B. Barthel-Index, erweiterter Barthel-Index, FIM, ATL-Skalen (5 Kap. 2.1)

3

Erfassung der Handfunktion Zur Erfassung der Handfunktion und deren Einschränkung – insbesondere bei Rheumapatienten – eignet sich z. B. der SODA (»Sequential Occupational Dexterity Assessment«). Bei standardisiert vorgegebenen Aufgaben (z. B. Öffnen einer Zahnpastatube) wird die Ausführung bewertet und skaliert. Verlaufsbeobachtungen und Ergebniskontrollen sind dadurch möglich. Der Test bewertet dabei 5 die Ausführung (0 = nicht möglich; 1 = alternative Möglichkeit; 4 = korrekte Ausführung), 5 die Schwierigkeit (0 = sehr schwierig; 1 = etwas schwierig; 4 = nicht schwierig) und 5 den Schmerz (0 = kein Schmerz; 1 = Schmerzen).

Zur Erfassung der Selbstständigkeit im täglichen Leben werden verschiedene Skalen eingesetzt, um standardisiert die Aktivitäten des täglichen Lebens zu bewerten und im Verlauf zu messen. Der wohl am weitesten verbreitete Index hierfür ist der Barthel-Index. Zur raschen Erfassung kognitiver Defizite kann z. B. der erweiterte Barthel-Index (7 Kap. 2.2) eingesetzt werden.

3.2.3 Behandlungsverfahren

und Techniken Basis der Ergotherapie ist – ähnlich wie in der Krankengymnastik – die motorisch-funktionelle Therapie. Sie besteht z. B. in 4 Muskelfunktionstraining, Gelenkmobilisation (Manuelle Therapie), 4 Gelenkschutz, 4 funktionellem Training und 4 Sensibilitätsschulung. Hinzu kommt die Anpassung von Orthesen und Schienen (. Abb. 3.5). p Für eine gute Handfunktion ist ein Erreichen einer schmerzfreien und stabilen Gelenksbeweglichkeit notwendig. Daher ist der Gelenkschutz 6

! Durch eine regelmäßig durchgeführte, standardisierte Befunderhebung und Assessmenttests können Funktions- und Aktivitätsverbesserungen im Verlauf dargestellt werden. . Abb. 3.5. Lagerungsschiene in Funktionsstellung. Die plegische Hand wird so gelagert, dass die Funktionsstellung erhalten und Kontraktuten vermieden werden

45 3.2 · Ergotherapeutische Techniken

(z. B. durch Schienenversorgung und Prophylaxe von Kontrakturen) im Vorfeld von und während ergotherapeutischer Behandlungen sehr wichtig. Dies dient auch zur Vorbeugung und Behandlung von Fehlstellungen. So sollte die Ruhigstellung einer Hand möglichst mit leichter Dorsalextension im Handgelenk und leichter Flexion in den Fingergelenken erfolgen (dadurch Entlastung der Kollateralbänder und Gelenkkapseln). Ein weiterer Garant für eine gute Handfunktion ist natürlich eine gute Fingerfunktion. Dafür müssen die Grund- und Mittelgelenke sehr beweglich sein. Beim Daumengrundgelenk und dem distalen Interphalangealgelenk des Daumens ist die Mobilität erwünscht, im Vordergrund steht aber die Stabilität. Ein schmerzfreies, stabiles Daumengrundgelenk wird für alle Aktivitäten in Haushalt, Beruf und Schule benötigt.

Die wichtigsten ergotherapeutischen Behandlungsverfahren und Techniken sind: Adaptative Verfahren

Adaptation heißt in diesem Zusammenhang, aus der Analyse der Fähigkeitsstörungen Kompensationsmöglichkeiten herzuleiten und umzusetzen. Ziel ist es, die Fähigkeiten des Patienten zu verbessern oder Defizite durch Hilfsmaßnahmen auszugleichen. Zunächst werden die patienteneigenen Kompensationsstrategien (z.B. Hinzunehmen der zweiten Hand beim ZumMund-Führen eines Trinkgefäßes) überprüft und ausgeschöpft. Anschließend wird der (ggf. vorübergehende) Einsatz von Hilfsmitteln (z. B. Griffverdickungen am Küchenmesser oder Fixierbretter für das zu schneidende Brot; 7 Kap. 6.9) sowie die Möglichkeiten der Anpassung des privaten und beruflichen Umfeldes (Wohnung, Arbeitsplatz usw.) geplant. Gegebenenfalls müssen auch Hilfspersonen eingesetzt werden. Ziel ist eine möglichst große eigene Aktivität und Partizipation des Patienten auch bei bleibender Funktionseinschränkung. Durch adaptive Maßnahmen können auch Sekundärschäden, Überlastungen und Unfälle vermieden werden (präventiver Aspekt der Ergotherapie). Beispiele für adaptive Verfahren sind: 4 Veränderung des Bewegungsverhaltens (Funktionstraining, z. B. Rücken- oder Gelenkschule) 4 Einsatz von Hilfsmitteln, Anpassung an die Fähigkeiten des Patienten (z. B. Rollstuhl, Griff- und Schreibhilfen. Antirutschfolie)

3

4 Prothesentraining 4 Wohnraum- und/oder Arbeitsplatzanpassung (Haltegriffe an Dusche und Toilette, Anpassung der Tischhöhe u. a) Tonus- und Perzeptionsregulierung

Basis dieser Behandlung ist die Kenntnis neurophysiologischer und neuropsychologischer Zusammenhänge, insbesondere bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen. Wahrnehmung (Perzeption), Haltung und Bewegung (Motorik, Tonus, Haltungskontrolle) sowie deren Regulation sind die unabdingbare Voraussetzung für planvolle und gezielte Handlungen. Neurophysiologische Behandlungskonzepte integrieren und verknüpfen motorische, sensorische und neuropsychologische Aspekte zur Behandlung von Bewegungs- und Handlungsfunktionseinschränkungen (7 Kap. 6.2). Die Tonus- und Perzeptionsregulierung besteht in einem Training der motorischen, sensorischen und neuropsychologischen Basisfunktionen, und zwar durch: 4 Unterstützte Lagerung (z. B. Bobath-Konzept; 7 Kap. 6.1) 4 Geführte Bewegungsübergänge (z. B. AffolterKonzept; 7 Kap. 6.1) 4 Bewusste Handlungsplanung und Bewegungsausführung 4 Haltungskontrolle und Tonusanpassung 4 Fazilitations- und Inhibitionstechniken 4 Erarbeiten physiologischer Bewegungsmuster (z. B. Perfetti-Konzept; 7 Kap. 6.2) 4 Kognitive und sensorische Übungen durch Erspüren und Bewerten von Oberflächen und Gegenständen Handlungs- und funktionsorientierte Therapie

Sie hat zum Ziel, die Selbstständigkeit in den Alltagsaktivitäten (ADL) zu fördern und eine bestmögliche Eigenständigkeit im häuslichen, sozialen und beruflichen Umfeld zu erreichen. Beispiele sind: 4 das direkte Üben von 4 Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL), 4 Wahrnehmung und Orientierung, 4 Kommunikation sowie 4 Beweglichkeit, Belastbarkeit und Ausdauer, 4 der Einsatz von Techniken, Übungsmitteln und -geräten und Medien in der Therapie, 4 das Üben in Alltagssituationen (z. B. in der Übungsküche, dem Übungsbadezimmer oder im häuslichen Umfeld),

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3

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

4 handwerkliche Techniken, 4 der Einsatz von Spielen und Übungsgeräten, 4 das direkte Üben sonstiger Funktionen wie Schreiben und Lesen sowie 4 die Versorgung mit Hilfsmittel und Einüben des Hilfsmittelgebrauchs (z. B. Anziehhilfen, Kommunikationshilfen, Mobilitätshilfen; ▶ Kap. 6.9). ä Beispiel Eine 64-jährige Patientin befindet sich mit folgenden Diagnosen in einer Rehabilitationsklinik: Zustand nach Herzinfarkt und Schlaganfall der linken Hemisphäre mit Hemiplegie rechts und motorischer Aphasie, Aspirationspneumonie. Als Risikofaktoren bestehen generalisierte Atherosklerose, Hypercholeresterinämie und Nikotinabusus. Die Patientin ist verheiratet, ihr Ehemann ist pflegebedürftig und befindet sich ebenfalls in einer Rehabilitationsklinik. Die Patientin wohnt in einer Eigentumswohnung eines Mehrfamilienhauses (mit Lift) auf dem Dorf. Sie ist Hausfrau und pflegt ihren Ehemann. Aktuell ist die Patientin mit einem Rollstuhl ohne Beinraster, aber mit Tisch, versorgt. Sie leider unter Einschränkungen in alltäglichen Verrichtungen durch die Hemiplegie und hat darüber hinaus Probleme mit ihr bekannten Gegenständen aufgrund von Defiziten der perzeptiven und kognitiven Funktionen. Im Rehabilitationsplan werden 5-mal wöchentlich Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie verordnet. In der Ergotherapie werden die folgenden Behandlungen durchgeführt: 5 Übung von Aktivitäten des täglichen Lebens und der Selbsthilfe: Wasch- und Anziehtraining zunächst für den Oberkörper, dazu adäquater Einsatz von alltäglichen Gegenständen wie Kamm, Creme, Zahnbürste etc.; 5 Übungen zu Haltung und Fortbewegung: Transfer vom Badezimmer ins Schlafzimmer mit dem Rollstuhl und im weiteren Verlauf bis in die Cafeteria der Klinik; 5 Übungen zum Umgang mit Gegenständen: Einsatz von Gegenstände bei Alltagshandlungen: Einsatz von Besteck beim Essen u. a.; 5 Übungen zu sozialer Interaktionen: gezielter Abbau von sozialen Hemmungen, Sprechen in kurzen Sätzen, wiederholter Gebrauch derselben Worte (in enger Zusammenarbeit mit der Logopädie);

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5 Übungen zu sensorisch-motorische Grundfunktionen: Förderung von Sensibilität und Motorik der rechten oberen Extremität im Alltag (z.B. bei der Selbsthilfe); 5 Übung perzeptiv-kognitiver Grundfunktionen: tägliches Wiederholen von einfachen Handlungen mit Verwendung von Alltagsgegenständen; 5 Übungen zu emotionale Grundfunktionen: der Patientin Zeit lassen, sich mitzuteilen, Geduld haben und sie ermutigen, es immer wieder zu versuchen. Nach 35 Behandlungen konnten die folgenden Funktionsfortschritte erzielt werden: 5 Alltagsfunktionen: Die Patientin kann die Morgentoilette für den Oberkörper weitgehend selbstständig ausführen. Perseverationen kommen nicht mehr vor, Handlungsstrategien sind allerdings noch nicht konstant vorhanden. 5 Verhaltensgrundformen: Die Patientin kann sich selbstständig bewegen, versucht aber immer wieder fremde Hilfe zu beanspruchen. Mit der sozialen Interaktion hat sie kaum Fortschritte gemacht, sie kann sich sehr schlecht verständigen. 5 Grundfunktionen: Alltägliche wiederkehrende Handlungen kann sie durchführen, die rechte Hand wurde jedoch keine Haltehand, und zwar wegen noch nicht überwundenen Ängste der Patientin und der noch fortbestehenden Spastik. (Verfasserin: Margot Grewohl, Hannover)

Arbeitstherapeutische Maßnahmen

Sie besitzen ein breites Einsatzgebiet. Zunächst werden die Fähigkeiten des Patienten in Bezug auf tätigkeitsund berufsbezogene Anforderungen beobachtet und analysiert. Ziel ist es, zum einen die Fähigkeiten des Patienten zu verbessern und ggf. durch adaptative Maßnahmen zu unterstützen, und zum anderen, seine Belastbarkeit zielgerichtet zu fördern (sog. »work-hardening«). Darüber hinaus kann auch das Umfeld (Haushalt, Arbeitsplatz) durch adaptative Verfahren z. B. mit Hilfsmitteln an die Fähigkeiten des Patienten angepasst werden (Arbeitsplatzgestaltung, Ergonomie). Dabei spielen auch die Informationen und das Einbeziehen von Kollegen und Vorgesetzten eine wichtige Rolle. Arbeitstherapeutische Maßnahmen beginnen im Akutkrankenhaus, werden in der weiterführenden Rehabilitation (Belastungserprobung) und auch im ambulanten Bereich (Berufsförderung und -findung) fort-

47 3.2 · Ergotherapeutische Techniken

gesetzt. Ein weiterer Aspekt der Arbeitstherapie kommt z. B. in der Psychiatrie zum Einsatz, wo sie eine lange Tradition hat. Hier wird die Arbeit als stabilisierendes Element in den Alltag des Patienten eingebaut (Arbeit als sinnvolle Betätigung) und dient auch zur Anbahnung der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Zu den arbeitstherapeutischen Maßnahmen gehören insbesondere 4 die Analyse des Arbeitsplatzes, 4 die Ergonomie und 4 psychosoziale Behandlungsverfahren (kompetenzzentrierte, ausdruckszentrierte und interaktionelle Methoden).

3.2.4 Wirkungsmechanismen

und Wirksamkeit Durch die Anwendung ergotherapeutischer Techniken und Behandlungsverfahren werden Wirkungen und Reaktionen auf unterschiedliche Strukturen und Funktionen ausgelöst . Tab. 3.7). Dabei spielen auch der aktuelle Zustand des Patienten und individuelle Faktoren wie Alter, Geschlecht und Krankheiten eine Rolle. Durch funktionelle und alltagsbezogene Techniken (z. B. Arbeiten in Schulterhöhe, auch mit beweglich aufgehängtem Arm, Kneten und Ausrollen von Teig)

3

kann eine Steigerung der Kraft, der Kraftausdauer, der Beweglichkeit und der koordinativen Fähigkeiten erzielt werden. Dadurch werden grob- und feinmotorische Funktionen verbessert. Ziel der Therapie ist auch der Abbau pathologischer Haltungs- und Bewegungsmuster. Sensibilität und Gewebstrophik können durch den Einsatz unterschiedlicher Materialien und thermischer Reize beeinflusst werden. Durch ein gezieltes Selbsthilfetraining unter Einbeziehung von sensomotorischen und kognitiven Anteilen soll dem Patienten eine möglichst weitgehende Selbstständigkeit bei den Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) ermöglicht werden. Hierzu ist ggf. auch eine Hilfsmittelanpassung zur Adaptation an die Umgebung nötig. Die neuropsychologischen und kognitiven Defizite können durch Tests analysiert und gezieltes Üben, z. B. am Computer, trainiert werden. Ein wichtiger ergotherapeutischer Behandlungsbereich ist das berufsbezogene Belastungstraining. Hier wird durch gezieltes Üben bestimmter Tätigkeiten und Bewegungsabläufe sowie ergonomische Adaptationen des Arbeitsplatzes ein berufsspezifisches Training durchgeführt. Psychosoziale Behandlungsverfahren und Entspannungstechniken kommen in der Behandlung bei Patienten mit psychischen und psychosomatischen Störungen gezielt zum Einsatz. Ihre Wirkung besteht in

. Tabelle 3.7. Therapieziele und geeignete ergotherapeutische Techniken

Therapieziele

Ergotherapeutische Techniken

Steigerung von Muskelkraft, Bewegungsausmaß, Koordination und Sensibilität

Handwerkliche Techniken, funktionelle Spiele (Steckspiele), alltagsbezogene Aktivitäten, Übungsgeräte (z. B. Helparm, Webrahmen)

Steigerung der Gelenkbeweglichkeit

Funktionelle Übungen der Hand, Manuelle Therapie

Gelenkschutz, Verbesserung der Gelenkstabilität

Funktionelles Training, Schienenversorgung, Kräftigung der gelenkübergreifenden Muskulatur

Verbesserung der Sensibilität

Sensibilitätsschulung mit verschiedenen Materialien, Diskriminationstraining (Erkennen von Oberflächeneigenschaften), Thermotherapie

Verbesserung kognitiver Funktionen und Beseitigung neuropsychologischer Defizite

Spiele, Einsatz spezifischer Computerprogramme, handwerkliche Techniken

Verbesserung der Selbständigkeit im Alltag

Selbsthilfetraining: Waschen und Anziehen, Haushaltstraining, Hilfsmittelanpassung und -versorgung

Verbesserung von Ausdauer und Belastbarkeit

»Work-hardening«, berufsspezifisches Training

Besserung psychische Störungen

Entspannungstechniken, Arbeitstherapie

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3

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

einer psychischen Stabilisierung und Aktivierung, in der Tagesablaufstrukturierung und in der Verbesserung von Antrieb und Motivation. Es werden die kognitiven Funktionen, die Ausdauer und das Durchhaltevermögen verbessert sowie die Kompetenzen bezüglich Sozialverhalten und Emotionskontrolle im Alltag gestärkt. Ein weiteres Therapieziel ist die Verbesserung der Körperwahrnehmung, der Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie der Angstbewältigung.

wieder selbstständig bewältigen zu können. In den folgenden Therapiesitzungen werden die Alltagshandlungen in verschiedenen Settings (z. B. Waschen und Anziehen, Einkaufen, Haushaltstätigkeiten) einbezogen. Zu Beginn zeigt sich schnell, dass die Patientin sich selbst sehr unter Druck setzt (»das ging doch früher alles schneller«), sodass sich die motorischen und kognitiven Fähigkeiten eher noch verschlechtern. Bei den Therapieinhalten werden die Alltagshandlungen in einzelne Sequenzen unterteilt, um eine Überforderung der Patientin im motorischen und kognitiven Bereich zu vermeiden und der Patientin auch die Möglichkeit zu geben, ihre Bewegungen in den unterschiedlichsten Handhabungen wahrzunehmen. Nach ca. 6 Wochen Therapie mit Ergotherapie im Einzelsetting (1u täglich) und kognitiver Gruppe (1u wöchentlich) bewältigt die Patientin ihre Alltagsaktivitäten deutlich sicherer und selbstständiger. Ihre Griffvarianten haben sich zunehmend erweitert, und sie lässt sich mehr Zeit für ihre Handlungen, was ihr ermöglicht, mehr auf die kognitiven Anforderungen zu achten.

ä Beispiel Eine 64-jährige Patientin wird erstmalig nach einem vor ca. 4 Wochen erlittenen Mediainfarkt links in der Ergotherapie vorgestellt. Als Folgen des Infarktes zeigen sich diskrete Auffälligkeiten im Gangbild und der Rumpfmotorik sowie eine leichtgradige Parese des rechten Armes. Beim ergotherapeutischen Assessment in der ersten Therapieeinheit ergeben sich Feinmotorik- und Feinkoordinationsstörungen der rechten Hand. Im gezielten Einsatz, z. B. beim Schreiben, kompensiert die Patientin deutlich ihre vorhandenen Defizite durch ausweichende proximale Gelenksbewegungen im Ellbogen- und vor allem im Schultergelenk. Im Bereich der Kognition sind Störungen der Konzentration und der geteilten Aufmerksamkeit auffällig. Mit der Patientin werden die für sie vorrangig wichtigen zu erreichenden Ziele festgelegt. Hier äußert die Patientin als größten Wunsch »ihren Alltag«

6

3.2.5 Indikationen Ergotherapie ist bei einer Vielzahl von Funktions- und Fähigkeitsstörungen indiziert. Die wichtigsten Krankheitsbilder und geeignete Techniken sind . Tab. 3.8 zu entnehmen.

. Tabelle 3.8. Wichtige Indikationen für den Einsatz der Ergotherapie

Bereich/Organsystem

Krankheitsgruppe

ZNS

Neuropsychologische Störungen (Apraxie, Neglect), Hirnleistungsstörungen, Apoplex, degenerative und entzündliche Hirnerkrankungen, Querschnittlähmung, amyoptrophe Lateralsklerose, M. Parkinson

Peripheres Nervensystem

Periphere Nervenläsionen, Polyneuropathien, Karpaltunnelsyndrom

Stütz- und Bewegungsapparat, insbesondere obere Extremität

Funktionelle, degenerative, entzündliche Erkrankungen und Traumafolgen, insbesondere an den oberen Extremitäten (z. B. chronische Polyarthritis, Handverletzungen, chronisches regionales Schmerzsyndrom)

Muskelerkrankungen

Muskeldystrophien

Psychische und psychosomatische Erkrankungen

Depression, psychomotorische Störungen, Angststörungen

Angeborene oder früherworbene Hirnschädigungen, Entwicklungsstörungen

Infantile Zerebralparese, Teilleistungsstörungen und Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Störungen der sensorischen Integration, Verhaltensauffälligkeiten

49 3.3 · Sporttherapie und Medizinische Trainingstherapie

Fazit

> Auf der Grundlage der ärztlichen Verordnung mit Angabe von Diagnosen, Leitsymptom, Funktionsdefiziten und Therapiezielen wird ein individueller ergotherapeutischer Behandlungsplan erstellt.

Ziel der ergotherapeutische Behandlung ist die Verbesserung der Fähigkeiten eines Patienten, insbesondere auch die Bewältigung des Alltags und die Selbstständigkeit. Ergotherapie kann bei funktionellen, sensorischen oder psychischen Störungen eingesetzt werden. Sie ist sowohl bei akuten Erkrankungen (Unfallchirurgie, Neurologie) als auch bei chronischen Erkrankungen (Geriatrie, Pädiatrie, Rehabilitation) indiziert. Die Verordnung von Ergotherapie erfordert Kenntnisse der eingesetzten Techniken und Konzepte und bedarf einer engen Teamarbeit.

3.2.6 Kontraindikationen Generelle Kontraindikation für die Verordnung und Durchführung ergotherapeutischer Maßnahmen gibt es nicht. Im Einzelfall sind aber bestimmte Techniken kontraindiziert; Beispiele hierfür sind: 4 Handwerkliche Techniken für die Grobmotorik, die zu einer Überbelastung von Gelenken führen können, sind bei akuten Entzündungen und Spastik kontraindiziert. 4 Handwerkliche Techniken für die Feinmotorik dürfen nicht bei Tremor, Ataxie oder Athetose durchgeführt werden. 4 Bei Hautläsionen und Sensibilitätsstörungen verbietet sich eine Thermotherapie. 4 Auch das Auslösen von Tonuserhöhungen (Spastik) und unwillkürlichen Bewegungen (z. B. bei einer Ataxie) ist zu vermeiden. > In der Therapie darf die Grenze der motorischen und psychischen Belastbarkeit des Patienten nicht überschritten werden. Jedoch sollte der Therapeut immer wieder die Grenzen des Patienten ausloten und durch das Fordern und Fördern die Belastbarkeit verbessern.

3.2.7 Dosierung und Kombinations-

möglichkeiten Die Dosierung der therapeutischen Interventionen hängt von der Belastbarkeit des Patienten ab. Auch die angewendete Technik sowie das individuelle Therapieziel geben die Intensität der Behandlung vor. Eine Kombination mit anderen therapeutischen Interventionen (z. B. medikamentöse Schmerztherapie, Physiotherapie, Massage, Logopädie) ist häufig sinnvoll und notwendig. Ein multimodaler Therapieansatz im therapeutischen Team ist in vielen Fällen einer Monotherapie vorzuziehen, da hierdurch verschiedenartige und vielfältige Potenziale eines Patienten besser genutzt und gefördert werden können.

3

3.3

Sporttherapie und Medizinische Trainingstherapie E. Seidel

3.3.1 Definition und Grundlagen > Sporttherapie ist die Anwendung des Sports in der Behandlung von Krankheiten bzw. von durch Krankheiten beeinträchtigter Funktionen auf der Basis der wissenschaftlichen Bewegungs- und Trainingslehre. Ziele sind 5 die Normalisierung oder Kompensation gestörter körperlicher, psychischer und sozialer Funktionen, 5 die Vorbeugung sekundärer Schädigungen sowie 5 die Förderung gesundheitsorientierter Verhaltensweisen.

Im Gegensatz zu den anderen Teilgebieten der Bewegungstherapie (Krankengymnastik, Ergotherapie) werden die Ziele des Einsatzes der Sporttherapie nicht durch Üben, sondern durch Trainieren erreicht. Trainingseinheiten werden nach den trainingsphysiologischen Grundsätzen so aufgebaut, dass Trainingseffekte erzielt werden, z. B. im Sinne einer vermehrten Ausdauerleistungsfähigkeit des Kreislaufs, einer Zunahme der Muskelkraft oder -ausdauer oder auch einer Steigerung der Knochenfestigkeit (7 Kap. 1.2). Voraussetzung für die Sporttherapie ist die Durchführung einer leistungsphysiologischen Diagnostik, die die Zielbereiche und die Therapiemittel in ihrer Dosierung festlegt (7 Kap. 2). Sporttherapie ist eine team-

50

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

. Tabelle 3.9. Zielstellungen der Sporttherapie am Beispiel eines 42-jährigen männlichen Patienten mit Spondylitis ankylosans (Morbus Bechterew) Präventiv

3

5 Erziehung zur optimalen Aufrichtung, z. B. im Rahmen der Rückenschule 5 Vorbeugung einer Atemexkursionseinschränkung durch gezielte Atemübungen 5 Vermeidung bzw. Korrektur muskulärer Dysbalancen, z. B. durch gezieltes Training schwacher Agonisten und Dehnung verkürzter Antagonisten

5 Verhütung von Bewegungseinschränkung 5 Aufklärung des Patienten über das Krankheitsbild und Motivation zur aktiven Mitarbeit Kurativ

5 Schmerzbeseitigung, Schmerzlinderung, z. B. durch Entspannungsverfahren 5 Entzündungsbeeinflussung 5 Beseitigung bzw. Verminderung von Atemfunktionsstörungen, z. B. durch Atemgymnastik (7 Kap. 3.1) 5 Behandlung muskulär bedingter Schmerzzustände 5 Korrektur der muskulären Dysbalancen (s. o.) 5 Training von Beweglichkeit, Kraft und Ausdauer

Rehabilitativ

5 Vermittlung rückenschonenden Verhaltens in einer therapeutischen Rückenschule 5 Beratung im Alltagsbereich (z. B. zur ergonomischen Gestaltung des Arbeitsplatzes mit Vermeiden von Zwangshaltungen)

5 Erhalt der Gesamtfunktion des Bewegungssystems durch Ausdauer-, Kraft- und Flexibilitätstraining 5 Kompensation von Bewegungseinschränkungen der Wirbelsäule

orientierte, ganzheitliche Aufgabe im Rahmen eines Rehabilitationsplans, der sich an der Rehabilitationsprognose und Rehabilitationsfähigkeit orientieren muss. . Tabelle 3.9 listet die Zielstellungen der Sporttherapie beispielhaft bei Morbus Bechterew auf.

3.3.2 Methoden und Therapiemittel Innerhalb der Sporttherapie unterscheidet man die in . Tab. 3.10 aufgeführten Methoden und Therapiemittel.

3.3.3 Sporttherapeutische Konzepte Die wichtigsten in Deutschland zurzeit umgesetzten sporttherapeutischen Konzepte2 sind: 4 Medizinische Trainingstherapie 4 Rehabilitationssport und Funktionstraining 4 Behindertensport 4 Multi-Joint-Training (s. u.) 2

Die Bezeichnungen dieser sporttherapeutischen Konzepte folgen nicht wissenschaftlichen Definitionen, sondern sind in Deutschland geprägt von einer administrativen Benennung infolge von Gesetzen, Gebührenverzeichnissen, Richtlinien und Rahmenempfehlungen der Kostenträger und Gesetzgeber.

Medizinische Trainingstherapie (MTT) > Die Medizinische Trainingstherapie beinhaltet gerätegestützte Trainingsmethoden, wobei sehr unterschiedliche Trainingsformen (Ausdauerleistungstraining, isometrisches und isokinetisches Muskeltraining, Koordinationstraining) eingeschlossen werden. Die Therapiegeräte können dabei auch sequenziell angeordnet werden, was zur Bezeichnung Sequenztherapie geführt hat.

Man unterscheidet folgende Trainingsformen: 4 Isometrisches Training: Training bei gleich bleibender Muskellänge bzw. Gelenkstellung und veränderlicher Kraftentwicklung; gleichmäßige Muskelanspannung und Halten dieser Spannung über mehrere Sekunden 4 Auxotonische Training: Training bei veränderlicher Muskellänge und Kraftentwicklung: Trainingsgeräte werden so eingestellt, dass die Kraftentwicklung bei der dynamischen Muskelkontraktion variiert, z. B. bei gestreckem Glenk geringer ist als in der Beugestellung 4 Isokinetisches Training: Training bei gleichbleibender Muskelkraft und veränderlicher Muskellänge bzw. Gelenkstellung; hier wird in der Bewegung geübt, wobei das Gerät so eingestellt wird, dass die

51 3.3 · Sporttherapie und Medizinische Trainingstherapie

3

. Tabelle 3.10. Methoden und Therapiemittel der Sporttherapie

Methoden

Therapiemittel

Ausdauertraining

5 Dauerleistungstraining, z. B. durch tägliches Fahrradergometertraining für 30 min mit 60 W 5 Intervalltraining, wiederholte Trainingseinheiten mit z. B. 60 W für 5 min und zwischengeschalteten geringeren Belastungen (z. B. 40 W) oder Sprintläufe von 150 m im Wechsel zum leichten Traben (»Wiederholungsmethode«) 5 »Wiederholungsmethode«, z. B. durch Sprintläufe von 150 m im Wechsel zum leichten Traben

Krafttraining

5 Maximalkrafttraining mit ca. 75–100% der Maximalkkraft und 5 Wiederholungen pro Durchgang (eine Trainingseinheit besteht aus 3–5 Durchgängen)

5 Begrenztes Schnellkrafttraining, z. B. durch Sprungübungen oder Bewegungen wie beim Boxen oder Fechten

5 Kraftausdauertraining, z. B. Krafttraining mit 50–60% der Maximalkraft bei 3–5 Durchgängen und 15–20 Wiederholungen Beweglichkeitstraining

5 Flexibilitätstraining, z. B. durch direkte Übung der Gelenkbeweglichkeit 5 Dehnbarkeitstraining (z. B.dynamisches oder statisches Muskeldehnen)

Koordinationstraining

5 Mentales Training, wobei durch Vorstellung von Bewegungen die Koordination gebahn wird

5 Sensomotorisches Training, bei dem Koordination und die Reaktion auf plötzlich eintretende Belastungen geübt werden, z. B. durch Stehen auf einer beweglichen Plattform oder Sitzen auf Bällen Schnelligkeitstraining (bei sportspezifischer Therapie auf hohem Niveau)

5 Reaktionsschnelligkeitstraining (Sprintläufe von 5 m mit kurzen Startphasen aus unterschiedlichen Ausgangsstellungen)

5 Aktionsschnelligkeitstraining mit Wettkampfübungen und Bewegungen in hohem Tempo

Kraftentwicklung unabhängig von der Muskellänge gleich bleibt Globale Zielstellungen der MTT sind: 4 Wiederherstellung einer »funktionellen Stabilität« bei physiologischer Beweglichkeit 4 Wiedererlangung und Stabilisierung von Fähigkeiten und Fertigkeiten und 4 Entwicklung einer individuellen Handlungskompetenz Die Verbesserung der allgemeinen und speziellen Leistungs- und Belastungsfähigkeit wird erreicht durch das Trainieren von: 4 Koordination, Gleichgewicht, Haltung 4 Allgemeine und spezielle Ausdauerleistungsfähigkeit 4 Flexibilität 4 Kraftfähigkeit der betroffenen und nicht-betroffenen Region 4 Schnelligkeit (exzentrisch)

Die 4 Phasen der Medizinischen Trainingstherapie sind . Tab. 3.11 zu entnehmen. ä Beispiel Bei einer 56-jährigen Patientin mit Postpoliosyndrom bei Poliomyelitis epidemica anterior Stadium 3 wird eine MTT mit folgenden Trainingseinheiten durchgeführt: In der ersten Phase erfolgt ein Mobilisationstraining: 5 Isometrisches Training (30–50% der Maximalkkraft; 6–10 Wiederholungen), Sequenztrainingsgerät 5 Auxotonisches Training (30–50% der Maximalkraft; 3–6 Wiederholungen), Sequenztrainingsgerät 5 Körperempfindungsschulung 5 Koordinationsübungen (intermuskuläre Koordination) ggf. Orthesentraining, Sequenztrainingsgerät 5 Angepasste Kreislaufbelastung (30% der Ausbelastung, bis zu 30 min), Handkurbel-, Fahrradergometer oder Laufband

6

52

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

. Tabelle 3.11. Phasen der medizinischen Trainingstherapie

3

Phase

Inhalt

Phase 1: Mobilisationstraining

5 Angepasstes Kraft-, Ausdauer- und Koordinationstraining 5 Übungen zur Wahrnehmung inkl. Propriozeption 5 Informationsweiterleitung aus Peripherie

Phase 2: Stabilisationstraining

5 Weitere Verbesserung von Beweglichkeit, lokaler Muskelkraftausdauer, allgemeiner aerober Ausdauer, von Koordination und Wahrnehmung 5 Optimale Haltung und Stabilität 5 Vertrauen in eigene Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit

Phase 3: Funktionstraining

5 5 5 5

Phase 4: Belastungstraining

5 Umsetzung der erlernten/trainierten Grundeigenschaften in sport- bzw. berufsspezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten 5 Schulung vielfältiger Bewegungsanforderungen, neuromuskulärer Qualitätsumbau 5 Koordinations- und Schnelligkeitsübungen 5 Kraft- und Ausdauertraining mit exzentrischen und reaktiven Belastungen

Koordinations- und Reaktionstraining Abbau von Funktionsdefiziten Weiteres Kraft- und Ausdauertraining Erlernen alltagsspezifischer Teilbewegungen und umfassende Bewegungsschulung

Ergänzende Maßnahmen in dieser Phase beinhalten Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage (PNF), ADL-Training, Gesundheitstraining (Nikotin etc.) sowie eine symptombezogene Behandlung der Begleiterkrankungen. Die Phase des Stabilisationstrainings umfasst folgende Trainingseinheiten: 5 Isokinetisches Training (60% der Maximalkraft), Sequenztherapiegerät 5 Auxotonisches Training (60% der Maximalkraft), Seilzuggerät 5 Isotonisches Training (bis 80% der Maximalkraft), Sequenztherapiegerät 5 Isokinetisches Training (mit konzentrischer Bewegung mit einer Winkelgeschwindigkeit von 180– 240°/s) 5 Komplexübungen (posturales System) 5 Herz-Kreislauf-Training (50% der Ausdauerleistungsfähigkeit, 20–25 min) Oberkörper- oder Fahrradergometer Anschließend wird ein funktionelles Muskeltraining mit folgenden Inhalten durchgeführt: 5 Auxotonisches Training (60–70% der Maximalkraft) 5 Isokinetisches Training (180–240°/sec), konzentrisch und exzentrisch.

6

5 Komplexübungen (Seilzug, Sequenztrainingsgeräte) 5 Herz-Kreislauf-Training (Ziel: PWC170 (7 Kap. 2.3), maximal 5 min; bei PWC140 maximal 15 min) In der Phase des Belastungstrainings soll die Patientin auf Beruf und Freizeit vorbereitet werden. Als Kindergärtnerin liegt das Traingsziel auf der Steigerung der Ausdauerleistungsfähigkeit, der Kraft der Bein- und Rumpfmuskulatur, kombiniert mit Koordinationsübungen. Sie erhält darüber hinaus ein Heimtrainigsprogramm bzw. eine Einweisung zum Training im Fitnesstudio. Nach schrittweiser Wiedereingliederung ist sie wieder in der Lage, in ihrem Beruf ganztags zu arbeiten.

Bei der Medizinischen Trainingstherapie kommen Trainingsgeräte zum Einsatz, die sich von krankengymnastischen Geräten durch die individualisierbare Drehmomenteinstellung unterscheiden (z. B. isokinetische Test- und Therapiegeräte; . Abb. 3.6). In der MTT werden aber auch die krankengymnastische Geräte (Thera-Band, Keulen, Bälle; 7 Kap. 3.1) mit genutzt.

53 3.3 · Sporttherapie und Medizinische Trainingstherapie

3

. Abb. 3.6. Isokinetisches Test- und Therapiegerät. In der Diagnostik kann die maximale Muskelkraft über den gesamten Bewegungsumfang aufgezeichnet werden. Im Training werden isokonetische Bedingungen hergestellt, d. h. die Muskelkraft bleibt im Bewegungsablauf konstant

Rehabilitationssport und Funktionstraining > Rehabilitationssport und Funktionstraining sind gesetzlich verankerte ergänzende Leistungen zur Rehabilitation, die erbracht werden, um das Ziel anderer Rehabilitationsmaßnahmen (z. B. stationäre Heilverfahren) zu erreichen oder zu sichern.

Rehabilitationssport ist kein wissenschaftlicher Fachbegriff, vielmehr handelt es sich um die Anwendung der Sporttherapie als Methode der Bewegungstherapie in dem gesetzlich vorgegebenen Rahmen (Patienten der Rentenversicherung). Der Rehabilitationssport wirkt mit den Mitteln der Sporttherapie und behindertengerecht ausgerichteter Sportspiele ganzheitlich auf behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen3 ein. Voraussetzung ist die notwendige Mobilität sowie physische und psychische Belastbarkeit für bewegungstherapeutische Übungen in der Gruppe. Ziel ist es, die Ausdauer und Kraft zu stärken sowie die Koordination und Flexibilität zu verbessern. Hieraus kann auch eine Stärkung des Selbstbewusstseins resultieren. Darüber hinaus soll Hilfe zur Selbsthilfe geboten werden, insbesondere, um die eigene Verantwortlichkeit des Betroffenen für seine Gesundheit zu stärken und ihn zum langfristigen, selbstständigen und eigenverantwortlichen Bewegungstraining zu motivieren. 3

Hinweis: Zu diesen Personenkreisen gehören i. S. d. Rahmenvereinbarung auch chronisch kranke Menschen, bei denen eine Beeinträchtigung am Leben in der Gemeinschaft noch nicht eingetreten, aber zu erwarten ist.

Ein Beispiel für den Einsatz des Rehabilitationssports stellt die Therapie von Patienten mit chronischobstruktiver Lungenerkrankung (COPD) dar. Hier wird nach stationären Rehabilitationmaßnahmen ein ambulantes Training durchgeführt, und zwar zur weiteren Verbesserung der kardiopulmonalen Ausdauerleistungsfähigkeit und zur Fortführung des im Heilverfahren begonnenen Muskelaufbautrainings. Außerdem können die Patienten durch die Übungen in der Gruppe psychosozial stabilisiert werden. Die Gruppenleiter (Trainingstherapeut und Arzt) können darüber hinaus Elemente der Patientenschulung (7 Kap. 6.13) in die Gruppenübungsstunden mit einbauen. Der Rehabilitationssport umfasst sporttherapeutische Übungen, die in der Gruppe im Rahmen regelmäßig abgehaltener Übungsveranstaltungen durchgeführt werden, und Maßnahmen, die einem behinderungsgerechten Verhalten und der Bewältigung psychosozialer Krankheitsfolgen dienen (z. B. Entspannungsübungen). Auch das Funktionstraining wirkt mit den Mitteln der Sporttherapie gezielt auf spezielle körperliche Strukturen (Muskeln, Gelenke usw.) ein. Auch hierbei handelt es sich um ein Gruppenangebot, das Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung angeboten wird. Es umfasst bewegungstherapeutische Übungen, die in der Gruppe unter fachkundiger Leitung im Rahmen regelmäßig abgehaltener Übungsveranstaltungen durchgeführt werden. Weitere Formen der Sporttherapie Das Multi-Joint-Training ist charakterisiert durch Bewegungsausführung über mehrere Gelenke mit hohen

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3

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

koordinativen Anforderungen (z. B. Übungen in leichter Hocke, sog. Squats, mit gleichzeitigem Stemmen einer Langhantel), entsprechend den meisten Alltagsbewegungen, Damit unterscheidet sich das Multi-jointTraining von den in der Praxis weit verbreiteten eingelenkigen Bewegungen der Krankengymnastik oder auch der Krankengymnastik am Gerät. Der Behindertensport dient der weiteren Integration behinderter Menschen in die Gesellschaft und bezeichnet den Sport von Menschen mit Behinderungen. Beispiele hierfür sind Basketball für Rollstuhlfahrer oder Schwimmen bei Menschen nach Arm- oder Beinamputationen.

3.3.4 Wirkungsmechanismen

und Wirksamkeit Zielbereiche der Sporttherapie sind auch die physiologischen Alterungs- und Inaktivierungsprozesse der Menschen (Maladaptation), die vor allem bei chronischen Erkrankungen eine lebensverkürzende Bedeutung haben können. Die wichtigsten Maladaptationen 5 Rückgang der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit 5 Reduktion der Muskelmasse 5 Verminderung von Myoglobingehalt und Glykogenmenge in den Zellen 5 Rückgang der Kapillarisierung der quergestreiften Muskulatur 5 Verschlechterung der rheologischen Parameter des Blutes (Viskosität, Erythrozytenaggregation) 5 Knochendichtereduzierung 5 Zunehmende Insulinresistenz der peripheren Rezeptoren 5 Rückgang der Eigenaktivität

Die Methoden der Sporttherapie beeinflussen diese Maladaptationserscheinungen positiv, wobei auch im höheren Alter noch gute Ergebnisse erzielt werden können. Auch bei den meisten chronischen Erkrankungen werden die Maladaptationen beschleunigt, wie z. B. bei Diabetes mellitus, chronisch-ischämischen Herzerkrankungen und chronisch-entzündlichen Gelenkerkrankungen. Ein Beispiel für die Sporttherapie bei Maladaptation gibt . Tab. 3.12.

3.3.5 Indikationen, Kontraindikationen

und Kombinationsmöglichkeiten Entsprechend den sehr unterschiedlichen Trainingsmöglichkeiten (Krafttraining, Ausdauerleistungstraining, Koordinationstraining u. a.) ist der Indikationsbereich der Sporttherapie sehr breit. Daher können hier nicht alle Indikationen und Kontraindikationen aufgelistet werden. ! Jeder Sporttherapie muss eine eingehende individuelle Leistungsanalyse vorausgehen. Nur dann können Therapieart und -intensität so ausgewählt bzw. dosiert werden, dass der Betroffene davon gesundheitlich profitiert und keine unerwünschten Überlastungen in vorgeschädigten Funktionssystemen eintreten. Jede Trainingsund Sporttherapie setzt ein Mindestmaß an kardiopulmonaler Belastbarkeit voraus.

Da die Trainingsintensitäten der medizinischen Trainingstherapie in einem sehr weiten Bereich dosierbar sind, können trainierende Therapien auch schon in sehr frühen Stadien der Rehabilitation (z. B. Frührehabilitation) eingesetzt werden, z. B. bei schwerer Dekonditionierung nach prolongierter intensivmedizinischer Behandlung. Es gelten grundsätzlich die Kontraindikationen der jeweiligen Trainingsform (vgl. die sportmedizinischen Lehrbücher). Die Methoden der Sporttherapie können mit anderen Therapiemitteln der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin sinnvoll kombiniert werden (7 Kap. 3.15). Dabei kommen z. B. Synergieeffekte mit anderen Formen der Bewegungstherapie (z. B. Afferenztraining aus der Ergotherapie oder Dehntechniken aus der Krankengymnastik) zum Tragen.

Fazit Zentrale Ziele der Sporttherapie sind die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit (einschließlich der kardiopulmonalen Ausdauer, Muskelkraft und -ausdauer sowie der Koordination) und die Einbindung in ein soziales Umfeld. Dabei wird auch eine verbesserte Motivation und Entspannungsfähigkeit angestrebt. Therapiemittel sind Trainingsgeräte sowie geeignete Sportarten

6

55 3.4 · Manuelle Medizin

3

. Tabelle 3.12. Bedeutung der Maladaptationserscheinungen für einen Patienten mit Morbus Bechterew und die Zielbereiche der Sporttherapie

Maladaptation

Verstärkung durch Spondylitis ankylosans

Therapiemittel der Sporttherapie

Rückgang kardiopulmonaler Leistung

Kyphose der Brustwirbelsäule, Inaktivität

Ausdauertraining: Fahrradergometertraining mit 50–60% der maximalen Sauerstoffaufnahme oder Nordic Walking bei 50–60% der maximalen Herzfrequenz

Reduzierung Muskelmasse

Entzündungsreaktionen, Inaktivität, Schmerz

Medizinsche Trainingstherapie der Rumpfmuskulatur mit 50–60% der Maximalkraft

Rückgang Eigenaktivität

Schmerz, psychosozialer Rückzug

Sportspiele, z.B. Volleyball, Rückenschule

Verminderung Myoglobin- und Glykogengehalt in den Zellen

Bewegungsreduktion, verminderte Kreislaufbelastung

Kraftausdauer- und Ausdauertraining

Rückgang der Kapillarisierung

Bewegungsreduktion, verminderte Kreislaufbelastung

Ausdauertraining

Verschlechterung der rheologischen Parameter des Blutes

Bewegungsreduktion, verminderte Kreislaufbelastung

Ausdauertraining

Knochendichtereduzierung

Inaktivität, ggf. sekundärer Genese bedingt (u. a. Kortisontherapie)

Kraft-, Kraftausdauer und Koordinationstraining, z. B. durch Training auf einer beweglichen Unterlage oder dursh Halten eines in sich schwingenden Stabes

Zunehmende Insulinresistenz peripher

Bewegungsreduktion, verminderte Stoffwechselaktivität

Ausdauertraining, z. B. auf dem Laufband oder Fahrradergometer, auch als Intervalltraining (. Tab. 3.10)

3.4 und Gruppenspiele. Voraussetzung für eine erfolgreiche Spottherapie ist die vorherige Leistungsdiagnostik sowie eine nach trainingswissenschaftlichen Gesichtspunkten dosierte Trainingsleistung. Die Sporttherapie und medizinische Trainingstherapie wird dabei so gestaltet, dass keine Fehlbelastungen eintreten und somit auch Menschen mit Behinderungen an ihr teilnehmen können.

Manuelle Medizin U. Smolenski

3.4.1 Definition und Grundlagen > Die Manuelle Medizin befasst sich mit der Diagnostik und Therapie reversibler Funktionsstörungen am Haltungs- und Bewegungssystem (Chirodiagnostik und -therapie). Sie liefert zusätzliche Informationen und Therapieoptionen zur klassischen orthopädischen Untersuchung und krankengymnastischen Behandlung. Sie geht von einer Funktionseinheit von Muskulatur und Gelenk (sensomotorische Einheit) aus. Im Zentrum der Manuellen Medizin steht die reversible Gelenkfunktionsstörung (Blockierung; s. u.).

Historisch gehen die Wurzeln der Manuellen Medizin in der abendländischen Kultur zurück bis zu Hippokra-

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3

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

tes, der in der »Rachiotherapie« einen Grundstein der Medizin sah, weil viele Erkrankungen nach seiner Meinung mit der Wirbelsäule in Zusammenhang stehen. In Thailand und den Kulturen der Chinesen, Ägypter, Babylonier und der Inkas wurden bereits vor 4000 Jahren Manipulationen an Wirbelsäule und Extremitäten beschrieben. In den folgenden Jahrhunderten war die Kunst des »Knochensetzens« Bestandteil der europäischen Volksmedizin und lag in den Händen von Laien. Die heutige Manuelle Medizin hat sich in den letzen 60 Jahren entwickelt und wurde auf eine wissenschaftliche Ebene gebracht. Wichtige Schulen sind die Chiropraktik und die osteopathische Medizin. Bewegungsfunktionsstörung und Schmerzen treten meist gemeinsam auf. Unterschieden wird in der Manuellen Medizin zwischen Nozizeption und Schmerz. 4 Nozizeption ist die Meldung drohender oder eingetretener Gewebsschäden (mechanisch, thermisch, chemisch) durch Schmerzrezeptoren einschließlich der Weiterleitung und Verarbeitung der Schmerzreize. Ebenen der Verarbeitung sind die Peripherie, das Rückenmark und das Großhirn. 4 Das Erlebnis Schmerz entsteht in kortikalen Zentren aus den Informationen der Nozizeption aus Dermatomen, Myotomen, Sklerotomen, Arthrotomen, Neurotomen, Viszerotomen, Vasotomen und Lymphotomen (7 Kap. 6.10). Folge dieses komplexen Informationsverarbeitungsprozesses sind häu-

. Abb. 3.7. Modellvorstellung eines nervös-reflektorischen Funktionskreises mit beteiligten Strukturen, ihrer Funktion im Rahmen der Nozizeption sowie den nervalen Verschaltungen.

fig segmentale Dysfunktionen mit reflektorisch algetischen Zeichen in bestimmten Nervenversorgungsgebieten (. Abb. 3.7). 4 Diese sog. reflektorisch-algetische Zeichen können aus Gelenkblockierungen, Bindegewebsverhärtungen, Muskelverspannungen oder Triggerpunkten bestehen (sog. reflektorisch algetischen Zeichen; . Abb. 3.7). Diese Symptomatik wird als Nozireaktion bezeichnet.

3.4.2 Chirodiagnostik Die manuelle Diagnostik definiert sich als komplexe Funktionsanalyse des Bewegungsapparats mit dem Ziel, Ort und Art der Funktionsstörung zu beschreiben. Dabei können artikuläre und segmentale Dysfunktionen erfasst und quantifiziert werden. Eingeschlossen sind die klassischen Elemente der klinischen Untersuchung wie Anamnese, Inspektion, Palpation, Beurteilung des Bewegungsverhaltens und Prüfung der Muskelfunktion, einschließlich diagnostischer Hilfsbefunde. Grundlage der manuellen Diagnostik sind Kenntnisse in funktioneller Anatomie, Biomechanik, Physiologie und Neurophysiologie. Jeder einzelnen manualtherapeutischen Behandlung geht eine erneute Untersuchung der Gelenkfunktion voraus. Die Untersuchung folgt einem Algorhythmus zur Beurteilung des Bewegungsumfangs, der

(Nach Smolenski 2004; aus Gutenbrunner und Weimann: Krankengymnastische Methoden und Konzepte. Springer 2004)

57 3.4 · Manuelle Medizin

Funktionsbewegung und charakteristischer Bewegungsmuster.

Untersuchungsablauf in der Manuellen Medizin 5 Inspektion – Gelenk – Gewebebefund – Muskulatur 5 Aktive Bewegungsuntersuchung – Maximales Bewegungsmaß – Seitendifferenz – »painfull arc«/Kapselmuster 5 Passive Bewegungsuntersuchung – Quantativer Ausschlag – Qualitative Prüfung des Bewegungsendes – Schmerz 5 Isokinetische Spannungsprüfung – Lokale Zuordnung – Morphologie 5 Untersuchung Muskelfunktion – Neurologie – Spannung – Reflektorische Veränderungen – Bewegungsstereotyp 5 Prüfung des Gelenkspiels – Traktion – anterior/posterior-latero/lateral– –

Verschiebung Seitneigungsfedern Rotation

3.4.3 Blockierung Als artikuläre Dysfunktion werden folgende Abweichungen von der normalen Gelenkfunktion definiert: 4 Hypomobilität ist die eingeschränkte Beweglichkeit durch strukturelle und/oder funktionelle Veränderung am Gelenk oder im umgebenden Bindegewebe. 4 Hypermobilität ist die vermehrte Beweglichkeit durch angeborene konstitutionelle, strukturelle oder funktionelle Veränderung am Gelenk oder den umgebenden Strukturen. Sie kann lokal, regional oder generalisiert auftreten. 4 Gelenkinstabilitäten sind ein pathologisch vermehrtes Gelenkspiel mit Insuffizienz des Bewe-

3

gungsleitsystems und somit Minderung der Belastungs- und Bewegungsstabilität. 4 Lockerungen sind erworbene höhere Beweglichkeit im Bewegungssegment als Folge von Trauma oder Destruktion. Die reversible artikuläre und segmentale Dysfunktion wird als Blockierung bezeichnet (. Abb. 3.8). Die Blockierung ist in der Regel an einem gestörten Gelenkspiel (»joint play«) zu erkennen. Gegenüber der Funktionsbewegung eines Gelenkes ist das Gelenkspiel nur passiv ausführbar (. Abb. 3.9), es werden »paraphysiologische« Bewegungen und keine Winkelbewegungen erfasst, eine Federung als Endbeweglichkeit ist tastbar, ein Winkel nicht messbar. Untersuchbar und damit klinisch feststellbar sind das eingeschränkte Bewegungsausmaß, die gestörte Endspannung und mögliche Schmerzen. Pathomechanismus der Blockierung Der zugrunde liegende Pathomechanismus ist bis heute nicht abschließend geklärt, sodass unterschiedliche Theorien über ihre Entstehung existieren. Die wichtigsten sind: 5 Störung der Zirkulation von Gelenkflüssigkeit (Still 1908) 5 »Subluxation« (Palmer 1933) 5 Nerveneinklemmung (Palmer 1933) 5 Meniskuseinklemmung (Zuckerschwerdt 1960; Dörr 1962) 5 Verklemmung von Bandscheibengewebe (Cariax 1969; Wolf 1969) 5 Störung der Gleitfähigkeit der Gelenkoberfläche (Wolf 1969) 5 Störung der nervös-reflektorischen Steuerung (Dvorak 1983; Wolf 1983) Heute wird eine Subluxation mit nachfolgender Störung der nervös-reflektorischen Steuerung als Ursache der Blockierung postuliert: 5 Primär besteht eine Bewegungsstörung vor allem durch eine verminderte Gleitbewegung der Gelenkflächen. Das Gelenk kann in jedem Punkt der physiologischen Bewegungsbahn gestört und bezüglich seiner Beweglichkeit in ein oder mehreren Richtungen eingeschränkt sein. 5 Die zum Gelenk gehörende Muskulatur ist auf neurophysiologischem Wege entsprechend der blockierten Richtung der Bewegung verspannt.

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Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

. Abb. 3.8. Theorie der Gelenkblockierung (Nach Gutenbrunner, unveröffentlicht)

3

. Abb. 3.9. Richtungen des Gelenkspiels bei unterschiedlichen Bewegungsformen. (Nach Smolenski 2004; aus Gutenbrunner und Weimann: Krankengymnastische Methoden und Konzepte. Springer 2004)

5 Die Funktion der dem Gelenk segmental zugeordneten Gewebe und inneren Organe kann beeinträchtigt sein.

Auslöser für Blockierungen können z. B. die folgenden Situationen sein: 4 Missverhältnis zwischen Belastung und Belastbarkeit des Bewegungssystems. Zu unterscheiden ist die statische Fehlbelastung (Fehlhaltung, einseitige Arbeits- oder Freizeitbelastung) und die dynamische Fehlbewegung (»motor pattern«). 4 Bagatelltraumen und »ungeschickte Bewegungen« bis hin zu Unfallereignissen einschließlich Folgen von Ruhigstellung und Fixation.

4 Strukturelle Erkrankungen wie Entzündung und Degeneration. Sie können zu Funktionsstörungen in benachbarten Segmenten sowie im Bereich der Schlüsselregionen führen. 4 Reflektorische Vorgänge. So zeigen die inneren Organe durch die anatomischen Verschaltungen typische Störmuster im Bewegungssystem.

3.4.4 Techniken > Nur die klinische nachweisbare Blockierung stellt eine Indikation zur Manuellen Medizin dar.

59 3.4 · Manuelle Medizin

Zur Wiederherstellung der reversibel gestörten Funktion des Gelenkes stehen grundsätzlich 2 therapeutische Techniken zur Verfügung: Mobilisation und Manipulation.

3

! Wegen möglicher Komplikationen, insbesondere bei Manipulationen im Halswirbelsäulenbereich, ist eine eingehende Aufklärung über die Behandlung und deren Risiken einschließlich Dokumentation notwendig.

Manipulation. Diese Gelenkbehandlungstechnik ver-

mittelt mit geringer Kraft Impulse hoher Geschwindigkeit und kleiner Amplitude. In der gestörten Bewegungsrichtung wird eine Spannung aufgesucht und als »Vorspannung« gehalten. Danach wird der Patient in Entspannung gebracht und in der dritten Phase die Muskelspannung überwunden, wodurch ein Druck auf die Gelenkfacetten in der gewünschten Richtung ausgelöst werden kann. Es kommt zum Lösen der Barriere. Manipulationen bedeuten einen kräftigen Reiz auf die Gelenkrezeptoren und sollten nur unter bestimmten Voraussetzungen angewendet werden. Sie dürfen nur von Ärztinnen und Ärzten mit spezieller Weiterbildung durchgeführt werden. ä Beispiel Ein 25-jahriger sonst gesunder Mann kommt mit Schmerzen im oberen Drittel der Brustwirbelsäule zum Arzt. Die Beschwerden hätten vor 10 Tagen bei einer Rotationsbewegung im Bett begonnen und würden in den Thorax linksseitig entlang der Rippen ausstrahlen. Ein Trauma lag nicht vor. Bei der manualmedizinischen Untersuchung zeigten sich eine eingeschränkte Linksrotation der Brustwirbelsäule im Segment Th 4/5 sowie eine Einschränkung der Seitneige nach links. Auch die Prüfung der Beweglichkeit in den Rippen-Wirbel-Gelenken desselben Segmentes war schmerzhaft. Unter der Diagnose einer Blockierung der Facettengelenke Th 4/5 links mit begleitender RippenWirbel-Gelenksblockierung wurde eine Manipulation in Bauchlage vorgenommen. Im sog. Kreuzgriff wurden die benachbarten kranialen und kaudalen Querfortsätze fixiert. Die sog. Manipulationshand erzeugte eine Vorspannung am blockierten Segment und gab einen raschen Impuls mit kleiner Amplitude in die freie Bewegungsrichtung des Intervertebralgelenks. Anschließend wurden die Rippen-Wirbel-Gelenke mittels wiederholten Gleitbewegungen mobilisiert. Unmittel bar nach der Behandlung verspürte der Patient eine Erleichterung der Beschwerden. Die noch bestehenden atem- und rotationsabhängigen Schmerzen klangen innerhalb eines Tages vollständig ab.

Mobilisation. Mobilisation ist eine passive, meist wiederholte Bewegung durch Traktion und/oder Gleitbewegung mit geringer Geschwindigkeit und zunehmender Amplitude zur Vergrößerung des eingeschränkten Bewegungsspiels. Sie nutzt Bewegungen, Lagerungen und Muskeltechniken, die langsam an das Bewegungsende heranführen. Sie überschreiten diese Grenze nie, sondern erweitern sie mit fortschreitender Mobilisationswirkung. Die reflektorische Fernwirkung ist dabei gering. ä Beispiel Ein 28-jähriger Freizeitsportler kagt über Schmerzen im Rücken mit Ausstrahlung in den linken Oberschenkel hinten. Die Beschwerden habe er erstmals bei einem Fußballspiel vor 5 Tagen bemerkt, sie haben sich nach dem Fußballpiel verstärkt. Die Schmerzen verstärken sich bei längerem Sitzen und sind beim Aufstehen vom Sitzen maximal. Gehen bessert die Beschwerden. Lähmungen oder ein Taubheitsgefühl wird nicht angegeben. Bei der Untersuchung im Stand findet sich ein Beckentiefstand links um ca. 1 cm mit leichter linkskonvexer Seitausbiegung der Lendenwirbelsäule ohne verschiebung des Kopflotes. Der Patient gibt Druckschmerzen über der Spina iliaca posterior superior an. Bei Untersuchung in Bauchlage ist darüber hinaus der M. piriformis druckschmerzhaft. Im Bereich der Lendenwirbelsäule keine Druckschmerzen, kein Federungsschmerz. Positives Vorlaufphänomen des Sakroiliakalgelenkes links (7 Kap. 2.2), Zeichen nach Lasègue und Bragard negativ. Unauffälliger Reflexstatus. Keine Sensibilitätsstörungen. Nachdem weitere Blockierungszeichen des Sakroiliakalgelenkes positiv waren, wurde in Bauchlage eine Mobilisierung des linken Sakroiliakalgelenkes durch repetitive Gleitbewegung durchgeführt. Dabei wird das Kreuzbein mit einer Hand fixiert und mit der Anderen das Ilium nach lateral-kaudal mobilisiert. Unmittelbar nach der Mobilisation waren die Blockierungszeichen verschwunden und der Patient gab eine deutliche Erleichterung und Schmerzreduktion an. Zwei Tage nach dieser Behandlung war der Patient wieder beschwerdefrei.

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3

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

Weitere Techniken. Je nach Befund, Behandlerkenntnissen und Mitarbeit des Patienten können weitere Techniken eingesetzt werden, z. B. die passiv repetitiven Mobilisationen und Gleitmobilisationen mit Traktionen oder/oder repetitiven Bewegungen. Die Vorstellung der Kombination von Funktionsstörung des Gelenkes und der Muskulatur führt zum Einsatz der Muskelrelaxationstechniken. Als Beispiel sei die postisometrische Relaxation erwähnt, die wie folgt durchgeführt wird: Nach einer 10–30 s dauernden isometrischen Muskelanspannung (Anspannen gegen den Widerstand der Hand des Behandlers) wird die nachfolgende Relaxationsphase genutzt, um einen Bewegungszugewinn zu erreichen. Variationen der PIRTechnik sind die Blickmobilisation und die Nutzung von Atemtechniken. Sie nutzen die mit der Blickrichtung bzw. mit den Atemphasen sich verändernde Muskelspannung. ! Wenn trotz erfolgreicher Mobilisierung die Blockierungen erneut auftreten, muss in jedem Fall eine weitergehende Diagnostik erfolgen, da gravierende Erkrankungen auch in ferner gelegenen Strukturen verursachend sein können.

3.4.5 Wirkungsmechanismen

und Wirksamkeit Die manualmedizinischen Untersuchungstechniken werden vor allem hinsichtlich ihrer formalen Testgüte unterschiedlich bewertet. Umstritten ist insbesondere, ob verschiedene Untersucher zu demselben Ergebnis kommen (Interraterreliabilität) und ob bei wiederholter Testung dasselbe Ergebnis resultiert (Testreliabilität). Darüber hinaus wird hinterfragt, inwieweit der Nachweis einer Blockierung Krankheitswert zukommt. Dem gegenüber stehen positive klinische Erfahrungen mit den aus der Diagnostik abgeleiteten manualmedizinischen Interventionen. Wichtig für die Testgüte scheinen die Übung des Untersuchers sowie der Abgleich zwischen verschiedenen Untersuchern durch gemeinsames Üben zu sein. Entsprechendes gilt für die Wirksamkeit der Behandlungstechniken. Nach klinischer Erfahrung kommt es nach der Behandlung oft zu einer sofortigen oder einige Stunden später eintretenden Besserung der Beschwerden. Auch die Zunahme der Gelenkbeweglichkeit ist bei der gelungenen Behandlung einer Blo-

ckierung sofort nachweisbar. Allerdings gibt es bis heute nur wenige kontrollierte Studien, die eine Wirksamkeit der Manuellen Therapie anhand von Kriterien wie z. B. Schmerz oder Lebensqualität nachgewiesen haben. > In der klinischen Praxis sind aber, insbesondere bei chronischen Lumbalgien (vor allem pseudoradikuläre Syndrome) und Dorsalgien, bei Halswirbelsäulensyndromen und bei zahlreichen peripheren Gelenkschmerzen gute Erfolge zu beobachten.

3.4.6 Indikationen, Kontraindikationen

und Kombinationsmöglichkeiten Indikationen. Hierzu gehören reversible artikuläre

Dysfunktionen (Blockierungen) und reversible segmentale Dysfunktionen. Sie kommen bei den unterschiedlichsten Grunderkrankungen des Bewegungsapparates (degenerative und entzündliche Erkrankungen, chronische mechanisch ausgelöste Reizzustände, funktionelle Syndrome) vor, können aber auch ohne andere Erkrankung Beschwerden verursachen. Kontraindikationen. Grundsätzlich stellt jede akute, entzündliche oder destruierende Gelenkerkrankung eine Kontraindikation zur Manuellen Therapie dar. Dies bezieht sich aber nur auf die jeweils betroffenen Gelenke. Begleitblockierungen, muskuläre Störungen und ligamentäre Störungen können trotzdem manualtherapeutisch behandelt werden. Weitere spezielle Kontraindikationen sind Traumen mit Verletzungen anatomischer Strukturen, schwere Osteoporose, strukturelle Anomalien, Anomalien der Arteria vertebralis, schwere degenerative Veränderungen und psychische Störungen. Bei folgenden Strukturkrankheiten müssen spezielle Voraussetzungen für die Anwendung manualmedizinischer Methoden vorliegen: 4 Knochentraumen, Bändertraumen, Knorpeltraumen: Nachbehandlung möglich. 4 Bandscheibenprolaps: Nachbehandlung möglich. 4 Verminderte Knochenfestigkeit: Osteoporose und Tumoren sind Kontraindikation 4 Entzündungen: Monarthritis und exsudative Polyarthritis sind Kontraindikation. Bei sklerosierender Polyarthritis, Spondylitis ankylosans ist ein Behandlungsversuch möglich.

61 3.5 · Massagetherapie

4 Strukturveränderungen: Missbildungen, fortgeschrittenen Arthrosen und Ankylosen sind keine Indikationen. 4 Basiläre Impression, Densaplasie, Os odontoideum sind absolute Kontraindikation. Kombinationsmöglichkeiten. Die Grundtechniken der Manuellen Medizin können durch andere Techniken der physikalischen Medizin (Dehnungsbehandlungen, spezielle krankengymnastische Techniken, Entspannungstherapie, Massage, Thermotherapie und Elektrotherapie) vorbereitet und ergänzt werden. Fazit In der Manuellen Medizin werden Funktionsstörungen am Bewegungsapparat mit speziellen klinischen Untersuchungstechniken diagnostiziert: Gelenkblockierung, Triggerpunkte, Bindegewebsveränderungen und andere vegetaive Zeichen der schmerzassoziierter Reaktionen. Darüber hinaus umfasst die Manuelle Medizin Techniken zur Beseitigung solcher Funktionsstörungen, wie z. B. manuelle Mobilisations- und Manipulationstechniken bei Gelenkblockierungen, postisometrische oder atemsynchrone Techniken zur Behandlung von Triggerpunkten oder Muskelverspannungen.

3.5

Massagetherapie A. Reißhauer

3.5.1 Definition und Grundlagen > Massage wird definiert als eine befundorientierte, manuelle Behandlungstechnik, die mechanische Reize auf Haut, Unterhautgewebe und Muskulatur ausübt. Ihre wichtigsten Wirkungen sind Durchblutungssteigerung, Muskeldetonisierung und Schmerzlinderung. Darüber hinaus sind reflektorische Wirkungen möglich, z. B. in segmental zugeordneten Organen oder Organsystemen.

Massage ist eines der ältesten Heilverfahren der Menschheit. Früheste Darstellungen verbinden Massageanwendungen meist mit magisch-mystischen Vor-

3

stellungen. Im klassischen Altertum ist die Massageanwendung bereits ein wichtiger Bestandteil medizinischer Anwendungen und Körperkultur. Heute ist die Massage ein verordnungsfähiges, anerkanntes Heilmittel. Bei schmerzhaften Erkrankungen am Bewegungsapparat wird oft erst durch den Therapiebeginn mit Massage eine aktive Krankengymnastik ermöglicht. Auch die Wirkung der Massage auf die Psyche ist nicht zu unterschätzen, was z. B. bei Patienten, die Schmerzen im Rahmen maligner Erkrankungen haben, genutzt werden kann. Massage sollte in der Regel nicht als Einzeltherapie verordnet werden, sondern idealerweise mit Wärmeverfahren oder krankengymnastischen Anwendungen kombiniert werden. Am bekanntesten ist die klassische Massage (7 Kap. 3.5.2). Es ist erwiesen, dass diese Anwendung zu einer besseren Durchblutung von Haut und Muskulatur führt und Muskelverspannungen löst. Darüber hinaus kann sich die Muskulatur nach erheblichen Belastungen, z. B. im Leistungssport durch Massage schneller erholen. Die lokalen Wirkungen dieses Heilmittels sind nicht durch Medikamente zu ersetzen und bei richtiger Anwendung ohne unerwünschte Nebenwirkungen. Neben der klassischen Massage gibt es eine Reihe abgeleiteter Massageformen (Spezialmassagen), die auf spezielle Gewebeformen bzw. -abschnitte abzielen, z. B.: 4 Bindegewebsmassage 4 Segmentmassage 4 Periostbehandlung 4 Manuelle Lymphdrainage (7 Kap. 3.6) Bei den ersten 3 genannten Massageformen werden nervale Verschaltungen auf segmentaler Ebene genutzt, um Fernwirkungen zu erzielen. So ist z. B. bekannt, dass Funktionsstörungen innerer Organe und verschiedener Strukturen des Bewegungsapparates über vegetative Fasern segmentale Störungen im Bindegewebe verursachen (7 Kap. 7.3). Auf umgekehrtem Wege wird versucht, über mechanische Reizung von oberflächlichen (Haut, Unterhautbindegewebe) oder tiefegrelegenen (Periost) Geweben reflektorisch auf diese ursächlichen Störungen einzuwirken (sog. Segmentmassagen).

62

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

Reflexzonenmassage

3

Bei der Fußreflexzonenmassage, bei der den inneren Organen auf der Fußsohle korrespondierende Felder zugeordnet werden, sind nachgewiesenermaßen reflektorische Einflüsse auf Organfunktionen möglich. Die spezifische Organzuordnung der einzelnen Fußzonen ist allerdings nicht belegt.

Eine häufig im Rahmen der Manuellen Medizin (7 Kap. 3.4) angewendete massageverwandte Therapie ist die Triggerpunktbehandlung. Wenn in der Muskulatur lokale druckschmerzhafte Verhärtungen vorliegen, die zu (meist ausstrahlenden) Schmerzen führen (sog. Triggerpunkte), können diese durch leichte lokale Druckausübung in Kombination mit einem Atemmanöver häufig rasch beseitigt werden.

a

3.5.2 Klassische Massage Technik

b

Grifftechniken der klassischen Massage (. Abb. 3.10): 5 5 5 5 5

Streichungen Reibungen Knetungen Rollungen Vibrationen c

Auf ärztliche Verordnung erfolgt entsprechend des aktuellen Gewebebefundes eine 20- bis 25-minütige Behandlung durch speziell ausgebildete Masseure bzw. Physiotherapeuten. Die Griffreihenfolge und -intensität muss vom Therapeut immer an den aktuellen Befund angepasst werden. > Eine Massageanwendung sollte nicht schmerzhaft sein, da bei schmerzauslösender Anwendung, die in der Regel zu erzielende Detonisierung nicht erreicht wird. Im Verlauf einer Massageserie wird die Reizstärke angepasst. Klassische Massage ist keine Dauertherapie. Durchschnittlich sind 6–8 Behandlungen ausreichend, um den gewünschten Gewebeeffekt zu erzielen.

Klassische Massage kann mit thermotherapeutischen Verfahren (Fango, Moor; 7 Kap. 3.8) kombiniert werden und stellt eine ideale Vorbereitung für anschließen-

d . Abb. 3.10a–d. Massagegriffe. a Einhandstreichung, b Zweifingerreibung zur Lockerung der Stirnhaut, c Fingerkuppenknetung am Unterschenkel, d Rollung der Oberschenkelmuskulatur (Günther et al.: Physikalische Medizin. Springer 1986)

63 3.5 · Massagetherapie

de Serienanwendungen mit Manueller Therapie (7 Kap. 3.4) oder Krankengymnastik (7 Kap. 3.1) dar. Der Erfolg einer Heilmittelverordnung mit Massageinhalt wird umso besser sein, je genauer Art der Behandlung und Behandlungsziel auf dem Heilmittelrezept (7 Kap. 3.16) vermerkt sind. ä Beispiel Eine 62-jährige Patientin klagt über schmerzhafte konzentrische Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule bzw. des Kopfes. Die Beschwerden wurden bei durch Hausarbeit (Teigkneten) massiv verstärkt. Degenerative Veränderungen der Intervertebralgelenke der mittleren Halswirbelsäule sind radiologisch nachgewiesen. Klinisch findet sich neben der Bewegungseinschränkung ein ausgeprägter Hartspann des M. trapezius und der paravertebralen Halswirbelsäulenmuskulatur. Vor Beginn einer krankengymnastischen Mobilisationstherapie werden detonisiernde Massagen und Fangopackungen sowie ein nichsteoidales Antirheumatikum verordnet. Innerhalb einer Therapieserie von 6 Behandlungen innerhalb von 2 Wochen kommt es zu einer deutlichen Detonisierung der Muskulatur. In diesr Phase wird mit der Mobilisationsbehandlung begonnen.

Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit Bei allen Massageanwendungen ist zwischen mechanischen und reflektorischen Wirkungen zu unterscheiden. Die wichtigsten Wirkungen der klassischen Massage sind Muskeldetonisierung. Durch klassische Massage kön-

nen hypertone Muskelareale wirksam detonisiert werden. Dieser Effekt kommt durch die (weiche) Dehnung von Sehnen zustande, die über die sensiblen Afferenzen der Golgi-Schaltung zu einer Hemmung der AlphaMotoneurone führt. Darüber hinaus wird ein Einfluss auf vegetative Fasern vermutet, die ebenfalls den Muskeltonus regulieren können. Gewebshyperämisierung. Die Hautdurchblutung wird

durch den mechanischen Reiz der klassischen Massage regelmäßig und rasch gesteigert. Ursache ist eine Freisetzung von Mediatorsubstanzen. Im Gegensatz zu diesem klinisch gesicherten Effekt liegen für die Durchblutung der Muskulatur keine eindeutigen Aussagen vor.

3

Indikationen Indikationen der klassischen Massage 5 Hypertone, schmerzhafte Muskulatur, besonders im Lumbal- und Schulter-Nackenbereich 5 Schmerzhaft verspannte periartikuläre Muskulatur, insbesondere bei Coxarthrose und Omarthrose bzw. im Rahmen iliolumbaler Schmerzsyndrome 5 Zur Schmerztherapie im Rahmen der Palliativmedizin 5 Als additive Entspannungsmaßnahme bei psychosomatischen Erkrankungen 5 Bei Leistungssportlern zur Entmüdung der Muskulatur

Kontraindikationen Akute internistische und chirurgische fieberhafte Erkrankungen 5 5 5 5

Entzündliche Veränderungen der Haut Frische Narben Akute Thrombose, Thrombophlebitis Schwerwiegende kardiale Erkrankungen (dekompensierte Herzinsuffizienz, instabile Angina pectoris) 5 Antikoagulation 5 Ausgeprägte Osteoporose

p Typischerweise werden Patienten für die klassische Massage auf den Bauch liegend gelagert. Zu Vermeiden ist eine Retroflexion im zervikothorakalen Übergang durch entsprechende Kopftieflagerung (leicht abgesenktes Kopfteil der Behandlungsliege) oder durch entsprechende Gesichtsausschnitte in der Behandlungsliege. Besondere Vorsicht ist diesbezüglich geboten bei Zustand nach HalswirbelsäulenSchleudertrauma sowie rheumatoider Arthritis mit Verdacht auf Beteiligung des Dens axis. Hier sollte die Massage im Sitzen durchgeführt werden.

3.5.3 Manuelle Lymphdrainage Die manuelle Lymphdrainage wird von speziell in der Lymphtherapie weitergebildeten Therapeuten durchge-

64

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

führt. Aufgrund ihrer Eigenständigkeit wird sie in einem eigenen Kapitel (7 Kap. 3.6) dargestellt.

oder Manueller Therapie (7 Kap. 3.4) eingesetzt. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Spezialmassagen, die darauf abzielen, über nervale Verschaltungen auf segmentaler Ebene Fernwirkungen zu erzielen. Eine weitere Form der Spezialmassage ist die Unterwasserdruckstrahlmassage, bei der die mechanische Beeinflussung des Gewebes durch den Wasserstrahl mit der Auftriebswirkung des Vollbades kombiniert wird.

3.5.4 Unterwasserdruckstrahlmassage

3

Bei der Unterwasserdruckstrahlmassage wird die mechanische Reizung der Gewebeschichten nicht durch die tastende Hand des Behandlers durchgeführt, sondern über einen manuell applizierten Wasserstrahl mit 0,5–1,5 atm Druck ausgeübt. Parallel werden der Auftrieb im Wasser und die Wärme des Wassers genutzt (7 Kap. 3.9). Durch unterschiedliche Düsen (Monostrahl, Regendüse) kann die Intensität der mechanischen Einwirkung variiert werden. In speziell vorgesehenen Wannen werden die Patienten seitlich, mit entsprechender Kopfabstützung, gelagert. Der Wasserstrahl wird, beginnend an den Beckenkämmen, paravertebral unter Aussparung der Nierenlager bis zum Schultergürtelbereich geführt. Die Behandlungsdauer beträgt in der Regel 20 min bei einer Wassertemperatur im indifferenten Bereich (34–36°C). Die Unterwassermassage endet mit einer Abkühlung mittels Schlauchguss, Eimerguss oder Wannenabkühlung. Anschließend führt der Patient eine Nachruhe für 20–30 min durch. Die Indikationen der Unterwasserdruckstrahlmassage entsprechen denen der klassischen Massage. Vorteile bestehen insbesondere bei Patienten, die nicht in Bauchlage gelagert werden können (ausgeprägte Kyphosierung bei Morbus Bechterew), eine starke Unterhautfettschicht haben oder stark behaart sind. Auch die Kontraindikationen entsprechen denen der klassischen Massage; hinzu kommen die Kontraindikationen für Vollbäder (7 Kap. 3.9). ! Wegen der starken Gewebsverformung stellen

insbesondere ausgeprägte Varikosis, Zustand nach Thrombose und Antikoagulation Kontraindikationen dar. Fazit Die klassische Massage zielt in erster Linie auf die Normalisierung des Muskeltonus und ist bei schmerzhaft verspannter Muskulatur indiziert. In der Regel wird sie nicht als Monotherapie, sondern in Kombination mit Krankengymnastik (7 Kap. 3.1)

6

3.6

Lymphtherapie A. Reißhauer

3.6.1 Definition und Grundlagen > Die manuelle Lymphdrainage ist eine besondere Massagetechnik mit speziellen, sehr sanften Grifftechniken, die die Eigenmotorik der Lymphangione der unmittelbar unter der Haut gelegenen Lymphkollektoren unterstützen und damit das Lymphzeitvolumen4 zu erhöhen. Diese Grifftechniken führen nicht zur Hyperämisierung der Haut. Die manuelle Lymphdrainage ist Therapie der Wahl bei der Behandlung von Lymphödemen. Die Kombination der manuellen Lymphdrainage mit der Kompressionstherapie und speziellen Bewegungsübungen wird auch als »komplexe physikalische Entstauungstherapie (KPE)« bezeichnet.

Da das Lymphödem als »interdisziplinäres Krankheitsbild« ausschließlich physikalisch-therapeutisch versorgt werden kann, soll hier kurz darauf eingegangen werden. Die Lymphangione, d. h. die zwischen 2 Klappenpaaren gelegenen Gefäßabschnitte, verfügen über eine Eigenmotorik mit 7–10 Pumpaktionen pro Minute. Durch Dehnungsrezeptoren, die sich in der Wand der Lymphgefäße befinden, ist eine Erhöhung der Pumpfrequenz möglich. 4

Von der Flüssigkeitsmenge, die in 24 h aus dem Gewebe abtransportiert werden muss (ca. 20 l) werden nur 18 l über das venöse System transportiert. Der verbleibende Rest an Gewebsflüssigkeit wird über das Lymphsystem in den Blutkreislauf zurückgeführt. Dieses sog. Lymphzeitvolumen liegt beim Gesunden also bei ca. 2 l/24 h.

65 3.6 · Lymphtherapie

Durch die Grifftechniken der manuellen Lymphdrainage kommt es zur Verschiebung von Gewebeflüssigkeit, damit zur Reizung der Dehnungsrezeptoren und schließlich zur Verstärkung der Lymphangiomotorik. Über diese Wirkungsmechanismen wird eine Entödematisierung erreicht. Eine vergleichbare Wirkung ist bislang weder medikamentös noch maschinell zu erzielen, was den hohen Stellenwert der manuellen Lymphdrainage unterstreicht. Die manuelle Lymphdrainage gehört im Rahmen physiotherapeutischer Behandlungen zu den Heilmitteln, die den höchsten Zuwachs an Behandlungsverordnungen aufweisen. Lymphödem Beim Lymphödem handelt es sich um ein interstitielles, eiweißreiches Ödem, das zur Erhöhung der Fibroblastenaktivität und damit im weiteren Verlauf zur Fibrose bzw. Fibrosklerose führt. Klinisch stellt sich das Ödem dadurch als nicht eindellbar, derb und mit verminderter Gewebeverschieblichkeit dar. Nach klinischen Kriterien erfolgt eine Einteilung in 3 Stadien: 5 Stadium I: Spontan reversibel, noch nicht ausgeprägte Gewebefibrosierung. Bei Hochlagerung bildet sich das Ödem zurück. 5 Stadium II: Spontan irreversibel. Hochlagerung der betroffenen Extremität führt nicht zur Ödemrückläufigkeit, das Gewebe wird derb, nicht mehr eindellbar. Die Zehen sind kastenförmig, Hautfalten über den Zehen sind nicht abhebbar (Zeichen nach Stemmer). 5 Stadium III: Wie Stadium II, lymphostatische Elephantiasis. Das primäre Lymphödem tritt meist in Form von Extremitätenlymphödemen auf, und zwar distal betont, meist einseitig, wenn beidseits dann asymmetrisch. Das Verhältnis betroffener Frauen zu Männern beträgt 5:1. 85% der primären Lymphödeme treten bis zum 35. Lebensjahr auf. Der Auftretensgipfel liegt im 15. bis 16. Lebensjahr. Sie sind familiär gehäuft. Kongenitale Lymphödeme sind eine Rarität. Das sekundäre Lymphödem findet sich z. B. nach Tumoroperationen, insbesondere im Zusammenhang mit Mammakarzinom, bei Zustand nach Radiatio, bei Zustand nach ausgeprägten Weichteilverletzungen. Es ist in der Regel proximal betont lokalisiert mit Beteiligung der angrenzenden Rumpfquadranten.

3

3.6.2 Techniken Die manuelle Lymphdrainage basiert auf 4 Grundgriffen: (. Abb. 3.11) 4 Stehender Kreis 4 Drehgriff 4 Pumpgriff 4 Schöpfgriff Diese, auch als »Voddersche Grundgriffe« bezeichnet, gehen wellenförmig in einer Schub- und Entspannungsphase gleichmäßig ineinander über. Diesen Griffanwendungen im Ödemgebiet geht immer die proximale oder zentrale Vorbehandlung voraus. Dabei wird grundsätzlich das proximal vom Lymphödemgebiet gelegene, ödemfreie Gewebe behandelt, dort die Lymphangiomotorik angeregt, um über eine Sogwirkung die Entstauung zu ermöglichen. Die Behandlungszeiten betragen je nach Schweregrad des Ödems 30 min, 45 min oder 60 min. Durchführung der Entstauungstherapie. Durch die

täglich durchzuführende manuelle Lymphdrainage wird eine wirksame Gewebeentstauung erreicht. Daran schließt sich in der Regel eine Kompressionstherapie (Kompressionsbandagen, Wickelverbände; . Abb. 3.12) an. Die Kompression erhöht dabei den interstitiellen Druck und fördert die Rückresorption im Gewebe. ä Beispiel Bei einer 60-jährigen Lehrerin mit primärem Lymphödem ist es im Rahmen einer Venenexhairese im linken Bein zu einer Verstärkung des Ödems gekommen. Die Patientin klagt über ein Schwere- und Spannungsgefühl im betroffenen Bein, insbesondere nach längerem Sitzen und Stehen. Sie wird für 2 Wochen in einer Fachklinik für Lymphologie behandelt. Dort erhält sie 2-mal täglich eine manuelle Lymphdrainage über jeweils 45 min mit anschließender Kompressionsbandagierung. Im Laufe der Behandlung kommt es zu einer Volumenabnahme des linken Beines um ca. 1000 ml und zu einer deutlichen Besserung der subjektiven Beschwerden. Zur Aufrechterhaltung des Therapieerfolgs wird empfohlen, die Kompressionstherapie mit einem Kompressionsstrumpf nach Maß fortzusetzen und 2-mal pro Woche eine manuelle Lymphdrainage (ebenfalls je 45 min) durchzuführen.

66

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

3

a

b . Abb. 3.11a–d. Grifftechniken der Manuellen Lymphdrainage. a Stehender Kreis mit beiden Händen, b Drehgriff

p Unter ambulanten Bedingungen wird in der Entstauungsphase einmal täglich manuelle Lymphdrainage und Kompressionsbandagierung verabreicht. Der Einsatz von Krankengymnastik im Wasser hat einen zusätzlich entstauenden Effekt. Der hydrostatische Druck unterstützt die Entödematisierung (7 Kap. 3.9). Hierbei sind Wassertemperaturen bis 34°C geeignet. 6

Im Rahmen der stationären Therapie wird das Procedere der Lymphdrainage und Kompression zweimal täglich durchgeführt. In Körperregionen wie Gesicht, Genitale, Brust, in denen Kompression nicht oder nur eingeschränkt möglich ist, können unter stationären Bedingungen die Behandlungsfrequenzen für die manuelle Lymphdrainage pro Tag darüber hinaus erhöht werden.

67 3.6 · Lymphtherapie

3

c

d . Abb. 3.11a–d. c Pumpgriff, d Schröpfgriff

Erhaltungstherapie. Die Phase der Entstauung wird beendet, wenn die Umfangsabnahme der betroffenen Extremität stagniert. Zu diesem Zeitpunkt wird eine nach Maß angefertigte Kompressionsbestrumpfung über eine Heilmittelverordnung in Auftrag gegeben. Bei lymphödematösen Schwellungen werden vorwiegend sog. Flachstrickmaterialien verwendet, die in unterschiedlichen Kompressionsklassen hergestellt werden können. Befundabhängig kann während der Erhaltungstherapie neben der Kompressionsbe-

strumpfung manuelle Lymphdrainage ein- bis dreimal wöchentlich zusätzlich eingesetzt werden. Von großer Bedeutung sind in dieser Phase auch die Anleitung des Patienten bezüglich Hautpflegemaßnahmen und selbstständig durchzuführenden Bewegungsübungen. > Regelmäßige Umfangsmessungen sind im Rahmen der Verlaufskontrolle und Qualitätssicherung notwendig.

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Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

3.6.3 Indikationen

Indikationen der manuellen Lymphdrainage

3

5 Primäre und sekundäre Lymphödeme 5 Lipödem 5 Ödeme bei venöser Insuffizienz inkl. Ulcus cruris venosum 5 Posttraumatische Ödeme 5 Ödeme im Rahmen des chronisch-regionalen Schmerzsyndroms (Morbus Sudeck) 5 Sklerodermie

3.6.4 Kontraindikationen

Absolute Kontraindikationen der manuellen Lymphdrainage 5 Dekompensierte Herzinsuffizienz 5 Thrombose 5 Akute Entzündungen

! Bei akuten Entzündungen kann es durch die manuelle Lymphdrainage zur Keimverschleppung kommen und so eine Sepsis ausgelöst werden.

Relative Kontraindikationen bestehen für sekundäre maligne Lymphödeme, die entweder durch Tumorkompression, Lymphangiosis carcinomatosa oder Lymphknotenmetastasen ausgelöst werden können. Hier steht zunächst die Tumortherapie an erster Stelle.

Im Rahmen einer Palliativtherapie kann aber eine manuelle Lymphdrainage sinnvoll sein. p Symmetrische, weiche eindellbare Ödeme, ggf. in Verbindung mit Dyspnoe, weisen auf kardiale Ödeme hin. Hier sind manuelle Lymphdrainage und Kompressionstherapie kontraindiziert. Primäre und sekundäre Lymphödeme sind dagegen meist einseitig, wenn beidseitig, dann asymmetrisch, und aufgrund der Gewebefibrosierung in der Regel nicht eindellbar.

Darüber hinaus bestehen lokale Kontraindikationen für die manuelle Lymphdrainage im Halsbereich bei: 4 Schilddrüsenüberfunktion 4 Herzrhythmusstörungen 4 Überempfindlichkeit des Sinus caroticus Im Bauchbereich besteht eine relative Kontraindikation für die Grifftechniken der Bauchtiefdrainage bei: 4 Schwangerschaft 4 Menstruation 4 Divertikulose 4 Entzündlichen Darmerkrankungen 4 Zustand nach Bestrahlung 4 Bauchaortenaneurysma 4 Ausgeprägter Arteriosklerose Kontraindikationen der Kompressionsversorgung 4 4 4 4

Arterielle Durchblutungsstörungen Chronisches regionales Schmerzsyndrom Ödeme bei akuten Entzündungen Sklerodermie Fazit Die manuelle Lymphdrainage ist eine eigenständige Massagetechnik. Durch spezielle Griffe wird die die Eigenmotorik der Lymphgefäße angeregt und eine wirksame Gewebeentstauung erzielt. Die manuelle Lymphdrainage ist die Therapie der Wahl bei Lymphödemen. Sie wird in der Regel durch eine Kompressionsbehandlung ergänzt.

. Abb. 3.12. Kompressionsbandagierung im Rahmen der Entstauungsphase bei Lipödem

69 3.7 · Elektro- und Ultraschalltherapie

3.7

Elektro- und Ultraschalltherapie J.-J. Glaesener

3.7.1 Definition und Grundlagen > Elektrotherapie umfasst die medizinische Anwendung unterschiedlicher Stromformen (galvanischer Strom [Gleichstrom], nieder-, mittel- und hochfrequente Wechselströme). Der Strom wird dabei über Elektroden, die auf der Haut platziert werden, in das Gewebe geleitet. Drüber hinaus ist es möglich, Gleichstrom durch Wasser (in Volloder Teilbädern) in den Körper zu leiten.

Die in der Elektrotherapie applizierten Reize können im Gegensatz zu den vorher besprochenen Reizen der physikalischen Therapie (thermische Reize, mechanische Reize) direkt am Membranpotenzial der Zelle angreifen. Geeignete elektrische Reize können daher durch die Umkehr des Membranpotenzials (Depolarisation) eine Nerven- oder Rezeptorerregung auslösen. Weiterhin kann durch Energieumwandlung (Molekülschwingungen im Wechselstromfeld) in wasserhaltigen Geweben Wärme erzeugt werden. Diese natürlichen Phänomen macht man sich zunutze, um gezielt am menschlichen Organismus 4 eine Erwärmung des durchströmten Gewebes zu bewirken, 4 Schmerzen zu dämpfen (durch Reizung von Nozizeptoren oder Hemmung der Schmerzleitung), 4 Nerven zu reizen (durch Auslösen von Aktionspotenzialen an Nervenzellmembranen) sowie 4 Muskeln zu aktivieren (durch Auslösen von Aktionspotenzialen an motorischen Endplatten). Viele Elektrotherapiemethoden besitzen eine örtlich umschriebene, unmittelbare und spezifische Wirksamkeit. Diese hängt nicht von der Menge (Ausnahme:

3

Gleichstrombehandlung) des Stroms ab, der dem Körper zugeführt wird, sondern von der Stromform, der Frequenz und der Anwendungstechnik. Wenn ein Strom gleichmäßig mit einer gleichbleibenden Stromstärke nur in eine Richtung von einem Pol zum anderen fließt, so wird dieses als Gleichstrom bezeichnet. Ändert sich dagegen die Stromrichtung ständig in einem bestimmten Rhythmus, so bezeichnet man dies als Wechselstrom. Wichtige Größe ist hier die Frequenz des Richtungswechsels pro Zeiteinheit (1 Hertz >Hz@ = eine Schwingung pro Sekunde). Die in der Elektrotherapie eingesetzten Stromformen werden in 3 Frequenzbereiche unterteilt (. Tab. 3.13).

3.7.2 Niederfrequenztherapie Unter diesen Begriff fallen sowohl die Behandlung mit Gleichströmen und die niederfrequente Reizstromtherapie. Die eingesetzten Stromintensitäten sind relativ niedrig, sie liegen bei Stromstärken im Bereich von 1– 50 mA. Die Übertragung des elektrischen Stroms auf den Patienten geschieht mittels 2 Elektroden, die meist als flächige Plattenelektroden gestaltet sind und auf der Haut befestigt werden, wobei eine feuchte Zwischenlage (Vlies oder Schwamm) das Metall von der Haut trennt und eine gute Leitung sicherstellt. Die negative Elektrode (»Elektronenüberschuss«) wird als Kathode, die positive Elektrode (»Elektronendefizit«) als Anode bezeichnet. ! Bei direktem Kontakt der Elektroden mit der Haut besteht die Gefahr der Konzentration von Säuren oder Laugen und damit von Verätzungen an der Haut.

Die Wirkung des elektrischen Stroms ist abhängig von der Stromdichte an den Elektroden, d. h. von der

. Tabelle 3.13. In der Elektrotherapie eingesetzte Stromformen

Stromform

Frequenzbereich

Niederfrequenzstrom

0 (= galvanischer Strom) bis 1000 Hz, wobei praktisch nur die Frequenzen bis etwa 100 Hz therapeutisch genutzt werden

Mittelfrequenzstrom

1000–100.000 Hz

Hochfrequenzstrom

>100.000 Hz

70

3

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

Stromstärke in mA pro Fläche in cm2. Dabei erfolgt die Dosierung nach der subjektiven Verträglichkeit und wird unterteilt in: 4 Sensibel schwellig: gerade wahrnehmbar 4 Unterschwellig: gerade nicht mehr wahrnehmbar 4 Sensibel überschwellig: deutlich, aber nicht schmerzhaft wahrnehmbar Gleichstromtherapie Die Gleichstromtherapie (Galvanisation) weist eine konstante Stromspannung, -stärke und -richtung auf. Therapeutisch wird Gleichstrom vorwiegend genutzt in den hydrogalvanischen Teil- oder Vollbädern (2- und 4-Zellen-Bäder, Stangerbäder) sowie bei der Iontophorese. Wirkungen der Galvanisation sind vor allem Analgesie, Sedierung und Erregungshemmung. Die Iontophorese benutzt den konstant fließenden Gleichstrom, um exogen applizierte ionisierte Pharmaka (z. B. Lokalanästhetika, topische Antirheumatika oder Histamin) in und durch die intakte Haut zu transportieren. Erwünscht ist eine gleichzeitige Wirkung des Medikamentes und des galvanischen Stroms. Wichtig dabei ist die Kenntnis der elektrischen Ladung eines Pharmakons, da der Wirkstoff an der gleichsinnig geladenen Elektrode aufgetragen werden muss, da sich gleiche Ladungen abstoßen.

Indikationen für das Stangerbad 5 Diffuse Schmerzsyndrome, wie z. B. bei starker Verspannung und bei Weichteilrheumatismus (fallweise auch Fibromyalgie) 5 Angstzustände, funktionelle und vegetative Funktionsstörungen 5 Tumorschmerzen infolge Knochenmetastasierung

Indikationen für das 2- bzw. 4-Zellen-Bad 5 Polyneuropathien (diabetische, alkoholische, postinfektiöse, toxische und idiopathische Formen) 5 Patienten, bei denen aufgrund kardialer Vorerkrankungen oder anderen Gründen das Applizieren eines Vollbades kontraindiziert ist

Indikationen für Iontophorese 5 Insertionstendopathien, Tendinosen (z. B. Achillessehnenbeschwerden) 5 Arthrosen, wenn die Gelenke relativ nahe unter der Haut liegen (z. B. Knie-, Ellenbogengelenk)

Niederfrequente Reizstromtherapie Hydrogalvanische Bäder Das hydrogalvanische Vollbad (Stangerbad) erfolgt in speziellen Badewannen mit flächenhaften am Wannenrand befestigten Elektroden bei einer indifferenten Wassertemperatur von 36–38°C. Geachtet werden muss auf eine optimale Lagerung des Patienten in der Wanne, ggf. mit Fußstütze. Vorsicht ist geboten bei akuter Lumbalgie, da es zu einem kyphotischen Durchhängen der Lendenwirbelsäule kommen kann. Die elektrische Polung erfolgt in der Regel von kranial nach kaudal, d. h. Anode am Kopf, Kathode an den Füßen. Es sind jedoch auch variable Schaltungen sowie z. B. eine Querdurchflutung des Körpers möglich. Bei den hydrogalvanischen Teilbädern (2- oder 4-Zellen-Bädern) werden nur die Arme und/oder Beine in mit Flächenelektroden versehenen Armund/oder Fußwannen gelagert. Auch hier sind verschiedene Schaltungen möglich. Im Gegensatz zum Stangerbad fallen hier die Immersionswirkungen weg (7 Kap. 3.8, 3.9).

Sie umfasst verschiedene Stromformen, die je nach Anwendung vorwiegend schmerzlindernde und durchblutungsfördernde Eigenschaften haben bzw. zur Muskelstimulation (Auslösen von Muskelkontraktionen) angewandt werden. Niederfrequente Stromformen sind: 4 Ultrareizstrom nach Träbert 4 Ströme zur transkutanen elektrischen Nervenstimulation (TENS; s. u.) 4 Diadynamische Ströme (s. u.) Bei der Reizstromtherapie nach Träbert handelt es sich um eine empirisch gefundene Folge von Rechteckimpulsen (Impulsdauer: 2 ms; Impulsintervall: 5 ms; Impulsfrequenz: 143 Hz), die sowohl motorische als auch sensible Nervenfasern erregt. Sie kann zur Muskelstimulation (tetanisierender Strom) und Analgesie (Oberflächensensibilität, Vibrationsempfinden) eingesetzt werden und ist vor allem zur Behandlung schmerzhaft verspannter Muskulatur geeignet. Geräte zur transkutanen elektrischen Nervenstimulation sind kleine tragbare, vom Stromnetz unabhängige Elektrostimulatoren, die in der Regel Recht-

71 3.7 · Elektro- und Ultraschalltherapie

eckimpulse (Dauer: 0,1 ms; Stromstärke: 0–60 A; Frequenz: 1–100 Hz) Dauer abgeben. Sie können in der Schmerztherapie und nach vorherigem Austesten durch den Arzt oder Therapeuten in einer für die Schmerzart und -lokalisation optimalen Einstellung als Heimgeräte verordnet werden. ä Beispiel Eine 36-jährige Patientin klagt über stärkste Schmerzen im Bereich des oberen inneren Schulterblattwinkels rechts sowie ausstrahlende Schmerzen in den rechten Arm bis in die ersten 3 Finger, vorwiegend jedoch im Zeigefinger. Die Schmerzen sind durch Kopfbewegungen auszulösen, durch Veränderungen der Position des rechten Arms zu lindern oder zu verstärken. Kernspintomographisch wird ein Bandscheibenvorfall in Höhe HWK 5/6 mit Kompression der Wurzel C6 nachgewiesen. Therapeutisch wird neben einer hochdosierten analgetischen und antiphlogistischen Behandlung eine physikalische Komplexbehandlung verordnet. Diese besteht neben einer gezielten physiotherapeutischen Behandlung in Maßnahmen der Detonisierung des Schulter-Nacken-Bereichs sowie einer Ultrareizstromtherapie nach Träbert. Die Kathode wird an der rechten Nackenseite in Höhe HWK 5/6, die Anode im Dermatom C6 an der Unterfläche des Unterarms appliziert. Die Stromstärke wird bis zum Auftreten eines vibrierenden Stromgefühls erhöht und dann schließlich einreguliert. Die Behandlungsdauer beträgt 15 min. Die Behandlungsserie soll mindestens 6 Anwendungen umfassen, möglichst im täglichen Wechsel. Eine weitere Maßnahme ist die periradikuläre Infiltration an der Nervenwurzel C6 mit lokaler Applikation eines Kortikoids unter computertomographischer Kontrolle. Innerhalb von 3 Wochen klingen die Schmerzen im linken Arm vollkommen ab. Die Elektrotherapie wird abgesetzt, die anderen physikalisch-medizinischen Maßnahmen noch bis zur volkommenen Beschwerdefreiheit weitere 3 Wochen lang fortgeführt.

Die am weitesten verbreitete Form der Reizstromtherapie ist die Anwendung von diadynamischen Strömen. Dabei handelt es sich um gleichgerichtete Wechselströme unterschiedlicher Frequenz, denen zusätzlich ein galvanischer Gleichstrom unterlegt ist. Sie werden mit rechteck- oder dreieckähnlichen Impulsen, die sich nach periodisch definierten Zeitabständen wiederho-

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len, gepulst. Der Impulsstrom in Form von Sinushalbwellen von 10 ms Impulsbreite lässt sich in 4 verschiedenen Variationen applizieren (. Abb. 3.13). Je nach Art der Modulation haben diadynamische Ströme unterschiedliche Wirkungen: 4 Die Stromform MF (»monophasé fixe«) wirkt stärker motorisch und sensibel reizend. 4 Die Stromform CP (»courte période«) wirkt stärker resorptionsfördernd. 4 Die Stromform DF (»diphasé fixe«) hat vorwiegend einen analgetischen Effekt. 4 Die Stromform LP (»longue période«) hat vorwiegend einen detonisierenden Effekt. Therapeutische Wirkungen diadynamischer Ströme sind vor allem Analgesie und Resorptionsförderung. Sie werden demzufolge bei umschriebenen Schmerzen (z. B. Insertionstendopathien oder Arthroseschmerzen) sowie bei Distorsionen mit Hämatom und Schwellung eingesetzt. Stimulation neuromuskulärer Strukturen Beim Einsatz niederfrequenter Ströme zur Stimulation neuromuskulärer Strukturen unterscheidet man 5 Elektrostimulation peripher partiell denervierter Muskeln. Voraussetzung ist die Möglichkeit des Wiederanschlusses des Muskels an sich regenerierende Nerven nach einer Läsion (»Überbrückungsbehandlung« bis zur Erholung der Erregungsleitung). Die elektrische Stimulation ersetzt dabei nicht das aktive Beüben des Muskels und wird am erfolgreichsten eingesetzt, wenn am Muskel ein Kraftgrad von maximal 3 festgestellt wird. 5 Elektrostimulation spastisch gelähmter Muskeln. Die Reduktion der Spastik ist erklärbar durch das Prinzip der reziproken Innervation von Sherrington (Erschöpfung der Antagonisten). Der spastische Antagonist wird ermüdend stimuliert, dann der zu trainierende Agonist. 5 Elektrostimulation von Organen mit glatter Muskulatur (Blase, Enddarm). Ziel ist dabei, die Tonisierung der glatten Muskulatur z. B. bei neurogener Blasenlähmung oder Beckenbodeninsuffizenz im Rahmen von Stressinkontinenz. 5 Elektrostimulation vollständig denervierter Muskeln. Ziel ist dabei das Vermeiden einer Muskelatrophie. Diese Form der Elektrostimula-

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72

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

3

. Abb. 3.13a–d. Formen diadynamischer Ströme. (Aus Lange: Physikalische Medizin. Springer 2004)

tion gestaltet sich relativ schwierig wegen der dazu notwendigen hohen Stromintensität, die zu Verätzungen der Haut führen kann. Daher ist nur eine spezielle Stromform geeignet (EichhornStrom), der in entsprechenden Elektrotherapiegeräten mittlerweile standardmäßig mitgeführt wird.

3.7.3 Mittelfrequenztherapie Die Mittelfrequenztherapie arbeitet mit Wechselströmen zwischen 1000 Hz und 100.000 Hz. Die damit durchgeführte Muskelbehandlung führt zu einer relativ geringen, sensiblen Belästigung, da es durch die hohe Impulsfrequenz nicht zu Membranwirkungen an den Zellen bzw. Rezeptoren kommt. Die therapeutischen Ziele sind die Stimulation partiell denervierter Muskulatur sowie die Therapie reflektorisch bedingter Muskelverspannungen. Dabei ist die analgetische Wirkung relativ gering.

Bei der Interferenzstrombehandlung werden 2 sinusförmige mittelfrequente Wechselströme unterschiedlicher Frequenz über zwei getrennte Stromkreise dem Behandlungsgebiet zugeführt. Dabei liegen die Elektroden so, dass sich beide Ströme im Körper überlagern. Die beiden Stromkreise sind über Kreuz geschaltet, sodass sich in der Tiefe des Behandlungsgebietes die gekreuzten Stromkreise mit ihren elektrischen Feldern überlagern. Durch diese Interferenz resultiert ein modulierter Wechselstrom niederer Frequenz, welcher der Differenz der beiden mittelfrequenten Wechselströme entspricht. Vorteil ist, dass die Wirkung einem niederfrequenten Wechselstrom entspricht, wobei deutlich geringere sensible Hautreizungen auftreten. Eine Reizwirkung auf die Muskulatur kommt im Bereich von 25–50 Hz zustande. Dem Frequenzbereich zwischen 90–100 Hz wird eine sympathikusdämpfende und analgetische Wirkung zugeschrieben. Die gleichzeitige Applikation von Interferenzstrom und pulsierenden Saugelektroden (ermöglichen das Anbringen der Elektroden an sonst schlecht zugänglichen Stellen wie Schulter oder Hüfte) hat einen hyperämisierenden Effekt.

73 3.7 · Elektro- und Ultraschalltherapie

3.7.4 Hochfrequenztherapie Durch die hohe Wechselfrequenz der Schwingungen (über 100.000 Hz) können Aktionspotenziale und Muskelkontraktionen bei der Hochfrequenztherapie nicht mehr ausgelöst werden. Das hochfrequente Wechselstromfeld führt im Behandlungsgebiet zu einer deutlichen Tiefenerwärmung. Dabei wird die Wärme nicht in den Körper geleitet, wie z. B. bei der Wärmepackung oder der Infrarotbestrahlung, sondern entsteht direkt im Gewebe. Die Hochfrequenztherapie ist somit eine reine Wärmebehandlung und wird auch als Diathermie bezeichnet. Das am meisten genutzte Verfahren ist die Kurzwelle (Frequenz 27 mHz). Die Behandlung erfolgt hier im hochfrequenten elektrischen Kondensatorfeld oder im Spulenfeld. Bei der Behandlung im Kondensatorfeld befindet sich das Behandlungsgebiet des Patienten zwischen 2 Kondensatorplatten. Je nach Anlage ist eine Quer- oder Längsdurchflutung möglich, die relativ homogen alle Gewebe zwischen der Platte erfasst. Wasserärmere Strukturen, wie das oberflächennah gelegene Fettgewebe, werden deutlich stärker erwärmt als die wasserreiche Muskulatur oder innere Organe. Das Spulenfeld lässt die Wärme durch Induktion eines hochfrequenten elektrischen Stroms innerhalb des Körpergewebes entstehen. Die Spulenfeldelektrode liegt dem zu behandelnden Körperabschnitt an (z. B. Stirnhöhle). Das magnetische Hochfrequenzfeld der Spule induziert im Gewebe »Wirbelströme« die wasserreiches Gewebe stärker erwärmen als wasserarmes. Indikation für die Kurzwellenbehandlung sind: 4 Erkrankungen des Bewegungsapparates wie z. B. Arthrosen, Wirbelsäulensyndrome, Periarthropathien, Muskelschmerzen und Myotendinosen 4 Erkrankungen innerer Organe wie z. B. chronische Adnexitis, Sinusitis usw. Die Dosierung erfolgt entsprechend dem subjektiven Empfinden des Patienten: 4 Stufe I: keine, d. h. unterschwellige Wärmeempfindung 4 Stufe II: geringe, d. h. eben überschwellige Wärmeempfindung 4 Stufe III: mittlere, d. h. angenehme Wärmeempfindung

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4 Stufe IV: starke, d. h. eben noch erträgliche Wärmeempfindung

3.7.5 Indikationen . Tabelle 3.14 gibt einen Überblick über die Wirkungsweise und die Indikationen der verschiedenen elektrotherapeutischen Methoden.

3.7.6 Kontraindikationen

Kontraindikationen der Elektrotherapie 5 Gestörte Sensibilität wie z. B. bei Querschnittlähmung 5 Akute Entzündungen 5 Aktive Phasen von degenerativen Gelenkveränderungen (aktivierte Arthrose) 5 Fieberhafte Zustände und Infektionskrankheiten 5 Patienten mit Herzschrittmacher 5 Gravidität (bei Applikation im Abdominal- und Lumbalbereich) 5 Stromangst

3.7.7 Ultraschalltherapie Die Ultraschalltherapie gehört zu den Verfahren der Thermotherapie. Sie wird in den meisten Kliniken aus organisatorischen Gründen aber in den Elektrotherapieabteilungen durchgeführt und soll daher an dieser Stelle abgehandelt werden. Wirkungsmechanismus. Bei der Ultraschalltherapie

kommt zu einer Erwärmung von Körpergewebe durch mechanische Longitudinalwellen mit einer Frequenz von 800–1000 kHz. Um einen ausreichenden Übergang der Schallwellen auf den Körper zu gewährleisten, muss ein Ankopplungsmedium in Form von Paraffinöl, Wasser (Behandlung im Wasserbad) oder industriell hergestellten Ultraschallgelen verwendet werden. Der Grad der Erwärmung durch Ultraschall ist abhängig vom Schallwellenwiderstand bzw. der Ultraschallabsorption der Gewebe:

74

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

. Tabelle 3.14. Wirkungsweise und Indikationen der Elektrotherapie

3

Stromformen

Wirkungsweise

Indikation

Stabile Galvanisation – Galvanische Teil- und Vollbäder

Analgesie, Hyperämisierung, neuromuskuläre Erregbarkeitszunahme

Neuralgien, Neuritiden, degenerativ-rheumatische Erkrankungen Durchblutungsstörungen und Traumen

Reizstrombehandlungen (diadynamische Ströme, Ultrareizstrom, TENS)

Analgesie, Hyperämisierung, Muskeltonisierung

Entzündliche und degenerative rheumatische Erkrankungen Durchblutungsstörungen und Traumen

Mittelfrequenztherapie (Interferenzströme)

(Analgesie) Hyperämisierung Muskeltonisierung

Degenerative Erkrankungen an Wirbelsäule und Gelenken Weichteilrheumatische Syndrome Durchblutungsstörungen Inaktivitätsbedingte Muskelschwäche Partielle oder passagere Nervenschädigung

Hochfrequenztherapie (Kurzwellen im Spulen- oder Kondensatorfeld)

Wärmebehandlung

Degenerativ und chronisch- entzündliche Erkrankungen des Bewegungsapparates Chronische weichteilrheumatische Veränderungen Subakut und chronische unspezifische Entzündungen verschiedener Organe, z. B. Sinusitis, Adnexitis, Parametritis

4 Schwache Absorption im Fettgewebe: geringe Erwärmung 4 Stärkere Absorption in wasserhaltigen Weichteilen: stärkere Erwärmung 4 Starke Absorption an den Knochengrenzen: Reflektion der Ultraschallwellen Phonophorese. Bei der Phonophorese können an Stel-

le von Wasser oder Öl auch pharmakahaltige Salben verwendet werden. Diese werden dann, ähnlich der Iontophorese (s. o.), durch die Schallwellen effektiver durch die äußeren Hautschichten in das Subkutangewebe transportiert. Häufig angewandt werden Arnikagel oder Diclofenac-Emulgel. Indikationen. Bei einer Dosierung von 0,05–0,5 Watt/ cm2 (Dosis I) bzw. 0,5–1,5 Watt/cm2 (Dosis II) ergeben sich Indikationen für die Ultraschalltherapie vor allem bei Krankheitsbildern, bei denen eine intensive, lokalisierte Wärmetherapie erwünscht ist. Die stärkste Erwärmung wird in den Grenzbereichen zwischen Knochen und Weichteilgeweben erreicht. Aus diesem Grund wird die Ultraschalltherapie bevorzugt bei Ansatztendinosen angewendet.

Indikationen der Ultraschalltherapie 5 Posttraumatische Funktionsstörungen, z. B. nach Kontusionen, Distorsionen, Muskelzerrungen sowie bei Tendinosen und Kontrakturen 5 Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, z. B. Arthrosen, degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen sowie weichteilrheumatischen Erkrankungen (Epikondylitis, Tendopathien) 5 Dermatologische Erkrankungen wie z. B. Sklerodermie, Narbenkeloide 5 Dupuytren-Kontraktur (als Therapieversuch)

Kontraindikationen. Kontraindikatioen ergeben sich insbesondere bei Erkrankungen, bei denen jegliche Wärmezufuhr schädlich ist.

Kontraindikationen der Ultraschalltherapie 5 Hochentzündliche oder fieberhafte Erkrankungen

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75 3.8 · Wärme- und Kälteträgertherapie

5 Infektiöse Prozesse und Erkrankungen 5 Gefäßerkrankungen, insbesondere bei Thrombophlebitis, Thrombosen, periphere arterielle Verschlusskrankheit und bei hämorrhagischer Diathese

3

Die Erzeugung von Wärme im Gewebe durch Elektround Ultraschalltherapie wird im 7 Kap. 3.7 beschrieben. Auch in der Hydrotherapie wird Wärme zugeführt oder entzogen. Da es sich auch hierbei um eine eigenständige Therapieform handelt, wird sie gesondert beschrieben (7 Kap. 3.9).

3.8.2 Wirkungsmechanismen Fazit Die Elektrotherapie zeichnet sich durch spezifische Wirkungen am Applikationsort aus, und zwar je nachdem, welche Stromform und -frequenz angewendet wird. Wichtige Wirkungen sind Analgesie, Muskelstimulation und Durchblutungsförderung. Die direkten Wirkungen auf die Nervenfunktion können durch keine andere Maßnahme der Physikalischen Therapie erreicht werden. In der Hand eines erfahrenen Anwenders können durch die verschiedenen Anwendungformen der Elektrotherapie gute Erfolge erzielt werden.

3.8

Wärme- und Kälteträgertherapie

und Wirksamkeit In Bezug auf Wirkungsmechanismen und Therapieziele muss bei der Thermotherapie prinzipiell zwischen 2 grundverschiedenen Prinzipien unterschieden werden (. Tab. 3.15): Unmittelbare Wirkung der Wärme oder Kälte. Thera-

pieziele sind z. B. die Hemmung oder Förderung der Durchblutung oder der Stoffwechselaktivität oder die Beeinflussung der Nervenleitgeschwindigkeit. Bei diesen Therapieformen sind Gegenregulationen als unerwünschte Nebenwirkungen einzustufen. Sie werden in der Regel für längere Zeiträume (über mehrere Minuten bis Stunden) und lokal begrenzt angewendet. Typische Vertreter für dieses Therapieprinzip sind Wärmeoder Kältepackungen.

Chr. Gutenbrunner Indirekte gegenregulatorische Wirkung. Solche Wir-

3.8.1 Definition und Grundlagen > Die Thermotherapie5 macht sich die Reaktionen des Organismus auf Temperaturreize für therapeutische Zwecke zunutze. Der Begriff der Thermotherapie beschreibt dem Wortsinn nach die Therapie sowohl mit Wärme als auch mit Kälte. Umgangssprachlich wird darunter häufig aber nur die Wärmetherapie verstanden. Da es sich bei der Thermotherapie in der Physikalischen Medizin de facto um eine Therapie mit Medien handelt, die der Wärmeübertragung (Wärmezufuhr oder Wärmeentzug) dienen, wird diese Therapie als Wärme- und Kälteträgertherapie bezeichnet.

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Die Thermotherapie in der Onkologie, bei der Körperteile während der Chemotherapie zur deren Wirkungsverstärkung überwärmt werden, wird im Rahmen dieses Buches nicht abgehandelt.

kungen werden entweder zu kurzfristigen Veränderungen von Durchblutung oder Muskeltonus oder aber zur Auslösung langfristiger funktioneller Adaptationen (7 Kap. 1.2.5) therapeutisch genutzt. Hier sind die gegenregulatorischen und adaptiven Antworten der Organismus die eigentlichen Wirkungen. Diese Anwendungen werden in der Regel sehr kurz (wenige Minuten) angewendet (z. B. sog. heiße Rolle; 7 Kap. 3.8.3). Sie betreffen häufig den ganzen Körper und müssen wiederholt (seriell) appliziert werden. Beispiele für diesen Wirkungsmechanismus sind die Hydrotherapie (7 Kap. 3.9) oder die Sauna (s. u.). Über die Frage, ob ein Medium Wärme zuführt oder entzieht, entscheidet, ob seine Anwendungstemperatur über oder unter dem Thermoindifferenzpunkt liegt. Dieser unterscheidet sich nach Art des Mediums (7 Kap. 3.8 und 3.9) und liegt 4 für gasförmige Medien (Luft, Stickstoff) bei ca. 28°C, 4 für flüssige (Wasser) und breiige Medien (Peloide) bei ca. 36°C.

76

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

. Tabelle 3.15. Klassifizierung der Thermotherapieformen mit unmittelbarer sowie mit adaptiver Wirkung

3

Therapieform

Temperatur

Dauer

Areal

Wirkung

Sauna, heiße Vollbäder

Bis 100°C (Luft), bis 48°C (Wasser)

Wenige Minuten

Ganzer Körper

»Training« der Thermoregulation, funktionelle Adaptation

Peloidpackungen, Infrarot, Hochfrequenz

Bis 57°C (Peloide), bis 42°C (Wasser)

Minuten bis Stunden

Begrenzte Areale

Lokale Hyperthermie mit Stoffwechsel- und Durchblutungssteigerung

Eispackungen, Kaltlufttherapie

Bis 0°C (Wasser, Eis), bis -60°C (Luft)

Minuten bis Stunden

Begrenzte Areale

Lokale Kühlung mit Hemmung von Stoffwechsel, Durchblutung und Nervenleitgeschwindigkeit

Hydrotherapie, Kältekammer

Bis –4°C (Wasser), bis –120°C (Luft)

Wenige Minuten

Ganzer Körper

»Training« der Thermoregulation, funktionelle Adaptation

a

Bäder dieser Temperatur werden nur in der traditionellen japanischen Balneologie angewendet

Wegen des langsameren und schonenderen Wärmeübergangs können die Temperaturabweichungen in breiigen Medien allerdings stärker vom Thermoindifferenzpunkt abweichen als bei flüssigen Medien (s. u.)

3.8.3 Wärmeträgertherapie Anwendungstechnik Zur Wärmeübertragung auf den Körper als Ganzes oder auf einzelne Körperteile werden sehr unterschiedliche Wärmeträger angewendet, die in Bezug auf ihre Wirkungen deutliche Unterschiede aufweisen. Gebräuchlich sind: 4 Peloide (z. B. Fangopackungen und Moorbäder) 4 Wasser (in Form von Bädern oder Wickeln) 4 Luft oder Dampf (als lokale Dampfanwendung oder Sauna) Darüber hinaus sind auch einige Formen der Elektrotherapie sowie die Behandlung mit Ultraschall über thermische Effekte wirksam (7 Kap. 3.7). Für die Therapie geeignete Wärmeträger zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie 4 eine hohe Wärmekapazität besitzen und somit 4 eine hohe Wärmehaltung (= Wärmekapazität/ Wärmeleitzahl [s/cm2]; Wärmekapazität = spezifische Wärme × Dichte) aufweisen (. Abb. 3.14) sowie 4 einen guten und gleichmäßigen Wärmeübergang gewährleisten.

Dies wird in fast idealer Weise durch schlammartige Substanzen Peloide (Pelos [griech.] = Schlamm) gewährleistet. Sie haben eine gute Wärmehaltung (7 Kap. 3.10) und ermöglichen eine hohe Applikationstemperatur. Sie wird dadurch gut verträglich, dass sich im Grenzbereich zwischen Packung und Hautoberfläche ein flacher Temperaturgradient ausbildet und somit bei heißem Kern an der Hautoberfläche eine gut verträgliche Temperatur resultiert. Um diese Eigenschaften nutzen zu können, ist eine breiige Konsistenz (Packungskonsistenz) und eine Mindestschichtdicke von 2 cm notwendig.

. Abb. 3.14. Wärmeverlust über die Zeit bei verschiedenen Wärmeträgern. (Nach Daten der Literatur, aus Gutenbrunner und Hildebrandt: Handbuch der Balneologie und Medizinischen Klimatologie. Springer 1998)

3

77 3.8 · Wärme- und Kälteträgertherapie

. Tabelle 3.16. Vergleich verschiedenen hyperthermaler Bäder. (Nach Gehrke)

Anwendungsform

Temperatur (°C)

Feuchte (RF%)

Badedauer (min)

Abkühlung

Sauna (Deutschland) Sauna (Finnland) Dampfbad Hamam Römisch-irisches Bad

85–95 65–75 40–50 30–36 40–50

5–10 10–40 100 90–100 70–90

10–15 20–30 15–20 90–180 15–30

Schnell Langsam Schnell Langsam Langsam

Zur lokalen Therapie verwendet werden Packungen aus Fango (hergestellt aus fein zermahlenem Vulkangestein = Tuff) und Moor (wässrige Aufschwemmung aus Torf) sowie in einigen Regionen auch aus Schlamm oder Schlick. Gebrauchsfertigen Fangopackungen wird häufig auch Paraffin beigemengt, das gut handhabbar ist, aber weniger günstige thermophysikalische Eigenschaften aufweist. Wegen der oben beschriebenen günstigen thermophysikalischen Eigenschaften können Peloidpackungen mit Temperaturen bis über 50°C angewendet werden. Auch die in der Balneologie gebräuchlichen Moorbäder nutzen das Prinzip der intensiven und gleichzeitig gut verträglichen Wärmezufuhr aufgrund ihrer hohen Wärmekapazität und guten Wärmehaltung sowie der Ausbildunge eines Temperaturgradienten zur Haut. Selbstverständlich kann auch Wasser zur Wärmetherapie genutzt werden. Da die Grenzschicht mit dem Temperaturgradienten zwischen Therapiemedium und Körperoberfläche hier wesentlich dünner ist, können in Wasserbädern Temperaturen von maximal 42°C toleriert werden. Wichtige Anwendungsformen sind: 4 das Überwärmungsbad, in dem die Körperkerntemperatur angehoben wird und das daher eine starke Kreislaufbelastung darstellt, 4 temperaturansteigende Armbäder (Armbäder nach Hauffe), die blutdrucksenkend wirken, 4 Wickel, die Bestandteil der Kneipp-Therapie sind, und 4 die sog. heiße Rolle.

Anwendungsdauern sind sehr kurz, sodass ein reflektorischer Wirkungsmechanismus angenommen werden muss. Wissenschaftliche Untersuchungen liegen zu dieser Therapieform allerdings nicht vor. Nach klinischer Erfahrung handelt es sich – zumindest in Kombination mit Krankengymnastik – um ein sehr wirksames Therapieverfahren, insbesondere bei Muskelverspannungen, Kontrakturen, Myogelosen und Ansatztendinosen (Periarthropathia humeroscapularis, Epicondylopathia humeroradialis und -ulnaris, Patellaspitzensyndrom, Achillodynie u. a.). Die heiße Rolle ist auch nach der Heilmittelrichtlinie (7 Kap. 3.16) verordnungsfähig.

Wärme kann auch als Dampf appliziert werde, und zwar sowohl lokal (Dampfdusche) als auch als Gesamtkörperanwendung (Dampfsauna = römisch-irische Sauna; Hamam = türkisch-arabisches Dampfbad). Hier hängen die thermophysikalischen Eigenschaften vom jeweiligen Wasserdampfdruck ab, wobei der Wärmeübergang mit steigender Feuchte zunimmt und die Anwendungstemperaturen niedriger liegen müssen (. Tab. 3.16). Bei trockener Anwendung (Heißluft oder finnische Sauna) können die Applikationstemperaturen dementsprechend höher liegen. Sauna In der Sauna wird der ganze Körper heißer Luft (mit geringerer oder höherer Feuchte, . Tab. 3.16) ausgesetzt. Die Körperkerntemperatur steigt bei den üblichen Anwendungsdauern nur geringfügig an (0,5–

Eine in der Physiotherapie weit verbreitete hypertherme Anwendung ist die heiße Rolle: Ein fest zusammengewickeltes Handtuch wird mit kochendem Wasser gefüllt und die Haut über einer schmerzhaften Region damit betupft bzw. abgerollt. Die

1,0°C). Die Sauna bewirkt starke gegenregulatorische Antworten (Vasokonstriktion, Schweißsekretion, Kreislaufanregung). Ihre wiederholte Anwendung führt zu einer Verbesserung der unspezifischen Abwehr sowie der Regulation vegetativer Funktionen (7 Kap. 1.2.5) mit Normalisierung der Schmerzempfindlichkeit und Kreislaufregulation. Die Sauna selbst

6

6

Heiße Rolle

78

3

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

stellt keine sehr hohe Kreislaufbelastung dar und besitzt daher nur wenige Kontraindikationen. Es ist aber zu beachten, dass es in dem häufig im Anschluss an das Saunabad angewendeten kalten Tauchbad zu erheblichen Blutdruckanstiegen kommt, sodass dieses bei schlecht eingestellter arterieller Hypertonie kontraindiziert ist.

Wirkungen Die wichtigsten Wirkungen der lokalen Wärmeanwendung sind: 4 Erhöhung von Hauttemperatur und Hautdurchblutung 4 Lokale Erhöhung der Stoffwechselaktivität 4 (reflektorische) Muskelentspannung 4 Schmerzlinderung (besonders bei muskulär bedingten Schmerzen) 4 Reflektorische Beeinflussung glattmuskulärer innerer Organe (bei Anwendung im Rumpfbereich)

4 Chronische generalisierte Schmerzzustände am Bewegungsapparat (Überwärmungsbad, Moorbad) 4 Chronische Infektanfälligkeit und andere vegetative Störungen wie Kreislaufdysregulation, chronische Schmerzen u. a. (vor allem Saunatherapie) Kontraindikationen ergeben sich aus einer verminderten Kreislaufbelastbarkeit, fieberhaften Infekten, unbehandelten Tumorerkrankungen sowie Hauterkrankungen und -verletzungen im Anwendungsgebiet. ! Vorsicht ist bei orthostatischen Kreislaufregulationsstörungen geboten (Gefahr des Kreislaufkollaps, insbesondere bei hyperthermen Wannenbädern; 7 Kap. 3.9).

3.8.4 Kälteträgertherapie Anwendungstechnik

Die Erwärmung der Körperoberfläche durch lokale Wärmeanwendungen bedeutet nicht automatisch, dass auch tiefergelegene Körperabschnitte (z. B. Muskulatur) erwärmt werden. So wird bei der Anwendung von Wärmepackungen an den Extremitäten z. B. die Steigerung der Hautdurchblutung durch eine Drosselung der Muskeldurchblutung kompensiert (Aufrechterhaltung des peripheren Gesamt-Kreislaufwiderstands); eine nennenswerte Erwärmung der Muskulatur wird dabei nicht erzielt. Bei Ganzkörperwärmeanwendungen kommt es zu: 4 Anhebung der Körperkerntemperatur (besonders im Überwärmungsbad) 4 Anstieg der Herzfrequenz und zum Blutdruckabfall durch Dilatation der Hautstrombahn 4 Stoffwechselanregung 4 Anderen vegetativen Allgemeinreaktionen Indikationen und Kontraindikationen Die lokale Wärmetherapie ist nach klinischen Erfahrungen wirksam bei Erkrankungen des Bewegungssystems, die mit schmerzhaft verspannter Muskulatur (einschließlich Tender- und Triggerpunkten), einhergehen. Dort wirken sie detonisierend und schmerzlindernd. Systemische Wärmebehandlungen stellen einen starken vegetativen Reiz dar und sind zur Induktion funktioneller Adaptationen geeignet. Indikationen sind:

Im Grundsatz entspricht die Anwendungstechnik der Kältetherapie (auch als Kryotherapie bezeichnet) denen der Wärmetherapie, wobei die Temperaturen naturgemäß unter dem Thermoindifferenzpunkt liegen. Je geringer der direkte Wärmeübergang des verwendeten Mediums ist, desto stärker kann die Anwendungstemperatur vom Thermoindifferenzpunkt abweichen (. Tab. 3.17). Kältekammer Eine besondere Form der Kältetherapie stellt die Kältekammer dar, in der der unbekleidete Körper Temperaturen von –70°C oder –120°C ausgesetzt wird. Wegen der Erfrierungsgefahr müssen die Akren allerdings vor Kälte geschützt werden (Schuhe, Handschuhe und Ohrschützer). Die Anwendungsdauern sind extrem kurz (1–3 min). Eine analgetische Wirkung ist experimentell nachgewiesen. Darüber hinaus kommt es zu umfangreichen Reaktionen vegetativ gesteuerter Funktionen (Atmung, Kreislauf, Immunfunktionen u. a.). Die Kältekammertherapie, die auch mehrmals am Tag angewendet werden kann hat, sich insbesondere bei rheumatischen Erkrankungen bewährt (chronische Polyarthritis, Spondylitis ankylosans). Beim Fibromyalgiesyndrom ist die Kältekammer bei einigen Patienten ebenfalls sehr wirksam, andere Patienten mit demselben Krankheitsbild vertragen sie allerdings nicht.

79 3.8 · Wärme- und Kälteträgertherapie

3

. Tabelle 3.17. Überblick über die wichtigsten lokalen Kälteanwendungen (nach Fricke 1990)

Methode

Applikationstemperatur

Anwendungsdauer

Kaltwasser Eishandtuch Eisabreibung Eisbeutel Eiswasser Kältepackungen Gasförmiger Stickstoff Kaltluft

+15 bis +20°C ±0 bis +4°C ±0 bis +4°C ±0°C ±0°C –15 bis +35°C –160 bis –180°C ca. –30°C

3–5 min 3–5 min 3–5 min 0,5–1 h 1–3 min 0,5–1 h 0,5–3 min 1–5 min

Wirkungen

. Abb. 3.15. Temperaturverlauf im Gewebe bei lokaler Kältetherapie. (Nach Blair; aus Fricke 1990)

Wie . Abb. 3.15 zeigt, kann durch lokale Kälteanwendungen nicht nur eine Senkung der Hauttemperatur, sondern auch eine relevante Gewebskühlung in tiefer liegenden Schichten erreicht werden. Neben der lokalen Durchblutungsdrosselung ist die Analgesie durch Hemmung der Nervenleitgeschwindigkeit (Aδ- und C-Fasern) die wichtigste Wirkung der Kryotherapie. Die Schmerzempfindlichkeit kann nachweislich gesenkt werden (. Abb. 3.16). Weitere wichtige Kältewirkungen ist die Entzündungshemmung und Gewebsabschwellung. Kurze starke Kältereize wie z. B. wiederholte kurze Eisbäder, Eismassagen oder Eisabreibungen sind spastikhemmend, vermutlich über

. Abb. 3.16. Anhebung der Schmerzschwelle durch Kälteanwendungen. (Aus Kröling: Kryo-Thermo und Hydrothera-

pie. In: Jäger et al. (Hrsg.): Praxis der Orthopädie. Thieme. Stuttgart 1992)

80

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

eine reflektorische Hemmung der γ-Motoneurone auf spinaler Ebene.

3

! Bei jeder Kälteanwendung muss darauf geachtet werden, dass lokale Kälteschäden (Erfrierungen) vermieden werden, z. B. durch ein Handtuch zwischen Kältepackung und Haut oder den schon erwähnten Schutz der Akren in der Kältekammer.

Indikationen und Kontraindikationen Wegen der deutlichen analgetischen und entzündungshemmenden Wirkungen ist die Kryotherapie bei allen akuten lokalen Entzündungen und Schmerzen wirksam und indiziert. Für generalisierte Schmerzsyndrome und multilokuläre rheumatische Erkrankungen ist eine Kältekammertherapie erfolgversprechend. In der Physiotherapie sollte auch die spastikhemmende Wirkung kurzzeitiger Kältereize genutzt werden. Kontraindiziert ist die Kälteanwendung bei Raynaud-Symptomatik und Kälteagglutininämie.

3.9

Hydrotherapie J.-J. Glaesener

3.9.1 Definition und Grundlagen > Mit Hydrotherapie wird die Anwendung reinen Wassers als Heilmittel zur Unterstützung der Genesung bezeichnet. Demgegenüber werden in der Balneotherapie in der Regel mineralisierte Wässer verwendet (7 Kap. 3.10). Entsprechend dem Krankheitsbild wird Wasser bzw. Wasserdampf verschiedener Temperaturen (kalt, warm, heiß, wechselwarm) eingesetzt.

Die Hydrotherapie reicht bis in die frühesten Kulturen zurück und erlebte insbesondere bei den Griechen und den Römern eine Blütezeit. Die heute gebräuchliche Hydrotherapie geht auf Laientherapeuten wie Priesnitz und Hahn, und nicht zuletzt den Wörrishofener Pfarrer Sebastian Kneipp zurück. Sie haben die Wirkqualitäten des Wassers in großem Umfang erforscht und die Naturheilkundebewegung des 19. Jahrhunderts nachhaltig beeinflusst.

Fazit Bei der Wärme- und Kälteträgertherapie wird dem Körper oder einzelnen Körperteilen Wärme zugeführt bzw. entzogen. Zu unterscheiden ist zwischen Therapieformen, die auf den direkten Wirkungen von Wärme und Kälte beruhen, und solchen, die im Sinne einer Reiztherapie Adaptationen nutzen. Direkte Wärmewirkungen sind Durchblutungssteigerung, Steigerung der Stoffwechselaktivität Muskelentspannung und Schmerzlinderung. Darüber hinaus ist eine reflektorische Beeinflussung innerer Organe möglich. Die wichtigsten Wirkungen der Kältetherapie sind Analgesie, Entzündungshemmung und Gewebsabschwellung. Außerdem können Kälteaanwendungen spastikhemmend wirken.

Klassische Anwendungsformen der Hydrotherapie 5 Güsse (mit unterschiedlichen Temperaturen und Druck) 5 Bäder (Teil- und Vollbäder) 5 Wickel und Packungen 5 Waschungen 5 Dampfanwendungen und Sauna

In der internationalen Literatur wird häufig auch die Bewegungstherapie im Wasser (Bewegungsbad) zur Hydrotherapie gerechnet. Sie wird in Deutschland aber auch unter dem Begriff der Physiotherapie subsumiert.

3.9.2 Wirkungsmechanismen

und Wirksamkeit Bei der Hydrotherapie einschließlich der Bewegungstherapie im Wasser handelt es sich um einen Wirkungskomplex mit folgenden Einzelfaktoren: 4 Temperatur (Wärme, Kälte, auch als wechselwarme Anwendungen)

81 3.9 · Hydrotherapie

4 Hydrostatischer Druck (beim Eintauchen in Wasser, Immersion) 4 Auftriebskraft (beim Eintauchen) 4 Reibungswiderstand (bei Bewegungen im Wasser) Hinzu kommt bei einigen Anwendungsarten der Wasserdruck (Druckstrahlmassagen). Die einzelnen Elemente dieses Wirkungskomplex können gleichsinnig oder entgegengesetzt wirken. Ein Beispiel für entgegengesetzte Wirkungen ist die wärmebedingte Zunahme der Venenkapazität und die hydrostatisch bedingte Venenkompression. Bei der Verordnung und Durchführung hydrotherapeutischer Maßnahmen ist zu beachten, ob die Therapieziele den direkten Wirkungen entsprechen oder ob die Anwendungen als Reiz-Reaktionstherapie längerfristige adaptive Umstellungen der vegetativen Reaktion anstreben (7 Kap. 1.2.5 und 3.8): 4 Die meisten klassischen hydrotherapeutischen Anwendungen wie Güsse, wechselwarme Teilbäder stellen als thermische Reize die Basis für die Auslösung langfristiger funktionell-adaptiver Umstellungen dar (thermisches Training). Sie werden erst bei wiederholter (serieller Anwendung wirksam). 4 Im Bewegungsbad stehen die unmittelbar entlastenden Wirkungen (Bewegungsfazilitation durch Auftrieb, Muskeldetonisierung) im Vordergrund. Diese Situation wird dann als Ausgangspunkt für ggf. auch trainierende Bewegungsübungen genutzt. Temperatur Die Wirkqualität Temperatur bestimmt bei hydrotherapeutischen Anwendungen ihre Reizstärke, aber auch mögliche Kontraindikationen seitens der Herz-Kreislauf-Systems. > Die Indifferenztemperatur ist definiert als Temperatur, bei der keine gegenregulatorische Reaktionen (Thermoregulation, Kreislaufregulation) auftreten. Sie entspricht gleichzeitig der Behaglichkeitstemperatur. Darüber liegende Temperaturen bewirken eine Wärmezufuhr, darunter liegende einen Wärmeentzug.

Wegen der Unterschiede in der Thermoregulation im Wasser (Wärmeabgabe überwiegend durch Konvektion und Konduktion, Wegfall der Verdunstung) und Luft (Wärmeabgabe zusätzlich über Strahlung und Verdunstung) liegen die Indifferenztemperaturen

3

4 in zugfreier Luft bei 26–30°C, 4 im Wasser bei 35–36°C. Die Toleranztemperatur einer Anwendung (Temperatur, die eben gerade noch kein Verbrühungsgefühl hervorruft) ist wegen der Ausbildung von Temperaturgradienten zwischen Medium und Haut darüber hinaus von der Viskosität des Mediums abhängig. Sie liegt 4 im Wasser bei 44–45°C, 4 bei Wärmeträgern umso höher, je weniger Wasser im Wärmeträger enthalten ist, z. B. 5 bei Moorpackungen (Schlammpackungen) bei 46–47°C und 5 bei paraffinhaltige Packungen bei 51–52°C. Die wichtigsten thermischen Wirkungen sind in . Tab. 3.18 zusammengefasst. Hydrostatischer Druck Die bevorzugte Einflussnahme des hydrostatischen Druckes erfolgt am Niederdrucksystem des Kreislaufs, d. h. dass Kapillaren, Venen und Lymphgefäße komprimiert werden. Hierdurch kommt es zu einer Blutvolumenverschiebung in das Niederdrucksystem des Thorax, die ihrerseits eine Steigerung des Herzschlagvolumens und der Blutdruckamplitude bewirkt. > Bei Eintauchen des Körpers bis zu den Schultern kommt es zu einer Volumenverschiebung von 300–500 cm3 Blut in die intrathorakalen Bluträume mit Prallfüllungsphänomen der zentralen Gefäße und Größenzunahme des transversalen Herzdurchmessers. Dies und der erhöhte periphere Widerstand führen zu einer Mehrbelastung des linken Herzens.

Der hydrostatische Druck, der im Vollbad etwa 70 mmHg pro m Eintauchtiefe beträgt, liegt über dem peripheren venösen Druck, sodass es im Bad zu einer Umverteilung größerer Blutmengen kommt. Im thorakalen Niederdrucksystem bewirkt dies eine Volumenbelastung mit erhöhter Vorlast des Herzens. Gegenregulatorisch kommt es hormonvermittelt (atriales natriuretisches Hormon, ANH; antidiuretisches Hormon, ADH; Renin-Angiotensin-Aldosteron-System, RAAS) zu einer verstärkten Diurese und Natriurese (sog. Badediurese).

82

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

. Tabelle 3.18. Wirkung der Wassertemperatur auf die Organfunktionen

3

Organfunktion

Anwendungstemperatur

Wirkung

Herztätigkeit

Kälte Wärme

Herzfrequenz p Herzfrequenz n, Herzminutenvolumen n

Blutdruck

Kalte Bäder/Güsse Heiße Bäder Mild-warme Bäder

RRsyst n, RRdiast n RRsyst n, RRdiast (n) RRdiast p

Atmung

Kalte Anwendungen Warme und heiße Anwendungen

Atemfrequenz n Atemtiefe n, (AMV n)

Gefäße

Kälte Plötzliche Hitze Langsam einwirkende Wärme

Gefäßkontraktion Gefäßkontraktion Gefäßdilatation/Mikrozirkulation n

Nerven

Kälte

Abnahme der Nervenleitgeschwindigkeit

Muskeln

Warme Anwendungen

Tonus und Erregbarkeit p, Myotonolyse

Vegetative Regulation

Wärme

Relaxierung

! Als Folge des Wegfalls des hydrostatischen Druckes beim schnellen Aussteigen aus der Wanne oder dem Bewegungsbad besteht die Gefahr eines orthostatischen Kollapses, da gleichzeitig die Kompression des Niederdrucksystems wegfällt und das Venensystem durch die Wärme tonusgemindert ist.

Auftrieb Nach dem Archimedes-Prinzip verliert jeder Körper in einer Flüssigkeit soviel an Gewicht, wie die von ihm verdrängte Flüssigkeit wiegt (in Salzwasser mehr als in Süßwasser; . Abb. 3.17). Zunutze macht man sich diese Eigenschaft des Wassers zur: 4 Entlastung des Stütz- und Bewegungsapparates 4 Schmerzreduktion durch Druckentlastung 4 Erleichterung von Bewegungen bei hochgradig geschwächter Muskulatur 4 Entspannung der quergestreiften Muskulatur (Wegfall der Gamma-Aktivität) Reibungswiderstand Der Reibungswiderstand des Wassers ist abhängig von: 4 Viskosität der Flüssigkeit 4 Geschwindigkeit der Bewegungen 4 Größe der bewegten Flächen

ä Beispiel Nach einer komplizierten vorderen und hinteren Beckenringfraktur mit Beteiligung des Acetabulums ist einem jungen Motorradfahrer streng über 12 Wochen jede Belastung (einseitig und beidseitig) der unteren Extremitäten untersagt. 14 Tage nach der Osteosynthese kann mit Physiotherapie im Bewegungsbad begonnen werden, zunächst noch im Schwimmring, dann mit 10% Gewichtsbelastung in schulterhohem Wasser. Der Patient steht und führt Gehbewegungen durch, die ohne das Element Wasser noch längere Zeit nicht möglich wären. Im Zuge der postoperativen Frakturbehandlung nach Plattenosteosynthese einer distalen Humerusfraktur soll auch die Muskulatur trainiert werden. Ab der 4. bis 6. Woche wird im Bewegungsbad die Abduktorenmuskulatur mit distalen Widerständen in Form von Schwimmbrettern auftrainiert.

3.9.3 Methoden und Therapiemittel Die hydrotherapeutische Praxis kennt zahlreiche Anwendungsformen, in denen allerdings nicht alle Wirkqualitäten zum Tragen kommen: 4 Abreibungen und Waschungen 4 Packungen und Wickel 4 Güsse und Unterwassermassagen

83 3.9 · Hydrotherapie

3

. Abb. 3.17a, b. Entlastung des Körpergewichts in Abhängigkeit von der Eintauchtiefe bei Frauen (a) und Männern (b). (Nach Rödig 2000)

a

b

4 Bäder ohne Zusätze mit vorwiegend thermischer Wirkung 4 Medizinische Bäder (7 Kap. 3.10) 4 mit pflanzlichen Zusätzen 4 mit gasförmigen Zusätzen (CO2-Bad) 4 Bäder mit natürlichen, ortsgebundenen Kurmitteln (Heilquellen, Peloide; 7 Kap. 3.10) 4 Bewegungsbad mit physiotherapeutischer Anwendung 4 Trainingstherapie im Wasser (Aquawalking, Aquajogging, Aquatraining)

rung, zunehmende Kraftlosigkeit und Verweigerungshaltung bezüglich des Verlassens von Bett und Sessel sowie Episoden von Herzrasen und ausgeprägte Schweißausbrüche in Verbindung mit Stuhlunregelmäßigkeiten und Dysurie. Parallel zur medikamentösen Einstellung erfolgt eine gezielte hydrotherapeutische Behandlung mittels KneippGüssen, die in den frühen Morgenstunden durchgeführt werden, gefolgt von entsprechenden Ruhepackungen. Ein Großteil der vegetativen Symptome

Bei einer 68-jährigen Patientin wird nach dem unerwarteten Ableben des Ehemanns eine ausgeprägte reaktive exogene Depression diagnostiziert. Die Folgen sind Schlafstörungen, Nahrungsverweige-

klingt unter diesen stärkenden Maßnahmen ab, insbesondere das Herzrasen, die Schweißneigung und die Schlaflosigkeit. Eine Patientin mit der Diagnose eines »Morbus Sudeck« wird ca. 14 Tage nach Beginn der Symptome wegen massiver Schmerzen und Zunahme der motorischen, sensiblen und vegetativen Zeichen eines

6

6

ä Beispiel

84

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

. Tabelle 3.19. Indikationen der Hydrotherapie

3

Organsystem

Erkrankung

Behandlungsmethode

Erkrankungen des Bewegungsapparates

In der postoperativen Behandlung nach Gelenkersatz von Knie, Hüfte und Schultergelenk, nach Wirbelsäulenoperationen, Umstellungsosteotomien, Bandrekonstruktionen und Osteosynthesen an Becken und großen Röhrenknochen

Bewegungsbad

Bei weiteren Erkrankungen des Bewegungsapparates wie Osteoporosebeschwerden, Haltungsschwächen und -schäden, Kontrakturen, entzündlich-rheumatischen Erkrankungen der Gelenke (z. B. Polyarthritis), degenerativ-rheumatischen Erkrankungen der Wirbelsäule (z. B. Spondylarthrosen, Osteochondrosen), degenerativ-rheumatischen Erkrankungen der Gelenke (z. B. Koxarthrose, Gonarthrose), generalisierte Tendomyopathie/Fibromyalgie

Bewegungsbad

»Complex regional pain syndrome« (CRPS, sog. Sudeck-Dystrophie) im Stadium II)

CO2-Bad, Bewegungsbad

Erkrankungen und Verletzungen des Rückenmarks, wie Tetraplegie, Paraplegie, Poliomyelitis

Bewegungsbad, medizinische Bäder

Periphere Nervenerkrankungen und -verletzungen wie Neuralgie, Brachialgie, Ischialgie, Polyneuropathie

Bewegungsbad, CO2-Bad, 4-Zellen-Bad (7 Kap. 3.7)

Erkrankungen der inneren Organe

Arterielle Hypertonie Periphere arterielle Verschlusskrankheit I und II Venöse Insuffizienz

CO2-Bad (7 Kap. 3.10) Wechselbäder, CO2-Bad Güsse, Wassertreten

Hauterkrankungen (Beispiele)

Psoriasis vulgaris

Medizinische Bäder mit Sole (1. Wahl) oder Teer (Alternative)

Akute Ekzeme

Medizinische Bäder mit Gerbstoffen (1. Wahl) oder Kamille (Alternative)

Chronische Ekzeme

Medizinische Bäder mit Teer (1. Wahl) oder Schwefel (Alternative)

Atopische Ekzeme

Medizinische Bäder mit Öl (1. Wahl) oder Teer (Alternative)

Seborrhoisches Ekzeme

Schwefelbäder (1. Wahl) oder Sole (Alternative)

Analekzeme

Medizinische Bäder mit Kamille (1. Wahl) oder Gerbstoffen (Alternative)

Ulcera cruris

CO2-Bad, medizinische Bäder mit Antiseptika

Schlecht heilende Wunden

CO2-Bad

Erkrankungen des Nervensystems

85 3.9 · Hydrotherapie

»complex regional pain syndrome« (CRPS) stationär eingewiesen. In dieser Akutphase verbieten sich passive physiotherapeutische Maßnahmen. Neben manueller Lymphdrainage erfolgt dreimal täglich ein CO2-Armbad, das als eine der wenigen Maßnahmen von der Betroffenen als äußerst wohltuend und schmerzlindernd empfunden wird. Der Arm weist nach Abschluss des Bades jeweils eine tiefrote Farbe auf (vermehrte Durchblutung der Arteriolen und Kapillaren).

3

4 Arterielle Hypertonie (labil oder unzureichend medikamentös eingestellt) 4 Instabiler Angina pectoris 4 Herzinsuffizienz NYHA III und IV 4 Respiratorische Insuffizienz 4 Periphere arterielle Verschlusskrankheit Stadium IIIb oder IV (keine Wechselbäder!) 4 Zerebrales Krampfleiden (nicht medikamentös eingestellt) 4 Frische Bein- und Beckenvenenthrombosen (4 Wochen nach Diagnose)

3.9.4 Indikationen Fazit

Der Einsatz einer hydrotherapeutischen Behandlung sollte sinnvollerweise immer im Rahmen einer Komplexbehandlung erfolgen, als eine gezielte Ergänzung (komplementär) der weiteren physikalisch-therapeutischen Maßnahmen. Eine Übersicht über die Indikationen der verschiedenen hydrotherapeutischen Methoden gibt . Tab. 3.19. Somit findet die Hydrotherapie überall dort einen sinnvollen Einsatz, wo ein wissenschaftlicher Nachweis ihrer therapeutischen Wirksamkeit vorliegt, und wo eine Verkürzung der Behandlungsdauer durch hydrotherapeutische Maßnahmen zu erwarten ist. Hydrotherapie sollte vor allem dort eingesetzt werden, wo sie sich als Einzelmaßnahme in eine sinnvolle und gezielt eingesetzte komplexe Behandlung komplementär eingliedert. In Einzelfällen profitieren auch Patienten mit multipler Sklerose (Cave: Erschöpfung und zu hohe Temperatur!) sowie Patienten mit progressiver Muskeldystrophie von hydrotherapeutischen Anwendungen, insbesondere Bewegungsbad.

3.9.5 Kontraindikationen Es muss in jedem einzelnen Fall von ärztlicher Seite der Nutzen einer hydrotherapeutischen Anwendung, insbesondere einer physiotherapeutischen Behandlung im Bewegungsbad, gegenüber möglichen individuellen Risiken abgewogen werden. p Für Bewegungsbäder wird eine fahrradergometrische Ausdauerleistungsfähigkeit von mindesten 75 Watt gefordert.

Absolute Kontraindikationen von Vollbädern und hyperthermalen Anwendungen:

Die Hydrotherapie ist die Anwendung von Wasser mit den Wirkungskomponenten Temperatur, Auftriebskraft und Reibungswiderstand. Durch Wasser vermittelte thermische Reize beeinflussen Durchblutung und Muskeltonus und können Anpassungsreaktionen des vegetativen Nervensystems auslösen. Eine zunehmende Bedeutung kommt bei Erkrankungen des Bewegungsapparates der Krankengymnastik und Sporttherapie im Bewegungsbad zu.

3.10

Balneotherapie Chr. Gutenbrunner

3.10.1 Definition und Grundlagen > In Mitteleuropa wird unter Balneotherapie die therapeutische Anwendung natürlicher Heilmittel (Heilwässer, Gase, Peloide) verstanden. Heilwässer sind natürliche Mineralwässer, die einen Elektrolytgehalt von mindestens 1000 mg oder bestimmte Mindestkonzentrationen an gelösten Gasen aufweisen. In den angloamerikanischen Ländern wird der Begriff Balneotherapie auch für die Bewegungstherapie im Wasser (Bewegungsbad) verwendet. Dieses Kapitel bezieht sich auf die erstgenannte Definition.

Heilwässer können zu Bädern, Trinkkuren, Inhalationen oder Spülungen verwendet werden. Auch die aus einigen Quellen direkt austretenden oder durch Entgasung aus dem Quellwasser freigesetzten Gase Kohlenstoffdioxid (CO2), Schwefelwasserstoff (H2S) und Ra-

86

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

. Tabelle 3.20. Therapeutisch relevante Elektrolyte und gelöste Gase in Heilwässern und deren therapeutisch relevanten Mindestkonzentrationen

3

Substanz

Chemische Formel

Wirksame Mindestkonzentrationen

Kationen Natrium Kalzium Magnesium Eisen

Na+ Ca++ Mg++ Fe++

a

Anionen Chlorid Hydrogenkarbonat Sulfat Fluorid Jodid

ClHCO3-SO4-FJ-

a

Gelöste Gase Kohlenstoffdioxid Schwefelwasserstoff Radon

CO2 H2 S Rn

500 mg/lb bzw. 1000 mg/lc 10 mg/lb 666 Bq/l

300 mg/lc 150 mg/lc 20 mg/lc

1300 mg/lc 1200 mg/lc 1,0 mg/lc 1,0 mg/lc bzw. 0,1 mg/ld

a

Therapeutische Mindestkonzentration für Natriumchloridbäder: 240 mval/l NaCl (=1,5%) bei Anwendung als Bäder c bei Anwendung als Trinkkur d Jodmangelprophylaxe b

don (Rn) werden als Heilgase therapeutisch genutzt. Die therapeutisch relevanten Mineralstoffe und Gase sowie ihre wirksamen Mindestkonzentrationen sind in . Tab. 3.20 zusammengestellt. p Die Zusammenstellung in . Tab. 3.20 kann auch dazu dienen, die auf jeder Mineral- und Heilwasserflasche aufgedruckten Analysen in Bezug auf mögliche therapeutische Wirkungen kritisch zu prüfen.

Unter Peloiden versteht man in der Balneologie breiartige wasserhaltige Mischungen, die entweder aus organischen (Torf für die Zubereitung von Moorbädern und -packungen) oder anorganischen (vulkanischer Tuff für die Zubereitung von Fangopackungen) Substanzen bestehen und in der Therapie verwendet werden. Anwendungsformen sind Voll- oder Teilbäder und Packungen. > Für die therapeutische Wirksamkeit der Peloide ist ein adäquates Verhältnis von Wasser und Grundsubstanz wichtig (breiige, nicht fließende Konsistenz).

3.10.2 Wirkungsmechanismen

und Wirksamkeit Vollbäder Bei Vollbädern kommen physikalische und chemische Wirkfaktoren zum Tragen. Die wichtigsten physikalischen Wirkungsfaktoren sind Wärmezufuhr und Wärmeentzug, der hydrostatische Druck und die Viskosität des Bademediums (7 Kap. 3.9). Als Bäder verwendete Heilwässer Die wichtigsten zu Bädern verwendeten Heilwässer sind CO2-haltige, H2S-haltige, natriumchlorid- und radonhaltige Heilwässer. Sie haben die folgenden Hauptwirkungen: Kohlenstoffdioxid. CO2 kann leicht in die Haut diffun-

dieren (100-mal stärker als Wasser) und bewirkt eine Dilatation der präkapillären Arteriolen. Dies führt zu einer deutlichen Zunahme der Hautdurchblutung (temperaturabhänging auf das 5-fache) mit Senkung des peripheren Kreislaufwiderstands und des Blutdrucks. Darüber hinaus hemmt CO2 die Empfindlich-

87 3.10 · Balneotherapie

keit von Kälterezeptoren, sodass sich CO2-Bäder subjektiv wärmer anfühlen als reine Wasserbäder von gleicher Temperatur. Daher werden CO2-Bäder ca. 2°C niedriger temperiert. Diese Hypothermie bewirkt weiterhin eine Bradykardie und eine Verminderung der Druckarbeit des Herzens zugunsten der Volumenarbeit (erhöhtes Schlagvolumen bei erniedrigter Herzfrequenz). p CO2-Bäder können auch als Gasbäder verabreicht werden. Dies hat den Vorteil, dass die hydrostatisch bedingte Kreislaufbelastung entfällt. Bei Gasbädern ist für die Sicherstellung einer ausreichenden Hautabsorption allerdings eine ausreichende Befeuchtung der Haut entscheidend. (Der gelegentlich verwendete Begriff »Trockengasbad« ist daher irreführend!)

Schwefelwasserstoff. H2S wird ähnlich gut wie CO2 über die Haut resorbiert und führt gleichfalls zu einer Hyperämie. Darüber hinaus bewirkt H2S eine Hemmung von Schmerzrezeptoren und wirkt somit analgetisch. Dieser Effekt ist nicht auf die gebadeten Körperteile beschränkt. Weiterhin werden durch H2S die Langerhans-Zellen der Haut langfristig gehemmt. Die Rückwirkungen dieses Phänomens auf die Immunregulation sind bisher allerdings noch nicht erforscht. Ob der nachgewiesene Einbau von H2S aus Schwefelbädern in den Gelenkknorpel therapeutisch relevant ist nicht nachgewiesen.

3

Radon. Das radioaktive Gas Radon wird über die Haut gut resorbiert. Die wesentlichen Wirkungen im Organismus sind die bekannten Ionisierungseffekte mit Hemmung der Zellteilung und Stoffwechselminderung. Für Bäderkuren mit radonhaltigen Heilwässern sind günstige Langzeitwirkungen bei chronischen funktionellen und entzündlichen rheumatischen Erkrankungen nachgewiesen.

Peloide Peloide haben eine besonders gute Wärmehaltung und bilden bei Kontakt mit der Körperoberfläche aufgrund ihrer hohen Viskosität eine besonders breiten Temperaturgradienten aus (. Abb. 3.18). Daher können Peloidbäder und Packungen höher temperiert werden als Wasserbäder (bis ca. 47°C) und bewirken eine besonders intensive und gleichzeitig schonende Hyperthermie. Ob die organischen Bestandteile des Moores spezielle pharmakodynamische Wirkungen besitzen, ist umstritten. Trinkkuren Verwendet werden vor allem hydrogenkarbonat- und sulfathaltige Heilwässer sowie Heilwässer mit relevan-

! CO2 ist ein Erstickungsgas, H2S ein starkes Atemgift. Im Bad muss daher die Inhalation von ausgasendem CO2 bzw. H2S vermieden werden. Da beide Gase schwerer als Luft sind, fließen die im Bad entstehenden Gaspolster über den Wannenrad ab. Daher müssen Nase und Mund stets oberhalb des Wannenrandes gehalten werden. Bei hohem Wannenrand muss die Wasseroberfläche abgedeckt werden.

Natriumchlorid. NaCl bewirkt eine Elution von Sub-

stanzen wie Harnstoff und Urokaninsäure aus der Haut, was die UV-Empfindlichkeit steigert. Durch Deposition von NaCl in der Haut mit Zuquellen der Schweißdrüsenausführungsgänge wird die Hautwasserabgabe vermindert. NaCl wirkt in der Haut darüber hinaus mitose- und juckreizhemmend. Eine nennenswerte Resorption von NaCl erfolgt über die Haut nicht.

. Abb. 3.18. Temperaturgradient im Wasser- (Kurve A) und Peloidbad (Kurve B). Abszisse: Abstand von der Hautoberfläche. (Nach Göpfert 1970; aus Gutenbrunner und Hildebrandt: Handbuch der Balneologie und Medizinischen Klimatologie. Springer 1998)

88

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

ten Gehalten an Kalzium, Magnesium und Spurenelementen. Die wichtigsten Trinkkurwirkungen sind: Hydrogenkarbonat. HCO3 puffert nach dem Trinken

3

zunächst die Magensäure ab und kann bei wiederholtem (kurmäßigem) Trinken eine Normalisierung der Säureproduktion des Magens bewirken. Nach Resorption steigt die Alkalireserve des Blutes an. Von großer therapeutischer Bedeutung ist die harnalkalisierende Wirkung von HCO3 (Urin-pH-Werte dosisabhängig zwischen 6,5 und 7,0), wodurch das Harnsteinbildungsrisiko für Harnsäure und Kalziumoxalat (CaOx) signifikant gesenkt werden kann. Bei CaOx-Harnsteinen bedeutet auch die Steigerung der Zitratausscheidung (»non-ionic diffusion«) eine metaphylaktische Wirkung (Metaphylaxe = Verhindern des Wiederauftretens im Gegensatz zu Prophylaxe = Verhindern des erstmaligen Auftretens). Sulfat. SO4 wird im Darm relativ schlecht resorbiert und besitzt darüber hinaus einen hohen osmotischen Lösungsdruck. Durch das gebundene Wasser kommt es nach SO4-Zufuhr zu einem Dehnungsreiz zur Freisetzung gastrointestinaler Hormone (Cholezystokinin, Pankreozymin, Neurotensin u. a.) mit reflektorischer Kontraktion der Gallenblase und Steigerung der exokrinen Pankreassekretion. Nach Sulfatwasserzufuhr kommt es je nach Empfindlichkeit ab einer Mindestdosis von 1000 mg/l zu einer reflektorischen Defäkation. Nach Abschluss der Darmpassage können Sulfatwässer auch eine Stuhlverflüssigung bewirken (ab ca. 3000 g SO4). Kalzium und Magnesium. Kalzium und Magnesium

werden aus Heilwässern gut resorbiert. Heilwässer können somit zur Substitution und Supplementation dieser Mineralstoffe genutzt werden. Insbesondere bei Magnesium sind auch die bekannten pharmakodynamischen Wirkungen dieses Minerals (Dämpfung der neuromuskulären Erregbarkeit, antiarrythmische Wirkungen sowie günstige Wirkungen bei Schwangerschaftsgestosen und Migräne) zu erwarten. Spurenelemente. Die in Mineralwässern gelösten Mineralstoffe und Spurenelemente sind durchweg vollständig ionisiert und daher gut resorbierbar. Substitutive Trinkkurwirkungen kommen neben Kalzium und Magnesium vor allem für Eisen (nur in zweiwertiger Form!), Fluorid, Jodid und einigen Spurenelementen in Betracht.

Die wichtigsten Inhalationswirkungen der Heilwässer sind in 7 Kap. 3.12 dargestellt. Neben den beschriebenen Akutwirkungen sind die adaptiven Langzeiteffekte balneologischer Anwendungen bei serieller Anwendung von Bedeutung. Hierbei sind vor allem die funktionellen Adaptationen (7 Kap. 1.2.5) wichtig, die für zahlreiche serielle Bäderanwendungen und Trinkkuren nachgewiesen sind. Sie werden im Rahmen medizinischer Kuren (Heilverfahren) durch die kombinierte Anwendung mit anderen Therapieverfahren und dem Klima- und Milieuwechsel (7 Kap. 3.11) noch verstärkt.

3.10.3 Indikationen Die wichtigsten Indikationen für die Balneotherapie sind in . Tab. 3.21 zusammengestellt.

3.10.4 Kontraindikationen Heilwasser- und Peloidbäder, insbesondere wenn sie hypertherm angewendet werden, setzen eine ausreichende Herz-Kreislauf-Funktion voraus. Bei orthostatischer Labilität ist beim Verlassen des Bades besondere Vorsicht geboten. Bei offenen Hautverletzungen sind Bäder mit Ausnahme von CO2-Bädern kontraindiziert. Bei Trinkkuren ist eine ausreichende Herz- (Volumenbelastung) und Nierenfunktion notwendig. Sie sind bei Verschlusssyndromen des Darms generell kontraindiziert. Spezielle Kontraindikationen einzelner balneotherapeutischer Anwendungen sind: 4 Hydrogenkarbonat: E.-coli-Harnwegsinfekte, Infektsteinbildung 4 Kalzium: hyperresorptive Hyperkalziurie, Hyperparathyreoidismus 4 Iodid: Hyperthyreose und Iodallergie 4 Sulfat: Darmverschluss und -invagination, Verschlussikterus, akut-entzündliche Darmerkrankungen, Dehydratationszustände

3.10.5 Dosierung und Kombinations-

möglichkeiten Bäder und Trinkkuren sowie Inhalationen mit Heilwässern werden in der Regel seriell und im Rahmen sta-

89 3.10 · Balneotherapie

3

. Tabelle 3.21. Indikationen der Balneotherapie Erkrankung

Therapiemittel

Arterielle Hypertonie, Hyperlipidämien, Insulinresistenz

Multimodale medizinische Kuren, CO2-Bäder, HCO3-Trinkkuren

Mikrozirkulationsstörungen (z. B. diabetische Mikroangiopathie), periphere arterielle Verschlusskrankheit

CO2-Voll- und -Teilbäder

Chronische venöse Insuffizienz

CO2-Bäder

Schmerzhafte, mit Muskeldysbalancen einhergehende chronische Erkrankungen des Bewegungssystems

Thermoneutrale und hypertherme Vollbäder sowie hypertherme Peloidbäder und -packungen (in Kombination mit anderen Therapieverfahren wie Krankengymnastik u. a.)

Multilokuläre (z. B. Fibromyalgiesyndrom) und generalisierte Schmerzsyndrome, chronische Polyarthritis

H2S-Bäder, Bewegungsbäder

Komplexes regionales Schmerzsyndrom (M. Sudeck)

CO2-Voll- und -Teilbäder

Atemwegserkrankungen

Verminderte mukoziliäre Clearance

Inhalationen mit NaCl-, NaHCO3- und Ca-Heilwässern in Kombination mit anderen Therapiemaßnamen (z. B. Atmungstherapie)

Hauterkrankungen

Psoriasis, Neurodermitis

H2S-Bäder, NaCl-Bäder, auch in Kombination mit UV (Solephototherapie)

Magen-DarmErkrankungen

Chronische Oberbauchbeschwerden ohne organische Ursache

Multimodale medizinische Kuren, Trinkkuren mit HCO3- (besonders bei Magenbeschwerden) oder Sulfatwässern (Gallen und Pankreasbeschwerden)

Chronische Obstipation

SO4-Wässer

Chronisch-rezidivierende Harnwegsinfekte

Trinkkuren mit CO2- und Ca-haltigen Heilwässern

Harnsteinmetaphylaxe

Je nach Steinart: HCO3-Heilwässer (Harnsäureund Kalziumoxalatsteine), Mg-Heilwässer (kalziumhaltige Steinen), Sulfatwässer (Infektsteine)

»Chronic pelvic pain syndrome«

Multimodale medizinische Kuren (spezielle gynäkologische Anwendungen sind intravaginale Mooranwendungen und Solespülungen)

Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen

Erkrankungen des Bewegungssystems

Erkrankungen der Nieren und ableitenden Harnwege

Gynäkologische Erkrankungen

Funktionelle Syndrome und chronische Erschöpfung

tionärer oder ambulanter medizinischer Kuren angewendet und mit anderen Therapieverfahren (andere physikalische Therapien, Klimatherapie, Ernährungstherapie, ggf. auch mit Psychotherapie und edukativen

Multimodale medizinische Kuren

Maßnahmen) kombiniert. Die Gesamttherapiedauer beträgt 3–6 Wochen. Bäder werden dabei in der Regel dreimal pro Woche, Trinkkuren und Inhalationen einbis zweimal täglich appliziert.

90

3

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

> Medizinische Kuren sind zeitlich begrenzte, ärztlich geleitete ambulante oder stationäre Maßnahmen, die in der Regel wohnortfern durchgeführt werden und die folgenden Therapiekomponenten enthalten: 5 Ortswechsel (Klima- und Milieuwechsel) 5 Balneotherapie 5 Klimatherapie 5 Hydrotherapie 5 Weitere physikalische Therapieformen (Bewegungstherapie, Thermotherapie u. a.) 5 Ernährung 5 Psychologische Betreuung 5 Gesundheitsbildung

ableitenden Harnwege beeinflusst werden. Darüber hinaus kann das Harnsteinbildungsrisiko gezielt gesenkt werden. Inhalationen führen zu einer verbesserten bronchialen Clearance. Balneotherapeutische Anwendungen werden meist im Rahmen komplexer Heilverfahren bzw. Kuren verabreicht.

3.11

Klimatherapie A. Schuh

3.11.1 Definition und Grundlagen Fazit In Mitteleuropa wird unter Balneotherapie die Anwendung natürlicher Heilwässer, Peloide und Heilgase verstanden. Die wichtigsten Anwendungsformen sind Bäder, Trinkkuren und Inhalationen. Wichtige Bäderwirkungen sind Verbesserung er Hautmikrozirkulation, Schmerzlinderung und die Beeinflussung entzündlicher Prozesse besonders in der Haut. Bei Trinkkuren können Funktionsstörungen des Verdauungssystems (Dyspepsie, Gallenblasendyskinesien, Obstipation), des Kreislaufs (Orthostasesyndrom) und der Nieren und

6

> Klimatherapie bezeichnet die Anwendung der natürlichen Wetter- und Klimafaktoren zu therapeutischen Zwecken.

Die verschiedenen Einflussfaktoren der Klimatherapie sind mit ihren wichtigsten positiven Adapationen im Körper in . Tab. 3.22 aufgelistet. Kühle Luft und Wind. Der gezielte Einsatz dieser klimatischen Elemente trainiert das Thermoregulationssystem, führt zu physiologischen Adaptationen im Sinne einer Abhärtungsreaktion und damit zu einer verminderten Infektanfälligkeit, wobei die immunologischen Mechanismen allerdings nur in Ansätzen geklärt sind.

. Tabelle 3.22. Gesundheitsfördernde Faktoren der Klimaelemente in Mitteleuropa (Schuh 2004)

Klimafaktor

Gesundheitsfördernder Effekt

Kühle und Wind

Thermoregulationstraining und Verbesserung des Immunsystems (Abhärtung), Steigerung der Ausdauerleistungsfähigkeit (sog. Training en repos)

Sonnenstrahlung (UV-B)

Hyperplasie der Epidermis (sog. Lichtschwiele), Vitamin-D3-Synthese (Haut, Knochen, Leistungsfähigkeit, Immunsystem, antikanzerogene Wirkung, Blutdruck, Autoimmunkrankheiten), Beeinflussung des Immunsystems

Sichtbares Licht

Synchronisation des Tagesrhythmus, antidepressive Wirkungen

Luftreinheit und Allergenreduktion

Entlastung und Verminderung der Hyperreagibilität von Haut und Atemwegen

Meerwasseraerosol und Meerwasserbäder

Verbesserung der bronchopulmonalen Clearance, Hemmung von Entzündungsprozessen der Haut (in Kombination mit UV-Strahlung)

Sauerstoffmangel

Anregung der Erythropoese, Vertiefung der Atmung, vegetative Reizwirkung (inkl. Blutdrucknormalisierung)

91 3.11 · Klimatherapie

Der Effekt eines Ausdauertrainings kann wesentlich gesteigert wrden, wenn das Training bei kaltem und windigem Wetter stattfindet. Sonnenbestrahlung. Die positiven Effekte der dosierten Sonnenbestrahlung (Heliotherapie, s. u.) beruhen auf Vitamin D3. Die Vitamin-D-Metaboliten sind für die Kalzium- und Phosphathomöostase notwendig. Das biologisch aktive 25(OH)D besitzt wichtige physiologische und gesundheitsfördernde Funktionen. Die Synthese des Prävitamins D3 in der Haut wird nur durch das kurzwellige UV-B angeregt, insbesondere im Wellenlängenbereich zwischen 295 und 296 nm. Durch das längerwellige UV-A wird dagegen kein Vitamin D synthetisiert. Nur etwa 10% des benötigten Vitamin D kann über die Nahrung aufgenommen werden, ca. 90% werden mittels UV-B-Strahlung in der Haut gebildet. UV-Bestrahlung führt auch zu lokalen und systemischen immunmodulierenden Prozessen, wobei höhere Dosen im kurzwelligen Bereich zu einer systemischen Immunsuppression führen. Bei richtig dosierter Nutzung der Sonnenstrahlung kommt es jedoch auch zu einer Immunstimulierung. > Nach Abwägung der gesundheitsfördernden und -belastenden Auswirkungen der UV-Strahlung ist die wohldosierte Nutzung der Sonne bei vernünftigem Sonnenverhalten eindeutig zu befürworten. Sichtbares Licht. Das sichtbare Licht führt über die

Sehbahn und den Nucleus suprachiasmaticus zu einer Suppression der Melatoninfreisetzung. Da das Melatonin an zentraler Stelle an der Steuerung zirkadianrhythmischer Funktionen beteiligt ist, kann hierdurch die physiologische Tagesrhythmik synchronisiert bzw. wiederhergestellt werden. Klinisch relevant ist dieser Effekt in der Behandlung von Schlafstörungen der saisonal abhängigen Depression (SAD). Luftreinheit. Luftreinheit und Abwesenheit von Allergenen in der Luft (Pollen, Schimmelpilze, Exkremente von Hausstaubmilben u. a.) sind ein besonders wichtiger präventiver klimatherapeutischer Faktor bei allergisch bedingten Atemwegs- und Hauterkrankungen. Atemwegserkrankungen jeder Genese wie Asthma, chronisch obstruktive Lungenerkrankung, chronische Erkältungskrankheiten und Bronchitis werden ebenso wie allergisch bedingte Erkrankungen (Atopien) der Haut durch Luftverschmutzung ausgelöst bzw. ver-

3

schlechtert, da Luftschadstoffe die Schleimhäute der Atemwege schädigen und entzünden. Die einzelnen Luftschadstoffe verstärken sich gegenseitig in ihrer Wirkung und interagieren auch mit Allergenen. Luftchemische Therapiefaktoren. Positiv wirkende luft-

chemische Therapiefaktoren sind das therapeutische Aerosol an der Meeresküste und der Sauerstoffmangel im Hochgebirge. Das Meerwasseraerosol entsteht in der Brandungszone der Meeresküste und hat bei Seewindlagen eine relativ große Reichweite (an der Nordsee bis hinter den Dünengürtel). Es ist stark salzhaltig und aufgrund des Tröpfchengrößenspektrums für die Behandlung der oberen und unteren Atemwege geeignet. Die Wirkungen entsprechen der NaCl-Inhalation in der Balneologie (sog. Freiluftinhalatorium; 7 Kap. 3.10). Der O2-Mangel im Hochgebirge regt die Erythropoese an, was zunächst Erythropoietin-vermittelt zu einem Anstieg der Retikulozytenzahl im Blut und nach mehreren Wochen auch zu einem Anstieg der Erythrozytenzahl und des Hämoglobins führt. Hierdurch kann die Ausdauerleistungsfähigkeit erhöht werden. In einzelnen Klimazonen kommen zusätzliche Therapiefaktoren hinzu, die keine Klimafaktoren sind, sich aber sinnvoll in klimatherapeutische Therapiekonzepte integrieren lassen. So bietet sich bei der Klimatherapie an der Küste die Anwendung von Seewasserbädern an, die aufgrund ihres hohen Salzgehaltes synergistisch zur UV-Therapie wirken (Photosoletherapie; 7 Kap. 3.13.5). Darüber hinaus stellt das Seebad einen therapeutisch sinnvollen Kälte- und Bewegungsreiz dar, der die klimatherapeutisch ausgelöste Adaptationsprozesse verstärkt.

3.11.2 Klimaexposition Für eine erfolgreiche klimatherapeutische Behandlung muss der Körper während mehreren Wochen täglich bei exakter Dosierung den biometeorologischen Bedingungen ausgesetzt werden. Dazu werden folgende Klimaexpositionsverfahren eingesetzt: 4 Klimatische Terrainkur 4 Frischluft-Liegekur 4 Heliotherapie 4 See- und Meerbad Klimatische Terrainkur. Die Terrainkur ist das kurmä-

ßig dosierte Gehen auf ansteigenden Wegen oder im

92

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

Sand (am Strand). Die therapeutischen Auswirkungen des Ausdauertrainings und die günstigen Einflüsse des Klimas (kühle Luft, Wind oder UV-Strahlung) ergänzen sich gegenseitig.

3

Frischluft-Liegekur. Die Frischluft-Liegekur wird

zur leichten Kälteexposition während ruhigem Liegen eingesetzt und erlaubt eine gute Dosierung der klimatischen Reize ohne gleichzeitige körperliche Belastung. Heliotherapie. Bei der Heliotherapie werden der ganze

Körper oder erkrankte Teile der Haut der Sonne exponiert. Wichtig für die Erzielung der gesundheitsfördernden und therapeutischen Effekte sowie für die Vermeidung einer Hautschädigung (Sonnenbrand) ist die richtige Dosierung der Sonnenstrahlung. Bei der (historischen) Helio-Thalassotherapie wirken direkter Salzwasserkontakt, die eingeatmeten Aerosole des Salzwassers sowie die UV- und Wärmestrahlung der Sonne zusammen. See- und Meerbad. See- bzw. Meerbäder bedeuten meist einen starken Kältereiz und wirken sich auf Kreislauf und Stoffwechsel aus. Insbesondere kalte Brandungsbäder haben eine intensive Reizwirkung auf den Körper. Zusätzlich zum Kältereiz, der bei richtiger Dosierung zur Abhärtung führt, bedeutet ein Bad im bewegten Meer auch eine kardiopulmonale Belastung.

3.11.3 Wirkungsmechanismen

und Wirksamkeit

Hochgebirgsklima

Die Klimatherapie im Hochgebirge wird in den sog. mittleren Höhen zwischen 1.000 und 3000 m durchgeführt. Das Hochgebirgsklima ist überwiegend reizintensiv, zeichnet sich aber auch durch die entlastende Wirkung der Klimafaktoren, hohe Luftreinheit und Allergenreduktion aus. Hervorragende klimatherapeutische Bedeutung hat dabei die Verminderung der Aeroallergene, insbesondere der Hausstaubmilben, die ab ca. 1600 m Höhe nicht mehr lebensfähig sind. Die milde Hypoxie in den klimatherapeutisch relevanten Höhenlagen aufgrund des verringerten Sauerstoffpartialdruckes der Luft führt zu den bekannten physiologischen Reaktionen und Anpassungsvorgängen des Sauerstoffmangels (Vertiefung der Atmung, phasenhafte Veränderungen von Blutdruck und Herzfrequenz, Steigerung der Drucks in der Arteria pulmonalis, Anregung der Erythropoese). In mittleren Höhen bis ca. 2500 m spielt der Sauerstoffmangel bei Gesunden jedoch noch keine limitierende Rolle. Er bewirkt bei längerem Aufenthalt vielmehr positive gesundheitsfördernde Wirkungen (Höhenadaptation), die im Wesentlichen denjenigen eines Herz-Kreislauf-Trainings entsprechen. Aufgrund der trockenen Luft (der absolute Wassergehalt der Luft beträgt bereits in 2000 m Höhe durchschnittlich nur noch die Hälfte des Tieflandwertes) wird sowohl den Schleimhäuten der Atemwege als auch über die Verdunstung von der Haut im Hochgebirge wesentlich mehr Wasser entzogen als im Flachland. ! Im Hochgebirge ist stets auf eine ausreichende Trinkmenge zu achten.

In Mitteleuropa wird Klimatherapie in den 3 bioklimatischen Zonen durchgeführt: 4 Mittelgebirgsklima 4 Hochgebirgsklima 4 Seeklima

Die UV-Strahlung ist in einer Höhenlage von ca. 2000 m um 60% größer als in Meereshöhe. Im Hochgebirgsklima sind im Herbst und Winter vor allem im UV-B Spektralbereich zwischen 0,29 und 0,35 µm besonders hohe Strahlungsintensitäten zu verzeichnen, was einen ganzjährigen therapeutischen Einsatz der Sonnenstrahlung ermöglicht.

Mittelgebirgsklima

Seeklima

Mittelgebirge umfassen Höhenlagen von 300–1000 m (über dem Meeresspiegel). Die klimatischen Bedingungen sind überwiegend schonend und entlastend. Die Waldgebiete der Mittelgebirge haben ein eigenes Lokalklima (Waldklima), das je nach Baumart, Belaubung, Höhe der Bäume und Dichte des Bestandes zu unterschiedlichsten Verhältnissen führt.

Das reizintensive Klima an der See führt dazu, dass Wärmeabgabe und Abkühlung des Körpers ganzjährig sehr hoch sind. Wegen der höheren Windgeschwindigkeiten ist das Klima der Nordsee wesentlich reizintensiver als das der Ostsee. Die Adaptation an die Kältereize führt vor allem zu Abhärtung und Leistungssteigerung.

93 3.11 · Klimatherapie

Einen weiteren entscheidenden Faktor des Seeklimas stellt die Abnahme der anthropogenen Luftverunreinigungen und der Pollenkonzentration dar. Dabei sind die dem Seewind zugewandten Küsten bevorzugt. An der Ostsee ist hinsichtlich der Pollen- und Schadstoffkonzentrationen die Situation nicht so günstig wie an der Nordsee, da bei Landwind ein erhöhter Polleneintrag verursacht bzw. Luftschadstoffe aus dem Hinterland herangetragen werden. Die ganzjährig vorhandene hohe Luftfeuchtigkeit hat eine für die Atemwege befeuchtende und damit zusätzlich deutlich entlastende Wirkung. Für die intensive Strahlung an der See im Sommer ist vor allem die indirekte Sonnenstrahlung verantwortlich. Sie wird diffus aus dem blauen Himmel gestreut (»Himmelsstrahlung«) und enthält einen sehr großen Anteil der hautwirksamen UV-Strahlung. Zur Therapie einsetzbare UV-Intensitäten sind an der See nur von April bis September vorhanden. Das maritime Aerosol besteht aus Wasser und Seesalz. Es wird bei bewegtem Meer (Produktion von Gischt) in die Luft versprüht. Die Menge des herangetragenen Aerosols hängt von der Häufigkeit des Seewindes sowie vom Salzgehalt des Meerwassers ab und nimmt mit zunehmendem Abstand von der Brandungszone rasch ab. Salz weist eine sekretolytische Wirkung auf, die zu einer Verflüssigung des Schleimes in den Atemwegen führt und den Abtransport erleichtert (7 Kap. 3.12). Unabhängig von Salzgehalt wirkt sich jedoch auch der Wasseranteil des Aerosols bzw. die hohe Luftfeuchtigkeit sehr günstig auf die Atemwege aus, durch die Befeuchtung der Atemwege mit Wassertröpfchen wird der Schleim dünnflüssiger. ä Beispiel Ein 10-jähriger übergewichtiger Junge mit allergischem Asthma kommt zur Klimatherpie auf eine Nordseeinsel. Er ist zu Beginn der Therapie auf die bis zu 5-malige Anwendung inhalativer Bronchospasmolytika pro Tag angewiesen und weist eine erhebliche Minderung der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit auf. Die Klimatherapie besteht initial aus kurzen Expositionen am Strand (zweimal pro Tag), und zwar so bekleidet, dass ein leichtes Gefühl der Kühle (ohne zu frieren!) entsteht. Darüber hinaus werden im täglichen Wechsel Schwimmen in der Schwimmhalle und Gruppengymnastik in der Halle verordnet. Der

6

3

Patient erhält eine leichte Reduktionsdiät. Die Klimaexpositionen werden täglich verlängert. Hinzu kommen Gruppenspiele am Strand. Nach einer Woche werden kurze Seebäder bis zu den Knien hinzugefügt, nach 14 Tagen auch Ganzbäder. Die Klimaexposition wird durch Spiele am Stand und Wanderungen gesteigert. Nach einer vorübergehenden Verschlechterung der Symptomatik nach Ablauf einer Woche bessert sich die Lungenfunktion deutlich. Bei Ende der Therapie nach 4 Wochen werden die Bronchospasmolytika nur noch etwa jeden zweiten Tag benötigt. Der Patient hat 4 kg an Gewicht abgenommen und seine Bewegungsaktivität und kardiopulmonale Leistungsfähigkeit wesentlich gesteigert.

Jod als Wirkfaktor? Der Jodgehalt des Meeres und der Seeluft wird häufig als einer der wesentlichen Wirkfaktoren des Seeklimas angesehen, wobei die möglichen Auswirkungen auf die Schilddrüse bei Hypothyreose im Vordergrund stehen. Allerdings reicht die Jodmenge, die ein Urlauber oder Patient während eines Nord- oder Ostseeaufenthaltes aufnehmen könnte, bei weitem nicht für einen therapeutisch relevanten Effekt aus.

3.11.4 Indikationen Die Indikationen (wie auch die Kontraindikationen) der Klimatherapie im Hochgebirge richten sich nach den spezifischen Klimafaktoren einer Klimazone und nach der Reizstärke der Klimaelemente. 4 Das Mittelgebirgsklima ist vor allem bei multimorbiden und ältere Menschen, deren Regulationsfähigkeiten eingeschränkt sind, zur Stärkung und Verbesserung der Kreislaufregulation indiziert. Es ist auch geeignet für sehr kleine Kinder, die von der Reizintensität in den übrigen Klimazonen überfordert wären. 4 Indikationen für Hochgebirgsklima sind chronisch-rezidivierende Hauterkrankungen (z. B. Psoriasis und Atopien), nicht-allergische Atemwegserkrankungen (z. B. chronische Bronchitis), chronisch-obstruktive Ventilationsstörungen und das nicht-allergisch bedingte »intrinsic« Asthma. In der Höhe werden auch Osteoporose, Trainingsmangel und saisonale Depression erfolgreich behandelt.

94

3

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

4 Die Klimatherapie an Nord- und Ostsee ist indiziert zur allgemeinen Prävention (Funktionsverbesserung zahlreicher Körperfunktionen), zur Behandlung der gesteigerten Infektanfälligkeit der oberen Atemwege sowie zur Therapie und Rehabilitation von chronischer Bronchitis und chronisch obstruktiver Bronchitis sowie bei Hauterkrankungen (z. B. Psoriasis und Neurodermitis).

Erkrankungen. Die Klimatherapie wirkt sich positiv auf die vegetative Regulation und die Psyche aus. Da sie auch starke Belastungsfaktoren enthält, sind Kontraindikationen zu beachten.

3.12 3.11.5 Kontraindikationen 4 Kontraindikationen für eine Klimatherapie im Mittelgebirge sind alle Formen von Atopien wie allergisches Asthma, Heuschnupfen und Neurodermitis, da im Mittelgebirge Allergene in Form von Pollen, Schimmelpilzen und Hausstaubmilben gehäuft vorkommen. 4 Neben Erkrankungen wie lichtprovozierbaren Dermatosen und Lupus erythematodes sind grundsätzlich sind alle diejenigen Erkrankungen für das Hochgebirge kontraindiziert, bei denen die Sauerstoffsättigung des arteriellen Blutes bereits im Tiefland reduziert ist. Weitere allgemeine Kontraindikationen gegen einen Aufenthalt im Hochgebirge stellen u. a. der Zustand nach schweren Erkrankungen sowie ausgeprägte maligne Erkrankungen dar. 4 Schwere und konsumierende Erkrankungen sind generell für eine Klimatherapie an der Nordsee kontraindiziert. Unter gleichzeitiger hochqualifizierter medizinischer Betreuung ist eine Klimatherapie an der Ostsee jedoch u. U. sinnvoll. Fazit Als Klimatherapie wird die therapeutische Nutzung natürlicher Klimafaktoren bezeichnet. Dabei handelt es sich im wesentlichen um Faktoren wie Kälte, Sonnenstrahlung (UV und sichtbares Licht), Luftreinheit und Allergenreduktion sowie Luftzusammensetzung (Sauerstoffmangel und Meerwasseraerosol). Hinzu kommen spezielle Anwendungen wie z. B. Meerwasserbäder. In Mitteleuropa wird die Klimatherapie in den Klimazonen Hochgebirge, Mittelgebirge (Waldklima) und Meeresküste durchgeführt. Wichtige Indikationen sind Haut-, Atemwegs- und funktionelle Herz-Kreislauf-

6

Inhalationstherapie Chr. Gutenbrunner

3.12.1 Definition und Grundlagen > Inhalationstherapie ist definiert als das Einbringen von zerstäubten Medikamenten in die Atemwege über die Atemluft. Das Gemisch von Flüssigkeitströpfchen wird bei feintröpfiger Verteilung als Aerosol, bei grobtröpfiger Verteilung als Nebel bezeichnet. Die wichtigsten Therapieziele sind Mukolyse und Entzündungshemmung.

Inhalationen werden auch in anderen Fächern (Innere Medizin, Pulmologie) eingesetzt. Traditionell wird die Inhalationstherapie auch der Physikalischen Therapie zugerechnet. Die Inhalationstherapie mit natürlichen Aerosolen und Heilwässern gehört zur Balneologie (7 Kap. 3.10) bzw. medizinischen Klimatologie (7 Kap. 3.11). Die Inhalationstherapie in der Physikalischen Medizin und Balneologie zielt im Gegensatz zur Inhalationstherapie in der Inneren Medizin weniger auf die Resorption von Medikamenten, vielmehr sollen die Inhalate die Schleimhautoberfläche der Atemwege beeinflussen.

3.12.2 Techniken Für die therapeutische Wirksamkeit der Inhalationstherapie ist nicht nur die Zusammensetzung des Inhalats, sondern auch die Inhalationstechnik entscheidend. Ebenso ist es wichtig, an welcher Stelle der Atemwege das Aerosol auf die Schleimhäute gelangt. Diese sog. Deposition wird beeinflusst von 4 der Anatomie der Atemwege, 4 der Sedimentationsrate des Aerosols und 4 der Atemtechnik. Funktionelle Anatomie der Atemwege. Die Atemwege

verzweigen sich dichotom bis in die Alveolen. An den Aufteilungsstellen entstehen naturgemäß Verwirbelun-

95 3.12 · Inhalationstherapie

3

. Abb. 3.19. Kumulierte Ablagerung inhalierter Aerosole in den einzelnen Abschnitten des Respirationstraktes in Abhängigkeit von der Tröpfchengroße des inhalierten Aerosols. (Nach Rügheimer, aus Gutenbrunner und Hildebrandt: Handbuch der Balneologie und Medizinischen Klimatologie. Springer 1998)

gen des Luftstroms, die die Deposition von Aerosolen an diesen Stellen fördern. Auch in den oberen Luftwegen (Nase, Rachenraum, Luftröhre) werden Aerosole vor allem dort abgelagert, wo Umlenkungen des Luftstroms erfolgen (z. B. an der Rachenhinterwand). Sedimentationsrate. Die Sedimentationsrate von Ae-

rosolen hängt überwiegend von deren Tröpfchengröße ab: Größere Tröpfchen sinken schneller ab als kleine. Ab einer Tröpfchengröße von unter 0,5 μm geht die Sedimentationsrate gegen Null. Auch die Stärke der Sedimentation an den Umlenkstellen des Luftstroms in den Atemwegen hängt von der Tröpfchengröße ab: Wegen ihrer größeren Trägheit sedimentieren größere Tröpfchen an diesen Stellen stärker, was ein wesentlicher Grund dafür ist, dass grobtröpfige Aerosole kaum bis in die Alveolen gelangen. Atemtechnik. Auch die Atemtechnik beeinflusst die Sedimentationsrate und den Sedimentationsort von Inhalaten: Eine schnelle Atmung verkürzt die Verweilzeiten des Aerosols in den Luftwegen, sodass die Sedimentation nicht zum Tragen kommen kann. Darüber hinaus erhöht die Geschwindigkeit des Luftstroms die Sedimentation an den anatomischen Umlenkstellen des Luftstroms. Schließlich ist bei schneller flacher Atmung der Anteil der Atemluft, die die für den Gasautausch relevanten Lungenabschnitte nicht erreicht (Totraum-

ventilation) größer, sodass Aerosole nur zu einem sehr geringen teil bis in die tieferen Abschnitte des Respirationstraktes gelangen können. Bei Asthma und anderen obstruktiven Lungenerkrankungen ist die Sedimentationsrate zusätzlich vermindert, sodass ggf. eine bronchodilatatorische Vorbehandlung vor der Inhalationstherapie notwendig ist. p Patienten müssen bei der Inhalationstherapie daher angeleitet werden, langsam und tief zu atmen. Wichtig ist auch eine aufrechte Sitzhaltung am Inhalationsgerät, um die Zwerchfellatmung nicht zu behindern.

Die genannten Faktoren führen dazu, dass grobtröpfige Aerosole (Tröpfchendurchmesser: 4–10 μm) vorwiegend im Nasen-Rachen-Raum und Aerosole mit mittleren Tröpfchengrößen (Durchmesser: 2–4 μm) in den Bronchien abgelagert werden. Feintropfige Aerosole (Tröpfchendurchmesser: ca. 1–2 μm) können bis in die Alveolen gelangen und dort wirksam werden (. Abb. 3.19). p Bei der Inhalation von kortisonhaltigen Aerosolen kommt es gelegentlich zu unerwünschten Wirkungen im Nasen-Rachen-Raum (z. B. Pilzinfektionen). Daher soll die Depositionsrate des Inhalates in diesem Bereich so gering wie möglich gehalten werden. Dies kann dadurch erreicht 6

96

3

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

. Abb. 3.20. Schematische Darstellung eines Prallkopfverneblers und eines Ultraschall-Inhalationsgerätes. (Nach Dirnagl; aus Gutenbrunner und Hildebrandt: Handbuch der Balneologie und Medizinischen Klimatologie. Springer 1998)

werden, dass das Inhalat zunächst in einen sog. Spacer gegeben wird, einen vorgeschalteten Raum, in dem die grobtropfigen Aerosolanteile sedimentieren, sodass nur die feintropfigen Aerosolanteile inhaliert werden.

Das Tröpfchengrößenspektrum ist ein wichtiges Kriterium für die Auswahl geeigneter Inhalationsgeräte. Dabei sind 2 unterschiedliche Prinzipien der Aerosolerzeugung gebräuchlich (. Abb. 3.20): 4 Prallkopfvernebler erzeugen das Aerosol dadurch, dass durch eine Düse der Luftstrom über die Spitze einer Kapillare geführt wird. An der Abrisskante entstehen Flüssigkeitströpfchen, die gegen die Wand des Inhalators prallen. Dort scheiden sich die größeren Tröpfchen ab, die feinen gelangen über ein Schlauchsystem zum Patienten. Trotz dieser Abscheidung erzeugen Prallkopfvernebler grundsätzlich grobtröpfigere Nebel und eignen sich daher zur Inhalationstherapie des Nasen-Rachen-Raums und der oberen Bronchien. 4 Bei den Ultraschallverneblern wird unterhalb der zu vernebelnden Flüssigkeit ein Schwinger angebracht, der an der Flüssigkeitsoberfläche Schwingungen erzeugt, die zur Abscheidung von Tröpfchen führt. Diese werden wiederum durch ein Schlauchsystem zum Patienten geführt. Ultraschallvernebler sind zur Erzeugung feintröpfiger Nebel und zur Behandlung der kleinen Bronchien sowie der Alveolen notwendig. Die Dampfinhalation ist naturgemäß nicht zur Inhalation von Elektrolytlösungen geeignet, da sich Salze bei

den üblichen Temperaturen nicht verdampfen lassen. Diese Technik dient also nur zur Inhalation von ätherischen Ölen. p Damit das Aerosol nicht vor der Einatmung entweichen und z. B. Augenreizungen hervorruft, ist besonders auf die patientenseitigen Anschlusstücke der Inhalationsgeräte zu achten: Verwendet werden entweder Mundstücke, die mit den Lippen umschlossen werden können, oder – zur Behandlung des Nasenraums – spezielle Nasenanschlussstücke, die der Nasenöffnung angepasst sind und paarige Austrittsöffnungen aufweisen (. Abb. 3.21). Inhalationsmasken, die gleichzeitig Mund und Nase umschließen, gewährleisten in der Regel das verlustfreie Einbringen des Aerosols im Gesicht nicht und sollten vermieden werden.

. Abb. 3.21. Nasenanschlussstück zur Inhalationsbehandlung des Nasenraums

97 3.12 · Inhalationstherapie

3

. Abb. 3.22. Schema der Wirkungsmöglichkeiten von Elektrolyten auf die Struktur des Bronchialschleims. Die verschiedenen Typen der Verbindungen der Mukopolysaccharidketten sind mit kleinen Pfeilen gekennzeichnet. Die Angriffspunkte balneologischer Inhalate sind in Ovalen eingezeichnet. Nähere Erläuterungen siehe Text. (Nach einer Vorlage von Ziment, verändert)

! Inhalationsgeräte sind nach jeder Inhalationsbehandlung gründlich zu desinfizieren. Dies gilt auch für die Schlauchsysteme.

3.12.3 Inhalate Die wichtigsten in der Physikalischen Medizin und Balneologie verwendeten Inhalte enthalten Kochsalz (Natriumchlorid), Natriumhydrogenkarbonat, Iodid oder Kalzium. Die Hauptwirkungen dieser Elektrolyte auf den Bronchialschleim sind in . Abb. 3.22 schematisch dargestellt. 4 Hydrogenkarbonat führt zu einer Senkung der Sputumviskosität, indem die im Bronchialschleimhaut enthaltenen Proteasen aktiviert und die Desoxyribonukleinsäuren, die an der Mukusstrukturbildung beteiligt sind, gehemmt werden. 4 Natriumchlorid bewirkt einerseits eine osmotische Schleimverflüssigung mit resultierender Dissoziation der Nukleoproteinkomplexe. Andererseits werden die Kalziumbrücken zwischen den Mukopolysacchariden aufgebrochen, in dem die bivalenten Kalziumionen durch die monovalenten Natriumionen ersetzt werden. 4 Iodid besitzt ebenfalls sekretolytische Eigenschaften. 4 Kalzium hat darüber hinaus entzündungshemmende Eigenschaften.

! Bei der Inhalation von Kochsalzlösungen kann es bei empfindlichen Patienten initial zu bronchospastischen Reaktionen kommen, weshalb Inhalationen (insbesondere die ersten einer Serie) stets unter Aufsicht erfolgen sollten.

Natriumhydrogenkarbonat-Inhalationen (z. B. Emser Sole) führen nachweislich zu einer stärkeren Erhöhung der bronchialen Clearance als gleichkonzentrierte Kochsalzinhalationen. Selbstverständlich können auch alle bronchial wirksamen Medikamente in der Inhalationstherapie im Rahmen der Physikalischen Medizin appliziert werden (vor allem Broncholytika, aber auch entzündungshemmende Medikamente und Antibiotika). Die Wirkungen und Dosierung dieser Substanzen sind den Lehrbüchern der Pharmakologie und Inneren Medizin zu entnehmen. Meerwasserinhalation Auch das Meerwasser eignet sich zur Inhalationsbehandlung. Im Bereich der Brandungszone der Meeresküsten entsteht ein Aerosol, das sich aufgrund seiner Tröpfchengrößenspektrum gut zur Inhalationstherapie eignet. Zusammen mit den anderen therapeutischen Faktoren der Klimatherapie an der Küste (insbesondere Nord- und Ostsee) zeigt es bei Patienten mit chronischen Bronchitiden und Rhinitiden sowie bei Asthma bronchiale gute Wirkungen.

98

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

3.12.4 Indikationen, Kontraindikationen

und Dosierung

3

Die wichtigsten Indikationen für eine Inhalationstherapie in der Physikalischen Medizin und Balneologie sind: 4 Chronische Rhinitiden und Sinusitiden 4 Chronische Bronchitis 4 Asthma bronchiale

. Tabelle 3.23. Einteilung der optischen Strahlung

Wellenbereich

Abkürzung

Wellenlänge

Kurzwelliges UV

UV-C

200–280 nm

Mittelwelliges UV

UV-B

280–320 nm

Langwelliges UV

UV-A UV-A2 UV-A1

320–400 nm 320–340 nm 340–400 nm

Sichtbares Licht

Kontraindikationen ergeben sich aus den Kontraindikationen der inhalierten Substanzen. Auf die Gefahr bronchospastischer Reaktionen bei der Kochsalzinhalation wurde bereits oben hingewiesen. Dosierung: Inhalationen werden in der Regel zweimal täglich 20 min durchgeführt. Bei Medikamentenzugabe müssen die jeweiligen Dosierrichtlinien des betreffenden Medikamentes beachtet werden. Fazit Die Inhalation mit balneolgischen Inhalaten hat eine Reihe gut begründeter Wirkungen auf das Bronchialsystem und kann insbesondere zur Verflüssigung des Bronchialschleims und zur Verbesserung der Bronchialclearence beitragen. Geeignet sind insbesondere Natriumchlorid und Natriumhydrogenkarbonat sowie Kalzium und Iodid. Wichtig ist eine adäquate Inhalationstechnik, da Dispositionsrate und -ort der Inhalate stark von der Tröpfchengröße und der Atemtechnik abhängig sind.

3.13

Phototherapie M.O. Armbruster, M. Schimmer, C.A. Sander

3.13.1 Definition und Grundlagen > Unter der Phototherapie versteht man die Behandlung der Haut mit Licht bestimmter Wellenlängen. Dabei bedient man sich künstlicher Lichtquellen, insbesondere UV-Lampen. In der Therapie werden aber auch Infrarotstrahlung und sichtbares Licht eingesetzt, wenngleich mit anderer Zielsetzung. Im weiteren Sinne gehört auch die Heliotherapie, die das natürliche Sonnenlicht nutzt (7 Kap. 3.11), zur Lichttherapie.

Infrarot

400–800 nm IR

800 nm–1 mm

Optische Strahlung umfasst den Wellenlängenbereich von 200 nm bis etwa 1 mm. Sie gliedert sich in (. Tab. 3.23): 4 UV-Strahlung 4 Sichtbares Licht 4 Infrarotstrahlung Dieses Kapitel beschränkt sich auf die therapeutische Anwendung des UV-Lichtes (Wellenlänge: 200–400 nm). Optische Strahlung führt im Gegensatz zur kurzwelligen Röntgen- oder Gammastrahlung als Primärreaktion nicht zur Ionisierung von Molekülen. Es können jedoch Radikale durch photobiologische Prozesse entstehen. Das sichtbare Licht (Wellenlänge: 400-800 nm) kann über eine über den Nucleus suprachiasmaticus getriggerte Suppression der Melatoninausschüttung die natürliche Tagesrhythmik synchronisieren und wird mit Erfolg zur Behandlung der saisonal abhängigen Depression (SAD) eingesetzt. Infrarotstrahlung (Wellenlänge: 800 nm–1 mm) kann zur Wärmetherapie eingesetzt werden. Ihre Wirkung ist allerdings nur oberflächlich. Photobiologische Wirkungen an der Haut werden hauptsächlich im Ultraviolettbereich, zu geringerem Teil durch sichtbares Licht vermittelt. 4 Therapeutisch angewendet wird vor allem UV-Aund -B-Strahlung. Diese wird bei den modernen UV-Therapiegeräten meist durch Gasentladung erzeugt. Hierfür stehen grundsätzlich zwei Typen zur Verfügung. 5 Fluoreszenzstrahler: Diese sind Niederdruckstrahler mit langen Glasröhren, worin die UVStrahlung durch Gasentladung entsteht und durch eine fluoreszierende Schicht an der Innenseite des Glaskolbens modifiziert wird. Sie

99 3.13 · Phototherapie

werden für die Erzeugung von Breitband-UVB und -UV-A, sowie niedrigdosierte UV-A1 und Schmalspektrum-UV-B (311 nm) verwendet. Der Vorteil liegt in der Möglichkeit der gleichmäßigen Ausleuchtung größerer Flächen in Ganzkörperbestrahlungskabinen. 5 Hochdruckstrahler: Diese sind meist Hochdruckquecksilberlampen mit Metallhalogenidzusätzen und weiteren Metallsalzen. Entsprechend der Filterung können sie sowohl als UVB- als auch als UV-A-Quellen eingesetzt werden. Der Vorteil liegt hier in der hohen Strahlungsintensität, die die Applikation von hohen Dosen in kurzen Zeiträumen zulässt. 4 UV-C-Licht wird durch die Ozonschicht gefiltert und trifft nicht auf die Erde. 4 Infrarotlicht führt vorwiegend zu einer Erwärmung der Haut.

3

Kombination mit Teeranwendungen schon 1925 standardisiert wurde. Mit der technischen Entwicklung der Halogenidhochdruckstrahler wurden Emissionsmaxima etwa zwischen 300 und 320 nm erreicht (selektive UV-Therapie, SUP). Limitiert wurde die Behandlung allerdings durch das UV-induzierte Erythem, das insbesondere bei 300 nm auftritt. Es erscheint nach 3–5 h und erreicht ein Maximum nach 12–24 h. Bahnbrechend war jedoch ein völlig neuer Ansatz, nachdem 1981 das Aktionsspektrum für die Phototherapie der Psoriasis im langwelligen Bereich des UV-B bei etwa 313 nm gefunden wurde. Darauf abgestimmt wurde ein Schmalspektrum-Fluoreszenzstrahler mit einem Emissionsspektrum von 311–313 nm entwickelt (»311-nm-Schmalspektrum-Therapie«) bezeichnet. Der Vorteil liegt in der geringeren Erythemerzeugung bei besserer oder zumindest gleich guter Wirksamkeit. Indikationen. Neben der Psoriasis kommt die UV-B-

3.13.2 Wirkungsmechanismen

und Wirksamkeit Letztendlich sind die genauen Wirkungsmechanismen nicht bekannt, es wurden jedoch folgende Theorien aufgestellt: 4 Modulation der Abwehrzellen und dadurch immunsuppressive Funktion (Funktionsverlust der antigenpräsentierenden Langerhans-Zellen in der Epidermis und Induktion von Interleukin-10). 4 Die Verminderung der T-Zellen kann die Reduktion des entzündlichen Infiltrats bei Psoriasis und der Dermatitis atopica erklären. 4 Hemmung der Kollagensynthese durch Wirkung auf dermale Fibroblasten (insbesondere UV-A1). Dies könnte die positive Wirkung bei der Sklerodermie und dem Lichen sclerosus et atrophicus erklären. 4 Stimmungsaufhellende und roborierende Funktion. 4 Eingriff in den Kalziumstoffwechsel durch Vitamin-D-Biosynthese (im Bereich des UV-B bei etwa 300 nm).

3.13.3 UV-B-Therapie Die Phototherapie mit UV-B-Strahlen ist abgeleitet von der Behandlung der Psoriasis mit Sonnenlicht, die in

Therapie auch bei der atopischen Dermatitis, dem renalen und hepatischen Pruritus, im Frühstadium der Mykosis fungoides und im Rahmen einer »Abhärtung« (Lichtgewöhnung durch ansteigende Lichtdosen) bei polymorpher Lichtdermatose zur Anwendung. Dosierung. Die UV-B-Behandlung sollte drei- bis fünfmal pro Woche durchgeführt werden. Die Steigerungsrate hängt von der Wirkung der vorangegangenen Bestrahlung ab und kann zwischen 10 und 40% variieren.

3.13.4 UV-A-Therapie Durch Modifizieren der Hochdruck-Halogenidstrahler konnten 1981 erstmals Strahlungsquellen mit einer Emission zwischen 340 und 400 nm (UV-A1) hergestellt werden. Etwa 10 Jahre später fand man heraus, dass mit einer hochdosierten Ganzkörperbestrahlung akute generalisierte Schübe einer atopischen Dermatitis durchbrochen werden konnten. UV-A besitzt eine etwa 1000-fach geringere Erythemwirksamkeit als UV-B. ! Bei hellhäutigen Patienten (Hauttyp I und II) können neben dem obligaten Wärmeerythem dosisabhängige persistierende UV-A-Erytheme auftreten. Diese bereiten in der Regel keine Missempfindungen. Im Falle eines störenden Brennens sollte die Dosis jedoch bis zum subjektiven Wohlempfinden reduziert werden.

100

Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

Indikationen. Neben der atopischen Dermatitis bietet die UV-A-Behandlung sehr gute Erfolgsaussichten bei sklerosierenden Hauterkrankungen (z. B. Morphea, Lichen sclerosus et atrophicus, sklerodermiforme Graftversus-host-Erkrankung).

3

Dosierung. Die Behandlungsfrequenz sollte ebenfalls

etwa drei- bis fünfmal pro Woche sein.

3.13.5 Photosole > Bei der Photosoletherapie handelt es sich um eine Form der Balneotherapie, bei der im Anschluss an ein Vollbad in einer Salzlösung unterschiedlicher Konzentrationen (5–25% Sole) mit UV-B bestrahlt wird (7 Kap. 3.10). Auch eine gleichzeitige Anwendung von Vollbad und UV-BBestrahlung ist möglich.

Der Wirkungsmechanismus der zusätzlichen Soletherapie besteht aus einer Veränderung der optischen Hornhauteigenschaften mit zunehmender UV-Durchlässigkeit sowie einer Beeinflussung von Entzündungsmediatoren im Sinne der Mitosehemmung (7 Kap. 3.10). Die Photosoletherapie führt im Vergleich zur Phototherapie ohne Bäderbehandlung zur beschleunigten Abheilung der Psoriasis. Indikationen. Die Hauptindikation stellt die Psoriasis vulgaris, gefolgt vom atopischen Ekzem dar, wobei die Konzentration der Sole im Falle der Psoriasis etwa 15% und bei der Neurodermitis etwa 5% betragen soll.

3.13.6 Photochemotherapie > Bei der Photochemotherapie (PUVA) wird eine lichtsensibilisierende Substanz, meist 8-Methoxypsoralen, oral oder topisch appliziert und eine anschließende UV-A-Bestrahlung durchgeführt.

Daraus resultiert eine gezielte phototoxische Reaktion mit Hemmung der Entzündungsreaktionen in der Haut. Die topischen Anwendungen von 8-Methoxypsoralen gliedern sich in Vollbäder, Teilbäder und Creme-Anwendungen. Der therapeutisch wirksamste Spektralbereich liegt zwischen 320 und 340 nm (UVA2).

Indikationen. Hauptindikationen der PUVA-Therapie

sind die Psoriasis vulgaris und kutane T-Zell-Lymphome. Weitere Indikationen sind: 4 Pityriasis lichenoides 4 Pruritus 4 Prurigo 4 Morbus Grover 4 Systemische Sklerodermie 4 Urticaria pigmentosa 4 Vitiligo

3.13.7 Voraussetzungen und Richtlinien Allgemeine Vorraussetzungen und Richtlinien zur Durchführung einer Phototherapie sind 4 Guter Allgemeinzustand des Patienten. 4 Aufklärung über Therapieablauf, mögliche Nebenwirkungen und Langzeitfolgen mit schriftlicher Einverständniserklärung. 4 Vor Beginn der Lichttherapie ist es empfehlenswert, die individuelle Erythemempfindlichkeit (minimale Erythemdosis, MED) zu ermitteln. Diese wird durch Anlegen einer Lichttreppe mit dem zur Therapie vorgesehenen Gerätetyp an normalerweise nicht belichteter Haut (unterer Rücken) bestimmt. Die MED ist definiert als die Strahlendosis, die ein gerade noch sichtbares Erythem hervorruft. Die Ablesung erfolgt 12–24 h nach der Bestrahlung. In der Regel beginnt man mit einer Strahlendosis, die 70% der MED entspricht. 4 Genaue Dokumentation der applizierten Strahlendosis mit Berechnung der Kumulativdosis. 4 Regelmäßige Überwachung des Patienten durch einen Arzt – z. B. wöchentlich mit Dokumentation des Therapieerfolgs und unerwünschter Wirkungen. 4 Tragen einer Lichtschutzbrille, sowie Abdecken der Genitalregion.

3.13.8 Nebenwirkungen Die häufigsten Nebenwirkungen der UV-Bestrahlung sind: 4 Sonnenbrandähnliche Erytheme, die bis zur blasigen Ablösung der Haut führen können 4 Sommersprossenartige Pigmentierung, sog »freckling«, vor allem am Stamm

101 3.14 · Diagnostische und therapeutische Lokalanästhesie

4 Bei fehlendem Augenschutz Konjunktivitis oder Keratitis, bei chronischer Belastung sogar Katarakt 4 Provokation von genuinen Photodermatosen – vorwiegend der polymorphen Lichtdermatose 4 Immunsuppression und damit Provokation einer Herpesinfektion 4 Lichtinduzierte Hautalterung 4 Karzinogene Wirkung

3.13.9 Kontraindikationen Absolute Kontraindikationen sind: 4 Gendefekte mit einer erhöhten Lichtempfindlichkeit oder einem erhöhten Hautkrebsrisiko – zum Beispiel Xeroderma pigmentosum 4 Cockayne-Syndrom und Bloom-Syndrom 4 Autoimmunerkrankungen, wie z. B. Lupus erythematodes oder Dematomyositis 4 Akute Herpesvirusinfektionen oder schwere bakterielle Hautinfektionen 4 Porphyrien und andere blasenbildende Dermatosen Bei folgenden relativen Kontraindikationen sind eine strenge Indikationsstellung und besondere Vorsichtsmaßnahmen notwendig: 4 Zerebrale Anfallsleiden 4 Unvermeidbare Einnahme von photosensibilisierenden Medikamenten 4 Maligne Hauttumoren in der Eigenanamnese 4 Erhöhte Lichtempfindlichkeit 4 Dysplastische Nävuszellnävi 4 Schwere Herzkreislauferkrankungen 4 Gravidität 4 Katarakt 4 Immunsuppression bzw. Chemotherapie Fazit Die Phototherapie wird bei entzündlichen Hautkrankheiten allein oder ergänzend eingesetzt und ermöglicht beispielsweise die Reduktion topischer Kortikoide. Sie wird auch bei bestehender Lichtallergie angewendet. Die Indikation zur UV-Bestrahlung sollte unter strenger Abwägung von Nutzen und Risiken erfolgen und setzt eine spezifische

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Weiterbildung voraus. Der Einsatz von UV bei Osteoporose (Vitamin-D-Stoffwechsel) wird in 7 Kap. 3.11 beschrieben. Weitere therapeutische Strahlenarten sind das sichtbare Licht und die Infrarotstrahlung, die zur Behandlung der saisonal abhängigen Depression bzw. zur oberflächlichen Wärmebehandlung eingesetzt werden.

3.14

Diagnostische und therapeutische Lokalanästhesie A. Gehrke

3.14.1 Definition und Grundlagen > Unter Lokalanästhesie wird die Infiltration von schmerzhafte Gewebestrukturen mit Lokalanästhetika verstanden. Sie kann sowohl zu diagnostischen als auch zu therapeutischen Zwecken genutzt werden. Ziel der Infiltrationstherapie mit Lokalanästhetika ist die lokale Ausschaltung des nozizeptiven afferenten Inputs aus gestörten Gewebsabschnitten zum Hinterhorn des Rückenmarks bzw. die Unterbrechung der vegetativsympathischen Efferenz in den entsprechenden Gewebsbereich. Beide Elemente bewirken eine Abschwächung oder Beseitigung der symptombestimmenden Nozireaktion.

Sowohl bei der diagnostischen als auch bei der therapeutischen Lokalanästhesie werden Lokalanästhetika in schmerzhafte Regionen appliziert oder an Nerven, Nervenwurzeln oder Spinalganglien gebracht. Ziel ist immer die Schmerzausschaltung, und zwar 4 um die Bedeutung einer schmerzhaften Struktur im Schmerzgeschehen zu erkennen und, wenn möglich, als ursächlich zu identifizieren (»diagnostische Lokalanästhesie«) oder 4 einen Schmerzherd auszuschalten und im optimalen Fall den Circulus vitiosus der Schmerzchronifizierung zu unterbrechen (»therapeutische Lokalanästhesie«). Beides kann sowohl im Gebiet der Schmerzursache selbst, z. B. an Ligamenten, Gelenken oder Muskelansätzen, oder aber im Verlauf von schmerzleitenden Strukturen (Nervenwurzeln, periphere Nerven) bzw.

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Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

von beteiligten vegetativen Zentren (Spinalganglien) erfolgen. Im Sinne einer Reflextherapie können auch reflektorisch zuzuordnende Hautareale (Head-Zonen) infiltriert werden, und zwar unter der Vorstellung, reflektorisch auf den Schmerzherd einzuwirken (sog. Counter-Irritation). Lokalanästhetika sind Medikamente mit denen die Schmerzleitung wirksam gehemmt bzw. unterbunden werden. Obwohl die Hemmung der Erregungsleitung auch andere Zellen (Reizleitungssystem des Herzens, ZNS) betrifft, können Lokalanästhetika bei direkter Injektion ins Gewebe nebenwirkungsarm und lokal begrenzt eingesetzt werden. Voraussetzung ist eine akkurate Injektionstechnik. ! Intravasale, neurolytisch wirkende intraneurale sowie intrathekale Injektionen sind zu vermeiden.

Für die diagnostische Lokalanästhesie eignen sich überwiegend rasch wirksame Lokalanästhetika. Für die Therapie, insbesondere für Nervenblockaden, können länger wirksame Medikamente verwendet werden. Einen Überblick über Wirkungseintritt und Wirkungsdauer gibt . Tab. 3.24. Zur Wirkungsverlängerung können bei der therapeutischen Lokalanästhesie auch Kortison-Kristallsuspensionen zugesetzt werden.

3.14.2 Diagnostische Lokalanästhesie

(DLA) Trotz differenzierter klinisch-funktioneller Untersuchungstechnik (7 Kap. 2.2.1) lässt sich nicht immer eindeutig differenzieren, welche anatomische Struktur einen Schmerz am Bewegungsapparat auslöst. Dies gilt insbesondere, wenn Schmerzen länger andauern und durch Fehlbelastung weitere Strukturen in das Schmerz-

. Tabelle 3.24. Latenz und Wirkungsdauer einiger gebräuchlicher Lokalanästhetika

Lokalanästhetikum

Wirkungseintritt

Wirkungsdauer

Procain Lidocain Mepivacain Prilocain Bupivacain

Mittel Schnell Schnell Schnell Mittel!

0,5– 1 h 1–2 h 1,5–2 h 1–2 h 4 (8)–16 (20) h

geschehen mit einbezogen sind. Darüber hinaus ist es bei mulitlokulären Beschwerden oft schwierig, die Bedeutung einer schmerzhaften Struktur im Gesamtbild abzuschätzen. In diesen Fällen kann es sinnvoll sein, einzelne schmerzauslösende Strukturen mittels Lokalanästhesie vorübergehend auszuschalten, um aus der resultierenden Symptomänderung die Bedeutung der ausgeschalteten Struktur im Schmerzgeschehen abschätzen zu können. Die Injektionstechnik entspricht hierbei der der therapeutischen Lokalanästhesie (s. u.). ä Beispiel Ein 53-jähriger Lehrer gibt an, er könne seiner Lieblingsfreizeitbeschäftigung, dem Wandern, nicht mehr nachgehen, seitdem er starke Schmerzen in der rechten Leiste verspüre. Diese würden insbesondere beim Bergaufgehen auftreten sowie beim Treppensteigen, zeitweise in einer Heftigkeit, dass er ein Gefühl des Versagens des rechten Beines habe. Bei der klinischen Untersuchung können keine ursächlichen pathologischen Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule festgestellt werden. Die bildgebende Diagnostik schließt eine Wurzelreizung bzw. Wurzelkompression der rechten Nervenwurzeln L3 und L4 aus. Die Untersuchung des Hüftgelenkes ergibt klinisch keinen Hinweis auf eine manifeste Koxarthrose bzw. eine Arthritis des Hüftgelenkes. Ein Leistenbruch kann ebenfalls ausgeschlossen werden. Auffällig ist lediglich die Tatsache, dass die passiv durchgeführte Außenrotationsbewegung im rechten Hüftgelenk endgradig sehr schmerzhaft ist, des Weiteren die maximale Flexion in Adduktion des Hüftgelenkes sowie ansatzweise die Beugung des Hüftgelenkes gegen den Widerstand der Untersucherhand. Unter der Verdachtsdiagnose einer Bursitis iliopectinea erfolgt eine diagnostische Lokalanästhesie des Schleimbeutels zwischen dem M. iliopsoas und der Hüftgelenkskapsel mit 10 ml eines Lokalanästhetikums. Die Prüfung der schmerzauslösenden Bewegungen unmittelbar nach der Injektion und 3 h später ergibt eine vollkommene Beschwerdefreiheit. Somit bestätigt die diagnostische Lokalanästhesie die klinische Verdachtsdiagnose. Als therapeutische Konsequenz erfolgt eine zweite Infiltration der Bursa iliopectinea mit einem Lokalanästhetikum unter Zusatz eines Kortikoids. Die Schmerzen in der Leiste klingen innerhalb einer Woche vollständig ab und treten auch im weiteren Verlauf nicht mehr auf.

103 3.14 · Diagnostische und therapeutische Lokalanästhesie

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3.14.3 Therapeutische Lokalanästhesie

(TLA) Die therapeutische Lokalanästhesie hat ihren festen Platz in der Schmerztherapie, insbesondere bei Schmerzen am Bewegungsapparat. Grundprinzip ist, durch Injektion eines Lokalanästhetikums den Schmerzherd auszuschalten, um den schmerzunterhaltenden Circulus vitiosus zu unterbrechen. In der Regel muss die therapeutische Lokalanästhesie mit physiotherapeutischen Methoden kombiniert werden. Neuraltherapie Die therapeutische Lokalanästhesie wird auch als Neuraltherapie bezeichnet. Das ursprüngliche Konzept der Neuraltherapie (nach Huneke) geht von der Möglichkeit aus, auch Störungen an inneren Organen beeinflussen zu können, und zwar entweder am Ort der Störung (»Segmenttherapie«) oder in Irritationszonen der zugeordneten vegetativen Fasern (»Behandlung im Störfeld«).

Das Lokalanästhetikum wird in Abhängigkeit vom Befund appliziert: 4 Bei oberflächlichen Schmerzen: in die Haut (Quaddeltherapie) 4 Bei Befunden an Muskulatur und an bindegewebigen Strukturen: topische Infiltration 4 Bei Befunden am oder im Gelenk: peri- oder intraartikuläre Infiltration 4 Bei Befunden an nervalen Strukturen: Nervenoder Nervenwurzelblockaden 4 Bei vegetativen Begleitsymptomen: Ganglienblockaden Für die therapeutische Lokalanästhesie gibt es heute eine Reihe standardisierter Infiltrationspunkte und Regionen (. Abb. 3.23). Es versteht sich von selbst, dass der Erfolg dieser Therapie an eine genaue Diagnose zu der vorliegenden Schmerzursache Voraussetzung ist. Gleichfalls muss neben der genauen anatomischen Kenntnis der behandelten Region auch die Injektionstechnik beherrscht werden. ä Beispiel Ein 34-jähriger Patient gibt rechtsseitige Schulterschmerzen an, vorne mit Ausstrahlung lateral bis in den Unterarm. Die Schmerzen würden sich beim

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. Abb. 3.23. Beispiel für eine Infiltration am Schultergelenk

Zähneputzen und Haarekämmen verstärken. Er könne den Arm nicht mehr bis in die Senkrechte anheben. Bei der Untersuchung findet sich eine schmerzhafte Abduktion gegen Widerstand sowie Schmerzen bei der Elevation mit Ausweichbewegung nach vorne. Bei endgradiger Elevation ist der Schmerz wieder aufgehoben. Der Muskelbauch des M. supraspinatus sowie sein Ansatz am Tuberculum majus sind druckschmerzhaft. Die Therapie besteht in einer Injektion von 2,0 ml in mehreren Teilmengen um das Tuberculum majus mit Knochenkontakt. Der Patient wird etwa 30 min nach der Injektion für die Dauer der Medikamentenwirkung fast schmerzfrei. Bei Wiederauftreten der Symptomatik in abgeschwächter Form nach wenigen Tagen wird die Injektion wiederholt. Parallel wurde der Patient physiotherapeutisch behandelt, wodurch sich die Restbeschwerden innerhalb von 3 Wochen beseitigen ließen.

p Die Quaddeltherapie, bei der ein Lokalanästhetikum in die obersten Hautschichten gespritzt wird, ist ein risikoarmes Hautreizverfahen, dessen Wirkungen reflektorisch zustande kommen. Erfahrungsgemäß können hierdurch positive Wirkungen z. B. bei zervikalen und zervikozephalen Beschwerden erreicht werden.

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Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

3.14.4 Indikationen

Indikationen der TLA

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5 Chronische schmerzhafte Reizzustände von Muskulatur, Sehnenansätzen und Gelenken (z. B. Periarthropathien an der Schulter, Epikondylopathien, Patellaspitzensyndrom, Facettensyndrome an der Wirbelsäule) 5 Triggerpunkte in der Muskulatur 5 Wurzelkompressions- und periphere Nervenkompressionssyndrome 5 Spinalkanalstenose

3.14.5 Kontraindikationen

Kontraindikationen der DLA und TLA 5 Markumarisierung 5 Unverträglichkeit gegen das verwendete Medikament 5 Infektionen 5 Akute Entzündungen 5 Lymphödeme 5 Tumoren in der betroffenen Region

Die darüberhinaus entstehenden Komplikationen kardialer oder zerebraler Art sind notfallmäßig zu behandeln. Wegen der bestehenden Risiken sollte die diagnostische und therapeutische Lokalanästhesie nur von speziell weitergebildeten Ärztinnen und Ärzten durchgeführt werden. Fazit Die diagnostische Lokalanästhesie ermöglicht eine klinische Verdachtsdiagnose durch das direkte oder indirekte Ausschalten einer Noxe bzw. eines gereizten Gewebebezirks. In der therapeutischen Lokalanästhesie wird die Ausschaltung eines solchen Herdes zur Behandlung genutzt, wobei der Circulus vitiosus von Schmerzen und Gewebereizung durchbrochen wird. Durch Kontrolle der Injektion mittels Ultraschall oder Computertomographie kann das Anästhetikum noch zielgenauer verabfolgt werden, was die Einsatzmöglichkeiten der Lokalanästhesie erweitert hat.

3.15

Komplextherapie J.-J. Glaesener, Chr. Gutenbrunner

3.15.1 Definition und Grundlagen 3.14.6 Nebenwirkungen und Vorsichts-

maßnahmen Jede Injektion stellt juristisch gesehen eine Körperverletzung dar und bedarf des Einverständnisses des Patienten. Es wird empfohlen, dies schriftlich zu dokumentieren und vom Patienten gegenzeichnen zu lassen (spezielle Formulare sind verfügbar). Vor der Einverständniserklärung muss der Patient über mögliche Risiken aufgeklärt werden, insbesondere über die Möglichkeit von: 4 Gefäßverletzungen mit Blutungen und Hämatomen 4 Irritationen nervaler Strukturen mit nachfolgender Neuralgie 4 Vorübergehende Lähmungen 4 Bei Injektionen im Thoraxbereich: Pleuraverletzungen mit Pneumothorax 4 Vasovagaler Kollaps

> In der Regel werden Physikalische Therapien nicht als Monotherapie angewendet. Unter physikalisch-medizinischer Komplextherapie wird die Kombination aus verschiedenen Formen und Verfahren der Physikalischen Therapie in unterschiedlicher Zusammensetzung, Intensität und Abfolge verstanden, ggf. in Verbindung mit zusätzlichen medikamentösen Therapien. Im Gegensatz zu den multimodalen Rehabilitationskonzepten (7 Kap. 6), die auf die Minderung von Krankheitsfolgen und die bessere Integration Behinderter gerichtet sind, handelt es sich bei der hier beschriebenen Komplextherapie um Therapikombinationen, die ausschließlich auf die Krankheitsheilung (Kuration, 7 Kap. 1.3) oder Symptomlinderung zielen.

105 3.15 · Komplextherapie

Komplextherapie bei Erkrankungen des Bewegungsapparates Auch im Fallpauschalensystem der Krankenhausfinanzierung (Diagnosis Related Groups, DRG) in Deutschland wird der Begriff der Komplextherapie verwendet. So wird z. B. die »Multimodal-nichtoperative Komplexbehandlung bei Erkrankungen des Bewegungssystems« im Operationen und Prozedurenkatalog (OPS, Version 2006) definiert durch 5 fachärztliche Behandlungsleitung, 5 die gleichzeitige Anwendung von 5 diagnostischen Verfahren (neuroorthopädische Strukturdiagnostik, manualmedizinische Funktionsdiagnostik, Schmerzdiagnostik, apparative Funktionsdiagnostik und Psychodiagnostik) der Schmerztherapie 5 mindestens 3 Verfahren aus der Manuellen Medizin, Reflextherapie, Infiltrationstherapie und Psychotherapie sowie 3 Verfahren aus der Krankengymnastik auf neurophysiologischer Basis, Medizinischen Trainingstherapie, (anderen) Physikalischen Therapien und Entspannungsverfahren. Darüber hinaus wird ein therapeutisches Assessment mit interdisziplinären Teambesprechungen gefordert.

Kriterien für eine physikalisch-medizinische Komplextherapie sind: 4 Klare Definition der Therapieziele 4 Berücksichtigung von Synergien und möglichen konträren Effekten 4 Planung sequenziell sinnvoller Therapieabläufe (einschließlich Tageszeit) Daher kommt der Therapieplanung eine zentrale Rolle zu. Basis der Therapieplanung ist eine gründliche Analyse des Funktionszustandes (7 Kap. 2), der eventuell vorangegangenen Therapien (einschließlich ihrer Wirkungen bzw. ihres Versagens) sowie möglicher Kontraindikationen. Anlass für eine physikalisch-medizinische Komplextherapie kann sein: 4 Nicht ausreichender Therapiererfolg einer Monotherapie 4 Komplexe Störungen von Funktionen (und Aktivitäten) durch die Krankheit 4 Multimorbidität Eine allgemeingültige Regel für die Verordnung der Komplextherapie kann naturgemäß nicht gegeben

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werden; entscheidend ist neben dem Krankheitsbild der aktuelle individuelle Funktionszustand des Patienten.

3.15.2 Beispiele Fibromyalgiesyndrom Eine 58-jährige beruflich sehr aktive Patientin mit diagnostizierter Fibromyalgie (nach den Kriterien des American College for Rheumatology) zeigt folgende Symptome und funktionelle Störungen: 4 Massive diffuse Schmerzen im Bereich beider Hüftgelenke und im Bereich des Schultergürtels 4 Lokalisierte belastungsabhängige Schmerzen im Bereich des Epicondylus lateralis humeri auf beiden Seiten 4 Von der Halswirbelsäule ausgehende Kopfschmerzen 4 Ein- und Durchschlafstörungen 4 Gefühl des Zerschlagenseins, Mutlosigkeit und depressive Verstimmung 4 Nächtliche Schweißausbrüche, kalte Akren und vermehrte Kälteempfindlichkeit 4 Symptome des Colon irritabile Die klinische Untersuchung ergibt keine wesentlichen Gelenk- und Muskelfunktionsstörungen mit Ausnahme einer starken Verspannung der Nackenmuskulatur. Im Bereich der Ellenbogengelenke kann eine typische Reizung der Sehnenansätze am Epicondylus radialis humeri (Druck und Anspannungsschmerz) festgestellt werden. Therapieziele sind 4 Schmerzlinderung bzw. Verbesserung der Schmerzverarbeitung 4 Normalisierung des Muskeltonus und Dehnung verkürzter Muskeln 4 Verbesserung der Schlafqualität 4 Normalisierung der vegetativen Regulation und 4 Allgemeine Aktivierung der Patientin Die physikalisch-medizinische Komplexbehandlung besteht in einem ersten Schritt aus: 4 Krankengymnastik mit Wirbelsäulenaufrichtung, Kräftigung der statischen Muskulatur, Dehnung verkürzter Muskeln und leichtem Ausdauertraining 4 Krankengymnastik im Bewegungsbad

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Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

4 Detonisierende Massagen im Schultergürtelbereich und Querfriktion der Handgelenksextensoren 4 Moorpackungen im Bereich des Beckens 4 Wechselwarme Kniegüsse am Morgen

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Zusätzlich wird eine antidepressive Medikation, ein niedrig dosiertes Muskelrelaxans (zur Nacht) und als Bedarfsmedikation ein nichtsteroidales Antirheumatikum verordnet. Nach etwa 3–4 Wochen kann eine gewisse Symptombesserung erzielt werden. Die Intensität der Bewegungstherapie wird gesteigert und eine vorsichtige Medizinische Trainingstherapie in der Kleingruppe eingeleitet. Die Kniegüsse werden abgesetzt und die Querfriktionen zugunsten eine Eigenübungsprogramms zu Extensorendehnung am Ellenbogen beendet. Die Häufigkeit der Massagen wird reduziert. Parallel dazu werden regelmäßige Saunabäder empfohlen. Die Langfristtherapie besteht in einem Selbstübungsprogramm, selbstständigen Übungen im Bewegungsbad, Ausdauertraining und Fortsetzung der Saunatherapie. Intermittierend erfolgen symptomabhängig eine erneute Krankengymnastik und ggf. Massagen und Wärmeanwendung. Wegen der starken Chronizität des Krankheitsbildes müssen diese Therapien oft über mehrere Jahre (ggf. mit Therapiepausen) durchgeführt werden. Chronisches pseudoradikuläres Lumbalsyndrom Ein 38-jähriger Patient klagt über seit über einem Jahr bestehende ständige Rückenschmerzen mit diffuser Ausstrahlung in das rechte Gesäß und Bein. Die Beschwerden würden sich bei langem Stehen und Sitzen verstärken. Als Lokalisation werden der untere Wirbelsäulenbereich, die linke Gesäßhälfte und der linke Oberschenkel dorsolateral angegeben. Taubheitsgefühle oder Schwächen der Beinmuskulatur werden verneint, allerdings bestünden Missempfindungen im Bereich des linken Oberschenkels, die er allerdings nicht genau lokalisieren könne. Blasen- und Mastdarmsymptome werden verneint. Die Beschwerden hätten schleichend begonnen und würden langsam immer stärker. Er könne nicht mehr als Kellner arbeiten und sei seit 3 Monaten arbeitsunfähig. Bei der klinischen Untersuchung findet sich ein Beckentiefstand links, eine leichte linkskonvexe Seitausbiegung der Lendenwirbelsäule mit Kompensation im Bereich der Brustwirbelsäule (somit keine Verschie-

bung des Kopflotes). Die Lendenlordose ist verstärkt, die Bauchmuskulatur schlaff. Der Tastbefund ergibt schmerzhafte Ligamenta interspinalia von L2–L5 sowie druckschmerzhafte Facetten L3–L5 links. Weiterhin sind die Spina iliaca posterior superior und der Musculus piriformis links druckschmerzhaft (7 Kap. 2). Die Vorbeuge und Rückbeuge sind nur endgradig eingeschränkt, allerdings schmerzhaft. Die Rotation nach rechts ist gegenüber links vermindert. Die manualmedizinische Blockierungsdiagnostik ergibt Blockierungen der Wirbelgelenke L3/4 und L4/5 sowie des Sakroiliakalgelenks links. Bei Prüfung des Zeichens nach Lasègue werden bei 60° links Schmerzen in der ischiokruralen Muskulatur angegeben, allerdings keine weitere Schmerzausstrahlung. Das Zeichen nach Bragard ist negativ, die weitere neurologische Untersuchung unauffällig. Zum Ausschluss einer entzündlichen oder Tumorerkrankung erfolgen eine Labordiagnostik sowie eine Röntgenaufnahme der Lendenwirbelsäule in 2 Ebenen sowie eine Schrägaufnahme des linken Sakroiliakalgelenks. Therapieziele sind: 4 Schmerzlinderung 4 Beseitigung der Blockierungen 4 Normalisierung des Muskeltonus und Kräftigung der Rumpfmuskulatur (Rückenstrecker und Bauchmuskulatur) 4 Verbesserung der Rumpfkoordination 4 Einüben rückengerechter Verhaltensweisen 4 Verstärkung der allgemeinen Bewegungsaktivität Die physikalisch-medizinische Komplexbehandlung besteht in einem ersten Schritt aus: 4 Vorsichtige Mobilisation der Blockierungen mit manuellen Therapietechniken in der Krankengymnastik 4 Manualmedizinische Manipulation der noch blockierten Gelenke durch die Ärztin bzw. den Arzt im weiteren Verlauf (7 Kap. 3.4) 4 Verordnung eines oralen nichtsteroidalen Antirheumatikums für 2 Wochen unter entsprechender Magenschutztherapie 4 Krankengymnastik mit Wirbelsäulenaufrichtung, Kräftigung der statischen Muskulatur, Dehnung verkürzter Muskeln und leichtem Ausdauertraining 4 Fangopackungen und detonisierende Massagen der Rückenmuskulatur

107 3.15 · Komplextherapie

4 Teilnahme an einem edukativen Programm in der Gruppe mit folgenden Elementen: Krankheitsverständnis, rückengerechtes Verhalten, Schmerzverarbeitung, Erlernen von Übungen zum rückengerechten Verhalten, zur Koordinationsverbesserung sowie zur Rumpfmuskelkräftigung 4 Rückenschwimmen (einmalige Anleitung der Rückenschwimmtechnik) Nach etwa 3–4 Wochen wird die Krankengymnastik durch eine Medizinische Trainingstherapie ersetzt und die Wärmeanwendungen und Massagen abgesetzt. Für den Beruf wird eine dynamische weiche Lumbalorthese mit Druckpelotte (7 Kap. 6.12) verordnet. Der Patient erhält eine Anleitung zur Automobilisation der Iliosakralgelenke und Dehnungsübungen des Musculus piriformis und der Ischiokruralmuskulatur sowie eine analgetische Bedarfsmedikation. Er wird arbeitsfähig aus der Therapie entlassen. Chronisches regionales Schmerzsyndrom Ein 58-jährige Hafenarbeiter stürzte auf seine rechte Hand. Er bemerkte nach einigen Stunden eine starke Schwellung des rechten Handgelenkes in Verbindung mit einer Überwärmung, die trotz Kühlung anhielt. Die Röntgendiagnostik beim Orthopäden ergab keinen Anhalt für eine knöcherne Verletzung. Angesichts persistierender Schmerzen erfolgte nach 3 Wochen eine Kernspintomographie des rechten Handgelenkes, bei der differenzialdiagnostisch wegen eines minimalen Ödems im Os lunatum eine kleine kontusionsbedingte Schädigung in Erwägung gezogen wurde. Die Veränderungen der rechten Handwurzel im Szintigramm waren ausgeprägter als nach der Kernspintomographie zu vermuten war. In allen 3 Phasen der Skelettszintigraphie zeigte sich sowohl in der Perfusionsphase als auch in den Früh- und Spätaufnahmen eine massive Mehrbelegung über dem gesamten Carpus rechts sowie im distalen Interphalangealgelenk des vierten Fingers (DIP IV). Hier wurde erstmals der Verdacht auf ein beginnendes Chronisches regionales Schmerzsyndrom (CRPS; auch als Reflexdystrophie oder M. Sudeck bezeichnet) geäußert. Der Patient wurde angesichts dieser Beschwerden und nach passagerer Ruhigstellung im Zinkleimverband (ohne bleibenden Erfolg) medikamentös mit trizyklischen Antidepressiva und einem starken Analgetikum behandelt. Gleichzeitig wurde eine Physiotherapiebehandlung eingeleitet.

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Sämtliche Behandlungen wurden wegen Ausbleiben eines Erfolges nach 6 Wochen eingestellt. Bei der Erstvorstellung in der Spezialsprechstunde bestanden folgende Beschwerden: 4 Belastungsschmerzen im rechten Handgelenk nach spätestens 10 min Benutzung der Hand, dabei dumpfe Schmerzen in der gesamten rechten Hand 4 Regelmäßige Schwellung des rechten Handgelenkes, teilweise auch der Finger, insbesondere im Bereich des 4. Fingers rechts Die klinische Untersuchung ergab folgende Befunde: 4 Maximale Einschränkung der Handgelenksbeweglichkeit (Extension/Flexion: 20–0–25°), Fingergrundgelenke (Extension/Flexion: 0–20–40°) und Pronation/Supination (90–0–70°) 4 Maximaler Berührungsschmerz im Bereich einer kreisrunden Fläche an der Dorsalfläche des Handgelenks im Sinne einer Allodynie 4 Hypästhesie im Bereich der gesamten Handfläche 4 Hyperpathie im Bereich des 4. Fingers und deutliche Temperaturerhöhung im Vergleich zur Gegenseite 4 Keine Schweißneigung, jedoch Rötung der gesamten rechten Hand gegenüber der linken Hand Der Patient wurde in die tagesklinische Behandlung aufgenommen; folgende Therapiemaßnahmen wurden verordnet: 4 Krankengymnastik: aktive Bewegungsübungen ausschließlich im schmerzfreien Bereich (»Notouch«-Behandlung) 4 CO2-Handbad 3-mal täglich 4 Manuelle Lymphdrainage 1- bis 2-mal täglich 4 TENS-Behandlung rechter Unterarm und Hand 2bis 3-mal täglich 4 Ergotherapeutische Behandlung mit Schwerpunkt der Desensibilisierung der rechten Hand und ebenfalls Bewegungsübungen im schmerzfreien Bereich 2-mal täglich. 4 Medikamentöse Behandlung: Amineurin 75 mg 1×1, Neurontin 300 mg 0–0–2, bei Bedarf zusätzlich Novaminsulfon (Patient hatte insgesamt nur 2×20 Tropfen eingenommen) Im Verlauf konnte eine deutliche Besserung der Schmerzen erzielt werden. Fast schlagartig nach 14 Tagen waren die Desensibilisierungsmaßnahmen erfolgreich, sodass der Patient erstmals auch ohne

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Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

jegliche Missempfindungen Eiswürfel anfassen und im Bereich des rechten Handgelenks tolerieren konnte sowie stärkere Wärmereize bis 40°C an der Hand vertrug. Die Frequenz der CO2-Handbäder konnte reduziert werden und, angesichts eines deutlichen Rückgangs der ödematösen Schwellung, auch die der manuellen Lymphdrainage. Die Komplextherapie wurde dem neuen Zustand angepasst, insbesondere im Bereich der Krankengymnastik. Nunmehr wurde mit passiven Maßnahmen, vor allem einer vorsichtigen Manuellen Therapie, das Grund- und Mittelgelenk des 4. Fingers, die Handgelenkswurzelknochen und das Handgelenk selbst mobilisiert. Nach weiteren 8 Wochen waren die Beschwerden so weit zurückgegangen, dass der Patient mit einem Selbstübungsprogramm aus der Therapie entlassen wenden konnte. Fazit Unter Komplextherapie wird in der Physikalischen Medizin die gleichzeitige Anwendung mehrere Therapieverfahren mit synergistischen Effekten verstanden (z. B. Krankengymnastik, Lymphtherapie und Elektrotherapie). Hierzu ist eine gründliche, dem Funktionszustand des Patienten und dem Krankheitsstadium angepasste Therapieplanung notwendig. Sie muss dem Therapiefortschritt regelmäßig angepasst werden

4 Art des Heilmittels (z. B. Physiotherapie, hydroelektrisches Bad) 4 Angabe der Technik (bei der Physiotherapie z. B. Haltungsschulung, Muskelkräftigung, Gelenkmobilisation; beim Stangerbad: Schaltung der Elektroden) 4 Angaben zur Dosierung (z. B. bei thermischen Anwendungen: Temperatur; Dauer, bei Stromanwendungen: Stromform, Frequenz, Dauer) 4 Angaben zur Lokalisation der Anwendung (bei der Gelenkmobilisierung: Angabe des Gelenks; bei thermischen Anwendungen oder Massagen: Körperregion) 4 Frequenz (Häufigkeit pro Woche) und Gesamtzahl 4 Indikation (Krankheitsdiagnose) und (funktionelles) Therapieziel 4 Angaben über die Belastbarkeit (z. B. Teilbelastung bei postoperativer Therapie) und besondere Vorsichtsmaßnahmen (z. B. bei Gerinnungsstörungen, Frakturgefahr) Die Verordnung von Hilfsmitteln wie Orthesen, Gehhilfen Rollstühlen u. a. (7 Kap. 6.9) erfolgt auf Standardrezeptformularen unter Angabe der Diagnose. Die von den gesetzlichen Krankenkassen erstattungsfähigen Hilfsmittel sind in einem ständig aktualisierten Katalog aufgelistet.

3.16.2 Heilmittelrichtlinie 3.16

Heilmittelverordnung und Heilmittelrichtlinie E. Seidel

3.16.1 Heilmittelverordnung > Im Krankenkassenrecht werden alle Anwendungen der Physikalischen Medizin als Heilmittel bezeichnet (auch die von Physiotherapeuten durchgeführte Bewegungstherapie). Alle Heilmittel müssen in Deutschland wie auch in den meisten anderen Europäischen Ländern ärztlich verordnet werden.

Jede Heilmittelverordnung, die bei Patienten der gesetzlichen Krankenversicherung auf speziellen Rezeptformularen erfolgen muss (. Abb. 3.24), muss mindestens die folgenden Angaben enthalten:

Seit dem Jahre 1992 existiert in Deutschland eine Richtlinie über die Verordnung von Heilmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Heilmittel-Richtlinie, HMR). Sie wurde im Jahr 2004 novelliert. Die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (früher: Ausschuss der Ärzte und Krankenkassen) beschlossenen Richtlinien dienen »der Sicherung einer nach den Regeln der ärztlichen Kunst und unter Berücksichtigung des allgemeinen anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung der Versicherten mit Heilmitteln«. Die Heilmitterichtlinie regelt (ausschließlich) die Abgabe von Heilmittel zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung.

109 3.16 · Heilmittelverordnung und Heilmittelrichtlinie

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. Abb. 3.24. Heilmittelrezept

3.16.3 Grundbegriffe der

Heilmittelrichtlinie Heilmittel sind nach der Heilmittelrichtlinie vom Therapeuten zu erbringende medizinische Leistungen. Sie sind untergliedert in Maßnahmen der 4 Physikalischen Therapie 4 Podologischen Therapie 4 Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie 4 Ergotherapie Nach Definition der Heilmittelrichtlinie können Heilmittel zu Lasten der Krankenkassen nur verordnet werden, wenn sie notwendig sind, um

4 eine Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern, 4 eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, zu beseitigen, 4 einer Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung eines Kindes entgegenzuwirken oder 4 Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder zu mindern. Ähnlich wie der Hilfsmittelkatalog enthält die Heilmittelrichtlinie eine Auflistung verordnungsfähiger Heilmittel. Darüber hinaus werden in einem indikationsbezogenen Katalog die bei der jeweiligen Indikation

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Kapitel 3 · Therapiemittel in der Physikalischen Medizin

verordnungsfähigen Heilmittel aufgelistet (einschließlich Art, Menge, Wiederholbarkeit). Dabei wird folgendermaßen differenziert: 4 Vorrangige Heilmittel 4 Optionale Heilmittel 4 Ergänzende Heilmittel 4 Standardisierte Heilmittelkombinationen Die »standardisierte Heilmittelkombination« (auch Komplextherapie genannt, 7 Kap. 3.15) aus den oben genannten einzelnen Maßnahmen kann nach Maßgabe des Heilmittelkatalogs immer dann verordnet werden, wenn 4 komplexe Schädigungsbilder vorliegen, 4 die therapeutisch erforderliche Kombination von 3 oder mehr Maßnahmen synergistisch sinnvoll ist, 4 die Erbringung dieser Maßnahmen in einem direkten zeitlichen und örtlichen Zusammenhang erfolgt und 4 der Patient aus medizinischer Sicht geeignet ist.

3.16.4 Heilmittelkatalog Die Heilmittelrichtlinien beinhalten einen Katalog verordnungsfähiger Heilmittel (Heilmittelkatalog). In ihm sind Einzeldiagnosen zu Diagnosengruppen zusammengefasst. Den Diagnosengruppen sind die jeweiligen Leitsymptomatiken (Funktionsstörungen, Schädigungen), Therapieziele, die einzeln verordnungsfähigen Heilmittel, Angaben zur Verordnung, die Verordnungsmengen und Empfehlung zur Therapiefrequenz zugeordnet. Das vorrangige Heilmittel ist als Standard einzusetzen (Verordnung im Regelfall). Nur wenn es Gründe gibt, darauf zu verzichten (z. B. bereits nicht erfolgreich eingesetzt), kann auf das optionale Heilmittel ausgewichen werden. Zu einem vorrangigen oder optionalen Heilmittel kann ein ergänzendes Heilmittel verordnet werden (z. B. Krankengymnastik zusammen mit Elektrotherapie). Krankengymnastik am Gerät Die Krankengymnastik am Gerät ist in der novellierten Form der Helmittelrichtlinie erstmals verordnungsfähig geworden. Sie ist definiert als Krankengymnastik an Seilzug- und/oder Sequenztrainingsge-

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räten unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Trainingslehre (7 Kap. 1.3). Ihr Einsatz ist bei chronischen, posttraumatischen oder postoperativen Erkrankungen der Extremitäten oder des Rumpfes mit Muskeldysbalance/-insuffizienz, krankheitsbedingter Muskelschwäche oder peripherer Lähmung indiziert und rezeptierbar.

Lässt sich die Behandlung mit der nach Maßgabe des Heilmittelkatalogs bestimmten Gesamtverordnungsmenge nicht abschließen, sind weitere Verordnungen möglich (Verordnungen außerhalb des Regelfalls, insbesondere längerfristige Verordnungen). Solche Verordnungen bedürfen einer besonderen Begründung mit prognostischer Einschätzung. Die Verordnungsmenge ist, abhängig von der Behandlungsfrequenz, so zu bemessen, dass mindestens eine ärztliche Untersuchung innerhalb einer Zeitspanne von 12 Wochen nach der Verordnung gewährleistet ist. Fazit Heilmittel sind nach dem deutschen Kassenrecht alle Anwendungen der physikalischen Therapie wie Krankengymnastik, Ergotherapie, Massagen u. a. In der Heilmittelrichtlinie werden indikationsbezogen Heilmittel und Heilmittelkombinationen definiert, die zu Lasten der Krankenkassen verordnet werden dürfen. Für die Verordnung »im Regelfall« sind in der Heilmittelrichtlinie Höchstmengen definiert. Eine Abweichung ist als »Verordnung außerhalb des Regelfalls« möglich. Sie ist zu begründen und von der Krankenkasse vorab zu genehmigen. Die Heilmittelverordnung muss auf speziellen Formularen erfolgen. Hilfsmittel werden auf Standardformularen rezeptiert, wobei die Diagnose vermerkt werden muss.

Literatur Baumgartner H, Dvorak J, Graf-Baumann T, Terrier B (1993) Grundbegriffe der Manuellen Medizin. Terminologie – Diagnostik – Therapie. Springer, Berlin Heidelberg Brüggemann W (1986) Kneipp-Therapie. Springer, Heidelberg Berlin New York DVE (Deutscher Verband der ergotherapeuten e.V.) (2001) Ambulante Ergotherapie. Schulz Kirchner, Idstein Földi M, Kubik S (1999) Lehrbuch der Lymphologie. Fischer, Stuttgart Jena Lübeck Ulm

111 Literatur

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3

1 4

II. Rehabilitation 4 Grundlagen der Rehabilitation Chr. Gutenbrunner

4.1

Definition

– 114

4.2

Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) – 115

4.3

Allgemeine Rehabilitationsziele

4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4

Allgemeine Rehabilitationsziele auf der Patientenebene – 119 Allgemeine Rehabilitationsziele auf der Ebene des Rehabilitationssystems – 119 Allgemeine Rehabilitationsziele auf der Ebene der Körperfunktionen – 119 Allgemeine Rehabilitationsziele auf der Ebene der Aktivitäten und Teilhabe – 121

– 118

4.4

Indikationsstellung und Zuweisung – 121

4.5

Rehabilitationsformen – 124

4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4

Medizinische Rehabilitation – 124 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation) – 131 Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (soziale Rehabilitation) – 131 Sonstige unterhaltssichernde und ergänzende Leistungen zur Teilhabe (finanzielle Zuschüsse) – 131

4.6

Rechtliche Grundlagen und Finanzierung der Rehabilitation – 133 Literatur

– 134

114

Kapitel 4 · Grundlagen der Rehabilitation

> > Einleitung

4

In diesem Kapitel werden Definitionen, Ziele und die Indikationsstellung der Rehabilitation geschildert. Darüber hinaus wird die für das Selbstverständnis der Rehabilitation wichtige Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO erläutert. Im zweiten Teil werden die Rehabilitationsformen in Deutschland sowie die sozialrechtlichen Voraussetzungen dargestellt.

4.1

Definition

> Rehabilitation wird heute als ein multi- und interdisziplinäres Management der funktionalen Gesundheit einer Person definiert. Sie zielt auf die Beseitigung negativer Krankheitsfolgen und eine Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität.

Der Begriff der funktionalen Gesundheit umfasst dabei sowohl die körperlichen Voraussetzungen (Körperfunktionen und -strukturen) sowie die Fähigkeit, Handlungen auszuführen (Aktivitäten) und am sozialen Leben teilzunehmen (Partizipation, Teilhabe). Grundlage dieser Definition ist das biopsychosoziale Modell der Weltgesundheitsorganisation, das in der im Jahre 2001 verabschiedeten »Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit« (ICF) dargelegt ist (ICF-Modell). Es hat das lineare Krankheitsfolgenmodell (Krankheit – Behinderung – soziale Beeinträchtigung) abgelöst und schließt auch positive und negative Einflüsse der Umwelt auf die Erkrankung mit ein. Rolle der Kontextfaktoren: Ein Mensch, der für die Fortbewegung auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen ist, kann z. B. an einer Veranstaltung nur teilnehmen, wenn ein barrierefreier Zugang in den Veranstaltungsraum vorhanden ist. Nach der ICF-Systematik wäre der barrierefreie Zugang als fördernder Kontextfaktor, eine Treppe als hinderlicher Kontextfaktor definiert. Hinderliche oder fördernde Kontextfaktoren können aber auch sozialer Natur sein, z. B. negative gesellschaftliche Einstellungen gegenüber der Behinderung oder soziale Unterstützung von Freunden und Familie.

Funktionale Gesundheit Dieser Gesundheitsbegriff geht davon aus, dass der Mensch nicht auf seine körperlichen und psychischen Dimensionen beschränkt ist, sondern sich vielmehr auch durch seine Handlungen und sozialen Interaktionen definiert. Die funktionale Gesundheit beschreibt also nicht nur den körperlichen Funktionszustand, sondern schließt die Aktivitäten und die soziale Integration mit ein. Die einzelnen Bereiche der funktionalen Gesundheit stehen zwar in einer Wechselwirkung sind aber dennoch auch einzeln zu beeinflussen und bedürfen daher auch einer getrennten Betrachtung.

Rehabilitationsmaßnahmen sind vor allem bei chronischen Krankheitsverläufen oder bleibenden Schädigungen nach akuten Krankheiten oder Unfällen indiziert, also immer dann, wenn eine Restitutio ad integrum nicht möglich ist, aber dennoch mit einer relevanten Funktionsverbesserung gerechnet werden kann. Das bedeutet aber auch, dass die Rehabilitation in den meisten Fällen einen lebenslangen Prozess darstellt, der selbstverständlich Phasen von unterschiedlicher Intensität der rehabilitativen Intervention beinhaltet. Gefordert wird daher einerseits eine geschlossene Kette verschiedener Rehabilitationsmaßnahmen bzw. eine phasenadaptierte Gestaltung von Rehabilitationsplänen. Dabei bedeutet Rehabilitation nicht, dass ununterbrochen medizinische Maßnahmen notwendig sind, vielmehr wird eine größtmögliche Selbstständigkeit der Rehabilitanden angestrebt (Hilfe zur Selbsthilfe). Ein typisches Beispiel für eine sinnvolle Rehabilitationsmaßnahme bei einer chronischen Erkrankung ist die Verbesserung der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit nach Herzinfarkt. Obwohl die Grundkrankheit, die koronare Herzkrankheit bestehen bleibt und das infarzierte Myokard nicht wieder hergestellt werden kann, kann durch gezielte Trainingsmaßnahmen die Kreislaufregulation einschließlich der peripheren Sauerstoffutilisation so verbessert werden, dass eine für die wichtigsten Alltagsfunktionen ausreichende kardiopulmonale Leistungsfähigkeit resultiert. Ein Beispiel für eine gelungene Rehabilitation ist nach einer einseitigen Oberschenkelamputation die Versorgung mit einer Beinprothese und das Einüben des Gehens mit der Prothese. Hierdurch kann eine gute Mobilität erreicht werden, wenngleich auch hier funktionelle Einschränkungen verbleiben. Welche hohen

115 4.2 · Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung

Leistungsfähigkeiten in solchen Fällen erreicht werden können zeigen die sportlichen Behindertenwettkämpfe wie z. B. die Paralympics.

4.2

Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)

Das ICF-Modell beschreibt die komplexen Wechselwirkungen zwischen Gesundheitsstörungen bzw. Krankheiten und ihren Auswirkungen (Krankheitsfolgen) auf den Ebenen der Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und der Teilhabe (. Abb. 4.1). Es schließt auch die Wechselwirkungen mit Umweltfaktoren und personenbezogenen Faktoren mit ein, wobei unter Umweltfaktoren sowohl die physikalische als auch die soziale Umwelt eingeschlossen wird. (Die personenbezogenen Faktoren werden in der aktuellen Version der ICF allerdings nicht weiter differenziert.) > Im Gegensatz zu älteren Krankheitsfolgenmodellen (ICIDH: International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps) beschreibt das ICF-Modell nicht nur negative Krankheitsfolgen, sondern ist vom Ansatz her wertneutral. Dies bedeutet, dass auch die Funktionsfähigkeit (was ein Patient noch kann) klassifiziert werden kann. Einen Überblick über die Komponenten der ICF gibt . Tab. 4.1.

ä Beispiel Dass die Krankheitsfolgen von Krankheiten sehr unterschiedlich sein können und von Kontextfaktoren stärker geprägt werden können als von der Krankheit selbst, zeigt der Vergleich der beiden folgenden Fälle. Der Patient H.M. erleidet mit 54 Jahren eine komplexe Knieverletzung, die operativ versorgt und funktionell adäquat nachbehandelt worden ist. Als Funktionsstörung verbleibt eine Beugedefizit (0–0–90°) sowie eine schmerzhaft eingeschränkte Gehstrecke von 500 m. Der Patient besitzt ein PKW und wohnt in einer Erdgeschoßwohnung. Er betreibt keinen Sport und führt beruflich eine sitzende Tätigkeit durch (Verwaltungsangestellter). Trotz erheblichem Funktionsdefizit und Aktivitätseinschränkung sind seine Partizipation und seine übliche Lebensführung nicht wesentlich eingeschränkt. Der Patient G.H. erleidet eine Ruptur des vorderen Kreuzbandes, die operativ versorgt und ebenfalls gut funktionell nachbehandelt wurde. Es besteht keine Einschränkung der Beweglichkeit. Die Kraft des Musculus quadriceps auf der betroffenen Seite ist um ca. 20% gemindert. Es besteht ein gelegentliches unwillkürliches Wegknicken (»giving way«) des betroffenen Knies. Der Patient ist Dachdeckermeister und spielt in seiner Freizeit Fußball. Der Patient kann weder seinen Beruf weiter ausführen noch seinem Freizeitsport nachgehen, sodass ein erheblicher Rehabilitationsbedarf inkl. Umschulungsmaßnahmen gegeben ist.

6

. Abb. 4.1. Biopsychosoziales Modell der Rehabilitation der WHO. (Aus DIMDI 2004)

4

116

Kapitel 4 · Grundlagen der Rehabilitation

. Tabelle 4.1. Überblick über die Komponenten der ICF. (Nach DIMDI 2004)

Funktionsfähigkeit und Behinderung

Kontextfaktoren

Komponenten

Körperfunktionen und -strukturen

Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe)

Umweltfaktoren

Personenbezogene Faktoren

Domänen

Körperfunktionen und -strukturen

Lebensbereiche (Aufgaben, Handlungen)

Äußere Einflüsse auf Funktionsfähigkeit und Behinderung

Innere Einflüsse auf Funktionsfähigkeit und Behinderung

Konstrukte

Veränderungen in Körperfunktionen (physiologische Ebene) Veränderungen von Körperstrukturen (anatomische Ebene)

Leistungsfähigkeit (Durchführung von Aufgaben in einer standardisierten Umwelt), Leistung (Durchführung von Aufgaben in der gegenwärtigen, tatsächlichen Umwelt)

Fördernde und beeinträchtigende Einflüsse von Merkmalen der materiellen, sozialen und einstellungsbezogenen Welt

Einflüsse von Merkmalen der Person

Positive Aspekte

Funktionelle und strukturelle Integrität

Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe)

Positiv wirkende Faktoren

Nicht anwendbar

Negativ wirkende Faktoren (Barrieren, Hemmnisse)

Nicht anwendbar

4

Funktionsfähigkeit Negative Aspekte

Schädigung

Beeinträchtigung der Aktivität, Beeinträchtigung der Partizipation (Teilhabe) Behinderung

Obwohl die funktionellen Krankheitsfolgen im zweiten Fall deutlich geringer ausgeprägt sind als im ersten, sind die Einschränkungen von Aktivitäten und Teilhabe gemessen an der individuellen Lebensweise deutlich gravierender.

Definition der Komponenten des ICF-Modells 5 Körperfunktionen sind physiologische Funktionen, wobei die psychischen Funktionen mit eingeschlossen werden. 5 Als Körperstrukturen werden anatomische Strukturen wie Organe. Gliedmaßen und ihre Bestandteile definiert. 5 Eine Schädigung ist in der ICF-Definition eine Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder -struktur wie eine wesentliche Abweichung oder der Verlust. 5 Unter Aktivität wird die Durchführung einer Aufgabe oder Handlung (Aktion) durch einen

6

Menschen (bezogen auf Standardsituationen) verstanden. 5 Partizipation bzw. Teilhabe beschreibt das Einbezogensein in eine Lebenssituation, wobei sowohl soziale, kulturelle und berufliche Bereiche eingeschlossen sind. 5 Als Beeinträchtigung der Aktivität wird eine Schwierigkeit verstanden, bestimmte Aktivitäten durchzuführen. 5 Eine Beeinträchtigung der Teilhabe (Partizipation) ist im ICF-Modell ein Problem, das ein Mensch im Hinblick auf sein Einbezogensein in eine Lebenssituation erleben kann (sozial, kulturell, beruflich). 5 Umweltfaktoren werden definiert als die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, in der Menschen leben und sich entfalten.

117 4.2 · Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung

4

. Tabelle 4.2. Kapitel der ICF-Klassifikation

Teil Körperfunktionen

ICF-Nummern a

b110–b199 b210–b299 b310–b399 b410–b499 b510–b599 b610–b699 b710–b799 b810–s899

Körperfunktionen

s110–s199a s210–s299 s310–s399 s410–s499

Beschreibung Kapitel 1: Mentale Funktionen Kapitel 2: Sinnesfunktionen und Schmerz Kapitel 3: Stimm- und Sprechfunktion Kapitel 4: Funktionen des kardiovaskulären, hämatologischen Immunund Atmungssystems Kapitel 5: Funktionen des Verdauungs- des Stoffwechsel- und des endokrinen Systems Kapitel 6: Funktionen des Urogenital und reproduktiven Systems Kapitel 7: Neuromuskuloskelettale und bewegungsbezogene Funktionen Kapitel 8: Funktionen der Haut und der Hautanhangsgebilde

s610–s699 s710–s799 s810–s899

Kapitel 1: Strukturen des Nervensystems Kapitel 2: Auge, Ohr und mit diesen in Zusammenhang stehende Strukturen Kapitel 3: Strukturen, die an der Stimme und dem Sprechen beteiligt sind Kapitel 4: Strukturen des kardiovaskulären, hämatologischen Immun- und Atmungssystems Kapitel 5: Strukturen des Verdauungs- des Stoffwechsel- und des endokrinen Systems Kapitel 6: Strukturen des Urogenital und reproduktiven Systems Kapitel 7: Mit der Bewegung in Zusammenhang stehende Strukturen Kapitel 8: Strukturen der Haut und der Hautanhangsgebilde

Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe)

d110–d199 a d210–d299 d310–d399 d410–d499 d510–d599 d610–d699 d710–d799 d810–d899 d910–d999

Kapitel 1: Lernen und Wissenserwerb Kapitel 2: Allgemeine Aufgaben und Anforderungen Kapitel 3: Kommunikation Kapitel 4: Mobilität Kapitel 5: Selbstversorgung Kapitel 6: Häusliches Leben Kapitel 7: Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen Kapitel 8: Bedeutende Lebensbereiche Kapitel 9: Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben

Umweltfaktoren (Kontextfaktoren)

e110–e199a e210–e299 e310–e399 e410–e499 e510–e599

Kapitel 1: Produkte und Technologien Kapitel 2: Natürliche und von Menschen veränderte Umwelt Kapitel 3: Unterstützung und Beziehungen Kapitel 4: Einstellungen (von Menschen und der Gesellschaft) Kapitel 5: Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze (einschließlich des politischen und wirtschaftlichen und Sozialsystems)

s510–s599

a

b »body functions«; s »body structures«; d »activities and patricipation«; e »environmental factors«

Umweltfaktoren Relevante Umweltfaktoren können z. B. eine bergige oder flache Landschaft sein, die die Funktion der Mobilität bei Erkrankungen der Beine erheblich beeinflussen kann. Auch die Frage einer barrierefreien (rollstuhlgerechten) Bauweise oder die Frage, ob ein Patient im Erdgeschoss oder in einem oberen Stockwerk wohnt, gehört hierzu. Einen weiteren wichtigen Faktor stellt die Unterstützung durch Familienangehörige und Freunde dar, oder – als

6

erschwerender Faktor – z. B. die Belastung durch die Notwendigkeit, Angehörige zu pflegen. Schließlich beeinflussen die gesellschaftlichen Einstellungen zu Krankheit und Behinderung und die soziale Absicherung (Vermögen, Versicherungen u. a.) die Ausprägung von Krankheitsfolgen.

Die ICF beinhaltet aber nicht nur ein Modell zur Beschreibung von Krankheitsfolgen und möglichen Einflüssen durch Kontextfaktoren, vielmehr enthält sie – analog zur Internationalen Klassifikation der Krank-

118

Kapitel 4 · Grundlagen der Rehabilitation

. Tabelle 4.3. System der Beurteilungsmerkmale der ICFa

4

Merkmalsnummer

Beschreibung

Weitere Beschreibungsmöglichkeiten

Prozentualer Ausprägungsgrad

xxx.0 xxx.1 xxx.2 xxx.3 xxx.4 xxx.8 xxx.9

Problem nicht vorhanden Problem leicht ausgeprägt Problem mäßig ausgeprägt Problem erheblich ausgeprägt Problem voll ausgeprägt Nicht spezifiziert Nicht anwendbar

Ohne, kein, unerheblich Schwach, gering Mittel, ziemlich Hoch, äußerst Komplett, total

0–4% 4–24% 25–49% 50–95% 96–100%

a

Die Beurteilungsnummern werden durch einen Punkt getrennt an die ICF-Nummern (. Tab. 4.2) angehängt

5 Ebenen der Teilhabe und der Kontextfaktoren: Der Patient ist arbeitsunfähig (d850), ist aber gut versichert (e5700) und wird im Alltag von seiner Frau unterstützt (e310).

heiten (ICD) – auch einen Katalog der relevanten Funktionen, Strukturen, Aktivitäten und Bereiche der Teilhabe. Die personenbezogenen Kontextfaktoren sind – wie erwähnt – in der aktuellen Klassifikation (noch) nicht enthalten. Dieser Katalog enthält die in . Tab. 4.2 aufgeführten Kapitel, die bis auf 4 Unterebenen differenziert sind. Darüber hinaus enthält die ICF ein Bewertungssystem nach dem das Ausmaß der Einschränkung oder auch der positiven Funktionsfähigkeit klassifiziert werden kann (7 Kap. 5.3, . Tab. 5.6, . Tab. 4.3). Für die Rehabilitationspraxis ist die ICF-Klassifikation zu komplex und zu umfangreich. Die für die Diagnostik in der Rehabilitation entwickelten Kurzfassungen und indikationsbezogenen Funktionslisten sind in 7 Kap. 5 beschrieben.

Fazit Insgesamt lassen sich die komplexen Aufgaben der Rehabilitation, die sich sowohl auf die körperliche Ebene, die Handlungsfähigkeit eines Patienten und die soziale (Wieder-)Eingliederung beziehen, im ICF-Modell gut beschreiben. Dieses Modell macht auch klar, dass die Krankheitsfolgen stark von Umweltfaktoren mitbeeinflusst werden, dass sie also auch im Fokus der Rehabilitationsmedizin stehen müssen. Die ICF-Klassifikation ist im Prinzip geeignet, die Rehabilitationsziele und Ergebnisse auf den verschiedenen Ebenen der Funktionalen Gesundheit zu beschreiben, wobei die für die Rehabilitationspraxis relevanten Instrumentarien im 7 Kap. 5.2 beschrieben sind.

ä Beispiel Die Krankheitsfolgen lassen sich am Beispiel eines 39-jährigen Mannes mit einem Fahrradunfall, der zu einer komplexen Handverletzung auf der rechten Seite geführt hat, mit der ICF wie folgt klassifizieren: 5 Ebene der Strukturen und Funktionen: Vier Wochen später leidet der Patient unter starken Schmerzen in der betroffenen Hand (b28014), einer verstärkten Temperaturempfindlichkeit (b270) und Parästhesien (b265). Er klagt über Schlaf- (b134) und Konzentrationsstörungen (b140). 5 Ebene der Aktivitäten: Der Patient hat Schwierigkeiten beim Schuhe an- und ausziehen (d5402, d5403), beim Auto fahren (d4751) und bei der Arbeit am Computer (d3601).

6

4.3

Allgemeine Rehabilitationsziele

> Das zentrale übergeordnete Rehabilitationsziel ist die Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität.

Mit dem Begriff der Lebensqualität werden die nichtphysiologische und nicht-biochemischen Aspekte der Gesundheit beschrieben. Sie kann nicht nur durch Krankheiten beeinträchtigt sein, sondern ist nach dem bio-psycho-sozialen Modell der Rehabilitation auch von der Krankheitsverarbeitung sowie von einer Reihe von physikalischen und sozialen Umweltfaktoren

119 4.3 · Allgemeine Rehabilitationsziele

abhängig. Der Begriff der gesundheitsbezogenen Lebensqualität korrespondiert daher gut mit dem der funktionalen Gesundheit (»functioning«) der ICF (7 Kap. 4.1). In der Praxis wird das Ziel der gesundheitsbezogenen Lebensqualität durch 3 unterschiedliche Strategien erreicht: 4 Behandlung der geschädigten Körperfunktionen und Strukturen (kurative Strategie) 4 Überwindung und/oder Kompensation von Beeinträchtigungen der Körperfunktionen, Aktivitäten und Partizipation des Betroffenen (rehabilitative Strategie) 4 Vermeidung weiterer Beeinträchtigungen der Körperfunktionen, Aktivitäten und Partizipation (präventive Strategie)

4.3.1 Allgemeine Rehabilitationsziele

4

nen Rehabilitationsformen zugeordneten Rehabilitationsziele finden sich in . Tab. 4.4. Grundsatz »Rehabilitation vor Rente« Eine Sonderstellung nimmt dabei die Rentenversicherung ein, deren Ziel es primär ist, den Eintritt von Rentengründen zu verhindern. Daher werden Rehabilitationsmaßnahmen von Rentenversicherungsträgern nur dann gewährt, wenn eine erhebliche Minderung der Erwerbsfähigkeit vorliegt oder droht. Darüber hinaus müssen versicherungsrechtliche Voraussetzungen erfüllt sein, wie z. B. eine ausreichend lange Versicherungsdauer.

> Aufgabe des Arztes muss es daher sein – unter Kenntnis der Rehabilitationsformen – die dem individuellen patientenseitigen Rehabilitationsziel adäquate Rehabilitationsform auszuwählen (7 Kap. 4.5).

auf der Patientenebene 4.3.3 Allgemeine Rehabilitationsziele auf Die Zielsetzung von Rehabilitationsmaßnahmen muss im Einzelfall ärztlich festgelegt werden. Sie ergibt sich auf der Patientenebene aus dem vorliegenden Krankheitsbild und den Krankheitsfolgen in den Bereichen Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Teilhabe, wobei die Kontextfaktoren (. Tab. 4.1) ebenfalls zu berücksichtigen sind. > Es ist von großer Wichtigkeit, zusammen mit dem Patienten erreichbare Rehabilitationsziele zu formulieren.

Die aktive Beteiligung der Betroffenen am Rehabilitationsprozess und an der Festlegung der Therapieziele ist im Übrigen in Deutschland auch gesetzlich vorgeschrieben (Neuntes Sozialgesetzbuch, s. u.). Die für die Festlegung der individuellen Rehabilitationsziele geeigneten diagnostischen Maßnahmen sind in 7 Kap. 5 beschrieben.

4.3.2 Allgemeine Rehabilitationsziele

auf der Ebene des Rehabilitationssystems Die Zielstellung der Rehabilitation variiert auf der Ebene des Rehabilitationssystems aber auch von Rehabilitationsform zu Rehabilitationsform sowie in Abhängigkeit von den jeweiligen Kostenträgern. Die den einzel-

der Ebene der Körperfunktionen Auf der Ebene der Körperfunktionen können folgende Rehabilitationsziele definiert werden: 4 Verbesserung von mentalen Funktionen: In der Frühehabilitation (aber auch in der Anschlussrehabilitation) geht es häufig zunächst darum, die gestörte Wahrnehmung des Patienten und seine kognitive Leistungsfähigkeit zu verbessern. Relevante Einzelfunktionen sind z. B. Orientierung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Wahrnehmung und kognitivsprachliche Funktionen. Eingeschlossen sind aber auch Schlaffunktionen und der Antrieb sowie die Verhaltensregulation. Diese Funktionen sind insbesondere bei primären oder sekundären Störungen der Hirnfunktion beeinträchtigt. 4 Im Bereich der Sinnesfunktionen einschließlich Schmerz ist in der Rehabilitationspraxis zunächst eine adäquate Schmerztherapie von Bedeutung. Darüber hinaus gehören die höheren Sinnesfunktionen, wie das Hören, Sehen, Riechen und Schmecken hierher. In der ICF-Gliederung wird auch die in der sensomotorischen Rehabilitation besonders wichtige Verbesserung propriozeptiver Funktionen sowie die Tast- und Thermosensibilität hier subsummiert. Diese Rehabilitationsziele sind in unterschiedlicher Ausprägung in alle Phasen der Rehabilitation von Bedeutung.

120

Kapitel 4 · Grundlagen der Rehabilitation

. Tabelle 4.4. Vergleich der Indikationskriterien in den unterschiedlichen Rehabilitationsformen

4

Beschreibung

Rehabilitation in der akuten Krankheitsphase

Rehabilitation im Anschluss an die akute Krankheitsphase

Rehabilitation bei chronischen Erkrankungen oder bei verbliebenen Schädigungen

Entsprechung im deutschen Rehabilitationssystem

Fachübergreifende und fachspezifische (neurologische, geriatrische) Frührehabilitation

Anschlussrehabilitation, Anschlussheilverfahren

»Rehabilitation«a, stationäre Heilverfahren, ambulante Rehabilitationa

Kostenträger

Krankenversicherung (DRG-System)

Kranken- oder Rentenversicherung

Renten- oder Krankenversicherung

Ziele

Verbesserung basaler Körperfunktionen (z. B. Wahrnehmung, Orientierung, Schlucken) Anbahnung der basalen Selbstständigkeit im Alltag (ADL)

Wiedererlangen der Selbstständigkeit, Wiederherstellung der körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit, Reintegration nach akuten Erkrankungen

Erhaltung oder Wiederherstellung der beruflichen (Rentenversicherung) oder allgemeinen (Krankenversicherung) Leistungsfähigkeit, Verhinderung beruflicher Leistungsminderung

Veranlassung und Entscheidung

Krankenhausarzt

Krankenhausarzt und Sozialdienst

Patient und Gutachterärzte der Versicherungen (mit Bescheinigungb durch behandelnden Arzt)

Rehabilitationsbedürftigkeit

Erhebliche Einschränkung der basalen Funktionen und voraussichtlich bleibende Einschränkung der funktionalen Gesundheit

Wesentliche Einschränkung der funktionalen Gesundheit nach akuten Erkrankungen mit drohenden bleibenden Defiziten der beruflichen Leistungsfähigkeit (Rentenversicherung) oder der Leistungsfähigkeit im Alltag (Krankenversicherung)

Einschränkung oder erhebliche Gefährdung der beruflichen Leistungsfähigkeit (Rentenversicherung) oder der Leistungsfähigkeit im Alltag (Krankenversicherung)

Rehabilitationsfähigkeit

Möglichkeit zur Teilnahme an den rehabilitativen Therapiemaßnahmen

Reisefähigkeit, Selbsthilfefähigkeit und Möglichkeit zur Teilnahme an aktiven Therapiemaßnahmen

Selbstständige Reisefähigkeit, Selbsthilfefähigkeit und Möglichkeit zur Teilnahme an aktiven Therapiemaßnahmen

Motivation und Motivierbarkeit

Auch bei noch wahrnehmungsgestörten Patienten möglich

Motivation zur aktiven Mitarbeit am Rehabilitationsprogramm oder realistische Chance zum Aufbau dieser Motivation

Motivation zur aktiven Mitarbeit am Rehabilitationsprogramm

Rehabilitationsprognose

Auch bei noch unsicherer Rehabilitationsprognose

Wiederherstellung einer beruflichen Leistungsfähigkeit

Wiederherstellung einer mindestens halbschichtigen beruflichen Leistungsfähigkeit oder einer befriedigenden Funktionsfähigkeit im Alltag ist zu erwarten

a b

gebräuchliche nicht klar definierte Termini die Verfahren unterscheiden sich in Abhängigkeit von den Kostenträgern, 7 Kap. 4.4

121 4.4 · Indikationsstellung und Zuweisung

4 Die Funktionen der Stimme und des Sprechens als wichtiger Bestandteil der aktiven Kommunikation sind in der neurologischen und fachübergreifenden Frührehabilitation von besonderer Relevanz. 4 Bei Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen, aber auch bei allgemeiner Dekonditionierung im Rahmen schwerer anderer Erkrankungen ist eine Verbesserung von Funktionen des kardiopulmonalen Systems und der peripheren Kreislauffunktionen in der Rehabilitation von besonderer Bedeutung. 4 In der Frührehabilitation stehen von den Funktionen des Verdauungssystems meist die Schluckstörungen (Dysphagie) und die Kontinenzfunktionen im Vordergrund der rehabilitativen Interventionen. Selbstverständlich gehört auch eine Normalisierung von endokrinen und Stoffwechselfunktionen zur Rehabilitation. Letzteres ist auch in der Rehabilitation chronisch Kranker der Fall, wenn es z. B. um die Rehabilitation von Diabetikern geht. 4 Ähnliches gilt für die urogenitalen und reproduktiven Funktionen: Während in der Akutrehabilitation die Kontinenz im Vordergrund steht, tritt in späteren Rehabilitationsphasen, z. B. nach urogenitalen Tumoren oder anderen Operationen am Urogenitalsystem neben der Miktionsfunktion auch die Wiederherstellung der Sexualfunktionen hinzu. 4 Bei den neuromuskuloskelettalen und bewegungsbezogenen Funktionen kommt es in der Akutrehabilitation vor allem darauf an, die Gelenkbeweglichkeit und -stabilität, die Rumpfkontrolle, die Muskelkraft und Ausdauer sowie die Bewegungskontrolle zu verbessern. Auch in der Rehabilitation bei Patienten mit chronischen Wirbelsäulen-, Gelenk und Muskelerkrankungen sind diese Funktionen – allerdings auf einer anderen Funktionsstufe – wichtige Rehabilitationsziele 4 Bei den Hautfunktionen sind in der akuten Phase vor allem die Durchblutung sowie die Verhinderung von Druckgeschwüren von Bedeutung. Für chronische Hauterkrankungen gibt es spezielle Rehabilitationsprogramme.

4

4.3.4 Allgemeine Rehabilitationsziele

auf der Ebene der Aktivitäten und Teilhabe Allgemeine Rehabilitationsziele auf der Ebene der Aktivitäten und Teilhabe sind: 4 Wiedererlernen alltäglicher Funktionen (»activities of daily living«, ADL) wie Waschen, Anziehen, Essen, An- und Auskleiden, Transfer. 4 Kommunikation (insbesondere in der Rehabilitation von Patienten mit neurologischen Erkrankungen). 4 Mobilität, und zwar sowohl in den Frühphasen der Rehabilitation, aber auch bei chronischen Erkrankungen und bleibenden Schädigungen des Bewegungsapparates und des Nervensystems. 4 Ein globales Rehabilitationsziel ist neben den ADLFunktionen auch die Befähigung des Patienten, in seiner häuslichen Umgebung selbstständig zu leben, was die Essenszubereitung und die Erledigung der wichtigsten Hausarbeiten einschließt. 4 Die Arbeit an der Beziehungsfähigkeit betrifft u. a. die psychiatrische und psychosomatische Rehabilitation, aber auch die Rehabilitation bei Hirnerkrankungen bzw. Hirnschäden. 4 Die in der ICF als bedeutende Lebensbereiche bezeichneten Aktivitäten sowie die Teilnahme am sozialen, beruflichen, religiösen und politischen Leben stellt letztendlich eine zentrale Zielstellung aller Rehabilitationsmaßnahmen dar. Auch die von den Rehabilitationsträgern häufig formulierten Rehabilitationsziele »Rehabilitation vor Rente« oder »Rehabilitation vor Pflege« gehört genauso wie die berufliche Reintegration in diesen Bereich. Welche Rehabilitationsformen zu diesen Zielen führen, wird in den 7 Kap. 4.5 und 7 Kap. 4.6 dargestellt.

4.4

Indikationsstellung und Zuweisung

Für alle Formen der medizinischen Rehabilitation ist eine bestehende Krankheit Voraussetzung, wobei die Krankheitsdiagnostik nach Möglichkeit abgeschlossen sein sollte. Darüber hinaus werden vorausgesetzt 4 ein bestehender Rehabilitationsbedarf, 4 eine vorliegende Rehabilitationsfähigkeit,

122

Kapitel 4 · Grundlagen der Rehabilitation

4 eine ausreichende Motivation oder eine erkennbare Motivierbarkeit sowie 4 eine positive Rehabilitationsprognose

4

Diese Kriterien gelten im Prinzip für alle Typen der medizinischen Rehabilitation, gewinnen aber je nach Funktionszustand und Krankheitsschwere in den einzelnen Phasen eine unterschiedliche Bedeutung (. Tab. 4.4).

kengeld, Rentenzahlungen, Schadensersatzansprüche). Es gibt aber auch Fälle, in denen eine Motivation primär nicht oder nur rudimentär vorhanden ist (z. B. fehlende Krankheitseinsicht [Anosognosie]). In einem solchen Fall ist abzuschätzen, ob eine Motivierung im Rahmen eines Rehabilitationsprogrammes nicht doch erreicht werden kann. Rehabilitationsprognose. Als vierte Voraussetzung zur

Rehabilitationsbedarf. Aus der Definition der Rehabi-

litation geht hervor, dass nicht eine Krankheit oder Schädigung alleine eine Indikation für eine Rehabilitationsmaßnahme sein kann. Vielmehr wird vorausgesetzt, dass relevante negative Krankheitsfolgen auf den Ebenen der Funktionen, Aktivitäten sowie Einschränkungen der Teilhabe vorliegen. In diesem Fall wird von einem Rehabilitationsbedarf gesprochen. Das Ausmaß der bestehenden Einschränkungen kann dabei je nach Rehabilitationsform sehr unterschiedlich sein. In der Rehabilitation der Rentenversicherung reicht eine bestehende oder drohende Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit aus. In der fachübergreifenden Frührehabilitation reicht die Erkenntnis, dass gravierende Störungen der Körperstrukturen und Körperfunktionen zu funktionellen Einschränkungen führen können (7 Kap. 4.5.1) Rehabilitationsfähigkeit. Als weitere patientenseitige

Voraussetzung zur Indikationsstellung für eine Rehabilitationsmaßnahme gilt die Rehabilitationsfähigkeit eines Patienten. Da Rehabilitationsmaßnahmen in der Regel einen hohen Anteil an aktiven Therapiemethoden beinhaltet und somit ein gewisses Ausmaß an Belastungsfähigkeit voraussetzen, ist die Rehabilitationsfähigkeit dadurch definiert, dass der Patient von seiner allgemeinen körperlichen und mentalen Verfassung in der Lage sein muss, die erforderliche Therapie zu tolerieren.

Einleitung von Rehabilitationsmaßnahme wird eine positive Rehabilitationsprognose gefordert, was bedeutet, dass das funktionelle oder soziale Rehabilitationsziel auch erreichbar ist. Dieses Kriterium wird wegen der Schwierigkeit, in der Frühphase der Rehabilitation eine verlässliche Prognose zu erstellen, heute weitgehend zurückgestellt, wobei betont wird, dass die Möglichkeit, das Rehabilitationsziel zu erreichen, ausreicht. Es versteht sich von selbst, dass die Rehabilitationsprognose immer auf das Rehabilitationsziel zu beziehen ist. In der Akutrehabilitation oder in der geriatrischen Rehabilitation reicht oft das Erreichen der Selbstständigkeit im Haus als Rehabilitationsziel, während in der Rehabilitation der Rentenversicherung die Wiederherstellung einer ausreichenden beruflichen Leistungsfähigkeit gefordert wird.

Abgrenzung der Rehabilitation zur Palliativmedizin Im Akutkrankenhaus ist es bei Schwerstbetroffenen oft schwierig, eine sichere Rehabilitationsprognose zu stellen. Dadurch ist auch die Abgrenzung von der Palliativmedizin erschwert und eine Zuweisungsentscheidung oft nicht eindeutig zu treffen. Auch in der Palliativmedizin geht es um eine Verbesserung der Lebensqualität. Sie kommt zum Einsatz, wenn keine Aussicht auf Wiederherstellung oder wesentliche Besserung der funktionalen Gesundheit mehr besteht.

Motivation und Motivierbarkeit. Da die Rehabilitation

eine aktive Mitarbeit des Betroffenen voraussetzt, ist das Vorliegen einer Motivation zur Rehabilitation bzw. der Wunsch, an der bestehenden Situation etwas zu ändern, für den Rehabilitationserfolg essenziell. Bei fehlender Motivation ist ein Rehabilitationserfolg nicht zu erwarten. Gehemmt werden kann die Motivation zur Rehabilitation, insbesondere durch einen sekundären Krankheitsgewinn, sei es auf sozialer Ebene (Zuwendung, Schonung) oder durch finanzielle Vorteile (Kran-

ä Beispiel Ein 22-jähriger Patient wird mit hohem Fieber, Luftnot, Verwirrtheit und beginnenden Paresen im Bereich der Extremitäten in die medizinische Notfallaufnahme eingeliefert. Die umfangreiche Diagnostik erbringt eine Pneumocystis-carinii-Pneumonie mit begleitender Kryptokokkenmeningitis und Pilzpneumonie. Als Grundlage dieser Infektionen wird als

6

123 4.4 · Indikationsstellung und Zuweisung

Erstdiagnose eine HIV-Infektion festgestellt. Bei rasanter Verschlechterung des Zustandes muss der Patient intensivmedizinisch behandelt werden. Es folgen 32 Tage maschineller Beatmung mit multiplen Komplikationen bei zwischenzeitlicher Dialysepflichtigkeit sowie zweimaliger kardiopulmonaler Reanimation. Bei noch nachweisbaren deutlichen pulmonalen Infiltraten erfolgt dann die Weaningphase und Extubation. Der folgende Verlauf gestaltet sich bei rezidivierenden Infektionen schwierig. Trotz unsicherer Prognose wird der Patient in die Abteilung für fachübergreifende Frührehabilitation übernommen. Neben einer Fortführung der akutmedizinischen Maßnahmen, im Wesentlichen Antibiose und Start einer antiretroviralen Therapie, erfolgt eine umfangreiche frührehabilitative Therapie mit Schwerpunkt auf Atmung und Belastbarkeit sowie der Verbesserung neuropsychologischer Defizite und der Feinmotorik. Im Verlauf kommt es zu rascher Stabilisierung und dann Leistungssteigerung. Infekte treten nicht mehr auf, die antiretrovirale Therapie wird gut vertragen. Nach 4-wöchiger frührehabilitativer Behandlung ist der 22-jährige Patient so weit stabilisiert, dass er in eine Anschlussheilbehandlung verlegt werden kann.

Fazit Die Kriterien zur Beurteilung von Rehabilitationsbedarf, Rehabilitationsfähigkeit und Rehabilitationsprognose variieren je nach Form und Setting einer Rehabilitationsmaßnahme. Darüber hinaus werden sie von der Zielstellung und dem Kostenträger der Maßnahme mitbestimmt (. Tab. 4.1). Die diagnostischen Kriterien zu ihrer Festlegung werden in 7 Kap. 5 beschrieben.

Zuweisung. Die Zuweisung zu den einzelnen Rehabilitationsformen ergibt sich aus der Krankheitsdiagnose, dem Krankheitsstadium und der Stärke und Art der funktionellen Einschränkung (. Tab. 4.5). Im Akutstadium, d. h. wenn noch akutstationärer Behandlungsbedarf besteht, erfolgt die Zuweisung in die Frührehabilitation. Nach Wegfall des akutstationären Behandlungsbedarfs kann der Patient in die Anschlussrehabilitation verlegt werden. Bei chronischen Erkrankungen und einer Gefährdung der beruflichen Leistungsfähigkeit erfolgt die Zuweisung in die Rehabilitation der Rentenversicherungsträger. Kriterien für die Differenzierung zwischen ambulanten (teilstationären) und stationären Heilverfahren sind in . Tab. 4.5 aufgeführt. Die Frührehabilitation wird durch Verlegung innerhalb des Krankenhauses veranlasst (Abteilung für fachübergreifende Frührehabilitation). Auch die Anschlussrehabilitation wird durch den Krankenhausarzt (nach Prüfung der sozialrechtlichen Voraussetzungen durch den Sozialdienst. Heilverfahren bei chronischen Erkrankungen müssen in der Rentenversicherung durch den Versicherten selbst beantragt werden. Der Hausarzt ist hier nur Gutachter im Antragsverfahren. Die Zuweisung in die Rehabilitationseinrichtung erfolgt über die Prüfärztlichen Dienste der Rentenversicherung. p Der behandelnde Atzt kann aber durchaus auch eine Anregung zur Rehabilitation auf Kosten der Rentenversicherung geben. Bei Unklarheiten über die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen oder über die Zuständigkeit für die Kostenübernahme können sich der Arzt oder der Patient selbst an die Servicestellen der Rehabilitationsträger wenden.

In der Gesetzlichen Krankenversicherung ist nach der 2006 in Kraft getretenen »Rehabilitationsrichtlinie« der Vertragsarzt berechtigt, Rehabilitationsmaßnahmen einzuleiten, muss aber hierfür eine spezielle Qualifika-

. Tabelle 4.5. Kriterien für die Zuweisung zu stationären oder teilstationären Heilverfahren

Mobilität Bedarf an pflegerischer Betreuung Erforderliche Distanzierung vom häuslichen Umfeld Äußere Gründe für häusliche Anwesenheit Fahrzeit zum Rehabilitationszentrum

4

Teilstationär

Stationär

Höher Geringer Nein Ja rechts) 5 Endgradig schmerzhafte Einschränkung der Schultermobilität (links > rechts) in allen Ebenen 5 Rumpfmobilität in der Rotation und in der Vorbeugung endgradig eingeschränkt 5 Eingeschränkte Gleichgewichtsreaktion vor allem beim Gehen 5 Adipositas Aktivitäts-/Partizipationsdiagnosen 5 Dysphagietherapie: Ziele wurden erreicht (Verbesserung der Mundmotorik, -Koordination und Schlucken). 5 Herr A. ist in der Lage, komplexe Aufgaben zu lösen sowie Mehrfachaufgaben zu übernehmen.

6

127 4.5 · Rehabilitationsformen

Transfers Bett–Stand–Stuhl ohne Unterstützung möglich (Bewegungsfluss noch reduziert). Freier Stand noch etwas breitbeinig, aber frei. Rumpfaufrichtung passiv und aktiv durchführbar. Eine Gehstrecke von ca. 150 m kann Herr A. mit insgesamt 2 Pausen, 100 m frei ohne Stütze und 50 m mit Rollator, zurücklegen. Das Gleichgewicht ist noch nicht vollständig hergestellt. 5 Die tägliche Grundpflege (Wasch-/Anziehtraining) kann er jetzt im Stehen fast selbstständig durchführen. Sich allein duschen ist aber noch nicht möglich. Die Zubereitung des Frühstückes kann er inzwischen allein bewältigen. Kontexfaktoren Herr A. ist sehr motiviert und mit positiver Grundstellung an seiner Genesung beteiligt. Manchmal überschätzt er seine eigene Leistungsfähigkeit, sodass er Situationen, wo Gefährdung besteht, übersieht. Als Hilfsmittel wurde für kurze Strecken ein Rollator erprobt. Reha-Empfehlungen 5 Fortführung der klassischen Massagen und ggf. Warmpackungen zur Detonisierung der Muskulatur 5 Verbesserung der Belastbarkeit und Kraft mit Einsatz z.B. einer vorsichtig dosierten medizinischen Trainingstherapie 5 Erhaltung/Verbesserung der Atemtiefe 5 Wiederherstellen eines größeren Bewegungsausmaßes der linken Schulter. Darüber hinaus Gleichgewichtschulung 5 Rumpfmobilisation und Ökonomisierung des Bewegungsganges/Bewegungsflusses 5 Weitere Erarbeitung der ADL-Sequenzen, um mehr Selbstständigkeit im Alltag zu gewinnen

Subakutrehabilitation > Heilverfahren in Rehabilitationsfachkliniken, die sich unmittelbar an eine (Akut-)Krankenhausbehandlung anschließen oder in engem zeitlichen Zusammenhang (maximal 14 Tage nach Entlassung) zu ihnen stehen, werden in der Systematik der deutschen Rentenversicherungsträger als »Anschlussheilbehandlung« (AHB), in der der Krankenversicherung als »Anschlussrehabilitation« bezeichnet.

4

Dieses Verfahren wurde etabliert, um bei akuten Erkrankungen oder Gesundheitsstörungen wie z. B. Schlaganfall, Tumorleiden, Herzinfarkt oder Polytrauma einen möglichst frühen Beginn von Rehabilitationsmaßnahmen und einen nahtlosen Übergang vom Akutkrankenhaus in die Rehabilitation zu gewährleisten. Im Gegensatz zu den stationären Heilverfahren bei chronischen Erkrankungen muss die Anschlussrehabilitation nicht vom Versicherten selbst beantragt werden, sondern soll direkt vom Krankenhausarzt veranlasst werden. Indikationen. Die Verordnung von Anschlussheilbehandlungen bzw. -rehabilitationsmaßnahmen setzt eine Indikation voraus, die in einem speziellen Indikationskatalog für Anschlussheilbehandlungen zusammengefasst ist (. Tab. 4.6). Er enthält alle einen Rehabilitationsbedarf nach sich ziehenden akuten Krankheitsbilder. Durchführung. Anschlussheilbehandlungen können stationär und teilstationär (tagesklinisch) durchgeführt werden. Sie werden in fachspezifisch orientierten (orthopädisch, neurologisch, internistisch u. a.) Fachkliniken durchgeführt. Auch hier finden sich ärztlich geleitete multiprofessionelle Rehabilitationsteams, deren Zusammensetzung fachspezifisch unterschiedlich ist. Die Therapie bei Anschlussheilbehandlungen ist im Vergleich zu den stationären Heilverfahren bei chronischen Erkrankungen (s. u.) stärker auf die bestehende Indikation, d. h. die Wiederherstellung der durch die akute Erkrankung gestörten oder beeinträchtigten Funktion abgestimmt. So stehen z. B. nach Totalendoprothesenimplantationen die nach Vorgabe des Operateurs dosierten Gehübungen mit steigender Belastung bis hin zur Vollbelastung im Vordergrund. In der neurologischen Anschlussrehabilitation steht die Wiederherstellung der z. B. durch einen Schlaganfall ausgefallenen Funktionen, wie das Gehen oder die Aktivitäten des täglichen Lebens im Zentrum der Intervention. Entsprechendes gilt für die Anschlussrehabilitation nach kardialen Ereignissen, die insbesondere zur Wiederherstellung der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit führen soll. Selbstverständlich werden alle Begleiterkrankungen mit in das Therapieprogramm einbezogen. Anschlussheilbehandlungen können in Deutschland auch bei Karzinomerkrankungen gewährt werden. Je nach Versichertenstatus werden die Kosten der Anschluss-

128

Kapitel 4 · Grundlagen der Rehabilitation

. Tabelle 4.6. Katalog der AHB-Indikationen. (Nach Verband Deutscher Rentenversicherungsträger 2003)

4

Nr.

Diagnose

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Krankheiten des Herzens und des Kreislaufs Krankheiten der Gefäße Entzündlich-rheumatische Erkrankungen Degenerativ-rheumatische Krankheiten und Zustände nach Operationen und Unfallfolgen an den Bewegungsorganen Gastroenterologische Erkrankungen und Zustände nach Operationen an den Verdauungsorganen Stoffwechselerkrankungen Krankheiten und Zustände nach Operationen an den Atmungsorganen Krankheiten der Niere und Zustand nach Operationen an Nieren, ableitenden Harnwegen und Prostata Neurologische Krankheiten und Zustand nach Operationen an Gehirn, Rückenmark und peripheren Nerven Bösartige Geschwulsterkrankungen und maligne Systemerkrankungen Gynäkologische Krankheiten und Zustand nach Operationen

heilbehandlung bzw. Anschlussrehabilitation von der Renten- oder der Krankenversicherung getragen. Ein Beispiel für einen Therapieplan einer Anschlussheilbehandlung zeigt . Tab. 4.7. Entlassung. Der Entlassungsbericht enthält Informati-

onen über Behandlungsverlauf und aktuelle Belastbarkeit, Empfehlungen zur Weiterbehandlung sowie eine sozialmedizinische Beurteilung insbesondere der beruflichen Leistungsfähigkeit.

in Form von stationären Heilverfahren durchgeführt. Ziel dieser Heilverfahren ist im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung die Erhaltung oder Wiederherstellung der beruflichen Leistungsfähigkeit nach dem schon erwähnten Grundsatz »Rehabilitation vor Rente«. In der gesetzlichen Krankenversicherung können stationäre oder ambulante Heilverfahren auch unter allgemeinen rehabilitativen Zielsetzungen (Verbesserung der Lebensqualität chronisch Kranker) oder zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit (»Rehabilitation vor Pflege«) finanziert werden.

Rehabilitation bei chronischer Erkrankung Die meisten Rehabilitationsmaßnahmen bei Patienten mit chronischen Krankheiten werden in Deutschland

Indikationen.Eine Beschränkung der Verordnung stationärer oder teilstationärer Heilverfahren auf be-

. Tabelle 4.7. Beispiel für einen Therapieplan einer Anschlussheilbehandlung: 65-jährige Patientin mit Implantation einer Hüft-Totalendoprothese rechts. Nebendiagnosen nicht-insulinpflichtiger Diabetes mellitus bei Adipositas

Therapieform

Dosierung

Krankengymnastik mit Gehschule an zwei Unterarm-Gehstützen mit stufenweisem Belastungsaufbau (nach Vorgabe des Operateurs) und Kräftigungsübungen für die Hüftabduktoren

Täglich 30 min

Bewegungsbad in der Gruppe

3-mal pro Woche 30 min

Rücken und Gelenkschule (Gruppe)

1-mal pro Woche

Fangopackungen im Iliolumbalbereich

3-mal pro Woche

Klassische Massagen der Rücken und Oberschenkelmuskulatur

3-mal pro Woche

Manuelle Mobilisationsbehandlung der Sakroiliakalgelenke

2-mal

Kalorienreduzierte Diät und Reduktion leichtresorbierbarer Kohlenhydrate

1200 kcal/Tag

Ernährungsberatung (Einzeln)

1-mal

Diabetesschulung (Gruppe)

1-mal pro Woche

129 4.5 · Rehabilitationsformen

stimmte Diagnosen besteht nicht. Die wesentlichen patientenseitigen Voraussetzungen für medizinische Rehabilitationsmaßnahmen sind in 7 Kap. 5 dargestellt. Durchführung. Die Behandlung besteht in der Regel in dreiwöchigen stationären (oft wohnortfernen) Aufenthalten in Rehabilitationsfachkliniken, die in Deutschland gemäß der historischen Entwicklung (s. o.) meist in Heilbädern oder Kurorten lokalisiert sind. Die Dauer der Regelbehandlung beträgt derzeit 3 Wochen, kann aber bei bestehender medizinischer Indikation auf 4–6 Wochen verlängert werden. Während dieser Rehabilitationsmaßnahmen werden verschiedene physikalische und balneologische Therapiemaßnahmen appliziert. In der Regel finden gleichzeitig psychologische Interventionen und Patientenschulungen statt. Während der Heilverfahren wird auch eine sozialmedizinische Beurteilung vorgenommen, die ggf. Grundlage für weitere soziale Weichenstellungen – wie z. B. berufliche oder

4

soziale Rehabilitationsmaßnahmen (s. u.) oder auch Rentenzahlungen – ist. Ein Beispiel für einen Therapieplan einer Anschlussheilbehandlung zeigt . Tab. 4.8. Die Langzeitwirksamkeit stationärer Heilverfahren bei verschiedenen chronischen Erkrankungen des Bewegungsapparates mit Effekten zwischen 6 und 24 Monaten sind belegt, und zwar sowohl anhand von Einzelsymptomen, der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, sozialmedizinischer Parameter und gesundheitsökonomischer Daten. Alternativ zu den genannten stationären Heilverfahren wurden in den letzten Jahren teilstationäre und ambulante Rehabilitationsmaßnahmen eingeführt, bei denen die Patienten zu Hause wohnen und tagsüber in der Rehabilitationseinrichtung behandelt werden. Die Interventionen entsprechen weitgehend dem der stationären Rehabilitationskliniken. Vorteil dieser Maßnahme ist, dass sie wohnortnah durchgeführt werden können. Anhaltspunkte für die Zuweisung in stationäre oder ambulante Rehabilitationsmaßnahmen sind z. B.:

. Tabelle 4.8. Beispiel für einen Therapieplan eines stationären Heilverfahrens: 45-jähriger Patient mit chronischem Lumbalsyndrom, Hypercholesterinämie und Hyperurikämie

Therapieform

Dosierung

Krankengymnastik zur Haltungsschulung und Muskelbalancierung im Rumpfbereich, Koordinationsübungen auf labilen Unterlagen

3-mal pro Woche 30 min

Medizinische Trainingstherapie der Rückenstrecker und Bauchmuskulatur

Werktäglich 30 min

Manualmedizinische Mobilisierung der Blockierungen im Bereich der Lendenwirbelsäule und der Sakroilikalgelenke

1-mal pro Woche

Rückenschule (Gruppe)

1-mal pro Woche

Fangopackung Rücken

3-mal pro Woche 20 min

Stangerbäder mit Längsdurchflutung

3-mal pro Woche 20 min

Psychologische Einzelgespräche

2-mal pro Woche

Progressive Muskelrelaxation (Gruppe)

2-mal pro Woche für 30 min

Schwimmunterricht (individuell)

1-mal

Rückenschwimmen

Täglich 15–30 min

Ernährungsschulung (Gruppe)

1-mal pro Woche

Lipidarme und purinarme Diät

2.400 kcal/Tag

Sozialberatung

1-mal 60 min

Versorgung mit rückengerechter Matratze

1-mal

Verordnung einer aktivierenden Lumbalorthese nach vorhergehendem Orthesentest

1-mal

130

Kapitel 4 · Grundlagen der Rehabilitation

4 Mobilität Bedarf an pflegerischer Betreuung 4 Erforderliche Distanzierung vom häuslichen Umfeld 4 Äußere Gründe für häusliche Anwesenheit 4 Fahrzeit zum Rehabilitationszentrum

4

Entlassung. Auch hier enthält der Entlassungsbericht

Empfehlungen für die Weiterbehandlung und erfüllt die Kriterien eines sozialmedizinischen Gutachtens der Rentenversicherung. Rehabilitation im ambulanten Versorgungsbereich Neben den beschriebenen klassischen Rehabilitationsbereichen haben sich auch im ambulanten Versorgungsbereich rehabilitative Versorgungsstrukturen gebildet, und zwar 4 in der vertragsärztlichen Versorgung, 4 als Nachsorge nach stationären Heilverfahren und als 4 mobile (aufsuchende) Rehabilitation. Im vertragsärztlichen Bereich etablieren sich rehabilitative Strukturen durch niedergelassene Fachärzte für Physikalische und Rehabilitative Medizin. Sie versorgen Patienten mit physikalisch-medizinischen Therapien und rehabilitativen Interventionen, die ambulant verordnet werden. Dabei können auch alle wichtigen diagnostischen Maßnahmen der Physikalischen Medizin und Rehabilitation durchgeführt werden. Zur Sicherstellung eines dauerhaften Rehabilitationserfolges bei zeitlich begrenzten stationären oder ambulanten Heilverfahren wurden zunehmend Nachsorgeinterventionen entwickelt. Sie können z. B. in Gruppentherapien bestehen (Rehabilitationssport oder Funktionstraining), das in ambulanten Einrichtungen oder aber bei den Selbsthilfegruppen angesiedelt wird. Hierzu bestehen spezielle Rahmenempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation. Dieses Funktionstraining ist nach Abschluss des Heilverfahrens vom Rehabilitationsarzt zu empfehlen.

tung zur medizinischen Rehabilitation vom Ärzteteam zum Ende des Aufenthaltes in der Rehabilitationseinrichtung empfohlen werden. Es wird in den folgenden Indikationen angeboten: 5 Herz-Kreislauf-Erkrankungen 5 Erkrankungen des Bewegungsapparates 5 Neurologische Erkrankungen 5 Stoffwechselerkrankungen 5 Psychische Erkrankungen (außer stoffgebundene Abhängigkeitserkrankungen)

Bei kranken Menschen, bei denen Einschränkungen von Aktivität und Teilhabe bestehen, z. B. nach Schlaganfall oder größeren Operationen am Bewegungsapparat, und die aus verschiedenen Gründen nicht in stationäre oder ambulante Rehabilitationseinrichtungen verlegt werden können und bei denen keine Indikation zur Akutbehandlung besteht, ist eine mobile (aufsuchende) Rehabilitation sinnvoll. Dieses Verfahren ist in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht flächendeckend etabliert, wurde aber in einigen Modellversuchen in Bezug auf Alltagsfunktionen und Selbstständigkeit der Patienten erfolgreich getestet. Ein besonderer Vorteil der aufsuchenden Rehabilitation ist, dass eine gezielte Analyse und Adaptation der Wohnumwelt und Einbeziehung von Angehörigen möglich wird. In Frage kommen vor allem geriatrische Patienten, bei denen Gründe gegen die Durchführung eines stationären oder ambulanten Heilverfahrens bestehen bzw. eine Rehabilitationsfähigkeit für diesen Bereich nicht gegeben ist. Die ambulante Rehabilitation wird ähnlich wie bei allen anderen Rehabilitationsformen von einem ärztlich geleiteten multiprofessionellen Rehabilitationsteam durchgeführt, das z. B. aus Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Masseuren, Schluck- und Sprachtherapeuten bestehen kann. Wiedereingliederung ins Arbeitsleben Eine besondere medizinische Leistung der Rehabilitation ist die Wiedereingliederung in das Arbeitsleben.

Ein spezielles Nachsorgeprogramm der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte ist die sog. Intensivierte Rehabilitationsnachsorge (IRENA). Sie kann im Anschluss an eine stationäre oder ambulante Leis-

Im Rahmen eines Stufenplanes wird der kranke und behinderte Mensch schrittweise (stundenweise) an die Belastungen des alten Arbeitsplatzes herangeführt, bis die volle Arbeitsfähigkeit erreicht ist. Die stufenweise Wiedereingliederung kann individuell gestaltet werden (entsprechend der gesundheitlichen Störung, den Funktionseinschränkungen, den

6

6

Intensivierte Rehabilitationsnachsorge

131 4.5 · Rehabilitationsformen

persönlichen Faktoren und den organisatorischen Möglichkeiten des Betriebs). Der Wiedereingliederungsplan wird in Abstimmung mit dem behandelnden Arzt, dem zuständigen Rehabilitationsträger, dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer erstellt.

4.5.2 Leistungen zur Teilhabe am

Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation) > Ziel der beruflichen Rehabilitation ist es, die Erwerbsfähigkeit behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben möglichst auf Dauer zu sichern (7 Kap. 6.14).

Mit Inkrafttreten des Neunten Sozialgesetzbuchs (SGB IX) wurde der Begriff der »Leistungen zur Beruflichen Rehabilitation« in »Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben« umgewandelt. Sie können bestehen in: 4 Hilfen zur Erhaltung und Erlangung eines Arbeitsplatzes, wie z. B. Beratung und Vermittlung, Trainingsmaßnahmen und Mobilitätshilfen 4 Berufsvorbereitung und Grundausbildung 4 Berufliche Anpassung, berufliche Ausbildung und Weiterbildung Darüber hinaus können folgende Kosten übernommen bzw. gewährt werden: 4 Kosten für Hilfsmittel, technische Arbeitshilfen und Wohnungshilfen 4 Leistungen an Arbeitgeber zur Unterstützung der Beschäftigungsbereitschaft 4 Leistungen in einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen 4 Ergänzende Leistungen (Kosten für Unterkunft und Verpflegung bei Fortbildungen, Fortbildungskosten, Lernmittel, Arbeitskleidung, Haushaltshilfen u. a.)

4.5.3 Leistungen zur Teilhabe am Leben

in der Gemeinschaft (soziale Rehabilitation) > Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zielen darauf, behinderte Menschen 6

4

in die Gesellschaft zu reintegrieren oder durch Hilfsmittel abzusichern oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Ziel ist eine größtmögliche Selbstständigkeit und Integration in das soziale Umfeld.

Die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft können beispielsweise bestehen in: 4 Hilfsmittel und Hilfen 4 Heilpädagogische Leistungen 4 Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten 4 Hilfen zur Verständigung mit der Umwelt Hilfen bei der Beschaffung, Ausstattung und Erhaltung einer Wohnung 4 Hilfen zum selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten 4 Hilfen zur Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben 4 Weitere Leistungen der Eingliederungshilfe

4.5.4 Sonstige unterhaltssichernde und

ergänzende Leistungen zur Teilhabe (finanzielle Zuschüsse) Sonstige finanzielle Zuschüsse zur Teilhabe dienen der Unterhaltssicherung sowie der Erstattung bzw. dem Ausgleich von Kosten, die in Zusammenhang mit einer Leistung entstehen. Die wichtigsten derartigen Leistungen sind: 4 Krankengeld, Übergangsgeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld 4 Beiträge und Beitragszuschüsse zur gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie zur Bundesagentur für Arbeit 4 Rehabilitationssport in Gruppen einschließlich Übungen für behinderte oder von Behinderung bedrohte Frauen und Mädchen, die der Stärkung des Selbstbewusstseins dienen 4 Funktionstraining in Gruppen 4 Fahr- und andere Reisekosten 4 Betriebs- oder Haushaltshilfe, Kinderbetreuungskosten 4 Kraftfahrzeughilfen 4 Nach- und Festigungskuren wegen Geschwulsterkrankungen 4 Stationäre Heilbehandlung für Kinder 4 Wohnungshilfe

132

Kapitel 4 · Grundlagen der Rehabilitation

. Tabelle 4.9. Definition der Frührehabilitation im OPS-Katalog Version 2006

OPS-Ziffer

Bezeichnung

Mindestmerkmale (Auszüge)

8-550

Geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung

5 Behandlung durch ein geriatrisches Team unter fachärztlicher Behandlungsleitung (Zusatzweiterbildung im Bereich »Klinische Geriatrie«) […] 5 Standardisiertes geriatrisches Assessment zu Beginn der Behandlung in mindestens 4 Bereichen (Mobilität, Selbsthilfefähigkeit, Kognition, Emotion) und vor der Entlassung in mindestens 2 Bereichen (Selbstständigkeit, Mobilität) 5 Soziales Assessment zum bisherigen Status in mindestens 5 Bereichen (soziales Umfeld, Wohnumfeld, häusliche/außerhäusliche Aktivitäten, Pflege-/Hilfsmittelbedarf, rechtliche Verfügungen) 5 Wöchentliche Teambesprechung […] 5 Aktivierend-therapeutische Pflege durch besonders geschultes Pflegepersonal 5 Teamintegrierter Einsatz von mindestens 2 der folgenden 4 Therapiebereiche: Physiotherapie/Physikalische Therapie, Ergotherapie, Logopädie/fazioorale Therapie, Psychologie/Neuropsychologie

8-552

Neurologischneurochirurgische Frührehabilitation

5 Frührehateam unter Leitung eines Facharztes für Neurologie, Neurochirurgie, Physikalische und Rehabilitative Medizin oder Kinder- und Jugendmedizin mit der Zusatzbezeichnung Neuropädiatrie […] 5 Standardisiertes Frührehabilitations-Assessment zur Erfassung und Wertung der funktionellen Defizite in mindestens 5 Bereichen (Bewusstseinslage, Kommunikation, Kognition, Mobilität, Selbsthilfefähigkeit, Verhalten, Emotion) zu Beginn der Behandlung […] 5 Wöchentliche Teambesprechung […] 5 Aktivierend-therapeutische Pflege […] 5 Vorhandensein und Einsatz von folgenden Therapiebereichen: Physiotherapie/ Krankengymnastik, Physikalische Therapie, Ergotherapie, Neuropsychologie, Logopädie/fazioorale Therapie und/oder therapeutische Pflege (Waschtraining, Anziehtraining, Esstraining, Kontinenztraining, Orientierungstraining, Schlucktraining, Tracheostomamanagement, isolierungspflichtige Maßnahmen u. a.) in patientenbezogenen unterschiedlichen Kombinationen […]

8-559

Fachübergreifende und andere Frührehabilitation

5 Frührehateam unter fachärztlicher Behandlungsleitung (mindestens 5 Jahre in der Rehabilitationsmedizin tätig oder 5 Jahre Tätigkeit in der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin oder Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin) 5 Standardisiertes Frührehabilitations-Assessment oder Einsatz von krankheitsspezifischen Scoring-Systemen zur Erfassung und Wertung der funktionellen Defizite in mindestens 5 Bereichen (Bewusstseinslage, Kommunikation, Kognition, Mobilität, Selbsthilfefähigkeit, Verhalten, Emotion) zu Beginn der Behandlung 5 Wöchentliche Teambesprechung […] 5 Aktivierend-therapeutische Pflege durch besonders geschultes Pflegepersonal (therapeutische Lagerung, Mobilisierung, Körperpflege, Kleiden, Essen und Trinken; Ausscheidungstraining, Wahrnehmungsförderung, Aktivierungstherapie, Trachealkanülenmanagement u. a.) 5 Vorhandensein von mindestens 4 der folgenden Therapiebereiche: Physiotherapie/Krankengymnastik, Physikalische Therapie, Ergotherapie, Neuropsychologie, Psychotherapie, Logopädie/fazioorale Therapie/Sprachtherapie, künstlerische Therapie (Kunst- und Musiktherapie), Dysphagietherapie und Einsatz von mindestens 3 dieser Therapiebereiche […] 5 Entlassungsassessment zur gezielten Entlassung oder Verlegung des Patienten

4

133 4.6 · Rechtliche Grundlagen und Finanzierung der Rehabilitation

4.6

Rechtliche Grundlagen und Finanzierung der Rehabilitation

Seit 2001 sind die meisten rehabilitationsrelevanten Rechtsvorschriften in Deutschland im Sozialgesetzbuch IX zusammengefasst, das den Titel »Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen« trägt und das Behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen ein Recht auf Leistungen, »um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern« garantiert. Diesen Leistungen wird Vorrang vor Rentenleistungen eingeräumt. Der Grundsatz der Rehabilitation wird aber auch in anderen Sozialgesetzbüchern berücksichtigt, so z. B. im SGB V (Rehabilitation im Akutkrankenhaus) und im SGB XI (Rehabilitation vor Pflege). Dabei werden die Rehabilitationsziele von den Kostenträgern gemäß ihrem gesetzlichen Versorgungsauftrag unterschiedlich definiert. So entspricht der zitierte Grundsatz der »Rehabilitation vor Pflege« in der Pflegeversicherung dem Grundsatz der »Rehabilitation vor Rente« der gesetzlichen Rentenversicherung, die daher Rehabilitationsmaßnahmen insbesondere dann finanziert, wenn eine Erhaltung oder Wiederherstellung der beruflichen Leistungsfähigkeit erwartet werden kann. Nicht zuletzt gibt es neben der medizinischen Rehabilitation auch berufliche Rehabilitationsmaßnahmen, beispielsweise auf Kosten der Arbeitsverwaltung (Arbeitsagenturen).

> Es ist unerlässlich, dass der in der Rehabilitation tätige Arzt sich außer mit den patientenseitigen Voraussetzungen auch mit den sozialrechtlichen Gegebenheiten vertraut macht.

Die Rehabilitation im Akutkrankenhaus wird in Deutschland im Fallpauschalensystem (»Diagnosis Related Groups«, DRG) über die Krankenkassen finanziert. Dabei sind spezielle Prozeduren (. Tab. 4.9) definiert, die bei bestimmten Krankheiten zu höher bewerteten Fallpauschalen führen (z. B. Krankheiten des Nervensystems mit komplexer Diagnose mit schweren Komplikationen, Polytrauma). Diese Listen werden alljährlich neu gefasst, sodass sich kurzfristige Änderungen ergeben können (aktuelle Informationen unter: www.dimdi.de). Anschlussheilbehandlungen nach Krankenhausaufenthalten sowie stationäre und ambulante Heilverfahren können von der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) finanziert werden, und zwar immer dann, wenn die Erwerbsfähigkeit gemindert oder erheblich gefährdet ist. Wenn die Rentenversicherung nicht zuständig ist, werden die Kosten von der Krankenversicherung oder einer anderen Sozialversicherung (Sozialamt, Arbeitsgemeinschaften nach dem Hartz-IVGesetz) übernommen. Bei Arbeits- und Wegeunfällen sind die Berufsgenossenschaften (BGen) für den gesamten Rehabilita-

. Tabelle 4.10. Leistungsträger der Rehabilitation. (Nach Steinke 2004)

Leistungsträger

Medizinische Rehabilitation

Gesetzliche Krankenkassen

X

Gesetzliche Unfallversicherung (Berufsgenossenschaften)

Berufliche Rehabilitation (Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben)

Unterhaltssichernde und andere Leistungen (Leistungen zur Teilhabe in der Gemeinschaft)

X

X

X

Gesetzliche Rentenversicherung

X

X

Alterssicherung der Landwirte

X

Bundesagentur für Arbeit

4

X

Kriegsopferversorgung

X

X

X

Öffentliche Jungendhilfe

X

X

X

Sozialhilfe

X

X

X

134

4

Kapitel 4 · Grundlagen der Rehabilitation

tionsprozess verantwortlich. Hier erfolgt die Zuweisung in spezielle BG-Kliniken. Die Kostenträger für die Rehabilitation bei chronischen Erkrankungen (stationäre und ambulante Heilverfahren) unterscheiden sich nicht von denen der Anschlussrehabilitation. Für die Rentenversicherung ist auch hier entscheidend, dass eine Einschränkung oder erhebliche Gefährdung der beruflichen Leistungsfähigkeit vorliegt und bezüglich der Fortsetzung oder Wiederaufnahme der Berufstätigkeit eine positive Prognose besteht. Weitere Kostenträger der medizinischen Rehabilitation sowie anderer Leistungen zur Teilhabe sind . Tab. 4.10 zu entnehmen (auch hier ist zu bedenken, dass durch Änderungen der Gesetzgebung rasche Veränderungen ergeben können).

Literatur Bengel J, Koch U (2000) Grundlagen der Rehabilitationswissenschaften. Springer, Berlin Heidelberg New York Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (2005) Rehabilitation und Teilhabe. Dt. Ärzteverlag, Köln Delbrück H, Haupt H (1996) Rehabilitationsmedizin. Urban & Schwarzenberg, München Wien Baltimore 1996 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2004) ICF – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit.www.dimdi. de Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (2006): Operationenschlüssel nach § 301 SGB V – Internationale Klassifikation der Prozeduren in der Medizin (OPS-301). www.dimdi.de WHO (2001) International classification of functioning, disability and health: ICF, 1st ed. Geneva, 2001

1 5 5 Diagnostik in der Rehabilitation Chr. Gutenbrunner, J.-J. Glaesener

5.1

Rehabilitationsanamnese

5.2

Assessmentinstrumente – 137

5.3

Methoden zur Beurteilung von Funktionsstörungen – 142

5.4

Kriterien der Rehabilitationsbedürftigkeit und -fähigkeit – 145

5.5

Evaluation des Rehabilitationsprozesses – 147

5.6

Sozialmedizinische Leistungsbeurteilung Literatur

– 148

– 136

– 147

136

5

Kapitel 5 · Diagnostik in der Rehabilitation

Rehabilitationsanamnese

> Die Diagnostik in der Rehabilitation dient zum einen der Feststellung und Quantifizierung von Störungen der Körperstrukturen und -funktionen sowie der Aktivitäten und Teilhabe, zum anderen der Erfassung von Rehabilitationsbedarf, Rehabilitationsfähigkeit (inkl. Motivation) und Rehabilitationsprognose.

5.1

Sie ist Basis der Festlegung der Rehabilitationsziele und der Planung der rehabilitativen Interventionen. Selbstverständlich fußt die rehabilitative Diagnostik auf einer fundierten Diagnostik der zugrunde liegenden Krankheit oder Unfallfolge. Sind darüber hinaus einzelne Körperabschnitte (z. B. Schulter, Wirbelsäule) oder -funktionen (z. B. Atmung, Schlucken) gestört, wird die Diagnostik in der Rehabilitation durch die Diagnostik in der Physikalischen Medizin (7 Kap. 2) sinnvoll ergänzt. Nach der ICF-Systematik (7 Kap. 4.2) umfasst dies vor allem die Körperfunktionen und Aktivitäten. Eine rehabilitative Diagnostik muss darüber hinaus die Teilhabe sowie die relevanten Kontextfaktoren mit einschließen. Eine vorhergehende Krankheitsdiagnostik wird dabei vorausgesetzt.

Gegenstand der Rehabilitationsanamnese sind daher die aus der Krankheit resultierenden Funktionseinschränkungen (Schmerzen, Einschränkungen der Beweglichkeit oder der Kreislaufbelastbarkeit) und Limitierungen der Aktivitäten (Gehen, Treppensteigen, Heben und Tragen von Lasten, Essenszubereitung, Einkaufen u. a.).

Rehabilitationsdiagnostik in Klinik und Praxis Im akutklinischen Alltag wird der Patient schon während der Akutdiagnostik und nach Stabilisierung der vitalen Parameter und Einleitung der Akuttherapie dem Rehabilitationsarzt vorgestellt. Dieser soll abklären, welche Krankheitsfolgen bestehen bzw. vorübergehend oder dauernd drohen und welche Maßnahmen notwendig sind, um diese zu verhindern bzw. abzumildern. In der Anschlussrehabilitation und Rehabilitation bei chronischen Erkrankungen (Rehabilitationsklinik, Anschlussheilbehandlung) dient die Rehabilitationsdiagnostik der Feststellung bestehender Einschränkungen von Funktionen und Aktivitäten sowie dem Festlegen der Rehabilitationsziele. Darüber hinaus müssen das Rehabilitationspotenzial und die Auswirkungen der Erkrankungen auf die Integration des Betroffenen in die Gesellschaft eingeschätzt werden. Auch in der Langzeitbetreuung durch den niedergelassenen Arzt spielt die Rehabilitationsdiag nostik zur Planung von Rehabilitationsmaßnahmen eine zunehmende Rolle (7 Kap. 4.5).

Die Rehabilitationsanamnese richtet sich vor allem auf die 4 Feststellung von Krankheitsfolgen 4 Ressourcen zur Krankheitsbewältigung 4 Rehabilitationsrelevanten Kontextfaktoren

p Es empfiehlt sich im Hinblick auf die Feststellung von Veränderungen am Anfang und am Ende der Rehabilitation die wichtigsten Funktions- und Aktivitätseinschränkung zu quantifizieren (z. B. »geben Sie auf einer Skala von eins bis zehn an, wie stark ihre Schmerzen sind«, »wie viele Treppenstufen können sie beschwerdefrei gehen«).

Darüber hinaus muss erfragt werden, inwieweit sich die Erkrankung auf die soziale Integration (Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben, Arbeitsfähigkeit) auswirkt und welche Umweltfaktoren dies beeinflussen (z. B. zusätzliche Belastungen durch die Pflege von Angehörigen, Wohnverhältnisse u. a.). p Zur Einleitung eines ressourcenorientierten Re-

habilitationsprozesses sollte nicht nur nach nicht mehr möglichen Aktivitäten und sozialen Funktionen gefragt werden, sondern auch die noch bestehenden oder wiedergewonnenen Fähigkeiten besprochen werden. Entsprechendes gilt für Kontextfaktoren, wie z. B. die Unterstützung durch Familienangehörige, Freunde oder Arbeitskollegen sowie vorhandene Hilfsmittel.

Schließlich sollte eruiert werden, wie der Rehabilitand seine Krankheit selbst einschätzt und welche individuellen Ziele er sich gesetzt hat. Wichtig ist es, mit dem Patienten bereits im Anamnesegespräch die Motivation zu aktiven Funktionsveränderungen zu eruieren und ggf. zu unterstützen. Zusammen mit dem Patienten sollten realistische Rehabilitationsziele erarbeitet werden. Die Rehabilitationsanamnese umfasst auch die berufliche und private Situation einschließlich der sozia-

137 5.2 · Assessmentinstrumente

len Absicherung. Ähnlich wie bei der Anamnese in der physikalischen Medizin sollten auch in der Rehabilitationsanamnese Vorerfahrungen mit Rehabilitationsmaßnahmen erfragt werden. p Häufig werden Rehabilitationsverläufe dadurch gehemmt, dass ein Rentenwunsch besteht oder dass Gerichtsverfahren wegen Schadensersatzansprüchen bestehen. Dies sollte bei der Rehabilitationsanamnese festgestellt werden.

5.2

Assessmentinstrumente

> Assessment bezeichnet den diagnostischen Prozess in der Rehabilitation. Es ist das systematische und standardisierte Sammeln und Bewerten von relevanten Informationen und Befunden über den Patienten mit seinen körperlichen, psychischen und sozialen Komponenten. Das Assessment liefert die Basis für eine zielgerichtete und erfolgreiche Therapie. Assessmentinstrumente sind Checklisten oder Fragebögen zur Erfassung von Defiziten und Potenzialen von Patienten auf den Ebenen Körperfunktionen und -strukturen, von Aktivitäten und Teilhabe sowie relevanter Kontextfaktoren.

Dabei werden sowohl Eigen- als auch Fremdbeurteilungen verwendet. Unterschieden wird zwischen krankheitsübergreifenden Funktionschecklisten und solchen, die sich auf bestimmte Krankheitsbilder oder Krankheitsgruppen beziehen. In den letzten 10 Jahren wurde eine Vielzahl von Assessmenstinstrumenten für die Rehabilitation entwickelt. Sie gliedern sich in: 4 Krankheitsübergreifende und krankheitsspezifische Fragebögen 4 Assessments, die überwiegend Funktionen erfassen, und solche, die sich auf Aktivitäten und Partizipation beziehen 4 Selbst- und Fremdbewertungsassessments Für jede spezifische Phase der Rehabilitation gibt es Instrumente, die sich bewährt haben und in der Routine eingesetzt werden. Einige gebräuchliche Instrumente sind in . Tab. 5.1 aufgelistet. Welches Instrument konkret eingesetzt wird richtet sich nach dem klinischen Zustand des Patienten, dem Rehabilitationssetting und der spezifischen Fragestellung.

5

Für die Praxis wichtige Auswahlkriterien für Assessmentinstrumente in der Rehabilitation sind daher die folgenden Kriterien 4 Messdimension, die die Krankheitssymptomatik und/oder den Funktionszustand abbildet, 4 Eignung für die jeweilige Phase der Krankheit bzw. Rehabilitation, 4 die Frage, ob krankheitsspezifische Symptome oder ein krankheitsübergreifend zu beurteilender Funktionszustand beurteilt werden soll und schließlich 4 die Frage, ob eine Fremd- oder Selbstbewertung für die Krankheitsphase und das jeweilige Setting von Vorteil ist. Selbstverständlich sind für alle Assessments die statistischen Testgütekriterien (Validität, Reliabilität Veränderungssensitivität) zu fordern. Anhaltspunkte für diese genannten Kriterien gibt . Tab. 5.1, in der auch Assessmentinstrumente aufgelistet werden, die im Folgenden nicht näher beschrieben werden. Ein Beispiel für die Erfassung basaler Körperfunktionen und Aktivitäten des täglichen Lebens ist der Barthel-Index (. Tab. 5.2). Er bewertet die wichtigste Alltagsfunktion und eignet sich z. B. für die rehabilitative Diagnostik im klinischen Alltag. Für die Frührehabilitation wird der Barthel-Index um die folgenden Items ergänzt bzw. die Punkte hinzuaddiert (Frührehabilitations-Barthel-Index nach Schönle, . Tab. 5.3). p Als Aufnahmekriterium in die fachübergreifende Frührehabilitation im Akutkrankenhaus wird meist ein Frührehabilitations-Barthel-Index von unter 30 gefordert. ä Beispiel Ein 29-jähriger Patient erleidet bei einem Motorradunfall eine Berstungsfraktur des 8. Brustwirbelkörpers ohne Myelonkompression sowie Dornfortsatzfrakturen des Brustwirbelkörpers 6 bis 8. Nach Verlegung in das Traumazentrum trübt der Patient plötzlich während der Aufklärung zur notwendigen operativen Versorgung des 8. Brustwirbelkörpers ein. In der darauffolgenden neurologischen und bildgebenden Diagnostik zeigt sich eine traumatische Dissektion der A. carotis interna links. Die Reposition, die dorsale Spondylodese des 7. auf den 9. Brustwirbelkörpers wird um 3 Wochen verschoben angesichts der interkurrent aufgetretenen Ischämie im Bereich der A. ce-

6

138

Kapitel 5 · Diagnostik in der Rehabilitation

. Tabelle 5.1. Auswahl gebräuchlicher rehabilitativer Assessmentinstrumente

Assessment

Dimensionen

Gebräuchlich in

Krankheitsspezifisch/krankheitsübergreifend

Selbst-/Fremdbewertung

Koma-RemissionsSkala

Bewusstsein, Vigilanz und basale Nervenfunktionen

Frührehabilitation, frühes Stadium

Krankheitsübergreifend

Fremdbewertung

Barthel-Index (BI)

Aktivitäten des täglichen Lebens und Körperfunktionen (Essen, Waschen, Anziehen, Kontinenz)

(Frührehabilitation), Anschlussrehabilitation

Krankheitsübergreifend

Fremdbewertung

Frühreha-BarthelIndex

Wie Barthel-Index, zusätzlich: beaufsichtigungspflichtige Störungen basaler Funktionen

Frührehabilitation

Krankheitsübergreifend

Fremdbewertung

FIM (»Functional Independance Measure«)

Aktivitäten des täglichen Lebens, kommunikative Funktionen

Frührehabilitation, Anschlussrehabilitation

Krankheitsübergreifend

Fremdbewertung

SF-36 (»Short Form« 36)a

Subjektiver Gesundheitsstatus

Anschlussrehabilitation, Rehabilitation bei chronischer Erkrankung

Krankheitsübergreifend

Selbstbewertung

IRES (Indikatoren des Reha-Status)

Subjektiver Gesundheitsstatus

Anschlussrehabilitation, Rehabilitation bei chronischer Erkrankung

Krankheitsübergreifend

Selbstbewertung

WOMAC (»Western Ontario and McMaster Universities Osteoarthritis Index«)

Lebensqualität und Gesundheitszustand bei Arthrosen

Anschlussrehabilitation, Rehabilitation bei chronischer Erkrankung

Krankheitsspezifisch: Arthrosen

Selbstbewertung

DASH (»Disability of the Arm, Shoulder and Hand Questionnaire«)

Funktionseinschränkungen bei Schulter-Armund Handerkrankungen

Akutkrankenhaus, Anschlussrehabilitation, Rehabilitation bei chronischer Erkrankung

Krankheitsspezifisch: Schulterund Armerkrankungen

Selbstbewertung

EORTC-QLQ-C30 (»European Organisation for Research and Treatment of Cancer Quality of Life Questionnaire«) b

Lebensqualität und Gesundheitszustand bei Krebserkrankungen

Akutkrankenhaus, Anschlussrehabilitation, Rehabilitation bei chronischer Erkrankung

Krankheitsspezifisch: Krebserkrankungen

Selbstbewertung

5

a b

Kurzform: SF-12 Für einzelne Krebsformen liegen spezifische Modifikationen vor

139 5.2 · Assessmentinstrumente

. Tabelle 5.2. Barthel-Index nach dem Hamburger Manual

Punkte

Funktion

Essen 10 5 0

Komplett selbstständig oder selbstständige Beschickung/Versorgung der perkutan-endoskopischen Gastrotomie Hilfe bei mundgerechter Vorbereitung, aber selbstständiges Einnehmen oder Hilfe bei -Beschickung/-Versorgung der perkutan-endoskopischen Gastrotomie Kein selbstständiges Einnehmen und keine Sondenernährung

Aufsetzen und Umsetzen (Transfer) 15 10 5 0

Komplett selbstständig aus liegender Position in (Roll-)Stuhl und zurück Hierbei Aufsicht oder geringe Hilfe (ungeschulte Laienhilfe) Hierbei erhebliche Hilfe (geschulte Laienhilfe oder professionelle Hilfe) Wird faktisch nicht aus dem Bett transferiert

Waschen 5 0

Vor Ort komplett selbstständig incl. Zähne putzen, Rasieren und Frisieren Erfüllt »5« nicht

Toilettenbenutzung 10 5 0

Vor Ort komplett selbstständige Nutzung von Toilette oder Toilettenstuhl inkl. Spülung/Reinigung Vor Ort Hilfe oder Aufsicht bei Toiletten- oder Toilettenstuhlbenutzung oder deren Spülung/Reinigung erforderlich Benutzt faktisch weder Toilette noch Toilettenstuhl

Baden/Duschen 5 0

Selbstständiges Baden oder Duschen incl. Ein-/Ausstieg, sich reinigen und abtrocknen Erfüllt »5« nicht

Aufstehen und Gehen/Rollstuhlfahren 15 10 5 0

Ohne Aufsicht oder personelle Hilfe vom Sitz in den Stand kommen und mindestens 50 m ohne Gehwagen (aber ggf. mit Stöcken/Gehstützen) gehen Ohne Aufsicht oder personelle Hilfe vom Sitz in den Stand kommen und mindestens 50 m mit Hilfe eines Gehwagens gehen Mit Laienhilfe oder Gehwagen vom Sitz in den Stand kommen und Strecken im Wohnbereich bewältigen, alternativ: im Wohnbereich komplett selbstständig im Rollstuhl Erfüllt »5« nicht

Treppensteigen 10 5 0

Ohne Aufsicht oder personelle Hilfe (ggf. incl. Stöcken/Gehstützen) mindestens ein Stockwerk hinauf- undhinuntersteigen Mit Aufsicht oder Laienhilfe mindestens ein Stockwerk hinauf- und hinuntersteigen Erfüllt »5« nicht

An- und Auskleiden 10 5 0

Zieht sich in angemessener Zeit selbstständig Tageskleidung, Schuhe (und ggf. benötigte Hilfsmittel z. B. Antithrombosestrümpfe, Prothesen) an und aus Kleidet mindestens den Oberkörper in angemessener Zeit selbstständig an und aus, sofern die Utensilien in greifbarer Nähe sind Erfüllt »5« nicht

5

140

Kapitel 5 · Diagnostik in der Rehabilitation

. Tabelle 5.3. Frührehabilitationsindex, der zusammen mit dem Barthel-Index (. Tab. 5.2) als FrührehabilitationsBarthel-Index verwendet wird

5

Intensivmedizinisch überwachungspflichtiger Zustand (z. B. vegetative Krisen) Absaugpflichtiges Tracheostoma Intermittierende Beatmung Beaufsichtungspflichtige Orientierungsstörung (Verwirrtheit) Beaufsichtigungspflichtige Verhaltensstörung (mit Eigen- und Fremdgefährdung) Schwere Verständigungsstörung Beaufsichtigungspflichtige Schluckstörung

rebri media und der daraus folgenden spastischen Hemiparese rechts, der Aphasie und der neurogenen Schluckstörung Grad 2. 2 Tage nach der operativen Versorgung der Wirbelsäulenfraktur erfolgt die Übernahme des Patienten in die Abteilung für fachübergreifende Frührehabilitation. Zu diesem Zeitpunkt besteht ein FrührehaBarthel-Index von –10 angesichts der schlaffen Hemiparese/Hemiparese rechts, der Schlucklähmung und der Störung der Kommunikation (Aphasie). Die Kraftentfaltung im Bereich der Hüftmuskulatur beträgt Kraftgrad 2 bis 3. Die Aufrichtung in den Sitz ist nur mit Hilfe des Untersuchers möglich, die Rumpfstabilisierung erfolgt gerade eben selbstständig. Es bestehen eine ausgeprägte Aphasie sowie eine Schluckstörung Grad 2. Es folgt eine intensive multimodale rehabilitative Therapie im Bereich der Abteilung für fachübergreifende Frührehabilitation, bestehend aus Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Neuropsychologie. Ziele sind: 5 Mobilisation in den Sitz, im Verlauf Mobilisation in den Stand und intensive Gangschulung 5 Erhalt der Beweglichkeit an der rechten oberen und unteren Extremität sowie die Vermeidung von Gelenkkontrakturen 5 Erarbeiten der Transfers 5 Erlernen der Alltagsaktivitäten 5 Verbessern der Kommunikationsfähigkeit sowie die Sprachschulung 5 Schlucktraining 5 Allgemeine Konditionierung

Nein

Ja

0 0 0 0 0 0 0

–50 –50 –50 –50 –50 –50 –50

Gehstock. Dabei kann auch eine Treppe im Wechselschritt bewältigt werden. Im Bereich der Alltagsaktivitäten erlangt der Patient einen Großteil seiner Selbstständigkeit wieder. Unter logopädischer Anleitung gelingt es ihm, wieder Mehr-Wort-Sätze zu sprechen bei nach wie vor bestehenden ausgeprägten Wortfindungsstörungen. Der Frühreha-Barthel-Index bei Entlassung aus der Frührehabilitationsstation und Verlegung in die neurologische Anschlussrehabilitation beträgt 30 Punkte.

Die Erfassung des globalen Gesundheitszustandes und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität erfolgt z. B. durch den SF-36 (SF-12; . Tab. 5.4). Er bewertet u. a. die körperliche Funktionsfähigkeit (z. B. Einschränkungen bei anstrengenden Tätigkeiten und Sport), die körperliche Rollenfunktion (Einschränkungen bei üblichen Tätigkeiten), körperliche Schmerzen, allgemeine Gesundheitswahrnehmungen, Vitalität, soziale und emotionale Rollenfunktionen und physisches Wohlbefinden. Beim SF-36 handelt es sich wie beim Barthel-Index um einen krankheitsübergreifenden Test. ä Beispiel Ein häufig eingesetztes Beispiel für ein krankheitsspezifisches Assessmentinstrument ist der Lequesne-Index. Seine Anwendung wird im folgenden

Innerhalb von 3½ Wochen kann der Patient wieder eigenständig gehen mit Unterstützung durch einen

Patientenbeispiel erläutert: Eine 65-jährige Patientin mit röntgenologisch eindeutiger Koxarthrose kommt mit starken belastungsabhängigen Schmerzen und einer eingeschränkten Hüftgelenksbeweglichkeit (maximale Flexion: 80°) in die orthopädische Rehabilitation. Im Lesquesne-Index (einem speziellen Score für Hüftgelenkserkrankungen) ergeben sich folgen-

6

6

141 5.2 · Assessmentinstrumente

5

. Tabelle 5.4. Fragebogen zum allgemeinen Gesundheitszustand, Kurzform (SF-12). (Nach Bullinger et al. 1995)

Frage

Antwortmöglichkeiten

(1) Wie würden Sie Ihren Gesundheitszustand im allgemeinen beschreiben

Ausgezeichnet; sehr gut; gut; weniger gut; schlecht

Im Folgenden sind einige Tätigkeiten beschrieben, die Sie vielleicht an einem normalen Tag ausüben. Sind Sie durch Ihren derzeitigen Gesundheitszustand bei diesen Tätigkeiten eingeschränkt? Wenn ja, wie stark (2) mittelschwere Tätigkeiten, z. B. einen Tisch verschieben, staubsaugen, kegeln, Golf spielen

Ja, stark eingeschränkt; ja, etwas eingeschränkt; nein, überhaupt nicht eingeschränkt

(3) mehrere Treppenabsätze steigen

Ja, stark eingeschränkt; ja, etwas eingeschränkt; nein, überhaupt nicht eingeschränkt

Hatten Sie in den vergangenen vier Wochen aufgrund Ihrer körperlichen Gesundheit irgendwelche Schwierigkeiten bei der Arbeit oder anderen Tätigkeiten im Beruf bzw. zu Hause? (4) Ich habe weniger geschafft als ich wollte

Ja; nein

(5) Ich konnte nur bestimmte Dinge tun

Ja; nein

Hatten Sie in den vergangenen vier Wochen aufgrund seelischer Probleme irgendwelche Schwierigkeiten bei der Arbeit oder anderen alltäglichen Tätigkeiten im Beruf oder zu Hause (z. B. weil Sie sich niedergeschlagen oder ängstlich fühlten? (6) Ich habe weniger geschafft als ich wollte

Ja; nein

(7) Ich konnte nicht so sorgfältig wie üblich arbeiten

Ja; nein

(8) Inwieweit haben die Schmerzen Sie in den vergangenen vier Wochen bei der Ausübung Ihrer Alltagstätigkeiten zu Hause oder im Beruf behindert

Überhaupt nicht; ein bisschen, mäßig, ziemlich, sehr

Bei diesen Fragen geht es darum, wie Sie sich fühlen und wie es Ihnen in den vergangenen vier Wochen gegangen ist. Wie oft waren Sie in den vergangenen vier Wochen (9) … ruhig und gelassen?

Immer; meistens; ziemlich oft; manchmal; selten; nie

(10)… voller Energie?

Immer; meistens; ziemlich oft; manchmal; selten; nie

(11)…entmutigt und traurig?

Immer; meistens; ziemlich oft; manchmal; selten; nie

(12) Wie häufig haben Ihre körperliche Gesundheit oder seelischen Probleme in den vergangenen vier Wochen Ihre Kontakte zu anderen Menschen (Besuche bei Freunden, Verwandten usw.) beeinträchtigt?

Immer; meistens; manchmal; selten; nie

de Werte (Skaleneinteilung: 1–4: leicht; 5–7: mäßig; 8–10 schwer; 11–13: sehr schwer; >14: extrem schwer): 5 Nächtliche Schmerzen in Abhängigkeit von der Liegeposition 1 Punkt 5 Schmerzen beim Gehen ab dem ersten Schritt 2 Punkte 5 Schmerzen und Missempfindungen beim Sitzen (bis 2 h) 1 Punkt

6

5 Maximale Gehstrecke: zwischen 500 und 900 m 3 Punkte 5 Eingeschränkte Alltagsaktivitäten (Strümpfe anziehen, Gegenstände vom Boden aufheben, in eine Auto einsteigen mit je 1 Punkt) 3 Punkte Der Summenscore klassifiziert die Funktionseinschränkung mit 10 Punkten als »schwer«.

142

Kapitel 5 · Diagnostik in der Rehabilitation

Gerbershagen-Score (7 Kap. 2.3.4, . Abb. 2.9) Ein spezielles Assessment für die Bewertung chronifizierter Schmerzen am Bewegungsapparat stellt der Gerbershagen-Score dar. Kriterien für die Beurteilung des Chronifizierungsgrades sind: Häufigkeit, Dauer und Ausdehnung des Schmerzes, Medikamenteneinnahmeverhalten und Patientenkarriere (Arztwechsel, Krankenhausaufenthalte, schmerzbedingte Operationen und Rehabilitationsmaßnahmen). Die Chronifizierung wird in 3 Stadien eingeteilt. Ein hohes Chronifizierungsstadium stellt ein wichtiges Warnsignal (sog. »yellow flag«) dar und begründet eine Indikation zur multimodalen Schmerztherapie unter Einschluss psychotherapeutischer Verfahren.

5

Zur Beurteilung der Gesamtsituation des Patienten werden in der Rehabilitation häufig auch Fragebogen zu Begleiterkrankungen (sog. Komorbiditäten) eingesetzt, wie z. B. Angst, Depression oder Allgemeinbeschwerden. Darüber hinaus gibt es Fragebogeninstrumente, die Rehabilitationsmotivation und -erwartungen abfragen sowie solche, die Aufschluss über die Krankheitsverarbeitung (Coping) und das Risikoverhalten geben.

5.3

Methoden zur Beurteilung von Funktionsstörungen

Im Folgenden wird eine kleine Auswahl gebräuchlicher Testverfahren für definierte Funktionsstörungen dargestellt. Wahrnehmung und kognitive Leistungsfähigkeit. In

diesem Bereich ist z. B. die »Mini-mental State Examination« (MMSE) von klinischer Bedeutung. Dieses Screeningverfahren für Gedächtnisstörungen überprüft im ersten Teil Orientiertheit, Gedächtnis und Aufmerksamkeit, im zweiten Teil das Benennen, Lesen und Schreiben sowie visuell-konstruktive Fähigkeiten. Es wird vor allem in der geriatrischen, bedarfsweise auch in der neurologischen Rehabilitation eingesetzt. Aufmerksamkeit. Die Testung der Aufmerksamkeit ist

wegen ihrer Komplexität und der Notwendigkeit methodischen Spezialwissens überwiegend Aufgabe von Neuropsychologen. Dabei stehen heute zahlreiche computergestützte Testverfahren zur Verfügung, die beispielsweise physische Aufmerksamkeit (Alertness),

visuelle und auditive Reaktionstests (Vigilanztests) und selektive Aufmerksamkeitstests (fokussierte, alternierende und geteilte Aufmerksamkeit) beinhalten. Basale motorische Funktionen. Funktionen wie Stabi-

lität, Beweglichkeit, Kraft, Ausdauer und Koordination werden wie folgt getestet: 4 Einbeinstand 5 Ziel: Überprüfung der Gleichgewichtsfähigkeit unter statischen Bedingungen Durchführung: Einbeinstand barfuß auf dem dominanten Bein, wobei das kontralaterale Bein locker auf der Wade des Standbeins aufliegt. Arme können zur Stabilisation eingesetzt werden. Einsatz des Spielbeins – und besonders deren Aufsetzen auf den Boden – führt dagegen zum Abbruch. 4 Gleichgewichtstest 5 Ziel: Überprüfung des Gleichgewichts bei komplexen Bewegungsaufgaben 5 Durchführung: Einbeinstand mit offenen Augen Einbeinstand-Schwingen mit offenen Augen Drehung-Einbeinstand mit offenen Augen Achterkreisen Hampelmann Einbeinstand mit geschlossenen Augen Drehung-Einbeinstand mit geschlossenen Augen Einbeinstand-Schwingen mit geschlossenen Augen Balancieren vorwärts mit offenen Augen Balancieren mit halber Drehung mit offenen Augen Balancieren rückwärts mit offenen Augen Balancieren rückwärts mit offenen Augen mit ganzer Drehung usw. 4 »Berg-Balance-Scale« 5 Ziel: Einschätzung der Balancefähigkeit und des Sturzrisikos 5 Durchführung: Mit Hilfe der 14 Items testet man Aktivitäten des täglichen Lebens wie Transfer, Aufstehen und Absitzen sowie Stehen mit geschlossenen Augen. Man lässt den Patienten nach hinten schauen, sich auf der Stelle drehen, einen Gegenstand vom Boden aufheben und beobachtet ihn im Tandem- oder Einbeinstand.

143 5.3 · Methoden zur Beurteilung von Funktionsstörungen

4 Muskelfunktionsprüfung nach Janda 5 Ziel: Bewertung der Muskelkraft (-schwäche) während einer Bewegung unter Einsatz manueller Widerstände 5 Bewertung: 0 (keine palpierbare oder sichtbare Muskelkontraktion) bis Wert 5 (volles Bewegungsausmaß gegen maximalen Widerstand) 4 Rumpf anheben 5 Ziel: Testung der rückwärtigen Extensorenkette – im wesentlichen Gesäß- und Rückenstreckermuskulatur 5 Durchführung: Bei proximal fixierten Beinen in Bauchlage Rumpf langsam so weit anheben und dann halten, bis der Brustkorb den Boden verlässt, der Bauchbereich aber noch deutlich Bodenkontakt hält. Begonnen wird auch hier mit der niedrigsten Schwierigkeitsstufe. 4 Knieliegestütz 5 Ziel: Testung der allgemeinen Leistungsfähigkeit des Oberkörpers, schwerpunktmäßig jedoch der Armstrecker- und Brustmuskulatur 5 Durchführung: Knieliegestütz bei dem der Körper ab den Knien aufwärts gestreckt gehalten wird. Mit moderatem Tempo so viele Liegestützen ausführen, bis die Bewegung ins Stocken oder Zittern gerät und unsaubere Koordinationen zu beobachten sind. 4 4-Stufen-Test 5 Ziel: Test der allgemeinen Ausdauerleistungsfähigkeit 5 Durchführung: Richtet sich nach den geschlechtsspezifischen und altersabhängigen Normwerten. Zunächst wird der Normwert für den jeweiligen Patienten ermittelt und anschließend können die 4 Steigerungsstufen für die Fahrradergometrie bestimmt werden. Bei Steigerung der Wattstufe alle 2 min werden Plusfrequenz, Blutdruck und die Belastungseinschätzung protokolliert. Der Test endet spätestens mit der 4. Belastungsstufe. 4 6-Minuten-Gehtest 5 Ziel: Überprüfung der allgemeinen Ausdauerfähigkeit 5 Durchführung: Patienten gehen für einen Zeitraum von 6 min auf einer festgelegten Strecke. Sie versuchen dabei, eine möglichst große Strecke zurückzulegen; es dürfen zwischendurch Pausen gemacht werden. Neben der zurückgelegten Strecke wird die subjektive Belastungs-

5

einschätzung und der Anfangs- und Endpuls notiert. 4 »Physical Working Capacity« (W130, W150, W170) ▶ Kap. 2.3.7 Apraxien. Apraxien werden anamnestisch abgefragt

und in klinischen Tests geprüft. Hierzu soll der Proband Gesten imitieren, symbolische Gesten ausführen, Pantomimen zu Gebrauchsgegenständen durchführen, Handlungen mit tatsächlichen Gebrauchsgegenständen ausführen und Probleme mit Handlungen lösen. Die Beurteilung erfolgt nach dem klinischen Gesamtbild. Für bestimmte Handlungen und motorische Fähigkeiten stehen darüber hinaus spezielle ergotherapeutische Tests zur Verfügung. Aphasien. Wichtige klinische Tests zur Erfassung von Aphasien sind der Token-Test und der Aachener Aphasietest. Der Token-Test wurde ursprünglich als Sprachverstehenstest konzipiert und beinhaltet 50 Handlungsanweisungen (zeigen und handeln) mit geometrischen Figuren (farbige Kreise und Vierecke in verschiedenen Größen und Anordnungen). Messwert ist die Zahl von Fehlerpunkten. Für die Aphasiediagnostik bei Patienten in der Frührehabilitation ist dieser allerdings nur sehr eingeschränkt einsetzbar, da er eine gute Aufmerksamkeit voraussetzt. In dieser Frühphase erfolgt die Diagnostik überwiegend durch klinische Untersuchung bzw. Beobachtung. Zusätzlich zu den Parametern des Token-Tests bewertet der Aachener Aphasietest (AAT) auch das Nachsprechen, die Schriftsprache, das Benennen und das Sprachverständnis. Auch die Spontansprache wird mittels einer Ratingskala beurteilt. Der AAT differenziert zwischen einem Standardsyndrom und aphasischen Sonderformen. Wegen seiner Komplexität sollte er nur von speziell geschultem Personal (z. B. Logopäden) durchgeführt werden. Schluckdiagnostik. Die rehabilitative Schluckdiagnos-

tik erfolgt mittels klinischer Untersuchung und Videoendoskopie. Weitere Details sind 7 Kap. 6.4 beschrieben. Verrichtungen des Alltags und Kontinenz. Basale Ver-

richtungen (Körperpflege, Selbsthilfe, Essen) und Kontinenz werden nach dem Barthel-Index oder dem FIM (»Functional Independence Measure«) beurteilt, die bereits oben erwähnt sind.

144

5

Kapitel 5 · Diagnostik in der Rehabilitation

Mobilität. Im Bereich Mobilität wird gerne der »Timed-

Integrationsfähigkeit. In der geriatrischen Rehabilita-

up-and-go«-Test durchgeführt. Er überprüft die minimale Beweglichkeit und Gehgeschwindigkeit. Der Patient sitzt auf einem Stuhl mit Armlehne (Sitzhöhe ca. 46 cm). Nach Aufforderung soll er Aufstehen und zu einer 3 m entfernten Linie gehen, dort umdrehen und sich in die Ausgangsposition zurückbegeben. Die dafür benötigte Zeit wird in Sekunden gemessen (normal: unter 10 s; erhebliche Einschränkung: über 20 s). Alternativ kann auch der Mobilitätstest nach Tinetti angewendet werden. Dabei soll der Proband verschiedene Aufforderungen des Untersuchers befolgen, wobei Hilfsmittel zugelassen sind. Stand und Balance werden durch einige Schritte mit offenen und geschlossenen Augen, die Standfestigkeit durch leichte Stöße vor die Brust geprüft. Darüber hinaus wird beobachtet, ob der Patient sich beim Aufstehen und im Stehen abstützen muss. Schließlich wird das Gangbild nach verschiedenen Kriterien beurteilt. Als erhöhtes Sturzrisiko wird eine Punktezahl unter 20 angesehen.

tion wird die Fähigkeit, sich in die Gesellschaft zu integrieren z. B. mit dem Geldzähltest beurteilt. Dabei erhält die Testperson einen definierten Geldbetrag (19,80 €) in Scheinen und Münzen in einer standardisierten Geldbörse mit der Aufforderung, das Geld zu zählen. Beurteilt wird die Zeitdauer bis zur Nennung des richtigen Betrages, die in 3 Stufen klassifiziert wird (70 s: Risiko für erhebliche Hilfsbedürftigkeit). Teilhabe. In der Rehabilitation bei chronischen Erkrankungen werden die Partizipation bzw. ihrer Einschränkungen anamnestisch oder über die bereits oben besprochenen rehabilitativen Assessmentfragebögen geprüft. Dabei sind allerdings die meisten Assessments (IRES, SF-36, EORTC u. a.) Mischinstrumente, die gleichzeitig auch Funktionen und Aktivitäten beurteilen. Alternativ kann die Partizipation auch anhand von (krankheitsübergreifenden) ICF-Checklisten oder den im Expertenkonsens erarbeiteten

. Tabelle 5.5. Ausschnitt aus der ICF-Core-Set für Patienten mit chronischer Polyarthritis: relevante Funktionen

ICF-Kode

ICF-Kategorie

b130 b134 b152 b180 b1801 b280 b2800 b2801 b28010 b28013 b28014 b28015 b28016 b430 b455 b510 b640 b710 b7102 b715 b730 b740 b770 b780 b7800

Funktionen der psychischen Energie und des Antriebs Funktionen des Schlafes Emotionale Funktionen Die Selbstwahrnehmung und die Zeitwahrnehmung betreffende Funktionen Körperschema Schmerz Generalisierter Schmerz Schmerz in einem Körperteil Kopf- und Nackenschmerz Rückenschmerz Schmerz in den oberen Gliedmaßen Schmerz in den unteren Gliedmaßen Gelenkschmerz Funktionen des hämatologischen Systems Funktionen der kardiorespiratorischen Belastbarkeit Funktionen der Nahrungsaufnahme Sexuelle Funktionen Funktionen der Gelenkbeweglichkeit Allgemeine Gelenkbeweglichkeit Funktionen der Gelenkstabilität Funktionen der Muskelkraft Funktionen der Muskelausdauer Funktionen der Bewegungsmuster beim Gehen Mit den Funktionen der Muskeln und der Bewegung im Zusammenhang stehende Empfindungen Empfindung von Muskelsteifigkeit

145 5.4 · Kriterien der Rehabilitationsbedürftigkeit und -fähigkeit

5

. Tabelle 5.6. ICF-Qualifyer: Beurteilungsmerkmale, die mit einem Punkt getrennt nach der Klassifizierung des Merkmals angegeben werden können. Für die Hemm- und Förderfaktoren aus dem Bereich des Kontextes gelten analoge Beurteilungsmerkmale xxx.0 xxx.1 xxx.2 xxx.3 xxx.4 xxx.8 xxx.9

Problem nicht vorhanden Problem leicht ausgeprägt Problem mäßig ausgeprägt Problem erheblich ausgeprägt Problem voll ausgeprägt Nicht spezifiziert Nicht anwendbar

krankheitsspezifischen »ICF-Core-Sets« beurteilt werden (Beispiel . Tab. 5.5). Die Einteilung des Grades der Einschränkung erfolgt hier nach sog. »Qualifyern«, die die Stärke der Einschränkung bewerten (. Tab. 5.6). Es muss allerdings angemerkt werden, dass die ICF-basierten Checklisten teststatistisch bisher nicht evaluiert worden sind. Krankheitsbewältigung. Für die Beurteilung von Ein-

flussfaktoren auf den Rehabilitationsprozess wie die Krankheitsbewältigung (Coping) und Begleiterkrankungen wie Depression und Angst stehen verschiedene Standardassessments aus der Psychosomatik zur Verfügung, die aus Platzgründen hier nicht näher besprochen werden können. Häufig verwendet werden der KKG (Fragebogen zur Erhebung von Kontrollüberzeugungen zu Krankheit und Gesundheit) und die TSK (Trierer Skalen zur Krankheitsbewältigung) sowie der HADS (»Hospital Anxiety and Depression Scale«), das BDI (Beck-Depressions-Inventar) und das STAI (»State-Trait«-Angstinventar). Kontextfaktoren. Standardassessments zur Erfassung

rehabilitationsrelevanter Kontextfaktoren liegen bisher nicht vor. Verwendet werden können hier – ähnlich wie bei der Partizipationdiagnostik – ICF-Checklisten oder die »ICF-Core-Sets«.

5.4

Kriterien der Rehabilitationsbedürftigkeit und -fähigkeit

p Die Kriterien für die Rehabilitationsbedürftigkeit und -fähigkeit sind naturgemäß von der Rehabilitationsform bzw. Rehabilitationsphase abhängig. Grundsätzlich gilt allerdings, dass zur Indi6

Ohne, kein, unerheblich … Schwach, gering … Mittel, ziemlich … Hoch, äußerst … Komplett, total …

0–4% 5–24% 25–49% 50–95% 96–100%

kationsstellung von Rehabilitationsmaßnahmen Rehabilitationsbedürftigkeit, Rehabilitationsfähigkeit, Motivation oder Motivierbarkeit und Rehabilitationsprognose des betreffenden Patienten eingeschätzt werden müssen (7 Kap. 4.4).

Frührehabilitation In der Frührehabilitation stellen sich die patientenseitigen Voraussetzungen für die Durchführung wie folgt dar: 4 Rehabilitationsbedürftigkeit: Es ist zu erwarten, dass bei dem Patienten eine dauerhafte alltagsrelevante Einschränkung der Selbstständigkeit eintreten wird. Relevante Funktionen sind in diesem Zusammenhang insbesondere Bewusstsein, Orientierung zur Person (räumlich und situativ), SchlafWach-Rhythmus, vegetative Stabilität, Wahrnehmung, Kommunikation, Kognition, sensomotorische Funktionen, Schlucken, Kontinenz, Essen und Trinken, persönliche Hygiene, Mobilität, Gestaltung einer angemessenen Beschäftigung sowie Gestaltung und Aufrechterhaltung der sozialen Integrität. 4 Rehabilitationsfähigkeit: Der Patient muss in der Lage sein, an einem aktivierenden multimodalen Therapieprogramm teilzunehmen (mindestens assistive Krankengymnastik). Der Patient darf nicht mehr kreislaufinstabil sein (Kathecholaminpflicht) oder einen erhöhten Hirndruck aufweisen. 4 Motivation oder Motivierbarkeit: Wache Patienten sollten für ein aktivierendes Rehabilitationsprogramm motiviert oder zumindest motivierbar sein. Frührehabilitation ist aber auch schon bei noch wahrnehmungsgestörten Patienten möglich. 4 Rehabilitationsprognose: Die Prognose ist in der Frührehabilitation noch unsicher.

146

Kapitel 5 · Diagnostik in der Rehabilitation

Rehabilitation zur Verhinderung der Pflegebedürftigkeit

5

Es gelten folgende Kriterien: 4 Rehabilitationsbedürftigkeit ist gegeben, wenn die ambulanten Behandlungsmöglichkeiten einschließlich der Heil- und Heilmitteltherapie alleine nicht ausreichend sind, um die Selbstständigkeit in der Durchführung alltäglicher Verrichtungen zu erreichen. 4 Die Rehabilitationsfähigkeit ergibt sich aus der psychischen und physischen Belastbarkeit des Patienten, wobei die Stabilität der vitalen Parameter und die Auswirkungen vorliegender Begleiterkrankungen entscheidend sind. Die Mitwirkungsmöglichkeiten des Patienten werden darüber hinaus von Motivation, kognitive Fähigkeiten, Antrieb und Stimmungslage beeinflusst. Herabgesetzte Belastbarkeit im Alter In der geriatrischen Rehabilitation wird auf die herabgesetzte Belastbarkeit Rücksicht genommen, sodass auch schwer betroffene Patienten behandelt werden können. Auch umfangreicher Hilfebedarf bei der Grundpflege ist kein Hinderungsgrund. Der Patient muss jedoch zur aktiven Mitarbeit bei mehreren rehabilitativen Maßnahmen täglich in der Lage sein, seine vitalen Parameter müssen stabil sein, seine Begleiterkrankungen müssen vom Personal der Einrichtung behandelt werden können.

4 Die Rehabilitationsprognose wird unter Berücksichtigung der Entwicklung in den letzten Wochen beurteilt wobei die folgenden Aspekte relevant sind: 5 Behandlungserfolge in den letzten Wochen im Sinne von alltagsrelevanten Verbesserungen von Funktionsschädigungen oder Beeinträchtigungen der Aktivitäten durch Behandlung vor Ort lassen vermuten, dass durch Intensivierung der Therapie weitere Ziele erreichbar sind. 5 Eine aussichtsreiche Rückbildungsfähigkeit ist eher anzunehmen bei erst seit kurzer Zeit bestehenden Schädigungen der Körperstrukturen und -funktionen. 5 Bei bereits langjährig bestehenden Beeinträchtigungen von Aktivitäten ist zu prüfen, ob Kompensationsmöglichkeiten zur Alltagsbewältigung trainierbar oder aussichtsreiche Adaptationsmöglichkeiten vorhanden sind.

Rehabilitation bei chronischer Erkrankung > In der gesetzlichen Rentenversicherung werden medizinische Rehabilitationsmaßnahmen nur dann gewährt, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versicherten aus medizinischen Gründen erheblich gefährdet oder gemindert ist.

Im Einzelnen werden für Rehabilitationsmaßnahmen (medizinische Rehabilitation) der Rentenversicherung die folgenden Maßstäbe angelegt: 4 Das Vorliegen von Rehabilitationsbedürftigkeit ergibt sich aus der zusammenfassenden Bewertung aller wesentlichen sozialmedizinischen Faktoren wie Funktionseinschränkungen, Risikokonstellationen, Kombination von Gesundheitsstörungen bzw. Multimorbidität, Problemen bei der Krankheitsbewältigung und einem hohen Schulungsbedarf im Sinne von Patientenschulung (7 Kap. 6.13). Zu berücksichtigen sind auch die bisherige Therapie und die Erfordernis, mehrere Therapieformen koordiniert durchzuführen. 4 Die Rehabilitationsfähigkeit bezieht sich auch hier auf die somatische und psychische Möglichkeit des Patienten, an den aktiven und passiven Therapiemaßnahmen teilzunehmen. Darüber hinaus muss er mit öffentlichen Verkehrsmitteln alleine reisefähig sein und sich zudem innerhalb der Rehabilitationseinrichtung selbst versorgen können, darf also nicht pflegebedürftig sein. 4 Die Rehabilitationsmotivation wird in der Rentenversicherung definiert als die explizite Bereitschaft und erkennbaren Motivation des Versicherten, an einer Rehabilitation konstruktiv mitzuwirken. In vielen Fällen kann der Aufbau von Motivation aber auch ein Ziel der Rehabilitation sein. 4 Die Rehabilitationsprognose richtet sich naturgemäß nach dem definierten Rehabilitationsziel, was in der Rentenversicherung heißen kann, dass 5 bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit deren Minderung voraussichtlich abgewendet werden kann, 5 bei bereits geminderter Erwerbsfähigkeit diese voraussichtlich wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann und 5 bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit der Arbeitsplatz durch berufs-

147 5.6 · Sozialmedizinische Leistungsbeurteilung

fördernde Leistungen voraussichtlich erhalten werden kann.

5.5

Evaluation des Rehabilitationsprozesses

Wie in allen Bereichen der Medizin muss auch der Verlauf des Rehabilitationsprozesses wiederholt evaluiert werden. Dabei ist es wichtig, dass Fortschritte oder Rückschritte gemessen und dokumentiert sowie die anlässlich der Eingangsuntersuchung durchgeführten Assessments wiederholt werden. Zur Kontrolle sind solche Parameter auszuwählen, die die im Rehabilitationsplan festgehaltenen Rehabilitationsziele abbilden. Auch in der Rehabilitation chronischer Erkrankungen werden im Rahmen einer sog. zielorientierten Ergebnismessung nur diejenigen Items (z. B. des IRES-Fragebogens) wiederholt abgefragt, die die bei der Eingangsuntersuchung festgelegten wesentliche Rehabilitationsziele abbilden. Bei Abschluss der Rehabilitation muss ebenfalls eine rehabilitative Diagnostik erfolgen, um den erreichten Funktionszustand zu dokumentieren. Das Ergebnis der Rehabilitation wird dazu verwendet, eine Aussage über die Partizipation, insbesondere aber auch über die berufliche Leistungsfähigkeit zu machen. Bei Heilverfahren der Rentenversicherungsträger ist die sozialmedizinische Beurteilung als Ergebnis der Rehabilitation zwingend gefordert und unterliegt einer Qualitätskontrolle.

5.6

Sozialmedizinische Leistungsbeurteilung

In der Rehabilitation der Rentenversicherungsträger spielt die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung für die weiteren Entscheidungen (Gewährung von Rentenleistungen, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben u. a.; 7 Kap. 6) eine entscheidende Rolle. Die Abschlussuntersuchung hat hier den Charakter einer sozialmedizinischen Begutachtung. Besonderer Wert wird dabei auf das positive und negative Leistungsbild gelegt, das sich sowohl in Bezug auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als auch auf den allgemeinen Arbeitsmarkt beziehen muss. Neben der aktuellen Leistungsfähigkeit sind auch prognostisch zu erwartende Veränderungen zu berücksichtigen (z. B. voraussichtliche Dauer der Leistungseinschränkung).

5

ä Beispiel Ein 44-jähriger Patient kommt nach traumatischer Unterschenkelamputation (Verkehrsunfall) in die Anschlussrehabilitation. Er wird mit einer Unterschenkelprothese versorgt und erlernt das Gehen mit der Prothese. Im Hause kann er sich frei umherbewegen. Einschränkungen bestehen noch beim Treppensteigen sowie beim Gehen im unebenen Gelände. Der Patient ist Dachdecker und war vor seinem Unfall vollschichtig tätig. In diesem Beruf kann er nicht mehr arbeiten. Der Patient wird in Bezug auf seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit arbeitsunfähig aus der Rehabilitation entlassen. Für sitzende Tätigkeiten besteht allerdings noch eine vollschichtige berufliche Leistungsfähigkeit. Eine Umschulungsmaßnahme wird empfohlen (7 Kap. 6.14).

In die Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit gehen naturgemäß in erster Linie solche klinische Funktionsparameter ein, die die Belastbarkeit einzelner Funktionssysteme betreffen (Ergometrie, BelastungsEKG, Lungenfunktionsprüfungen, Messung von Muskelkraft und -ausdauer, Wirbelsäulen- und Gelenkbeweglichkeit, u. a.). Die Testergebnisse werden im Prinzip wie in der Arbeitsmedizin bewertet. Darüber hinaus wurden in den letzten Jahren standardisierte Testverfahren zur Ermittlung der beruflichen Leistungsfähigkeit entwickelt. Diese, zum Teil allerdings sehr aufwändigen Diagnoseverfahren beurteilen die Fähigkeit eines Rehabilitanden, bestimmte unter Aufsicht durchgeführte Arbeitsabläufe durchzuführen (»Functional Capacity Evaluation«, FCE). Die gängigsten Tests sind: 4 Evaluation funktioneller Leistungsfähigkeit (EFL) nach Isernhagen: Anhand von Modellarbeitsplätzen werden folgende Funktionen erprobt: Last hantieren, Kraft, länger dauernde Haltungen, Handkoordination, Haltung, Beweglichkeit und Fortbewegung. Die Beurteilung erfolgt durch Beobachtung durch einen geschulten Tester. Durch »Kreuztests« werden einzelne Funktionen mehrfach getestet, was auch eine gewisse Beurteilung von Motivation bzw. Nichtmotivation ermöglicht. 4 ERGOS-System: Computergestütztes Arbeitssimulationssystem, das im Prinzip nach denselben Kriterien wie die EFL arbeitet. Wegen noch unzureichender Standardisierung und fehlender Evaluation der Testgüte sowie wegen des ho-

148

5

Kapitel 5 · Diagnostik in der Rehabilitation

hen Aufwandes dieser Testverfahren werden sie heute noch nicht routinemäßig eingesetzt. Wenn Rehabilitationsmaßnahmen nicht wie bei der Rentenversicherung auf die Verbesserung der beruflichen Leistungsfähigkeit zielt (»Reha vor Rente«), sondern zur Verbesserung der Selbstständigkeit bzw. Reduktion von Pflegebedürftigkeit (»Reha vor Pflege«) durchgeführt werden, bezieht sich die sozialmedizinische Abschlussuntersuchung auch auf alltagsrelevante Ziele wie: 4 Toilettengang und persönliche Hygiene 4 Selbstständige Nahrungsaufnahme 4 Selbstständiges An- und Auskleiden 4 Transfer und Mobilität 4 Tagesstrukturierung Die Beurteilung der Pflegestufen gehört allerdings nicht zu den Aufgaben der Diagnostik in der Rehabilitation. Fazit Die Diagnostik in der Rehabilitation zielt nicht auf das Erkennen einer Krankheit. Vielmehr sollen die Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit einschließlich Aktivitäten und Teilhabe festgestellt und objektiviert werden. Neben der Anamnese kann dies durch sog. Assessmentverfahren erfolgen. Hierbei handelt es sich um Checklisten oder Fragebögen, die entweder vom Arzt oder Therapeuten oder aber vom Betroffenen selbst ausgefüllt werden. Die Anzahl solcher Assessmentinstrumente ist heute sehr groß, wobei zwischen krankheitsübergreifenden und krankheitsspezifischen Instrumenten unterschieden wird. Wichtig ist bei der Auswahl eines Instruments, dass es in der jeweiligen Phase der Rehabilitation sensitiv ist, d. h. den Funktionsbereich eines Patienten tatsächlich abbildet. Ergänzt wird die rehabilitative Diagnostik durch eine Reihe von Funktionstests, in denen der Patient bestimmte standardisierte Aufgaben ausführen muss.

Literatur Biefang S, Potthoff P, Schliehe F (1999) Assessmentverfahren für die Rehabilitation. Hogrefe, Göttingen Delbrück H, Haupt E (1996) Rehabilitationsmedizin. Urban & Schwarzenberg, München Wien Baltimore Leistner K, Beyer HM (2005) Rehabilitation in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Ecomed, Landsberg/Lech Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (2003) Sozialmedizinische Begulklökdflöjkgsdflöklötachtung für die gesetzliche Rentenversicherung. Springer, Berlin Heidelberg New York

1 6 6 Rehabilitative Interventionen 6.1

Krankengymnastische Konzepte

6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4

W. Schupp Grundlagen – 151 Aufgaben im rehabilitativen Prozess – 151 Krankengymnastische Konzepte – 151 Durchführung – 155

6.2

Ergotherapeutische Konzepte

6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5

A. Reiners, A. Römer Grundlagen – 158 Aufgaben – 159 Assessment – 160 Ergotherapeutische Konzepte – 160 Durchführung – 162

– 151

– 158

6.3

Logopädie

6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4

J.-J. Glaesener Definition und Grundlagen – 164 Diagnostik – 165 Therapie – 166 Umgang und Kommunikation mit Aphasikern

– 164

6.4

Dysphagietherapie

6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5

H. Schröter-Morasch Definition und Grundlagen Pathophysiologie – 168 Einteilung – 170 Diagnostik – 170 Therapie – 172

– 167

– 168 – 168

6.5

Neuropsychologische Therapie

6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.5.4 6.5.5 6.5.6

G. Küther Definition und Grundlagen – 174 Aufmerksamkeit – 175 Zerebrale Seh- und Wahrnehmungsstörungen, Neglect – 176 Gedächtnisstörungen – 176 Apraxien – 177 Einschränkungen von Exekutivfunktionen, Affekt und Persönlichkeit – 178

6.6

Medikamentöse Therapie – 179

6.6.1 6.6.2 6.6.3 6.6.4

Th. van de Weyer Psychostimulanzien – 180 Antidepressiva – 180 Spastikreduzierende Medikamente – 181 Schmerzmittel bei neuropathischen Schmerzen – 182

6.7

Rehabilitative Pflege

6.7.1 6.7.2 6.7.3

J.-J. Glaesener Aufgaben – 183 Pflegekonzepte – 183 Ziele – 184

– 182

– 174

6.8 6.8.1 6.8.2 6.8.3 6.8.4 6.8.5

Angehörigenarbeit

– 185

M. Gadomski Rehabilitation bei Patienten mit schwerem erworbenem Hirnschaden – 185 Funktion des Angehörigen im therapeutischen Prozess – 186 Voraussetzungen für den Einsatz der Angehörigen in der Rehabilitation – 187 Berücksichtigung der Probleme des Angehörigen – 187 Hilfestellung für an den Angehörigen – 187

6.9

Rehabilitative Hilfsmittel – 188

6.9.1 6.9.2 6.9.3 6.9.4 6.9.5 6.9.6

Chr. Gutenbrunner Definition und Grundlagen – 188 Hilfen für Aktivitäten des täglichen Lebens – 189 Hilfsmittel zur Mobilität – 190 Hilfsmittel zur Kommunikation – 191 Prothesenversorgung – 192 Weitere therapeutische Hilfsmittel – 192

6.10 Schmerztherapie – 193 6.10.1 6.10.2 6.10.3 6.10.4

P. Schöps Definition und Grundlagen – 193 Physikalisch-medizinische Schmerztherapie – 195 Medikamentöse Schmerztherapie – 197 Psychologische Schmerztherapie – 199

6.11 Psychologische Interventionen – 202 6.11.1 6.11.2 6.11.3 6.11.4

M. Schwarze Definition und Grundlagen – 202 Psychologische Aufgabenfelder in der medizinischen Rehabilitation – 202 Vorgehensweise – 204 Indikationen für psychologisch-psychotherapeutische Maßnahmen – 204

6.12 Künstlerische und körperorientierte Therapien – 205 6.12.1 6.12.2 6.12.3 6.12.4

I.-H. Pages Grundlagen – 205 Musiktherapie – 206 Kunsttherapie – 208 Körperorientierte Therapien – 209

6.13 Patientenschulung – 211 I. Ehlebracht-König 6.13.1 Definition und Grundlagen – 211 6.13.2 Bewältigung einer chronischen Krankheit – 211 6.13.3 Schulungsprogrammem – 212

6.14 Arbeits- und berufsbezogene Rehabilitation – 214 6.14.1 6.14.2 6.14.3 6.14.4

H. Irle Wechselwirkungen zwischen Gesundheit und Arbeitsplatz – 214 Rehabilitation der Rentenversicherung – 214 Arbeitsbezogener Rehabilitationsbedarf – 215 Inhalte der arbeits- und berufsbezogenen Rehabilitation – 216

Literatur

– 217

151 6.1 · Krankengymnastische Konzepte

> > Einleitung In der Rehabilitation können je nach Indikation und Stadium sämtliche in 7 Kap. 3 beschriebenen Behandlungsformen zum Einsatz kommen. Dies betrifft insbesondere die krankengymnastischen und ergotherapeutischen Techniken. Darüber hinaus besteht die Rehabilitation aus weiteren Interventionen und Konzepten, die im Folgenden beschrieben werden. Dabei ist die Durchführung der einzelnen Maßnahmen im multiprofessionellen Team ein wesentliches Qualitätsmerkmal der Rehabilitation.

6.1

Krankengymnastische Konzepte W. Schupp

6.1.1 Grundlagen Krankengymnastische Techniken (7 Kap. 3.1) sowie Bewegungs- und Sporttherapie (7 Kap. 3.3) spielen eine herausragende Rolle in der stationären und ambulanten Rehabilitation sowie in der rehabilitativ orientierten Langzeitbetreuung chronisch Kranker und Behinderter. In diesem Abschnitt wird beschrieben, wie die krankengymnastischen und bewegungs- oder sporttherapeutischen Konzepte in ein ganzheitliches Rehabilitationskonzept integriert und durchgeführt werden.

6.1.2 Aufgaben im rehabilitativen Prozess Medizinische Rehabilitation ist Arbeit im therapeutischen, in aller Regel interdisziplinären Team. Die Leitung obliegt dem Arzt, der auch die Indikation stellt. Der Krankengymnastik kommen dabei die folgenden Aufgabenschwerpunkte zu: 4 Förderung von Bewegungsfähigkeit, Koordination, Gleichgewicht und Mobilität 4 Durchführung krankengymnastischer Behandlungsmaßnahmen als Einzel-, Kleingruppen- oder Gruppenbehandlung nach entsprechenden Techniken (7 Kap. 3.1) und Konzepten (s. u.) 4 Beratung und Anleitung zu Lagerung und Pflege, um den Muskeltonus zu normalisieren, Fehlstellungen und Kontrakturen zu vermeiden, Durchführung und Anleitung zu Dehnung 4 Förderung der Oberflächen- und Tiefensensibilität, Körperwahrnehmung

6

4 Haltungs- und Gangschulung 4 Training von Mobilität und Koordination für sog. Aktivitäten des täglichen Lebens (z. B. Transfers, Treppen steigen) 4 Durchführung sekundärprophylaktischer Maßnahmen im Bereich Mobilität und Koordination (z. B. Sturzprävention, Rückenschule) 4 Mitwirkung bei der Hilfsmittelversorgung für Mobilität und Fortbewegung 4 Anleitung und Einübung von häuslichen Eigentrainingsprogrammen 4 Mitwirkung an Bewegungs- und sporttherapeutischen Maßnahmen: 5 Medizinische Trainingstherapie 5 Ergometertraining 5 Laufbandtraining 5 Bewegungs- und Sporttherapie im Bewegungsbad (z. B. therapeutisches Schwimmen, Aquajogging) 5 Terraintraining In einzelnen Indikationsgebieten ergeben sich besondere Schwerpunkte (. Tab. 6.1; 7 Kap. 3.1).

6.1.3 Krankengymnastische Konzepte Im Folgenden können von den zahlreichen krankengymnastischen Konzepten und Schulen nur einige kurz dargestellt werden (7 Kap. 3.2, 3.3, 3.4). Eine einheitliche allgemein anerkannte Einteilung der krankengymnastischen Konzepte existiert nicht. Dies liegt einerseits daran, dass die einzelnen Konzepte meist unabhängig voneinander entwickelt worden sind und andererseits in einer gewissen Konkurrenz zueinander stehen (Schulen). Schließlich gibt es bei aller Unterschiedlichkeit viele inhaltliche Überscheidungen zwischen den Konzepten, die eine Trennung erschweren. Krankengymnastische Konzepte mit neurophysiologischem Schwerpunkt Zu den krankengymnastischen Konzepten mit neurophysiologischem Schwerpunkt gehören die Techniken nach Bobath, Vojta und die propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation, die weiter unten näher dargestellt werden. Bekanntlich ist jede aktive oder passive Bewegung mit einer Reihe neurophysiologischer Phänomene verbunden (7 Kap. 3.1). Dennoch haben sich in der zwei-

152

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

. Tabelle 6.1. Beispiele für physiotherapeutische Schwerpunkte in bestimmten Indikationsbereichen

Indikationsgebiet

Krankengymnastische Techniken

Sonstige physikalische Therapie

Orthopädie, muskuloskelettales System

Manuelle Techniken Funktionelle Techniken Wirbelsäulenaufrichtung Medizinische Trainingstherapie Bewegungsbad/Aquajogging

Massagen Manuelle Lymphdrainage Elektrotherapie Entspannungsverfahren

Kardiologie und Stoffwechsel, kardiovaskuläres System

Herzhockergymnastik Stoffwechselgymnastik Ergometertraining Terraintraining Schwimmtraining Ausdauertraining

Kneipp-Anwendungen Temperatur-ansteigende Teilbäder Trockengasbäder

Neurologie, zentrales und peripheres Nervensystem (und ggf. auch autonomes Nervensystem)

Neurophysiologische Techniken Laufbandtherapie Repetitives Üben Krankengymnastik im Bewegungsbad

Manuelle Lymphdrainage Reflexzonenmassagen Elektrotherapie EMG-gestützte Elektrostimulation Biofeedback

Pulmonologie

Atemtherapie Ergometertraining Terraintraining

Inhalationen Reflexzonenmassagen

Gastroenterologie

Funktionelle Techniken

Kolonmassagen

Onkologie

Je nach betroffenem Organsystem

Manuelle Lymphdrainage Entspannungsverfahren

Geriatrie

Neurophysiologische und manuelle Techniken Haltungs-, Gangschulung Sturzprophylaxe

Kneipp-Anwendungen Manuelle Lymphdrainage Massage

6

ten Hälfte des vorigen Jahrhunderts einige krankengymnastische Konzepte von der allgemeinen Krankengymnastik abgespalten und eine spezielle neurophysiologische Grundlage für sich reklamiert. Diesen Methoden ist gemeinsam, dass sie sich auf Beobachtungen der normalen physiologischen Entwicklung von Bewegungsmustern stützen und die dort beobachtbaren Entwicklungsschritte durch therapeutische Schritte nachvollziehen. Sie sind also immer dann indiziert, wenn die normalen Bewegungsmuster gestört sind (z. B. durch Erkrankungen des ZNS). Das Konzept der Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage wird durch einige neuere Untersuchungen wieder in Frage gestellt. So konnte gezeigt werden, dass das direkte Üben eines Bewegungsablaufes (z. B. Gehen, Greifen) zu einem schnelleren The-

rapiefortschritt führt als das Behandeln in entwicklungsneurologischen Mustern (»Forced-use-Therapie«; 7 Kap. 2.7). Für ein abschließendes Urteil und eine wissenschaftlich begründete Differenzialindikation der Physiotherapie bei neurologischen Erkrankungen reicht die Datenlage allerdings noch nicht aus. Bobath-Konzept. Das bekannteste Therapiekonzept

auf neurophysiologischer Grundlage ist das BobathKonzept (entwickelt von Bertha und Karel Bobath). Es beruht auf der Beobachtung, dass hirngeschädigte Kinder in der Frühphase eine verzögerte, vorzeitig stagnierende Bewegungsentwicklung zeigen. Die im weiteren Verlauf auftretende Spastik wird dabei als Teil eines tonischen Bewegungsmusters und der fehlenden Bewegungserfahrung, also als sensomotorisches Phänomen

153 6.1 · Krankengymnastische Konzepte

verstanden. Auch die Bewegungsstörungen bei erwachsenen Hirngeschädigten werden als 4 fehlende sensomotorische Erfahrung, 4 fehlender Haltetonus in Auseinandersetzung mit der Schwerkraft und 4 Entwicklungsentgleisung in tonische Muster aufgefasst. Die gestörten Reflexbögen betreffen dabei auch andere sensomotorische Prozesse einschließlich der Verarbeitung von Sinnesreizen (Sehen, Hören, Gleichgewicht) sowie psychische Entgleisungen. > Die Therapie im Bobath-Konzept zielt einerseits auf einer Hemmung der Spastik (z. B. durch Lagerung), dem Aufbau eines Haltetonus und auf die Vermittlung perzeptiver motorischer Lernreize.

Im Sinne eines 24-h-Konzeptes sollen sich die Therapieprinzipien nicht nur auf die eigentlichen Therapien beschränken, sondern auch in die Pflege bzw. die Kinderbetreuung durch die Eltern eingehen. Im Erwachsenenalter stehen entsprechend die folgenden Therapieprinzipien im Mittelpunkt: 4 Sensorisch-motorische Wiederherstellung (Förderung der gestörten Wahrnehmung durch geeignete sensorische Reize, Stimulierung der Sensibilität) 4 Hemmung pathologischer Haltungs- und Bewegungsmuster (spastikhemmende Lagerungen, detonisierende Übungen) 4 Bahnung physiologischer Bewegungsabläufe (Normalisierung des Haltetonus des Rumpfes, Einbeziehen der betroffenen Seite in Koordination mit der gesunden Seite) 4 Wiedererlernen verlorengegangener Bewegungsabläufe (z. B. bei Transferbewegungen) Vojta-Konzept. Auch das Konzept nach Vaclav Vojta beruht auf der Beobachtung der Entwicklung von kindlichen Koordinationsstörungen. Der Schwerpunkt liegt hier bei den Störungen der Anbahnung von Lokomotionsbewegungen (z. B. Kriechen). Wichtige Elemente der Bewegungsanbahnung sind: 4 Bahnung von neurophysiologischen Assoziationen (z. B. mittels durch Reflexe ausgelöster Lokomotionsbewegungen) 4 Verbesserung der posturalen Kontrolle (Haltungskontrolle) durch gezielte reflektorische Auslösung phylogenetisch früher Reflexe

6

Folgende Techniken werden eingesetzt: 4 Bahnung des Reflexkriechens 4 Absicherung der Haltung 4 Reflektorisches Drehen Dies geschieht durch Druckausübung auf 9 streng definierten Regionen des Körpers (Auslösezonen), die die entsprechenden Reflexbewegungen triggern: 4 Hinterkopfseitig: Ferse, distaler Radius, Akromion, Glutäalfaszie 4 Epicondylus medialis humeri, Condylus lateralis tibiae, Crista iliaca anterior, medialer Schulterblattrand Vojta-Therapie bei Kindern? Da die Auslösung von Reflexbewegungen für die Patienten unangenehm ist und die Kinder während der Therapie oft schreien und Abwehrhaltungen zeigen, ist die Vojta-Therapie vielfach kritisiert worden. In jedem Fall ist die Therapie nur vorübergehend anzuwenden. Langfristige psychische Schäden konnten allerdings nicht nachgewiesen werden. Im Erwachsenenalter findet diese Technik vor allem bei Querschnittlähmungen Anwendung.

Propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation. Die prop-

riozeptive neuromuskuläre Fazilitation (PNF) nach Hermann Kabat fußt auf der Beobachtung, dass normale Gebrauchsbewegungen stets ein diagonal-spiraliges Verhaltensmuster aufweisen. So ist das Greifen nach einem Buch im Bücherregal mit dem rechten Arm verbunden mit einer Armbewegung aus der Mittelstellung nach rechts oben, einer Supinationsbewegung des Unterarms bei gleichzeitiger Linksrotation der Brustwirbelsäule mit Weiterführen dieser Rotation in Becken und Beinen. Ziel der Methode ist es zielgerichtet solche Komplexbewegungen anzubahnen (in Abgrenzung zu dem Ansatz der »klassischen« Krankengymnastik, die überwiegend isolierte Bewegungen übt). Die Theorie dieser Methode bezieht die Eigenschaften der Propriozeptoren in Sehnen und Muskeln mit ein und leitet daraus Bahnungstechniken (Fazilitationen) ab: 4 Entspannung der Antagonisten durch Anspannung von Agonisten (Vorwärtshemmung, reziproke Innervation) 4 Abschwächung des Agonistentonus nach vorheriger Innervation (Rückwärtshemmung) und 4 Verbesserung der Kontraktilität durch vorherige Dehnung (sukzessive Induktion)

154

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

Geübt werden vor allem geführte diagonale Bewegungsmuster gegen den dosierten Widerstand bzw. unter Führung des Therapeuten (. Abb. 6.1).

Forced-use-Therapie. Die Forced-use-Behandlung be-

ruht auf der Theorie der Neuroplastizität und erzwingt die Nutzung der plegischen Seite durch Ruhigstellung der gesunden Seite (7 Kap. 1.2.7).

Funktionelle Bewegungslehre. Die funktionelle Bewe-

6

gungslehre nach Klein-Vogelbach geht davon aus, dass das normale Bewegungsverhalten eine Orientierung im Raum und eine Orientierung im Körper zur Voraussetzung hat. Die Beschreibung von normalen Bewegungen erfolgt nach funktionellen Körperabschnitten. Hierauf fußend werden die Bewegungen definiert bzw. beschrieben. Die Therapie besteht einerseits in manuell geführten Bewegungsmanövern, andererseits in didaktischen Instruktionen des Patienten zum Erlernen physiologischer Bewegungsabläufe.

Krankengymnastische Konzepte mit muskuloskelettalem Schwerpunkt Manuelle Medizin. Die verschiedenen manualmedizinische Konzepte (Manuelle Therapie, Therapie nach Maitland u. a.) beruhen einerseits auf der Theorie der Gelenkblockierung, die als reversible hypomobile Gelenkdysfunktion definiert ist, andererseits auf reflektorischen Störungen im gesamten neuromuskulären System. Da diese Therapie auch von Ärzten durchgeführt wird, ist sie in einem eigenen Kapitel beschrieben (7 Kap. 3.4).

Affolter-Konzept. Das perzeptiv-kognitive Behand-

lungsmodell nach Felice Affolter findet vielfach auch in der Ergotherapie Anwendung und wird in 7 Kap. 6.2.4 beschrieben.

Brügger-Konzept. Das Brügger-Konzept hat ebenfalls

eine mechanische und zusätzlich eine neurophysiologische Begründung. Mechanisch werden die Folgen einer Haltungsschwäche mit dem Zusammenwirken von Zahnrädern beschrieben, wobei der Beckenkippung eine zentrale Bedeutung bei der physiologischen Wirbelsäulenaufrichtung beigemessen wird (. Abb. 6.2). Neurophysiologisch wird ein »nozizeptiver somatomotorischer Blockierungseffekt (NSB)« definiert, der die Schonhaltung als Vermeidung nozizeptiver Reize interpretiert. Behandelt werden neben der Körperhaltung somit auch reflektorisch hypoton gestellte und hyperaktive Muskeln. Dabei wird von funktionellen Zusam-

a

b . Abb. 6.1a, b. Bewegungsmuster der propriozeptiven neuromuskulären Fazilitation für die obere (a) und untere (b) Extremität. (Nach Pfennig; aus Gutenbrunner und Weimann: Krankengymnastische Methoden und Konzepte. Springer 2004)

. Abb. 6.2. Zahnradphänomen nach Brügger. Beckenkippung führt zu einer Lordosierung der Lendenwirbelsäule, einer Aufrichtung der Brustwirbelsäule und einer Streckung der Halswirbelsäule. (Nach Brügger 1990)

155 6.1 · Krankengymnastische Konzepte

menhängen zwischen den Symptomen unterschiedlicher Lokalisation ausgegangen. Medizinische Trainingstherapie. Wie die manuelle Me-

dizin wird auch die medizinische Trainingstherapie in einem gesonderten Kapitel beschrieben (7 Kap. 3.3). Eine besondere auf den Muskelaufbau abzielende Trainingsform ist das isokinetische Muskeltraining, das apparativ durchgeführt wird. Dabei wird der Muskel (anders als beim isometrischen Training) über den gesamten Bewegungsumfang eines Gelenkes trainiert, sodass der physiologische Bewegungsablauf besser berücksichtigt wird. Die Trainingsgeräte erlauben gleichzeitig eine Muskeldiagnostik sowie eine fein abgestufte Trainingsbelastung. Schlingentischtherapie. Eine weit verbreitete, aber wissenschaftlich wenig untersuchte krankengymnastische Technik ist die Schlingentischtherapie. Hier wird durch gezielte Aufhängung des Rumpfes oder der Extremitäten das Eigengewicht entlastet, um Bewegungen zu fazilitieren (7 Kap. 3.1). Die Übungen werden entweder vom Therapeuten geführt oder erfolgen gegen den Widerstand des Therapeuten bzw. mittels elastischer Bänder (sog. Thera-Bänder).

Krankengymnastische Konzepte mit kardiorespiratorischem Schwerpunkt Atmungstherapie. Bei Atemwegserkrankungen und in der postoperativen Phase ist die krankengymnastische Atmungstherapie von großer praktischer Bedeutung. Sie muss von der Atemtherapie (z. B. nach Ilse Middendorf) abgegrenzt werden, die durch das Bewusstmachen der Atmung den Spannungszustand des Körpers beeinflusst und auch im Sinne einer körperorientierten Therapie angewendet wird (7 Kap. 6.12). Funktionell sollen in der Atmungstherapie die Atmungsfunktionen gebessert werden, z. B. durch atemerleichternde Körperstellungen, gezielte Ventilationsübungen sowie Maßnahmen zur Erweiterung und Reinigung der Bronchien. Eine besondere Form der Atmungstherapie ist die autogene Drainage, bei der u. a. durch gezielte Hustentechniken der Schleimabtransport aus den Bronchien gefördert wird. Diese Technik, die von den Patienten selbst erlernt werden kann ist eine wesentliche Basis der Physiotherapie bei Mukoviszidosekranken. Herz-Kreislauf-Training. Auch das Herz-Kreislauf-Training gehört zu den krankengymnastischen Maßnah-

6

men, die in der Rehabilitation von besonderer Bedeutung sind. Sie kann entweder durch direkte kreislaufanregende krankengymnastische Übungen oder auch durch gerätegestütztes Training erfolgen. p In der Frührehabilitation hat sich das sog. Bettfahrradergometer zum frühzeitigen aktivierenden Kreislauftraining bewährt.

6.1.4 Durchführung Funktionsdiagnostik und Behandlungsplan Bei Beginn der Behandlung führt auch der Physiotherapeut nochmals eine auf seinen Bereichen zugeschnittene Anamnese und funktionelle Untersuchung des Patienten durch. Dabei geht es insbesondere um Fragen der Beweglichkeit einzelner Gelenke und der Körperhaltung und -koordination, insbesondere Stehen und Gehen. Analysiert werden auch der Muskeltonus, das Muskelrelief, die Muskelkraft und -ausdauer, die Oberflächen- und Tiefensensibilität einschließlich Propriozeption, Schmerzprobleme am Bewegungsapparat und ihre Auslösung, bzw. Verschlimmerung durch bestimmte Haltungen oder Bewegungen. Verschiedene krankengymnastische Behandlungstechniken (7 Kap. 3.1) geben klare Vorgaben für diese funktionelle Befunderhebung. Diese sind dann auch Grundlage für die Planung des weiteren therapeutischen Vorgehens in dieser Behandlungstechnik. Sie dienen zur Festlegung von Behandlungszielen im therapeutischen Team und mit dem Patienten, ggf. auch seinen Angehörigen. Im Zuge der wissenschaftlichen Fundierung rehabilitativer Behandlungs- und Interventionsmaßnahmen wird zunehmend auch zu Beginn einer krankengymnastischen Behandlungsserie ein funktionelles Assessment mit etablierten und standardisierten Skalen durchgeführt. Mit diesen Instrumenten wird geprüft, ob und in welchem Umfang, trotz einer bestehenden Behinderung, bestimmte Aktivitäten generell im Alltag oder problembezogen durchgeführt werden können (7 Kap. 5). Ergänzend zur Befunderhebung in der allgemeinen Krankengymnastik sollen diese Skalen in der Rehabilitation auch die Aktivitäten und Teilhabe (nach ICF) abbilden (7 Kap. 4.2). Sie gehen in das Rehabilitationsassessment des Arztes ein.

156

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

Behandlungsverlauf

6

> Wie in fast allen Bereichen der Rehabilitation so werden auch bei den krankengymnastischen Interventionen prinzipiell 3 aufeinander aufbauende Vorgehensweisen unterschieden: 5 Zuerst wird versucht, durch entsprechende Behandlungstechniken und übungsspezifisches Training gestörte oder verlorengegangene Funktionen möglichst wieder herzustellen (Restitutio ad integrum, Restitutio ad optimum). 5 Falls Wiederherstellung nicht mehr (völlig) möglich ist, wird versucht, durch Einüben von Ersatzstrategien die Beeinträchtigung bei Alltagsaktivitäten so gering wie möglich zu machen (Kompensation). 5 Wenn Wiederherstellung und Kompensation durch Ersatzstrategien nicht ausreichen, Aktivitäten und Teilhabe zu ermöglichen, kann die Anpassung der Wohnoder Arbeitsumgebung und die Verordnung von entsprechenden Hilfsmitteln weiter helfen, Einschränkungen und Behinderungen für Alltag und Beruf zu verringern (Adaptation).

Bei all diesen Vorgehensweisen sind die persönlichen Kontextfaktoren (z. B. Wohnsituation des Patienten, Unterstützung und Hilfe durch Angehörige) zu berücksichtigen. Zudem ist es notwendig, den Patienten in seiner persönlichen Krankheits- oder Behinderungsverarbeitung zu unterstützen, Motivation und Mitarbeit zu fördern und Ansätze zur positiven und aktiven Lebensbewältigung zu entwickeln. Die meisten Patienten in der medizinischen Rehabilitation haben mehrere Probleme, die krankengymnastischer und meist ergänzender physikalischer Behandlung bedürfen. In Absprache mit dem Arzt, dem therapeutischen Team und dem Patienten muss daher der Physiotherapeut Zwischenziele formulieren, daraus einen stufenweisen Behandlungsplan entwickeln und Prioritäten vorgeben. Er muss sich dabei überlegen, welche Behandlungstechniken er wann einsetzt, welche additiven Maßnahmen (ggf. durch andere Behandler) aus dem Bereich der sog. passiven Maßnahmen ergänzend sinnvoll sind und welche Eigenübungen er zusätzlich dem Patienten als »Hausaufgabe« zwischen den Behandlungen mitgibt. An den Beispielen in . Tab. 6.2 wird dies verdeutlicht. Es wird sehr intensiv diskutiert, wie viel Behandlung der Therapeut noch direkt am Patienten durchfüh-

. Tabelle 6.2. Beispiele für die rehabilitative physiotherapeutische Vorgehensweise

Funktions-/Aktivitätsstörung

Rehabilitation(zwischen)ziel

Physiotherapeutisches Vorgehen

57-jähriger Patient, Zustand nach rechtshirnigem Mediateilinfarkt vor 14 Tagen Armbetonte Hemiparese links

5 Selbstständig Stehen und Gehen

5 Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage (Bobath) 5 Später: Laufband

Beginnende Spastik

5 Tonusregulierung

5 Lagerung nach Bobath 5 Motorgetrieb. Bewegungstrainer 5 Tonusregulierende Massagen

Sensomotorische Vernachlässigung linke Körperhälfte (Neglect)

5 Kompensation des Neglects

5 Symmetrietraining bei Stehen und Gehen 5 Krankengymnastik vor Spiegel (zur Anregung von Wahrnehmung und Mitbewegung der nicht sichtbaren Extremität) 5 Gezielte Wahrnehmungsförderung für links

Subluxationstendenz und Schmerz linke Schulter

5 Normale Haltung 5 Schmerzreduktion bzw. -hemmung

Beginnendes Handödem

5 Anbahnung Bewegungsfunktion linke Schulter und obere Extremität

5 Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage, Stützübungen, Lagerung auf Rollstuhltisch 5 Manuelle Lymphdrainage 5 Evtl. EMG-gestützte Elektrostimulation

157 6.1 · Krankengymnastische Konzepte

6

. Tabelle 6.2 (Fortsetzung)

Funktions-/Aktivitätsstörung

Rehabilitation(zwischen)ziel

Physiotherapeutisches Vorgehen

28-jährige Patientin mit Polytrauma: stumpfes Bauchtrauma, Trümmerfraktur rechter Femur, distale Tibiafraktur links, übungsstabil operativ versorgt, 8. postoperative Woche, Teilbelastung erlaubt Eingeschränkte Gelenkbeweglichkeit durch Immobilisierung

5 Normale Gelenkfunktion 5 Stehen und Gehen mit Hilfsmitteln 5 Gefühl für Teilbelastung

5 Manuelle Techniken 5 Gehtraining mit Hilfsmitteln (Gehwagen, Stützen) 5 Einsatz von Körperwaagen

Fehlendes Steh- und Gehvermögen Belastungsabhängige Schmerzen

5 Schmerzfreie Bewegung 5 Schmerzlinderung

5 Manuelle Techniken 5 Wärme oder Kälte 5 Übung im Bewegungsbad

Ödemneigung

5 Abschwellung

5 Manuelle Lymphdrainage

Kraftminderung durch Immobilität

5 Normale Muskelkraft und -ausdauer für Alltag und Beruf

5 Medizinische Trainingstherapie 5 Muskelaufbautraining 5 Elektrostimulation (z. B. Mittelfrequenzstromtherapie)

Abdominelle Beschwerden

5 Normale Darmfunktion

5 5 5 5

Training Bauchmuskulatur Kolonmassage Atemtechniken Entspannungsverfahren

68-jähriger Patient, Zustand nach dreifacher aortokoronarer Bypass-Operation vor 14 Tagen Eingeschränkte kardiale Belastbarkeit, verminderte EF

5 Ausreichende kardiale Belastbarkeit für den Alltag, einschließlich Treppensteigen (75–100 Watt)

5 Leichtes Herzkreislauftraining im Sitzen auf dem Hocker (Herzhockergymnastik) 5 Ergometertraining 5 Terraintraining

Eingeschränkte Atmung wegen Thorakotomie

5 Schmerzfreie tiefe Inspiration

5 Atemtherapie 5 Atemerleichternde Massagen

Sekundäre Wundheilungsstörung Thorakotomienarbe

5 Normale Wundheilung 5 Vermeidung weiterer Wundheilungskomplikationen

5 Bindegewebstechniken 5 Funktionelle Techniken 5 CO2-Bäder

Schmerzen im Wirbelsäulenbereich wegen muskulärer Dysbalancen

5 Schmerzfreie Bewegung

5 Funktionelle Techniken 5 Tonusregulierende Massagen 5 Elektrotherapie, TENS

ren soll (»hands on«) oder ob er sich mehr auf Anleitung, Beobachtung und Kontrolle der vom Patient selbst auszuführenden Bewegungen und Übungen (»hands off«) beschränken soll. Hochfrequentes repetitives Üben spezifischer Funktionen und Aktivitäten scheint aber den größten und stabilsten Erfolg zu bringen. Die Verbindung zum motorischen Lernen und zu sportund trainingsphysiologischen Erkenntnissen ist eng.

In jeder ambulanten oder stationären Rehabilitationseinrichtung sind die physiotherapeutischen Maßnahmen mit anderen Therapiemaßnahmen in einem gemeinsamen Therapie- und Rehabilitationsplan für den Patienten abzustimmen. Dazu finden meist regelmäßige Teamkonferenzen statt, in der die funktionellen Verbesserungen und ggf. auch Rückschritte diskutiert werden, weitere Rehabilitationsziele und -maßnahmen

158

6

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

angepasst werden und auch die notwendige Rehabilitationsdauer prognostisch abgeschätzt wird. Letzteres ist sehr wichtig, damit der behandelnde Arzt ggf. beim zuständigen Kostenträger eine Verlängerung beantragen kann. Aufgrund der gesetzlich vorgegebenen engen Befristung medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen ist häufig eine vollständige Wiederherstellung für alle Aktivitäten nicht möglich. Der Therapeut muss daher auch frühzeitig im Rahmen seiner Behandlungsplanung festlegen, welche Maßnahmen noch im Rahmen einer ambulanten Nachbehandlung weitergeführt werden sollen, welche Hilfsmittel zur Verbesserung von Beweglichkeit und Mobilität dem Patienten verordnet und mitgegeben werden sollen und welche Eigenübungen er längerfristig oder auf Dauer durchführen soll. Diese Ansätze müssen in die therapeutische Arbeit mit dem Patienten einfließen und im Team abgestimmt werden. Patienten erfragen gerne auch, welche niedergelassenen Krankengymnasten welche spezifischen Behandlungstechniken zur Weiterbehandlung anbieten können, welche Hausbesuche machen u. ä. Abschlussbefund Für den Abschlussbefund gilt ähnliches wie für den Eingangsbefund. Physiotherapeuten haben hier einerseits eine Zwischenevaluation nach den Maßgaben der von ihnen verwandten Behandlungstechniken und Konzepten vorzunehmen, die dem weiterbehandelnden Kollegen wiederum auch als Aufnahmebefund für seine Weiterbehandlung dienen kann. Zum anderen werden von den Kostenträgern entsprechende erneute Assessments mit standardisierten funktionellen Skalen verlangt, um das Behandlungs- und Rehabilitationsergebnis kritisch zu evaluieren. Sie gehen in den Abschlussbefund des Arztes ein. Im Rahmen von externen Qualitätssicherungsmaßnahmen der Kostenträger werden die mit standardisierten Skalen ermittelten Behandlungsergebnisse mit der Art und Häufigkeit durchgeführter Therapiemaßnahmen, klassifiziert nach KTL (s. o.), korreliert. Diese Ergebnisse beeinflussen wiederum Zuweisung und Pflegesätze für die einzelnen medizinischen Rehabilitationseinrichtungen.

6.2

Ergotherapeutische Konzepte A. Reiners, A. Römer

6.2.1 Grundlagen Ergotherapie aktiviert und motiviert den Patienten bzw. Rehabilitanden dazu, selbst zu handeln, und nicht, sich behandeln zu lassen. Ergotherapie übt alltägliche Gebrauchsfunktionen. Es geht also nicht um Einzelfunktionen, sondern um anwendungsbezogene Komplexbewegungen. Der Einsatzbereich richtet sich nach der Rehabilitationsphase, dem Ausmaß der Schädigung, der Zielsetzung der Rehabilitationseinrichtung und den möglichen Behandlungsformen und Indikationen (. Tab. 6.3). Im folgenden Abschnitt wird die Rolle der Ergotherapie in der stationären und ambulanten Rehabilitation, bei akut und chronisch Kranken im Rahmen einer ganzheitlichen, ICF-orientierten Rehabilitation dargestellt. Die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) trägt der ergotherapeutischen Betrachtungsweise insofern Rechnung, als alle funktionalen Aspekte der Gesundheit (Funktionsfähigkeit) und Behinderung einer Person einschließlich ihrer Auswirkungen auf die körperliche, geistige oder seelische Integrität erfasst werden (7 Kap. 4). Die ICFKlassifikation erlaubt die systematische Darstellung, welche Aktivitäten eingeschränkt sind, in welchen Lebensbereichen die Partizipation erschwert oder unmöglich ist und welche Kontextfaktoren fördernd oder hemmend wirken. Eine Reihe von konzeptionellen Modellen stellen das Denken der ergotherapeutischen Berufsgruppe auf einer theoretischen Ebene dar, z. B. das »Model of Human Occupation«, MOHO, das »Canadian Model of Occupational Performance«, CMOP, das »Occupational Perfomance Model (Australia), OPMA, oder das Bieler Modell. Diese Modelle 4 strukturieren die ergotherapeutische Befunderhebung und Behandlung, 4 bieten Begriffe, mit denen ergotherapeutisches Handeln benannt werden kann, 4 machen Kompetenzen und Grenzen ergotherapeutischen Handelns erkennbar und 4 vermitteln ergotherapeutisches Handeln in der Weiterbildung. Alle Modelle stellen den Menschen, seine Betätigung und seine Fähigkeit, Handlungen auszuführen (sog.

159 6.2 · Ergotherapeutische Konzepte

6

. Tabelle 6.3. Einsatzbereiche der Ergotherapie in der Rehabilitation

Rehabilitationsphase

Institution

Medizinische Bereiche

Phasen A bis F der neurologischen Rehabilitation (7 Kap. 4)

5 Akutkliniken (einschließlich Intensivstationen) 5 Rehakliniken 5 Teilstationäre Rehabilitationseinrichtungen

Neurologie, Neurochirurgie, Innere Medizin, Rheumatologie, Geriatrie, Unfallchirurgie, Orthopädie, Pädiatrie, Psychiatrie u. a.

Ambulanter Bereich

5 Ergotherapeutische Praxen 5 Interdisziplinäre Praxen 5 Ambulante Dienste

Neurologie, Neurochirurgie, Innere Medizin, Rheumatologie, Geriatrie, Unfallchirurgie, Orthopädie, Pädiatrie, Psychiatrie u. a.

Sonstige Institutionen

5 5 5 5 5

Außerklinische Bereiche

5 Sanitätshäuser/Hilfsmittelfirmen 5 Krankenkassen

Pflegeheime/Wohnheime Umschulungszentren Berufsförderungswerke Werkstatt für Behinderte Sonderschulen

Handlungsperformanz), in den Mittelpunkt. Die Modelle definieren in unterschiedlicher Gewichtung Behandlungsschwerpunkte, die sich an 4 den physiologischen Grundfunktionen (sensorisch, motorisch, perzeptiv, kognitiv, emotional), 4 den Aktivitäten (Haltung, Fortbewegung, Umgang mit Gegenständen, soziale Interaktion) sowie 4 der Teilhabe (Partizipation) an Lebensbereichen (Spiel, Freizeit, ADL für persönliche Selbstständigkeit in Haus, Familie und Öffentlichkeit, Schule, Arbeit und Beruf)

Auf die Ausbildungs-, Arbeits- und Berufswelt sowie das Freizeitverhalten wird ein besonderer Schwerpunkt gelegt (Selbstständigkeit, Produktivität). Bei Funktions- und Aktivitätsstörungen wie z. B. bei Störungen der Grob- und Feinmotorik, der Ausdauer, der Kraft, der Koordination, der Sensibilität und der Wahrnehmung kann durch ergotherapeutische Maßnahmen eine Wiederherstellung oder Verbesserung erzielt werden.

orientieren. Materielle, soziale und kulturelle sowie physische und psychische Voraussetzungen werden berücksichtigt. Aus den genannten Modellen leiten sich auch Befunderhebungsinstrumente ab, die auch der therapeutischen Verlaufskontrolle dienen (7 Kap. 3.2). Wie in der Krankengymnastik gibt es in der Ergotherapie Behandlungskonzepte, die verschiedene Techniken miteinander vereinigen und als Schulen bezeichnet werden können.

5 Verbesserung von Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnis (Apraxie) 5 Vermeidung von Achsenfehlstellung, von Gelenkeinsteifung, von muskulären Atrophien und lageabhängigen Schmerzen 5 Kognitives Training zur Verbesserung von Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnis (Apraxie)

6.2.2 Aufgaben > Ziel der Ergotherapie in der Rehabilitation ist eine vollständige Eingliederung in ein möglichst normales Leben in der Gesellschaft.

Aufgaben und Ziele der Ergotherapie im rehabilitiven Prozess

5 Förderung der Körper- und Funktionswahrnehmung z. B. bei Orientierungs-, Wahrnehmungs- und Werkzeugstörungen 5 Förderung von Grob- und Feinmotorik durch Verbesserung von Kraft, Koordination und Sensibilität

6

160

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

5 Erlernen modifizierter Verhaltensweisen und neuer Bewegungsabläufe 5 Förderung der Kommunikationsfähigkeit 5 Wiederherstellung bzw. Erhalt der Selbstständigkeit und Lebensqualität in den Alltagsaktivitäten (Selbsthilfetraining) unter Einschluss beruflicher Fertigkeiten, Schule und Freizeitgestaltung 5 Reintegration in das häusliche und berufliche Umfeld

6

Zum Erreichen dieser Ziele werden die in 7 Kap. 3.2 beschriebenen Techniken eingesetzt. In der Rehabilitation liegt ein Schwerpunkt auch in der Kooperation mit anderen Berufsgruppen (z. B. Esstraining in Kooperation mit der Logopädie).

6.2.3 Assessment Die den ergotherapeutischen Interventionen vorausgehenden Maßnahmen der Befunderhebung und Funktionstestung wurden bereits in 7 Kap. 3.2 dargestellt. In der Rehabilitation ist die Ergotherapie auch an der rehabilitativen Diagnostik (7 Kap. 5) beteiligt, in dem therapierelevante Assessments durchgeführt werden. > Durch eine regelmäßig durchgeführte, standardisierte Befunderhebung und Assessmenttests können Funktions- und Aktivitätsverbesserungen im Verlauf dargestellt werden.

Jugendlichen mit Entwicklungsauffälligkeiten bzw. -störungen oder Lernschwierigkeiten angewandt. Das Affolter-Konzept, das auch in der Krankengymnastik Anwendung findet (7 Kap. 6.1.3), hat einen an Alltagsbewegungen und Handlungen orientierten Therapieansatz. Die zugrunde liegende Theorie geht davon aus, dass sinnvolle Bewegungen (»output«) verschiedene Informationen (»inputs«; taktil-kinästhetisch, visuell, auditiv) voraussetzen. Auch diese Theorie fußt auf einem Entwicklungsmodell. Techniken sind: 4 Lagerungen 4 Einfaches (beiläufiges) Führen (gemeinsame geführte Alltagsbewegungen, verbunden mit einer sinnvollen Handlung, z. B. das Öffnen einer Tür, . Abb. 6.3) 4 Intensives Führen (mit gezielter Informationsaufnahme und komplexen sinnvollen Handlungen) Neben dem Erlernen sinnvoller Bewegungen beinhaltet das Affolter-Konzept ein umfassenderes Rehabilitationsmodell und orientiert sich an der (Wieder-)Eingliederung der Betroffenen. Bobath-Konzept. Dieses wichtige neurophysiologische

Konzept in der Behandlung von Patienten mit neurologischen Erkrankungen basiert auf Theorien über neurophysiologische und neuropsychologische Prozesse (7 Kap. 6.1). Die Behandlung integriert perzeptive, kognitive und affektive Prozesse unter Berücksichtigung ihrer Wirkung auf die neuronalen Vorgänge und wird im 7 Kap. 6.1.3 beschrieben (vgl. auch 7 Kap. 1.2.7).

Aus der Vielzahl der möglichen Assessmenttests sind in . Tab. 6.4 einige in der Ergotherapie gebräuchliche Skalen für die Aktivitäten des täglichen Lebens, die Selbstständigkeit und die motorischen Fähigkeitsstörungen dargestellt.

6.2.4 Ergotherapeutische Konzepte Affolter-Konzept. Dieses perzeptiv-kognitive Behandlungsmodell basiert auf dem Entwicklungsmodell von Piaget, das gespürte Interaktionserfahrungen – Veränderungen zwischen der Person und der Umwelt durch Exploration und Hantieren – als Grundlage der Entwicklung ansieht. Das Therapiemodell wird bei Patienten mit erworbenen Hirnschädigungen und bei Kindern sowie

. Abb. 6.3. Einfaches Führen nach Affolter. (Nach Schlaegel; aus Gutenbrunner und Weimann: Krankengymnastische Methoden und Konzepte. Springer 2004)

161 6.2 · Ergotherapeutische Konzepte

6

. Tabelle 6.4. Assessmenttests in der Ergotherapie

Messbereich

Name

Beurteilungsdimensionen

Bewertungskriterien

ADL-Skalen (»activities of daily living«)

Barthel-Index

Kontinenz, Mobilität, Körperversorgung

ADL bewertet in 5-Punkte-Schritten nach Nichtdurchführbarkeit, mit Hilfe durchführbar, Unabhängigkeit

Erweiterter Barthel-Index

Erweitert auf Items zu Orientierung, Erinnerungsvermögen, Verständnis, Sprache, Aktivitäten und Partizipation

FrührehaBarthel-Index

Modifiziert durch Frühreha-relevante Parameter (Atmung, Bewusstsein, Schluckfunktion)

FIM (»Functional Independence Measure«)

Selbstversorgung, Kontinenz, Transfers, Fortbewegung, Kognition, Kommunikation, Sozialverhalten

Bewertung der Selbstständigkeit, der eingeschränkten Selbstständigkeit und der Unselbstständigkeit in 7 Stufen

RivermeadADL-Skala

ADL-Fähigkeiten

Bewertung von Unabhängigkeit, benötigter verbaler Assistenz und Abhängigkeit mit 3 Punkten

Rivermead-Motor Assessment

Allgemeine Grobmotorik, Bein- und Rumpffunktion, Armfunktion

Bewertung von Aktivitäten mit möglich und nicht möglich

Ashworth-Skala

Tonusverhältnisse bei passiver Bewegung und Willkürmotorik

Bewertung des Grades der Tonuserhöhung in 5 Abstufungen

Skalen zur Beurteilung sensomotorischer Fähigkeiten

Fugl-Meyer-Test

Beurteilung von Qualität und Ausmaß einfacher und komplexerer Bewegungen der oberen und unteren Extremitäten sowie Beurteilung des Gleichgewichts, der Sensibilität, des Berührungsempfindens und des Richtungssinns, Aussagen zu Schmerzen bei passiven Bewegungen, Reflexüberprüfung und Koordinationstests

Sensorische Beurteilung

Monofilamente der Testreihe Semmes-Weinstein

Sensibilität auf punktuelles Druckempfinden

Skalen zur Beurteilung motorischer Fähigkeiten

Perfetti-Konzept. Das kognitiv-therapeutische Konzept

hat seinen Ursprung in der Rehabilitation der Hand als kognitives Instrument. Die Übungen nach Perfetti kombinieren motorische Abläufe mit bewussten sensiblen Wahrnehmungen. Diese sind von grundsätzlicher Bedeutung für den Wiederaufbau einer korrekten motorischen Organisation. Um die kortikale Reorganisation einer Bewegung zu programmieren, bedarf es der Verarbeitung sensomotorischer Informationen, z. B. durch die bewusste Wahrnehmung von Oberflächen und den

Bewertung nach Empfindung vorhanden bzw. nicht vorhanden

Distanzen, die der Patient mit Bewegungen der Gelenke erreicht. Die Auswahl der motorischen Bewegung hängt nicht nur von den motorischen Defiziten des Patienten, sondern auch von der kognitiven Situation ab. Jede Bewegung enthält die Aufnahme (Berührungsempfindung an Hand, Fuß oder Fingern) und Verarbeitung von Informationen (Formen, Positionen, verschiedene Widerstände, Oberflächenstrukturen). Die Bewegungen haben funktionelle Charakteristika und sind repetitiv ausgerichtet (. Abb. 6.4).

162

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

6.2.5 Durchführung Ergotherapeutische Aktivitäten sollen den Patienten zielorientiert auf seine zukünftige Lebenssituation vorbereiten. Die Ziele der Therapie sind dabei individuell mit dem Patienten festzulegen und regelmäßig zu überprüfen. Die Beispiele aus . Tab. 6.5 verdeutlichen die Vorgehensweise. p Das Einbeziehen der Angehörigen und anderer Kontextfaktoren ist ein wichtiger Baustein in der Therapie.

6

. Abb. 6.4. Perfetti-Konzept: Durch kognitiv-therapeutische Übungen lernt der Patient, geführt oder selbstständig, Bewegungen durchzuführen. Ziel ist u. a. die Verbesserung der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung sowie die dynamische Planung und Kontrolle der Bewegung

Psychosoziale Behandlungskonzepte. Sie vermitteln

durch handwerkliche, gestalterische und kognitive Angebote Handlungskompetenzen. Tätig sein erfordert vom Handelnden sensomotorische, kognitive und sozioemotionale Fähigkeiten, die durch den gezielten Einsatz von Tätigkeiten und Handlungen im Rahmen der Ergotherapie genutzt werden. Psychosoziale Behandlungsverfahren kommen verstärkt bei Fähigkeitsstörungen, die aus psychischen und psychosomatischen Erkrankungen resultieren, zum Einsatz. Voraussetzung ist dabei die Erfassung des gesamten psychischen, sozialen und beruflichen Hintergrundes. Angewendet werden diese Verfahren z. B. auch in der Therapie chronischer Schmerzen.

Fazit Ergotherapeutische Praxismodelle stellen eine Verbindung zwischen Theorie und konkreter Patientenarbeit dar. Sie begleiten den therapeutischen Prozess mit theoretischem Wissen und praktischen Hilfen. Die therapeutische Intervention ist immer ein interaktiver Prozess, geprägt durch das Sammeln und die Auswertung von Daten, die Definition von Zielen und durch eine Intervention, die wiederum mit Datensammlung und Zielanpassung einhergeht. Der Therapieablauf wird zentral vom Patienten und seinen Fähigkeiten (Funktion, Motivation, Gewohnheiten) geprägt. Entscheidenden Einfluss auf den therapeutischen Verlauf nehmen die Kontextfaktoren (z. B. räumliche und soziale

6

. Tabelle 6.5. Beispiele für die rehabilitative ergotherapeutische Vorgehensweise

Funktions-/Aktivitätsstörung

Rehabilitation(zwischen)ziel

Ergotherapeutisches Vorgehen

67-jähriger Patient, Zustand nach linkshirnigem Mediateilinfarkt Einseitig rechts betonte Beeinträchtigung bei Bewegungsaktivität und Handhabungen von Gegenständen

Entwickleln von Selbstständigkeit in den ADL (z. B. Waschen, Anziehen, Essen)

5 Selbsthilfetraining 5 Koordinationsschulung 5 Funktionsgerechte Lagerung der gelähmten Hand

Beeinträchtigte Kommunikation, Neglect für die rechte Seite

Wahrnehmen der rechten Raum- und Körperhälfte

5 Wahrnehmungsschulung Kognitiv-therapeutische Übungen nach Perfetti ELEX-Training1

Beginnende Spastik/Tonuserhöhung

Tonusregulierung

5 Kognitiv-therapeutische Übungen nach Perfetti 5 Tonussenkende Lagerung in unterschiedlichen Ausgangsstellungen

163 6.2 · Ergotherapeutische Konzepte

. Tabelle 6.5 (Fortsetzung)

Funktions-/Aktivitätsstörung

Rehabilitation(zwischen)ziel

Ergotherapeutisches Vorgehen

55-jähriger Patientin mit akutem Schub einer chronischen Polyarthritis Fehlstellung von Handgelenk und Fingern

Vermeiden einer Kontraktur

5 Gelenkschutz 5 Manuelle Therapie

Kontraktur

Wiedererlangen bzw. Erhalt der Gelenkfunktion

5 Gelenkschutz

Schreiben erschwert, Feinmotorik reduziert

Verbessern der motorischen Funktionen Berufliche und soziale Reintegration

5 Feinmotorisches Training (z. B. Schreibtraining, Einhandtraining) 5 Hilfsmittelversorgung (Griffverdickung) 5 Sozialtraining (Anpassung der häuslichen und beruflichen Umgebung, Hilfsmittelversorgung)

Kraftverlust

Vermeiden muskulärer Atrophie Selbstständigkeit in den ADL

5 Funktionstraining auch mit handwerklichen Tätigkeiten (Weben, Flechten, Töpfern) 5 Selbsthilfetraining, Hilfsmittel

26-jähriger Patient mit schwerster Verbrennung (34% der Körperoberfläche, überwiegend drittgradig) Höhergradige Verbrennung an den Extremitäten, Zustand nach plastischer Deckung

Kontrakturprophylaxe, postoperative Ruhigstellung

5 Schienenversorgung (z. B. Handlagerungsschiene)

Kommunikationsprobleme aufgrund der Beatmung

Kommunikation verbessern

5 Einsatz von Kommunikationsmitteln z. B. Buchstabentafel

Fingerfunktion eingeschränkt, Faustschluss noch nicht möglich

Größtmögliche Selbstständigkeit, funktionelle Wiederherstellung

5 Selbsthilfetraining, ADL-Aktivitäten, z. B. passive Mobilisation von Schulterund Ellenbogengelenken, selbstständiges Eincremen der Hauttransplantate 5 Hilfsmittelversorgung (z. B. Griffadaptationen, Griffverdickungen, Essschlaufen)

Gestörte Wahrnehmung von Empfindungsreizen

Optimales Erkennen und Desensibilisierung der betroffenen Areale

5 Sensibilisierung und Desensibilisierung der betroffenen Areale (z. B. Handbad im kalten CO2-Bad)

Narbenstränge, eingeschränkte Beweglichkeit, Kontrakturen, Schmerzen

Verbessern des Bewegungsausmaßes, Schmerzlinderung

5 5 5 5 5

Dekonditionierung

Erhalten und Verbessern der Kondition

5 Ausdauertraining in Einzel- und Gruppentherapie (z. B. mit Werktechniken wie Ton, Holz)

1

Manuelle Therapie Beweglichkeitsübungen Kompressionsbestrumpfung Apparative Massage Warmwasserbad

ELEX-Training: Elektronisch gesteuertes Lese und Explorationsgerät. Patienten mit einer visuellen Explorationsstörung führen ein Explorationstraining am TV-Monitor aus, bei dem Suchbewegungen zu nicht vorhersagbaren Zielreizen gelernt werden, die auf dem Monitor auf der Seite des betroffenen Halbfeldes auftauchen .Dadurch kann das Suchfeld vergrößert werden und z. B. ein Gesichtsfelddefekt im Alltag kompensiert werden

6

164

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

Umweltfaktoren). Ergotherapie nimmt die bisherige Lebenssituation des Patienten wahr und wirkt positiv auf den weiteren Lebensverlauf des Patienten ein.

6.3

Logopädie

Ursache von Sprach- und Sprechstörungen 5 Ischämische (70%) und hämorrhagische Insulte (10%) 5 Hirnblutungen anderen Ursprungs 5 Schädel-Hirn-Traumen 5 Hirntumoren 5 Hirnoperationen 5 Zerebrale entzündliche Prozesse (selten)

J.-J. Glaesener

6

6.3.1 Definition und Grundlagen Die Logopädie beschäftigt sich in der Rehabilitation mit allen sprachliche Modalitäten der Kommunikation (sprechen, verstehen, schreiben und lesen). Sie umfasst sowohl diagnostische als auch therapeutische Maßnahmen. Bei Sprachstörungen liegt definitionsgemäß eine Störung der Sprachstruktur vor, die sich auf die Kodierung der Sprache auswirkt und alle Bereiche der sprachlichen Kommunikation betreffen kann. Die Beeinträchtigung der Kommunikation wirkt sich auch auf die sozialen Interaktionen und die nicht sprachlichen kognitiven Leistungen aus. > Sprachstörungen, die nach abgeschlossenem Spracherwerb als Folge einer Erkrankung des zentralen Nervensystems auftreten, werden als Aphasien bezeichnet. Sie können sowohl das Sprechen als auch das Verstehen sowie das Lesen und Schreiben betreffen. Die meisten Aphasien werden durch Schlaganfälle der sprachdominanten Hirnhälfte verursacht (ca. 70–80%).

Die Sprachstörung muss von der Sprechstörung unterschieden werden. Bei Sprechstörungen ist die motorische Ausführung der am Sprechvorgang beteiligten Organe (Lippen, Unterkiefer, Zunge, Gaumensegel, Stimmlippen) beeinträchtigt; dies wird auch als Dysarthrie bezeichnet. Die Sprechapraxie ist eine Störung der Programmierung der Sprechbewegungen ohne Lähmung der Sprechwerkzeuge. Sie tritt fast immer in Kombination mit einer Aphasie auf. Erkennbar ist sie an artikulatorischen Suchbewegungen und einer deutlichen Sprachanstrengung.

Man vermutete lange Zeit, dass Sprachstörungen auf klar definierten Läsionen bestimmter Hirnareale beruhen (. Abb. 6.5). Durch Fortschritte in der Aphasieforschung verlor diese Lokalisationslehre an Bedeutung. An deren Stelle wird heute die im folgenden Kapitel beschriebene Syndromklassifikation bevorzugt, welche allgemein in der neurologischen Rehabilitation akzeptiert ist. Bei der Klassifikation der Aphasien spielt die Spontansprache eine wichtige Bedeutung. Folgende Ebenen der Spontansprache werden beobachtet: 4 Automatisierte Sprache 4 Satzbau und Grammatik 4 Wortwahl und Wortfindung 4 Lautstrukturen 4 Artikulation und Stimmgebung Entsprechend ergeben sich die folgenden aphasischen Symptome bzw. Auswirkungen auf die Spontansprache: 4 Wortfindungsstörungen 4 Phonematische Paraphasien (z. B. »Tock« statt »Stock«) 4 Semantische Paraphasien (z. B. »Mutter« statt »Frau«)

. Abb. 6.5. Klassische Sprachregionen: Hirnareale nach Wernicke und Broca. (Aus Nelles: Neurologische Rehabilitation. Thieme. Stuttgart 2004)

165 6.3 · Logopädie

6

. Tabelle 6.6. Wichtige Aphasiesyndrome und ihre Leitsymptome

Bezeichnung

Symptomatik

Globale Aphasie

5 5 5 5 5

Keinerlei Sprachproduktion oder oft nur einzelne Wörter oder Laute Sprachautomatismen Perseverationen Stark eingeschränkter Sprachfluss Stark gestörte bzw. unmögliche sprachliche Kommunikation

Broca-Aphasie

5 5 5 5 5 5

Meist erheblich verlangsamte und stockender Sprachfluss Große Sprachanstrengung Stark vereinfachte Satzkonstruktion Ausgeprägte Störung der Wortfindung Phonematische Paraphasien Schwer bis mittelgradig gestörte sprachliche Kommunikation

Wernicke-Aphasie

5 5 5 5 5 5

Meist gut erhaltener Sprachfluss Häufig überschießende Sprachproduktion (Logorrhö) Viele phonematische Paraphasien Paragrammatismus (komplex angelegter Satzbau mit Satzteilverdoppelungen) Viele semantische Paraphasien (mit zum Teil grober Abweichung vom Zielwort) Stark eingeschränkte sprachliche Kommunikation, mäßig bis stark beeinträchtigtes Sprachverständnis

Amnestische Aphasie

5 5 5 5

Wortfindungsstörungen bei gut erhaltendem Sprachfluss und überwiegend intaktem Satzbau Sprachverständnis leicht gestört Lesen und Schreiben leicht beeinträchtigt Nur leicht gestörte sprachliche Kommunikation

4 4 4 4

Satzabbrüche, Ein-, Zwei-Wort-Äußerungen Jargon Verlangsamter oder übersteigerter Redefluss Sprachautomatismen, Stereotypien, Redefloskeln, Perseveration 4 Sprechanstrengung p In Verbindung mit einer Aphasie können sowohl eine Dysarthrie als auch eine Sprechapraxie auftreten.

Die häufigsten Aphasiesyndrome sind in . Tab. 6.6 aufgeführt. Neben diesen Formen der Aphasie gibt es auch nicht eindeutig klassifizierbare Aphasien (. Abb. 6.6). Da sprachliche und nicht-sprachliche Funktionen sich in ständiger Interaktion befinden, findet man bei der Aphasie auch zahlreiche assoziierte Störungen, wie kognitive Kommunikationsstörungen, emotionale Störungen (Depression) oder Störungen schriftsprachlicher Leistungen. Die Sprechapraxie ist eine Beeinträchtigung der räumlichen und zeitlichen Programmierung von Sprechbewegungen. Dabei handelt es sich um eine zent-

ralmotorische Lähmung des Sprechens und nicht um eine Lähmung der Sprechwerkzeuge. Die Symptome sind Suchbewegungen von Zunge und Lippen, Störungen der Bewegungsinitiierung und erhöhte Sprechanstrengung.

6.3.2 Diagnostik Die Diagnostik der Aphasien berücksichtigt die Ebenen der Internationalen Klassifikation der Funktionen und Gesundheit (7 Kap. 4 und 5). So sollte neben der reinen Störung der Sprach- oder Sprechfunktion auch erfasst werden, inwiefern dies zu einer Einschränkung der Aktivitäten und zur Beeinträchtigung der Teilhabe führt. Zur Diagnostik, Beschreibung und Erfassung des Schweregrads der Aphasien wird üblicherweise der Aachener Aphasietest (AAT) angewandt. Er enthält folgende Untertests: 4 Spontansprache: Sie wird erfasst anhand einer Gesprächssequenz, die auf Tonband aufgezeichnet und anschließend auf einer Bewertungsskale mit 6 Ebenen eingeschätzt wird:

166

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

. Abb. 6.6. Bostoner Schema der Aphasien. (Aus Nelles: Neurologische Rehabilitation. Thieme. Stuttgart 2004)

6

4

4 4 4 4

5 Kommunikationsverhalten 5 Artikulation

6.3.3 Therapie

5 5 5 5

Bei Sprach- und Sprechstörungen ist, wie auch in anderen Bereichen der Rehabilitation, die Minderung der Beeinträchtigung und die Verbesserung der Fähigkeit zur aktiven Teilnahme am sozialen Leben, hier insbesondere an der Kommunikation das vorrangige Behandlungsziel. Die logopädische Therapie sollte daher möglichst frühzeitig, d. h. schon während der Frührehabilitation in der Akutphase beginnen, sobald es der Allgemeinzustand des Patienten ermöglicht.

Automatisierte Sprache Semantische Struktur Phonematische Struktur Syntaktische Struktur Sog. Token-Test zum Sprachverständnis: Auf verbale Aufforderung durch den Therapeuten soll der Patient aus verschiedenen Bildtafeln mit farbigen Kreisen und Vierecken ein oder mehrere auswählen. Die Schwierigkeit wird durch zunehmende sprachliche Komplexität der Aufgabe gesteigert. Nachsprechen Schriftsprache (lautes Lesen, Zusammensetzen und Schreiben nach Diktat) Benennen Sprachverständnis (auditiv und Lesesinn)

Für die Diagnostik der Sprechapraxie liegen nur wenige und in der Regel nicht standardisierte Verfahren vor. Beurteilt werden: 4 Spontansprache (z. B. Suchbewegungen, »Inseln« mit störungsfreier Sprache) 4 Automatisierte Sprache (Ergänzungssätze, Sprichwörter u. a.) 4 Nachsprechen 4 Diadochokinese (pataka, pataka, pataka) In der Akutphase (4–6 Wochen nach Eintritt der Störung) wird ein mehr orientierendes Verfahren, der Aachener-Aphasie-Bedside-Test (AABT) eingesetzt. Er testet banale Leistungen, z. B. Blick- und Kopfbewegungen auf Aufforderung oder Imitationsaufgaben. In den ersten Tagen nach dem Schlaganfall ist eine zuverlässige diagnostische Aussage selten möglich.

ä Beispiel Herr J.P. (50 Jahre alt) erlitt bei intermittierender absoluter Arrhythmie infolge hypertropher, nichtobstruktiver Kardiomyopathie einen linkshirnigen hämorrhagischen Infarkt im Versorgungsgebiet der A. cerebri posterior. Bei insgesamt geringer motorischer und sensibler Beeinträchtigung stand neben einer Hemianopsie nach rechts die Störung der Sprache und Kommunikationsfähigkeit im Vordergrund. Das Sprechen war schwer gestört und im Token-Test wurde mit 44 Fehlern eine schwere Sprachverständnisstörung deutlich. Die Sprachproduktion war nur gering beeinträchtigt, enthielt aber sehr viele sog. Neologismen (Wortneubildungen). Auch das Leseverständnis und die Schreibfähigkeit waren erheblich gestört. Es wurde die Diagnose einer WernickeAphasie gestellt. Zu Therapiebeginn vermied der Patient sprachliche Äußerungen und war aufgrund einer Depression nur schwer zur Mitarbeit zu motivieren. Im Rahmen der Frührehabilitation konnte unter Mitbehandlung der Depression ein gewisses Sprachverständnis erzielt

6

167 6.3 · Logopädie

6

werden: Der Patient konnte häufig vorkommende Begriffe (z. B. Haus, Auto, Baum) als Schlüsselwörter in einem vorgelegten Text erkennen. Allerdings kam es in dieser Phase noch zu häufigen Missverständnissen und Fehlinterpretationen von Mitteilungen. Im weiteren Verlauf der Rehabilitation erlernte der Patient auch selten vorkommende Begriffe, Verben, Adjektive und einfache Sätze zu differenzieren. Wortfindungsübungen (z. B. durch einfache Ergänzungssätze), Satzübungen (Zusammensetzen von Satzteilen) und die freie Bildbeschreibung halfen dabei, die vorher gehäuften Paraphrasien und Neologismen zu reduzieren. Das auditive und das Leseverständnis konnten deutlich gebessert werden. Im Abschlussbereicht der Frührehabilitation wurde eine intensive Fortführung der logopädischen Therapie empfohlen.

Neben der im Vordergrund stehenden Einzeltherapie, die anfangs möglichst über Zeiträume von 45–60 min täglich durchgeführt werden sollte, bestehen zunehmend Ansätze der Gruppentherapie, vor allem bei kommunikationsorientierten Ansätzen. PC-gestützte Interventionen können sehr hilfreich sein, jedoch die individualisierte Sprachtherapie durch entsprechende Spezialisten nicht ersetzen. Entscheidend ist die Patienten- und Angehörigenberatung, wobei neben den Sachinformationen insbesondere die Vermittlung von Strategien zur Kommunikation und zum Umgang mit aphasischen Patienten im Vordergrund steht.

Die Therapieziele sind: 4 Aufbau fehlender sprachlicher Fähigkeiten 4 Modifikation und Korrektur von unvollständigem oder abweichendem Sprachverhalten 4 Hemmung von »unerwünschten Verhaltensweisen« 4 Aufbau von Selbstwahrnehmung und Selbstkontrolle 4 Stimulierung von vorhandenen, aber nicht verfügbaren sprachlichen Fähigkeiten

Für den Umgang mit sprach- oder sprechgestörten Patienten sollten die folgenden Regeln beachtet werden: 4 Hilfen, wenn der Aphasiker etwas sagen möchte 5 Dem Patienten Zeit lassen. Zuhören bedeutet warten. 5 Darauf achten, ob die Absicht des Aphasikers verstanden wurde: mitdenken und genaues beobachten. 5 Sich auf den Inhalt konzentrieren. 5 Die Form ist unwichtig: Nicht ständig verbessern. 5 Nicht-Verstehen anzeigen: Das Thema gemeinsam mit dem Aphasiker herausfinden. 5 Nicht auf sprachliche Äußerungen bestehen: Jedes Mittel zur Verständigung ist erlaubt. 5 Bei Perseverationen (haften bleiben an einem Laut oder Wort) unterbrechen und ablenken. 5 Bei Wortsuche mithelfen, jedoch nicht beeinflussen und nicht zu früh mit Wortvorschlägen helfen. 4 Hilfen, damit der Aphasiker möglichst gut versteht 5 Langsam und deutlich sprechen 5 Kurze Äußerungen 5 Einfacher Satzbau 5 Nonverbale Signale einsetzen (visuelle Unterstützung) 5 Lautstärke nicht erhöhen! Keine Babysprache! 5 Vermeiden von Hintergrundgeräuschen 5 Den Aphasiker direkt ansprechen, nicht die Begleitperson!

> Das oberste Therapieziel ist die Verbesserung der kommunikativen Leistungen im Alltag.

Da häufig völlige Widerherstellung nicht möglich ist, muss der Patient lernen, mit seinen reduzierten sprachlichen und/oder gestischen Ausdrucksmöglichkeiten Gesprächsituationen zu bewältigen. Es werden demzufolge nicht Wörter bzw. Sätze gelernt, sondern Sprachprozesse aktiviert (Deblockierung) und reorganisiert (systemischer Sprachaufbau). Bei vaskulärer Ätiologie orientiert sich das Behandlungsschema bevorzugt an den klinischen Verlaufsphasen: 4 In der Akutphase vor allem sprachliche Aktivierung zur Unterstützung der Spontanremission. 4 In der postakuten Phase erfolgt mehr ein störungsspezifisches Üben mit dem Ziel der Substitution und Kompensation. 4 In der chronischen Phase (ab dem 12. Monat) wird neben dem störungsspezifischen Üben der Transfer in den kommunikativen Alltag optimiert.

6.3.4 Umgang und Kommunikation

mit Aphasikern

168

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

Schwierige Situationen für den Aphasiker sind: 4 Abfragesituation 4 Arztvisite 4 Gruppensituationen (Besuch von Angehörigen) 4 Rascher Themenwechsel (Radiohören und Fernsehen) 4 Freude, Trauer oder Angst, d. h. starke emotionale Beteiligung

Fazit Sprach- und Sprechstörungen stellen eine äußerst gravierende Funktionseinschränkung dar, insbesondere in einer Umwelt, die auf schnelle und effektive Kommunikation baut. Der Rehabilitand erleidet eine starke Isolation in einer, die sich besonders gravierend auswirkt, da er wegen seiner weiteren strukturellen und funktionellen Schäden (z. B. nach Schlaganfall), ohnehin eingeschränkt ist. Sprach- und Sprechstörungen müssen mit speziellen Methoden diagnostiziert und analysiert werden, um eine adäquate Therapie einleiten zu können. Diese muss so rasch wie möglich einsetzen und durch speziell ausgebildete Therapeuten erfolgen. Allerdings wird die Effektivität der Aphasietherapie noch kontrovers diskutiert. Wichtig sind auch ein korrekter Umgang und eine adäquate Kommunikation mit den Betroffenen.

6

6.4

Dysphagietherapie H. Schröter-Morasch

Störungen des Schluckvorganges führen zu: 4 Malnutrition, Dehydratation 4 Lungenkomplikationen 4 Reduzierter Lebensqualität 4 Hohen Gesundheitskosten Der Schluckvorgang stellt einen höchst komplexen, semiautomatischen Funktionsablauf des menschlichen Körpers dar, an welchem 50 Muskelpaare beteiligt sind. Die sensomotorische Steuerung erfolgt über die Hirnnerven III, V, IX, X und XII sowie die 3 oberen Zervikalnerven durch spezielle Zentren im Hirn, insbesondere die »pattern generators« oder Schluckzentren im Hirnstamm. Er kann in 4 Phasen eingeteilt werden, die jedoch fließend ineinander übergehen (. Tab. 6.7). p Die pharyngeale Phase stellt den kritischsten

Abschnitt des Schluckvorganges dar: Der Bolus muss von vorn (dem Zungengrund) nach hinten in die Speiseröhre befördert werden und dabei den Kehlkopf überkreuzen.

Der Kehlkopf wird beim Schluckvorgang fest verschlossen durch 4 Stimmlippenschluss 4 Aneinanderlegen der Taschenfalten und Aryknorpel 4 Dorsalwärtsneigung der Epiglottis Neben dem festen Kehlkopfverschluss ist die Öffnung des oberen Ösophagussphinkters essenziell für den Ablauf der pharyngealen Phase. Während der ösophagealen Phase wird der Bolus nach Öffnung des unteren Ösophagussphinkters durch peristaltische Wellen in den Magen befördert.

6.4.1 Definition und Grundlagen 6.4.2 Pathophysiologie > Schlucken bedeutet die Aufnahme und die Beförderung von Flüssigkeit und Nahrung von den Lippen bis zum Magen sowie den Abtransport von Speichel und Sekret aus Mundhöhle und Rachen. Dabei müssen die tiefen Atemwege durch einen festen und zeitgerechten Verschluss des Kehlkopfes vor dem Eindringen von Substanzen geschützt werden. Während des Schluckens erfolgt die Aufnahme sensibler und sensorischer Reize (»Riechen, Fühlen, Schmecken der Nahrung«).

Störungen des Schluckvorganges können akut nach einem Schlaganfall oder einer Tumorbehandlung auftreten oder sich schleichend entwickeln, wie z. B. bei degenerativen Erkrankungen (z. B. bei amyotropher Lateralsklerose, Multipler Sklerose, Parkinson-Syndrom und Demenz). Durch Minderung der Wahrnehmung, Lähmung, Substanzdefekte oder Hindernisse wie Narben kann es zu folgenden Mechanismen kommen: 4 Ein ungenügender Transport von Speichel, Sekret und Nahrung verursacht z. B. das Liegenbleiben der Substanzen (Retention).

169 6.4 · Dysphagietherapie

6

. Tabelle 6.7. Phasen des Schluckvorganges

Phase

Funktionsablauf

Dauer

Motorische Steuerung

Orale Vorbereitungsphase

Aufnahme, Zerkleinerung der Nahrung, Durchmischung mit Speichel, Bolusformung durch die Zunge

Variabel (abhängig von Gewohnheit, Nahrungsbeschaffenheit)

Willkürlich

Orale Transportphase

Beförderung des Bolus in die hintere Mundhöhle durch die Zunge

1–1,5 s

Willkürlich

Pharyngeale Phase

Transport des Bolus durch den Pharynx durch Stempeldruck der Zunge und Pharynxperistaltik, Verschluss des Nasopharynx und des Larynx, Anhebung und Vorwärtsbewegung des Larynx, Öffnung des oberen Ösophagussphinkters (OÖS)

0,7 s

Reflektorisch

Ösophageale Phase

Transport der Bolus durch den Ösophagus durch peristaltische Wellen, Öffnung des unteren Ösophagussphinkters (UÖS)

4–8 s

Reflektorisch

4 Ein falscher Weg führt zum Eindringen von Speichel, Sekret und Nahrung in die Nase (nasale Penetration) oder in den Kehlkopfeingang (Penetration) bzw. bis unter das Stimmlippenniveau in die Trachea (Aspiration; . Abb. 6.7).

> Retention, Penetration und Aspiration sind die wichtigsten Symptome der Dysphagie. Eine Aspiration kann unmittelbar zu Luftnot und Erstickung führen, aber auch, bei kleinen Volumina, zu entzündlichen Veränderungen des bronchopulmonalen Systems bis hin zur Pneumonie, zur chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) oder zum Lungenabszess. Am bedrohlichsten ist die Aspiration von Magensaft (aggressive Säure!).

Eine Aspiration kann in jeder Phase des Schluckvorganges auftreten, abhängig vom auslösenden Störungsmechanismus. Liegt neben einer motorischen Beeinträchtigung auch eine Sensibilitätsstörung im Hypopharynx und Larynx vor oder eine Störung der Schutzreflexauslösbarkeit, so fehlt der durch eine Aspiration normalerweise ausgelöste Hustenreflex (»stille Aspiration«, »silent aspiration«).

. Abb. 6.7. Aspiration: Statt nach hinten in die Speiseröhre gelangen Speichel, Sekret, Nahrung oder Flüssigkeit vor, während oder nach Ablauf des reflektorischen Schluckvorganges nach vorn in die Luftröhre

p Eine »silent aspiration« stellt eine höchstgradige Gefährdung eines Patienten dar! Sie kann auch zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen, wenn der Patient nicht isst und trinkt, sondern z. B. parenteral ernährt wird (Aspiration von Speichel, nasopharyngealem Sekret oder Magensaft).

170

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

6.4.3 Einteilung

6

Primäre Schluckstörungen können in 2 Gruppen eingeteilt werden: 4 Störungen der sensomotorischen Steuerung des Schluckvorganges (neurogene Dysphagien, ND), deren häufigste Ursache der Schlaganfall ist (ca. 50% der Patienten im Akutstadium und 25% in der chronischen Phase). Die in Folge möglichen Aspirationspneumonien stellen ein hohes Mortalitätsrisiko dar. Ähnliches gilt für Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma und nach Hirntumoroperationen. 4 Beeinträchtigungen der am Schluckvorgang beteiligten Strukturen (strukturell-mechanische Störung): Sie können verursacht werden durch: 5 Primäre strukturelle Erkrankungen, wie z. B.: – Kongenitale Erkrankungen (Missbildungen, iatrogene Schädigungen) – Entzündliche Erkrankungen und Systemerkrankungen – Divertikel – Schädigungen des Plexus pharyngeus oder mechanische Hindernisse durch Vorwölbung der Rachenhinterwand z. B. durch massive Spondylophytenbildungen – Tumoren – Altersbedingte Strukturveränderungen 5 Strukturveränderungen nach Tumorbehandlung, z. B. nach operativer, radiologischer oder chemotherapeutischer Therapie Eine sekundäre Schluckstörung liegt vor, wenn der Schluckvorgang eigentlich möglich wäre, jedoch aufgrund von Änderungen der Kognition und des Verhaltens nicht sicher und effektiv ablaufen kann, z. B. bei Bewusstseinsstörungen, psychischen Störungen oder einer vorliegenden Demenz.

6.4.4 Diagnostik Aus der Vielfalt der möglichen Ursachen und der pathophysiologischen Veränderungen resultiert die Notwendigkeit einer umfassenden Diagnostik. Klinische Eingangsuntersuchung Die klinische Eingangsuntersuchung besteht aus 4 Anamnese

4 Klinische Allgemeinuntersuchung 4 Klinische Schluckuntersuchung Anamnese. Zur Anamnese gehören neben der Erfassung der Grunderkrankung das Fahnden nach unspezifischen (Gewichtsverlust, Exsikkose, bronchopulmonale Symptome) und spezifischen Dysphagiesymptomen (Symptome, die während des Schluckens von Speichel, Sekret oder Nahrung auftreten und phasenspezifisch eingeteilt werden können).

Klinische Dysphagiezeichen 5 Allgemeine Hinweise – Verlängerte Essdauer – Vermeidung bestimmter Speisen – Haltungsänderung beim Schlucken – Notwendigkeit häufigen Nachtrinkens – Probleme bei der Medikamenteneinnahme 5 Störungen der oralen Phase – Herauslaufen von Speichel/Flüssigkeit aus dem Mund – Ansammlung/Liegenbleiben im Mund – Fehlende Initiierung des Kauens/Schluckens – Ungenügendes Kauen – Husten vor dem Schlucken 5 Störungen der pharyngealen Phase – Nasale Penetration – Husten, Würgen – Steckenbleiben im Hals – Räusperzwang – Veränderungen des Atemgeräuschs und der Stimme (rau, gurgelig) 5 Störungen der ösophagealen Phase – Steckenbleiben, Brennen, Schmerzen hinter dem Brustbein – Saures Aufstoßen – Schmerzen in der Herzgegend

Klinische Allgemeinuntersuchung. Sie umfasst alle re-

levanten Begleitumstände und zugrunde liegenden Erkrankungen sowie die für die Schluckfunktion relevanten Strukturen und Funktionen (Kopf-Hals-Strukturen, Oropharynx und Larynx, Sensibilität und Reflexauslösbarkeit, Funktionen der Atmung, Stimme und Artikulation). Klinische Untersuchung der Schluckfunktion. Sie umfasst die folgenden Tests:

171 6.4 · Dysphagietherapie

4 »Trockenschlucken« von Speichel 4 »Aspirationsschnelltests«: Der Patient erhält in sukzessiven Schlucken 1–3–5 ml Wasser, bis zu einer Gesamtmenge von 50 ml. Kombiniert mit der Pulsoximetrie oder den Ergebnissen der pharyngealen Sensibilitätsprüfung wird für diesen Test eine relativ hohe Sensitivität bzw. Spezifität angegeben. Bei Patienten mit Trachealkanüle kann mittels angefärbter Flüssigkeit (beginnend mit 1 ml) geprüft werden, ob nach dem Abschlucken gefärbtes Material aus der Trachea abzusaugen ist. 4 Schluckuntersuchung mit Nahrung ! Bei klinischen Hinweisen für eine ausgeprägte Aspiration (gurgelndes Atemgeräusch, gurgelnde Stimme, Husten, Minderung der Sauerstoffsättigung im Blut – Pulsoximeter!) dürfen Schluckproben mit Nahrung oder Flüssigkeit nicht durchgeführt werden.

Für eine erste Einschätzung hinsichtlich eventuell notwendiger Sofortmaßnahmen bezüglich Atmung und Ernährung wird nach dem klinischen Befund eine Schweregradeinteilung der Aspiration vorgenommen (. Tab. 6.8). Video-Pharyngolaryngoskopie Die Video-Pharyngolaryngoskopie hat folgende Ziele: 4 Direkte Beobachtung der Strukturen von Pharynx und Larynx 4 Prüfung sensomotorischer Funktionen 4 Erfassung von Residuen, Penetration und Aspiration Untersuchungsmethoden sind: 4 Transnasale Endoskopie mit flexiblem Endoskop, das während der gesamten Untersuchung im Ra-

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chen verbleibt und insbesondere bei nicht-kooperativen Patienten eingesetzt wird. 4 Transstomatale (»retrograde«) Beobachtung der Glottis während des Schluckvorganges bei tracheotomierten Patienten. Nach dem endoskopischen Befund lassen sich sowohl eine Schweregradeinteilung der Aspiration treffen als auch Art und Ausmaß der Transportstörung semiquantitativ anhand der beobachteten Residuen definieren. Die Ergebnisse der Video-Laryngolaryngoskopie ermöglichen u. a.: 4 Einschätzung der Gefährdung des Patienten 4 Abgrenzung neurogener/struktureller Ursachen 4 Therapieeffektivitätskontrolle 4 Entscheidungshilfen zur Kanülenentblockung oder Dekanülierung und zum Beginn des Kostaufbaus 4 Nutzung als Biofeedback-Verfahren Videofluoroskopie (Radiologische Untersuchung des Schluckvorganges mit Kontrastmittel) Wegen der schnellen Bewegungsabläufe beim Schlucken ist für ihre Analyse eine hohe Zeit- und Bildauflösung erforderlich. Für klinische Fragestellungen ist eine Videofluoroskopie geeignet. Mit dieser Untersuchung können während des gesamten Schluckvorganges Auslösbarkeit, Geschwindigkeit, Amplitude und Koordination von Bewegungen erfasst sowie Residuen, Penetration und Aspiration nachgewiesen werden (. Abb. 6.8). Ausmaß und zeitliche Zuordnung der Aspiration (vor; während oder nach dem Schluckakt = prä-, intraund postdeglutitiv) sowie deren Ursache lassen sich vollständig nur durch die radiologische Untersuchung abklären.

. Tabelle 6.8. Schweregradeinteilung der Aspiration nach dem klinischen Befund

Schweregrad

Klinischer Befund

I

Gelegentliche Aspiration ohne Komplikationen

II

Intermittierende Aspiration von Flüssigkeiten, aber Möglichkeit den eigenen Speichel und Festkörper zu beherrschen. Keine klinischen Zeichen von Pneumonie oder chronischer Hypoxie

III

Unfähigkeit einer oralen Ernährung (flüssige oder feste Speisen), intermittierende Pneumonie/Hypoxie

IV

Schwerwiegende, lebensbedrohliche Aspiration von Flüssigkeiten, fester Nahrung und Speichel; chronische Pneumonie/Hypoxie

172

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

> Da sich die Tracheotomie wiederum als Auslöser bzw. Verstärker einer Dysphagie auswirken kann, ist eine baldige Dekanülierung anzustreben. Sie ist angezeigt, sobald Speichel und Sekret abgeschluckt bzw. sicher abgehustet werden können.

Allgemeine rehabilitative Maßnahmen sind 4 Inhalationen, Absaugen 4 Konsequente Atemtherapie aktiv und passiv 4 Verbesserung der Immunabwehrlage durch Mobilisierung, Aktivierung, optimale Ernährung (evtl. parenteral, über Sonden) 4 Mundhygiene, Zahnpflege, Sanierung der oberen Luftwege als Keimreservoir 4 Refluxbehandlung 4 Vermeidung von Medikamenten mit dem Risiko der Auslösung oder Verstärkung einer Dysphagie (z. B. Sedativa, Neuroleptika, Antidepressiva)

6

. Abb. 6.8. Videofluoroskopische Untersuchung: Residuen von Kontrastmittel im Hypopharynx, Penetration in den Kehlkopfeingang, Aspiration

Nachteile der radiologischen Untersuchung sind Strahlenbelastung, hoher gerätetechnischer Aufwand sowie die notwendige Belastbarkeit und Kooperationsfähigkeit des Patienten. Weitere diagnostische Verfahren Weitere wichtige Untersuchungstechniken zur Abklärung von Schluckstörungen sind die Bronchoskopie sowie die Ösophagogastroskopie, pH-Metrie und Manometrie (Säuregrad- bzw. Druckmessung im Rachen und Speiseröhre).

Bei ausgeprägten Schluckstörungen muss die Ernährung teilweise oder vollständig nonoral erfolgen, und zwar entweder parenteral über Infusionen unter Umgehung des Magen-Darm-Traktes (nur wenige Tage möglich, Gefahr der Schädigung der Darmzotten!) oder über Sonden, die in Magen oder Darm eingebracht werden. p Generell bedeutet die Tatsache, nicht mehr es-

sen und trinken zu dürfen, eine große Belastung für den Patienten. Es sollte daher immer geprüft werden, ob nicht zumindest kleine Mengen geeigneter Flüssigkeit/Nahrung ohne Gefährdung oder mit minimalem Risiko oral aufgenommen werden können (»Teiloralisierung«).

Funktionelle Dysphagietherapie (FDT) 6.4.5 Therapie Basisversorgung > Primär ist eine Sicherung der Atemwege notwendig.

4 Bei ausgeprägter Nahrungs-/Flüssigkeitsaspiration: Verbot oraler Nahrungszufuhr, Überwachung der Lungenfunktion und der Entzündungszeichen, evtl. auch Bronchoskopie. 4 Bei ausgeprägter Speichelaspiration: Schutzintubation oder Tracheotomie mit Einsatz eines blockbaren Tubus/einer blockbaren Kanüle

Da Schluckstörungen auf der Beeinträchtigung eines komplexen Bewegungsablaufes beruhen, beinhaltet die funktionelle Therapie 2 Schwerpunkte: 4 Verbesserung der Wahrnehmung durch Stimulation 4 Verbesserung von Bewegungen durch übende Verfahren Als störungsspezifische Therapie lässt sich die funktionelle Dysphagietherapie in Restitution, Kompensation und Adaptation einteilen. Restitution

Mit den restituierenden Verfahren sollen die Voraussetzungen für ein annähernd wieder normales Schlucken

173 6.4 · Dysphagietherapie

geschaffen werden. Dazu wurden Methoden aus der Krankengymnastik und Ergotherapie nach den Besonderheiten der am Schlucken beteiligten Strukturen modifiziert. Als erstes muss eine optimale Kopf- und Körperhaltung angestrebt werden. Olfaktorische und visuelle Reize (Anrichten der Speisen) dienen der zentralen Vorbereitung des Gehirns auf den Schluckvorgang. Zur Förderung der Wahrnehmung und Reflexauslösbarkeit erfolgen Stimulationen mit Berührung und Druck, Geschmacksreizen, Vibrationen, sowie Warm- und lokalen Kaltreizen (z. B. das Ausstreichen der vorderen Gaumenbögen mit einem kleinen gekühlten Kehlkopfspiegel oder Eisstäbchen; »Thermosondenstimulation«). p Stimulative Techniken kommen insbesondere in der Akutphase und Frührehabilitation bei Patienten mit schwerer Hirnschädigung zum Einsatz, die noch nicht kooperationsfähig sind.

Zur Verbesserung der Muskelspannung, Bewegungsinitiierung und -ausführung im oro-pharyngo-laryngealen Bereich dienen Einzelbewegungen, Kraft- und Widerstandsübungen. Für die Schluckfunktion besonders bedeutsam sind Übungen zur Kräftigung der Zunge (z. B. Schlucken mit durch die Schneidezähne festgehaltener Zungenspitze), zur Anhebung und Vorwärtsbewegung des Kehlkopfes (diese wird z. B. durch Anheben und Halten des Kopfes in Rückenlage erreicht) und zum Kehlkopfverschluss. Kompensation

Da eine Wiederherstellung des normalen Schluckablaufs nicht in kurzer Zeit und in der Regel nicht vollständig gelingt, müssen zur Kompensation Ersatzstrategien und die Ausnutzung von Restfunktionen zum Einsatz kommen, um möglichst schnell ausreichend sicheres effektives Schlucken zu ermöglichen. Dazu gehören: 4 Haltungsänderungen, die unter Ausnutzung der Schwerkraft den Passageweg modifizieren. 4 Spezielle Schlucktechniken, die allerdings eine gute Kooperationsfähigkeit des Patienten und eine oft mehrwöchige Lernphase zum Transfer in den Alltag erfordern. Adaptation

Um eine befriedigende sichere Nahrungsaufnahme möglichst schnell zu erreichen, sind meist von Beginn an adaptierende Maßnahmen, d. h. eine äußere Anpassung an die Störung erforderlich:

6

4 Durch diätetische Veränderungen wie die Veränderung von Bolusvolumen und Nahrungskonsistenz der Nahrung kann die Schluckfunktion erleichtert werden. Beispielsweise ist Andicken von Flüssigkeit hilfreich bei verminderter Reflexauslösung (Erhöhung des sensorischen Inputs) oder vorzeitigem Abgleiten in den Rachen. 4 Sinnvolle Ess- und Trinkhilfen sind z. B. spezielles Geschirr (z. B. Teller mit erhöhtem Rand, Trinkgefäße mit Einkerbung zur Vermeidung der Kopfextension beim Trinken) und Besteck mit verstärkten Griffen (7 Kap. 6.9). Sie können die Nahrungsaufnahme bei Patienten mit weiteren motorischen Beeinträchtigungen erleichtern und so das Augenmerk auf den Schluckvorgang verbessern. 4 Empfehlungen zur Veränderung des Essverhaltens können ebenfalls dazu beitragen, eine orale Ernährung trotz Einschränkungen aufrechtzuerhalten: Das Einnehmen einer optimalen Körperhaltung, Vermeiden von Ablenkung (Gespräche, Fernseher), Nahrungsaufnahme auf mehrere kleine Mahlzeiten verteilen, langsam essen u. a. ä Beispiel Eine 65-jährige Patientin hat infolge eines nicht behandelten Vorhofflimmerns einen rechtshirnigen Insult erlitten. Die Folgen waren eine Hemiparese links mit linksseitiger mundastbetonter Fazialisparese, eine Sensibilitätsminderung der linken Gesichtshälfte (mundastbetont) sowie eine Zungendeviation nach links. Bei der Nahrungsaufnahme kam es zu Speise- und Speichelfluss aus dem linken Mundwinkel, was von der Patientin nicht wahrgenommen wurde, ebenso wenig wie die Speiseresiduen in der linken Wangentasche mit Gefahr der Aspiration (z. B. in Rückenlage). Die Speisen wurden unzureichend gekaut und zerkleinert, der orale Speisentransport war undosiert und unkontrolliert. Linksseitig kam es zu Wangenbissen. Die Schluckreflextriggerung war aufgrund der Sensibilitätsstörung des linken Gaumenbogens und der mangelnden Zungenrückenhebung gestört. Hierdurch kam es regelmäßig zum Verschlucken durch vorzeitiges Einfließen der Speise nach dorsal. Die Therapie bestand aus: 5 Restituierende Verfahren: Sensibilitätstraining mit taktilen und thermischen Reizen, Wiederherstellen selektiver Bewegungen z. B. durch ge-

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174

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

führte Bewegungen von Gesichts und Zungenmuskeln sowie Bewegungen gegen Widerstand 5 Kompensatorische Verfahren: Haltungskontrolle, Einübung von Schlucktechniken und Bewusstmachen des Stimmklangs als Indikator für aspirationsfreies Schlucken 5 Adaptierende Verfahren: Anpassung der Speisekonsistenz (flüssig – breiig – fest) an die aktuell mögliche Schluckfunktion und Anwendung von Hilfsmitteln (Trinkgefäße mit großem Durchmesser, Löffel mit kleiner Fläche. Unter dieser zweimal täglich durchgeführten Therapie und der begleitenden Unterstützung der übrigen Mahlzeiten durch die Rehabilitationspflege konnte die Patientin deutliche Fortschritte erzielen: Nach drei Wochen konnte die Koststufe von passierter Nahrung auf normale Konsistenz umgestellt werden. Getränke mussten nicht mehr angedickt werden.

6

Fazit Schluckstörungen sind ein häufiges und häufig nicht rechtzeitig erkanntes klinisches Problem, das auf neurogene oder strukturelle Störungen der Schluckorgane zurückgehen kann. Da eine Dysphagie für die Betroffenen weitreichende Folgen haben kann, muss sie sorgfältig abgeklärt werden, z. B. durch klinische Untersuchung, Videoendoskopie und Videofluoroskopie. Voraussetzung ist ein gutes Verständnis des Ablaufes des normalen Schluckaktes. Die Behandlung von Schluckstörungen vor allem im Rahmen neurologischer Erkrankungen beinhaltet restituierende, kompensatorische und adaptive Verfahren (Dysphagietherapie).

6.5

Neuropsychologische Therapie G. Küther

6.5.1 Definition und Grundlagen Die Neuropsychologie befasst sich in Diagnostik und Therapie mit den funktionellen Auswirkungen von Hirnschädigungen auf komplexe zerebrale Funktionen. In Abhängigkeit von Ausdehnung und Lokalisation der Läsion kann es sich hierbei um die folgenden Bereiche handeln:

4 4 4 4 4 4

Aufmerksamkeit und Vigilanz Sehen und Wahrnehmung Gedächtnis Sprache Visuomotorische Leistungen Exekutivfunktionen (Handlungsplanung und -kontrolle) 4 Affektive Kontrolle 4 Verhalten Aufgabe der neuropsychologischen Therapie ist es, auf der Grundlage einer differenzierten Diagnostik in Abhängigkeit von Art und Schwere der Defizite gezielt Behandlungsstrategien auszuwählen. Zu berücksichtigen sind dabei neben dem verfügbaren Rehabilitationspotenzial die Motivation und Krankheitseinsicht eines Patienten, da deren Ausprägung entscheidend für nachhaltige Therapieerfolge ist. Im Einzelnen lassen sich die Therapieformen ähnlich wie in anderen Bereichen der Rehabilitation nach ihren Zielsetzungen unterteilen in 4 Funktionstherapien mit dem Ziel einer Restitution, bei denen umschriebene Funktionsstörungen durch direktes Üben behandelt werden; 4 Kompensationstherapien, mit denen Fähigkeiten zur Bewältigung fortbestehender Defizite durch Nutzung erhaltener Funktionen aufgebaut werden; 4 Substitutionstherapien, mit denen Defizite durch Einsatz externer Hilfsmittel ausgeglichen werden; 4 Integrative Therapien, in denen übergreifende Aspekte wie die Unterstützung der Patienten und Angehörigen bei der Krankheitsverarbeitung mit dem Ziel der Adaptation verfolgt werden. Die neuropsychologische Behandlung wird sich bei schwerer Hirnschädigung zuerst basalen Funktionen wie der Aufmerksamkeit und Vigilanz, Wahrnehmung oder dem Antrieb zuwenden, die die Grundlage für die Bewältigung komplexer Aufgaben darstellen. Danach kann sich eine gezielte Therapie spezieller Funktionen (z. B. Gedächtnis, Handlungsplanung, Impulskontrolle) anschließen. Begleitende Veränderungen von Affekt und Persönlichkeit, die gerade bei ausgedehnten Läsionen den Langzeitverlauf maßgeblich beeinflussen, erfordern eine neuropsychiatrische und ggf. auch medikamentöse Behandlung (7 Kap. 6.6). Wegen inhaltlicher Überschneidungen erfolgt die Therapie in der Regel in enger Kooperation mit Logo-

175 6.5 · Neuropsychologische Therapie

pädie (7 Kap. 6.3), Ergotherapie (7 Kap. 6.2) und Krankengymnastik (7 Kap. 6.1). Für die Behandlung einzelner Störungen steht mittlerweile eine Reihe von Verfahren zur Verfügung, die in zunehmendem Maße auf ihre klinische Wirksamkeit überprüft werden. Ein nach wie vor noch erhebliches Problem der neuropsychologischen Therapie ist der notwendige Transfer erzielter Leistungsverbesserungen aus dem Therapierahmen in den Alltag eines Patienten. > Oberstes Ziel und wesentlicher Bewertungsmaß-

stab einer sinnvollen Behandlung muss die bessere Bewältigung von Anforderungen im Alltag und Beruf eines Patienten sein und nicht nur eine Leistungssteigerung in den für die Therapieevaluation notwendigen Tests.

6.5.2 Aufmerksamkeit Einschränkungen der Aufmerksamkeit sind die bei schweren Hirnläsionen häufigsten neuropsychologischen Funktionsstörungen. Sie können die Teilleistungen der sog. Alertness (Reaktionsbereitschaft auf definierte Reize), der selektiven und geteilten Aufmerksamkeit, der Daueraufmerksamkeit (auf schnell wechselnde Reize) und Vigilanz (Aufmerksamkeit auf wenig veränderliche Reize) sowie eine vermehrte Ablenkbarkeit betreffen. Zur Behandlung werden meist computergestützte Trainingsverfahren eingesetzt, die vom Computerspiel bis zu Programmen für eine gezielte Therapie einzelner Aufmerksamkeitsleistungen reichen. Reiz-Reaktions-Aufgaben Reiz-Reaktions-Aufgaben werden zur Verbesserung der Verarbeitungsgeschwindigkeit genutzt. Zur Förderung der Daueraufmerksamkeit muss der Patient bei der Arbeit am PC-Bildschirm bei ständig wechselnden Reizen dann reagieren, wenn eine bestimmte Reizkonstellation erscheint. Bei akustischen Aufgaben muss der Patient in längeren Texten bei Auftreten eines vorher festgelegten Wortes reagieren. Komplexere Aufgaben erlauben ein Training der Aufmerksamkeitsteilung und Selektivität (z. B. durch Suchaufgaben oder Vergleich von Figuren). Beim Aufmerksamkeits-Prozess-Training (APT) werden derartige Aufgaben nach wachsendem Schwierigkeitsgrad systematisch gesteigert.

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Besonderer Wert ist auf eine zusätzliche alltagsnahe Behandlung zu legen, die sich auf die individuellen Anforderungen des Patienten konzentriert. So kann das Lesen von Texten oder Mitschreiben längerer Vorträge ohne und später mit ablenkenden Reizen (z. B. unter Radiobeschallung) bei Patienten eingeübt werden, die im Alltag oder Beruf diese Tätigkeiten beherrschen müssen. Bei schwer beeinträchtigten Patienten auf der Intensivstation oder in der Frührehabilitation, bei denen die aufgeführten differenzierten Verfahren noch nicht einsetzbar sind, geht es zuerst um eine Verbesserung basaler Funktionen der Vigilanz und Wahrnehmung. Wegen der in dieser Phase nur begrenzten Verarbeitungskapazität ist dabei die Reizregulation (Abschirmung vom Umgebungslärm) ein auf Akutstationen häufig noch zu wenig beachtetes Prinzip. Systematisierte sensorische Stimulationsprogramme bieten in dieser Phase eine gezielte, an der Belastbarkeit orientierte Förderung. Diese können uni- oder multimodale sensibelsensorische Reize (akustisch, visuell, vestibulär, taktil, propriozeptiv) beinhalten, die in einem tageszeitlich festgelegten Zeitplan mit ausreichenden Pausen angeboten werden. ä Beispiel Eine 35-jährige Sekretärin erlitt ein schweres SchädelHirn-Trauma. Wegen der anfangs ausgeprägten Vigilanzminderung wurde auf der Intensivstation mit einem multimodalen Stimulationsprogramm begonnen, bei dem über den Tag verteilt und mit Wiederholungen visuelle, akustische, vestibuläre, taktile und propriozeptive Reize zeitlich eng begrenzt über jeweils 2 min gesetzt wurden. Die Intensität und Dauer dieser Stimulation wurde stetig gesteigert, unterstützend wirkte in dieser Phase die physio- und ergotherapeutische Behandlung sensomotorischer Funktionen und Fähigkeiten. Nach der Verlegung in eine Rehabilitationsklinik fanden sich ausgeprägte Störungen der Aufmerksamkeit, sodass ein gezieltes Funktionstraining mit Reiz-Reaktions-Aufgaben am Computer zur Verbesserung der Verarbeitungsgeschwindigkeit folgte. Später kamen komplexere Aufgaben der Stimulusauswahl und der selektiven Suche nach Mustern und Textfehlern hinzu. Nach deutlicher Besserung der Leistungen in Aufmerksamkeitstests schloss sich ein Training alltagsrelevanter Leistungen wie das gedankliche Verfolgen und Mit-

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176

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

schreiben akustisch präsentierter Texte an. Dabei wurden später interferierende Reize (z. B. Radio, Gespräche) zur Minderung der Ablenkbarkeit eingearbeitet. Die Wiederaufnahme der Berufstätigkeit war anfangs nur mit Verkürzung der täglichen Arbeitszeit möglich. Durch Versetzung innerhalb der Arbeitsstelle konnte erreicht werden, dass die berufliche Tätigkeit trotz dauerhafter Leistungsminderung mit geringeren Anforderungen an Aufmerksamkeit und Konzentration fortgesetzt werden konnte.

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6.5.3 Zerebrale Seh- und

Wahrnehmungsstörungen, Neglect Etwa 20–40% aller Hirnschädigungen sind von Sehstörungen, insbesondere Gesichtfeldausfällen, begleitet. Daneben können Störungen der Sehschärfe und HellDunkel-Adaptation, der räumlichen Wahrnehmung und Orientierung, räumlich konstruktive Defizite, visuell agnostische Störungen und visueller Neglect sowie optische Illusionen und Halluzinationen auftreten. Mit einer wesentlichen Erweiterung eines eingeschränkten Gesichtsfeldes ist bei Einsatz der bisher verfügbaren Methoden (Konzentration der Aufmerksamkeit auf den Grenzbereich zum Skotom, Training von Orientierungsreaktionen) in der Regel nicht zu rechnen. Daher konzentriert sich die Behandlung von Gesichtsfelddefekten darauf, kompensatorische Blickstrategien zur Verbesserung der Lesestörung und visuellen Wahrnehmung im Alltag zu erlernen. Hierbei werden z. B. Patienten mit Hemianopsien durch schnell aufeinander folgende (tachistokopische) Bildreihen oder über den Bildschirm wandernde Textzeilen angeregt, den Blick gezielt in den Bereich der geschädigten Gesichtshälfte zu lenken. Eine Ausweitung des Blickfeldes kann auch dadurch erreicht werden, dass Patienten Lichtpunkte abseits des Fixationspunktes gezielt mit einer Augenbewegung aufsuchen müssen. Von besonderer Bedeutung ist darüber hinaus das Erlernen alltagsrelevanter Such- und Lesestrategien. So werden Patienten mit linksseitigem Gesichtsfeldausfall instruiert, beim Lesen gezielt den Wortanfang zu suchen, Patienten mit rechtsseitigem Defizit explorieren umgekehrt das Wortende. Nach den bisherigen Studienergebnissen kann eine begrenzte Behandlungsserie mit im Durchschnitt 20 Sitzungen ausreichen, um nachhaltige Verbesserungen zu erzielen. Für länger dauernde Behandlungsserien gibt es spezielle Computerpro-

gramme für das Heimtraining auch mit On-line Kontrolle der Übungshäufigkeit und des Übungsfortschritts. p Störungen der visuellen Raumorientierung betreffen die visuelle Längen- und Distanzschätzung im Raum, die Positionswahrnehmung oder visuokonstruktive Leistungen. Wegen der Auswirkungen auf wichtige Alltagsfunktionen (Ankleiden, Transfer etc.) ist ihre Behandlung von besonderer Bedeutung für die Reintegration der Patienten. Mit gezielten Trainingsprogrammen ist es möglich, die Positionswahrnehmung oder Längenabschätzung zu verbessern. Weitere Hilfen bieten Verhaltensänderungen (z. B. Abstellen von Gegenständen an ähnlicher Stelle bei gestörter Entfernungsschätzung). Für die Verbesserung visuokonstruktiver Leistungen (z. B. visuell gesteuertes Greifen, Zeichnen) sind ebenfalls spezielle Therapieprogramme entwickelt worden.

Als Neglect bzw. Hemineglect wird eine Vernachlässigung der zur Läsion kontralateralen Seite des Körpers oder des umgebenden Raumes verstanden, die nicht durch sensorische oder sensomotorische Störungen (z. B. eine Hemianopsie oder Hemiparese) bedingt ist. Unter der Vorstellung einer gestörten Aufmerksamkeit für den betroffenen Bereich wird analog zur Therapie der Gesichtsfeldausfälle ein Training der visuellen Exploration der betroffenen Seite durchgeführt. Mit sog. Cueing-Techniken wird durch richtungsspezifische optische, akustische oder somatosensible Hinweisreize die Zuwendung zur betroffenen Seite gefördert. Auch die aktive Bewegung der zur Läsion kontralateralen Extremitäten während der Aufgabenbearbeitung unterstützt dieses Ziel. Noch unklar ist der klinische Nutzen neuropharmakologischer Therapien mit dopaminergen Substanzen oder Azetylcholinesterase-Hemmern.

6.5.4 Gedächtnisstörungen Beeinträchtigungen der Merkfähigkeit können verschiedene Erinnerungsleistungen betreffen, die in anatomisch und funktionell getrennten neuronalen Systemen lokalisiert sind und daher bei Hirnläsionen in der Regel unterschiedlich betroffen sind: 4 Kurz- bzw. Arbeitsgedächtnis, Langzeitgedächtnis, prospektives Gedächtnis

177 6.5 · Neuropsychologische Therapie

4 Episodisches Gedächtnis (für kontextgebundene oder autobiographische Inhalte), semantisches Gedächtnis (für Faktenwissen) 4 Deklaratives bzw. explizites Gedächtnis (für bewusst verarbeitete Inhalte) und nondeklaratives bzw. implizites Gedächtnis (für unbewusst erlernte perzeptive oder motorische Fähigkeiten). Das direkte repetitive Beüben beeinträchtigter mnestischer Funktionen (»Gedächtnistraining«, »Gehirnjogging«) hat sich entgegen weitverbreiteter Erwartungen in der neuropsychologischen Therapie als wenig hilfreich erwiesen. Stattdessen verfolgt eine rational begründete Behandlung in Abhängigkeit vom Grad der Beeinträchtigung und weiterer neuropsychologischer Defizite (z. B. Aufmerksamkeit) folgende Ziele: 4 Vermittlung interner Gedächtnishilfen: Grundlage ist, dass durch eine vertiefte kognitive Analyse von Lerninhalten mit semantischen Assoziationen oder der Entwicklung bildlicher Vorstellungen verbesserte Gedächtnisleistungen zu erzielen sind. So kann z. B. im Rahmen der »Loci-Technik« durch Assoziation der zu lernenden Informationen mit für den Patienten bekannten Orten deren Abruf durch Begehung dieser geistigen Strecke erfolgen. Andere Methoden basieren auf der inhaltlichen Strukturierung des Lernmaterials. Diese kann durch systematischen Einsatz von W-Fragen (wer, wie, wo, was, wann, warum) erfolgen. Bei der PQRST-Technik wird in mehreren Schritten vorgegangen: P = »preview« (einführendes Durchlesen); Q = »question« (Formulieren von Schlüsselfragen); R = »read« (sorgfältiges nochmaliges Lesen); S = »state« (Durchdenken des Lernstoffes); T = »test« (Beantwortung der Schlüsselfragen). Der zeitliche und kognitive Aufwand, den diese Techniken erfordern, setzt dem erfolgreichen Einsatz im Alltag allerdings enge Grenzen. 4 Externe Gedächtnishilfen: Der Einsatz von Terminkalendern, Notizblöcken oder Taschencomputern ist die wirksamste Form der Substitution im Alltag, erfordert aber die Fähigkeit zur selbstständigen Nutzung der Systeme. Bei schweren Einschränkungen helfen Wegweiser, Hinweisschilder, Kartensysteme oder sog. Pager, bei denen externe Helfer den Patienten über ein Display erinnern. Als weitere Möglichkeiten bieten sich verhaltenstherapeutische Ansätze an, mit denen kontextbezogen

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auf den häuslichen Bereich Verhaltensänderungen mit Patienten und Angehörigen in Alltagssituationen eingeübt werden (7 Kap. 6.11 und 6.13). Gleichzeitig können hierbei psychische Folgen der täglich erlebten Defizite (Depression, Ängste) bearbeitet und eine realistische Selbsteinschätzung und Krankheitsverarbeitung unterstützt werden.

6.5.5 Apraxien Apraxien sind Störungen der Bewegungsabfolge, die nicht durch Paresen oder Störungen der Sensibilität oder Wahrnehmung erklärt werden können. Nach der klassischen Einteilung von Liepmann werden apraktische Störungen zwei großen Kategorien zugeordnet: 4 Ideomotorische Apraxie als Störung bei der Ausführung einzelner bedeutungsvoller oder bedeutungsloser Bewegungsfolgen der Extremitäten oder des Gesichtes (z.B. mit der Hand winken, pfeifen, bedeutungslose Gesten imitieren, pantomimischer oder praktischer Werkzeuggebrauch) 4 Ideatorische Apraxie als Störung der Planung und Ausführung komplexer Handlungsfolgen (z.B. Kaffee kochen oder einen Brief falten, kouvertieren und frankieren) Die gliedkinetische Apraxie als unflüssige Bewegung einzelner Extremitäten wird in der Literatur teilweise der ideomotorischen Apraxie zugerechnet, teilweise aber auch als separate motorische Störung auf der Ebene der Bewegungsengramme angesehen. Aufgrund neuropsychologisch-experimenteller Untersuchungen rücken neuere Klassifikationen der Apraxien vom klassischen Schema ab und unterscheiden die Gliedmaßenapraxie im Hinblick auf Störungen des Imitierens von Gesten, der Ausführung bedeutungsvoller Gesten nach Aufforderung sowie des Gebrauchs von Werkzeugen und Objekten. Ideoarotorische Apraxie. Ideomotorische und gliedkinetische Apraxien zeigen nach einem Akutereignis in der Regel eine spontane Rückbildungstendenz mit geringer funktioneller Beeinträchtigung. Ein gestörter Objektund Werkzeuggebrauch bedarf nur in Einzelfällen einer neuropsychologischen und ergotherapeutischen Behandlung. Bei einer Gesichtsapraxie kann ein gezieltes Training der Artikulationsmotorik notwendig sein (z.B. durch Spiegeltraing, Imitieren von Bewegungen). Aphasische Patienten können von einem Gestentraining pro-

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Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

fitieren, bei dem die für die Kommunikation wichtigen Gesten eingeübt werden, wobei eine begleitende Beeinträchtigung im Umgang mit Zeichen und Symbolen (Asymbolie) den Lernerfolg stark limitieren kann. Ideatorische Apraxie. Für die Therapie relevanter sind

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anhaltende Störungen komplexer alltagsrelevanter Handlungsfolgen. Bei deren Behandlung werden verschiedene bisher nur empirisch begründete Therapieansätze praktiziert. Ein Weg ist, komplexe Handlungsfolgen in ihre Einzelbestandteile zu zerlegen und diese dann solange isoliert einzuüben, bis eine selbstständige Ausführung möglich wird. Danach werden schrittweise aufeinander folgende Sequenzen erarbeitet. Alternativ können komplette Handlungsfolgen von Therapeuten und Patienten synchron ausgeführt werden, um danach mit abnehmender Assistenz zunehmend selbstständiger vollzogen zu werden. Als Modifikation wird, analog zum Affolter-Konzept (7 Kap. 3.1), zu Beginn die ausführende Handlung vom Therapeuten geführt, um im weiteren Verlauf mit abnehmender Kontrolle selbstständig ausgeführt zu werden. Weitere Möglichkeiten der Therapie bestehen in der Ausführung von Handlungen aufgrund vorgegebener Bildserien oder der Anordnung abgebildeter einzelner Teilschritte in eine regelrechte Reihenfolge.

6.5.6 Einschränkungen von

Exekutivfunktionen, Affekt und Persönlichkeit > Als Exekutivfunktionen werden komplexe kognitive Funktionen der Handlungsplanung und -ausführung, deren situationsangepasste Modifikation sowie die Kontrolle und Bewertung von Handlungen und Verhalten bezeichnet.

Störungen von Exekutivfunktionen, die häufig von einer verminderten Einsicht in die eigenen Defizite begleitet sind, werden mit Trainingsprogrammen behandelt, die aus der Verhaltenstherapie und kognitiven Psychologie abgeleitet worden sind. Als kognitiver Ansatz werden z. B. im Rahmen eines Problemlöseund Selbstinstruktionstrainings vom Therapeuten gestellte Aufgaben analysiert. Mit dabei formulierten Frage- und Hinweiskarten werden im Anschluss vom Patienten Lösungsstrategien und konkrete Lösungswege konzipiert und nach Ausführung einer kritischen Kontrolle unterzogen. Danach werden die Patienten

angeleitet, sich bei weiteren Tätigkeiten selbst zu instruieren und verbal zu begleiten. ä Beispiel Eine 57-jährige Patientin mit einem Schlaganfall kann ihre Aufgaben im Haushalt nicht mehr bewältigen, und zwar, weil sie immer wieder die korrekte Reihenfolge der Tätigkeiten unterbricht und sie falsch nacheinander ausführt. Im Rahmen einer »domänenspezifischen Selbstinstruktion« werden unter therapeutischer Anleitung einzelne Hausarbeiten (z. B. Kochen) eingeübt. Zunächst wird mit der Patientin eine Problemanalyse mit Suche nach lösungsrelevanten Informationen und ein Plan für den Ablauf erarbeitet, in dem alle notwendigen Informationen zur Ausführung schriftlich festgehalten werden. Dieser Plan wird anschließend unter therapeutischer Aufsicht ausgeführt, wobei fehlerhafte Schritte unterbrochen werden und aus der Situation heraus nach Hinweisen für den korrekten Ablauf gesucht wird. Im weiteren Verlauf wird die Patientin darauf hingewiesen, dass sie zunehmend weniger korrigierende Rückmeldungen über Fehler erhalten wird und sie diese Informationen selbstständig erkennen muss. Die Rolle des Therapeuten wird nach etwa 3 Wochen an die Angehörigen übergeben. Nach etwa 8 Wochen konnte die Patientin eine ausreichende Selbstständigkeit für die wichtigsten Haushaltsarbeiten einschließlich der Zubereitung einfacher Mahlzeiten erreichen.

Änderungen von Affekt und Persönlichkeit sind häufig die auf Dauer für Patienten und Umwelt gravierendsten Folgen einer Hirnschädigung, die das Sozialverhalten und damit die Reintegration tiefgreifend beeinträchtigen können. Aus der Verhaltenstherapie stammt das Prinzip des Kontingenzmanagements, das auf einer konsequenten Anwendung positiver Stimuli und einer Entfernung negativer oder aversiver Stimuli zur Verstärkung erwünschter Verhaltensmuster basiert. Um die längerfristigen Folgen nachteiligen Handelns bewusst zu machen, können sog. Kontingenzverträge mit dem Patienten geschlossen werden, in denen Vereinbarungen über positive oder negative Konsequenzen vorher festgelegt werden. Das Auftreten erwünschter Verhaltensmuster kann weiterhin durch eine gezielte Stimuluskontrolle gefördert werden, mit der die Umweltbedingungen so modifiziert werden, dass die erwünschten Verhaltenseigenschaften mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auftreten.

179 6.6 · Medikamentöse Therapie

Die klassischen operanten Methoden versuchen, im Sinne einer Konditionierung positive oder negative Verstärker in Richtung des erwünschten Verhaltens zu setzen. Die sog. »token economy« benutzt Münzen als Belohnungssysteme (Token) für positives Verhalten. Mit der Methode der »response cost« werden bei Auftreten unerwünschter Verhaltensweisen Abzüge auf einem vorher angelegten Chips- oder Geldkonto rückgemeldet und bewusst gemacht. Hierdurch wird versucht, für den Patienten einen Zusammenhang zwischen seinem Verhalten und dessen Konsequenzen herzustellen. Wesentlich ist dabei eine reaktionskontingente, d. h. in unmittelbarem zeitlichem Bezug zum Verhalten folgende Rückmeldung.

berücksichtigt werden. Teilweise erfordern sie eine separate psychotherapeutische bzw. neuropsychiatrisch-pharmakologische Mitbehandlung.

Fazit Ziel der Neuropsychologie ist es, die funktionellen Auswirkungen organischer Hirnschäden zu diagnostizieren und zu behandeln. Dabei kann es sich z. B. um Störungen der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung und des Gedächtnisses handeln. Ein weiteres wesentliches Element der Neuropsychologie ist die Therapie von exekutiven Funktionen der Handlungsplanung und -ausführung. Schließlich sind auch Veränderungen von Affekten und Persönlichkeitsmerkmalen Gegenstand der Behandlung. Die Therapiemethoden zielen auf eine Verbesserung der betroffenen Funktion (z. B. durch gezielte Übungen), eine Kompensation von Funktionsdefiziten (durch Einsatz anderer noch vorhandener Funktionen), die Substitution durch externe Hilfsmittel und die Integration mit Unterstützung durch Angehörige oder andere Personen im sozialen Umfeld.

! Wegen der großen Fremdbestimmung wird der Einsatz operanter Methoden durchaus kritisch gesehen und vorwiegend Patienten mit schwersten Verhaltensstörungen vorbehalten bleiben, bei denen andere Methoden keine Anwendung finden können.

Eine weitere effektive Möglichkeit der kognitiven Therapie bietet das Video-Feedback, bei dem es Patienten ermöglicht wird, eigene Verhaltensauffälligkeiten selbstständig zu erkennen. Eine verstärkte Selbstkontrolle kann auch durch eine therapeutisch geleitete Selbstbeobachtung und Reflexion der Folgen unüberlegten Handelns erzielt werden. In Protokollen wird dabei das nachteilige Verhalten systematisch erfasst und später gemeinsam analysiert. Dies erfordert jedoch ein Mindestmaß an Einsicht und bleibt daher Patienten mit nicht zu ausgeprägter Schädigung vorbehalten. Emotional-affektive Veränderungen Neben den direkten hirnorganischen Folgen ist bei ausgedehnten Hirnläsionen stets mit indirekten (reaktiven) emotional-affektiven Veränderungen zu rechnen, die von dem organisch begründeten Anteil häufig nur schwer abzugrenzen sind. Eine unzureichende Krankheitsverarbeitung mit Anpassungsstörungen und depressiver Reaktion bei veränderten Verhaltensweisen des persönlichen Umfeldes stellen für viele Patienten eine schwere Belastung dar. Sie sind nicht zuletzt zur vollen Ausschöpfung des Rehabilitationspotenzials behandlungsbedürftig und müssen daher in der neurologisch-neuropsychologischen Therapie

6

6

6.6

Medikamentöse Therapie Th. van de Weyer

In der Frührehabilitation besteht definitionsgemäß noch Bedarf an akutstationärer Behandlung und intensiver medikamentöser Therapie. Letztere bezieht sich in erster Linie auf die ursächliche Erkrankung bzw. bestehende Begleiterkrankungen (z. B. arterielle Hypertonie, Vorhofflimmern, Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz, immunsuppressive Therapie nach Organtransplantationen). Parallel hierzu gibt es rehabilitationsspezifische Indikationen zur medikamentösen Therapie. Beispiele sind: 4 Antriebsstörungen nach diffuser Hirnverletzung 4 Depression nach Schlaganfall 4 Spastik z. B. nach Querschnittläsionen oder nach Schlaganfall 4 Neuropathischen Schmerzen z. B. bei peripheren Nervenläsionen Die medikamentöse Therapie in der Rehabilitation strebt dabei eine Verbesserung des funktionellen Defizits, die Herstellung der Rehabilitationsfähigkeit und die Zunah-

180

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

me der Partizipation an. Wirkungen, Indikationen und Kontraindikationen richten sich nach den Grundregeln der ärztlichen Pharmakotherapie, dies allerdings immer auf dem Hintergrund, ein bestmögliches Ergebnis des Rehabilitationsprozesses zu erreichen.

ben. Die Kontraindikationen führen dazu, dass nur ca. 10% der Schlaganfallpatienten mit Amphetaminen behandelt werden können.

Amphetaminkontraindikationen ä Beispiel

6

Ein 38-jähriger Patient mit schwerem Schädel-HirnTrauma nach Sprung aus dem 8. Stock wies beidseitige, ausgedehnte, frontal betonte Hirnkontusionen und eine Tetraparese auf. Initial bestand bei agitiertem Psychosyndrom sowie stark gestörtem SchlafWach-Rhythmus keine Rehabilitationsfähigkeit. Durch medikamentöse Therapie mit hochdosierten niedrigpotenten Neuroleptika gelang es, das Psychosyndrom langsam zu bessern und die Rehabilitationsfähigkeit herzustellen. Im Verlauf stand eine schwere Antriebsstörung im Vordergrund. Diese war bedingt durch die beidseitigen schweren Frontalhirnläsionen. Durch Kombinationstherapie von Dopaminagonisten und L-Dopa konnte die Antriebsstörung und damit die Partizipation entscheidend verbessert werden. In Kombination mit intensiver multimodaler frührehabilitativer Therapie kam es in der Folge zu einer raschen Reduktion des funktionellen Defizits.

6.6.1 Psychostimulanzien Substanzen, die das noradrenerge System stimulieren (Amphetamin, Methylphenidat) können die Rückbildung des motorischen Defizits nach einem Schlaganfall verbessern, insbesondere in Kombination mit gleichzeitiger Physio- und Ergotherapie. Die Applikation von Amphetaminen erfolgt in der Regel in 4-tägigen Abständen. Bei täglicher Gabe kommt es zu einer Hemmung des noradrenergen Systems. Schon nach den ersten Applikationen ist eine deutliche Besserung der motorischen Fähigkeiten zu beobachten. Leider geht dieser positive Effekt nach wiederholter Gabe (mehr als 10 Applikationen) wieder vollständig verloren. p Das therapeutische Fenster bei AmphetaminMedikation liegt zwischen dem 7. und 30. Tag nach dem Akutereignis.

Problematisch sind die zahlreichen Kontraindikationen für eine Amphetamingabe. Hier sind besonders das Absenken der Schwelle für zerebrale Krampfanfälle sowie die Erhöhung des arteriellen Blutdruckes hervorzuhe-

5 5 5 5 5 5 5 5 5 5

Akuter Myokardinfakt – schwere KHK Schwere kardiale Arrhythmien Intrazerebrale Blutungen Arterielle Hypertonien (>170/110 mmHg) Schwere Hyperthyreose Zerebrale Anfallsleiden Akute Psychosen Agitierte Psychosyndrome Drogen- oder Alkoholabusus Einnahme von MAO-Hemmstoffen

Ein weiterer Einsatz von Psychostimulanzien ist die Gabe von L-Dopa oder Dopaminagonisten (Bromocriptin, Amantadin). Nach L-Dopa-Gabe erhöht sich der Noradrenalinspiegel im zentralen Nervensystem. Eine über 3 Wochen gegebene tägliche Dosis von 100 mg verbessert das funktionelle Defizit nach Schlaganfall. Aufgrund der geringen Nebenwirkungen bzw. Kontraindikationen (z. B. paranoid-halluzinatorische Psychose) setzt sich dieser Therapieansatz zunehmend durch. Amantadin sowie andere Dopaminagonisten werden ohne wissenschaftlichen Nachweis immer wieder zu Antriebssteigerungen z. B. nach Schädel-HirnVerletzungen eingesetzt. ! Die regelmäßige Gabe von (insbesondere

hochpotenten) Neuroleptika und trizyklischen Antidepressiva sowie wahrscheinlich auch von Benzodiazepinen hat negative Einflüsse auf den zentralen Erholungsprozess.

6.6.2 Antidepressiva Etwa 50% aller Patienten nach Schlaganfall und 20% der Patienten nach Schädel-Hirn-Trauma entwickeln eine schwere, medikamentös behandlungspflichtige Depression. Die Symptome sind dabei oft atypisch und bestehen aus einer ausgeprägten Antriebsstörung und Appetitlosigkeit. Die Störungen des Affektes bzw. die depressive Stimmung stehen dabei häufig im Hintergrund. Wegen der resultierenden Beeinträchtigung der funktionell-aktivierenden Rehabilitationsbehandlung

181 6.6 · Medikamentöse Therapie

sollte schon bei Verdacht auf eine Depression nach Hirnschädigung medikamentös behandelt werden. Hier sind besonders Medikamente aus der Gruppe der selektiven Serotonin-Rückaufnahmehemmer (z. B. Setralin, Citalopram o. ä.) indiziert. Dieser Gruppe fehlt weitgehend die anticholinerge Nebenwirkung der klassischen (tri- oder tetrazyklischen) Antidepressiva, die die Regeneration des Gehirns nach Schädigung verlangsamt bzw. blockiert. In jüngster Zeit wird für die antidepressive Behandlung im Rahmen der Rehabilitation auch der selektive Noradrenalin-Rückaufnahmehemmer Reboxetin empfohlen. Er zeichnet sich durch das Fehlen einer sedierenden Nebenwirkung sowie durch nur geringe anticholinerge Effekte aus. > Die medikamentöse antidepressive Behandlung sollte durch aktivierende Maßnahmen wie Bäder, Teilnahme an der Umwelt (auch im Rollstuhl) und eine vermehrte äußere Ansprache begleitet werden.

6.6.3 Spastikreduzierende Medikamente Spastik wird definiert als erhöhter Muskeltonuns, der bei passiver Dehnung des Muskels geschwindigkeitsabhängig zunimmt. Diese Definition ist allerdings nicht ganz vollständig. So konnte nachgewiesen werden, dass es auch in der Muskelstruktur unmittelbar nach der zentralen Läsion zu einer Umstrukturierung im Muskel mit verstärkte Erregbarkeit der Muskelzellen und und einer Vermehrung der Typ-2-Fasern kommt. Neurophysiologisch erklärt sich die Spastik mit dem Wegfall der zentralen Hemmung mit überaktivem monosynaptischen Reflexbogen. Ausgelöst wird dieser in der Rehabilitation häufig anzutreffende Zustand durch die Läsionen der Pyramidenbahn. Medikamente zur Spastikreduktion sind das Baclofen (Lioresal) sowie in Einzelfällen Clonazepam/Diazepam aus der Gruppe der Benzodiazepine. Diese wirken als Agonisten des hemmenden Transmitters Gamma-Aminobuttersäure. Aus der Gruppe der Glutamatinhibitoren (Glutamat ist stark exzitatorisch) ist das Tizanidin (Sirdalud) das wichtigste Medikament. Die bisher genannten Wirkstoffe haben zentrale Ansatzpunkte und führen zu einer Verminderung der Überaktivität des monosynaptischen Reflexbogens. Hauptkomplikation ist eine zu starke Sedation, was die therapeutische Breite der Medikamente deutlich einengt. Außerdem ist zu beachten, dass eine mäßige Spa-

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stik nicht selten für die Gehfunktion eines Hemiparetikers Voraussetzung ist. Das peripher wirkende Muskelrelaxans Dantrolen (Dantamacrin) wird heutzutage nur noch in Einzelfällen eingesetzt. Hauptproblem sind hepatotoxische Nebenwirkungen. Botulinumtoxin (Botox, Dysport, Neurobloc) hat in der Spastiktherapie einen festen Platz und wird, elektromyographisch gesteuert, intramuskulär appliziert. Es hemmt im Muskel präsynaptisch die Azetylcholinfreisetzung. Dies führt zu einer vollreversiblen schlaffen Parese des Muskels. Die Wirkung setzt etwa 7 Tage nach der Injektion ein und hält 3–4 Monate an. Die Wirksamkeit ist nicht abhängig von der Dauer der vorbestehenden Spastik. Hauptindikation ist die fokale Spastik. Bei Überschreiten einer Grenzdosis können systemische Nebenwirkungen (Erbrechen, Doppelbilder, Atemdepression, Lähmung) auftreten. Typische Indikationen sind der spastische Spitzfuß oder die Adduktorenspastik der unteren Extremitäten. Kontraindikationen sind die knöchern fixierte Kontraktur, schwere Gerinnungsstörungen oder Endplattenerkrankungen (Myasthenia gravis). Die Botulinumtoxin-Therapie führt nur in Kombination mit Physiound Ergotherapie zu einer funktionellen Besserung. Allerdings können auch rein pflegerische Maßnahmen (z. B. Verbesserung einer Pilzinfektion in der Hohlhand) eine Indikation für eine Botulinumtoxin-Behandlung darstellen. Multimodale rehabilitative Therapie der Spastik Die medikamentöse Behandlung der Spastik ist eingebunden in ein multimodales Therapiekonzept. Dieses reicht von der Lagerung nach Bobath durch die Reha-Pflege über passives reziprokes Durchbewegen bis hin zum Anlegen von zirkulären Redressionsgipsen oder auch Maßnahmen aus der Thermo- und Elektrotherapie. Vor einer Botulinumtoxin-Behandlung müssen spastikverstärkende exogene Ursachen (z. B. Infekte, Obstipation, schmerzhafte Lagerung, Harnverhalt) behandelt werden. Entscheidend sind die klare Lokalisation der betroffenen spastischen Muskulatur sowie eine lückenlose Dokumentation des Therapieverlaufes. Das Risiko fixierter Kontrakturen hat sich unter diesem multimodalen Therapieansatz deutlich verringert.

182

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

ä Beispiel

6

Eine 58-jährige Frau erlitt eine ausgedehnte intrazerebrale Blutung rechtshirnig aus einem Mediaaneurysma. Die chirurgische Therapie bestand in einer Trepanation mit Entfernen der Blutung und Clipping des Aneurysmas. Im Verlauf der frührehabilitativen Behandlung entwickelte die Patientin eine verbesserte Beweglichkeit im Ellbogengelenk (Beugung – Streckung) und eine Funktionsverbesserung in der linken Hand (beginnende Greiffunktion). Proximal im linken Arm bestand jedoch eine hochgradige spastische Tonuserhöhung des M. pectoralis, des M. supraund des M. infraspinatus, die sich auch in der Therapie kaum noch reduzieren ließ. Es drohte eine sekundäre Schultereinsteifung durch Kapselschrumpfung. Zunächst wurde Lioresal einschleichend aufdosiert bis 40 mg/Tag – ohne wesentliche Besserung. Eine höhere Dosis wurde von der zierlichen Patientin wegen zu starker Sedation nicht toleriert. Durch die proximale hochgradige Spastik war die Einsatzfähigkeit des linken Armes und indirekt der linken Hand in den ADL stark eingeschränkt. Nach der Botulinumtoxin-Injektion ausschließlich in den M. pectoralis in Kombination mit intensiver Hemimassage (7 Kap. 3.5) und detonisierender Thermotherapie konnte die Patientin zunehmend den linken Arm in den ADL besser einsetzen, da die Tonuserhöhung sich deutlich zurückbildete. Eine Subluxation der linken Schulter entwickelte sich nicht.

Kurzschlüsse sowie zu einer vermehrten Expression von Natrium- und Kalziumionenkanälen an den Membranen geschädigter Nervenzellen. Beides führt über die vermehrte Freisetzung exzitatorischer Neurotransmitter (Glutamat, Substanz P) zu einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit. Die Indikationen für eine medikamentöse Therapie reichen vom zentralen Schmerz nach einer Thalamusläsion, Rückenmarkverletzung, Critical-illnessNeuropathie bis hin zum CRPS (»chronic regional pain syndrome«, M. Sudeck). Die eingesetzten Medikamente sind in erster Linie Ionenkanalblocker, die auch als Antikonvulsiva zugelassen sind. Etabliert ist das Carbamazepin (Tegretal, Timonil) sowie das Gabapentin (Neurontin). Die unter Carbamazepin auftretenden hepatotoxischen Nebenwirkungen machen nicht selten einen Wechsel auf Oxcarbazepin (Trileptal) empfehlenswert. Neu ist der Einsatz von Pregabalin (Lyrica). Die Kombinationstherapie mit einem trizyklischen Antidepressivum zum Anheben der Schmerzschwelle ist meistens sinnvoll. Opioide sind in der Regel weniger wirksam als die vorgenannten Medikamente. Fazit Die spezielle medikamentöse Therapie in der Rehabilitation zielt besonders auf solche Symptome und Störungen, die die aktivierende Rehabilitation beeinträchtigen. Besonders wichtig sind in der frühen Phase nach schweren Läsionen des zentralen und peripheren Nervensystems sowie nach anderen schweren Erkrankungen oder langzeitiger Intensivbehandlung die spezielle medikamentöse Therapie der Depression (insbesondere der Antriebslosigkeit), von motorischen Defiziten (z. B. durch Psychostimulanzien), der Spastik und des neuropathischen Schmerzes. Selbstverständlich sind in der Rehabilitation auch die zugrunde liegenden Erkrankungen medikamentös (weiter) zu behandeln.

6.6.4 Schmerzmittel bei neuropathischen

Schmerzen Bezüglich der allgemeinen Schmerztherapie im Rahmen der Physikalischen Therapie und Rehabilitation wird auf 7 Kap. 6.10 verwiesen. Wegen der besonderen Bedeutung im Rahmen der Frührehabilitation wird an dieser Stelle nur die medikamentöse Therapie der neuropathischen Schmerzen behandelt. Bei Läsionen des peripheren oder zentralen Nervensystems kommt es häufig zu quälenden Kribbelparästhesien und -dysästhesien (teils mit einschießendem Charakter) sowie zu Dauerschmerzen im Versorgungsgebiet des geschädigten Nerven. Diese atypischen Beschwerden werden als neuropathischer Schmerz bezeichnet. Neurophysiologisch kommt es zentral wie peripher nach einer Läsion zur Ausbildung fehlerhafter

6.7

Rehabilitative Pflege J.-J. Glaesener

Da in der Frührehabilitation Patienten mit sehr komplexen und schweren Funktionsstörungen behandelt

183 6.7 · Rehabilitative Pflege

werden, ist die Pflege zentraler Bestandteil des Rehabilitationskonzeptes. Das Pflegepersonal muss eng in das Rehabilitationsteam eingebunden sein. Beispiele hierfür sind die über 24 h am Tag notwendige spezielle Lagerung im Bobath-Konzept (7 Kap. 6.1), die gemeinsam mit der Ergotherapie zu konzipierende Übung von ADL-Funktionen (7 Kap. 6.2) oder die Unterstützung der Schlucktherapie durch adäquate Auswahl und Darreichung der Nahrung. Da die Patienten in der weiterführenden Rehabilitation zunehmend selbstständig werden, kommt der Pflege hier ein geringerer Stellenwert zu.

6.7.1 Aufgaben Rehabilitationspflege ist ein relativ junges Gebiet, wo die Pflegenden seit kurzem beginnen, ihre Bedeutung in der Beobachtung und der Therapieunterstützung richtig einzuschätzen und ihre Rolle im gesamten Rehabilitationsteam selbstbewusst zu finden. Da die Rehabilitation auf eine umfassende Funktionsverbesserung zielt, wird auch von den in der Pflege Tätigen eine erweiterte fachliche und psychosoziale Kompetenz erwartet. Das dazu erforderliche Fachwissen soll sie dazu befähigen, innerhalb des interdisziplinären Rehabilitationsteams verantwortlich und eigenständig mitzuwirken, um die Rehabilitationsziele zu erreichen. Eine berufsbegleitende Qualifikation als Fachkrankenschwester/Fachkrankenpfleger für Rehabilitationspflege erhöht die Gesamtqualität und die Effizienz der Rehabilitation.

6.7.2 Pflegekonzepte Die meisten Pflegetheorien und Pflegemodelle lehnen sich fast ausschließlich an die Akutmedizin an. In der Rehabilitation orientieren sich die pflegewissenschaftlichen Grundlagen methodisch an bewährten Rehabilitationskonzepten, wie z. B. dem Affolter-Konzept oder dem therapeutisch-pflegerischen Konzept nach Bobath (. Abb. 6.9). Pflegekräfte sind Mitglieder des Rehabilitationsteams. Die einzelnen Berufsgruppen haben in diesem therapeutischen Team unterschiedliche Kompetenzen. Zahlreiche Tätigkeiten werden jedoch berufsübergreifend von Pflegenden und Therapeuten gemeinsam ausgeübt. So bedeutet z. B. das »24-h-Ma-

6

. Abb. 6.9. Überschneidungsbereiche zwischen Therapie und Pflege

nagement« nach dem Bobath-Konzept, das vor allem in der Rehabilitation nach Schlaganfall angewandt wird, dass alle mit dem Patienten durchgeführten Aktivitäten und alle von ihm selber durchgeführten Aktivitäten unter therapeutischen Gesichtspunkten stattfinden (7 Kap. 6.1.2). Zwangsweise führt dieses zu einer Aufhebung der Trennung zwischen Pflege und Therapie. Traditionell pflegerische Maßnahmen wie das Waschen und das Ankleiden sowie die Mobilisation des Patienten werden therapeutisch bedeutsam.

Von der Rehabilitationspflege unterstützte Ziele des Bobath-Konzeptes 5 Hemmen der abnormen Haltungs- und Bewegungsmuster sowie der Spastizität 5 Bahnen der normalen Bewegungsabläufe im Alltag 5 Stimulieren der Sensibilität 5 Einbeziehen der hemiplegischen Seite in Koordination mit der gesunden Seite 5 Entwicklung einer Körpersymmetrie und des Gefühls von Körpermitte 5 Wiedererlernen verlorengegangener Bewegungsfähigkeiten und -muster 5 Gezielte Betreuung des Patienten »rund um die Uhr«

Auch andere Konzepte aus dem therapeutischen Bereich wie das »Führen nach Affolter« können von der Pflege übernommen werden, selbstverständlich auch das Essen bei gestörtem Schluckakt entsprechend dem Konzept der Stimulierung des Schluckaktes mittels der faziooralen Therapie (Logopädie). Dazu kommen spezifische Konzepte, die im Bereich der Pflege entwickelt worden sind wie die »basale Stimulation« (nach Bienstein und Fröhlich). In diesem Konzept werden bei hirnverletzten und komatösen Patienten regelmäßig Reize für alle Sinnesmodalitäten gegeben. Sie wer-

184

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

den auf die spezielle Situation des Patienten abgestimmt. So bestehen sie beispielsweise bei Körperwahrnehmungsstörungen in mechanischen Reizen in Form großflächiger Massagen, bei Störungen der Diskriminationsfähigkeit in taktilen Reizen z. B. durch Gabe unterschiedlicher Gegenstände oder Oberflächen in die Hände.

der Therapie der geschädigten Organsysteme im Vordergrund. In dieser Phase kann der Patient die Aktivitäten des täglichen Lebens nur sehr eingeschränkt selbst durchführen und ist in seiner Wahrnehmung und Kooperationsmöglichkeit stark eingeschränkt. Hier spielt neben der Grundpflege vor allem die spezielle Rehabilitationspflege eine wichtige Rolle, die den Gesundheitszustand stabilisiert und diagnostische und therapeutische Maßnahmen unterstützt.

6.7.3 Ziele

6

Das Konzept der aktivierenden Pflege bedeutet, Hilfe zur Selbsthilfe leisten. So lernt der Betroffene mit Hilfe der Pflegenden die Krankheit zu überwinden, mit Krankheitsfolgen umzugehen und eine Eigenmotivation zu entwickeln. Die Pflege fördert Fähigkeiten und Eigenverantwortung des behinderten Menschen, z. B. über das Selbsthilfetraining, mit dem ein Maximum an Selbstständigkeit erzielt werden soll. Grundlegende pflegerische Tätigkeiten wie das Umlagern eines Patienten, das Aufsetzen und Aufstehen oder die Körperpflege werden zu einem Teil der Therapie, weil der Patient dazu angehalten wird, sich aktiv zu beteiligen. Dieses impliziert auch das Einbeziehen der Angehörigen des Behinderten, insbesondere, wenn zu erwarten ist, dass der Betroffene auch nach Abschluss der Rehabilitation weitere Unterstützung benötigen wird (7 Kap. 6.8). Einbindung der Angehörigen in den Rehabilitationsprozess Angehörige haben eine wichtige Vermittlerfunktion zwischen Pflegenden, Therapeuten und dem betroffenen Patienten. Sie sind wichtige Informationsträger in Bezug auf den häufig nicht mehr aussagefähigen Rehabilitanden. Sie können, nach entsprechender Anleitung, dazu beitragen, dass in der Rehabilitation erzielte Fortschritte auf Dauer gesichert werden. So fällt es insbesondere in den Aufgabenbereich der Rehabilitationspflege, Angehörige bei der Betreuung und Pflege zu beraten und anzuleiten. Ziel ist es, Pflegefehlern vorzubeugen, aber auch eine Überfürsorge zu verhindern, die eine erreichte Selbstständigkeit wieder gefährden könnte.

Auf Intensivstationen und häufig auch noch in der Frührehabilitation steht die versorgende Pflege im Rahmen der Stabilisierung der vitalen Parameter und

Spezielle Rehabilitationspflege 5 Apparative Kontrolle der Kreislaufparameter 5 Überwachung der Infusionstherapie des bewusstseinsgetrübten und schluckgestörten Patienten 5 Absaugen der Trachealkanüle 5 Vigilanzkontrolle 5 Monitoring von Ein- und Ausfuhr 5 Pneumonieprophylaxe

In der weiterführenden Rehabilitation reduziert sich der Anteil dieser speziellen Pflege und der Grundpflege in dem Maße, wie sich das Allgemeinbefinden des Patienten verbessert. Die noch vorhandenen Fähigkeiten des Patienten müssen unterstützt und gefördert werden. Dieses heißt konkret für die Pflegenden, Aktivitäten nicht aus Zeitgründen zu übernehmen, die mit mehr Zeit und ggf. einer gewissen Unterstützung vom Betroffenen selber durchgeführt werden können. Die Pflege soll dabei helfen, den verfügbaren Handlungsspielraum zu verdeutlichen und mithelfen, die alten Handlungsressourcen wiederzugewinnen. In späteren Phasen der Rehabilitation fällt der Pflege eine eminent wichtige Rolle zu bezüglich der Anleitung und der Unterstützung bei den Aktivitäten des täglichen Lebens. 4 Mobilität und Lagerung: Unterstützung bei Bewegung aus dem/ins Bett 4 Sich waschen: Unterstützung und partielle Übernahme der Körperpflege 4 Sich kleiden: unterstützendes Vorbereiten für die Therapie 4 Ausscheidung: Toilettentraining – Versorgung bei unkontrollierter Ausscheidung 4 Atmung/Husten: atemerleichternde Lagerungen und Pneumonieprophylaxe

185 6.8 · Angehörigkeit

Fazit

4 Schlucken: optimale Sitzposition, Flüssigkeiten andicken, Essensvorbereitung und Unterstützung beim Essen Pflege in der Rehabilitation hat in erster Linie das Hinführen des Patienten zu einer möglichst großen Selbstständigkeit zum Ziel. Dies erfordert neben einer Pflegeanamnese eine zusätzliche sorgfältige Beobachtung des Patienten über 24 h im Stationsalltag. Hier können Differenzen zwischen Eigenwahrnehmung des Patienten und Fremdwahrnehmung durch die Pflegenden deutlich werden. So kann eine mangelnde Krankheitseinsicht nach gewissen Formen des Schlaganfalls die Gefahr einer ausgeprägten Selbstgefährdung für den Patienten bedeuten. Die Pflege wird so zum integralen und unverzichtbaren Bestandteil des Rehabilitationsteams. Die in den Einzeltherapien der Krankengymnastik, der Ergotherapie und der Logopädie geübten und wieder-erlernten Fertigkeiten werden durch die Pflege im Patientenalltag schrittweise umgesetzt und weiter geübt. Dieses »Aufbauen« ist die unabdingbare Voraussetzung für den Betroffenen, sich mit seiner Behinderung auseinandersetzen zu können, neue Perspektiven zu entwickeln und mit seinen Einschränkungen leben zu können. > Die Rehabilitationspflege übernimmt eine dem konventionellen Pflegeverständnis des bedingungslosen Helfens partiell widersprechende Aufgabe: Eigenverantwortung wecken und einfordern, Unmündigkeit erkennen und bekämpfen.

Durch regelmäßige Teilnahme an den Teamsitzungen bietet sich die Rehabilitationspflege als idealer Ansprechpartner für die einzelnen Mitglieder des therapeutischen Teams an. Nur das Pflegepersonal erlebt den Patienten im 24-h-Rhythmus und leistet so durch die mögliche Beobachtung des Patienten über den gesamten Tag und die Nacht hinweg eine wichtige ergänzende Aufgabe für den verantwortlichen Arzt und die Therapeuten. Diese Beobachtungen erlauben häufig Rückschlüsse auf die Effizienz und auf die Angemessenheit der verschiedenen tagsüber durchgeführten Therapiemaßnahmen sowie auf Unter- oder Überforderung des Betroffenen.

6

Die aktivierend-rehabilitative Pflege ist heute integraler Bestandteil der Rehabilitation, insbesondere in der Frühphase der Rehabilitation von Patienten mit ausgeprägten Funktionsdefiziten. Sie ist unverzichtbar in der Frührehabilitation im Akutkrankenhaus, der Rehabilitation nach Querschnittlähmung sowie nach schweren SchädelHirn-Verletzungen und anderen neurologischen Krankheitsbildern. Den Pflegekräften kommt eine zentrale Rolle in der 24-h-Beobachtung und -betreuung der Rehabilitanden zu. Neben der Durchführung bzw. Fortführung funktioneller Rehabilitationsmaßnahmen ist auch die Information des Rehabilitationsteams über beobachtete Funktionsdefizite von großer Bedeutung.

6.8

Angehörigenarbeit M. Gadomski

> Rehabilitation ist ohne die Zuwendung und Mitarbeit von Angehörigen oder Bezugspersonen oft nur bedingt erfolgreich. Die Integration der Angehörigen in das rehabilitative Geschehen erfordert aber auch, auf deren Probleme einzugehen.

6.8.1 Rehabilitation bei Patienten mit

schwerem erworbenem Hirnschaden In der Frühphase der Rehabilitation von Patienten mit schweren funktionellen Defiziten stellt die daraus oft resultierende schlechte seelische Verfassung ein Problem dar, das den Enderfolg aller rehabilitativen Bemühungen in Frage stellen kann. Die erschwerte oder ausgefallene Kommunikation bedeutet aber auch eine Einschränkung der explorativen Möglichkeiten mit fatalen Folgen für die Reorientierung. Viele dieser Patienten haben keine Möglichkeit mehr, sich von der Umwelt abzugrenzen und ihr »Ich« zu fühlen. Chaos und Unbegrenztheit führen dazu, dass sich dieser Patient immer mehr in sich selbst zurück zieht vor dem ihn umgebenden »Unbegreifbaren«. Hinzu kommt, dass das eingeschränkte intellektuelle Instrumentarium des schwer Hirngeschädigten die

186

6

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

Bewältigung des als traumatisierend Erlebten nicht zulässt. Dies führt zu Angst, die ihren Ausdruck in vegetativen Zeichen wie Schweißausbrüchen, Tachykardien u. ä., aber auch in panikartigen Unruhezuständen findet. Versetzt man sich in einen Menschen, der nicht weiß, wer er ist, wo er ist, der nicht begreifen kann, was und warum etwas mit ihm geschieht, so ist verständlich, dass eine solche Situation fast regelhaft in den Zustand zunehmender Regression einmündet oder in ein Verhalten, das von Unruhe und instinkthaften Abwehrmechanismen geprägt ist. Die Erfahrung hat gezeigt, dass medikamentöse Interventionen hier nur sehr bedingt wirksam sind, im Gegenteil die Situation oft verschlechtert. Dem Beispiel der Pädiatrie folgend bezieht man deshalb heute die Angehörigen eng in die Betreuung solcher Patienten ein. Aber auch Patienten in nicht so problematischer Situation brauchen über die Zuwendung der Ärzte, Pflegekräfte und Therapeuten hinaus Zuspruch und Ermutigung. ä Beispiel Ein 36-jähriger Patient erleidet auf der Straße einen kardiogenen Schock bei Kammerflimmern. Die Laienreanimation verläuft nicht optimal, die Ankunft des Notarztwagens verzögert sich um ca. 6 Minuten. Nach 12-maliger Defibrillation und hochdosierte Katecholamingabe gelingt die Reanimation. Durch den eingetretenen Hirnschaden verbleiben neben dem sensomotorischen Defizit in Form einer rechtsbetonten Tetraparese auch Störungen höherer Hirnfunktionen wie der Wahrnehmung, der Orientierung, der Konzentration und des Gedächtnisses. Die Rehabilitationsziele bestanden neben der Tonusregulation, der Verbesserung der Rumpfkoordination und der Mobilisation im Stand mit Übergang zur Gangschulung in der Verbesserung der Merkfähigkeit und Anbahnung der Partizipation. Die in den Rehabilitationsprozess einbezogene Ehefrau des Patienten unterstützte die Neuropsychologin und die Ergotherapeutin, indem sie konsequent mit Hilfe von Fotoalben, Besuchen von alten Freunden und Gesprächen das Altgedächtnis mit zunehmendem Erfolg förderte. Im Bereich des Kurzzeitgedächtnisses unterstützte sie die Rehabilitation durch Führen eines sog. Gedächtnistagebuches. Dies verbesserte zusammen mit der Ergotherapie die gestörte Handlungsplanung des Patienten. Schließlich half die emotionale Unterstützung der Ehefrau wesent-

lich bei der psychischen Stabilisierung des schwerstbetroffenen Patienten.

6.8.2 Funktion des Angehörigen im

therapeutischen Prozess Gestaltung eines angstfreien Milieus. Da ein desorientierter Patient alles Einwirken von außen angstvoll abwehrt, stellt ein angstfreies, vertrauensvolles Milieu nicht nur eine direkte entlastende Hilfe für den Patienten dar, sondern schafft durch die daraus resultierende Verbesserung der Aufnahmebereitschaft des Patienten auch die Basis für weitere rehabilitative Maßnahmen. Optimal ist es, wenn man diese Funktion des Angehörigen in Form eines Rooming-in gestalten kann, d. h. der Angehörige lebt rund um die Uhr über mehrere Tage oder Wochen mit dem Patienten zusammen. > Die erste und wichtigste Aufgabe des Angehörigen ist die Gestaltung eines angstfreien Milieus. Sprecher und Anwalt des Patienten. Auch heute noch

tritt trotz aller Bemühungen einer patientenbezogenen Medizin immer wieder die Situation ein, dass ein Patient zu sehr Objekt rehabilitativer Bemühungen ist und nicht die Energie oder die intellektuellen Fähigkeiten hat, seine wirklichen Probleme oder Bedürfnisse darzustellen. Hier sollte das Rehabilitationsteam dankbar sein, wenn ein Angehöriger vermittelt. Ein kluger und engagierter Angehöriger kann in enger Kooperation mit dem Rehabilitationsteam also auf verschiedenen Ebenen die Interessen des Patienten wahren. Diese Aufgaben sind außer bei Patienten mit schwerem erworbenem Hirnschaden natürlich auch für solche mit funktionellen Defiziten der verschiedensten Organe bzw. Organsysteme von Bedeutung. Kontakt mit der Außenwelt. Besser als jeder Experte ist

ein Angehöriger in der Lage, den Kontakt mit der Welt außerhalb der Rehabilitationsklinik aufrecht zu erhalten, einschließlich der Zuversicht bezüglich der privaten und beruflichen Perspektiven des Rehabilitanden. Der Angehörige als Cotherapeut. Auch bei den reha-

bilitativen Therapiemaßnahmen können Angehörige hilfreich sein. Ein geschickter Angehöriger kann therapeutische Maßnahmen (z. B. den Umgang mit der Trachealkanüle einschließlich des Absaugens, Blockens und Entblockens bei Patienten mit Schluckstö-

187 6.8 · Angehörigkeit

rungen) erlernen und diese außerhalb der offiziellen Therapiezeiten bzw. in der therapiefreien Zeit oder während der Langzeitversorgung zu Hause einsetzen. Auch die allgemeine Ausgestaltung der therapiefreien Zeit gelingt dem Angehörigen sicher besser als einer Fremdperson.

6.8.3 Voraussetzungen für den Einsatz der

Angehörigen in der Rehabilitation Wird der Angehörige solchermaßen intensiv in das rehabilitative Geschehen einbezogen, so muss man sich Gedanken um seine Befähigung für diese mühsame Aufgabe und seine schwierige Situation bzw. um seine eigenen Bedürfnisse machen. Die Möglichkeit eines Angehörigen am rehabilitativen Geschehen mitzuwirken, hängt nicht nur von seiner grundsätzlichen Bereitschaft und seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten, sondern auch von der Art der Beziehung ab, in der er zum Patienten steht. Lebte ein Angehöriger bisher schon in einem komplizierten Beziehungs- oder gar Spannungsverhältnis zum Patienten, so kann er nur bedingt hilfreich sein. Aber auch die Pflichten des Angehörigen außerhalb des Krankenhauses, die durch das zumindest zeitweilige Ausscheiden des Patienten aus seinen sozialen Aufgaben noch größer werden, können eine große Belastung für den Angehörigen darstellen. p Unterschätzt wird oft die Tatsache, dass ein Angehöriger zwangsläufig mitleidet. Der Anblick des Patienten in seinem Elend und das eigene Gefühl der Ohnmacht sind nur schwer zu ertragen.

6.8.4 Berücksichtigung der Probleme

des Angehörigen Der Angehörige ist aber auch oft selbst leidend, entweder durch vorbestehende Beziehungskonflikte mit dem Patienten oder organische Krankheiten, durch das Empfinden, den Partner verloren zu haben, die »bisherige Welt in Scherben« zu sehen, durch leidvolles Erleben oder Kränkungen während der voraus gegangenen Behandlung des Patienten. Dauert die Rehabilitation lange oder mündet sie aus in einen bleibenden, schweren Defektzustand mit lebenslanger Verantwortung des Angehörigen für »seinen« Patienten, so erleben viele

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der Angehörigen einen zunehmenden Verlust von Sozialkontakten als besonders gravierendes Problem. Folge sind Verlust- und Zukunftsängste, Depressionen und nicht selten Somatosierungen. Der »Cotherapeut« wird zum »Copatienten«. Die Krankheit des Einzelnen kann zur Krankheit der ganzen Familie oder des Freundeskreises werden. Besonderer Aufmerksamkeit bedarf deshalb die Interaktion des Angehörigen mit dem Rehabilitationsteam, da hier viele Reibungsflächen oder gar Sollbruchstellen liegen. Konflikte der oft erschöpften und verzweifelten Angehörigen mit den Behandlern sind geradezu vorprogrammiert. Besonders die Pflegekräfte und Therapeuten sind einer oft inadäquaten Erwartungshaltung des Angehörigen und der Übertragung von dessen eigenem Leid ausgesetzt. Zu einem späteren Zeitpunkt kann auch die Diskrepanz zwischen der Erfolgseinschätzung des Angehörigen und der des Patienten zum Problem werden. Die kritischste Situation tritt ein, wenn die Frage der Beendigung der rehabilitativen Bemühungen ansteht. Hat sich bis dahin kein Vertrauensverhältnis zwischen dem Angehörigen und dem Rehabilitationsteam, insbesondere den Ärzten entwickelt, kann die oft lange und mühevolle Zusammenarbeit in einer Katastrophe mit Enttäuschung und Verbitterung auf allen Seiten enden.

6.8.5 Hilfestellung für den

Angehörigen Will man Angehörige – wie oben dargestellt – aktiv in den rehabilitativen Prozess einbeziehen, sollten insbesondere die Ärzte, aber auch alle anderen Teammitglieder, Vorstellungen von den Problemen und Bedürfnissen der Angehörigen haben. > Als erstes muss man erkennen, wer aus dem Patientenumfeld hilfreich und ausreichend belastbar ist, oder wer vielleicht selbst geschützt oder gestützt werden muss. Voraussetzung für eine erfolgreiche Übernahme der vielen Funktionen durch den Angehörigen ist dann seine ausführliche Information und Einweisung in die für ihn fremde neue Rolle.

In jedem Fall sollte der aktiv in die Rehabilitation einbezogene Angehörige mehr oder weniger intensiv professionell begleitet werden. Dies muss häufig auch spä-

188

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Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

ter im Sinne ambulanter Psychotherapie fortgesetzt werden. Er muss befähigt, d. h. informiert, angeleitet, supervidiert und in die Teamarbeit eingebunden werden. Alle an der Rehabilitation Beteiligten sollten diesen Angehörigen – auch in seinen Problemen – ernst nehmen und respektvoll mit ihm umgehen. Die Mitarbeiter müssen deshalb im Umgang mit den Angehörigen geschult sein. Besondere Hilfestellung ist beim Wiederauflösen der engen, auch »cotherapeutischen« Beziehung der Angehörigen zum Patienten, beim »Loslassen« nötig, vor allem bei einer in der Rehabilitation künstlich erneuerten Mutter-Kind-Beziehung. Bei der Bewältigung (»coping«) des eigenen Leids und der während der Rehabilitation gemachten oft negativen Erfahrungen braucht der Angehörige Hilfe. Dies gilt besonders bei unbefriedigendem Rehabilitationsergebnis im Sinne der Vorbereitung des Angehörigen auf die lebenslange Rolle als Verantwortlicher und »Therapeut« des Patienten. Diese Hilfe sollte über die selbstverständliche menschliche Zuwendung durch alle an der Rehabilitation Beteiligten hinaus auch durch speziell qualifizierte Ärzte bzw. klinische Psychologen erfolgen. Fazit Angehörige können im Rehabilitationsprozess eine wichtige Rolle einnehmen. Sie sollten in das Rehabilitationsgeschehen gezielt einbezogen werden und können auch zur Übernahme spezifischer Funktionen angeleitet werden, z. B. im Bereich der basalen Stimulation, des Gedächtnistrainings und des Wiedererwerbs von Alltagsfunktionen. Wichtig ist auch die psychische Stabilisierung des Betroffenen. Da die Arbeit mit schwerstbetroffenen Patienten eine starke psychische Belastung darstellt, kann sie allerdings nicht von jedem Angehörigen geleistet werden. Daher muss ein eingehendes Gespräch mit den Angehörigen vorausgehen. Auch ein Eingehen auf die Probleme der Angehörigen sowie eine Hilfestellung durch das Rehabilitationteam ist für eine erfolgreiche Angehörigenarbeit wichtig.

6.9

Rehabilitative Hilfsmittel Chr. Gutenbrunner

6.9.1 Definition und Grundlagen > Die Rehabilitation beinhaltet auch die Versorgung mit Hilfsmitteln und technischen Hilfen. Die Versorgung bzw. Ausstattung mit Hilfsmitteln, technischen Hilfen und Körperersatzstücken soll dazu dienen, einer drohenden Behinderung vorzubeugen, eine bestehende Behinderung auszugleichen oder den Erfolg einer Behandlung zu sichern.

Medikomechanik In der Physikalischen Medizin wird Behandlung von Patienten unter Einsatz technischer Geräte als Medikomechanik bezeichnet. Sie ist definiert als die funktionelle Behandlung mit mechanischen Therapiegeräten und die Anwendung krankengymnastischer Hilfsmittel. Beispiele für solche Therapiemittel in der Physikalischen Medizin sind: 5 Motorschienen für die kontinuierliche passive Bewegung von Gelenken 5 Sequenztrainingsgeräte in der Medizinischen Trainingstherapie und Sporttherapie (7 Kap. 3.3) 5 Schlingentisch, Extensionsgeräte und weitere krankengymnastische Hilfsmittel (Pezzi-Ball, Trampolin, Kreisel, Wackelbrett, Schwingplatte, Sprossenwand, Kletterseil, Therapiebänder) 5 Hilfsmittel der Ergotherapie wie Schienen, Bandagen, funktionelle Verbände, Transferhilfen und verschiedene weitere Übungsgeräte 5 Dynamische Orthesen zur Unterstützung von Bewegungsfunktionen 5 Kompressionshilfsmittel, Kompressionsverbände Da die Therapiegeräte der Krankengymnastik, Medizinischen Trainingstherapie und Ergotherapie sowie die Therapiemittel zur Kompressionstherapie Bestandteil der jeweiligen Therapien sind, werden sie – wo relevant – in den entsprechenden Teilkapiteln dieses Buches beschrieben (7 Kap. 3.1, 3.2, 3.3 und 3.6).

In der Rehabilitation kommen vor allem solche Hilfsmittel zum Einsatz, die spezifische Aktivitäten erleichtern oder ermöglichen:

189 6.9 · Rehabilitative Hilfsmittel

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4 Hilfen für Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL; An- und Ausziehhilfen, Ess- und Trinkhilfen, Hilfsmittel im hygienischen Bereich) 4 Hilfsmittel zur Mobilität (Unterarmgehstützen, Gehstock, Rollator, Gehwagen, Rollstühle, Treppenraupen, Behindertenkraftfahrzeuge) 4 Hilfsmittel zur Kommunikation (Schreibhilfen, Lesehilfen, Notrufeinrichtungen, elektronisch gesteuerte Kommunikationshilfen) 4 Prothesen

gen oder Bücken können, ohne fremde Hilfe ermöglicht werden. Auch das Anziehen von Hosen oder Röcken gelingt nach demselben Prinzip, in dem an den Bändern Klammern zum Greifen des Bundes angebracht werden. Ein sehr einfaches Hilfsmittel zum Schuhe anziehen ist ein Schuhlöffel mit verlängertem Griff.

6.9.2 Hilfen für Aktivitäten

Wichtige Ess- und Trinkhilfen (. Abb. 6.11) neben der aus der Pflege bekannten Schnabeltasse sind Griffverdickungen an Messer und Gabel sowie angewinkeltes Essbesteck. Weitere Hilfsmittel für alltägliche Verrichtungen sind z. B. Messer mit Griffführung, die das Schneiden ohne Ulnarabduktion ermöglichen, Scheren mit Öffnungsfeder, die im Zangengriff bedient werden können, Griffzangen zum Öffnen von Schraubverschlüssen und Tubenöffner oder Griffverdickungen an Schreibstiften aus Kork oder Kunststoff.

des täglichen Lebens Hilfsmittel, die die Aktivitäten des täglichen Lebens unterstützen, können alle relevanten Bereiche der Rehabilitation betreffen. Sie werden meist im Rahmen der Ergotherapie abgegeben, da ihr Gebrauch meist angeleitet und/oder geübt werden muss. Ein Beispiel für An- und Ausziehhilfen sind Strumpf- und Schuhanziehhilfen (. Abb. 6.10). Das Anziehen von Strümpfen kann z. B. durch eine abgerundetes flexibles Kunststoffteil, das mit 2 Bändern versehen ist, auch für Patienten, die sich nicht Vorbeu-

! Hilfreich sind Greifzangen mit verlängerten Griffen, mit denen auf den Boden gefallene Gegenstände wieder aufgehoben werden können, ohne dass der Patient sich bücken muss.

ä Beispiel Ein 42-jähriger Zollbeamter erlitt ein Polytrauma im Rahmen einer Zollfahndungsaktion. Betroffen waren zahlreiche Rippen, der rechte Unterarm proximal und distal, beide Oberschenkel und beide Unterschenkel. Durch die komplizierten Frakturen war über Monate

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. Abb. 6.10. Strumpfanziehhilfe

. Abb. 6.11. Hilfsmittel zum Essen: Brett zum Fixieren von Nahrungsmittel, z. B. für das einhändige Zerschneiden, Telleranderhöhung als Widerlager beim Auffüllen auf den Löffel, Fixierung des Bestecks an der Hand bei fehlender Greiffunktion, Griffverdickungen und Abwinkelungen an Messern, Gabeln und Löffeln

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Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

keine Belastung beider unterer Extremitäten möglich, da eine Teilentlastung durch die gleichzeitige komplizierte Verletzung des rechten Armes unmöglich war. Verordnet wurden eine Handgelenksstützmanschette und eine zusätzliche Griffverdickung an Gabel, Messer, Löffel und Stift. Hierdurch konnte der Patient von Seiten des rechten Armes zunehmend selbstständig essen und auch andere Aktivitäten des

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täglichen Lebens weitgehend ohne fremde Hilfe durchführen. Die durch die lange Ruhigstellung aufgetretene Spitzfußstellung im Bereich des linken Fußes wurde durch eine Fersenerhöhung von insgesamt 3,5 cm ausgeglichen, sodass im Verlauf der Rehabilitation die weitgehend fixierte Spitzfußstellung bei der schrittweisen Wiederaufnahme der Vollbelastung auf beiden Beinen kein Handicap mehr war. Beide Hilfsmittel konnten im weiteren Verlauf der Rehabilitation schrittweise abgebaut werden, da die Dorsalextension im oberen Sprunggelenk verbessert und im Bereich eine zunehmende Fingerbeweglichkeit der rechten Hand erreicht werden konnte.

a

6.9.3 Hilfsmittel zur Mobilität Hilfsmittel zur Mobilität können im Rehabilitationsprozess vorübergehend (z. B. bei Endoprothesenimplantation und bei Zustand nach Schlaganfall) oder auch auf Dauer verordnet werden (z. B. nach Querschnittlähmung). p In vielen Fällen ist es wichtig, die Patienten zum Gebrauch der Mobilitätshilfen speziell zu motivieren. Gehstöcke oder Rollstühle werden oft mit bleibender Behinderung assoziiert und daher – auch wenn sie medizinisch zum vorübergehenden Gebrauch oder zur Überwindung längerer Distanzen indiziert sind – von den Patienten abgelehnt.

Unterarmgehstützen. Unterarmgehstützen dienen ei-

nerseits zur Entlastung verletzter Gelenke oder zur Entlastung bzw. Teilentlastung bei noch nicht belastungsstabilen Frakturen der unteren Extremitäten. Sie können auch bei Arthritiden und aktivierten Arthrosen indiziert sein. Das Gehen mit Unterarmgehstützen muss von Krankengymnasten angeleitet und eingeübt werden. Dabei gibt es unterschiedliche Schrittfolgen, die sich in Bezug auf ihre Gewichtsentlastung unter-

b . Abb. 6.12a, b. Zwei- und Dreipunktegang mit Unterarmgehstützen. a Gehen mit wechselseitigem Aufsetzen der Gehstützen auf der jeweils kontralateralen Seite (Zweipunktegang). b Aufsetzen beider Gehstützen synchron zum Abrollen des betroffenen Beins (Dreipunktegang). Der Dreipunktegang führt naturgemäß zu einer stärkeren Entlastung des betroffenen Beins, bedeutet aber einen weniger physiologischen Bewegungsablauf

scheiden (. Abb. 6.12). Da die Gewichtsentlastung über den Schultergürtel in jedem Fall einen hohen Kraftaufwand bedeutet, müssen nach Möglichkeit die Schultermuskulatur gekräftigt und ggf. eingetretene überlastungsbedingte Verspannungen mitbehandelt werden. Wenn im Rahmen der Nachbehandlung von Totalendoprothesen eine bestimmte Entlastung (z. B. 50% des Körpergewichtes) erforderlich ist, muss die Dosierung der Entlastung auf dem Zwei-Waagen-Brett (7 Kap. 2.3) geübt werden.

191 6.9 · Rehabilitative Hilfsmittel

6

der afferente Schenkel, die zentralnervöse Verarbeitung, als auch der efferente Schenkel der Sensomotorik gestört sein kann.

Rollator. Rollatoren und Gehwagen haben im Prinzip

die gleichen Wirkungen wie Gehstöcke, bieten jedoch durch die zweiseitigen Griffe und die durch die 4 Rollen gewährleistete Stabilität eine noch höhere Sicherheit. Außerdem können mit dem Gehwagen auch leichtere Lasten transportiert werden. . Abb. 6.13. Anatomische Handgriffe von Unterarmgehstützen

p Bei planbaren Operationen empfiehlt es sich den Gebrauch von Unterarmgehstützen bereits vor der Operation zu üben. Bei Patienten mit Arthritiden oder Arthrosen müssen zur Vermeidung von Beschwerdeverschlechterungen in Bereich der Handwurzeln Unterarmgehstützen mit anatomisch geformten Handgriffen verordnet werden (. Abb. 6.13). Gehstock. Eine nennenswerte Gewichtsentlastung

durch (einseitige) Gehstöcke (Handstöcke) ist nicht möglich. Gehstöcke dienen daher vor allem zur Verbesserung der Gangsicherheit bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen, Instabilitäten und Givingway-Symptomen (s. u.) im Rahmen von Muskel- und Gelenkerkrankungen sowie altersbedingten Gangunsicherheiten. Der durch den Gehstock vermittelte zusätzliche Bodenkontakt wirkt dabei über eine Verbesserung des sensorischen Inputs. So ist aus der Neurophysiologie bekannt, dass bei Störungen der Gleichgewichtsregulation diese durch zusätzliche sensorische Informationen verbessert werden kann, was sich auf die Gangsicherheit positiv auswirkt. »Giving way« Veränderungen propriozeptiver Funktionen bei verletzten, entzündeten oder degenerativ veränderten Gelenken der unteren Extremität führen zu einem Missverhältnis zwischen der zur Gelenkstabilisation notwendigen und tatsächlichen Muskelanspannung. Die Folge ist oft ein plötzliches unbewusstes Wegknicken der Beine, was als »giving way” bezeichnet wird. Ähnliches gilt für neurologische Erkrankungen, bei denen sowohl

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Rollstuhl. Rollstühle können sowohl zur vorüberge-

henden Entlastung bei Erkrankungen oder nach Unfällen der unteren Extremitäten dienen als auch bei dauerhaft gehunfähigen Patienten eine Mobilität herstellen. > Die Technik des Rollstuhlfahrens muss therapeutisch angeleitet und eingeübt werden (z. B. Fahren über Bordkanten, auf unebenem Untergrund sowie auf Steigungen und Gefällen). Wichtig ist auch die Auswahl und Anpassung geeigneter Rollstühle durch geschultes Personal. Dabei müssen neben dem Krankheitsbild auch die Rumpfstabilität des Betroffenen, seine motorischen Fähigkeiten und das Mobilitätsziel (Alltagsgebrauch, Sport) berücksichtigt werden. Nach den individuellen Gegebenheiten muss auch die Antriebsart (Reifen-, Handkurbel-, Motorantrieb) ärztlich verordnet werden. Bei Patienten, die den Rollstuhl dauerhaft nutzen, sowie bei älteren Menschen ist die Sitzgestaltung wichtig, um Druckspitzen und in der Folge Dekubitalgeschwüre zu vermeiden.

Behindertenfahrzeug. Spezielle Fahrzeuge gehören ebenfalls zu den Mobilitätshilfen und können im Rahmen der Rehabilitation angepasst und verordnet werden, des Weiteren behindertengerechte Umbauten am PKW (z. B. Handgas, handgesteuerte Bremsen).

6.9.4 Hilfsmittel zur Kommunikation Je nach Art der Einschränkung der Kommunikationsfähigkeit gibt es heute zahlreiche, sehr unterschiedliche Kommunikationshilfen: 4 Notrufeinrichtungen für Menschen mit motorischen Einschränkungen.

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6

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

4 Schreibhilfen: Sie reichen von den schon erwähnten Griffverdickungen von Schreibgeräten bis hin zu speziellen Schreibmaschinen und Computern. 4 Lesehilfen, z. B. Lupen oder behindertengerechte Gestaltung des Computerbildschirms (z. B. barrierefreie Internetseiten). Die Blindenschrift steht heute nicht nur als fest geprägte Schriftzüge (Hinweistafeln, Bücher, Zeitschriften), sondern auch als Computertastaturen zur Verfügung. 4 Behindertengerechte Telefone mit ausreichend großen Tasten oder Sprachsteuerung. Bei der Konstruktion von entsprechenden Mobiltelefonen besteht noch ein Nachholbedarf. Barrierefreie Internetseiten Nach der Behinderten- Informationstechnik-Verordnung ist es in Deutschland seit 2002 vorgeschrieben, dass öffentliche Internetseiten barrierefrei zu gestalten sind. Die Gestaltung muss eine klare Navigationsstruktur, eine klare Trennung von Inhalten und Layout, eine durchgehende Beschriftungen von Tabellen, klare Erklärungen, Geräteunabhängigkeit und eine kontrastreiche, für farbenblinde Menschen geeignete Farbwahl u. a. enthalten.

Die Prothesenversorgung muss in speziell weitergebildeten multiprofessionellen Teams erfolgen und bedarf einer hohen Akzeptanz durch den Betroffenen sowie einer sehr engen und vertrauensvollen Kommunikation zwischen ihm und dem Prothesenteam. Die Prothesentechnik hat sich in Bezug auf Materialien (geringeres Gewicht, höhere Stabilität) und Konstruktion der Gelenke (verbesserte Mechanik mit physiologischeren Bewegungsabläufen, computergestützte Gelenkführung) stark weiterentwickelt. Deswegen ist eine enge Kooperation mit Orthopädiemechanikern und Prothesenherstellern unerlässlich.

6.9.6 Weitere therapeutische Hilfsmittel

Während in Deutschland die Versorgung mit Prothesen meist von Orthopäden durchgeführt wird, ist sie in anderen Ländern zentraler Bestandteil der Physikalischen Medizin und Rehabilitation. Zu einer adäquaten Prothesenversorgung gehören: 4 Stumpftherapie 4 Auswahl und Adaptation eines adäquaten Prothesenmodells 4 Kräftigung der proximalen (Rest-)Muskulatur 4 Üben des Prothesenganges 4 Anleitung zur Stumpf- und Prothesenpflege 4 Überprüfung der häusliche Situation, ggf. Anpassung

Das Spektrum therapeutischer Schienen (Orthesen) ist heute sehr breit. Zahlreiche Schienentypen werden von der Industrie als Fertigprodukte angeboten, andere werden von Ergotherapeuten (7 Kap. 3.2) oder Orthopädietechnikern speziell angefertigt. Wichtige Therapieprinzipien sind: 4 Stützung und Entlastung von Gelenken und/oder Ligamenten (z. B. Handgelenksstützbandagen bei rheumatischen Erkrankungen und als Nachtschienen bei Karpaltunnelsyndrom) 4 Begrenzung von Bewegungen zur Entlastung (z. B. die sog. Braces, also bewegliche Schienen, die eine eingeschränkte Bewegung zulassen und u. a. nach Kreuzbandoperationen am Knie verwendet werden) 4 Ausgleich passager oder endgültig verlorener motorischer Funktionen (z. B. Verbesserung der Fußhebung beim Gehen durch Peronäusschienen) 4 Verhindern von Gelenkfehlstellungen (z. B. Handschienen zur Korrektur von Achsabweichungen und Gelenksubluxationen bei entzündlichrheumatischen Gelenkerkrankungen oder redressierende Rumpforthesen in der Skoliosetherapie) 4 Training bestimmter Bewegungsfunktionen durch spezielle dynamische Schienen (7 Kap. 3.2)

> Eine wichtige Voraussetzung für die Prothesenversorgung ist die Behandlung und Pflege des Stumpfes. Sie umfasst je nach individueller Situation manuelle Lymphdrainage, Kompressionstherapie (Silikonliner), Normalisierung der Durchblutung (inkl. Mikrozirkulation, z. B. durch CO2-Teilbäder), Narbenbehandlung und Hautpflege.

Als dynamische Orthesen werden solche körpernahen Hilfsmittel bezeichnet, die ein Gelenk oder einen Wirbelsäulenabschnitt nicht passiv stützen, sondern durch gezielte Druckausübung muskuläre Stabilisationsmechanismen reflektorisch anregen. Indikationen können funktionelle und degenerative Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen sein, insbesondere, wenn die Be-

6.9.5 Prothesenversorgung

193 6.10 · Schmerztherapie

6

Vorteil solcher Orthesen ist es vor allem, dass sie keine Muskelatrophien bewirken. Darüber hinaus vermitteln sie den Patienten ein als sehr angenehm empfundenes Sicherheitsgefühl, lindern den Schmerz und steigern die Belastbarkeit. Motorschienen dienen bei Verletzungen von Gelenken zum kontinuierlichen passiven Durchbewegen eines oder mehrerer Gelenke. Ziel ist es, die Beweglichkeit im möglichen bzw. erlaubten Bewegungsbereich zu erhalten und immobilisationsbedingte Kontrakturen und Kapselschrumpfungen zu verhüten. Sie können auch zum häuslichen Gebrauch verordnet werden und sind mehrmals täglich zu benutzen. Sie können aktive krankengymnastische Übungen ergänzen, aber in keinem Fall ersetzen. . Abb. 6.14. Dynamische Knieorthese mit infrapatellarer Druckausübung zur Verbesserung des propriozeptiven Inputs (Werkphoto Sporlastic)

schwerden belastungsabhängig auftreten (Retropatellararthrosen, Chondropathia patellae, chronische Lumbalsyndrome, Epikondylopathien u. a.). ä Beispiel Ein 31-jähriger Patient, 195 cm groß und 90 kg schwer, leidet unter einer Hämophilie A mit schwerer Arthropathie beider Kniegelenke. Röntgenologisch liegt eine auksgeprägte Panarthrose mit weitgehendem Aufbrauch der Gelenkknorpel einschließlich des Retropatellargelenks vor. Funktionell ist nur ein Zehengang bei stark eingeschränkter Kniebeweglichkeit von 0–40–110° rechts und 0–30–85° links möglich. Die Basistherapie besteht in Krankengymnastik (Gelenkmobilisierung, Muskelkräftigung, Haltungsund Gangschulung), detonisierende Muskelmassagen und Wärmeanwendungen beider Oberschenkel und Kniee. Zusätzlich wird eine Patellarsehnenbandage verordnet (. Abb. 6.14), die zur Anpassung an die veränderte Knieanatomie im Pelottenansatzwinkel modifiziert worden ist. Der Patient berichtet über eine Verdoppelung der schmerzfreien Gehzeit von ca. 15 auf 30 min, eine verbesserte Ausdauer (z. B. beim Einkaufen), das subjektive Gefühl, größer zu sein (verbesserte Rumpfaufrichtung) sowie einen vorübergehenden Muskelkater. Der objektive Kniegelenksbefund ist erwartungsgemäß unverändert.

Fazit In der Rehabilitation dienen Hilfsmittel zur Unterstützung von Alltagsfunktionen bei Menschen mit Behinderungen. Sie umfassen Geräte zur Vereinfachung von Alltagsfunktionen wie Essen (z. B. abgewinkeltes Besteck, Fixierbretter) oder Anziehen (Schuh- und Strumpfanziehhilfen), zur Erleichterung der Mobilität (Gehstöcke, Rollstühle) und zur Kommunikation (Schreib- und Lesehilfen, behindertengerechte Telefone). Auch therapeutische Schienen (Orthesen) und Prothesen gehören zur rehabilitativen Hilfsmittelversorgung

6.10

Schmerztherapie P. Schöps

6.10.1 Definition und Grundlagen > Nach der Definition der »International Association for the Study of Pain« (IASP) ist Schmerz ein »unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktuellen oder potenziellen Gewebeschädigungen verknüpft ist oder mit Begriffen solcher Schädigungen beschrieben wird«.

Diese Charakterisierung beinhaltet, dass Schmerz mehr als eine reine Sinnesempfindung ist, nämlich ein Sinnes- und gleichzeitig ein meist unlustbetontes Gefühlserlebnis. Weiter wird festgehalten, dass Schmerzen auftreten können, wenn Körpergewebe so stark gereizt

194

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

wird, dass es zerstört zu werden droht. Der letzte Teil der Definition hebt hervor, dass zwar alle Schmerzen so erlebt werden (können), als ob Gewebe zerstört wird oder zerstört zu werden droht, dass es aber für das Schmerzerleben völlig unwichtig ist, ob eine solche Gewebeschädigung tatsächlich stattfindet. Mit diesem letzten Teilaspekt der Schmerzdefinition wird vor allem gewährleistet, dass in einem vor allem organmedizinisch orientierten Gesundheitssystem auch die Schmerzen von Patienten mit somatoformen Schmerzstörungen bzw. psychisch induzierten Schmerzen als leidvolle Empfindung anerkannt werden.

6

> Schmerzen können den Verlauf der Rehabilitation massiv behindern und ihren Erfolg in Frage stellen. Daher ist eine suffiziente Schmerztherapie in der Rehabilitation essenziell für den Rehabilitationserfolg.

Schmerzen im Bewegungsapparat z. B. bei Entwicklung heterotoper periartikulärer Ossifikationen, neuropathische Schmerzen (7 Kap. 6.6) oder auch somatoforme Schmerzen behindern die Mobilisation in der Frührehabilitation. Darüber hinaus beeinträchtigen sie die Aufmerksamkeit, dämpfen die Motivation und stehen dem Aktivieren und Lernen im Weg. Wichtig ist auch das Verhindern der Schmerzchronifizierung, die wegen ihrer psychischen Auswirkungen und der bekannten Umstellungen der Schmerzverarbeitung (s. u.) nur mit großem Aufwand in multidisziplinären Programmen zurückgeführt werden kann. Auch in der weiterführenden Rehabilitation steht die Schmerzbekämpfung häufig im Zentrum. Sie stellt für die Betroffenen häufig das zentrale Rehabilitationsziel dar. Die Unterteilung in akute und chronische Schmerzen orientierte sich ursprünglich an der Zeitdauer. So definierte die IASP das Vorliegen einer Chronizität bei einer kontinuierlichen Schmerzdauer von mehr als 6 Monaten. Es hat sich jedoch gezeigt, dass sich akute und chronische Schmerzen noch durch zahlreiche andere Faktoren unterscheiden. Akuter Schmerz. Die Ursache für akute Schmerzen

sind häufig Traumata, akute Erkrankungen oder eine Operation, also ein die Integrität eines Gewebes bedrohender Reiz. Akute Schmerzen können auch bei bereits entstandenen Gewebeschäden auftreten, z. B. bei Entzündungen, und lösen dann ein sinnvolles Schonverhalten aus. Der Schmerz ist meist von den Patienten gut lokalisierbar und zeigt im Verlauf eine progredien-

te Besserung. Akuter Schmerz dient immer als Warnsignal um den menschlichen Organismus vor weiteren Schäden zu schützen. Die Einschränkungen im psychosozialen Bereich sind nur vorübergehend und verursachen im Allgemeinen keine psychischen Veränderungen. Chronischer Schmerz. Im Vergleich zum akuten Schmerz ist die Ursache beim chronischen Schmerz häufig nicht mehr feststellbar, manchmal zentral bedingt und nahezu regelhaft von psychosomatischen Symptomen begleitet. Der Schmerz wird multilokulär, diffus, wandernd oder als »überall« beschrieben. Der Verlauf bleibt trotz zahlreicher Behandlungsversuche unverändert bzw. zeigt teilweise nach Therapieende eine progrediente Verschlechterung. Chronische Schmerzen besitzen keine Warnfunktion und erscheinen deshalb den Patienten zu Recht als sinnlos. Es entstehen Gefühle wie Hoffnungslosigkeit, Furcht und Verzweiflung. Typischerweise wird eine Vielzahl von Ärzten und Spezialisten aufgesucht und alle denkbaren Diagnostiken und therapeutischen Verfahren angewandt. Die Lebensqualität ist erheblich reduziert, der schmerzbedingte Rückzug aus der Gesellschaft kann zum Verlust des Arbeitsplatzes sowie familiärer und freundschaftlicher Bindungen führen. Die dadurch erreichte soziale Isolation begünstigt das Auftreten von Depressionen. Chronische Schmerzen sind meist Ausdruck einer Fehlfunktion und haben jede physiologische Bedeutung verloren. Man spricht daher besser von einer Schmerzkrankheit. Bei Patienten mit chronischen Schmerzen geht es nicht nur um die Behandlung von Schmerzen, sondern um das Management der Schmerzerkrankung. Das Therapieregime muss dabei mehrere Ebenen gleichzeitig berücksichtigen: medikamentöse, lokalanästhesiologische und physikalisch-medizinische Verfahren sowie psychosoziale Schmerzbewältigungsstrategien. Die Erörterung und Darlegung eines Therapieplans, die Anbahnung insbesondere psychosozialer Einflussmöglichkeiten sowie die Miteinbeziehung der Eigenverantwortlichkeit sind an einen Konditionierungsprozess gebunden, der eine intensive Betreuung und Begleitung erfordert, keine passive ärztliche Behandlung. Zu einer umfassenden Schmerzrehabilitation gehören 4 die physikalisch-medizinische Schmerztherapie mit dem Ziel der Beseitigung von Funktionsstörun-

195 6.10 · Schmerztherapie

gen an den betroffenen Organsystemen sowie der direkten Analgesie und einer vegetativen Äquilibrierung, 4 die medikamentöse Schmerztherapie zur möglichst vollständigen Beseitigung der Schmerzen einschließlich der Verhinderung zentralnervöser Chronifizierungsmechanismen und 4 die psychologische Schmerztherapie zur Behandlung schmerzverstärkender psychischer Prozesse und Verhaltensweisen sowie zur Krankheitsbewältigung.

6.10.2 Physikalisch-medizinische

Schmerztherapie Physikalisch-medizinische Schmerztherapie interveniert nach den ICF-Kriterien auf der Ebene der Strukturschädigung, der Fähigkeitsstörung und der sozialen Interaktion (7 Kap. 4.1). Im Folgenden werden nur diejenigen Verfahren vorgestellt, die einen direkten oder auch indirekten schmerzmodulierenden Effekt besitzen und sich in der Schmerztherapie bewährt haben (ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben). Da die hier erwähnten Behandlungsmethoden in den entsprechenden Therapiekapiteln bereits ausführlich beschrieben sind, werden sie an dieser Stelle nur kurz angesprochen. > Von besonderer Bedeutung in der Therapie chronischer Schmerzen sind multimodale Behandlungs- bzw. Rehabilitationsprogramme, die sowohl medikamentöse, physikalisch-medizinische und psychotherapeutische Interventionen einschließen und auf alle Dimensionen des Schmerzgeschehens und -erlebens einschließlich der psychosozialen Wechselwirkungen abzielen.

Krankengymnastik Unter den physikalischen Therapieverfahren spielt die Krankengymnastik (7 Kap. 3.1) eine zentrale Rolle in der Schmerztherapie. Sie hat dabei folgende Ziele: 4 Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit 4 Stärkung der Kraft/Ausdauerbelastung 4 Verbesserung der Koordination 4 Steigerung der allgemeinen körperlichen Leistungsfähigkeit 4 Verbesserung der Körperwahrnehmung 4 Harmonisierung von Bewegungsabläufe

6

4 Funktionserhaltung, -verbesserung, -kompensation und -anpassung 4 Erarbeitung von Fähigkeiten Bei chronischen Schmerzen sollten die physiotherapeutischen Behandlungsmethoden in Kombination mit medikamentösen, psychosozialen und ggf. ergänzend interventionellen Maßnahmen in ein multimodales Programm eingebettet sein, das alle beschriebenen Schmerzkomponenten berücksichtigt. So beruht der Grundgedanke der sog. multimodalen Behandlungsprogramme zur Therapie chronischer Rückenschmerzen auf der Erkenntnis, dass Rückenschmerzen durch die Beeinflussung und Wechselwirkung von biomechanischer Dysfunktion, physischem Konditionsabbau und psychosozialen Stressoren zur chronischen Beeinträchtigung führen. > Vordringliches Therapieziel ist, neben der Wiederaufnahme körperlicher Aktivitäten und der Übernahme von Verantwortung durch die Betroffenen, Analgetika sowie die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen zu reduzieren und letztendlich die berufliche Tätigkeit wieder aufzunehmen.

Dementsprechend sollen durch solche Programme Beweglichkeit, Kraft, Ausdauer und Koordination verbessert, Kenntnisse über ergonomisches Verhalten am Arbeitsplatz und im Alltag vermittelt, die psychische Beeinflussung und Belastung durch den Schmerz und seine Folgen verringert und die allgemeine Aktivität gestärkt werden. Die Effektivität eines solchen Vorgehens in Bezug auf die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit ist wissenschaftlich belegt. Manuelle Medizin Das gemeinsame Ziel der manuellen Therapiemethoden (7 Kap. 3.4) ist, die arthromuskuläre Gelenkbeweglichkeit wieder herzustellen. Auch diese Methoden sollten bei chronischen Schmerzen mit anderen Therapieverfahren bzw. Techniken, wie z. B. der Krankengymnastik oder der therapeutischen Lokalanästhesie (7 Kap. 3.14), kombiniert werden. ä Beispiel Ein 28-jähriger Dackdecker hatte sich anlässlich eines Sturzes eine HWK-5/6-Luxationsfraktur zugezogen ohne neurologische Ausfälle, jedoch mit ausgepräg-

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Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

tem ligamentärem Schaden. Nach operativer Versorgung mittels Reposition und ventraler Fusion des Bewegungssegmentes HWK 5/6 waren in der Folge massive Schmerzen verblieben, die der Betroffene insbesondere im Bereich der oberen BWS, teilweise ausstrahlend bis in die untere BWS, beschrieb. Sie traten bei jeder Vorneigung des Kopfes und bei Seitneigung sowie Drehbewegung des Kopfes auf. In Ruhe bestanden die Schmerzen nicht. Sie wurden auch nicht durch medikamentöse Behandlung beeinflusst. Eine eingehende klinische Untersuchung unter manualdiagnostischen Aspekten ergab den dringenden Verdacht auf durale Verklebungen in der Verletzungsetage mit entsprechenden heftigen duralen Reizzeichen bei entsprechenden Bewegungen des Kopfes. Eine Rückkehr in seinen Beruf als Dachdecker war bei der beschriebenen Schmerzsymptomatik nicht vertretbar. Es folgte eine intensive physiotherapeutische Behandlung mit gezielten Mobilisationstechniken der Dura mater in der Technik nach Butler. Hierbei wird der Patient so gelagert, dass es zu einer maximalen Dehnung der Dura mater und des N. ischiadicus kommt (allerdings stets unterhalb der Schmerzgrenze!). Durch zusätzliches vorsichtiges weiteres »Mobilisieren« z. B. der Halswirbelsäule oder des Fußes kann die Gleitfähigkeit des Nervengewebes im umgebenden Bindegewebe verbessert werden. Am Ende der 3-wöchigen Behandlung war der Patient in der Lage, den Kopf bis zu einem Kinnbrustbeinabstand von 2 cm ohne Schmerzen zu flektieren, desgleichen eine Rotation von 80° nach beiden Seiten und eine Seitneigung von 25° nach beiden Seiten durchzuführen, ohne dass die ursprünglich beklagten einschießenden Schmerzen in der Brustwirbelsäule wieder auftraten.

Neben der direkten mechanischen Einflussnahme auf Haut, Unterhautmuskulatur und tiefer liegenden Gewebe wird der Massage (7 Kap. 3.5), in Abhängigkeit von der gewählten Technik, auch eine indirekte, nervalreflektorische Auswirkung auf innere Organe, auf den Stoffwechsel, den Kreislauf und den Lymphstrom zugeschrieben. Die therapeutischen Ziele der sog. klassischen Massage konzentrieren sich im Wesentlichen auf eine Verbesserung der Mikrozirkulation, der Beseitigung einer regionalen Gewebsischämie, der Ödemreduktion und der Detonisierung schmerzhafter Muskelverspannungen bzw. Muskelhärten. Die Massagetech-

niken sollen nicht isoliert angewandt werden. Erst durch eine sinnvolle Kombination, eventuell unter zusätzlichem Einsatz dehnender oder mobilisierender Techniken, wird ein verbesserter Behandlungseffekt erzielt. Wärme- und Kältetherapie Die Wärme- und Kältetherapie (7 Kap. 3.8) nimmt nach wie vor einen festen Platz in der Schmerztherapie ein. Bei der Wärmeapplikation sind physiologische Gefäßreaktionen und die Dehnbarkeit bindegewebiger Strukturen sowie eine muskeldetonisierende Wirkung wesentlich am analgetischen Effekt der Wärme beteiligt. Bei der Kältetherapie wird in der Schmerzbehandlung zwischen eine Kurzzeit- und einer Langzeitkryotherapie unterschieden: Die Kurzzeitkälte sollte nicht länger als 3–5 min dauern, wo hingegen die Dauer der Langzeitkälte nach 3–5 min beginnt und in Form einer Intervallbehandlung bis zu einer Stunde betragen kann. Lokaler Wärmeentzug beeinflusst im Wesentlichen die Vasomotorik der Haut- und Muskelgefäße, die Entladungsfrequenz kältesensitiver Rezeptoren, die Leitungsgeschwindigkeit von Nervenfasern und den Muskeltonus. Elektrotherapie Von den zahlreichen Verfahren der Elektrotherapie (7 Kap. 3.7) besitzen die Gleichstromtherapie (Galvanisation) und die Anwendung niederfrequenter Impulsströme nachgewiesenermaßen einen direkten analgetischen Effekt bzw. eine analgetische Nachwirkung. 4 Bei der Gleichstromtherapie soll die gesamte schmerzhafte Region, einschließlich des Ausstrahlungsgebietes mit einbezogen werden. Dementsprechend verwendet man großflächige metalloder graphitierte und damit leitfähige Gummielektroden. 4 Unter Niederfrequenzstromtherapie versteht man die Anwendung von Stromformen, die geeignet sind, an Nerven- und Muskelfasern Aktionspotenziale auszulösen. Durch die Niederfrequenz können sowohl die afferenten als auch die efferenten Nervenfasern direkt gereizt werden. 4 Für die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) verwendet man kleine, batteriebetriebene, tragbare Stimulationsgeräte, die ein- oder zweikanalig über kleinflächige Klebeelektroden meist Rechteckimpulse von 0,1 ms Dauer kontinuierlich oder intermittierend in Gruppen abgeben.

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197 6.10 · Schmerztherapie

4 Massage: zwischen 20 und 40 min, 2-mal pro Woche

Angestrebt wird ein erträgliches Kribbeln (Stromgefühl) ohne reizwirksame Muskelbeteiligung. p Die TENS-Therapie hat in der Schmerztherapie nicht nur wegen ihrer guten klinischen Wirkungen eine besondere Bedeutung, sondern auch, weil sie mit kleinen tragbaren Geräten auch im Alltag angewendet werden kann.

6.10.3 Medikamentöse Schmerztherapie Bei der medikamentösen Therapie chronischer Schmerzen ist anders als bei der Therapie akuter Schmerzen die orale Applikation langwirksamer Analgetika zu bevorzugen, wobei stets eine individuelle Dosisanpassung erfolgen muss. Dabei kommen als adjuvante Therapie häufig Medikamente mit gleichzeitiger antiphlogistischer, antipyretischer und spasmolytischer Wirkung (. Tab. 6.9) sowie Psychopharmaka und Kortikoide zum Einsatz. Die medikamentöse Therapie bei chronischen Schmerzen folgt im Prinzip dem Stufenschema der WHO, das ursprünglich für die Krebsschmerztherapie entwickelt wurde: 4 Stufe I: Nichtopioidanalgetika (z. B. Azetylsalizylsäure) 4 Stufe II: Schwache Opioide (z. B. Kodein) plus Nichtopioidanalgetika 4 Stufe III: Starke Opioide (z. B. Morphin) plus Nichtopioidanalgetika

Allgemeine Hinweise zur Behandlungsdauer und -häufigkeit > Allgemein gilt die Regel, je akuter die Schmerzsymptomatik ist, desto häufiger sollte therapiert werden, allerdings mit kurzen Behandlungszeiten. Ist die akute Symptomatik abgeklungen, können längere Behandlungszeiten mit einer geringeren Tages- oder Wochenfrequenz gewählt werden.

In einem akuten Schmerzstadium werden folgende Behandlungszeiten empfohlen: 4 Krankengymnastik: 20 min, 2- bis 5-mal pro Woche 4 Elektrotherapie (außer TENS): 10 min, 2- bis 3-mal pro Woche 4 Wärmetherapie: 10 min, 2- bis 3-mal pro Woche 4 Kryotherapie: wenige Sekunden bis maximal 4 min mehrmals am Tag 4 Massage: 15–20 min, 2-mal pro Woche.

Die Therapie beginnt dabei auf der ersten Stufe und wird je nach Bedarf gesteigert. p Dieses Stufenschema sollte bei Beschwerden am Bewegungsapparat immer mit einer kausalen Therapie (z. B. durch Krankengymnastik, 7 Kap. 3.1, oder Manuelle Therapie, 7 Kap. 3.4) und zusammen mit einer lokalen Schmerztherapie (z. B. durch Elektrotherapie, 7 Kap. 3.7) verordnet werden.

Bei einer nicht mehr akuten Symptomatik wird das folgende Zeitregime empfohlen (allgemeine Richtwerte): 4 Krankengymnastik: 20–30 min, 1- bis 3-mal mal pro Woche 4 Elektrotherapie: maximal 20 min, 2-mal pro Woche 4 Wärmetherapie: zwischen 10 und 35 min, 1-mal pro Tag oder 2-mal pro Woche 4 Kryotherapie: milde Kälte 10 min, 2-mal pro Woche

Nichtopioide Analgetika Die Medikamente dieser Gruppe wurden früher als peripher wirksame Analgetika bezeichnet. Dies ist nicht

. Tabelle 6.9. Klinische Wirkungen nichtopioider Analgetika. (Nach Sorge 1993)

Nichtsteroidale Antirheumatika Anilinderivate Nichtsaure Pyrazole

Analgetische Wirkung

Antiphlogistische Wirkung

Spasmolytische Wirkung

Antipyretische Wirkung

+ + +

+ – –

– – +

+ + +

198

6

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

korrekt, da sie auch auf die zentrale Schmerzempfindung wirken. Zu beachten ist, dass durch eine Dosissteigerung über eine bestimmte Schwelle keine Wirkungssteigerung mehr erzielt werden kann, sodass bei unzureichender Analgesie ein stärker analgetisches Medikament gewählt werden muss. Bei entzündlichen Schmerzen werden meist nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) eingesetzt, die analgetische, antipyretische und antiphlogistische Eigenschaften haben. Ihre Wirkung geht auf die Hemmung der Prostaglandinsynthese zurück. Die Resorption bei oraler oder rektaler Gabe ist gut. Sie können auch zu Iontophoresen (7 Kap. 3.7) oder extern als nächtliche Salbenverbände genutzt werden. Injektionen mit NSAR sind wegen möglicher Nebenwirkungen (Abszesse, allergische Reaktionen) obsolet. Die Auswahl des Medikamentes im Einzelfall richtet sich nach Wirkdauer, wobei initial oft kürzer wirksame Präparate mit schnellerer Anflutung und zur späteren Langzeittherapie länger wirksame Präparate mit niedrigeren Einnahmeintervallen bevorzugt werden sollten. Das Spektrum möglicher Nebenwirkungen reicht von gastrointestinalen Beschwerden, Blutungen und Ulzera im Verdauungstrakt über Hautreaktionen bis zur Hemmung der Thrombozytenfunktion, Blutbildveränderungen und Nierenfunktionsstörungen. Bei nichtentzündlichen Schmerzen geringerer Intensität eignet sich das Anilinderivat Paracetamol zur Schmerztherapie, das antipyretische, aber keine antientzündlichen Eigenschaften besitzt. Es ist insgesamt gut verträglich. Hauptrisiko ist die Entstehung oder Verstärkung von Leberschäden. Bei kolikartigen Schmerzen ist der Einsatz von nichtsauren Pyrazolen (z. B. Metamizol) sinnvoll. Sie können parenteral verabreicht werden und werden oral auch zur Krebsschmerztherapie eingesetzt. Die wichtigsten Nebenwirkungen sind Blutbildveränderungen und allergische Reaktionen.

Opioide Diese Gruppe von Medikamenten wirkt überwiegend zentralnervös, und zwar durch Bindung an die Opioidrezeptoren. Sie werden nach klinischen Kriterien in schwache und starke Opioidanalgetika eingeteilt (. Tab. 6.10). Die starken Opioide unterliegen in Deutschland dem Betäubungsmittelgesetz, sodass für die Verordnung spezielle Rezepte verwendet werden müssen. Opioide sind immer dann indiziert, wenn schwächer wirksame Analgetika nicht ausreichen (s. o., WHO-Stufenschema). Während Opioide bei akuten Schmerzen meist parenteral appliziert werden, werden in der Therapie chronischer Schmerzen meist orale Opioide mit längerer Wirkungsdauer eingesetzt. Eine Kombination mit Nichtopioidanalgetika ist sinnvoll, eine Kombination mehrere Opioide hingegen nicht. Bei chronischen Schmerzen gebräuchliche, schwach wirksame Opioide sind z. B. Kodein, Tramadol, Dextropropoxyphen und Dihydrokodein. Obwohl jedes Opioid im Prinzip eine psychische Abhängigkeit auslösen kann, ist die Gefahr der Suchtentwicklung in der Schmerztherapie als gering einzustufen, weil mit den oral applizierten Präparaten keine wesentlichen psychotropen Wirkungen verbunden sind. Physische Anhängigkeiten können allerdings entstehen, weswegen die Therapie nicht abrupt, sondern stets ausschleichend abgesetzt werden sollte. Ein weiteres Problem ist die mögliche Entstehung einer Toleranz, die eine Dosissteigerung notwendig macht. Nach klinischen Studien ist aber auch dieses Problem praktisch nicht von großer Bedeutung. Die meisten Dosissteigerungen sind in solchen Studien durch Verstärkung der Grundkrankheit (z. B. Tumorwachstum bedingt). Klinisch relevante Nebenwirkungen der Opioide sind insbesondere Obstipation, Übelkeit und Erbrechen. Darüber hinaus kann eine Sedierung und Müdig-

. Tabelle 6.10. Relative Wirkungsstärke von Opioden (Morphin = 1) sowie Einzeldosis in mg und Wirkdauer in Stunden. (Nach Sorge (1993)

Präparat

Relative Wirkungsstärke

Einzeldosis (mg)

Wirkdauer (h)

Tramadol Pethidin Morphin Piritramid Buprenorphin

1/8–1/12 1/8 1 2/3–1 20–40

50–100 50–100 5–10 7,5–15 0,3

2–3 2–3 4 6–8 6–8

199 6.10 · Schmerztherapie

keit auftreten. Diese Symptome gehen im Laufe der Behandlung meist zurück, können aber einen Therapieabbruch erforderlich machen. In einigen Fällen ist das Auftreten solcher Nebenwirkungen auch auf eine zu hohe Dosierung zurückzuführen. Psychopharmaka Als adjuvante Psychopharmaka werden bei chronischen Schmerzen vor allem Antidepressiva und Neuroleptika eingesetzt. Antidepressiva sind bei neuropathischen Schmerzen, funktionellen Schmerzsyndromen und reaktiven Depressionen indiziert (7 Kap. 6.6.2). Zum Einsatz kommen vor allem trizyklische Antidepressiva, die auch direkte analgetische Wirkungen besitzen. Je nach individueller Begleitsymptomatik stehen antriebssteigernde (z. B. Imipramin, Clomipramin) und dämpfende (z. B. Amitryptilin, Doxepin) zur Verfügung. Neuroleptika werden bei chronischen Schmerzen eingesetzt, wenn psychotische Komponenten vorliegen, sowie bei Übelkeit und Erbrechen unter Opioidgabe. Diese Therapie ist aber auf besondere Einzelfälle zu beschränken. Ähnliches gilt für den Einsatz von Tranquillanzien, die nur bei starken begleitenden Angstzuständen und akuten Schmerzkrankheiten eingesetzt werden. Kortikoide sind keine Analgetika im eigentlichen Sinne. Bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen können sie durch Beeinflussung der Entzündungskomponente allerdings zur Analgesie beitragen. Entsprechendes gilt für Muskelrelaxanzien, die durch Normalisierung des Muskeltonus bei Erkrankungen des Bewegungsapparates, die mit starken Muskelverspannungen einhergehen, im Gesamtkonzept der Schmerzrehabilitation nützlich sein können. Die spezielle Pharmakotherapie der neuropathischen Schmerzen wird im 7 Kap.6.6 abgehandelt.

6.10.4 Psychologische Schmerztherapie Es ist heute gut belegt, dass die Schmerzchronifizierung unabhängig von der primär auslösenden Erkrankung stark durch psychische, psychosoziale und psychobiologische Mechanismen gefördert wird. Ziel der psychologischen Schmerztherapie ist es, diese Mechanismen zu durchbrechen bzw. zu beeinflussen. Darüber hinaus wird im Sinne der Rehabilitation eine Steigerung eigener Ressourcen und eine bessere Bewältigung der Schmerzen angestrebt.

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Psychische Chronifizierungsmechanismen Als wichtigste psychische Faktoren, die eine Schmerzchronifizierung beeinflussen, gelten: 4 Stimmung und Emotion 4 Schmerzbezogene Kognitionen bzw. gedankliche Verarbeitung und Überzeugungen (s.u.) 4 Schmerzbewältigung und schmerzbezogene Verhaltensweisen Das wichtigste Stimmungsmerkmal, dass einer Schmerzchronifizierung Vorschub leistet, ist die Depression. Dabei handelt es sich um milde depressive Verstimmungen (Beck-Klassifikation: »milde« bis »mäßige Depression«). Manifeste psychiatrisch relevante Depressionen spielen in diesem Zusammenhang keine nennenswerte Rolle. Als Auslöser solcher depressiver Verstimmungen werden meist Belastungen im privaten oder beruflichen Alltag, chronische Überforderung und lebensverändernde Ereignisse (z. B. Verlust eines Angehörigen) gefunden. Als relevante Risiken für eine Schmerzchronifizierung infolge depressiver Stimmungslagen, die auch therapeutisch anzugehen sind, werden angesehen: 4 erhöhte muskuläre Aktivierung mit gehäuften Verspannungen und Fehlhaltungen 4 soziale Passivität mit Rückzugsverhalten 4 negatives emotionales Erleben der eigenen Situation mit dysfunktionalen Kognitionen (s.u.) Auch das Auftreten von Angst begünstigt die Schmerzchronifizierung, da auch sie eine konstruktive Schmerzbewältigung behindert. Als chronifizierungsfördernde schmerzbedingte Kognitionen werden vor allem das sog. Katastrophisieren sowie die Hilfs- und Hoffnungslosigkeit angesehen. Beide Faktoren gehen mit einer Überbewertung des Schmerzerlebens einher. Aber auch das Bagatellisieren des Schmerzes mit der Tendenz zum unbedingten Durchhalten wirkt sich ungünstig auf den Schmerzverlauf aus. »Fear-avoidance«-Modell Als ein zentrales Modell der Schmerzchronifizierung wird das sog. »Fear-avoidance-Modell« des Verhaltens angesehen. Demnach führt die Angst, Schmerzen zu erleiden, zur Vermeidung von körperlichen Aktivitäten und sozialen Kontakten. Während die körperliche Inaktivität die Belastbarkeit von Struktu-

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Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

ren des Bewegungsapparates vermindert und die Schmerzempfindlichkeit durch Dekonditionierung erhöht, führt die soziale Isolierung beispielsweise zu einer Verstärkung der Depression. Beide Mechanismen sind Teil eines Circulus vitiosus der Schmerzchronifizierung. Die sog. »Fear-Avoidance-Beliefs« und eine risikoreiche Schmerzbewältigungsstrategie können heute mit standardisierten Fragebogenverfahren erfasst werden (CRSS = Coping-Reaktionen in Schmerzsituationen).

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Die schmerzbedingten Kognitionen stehen in engem Zusammenhang mit einer fehlgeschlagenen verhaltensbezogenen Schmerzbewältigung. Solche kritischen Coping-Strategien sind das passive Vermeidungsverhalten im Sinne des »Fear-Avoidance«-Modells. So werden körperliche und soziale Aktivitäten vermieden. Darüber hinaus führen »sorgende« und »schonende« Reaktionen des sozialen Umfeldes zu einer Verstärkung solcher Verhaltensweisen. Aber auch das unbedingte Durchhalten trotz Schmerzen kann zur Schmerzchronifizierung beitragen, in dem es zu wiederholten psychischen und physischen Überlastungssituationen führt. Diese Form des ungünstigen Copings wird als »Avoidance-endurance«-Modell bezeichnet Psychosoziale Faktoren, die eine Schmerzchronifizierung fördern sind: 4 Aktuelle länger anhaltende Alltagsstressoren (beruflich oder privat) 4 Verhalten von Ärzten und Therapeuten, insbesondere 5 Überdiagnostik 5 Informations- und Aufklärungsmängel 5 Fehler bei der Medikation sowie die 5 Vernachlässigung psychosozialer Faktoren im Therapiekonzept Erkennen von Risikofaktoren Wichtig im Umgang mit Schmerzpatienten ist es, die genannten Risikofaktoren der Chronifizierung und ungünstige Coping-Strategien so früh wie möglich zu erkennen und in eine multiprofessionelle Behandlungsstrategie einzubeziehen. Hierzu kann die folgende Liste der Risikofaktoren (sog. »yellow flags« nach Kendall) hilfreich sein (. Tab. 6.11). Weitere Details sind den speziellen Lehrbüchern der Schmerztherapie sowie der Psychosomatik zu entnehmen.

Therapieprinzipen Grundsätzlich müssen die genannten Risikofaktoren von allen im Team beteiligten Therapeuten berücksichtigt werden. Zur Therapie der schmerzbegleitenden negativen Stimmung und Emotionen, der schmerzbezogenen Kognitionen sowie zur Beeinflussung von Schmerzbewältigung und Verhalten wird in vielen Fällen eine spezielle Psychotherapie notwendig sein. Je nach Schwere- und Chronifizierungsgrad sind Einzel- oder Gruppentherapien indiziert. Die Details einer psychologischen Schmerztherapie können an dieser Stelle naturgemäß nicht dargestellt werden. Die folgenden Grundprinzipien der psychologischen Schmerztherapie und Patientenführung müssen allerdings von allen Teammitgliedern beachtet werden (. Tab. 6.12). Schmerzbewältigungsgruppen Ein zentrales Therapieelement der Schmerzrehabilitation sind Schmerzbewältigungsgruppen, die nach dem Konzept von Basler und Mitarbeitern als geschlossene Gruppe von maximal 12 Patienten mit unterschiedlichen Grunderkrankungen. Sie umfasst insgesamt 13 wöchentlichen Sitzungen von 1,5–2 Stunden Dauer. Ziele der Schmerzbewältigungsgruppe sind: 4 Erkennen und Verändern dysfunktionaler Kognitionen 4 Verringerung psychophysischer Aktivierung durch Stressoren einschließlich des Schmerzes 4 Förderung der Lebensqualität trotz bestehender Beschwerden Wesentliche Inhalte der einzelnen Gruppensitzungen sind u.a.: 4 Einführung, Kennenlernen, Übersicht über Behandlungselemente und -ziele 4 Informationen zur Schmerzverarbeitung und ausgewählte Schmerzsyndrome, Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson (7 Kap. 6.12) 4 Analyse von Schmerzauslösern, Erlernen der Verhaltensbeobachtung 4 Informationen über Medikamente und physikalische Therapie 4 Aufmerksamkeitslenkung bei Schmerzen 4 Förderung der Lebenszufriedenheit, z. B. durch Aktivitätsaufbau, Aufbau von Kompetenzüberzeugungen 4 Analyse und Veränderung schmerzfördernder Bedingungen

201 6.10 · Schmerztherapie

. Tabelle 6.11. »Yellow flags« in der Diagnostik der Schmerzchronifizierung. (Modifiziert nach Kendall et al. 1997) Kognitionen, »Beliefs«

Überzeugung, dass Bewegung und Belastung schaden Überzeugung, dass vor Wiederaufnahme von Aktivitäten der Schmerz vollständig verschwunden sein muss Katastrophisieren Überzeugung, dass der Schmerz unkontrollierbar ist Fixierte Vorstellungen über den Behandlungsverlauf

Emotionen

Extreme Angst vor Schmerzen und Beeinträchtigung Depressive Verstimmung Erhöhte Aufmerksamkeit für körperliche Symptome Hilflosigkeit, Ohnmacht, Resignation

Verhalten

Ausgeprägtes Schonverhalten Rückzug von normalen Alltagsaktivitäten Ausgeprägtes Vermeidungsverhalten Extremes Schmerzverhalten und Schilderung einer extremen Schmerzintensität Schlafstörungen Medikamentenmissbrauch

Familie

Überprotektiver, zu fürsorglicher Partner Abhängigkeitsvorgeschichte (Medikamente, Alkohol) Familienangehöriger als Schmerzpatient Gravierende partnerschaftliche und/oder familiäre Konflikte

Arbeitsplatz

Überzeugung, dass die Arbeit dem Körper schadet Wenig Unterstützung am Arbeitsplatz Kein Interesse von Vorgesetzten und Kollegen Unzufriedenheit am Arbeitsplatz Entlastungsmotivation

Diagnostik und Behandlung

Schonverhalten und/oder Beeinträchtigung wird/werden vom Behandler unterstützt Mehrere (auch sich widersprechende) Diagnosen Befürchtung einer malignen Erkrankung Verschreibung passiver Behandlungen Hohes Inanspruchnahmeverhalten Überzeugung, dass nur eine somatische Behandlung (Operation, Schmerzblockaden, Medikamente) eine Besserung bringen können Unzufriedenheit mit der vorhergehenden Behandlung

4 Analyse und Veränderung dysfunktionaler Gedanken 4 Prävention, Umgang mit Gefühlen Dabei werden einzelne Elemente je nach den Bedürfnissen der Gruppe auch in mehreren Gruppensitzungen bearbeitet. Weitere Therapieelemente während des gesamten Programms sind Schmerzprotokolle, Hausaufgaben sowie aktive Bewegungsübungen. Vor und nach der Schmerzbewältigungsgruppe erfolgt ein Einzelvor- bzw. -abschlussgespräch mit jedem Teilnehmer.

Fazit Eine wirksame Schmerztherapie ist in vielen Fällen eine essenzielle Voraussetzung für den Rehabilitationserfolg. Schmerzen können auch die Rehabilitationsfähigkeit beeinträchtigen. Weiterhin ist es wichtig, durch frühzeitige Schmerztherapie der Schmerzchronifizierung vorzubeugen. Neben der medikamentösen und psychologischen Schmerztherapie kann auch die analgetische physikalische Schmerztherapie wesentlich zum Rehabilitationserfolg beitragen.

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202

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

. Tabelle 6.12. Psychologische Behandlungsprinzipien bei chronischen Schmerzen. (Modifiziert nach Hasenbring und Pfingsten 2004)

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Prinzip

Beschreibung

Frühzeitige Intervention

Die Behandlung sollte möglichst vor der Veränderung der Lebensgewohnheiten erfolgen

Kommunikative Beziehung

Eine Grundvoraussetzung für Veränderungen ist das Verstehen und Akzeptieren.

Patient als Partner

Verhaltensänderungen sind nur durch enge Mitarbeit der Patienten möglich.

Klare therapeutische Zielsetzung

Die eigenständige Definition der fokussierten Verhaltensänderungen einschließlich deren Überprüfung erleichtert die Kommunikation.

Entschärfung negativer Emotionen

Angst, Ärger, Trauer, Schuld und Frustration können den Gesundungsprozess stark behindern und müssen frühzeitig identifiziert und bearbeitet werden.

Vermittlung von Bewältigungsstrategien

Dysfunktionale Überzeugungen sind wichtige negative Merkmale des Chronifizierungsprozesses, Behandlungsziel ist die Stärkung von Selbsteffizienz und Kontrollerleben

Nutzung positiver Verstärkermechanismen

Positive Verstärkung (z. B. durch Aufmerksamkeitszuwendung, positive Kommunikation) gesunden Verhaltens (z. B. Beibehaltung der Aktivität), negative Verstärkung des Krankheitsverhaltens (Medikamente, Schonverhalten).

Koordination

Arbeitsplatz, Familie, medizinisches Versorgungssystem (andere Behandler) Kostenträger sind zusammen in den Krankheitsprozess involviert, wichtig sind gegenseitige Information und Abstimmung der Therapieziele und -strategien.

Konstanz der Bertreuung

Verhaltensänderungen können sich im Alltag schnell relativieren und zurückbilden, daher sind eine längere Behandlerkonstanz und die regelmäßige Überprüfung des Therapieeffektes wichtig.

6.11

Psychologische Interventionen M. Schwarze

6.11.1 Definition und Grundlagen > Psychotherapie ist »jede mittels wissenschaftlich anerkannter psychotherapeutischer Verfahren vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert, bei denen Psychotherapie indiziert ist« (Psychotherapeutengesetz). Diese Definition beschränkt die Psychotherapie nicht auf psychische Störungen, sondern erlaubt auch den Einsatz psychotherapeutischer Interventionen im Zusammenhang mit körperlichen Krankheiten.

Die Definition von Psychotherapie im Psychotherapeutengesetz macht eine Differenzierung der Aufgabenfelder von Diplompsychologen und Psychologischen Psychotherapeuten im Rahmen der stationären Rehabilita-

tion notwendig. Diplompsychologen übernehmen beispielsweise Beratungen, Verhaltenstrainings und Patientenschulungen, während psychotherapeutische Gespräche und Gruppen ausschließlich von den eben genannten entsprechend qualifizierten Berufsgruppen durchgeführt werden dürfen. In der Praxis erweist sich allerdings die strikte Trennung zwischen klinisch-psychologischer Intervention und Psychotherapie als nur bedingt umsetzbar, da alle Maßnahmen, abhängig vom Einzelfall und der jeweiligen Hauptdiagnose, in unterschiedlichem Ausmaß auch psychotherapeutischen Charakter aufweisen.

6.11.2 Psychologische Aufgabenfelder in

der medizinischen Rehabilitation In der medizinischen Rehabilitation werden zumeist verschiedene Formen chronischer Erkrankungen behandelt, wie etwa Stoffwechsel- und Atemwegserkran-

203 6.11 · Psychologische Interventionen

kungen, orthopädische und rheumatologische Erkrankungen, Tumorerkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Fest etabliert ist die Arbeit von Psychologen in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankungen, psychiatrischen, neurologischen und psychosomatischen Erkrankungen. Die Weiterentwicklung der Rehabilitationskonzepte in den vergangenen Jahren hat in allen Indikationsbereichen der medizinischen Rehabilitation zu einer erhöhten Gewichtung von Patientenschulungen (7 Kap. 3.13), Gesundheitsbildung und ganz allgemein von psychosozialen Aufgaben in der Rehabilitation geführt. Dieser Entwicklung liegt die Erkenntnis zugrunde, dass neben medizinischen auch psychosoziale Aspekte der Krankheitsbewältigung Bestandteil der Rehabilitation sein müssen, da sich alle Bemühungen nur dann als erfolgreich erweisen können, wenn der Rehabilitand mit seiner Erkrankung oder Behinderung angemessen umzugehen lernt.

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Frau E., eine 48-jährige Patientin mit chronischem Lendenwirbelsäulensyndrom lebt seit der Trennung von ihren Mann vor einem Jahr allein im eigenen Haushalt. Auf der somatischen Ebene kommen bei einem BMI von 32 (Adipositas Grad I) arterielle Hypertonie und Kurzatmigkeit als adipositasassoziierte Begleiterkrankungen hinzu. Aufgrund der schon über 6 Monate anhaltenden Rückenschmerzen (Chronifizierungstendenz) ist sie körperlich sowohl in häuslichen Tätigkeiten als auch in der Ausübung ihres Berufes als Reinigungskraft in einem Großbetrieb stark eingeschränkt. Wegen erhöhter Arbeitsunfähigkeitszeiten im letzten Jahr und zunehmendem Leistungsdruck, das tägliche Arbeitspensum an ihrem Arbeitsplatz nicht mehr bewältigen zu können, beantragt die Patientin auf Empfehlung des Betriebsarztes eine dreiwöchige, teilstationäre Rehabilitationsmaßnahme.

Frau E. nimmt an der Schmerzbewältigungsgruppe teil. Dort erkennt sie, dass emotionale Zustände und gedankliche Überzeugung eine Rolle bei der Aufrechterhaltung ihrer Schmerzen spielen können. Durch das Einüben des Entspannungsverfahrens der Progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson kann sie ihre Sorgen bezüglich der Arbeitsbelastungen (und des evtl. drohenden Arbeitsplatzverlustes) verringern und gleichzeitig die Schmerzen lindern. Ein weiterer Schritt betrifft das Auffinden und Ersetzen hinderlicher Gedanken (Kognitionen; z. B. »Nichts hilft gegen meine Schmerzen«) und das Einüben förderlicher Gedanken (Kognitionen; z.B. »Wenn ich mich ablenke, spüre ich die Schmerzen nicht mehr so stark«). Bei leichten Schmerzen kann sie Ablenkungsmöglichkeiten (ein spannendes Video oder Buch) einsetzen. Frau E. nimmt in der Rehabilitationseinrichtung u. a. an einem interdiziplinär ausgerichteten Adipositastraining teil mit Ernährungsberatung, Bewegungstherapie und Psychoedukation. Dort lernt sie neben der gesünderen und fettarmen Zubereitung von Lebensmittel in der Lehrküche auch Strategien zur Vermeidung von Essen in Stress- und Frustsituationen kennen. Sie wird über die Bedeutung der körperlichen Bewegung bei der Gewichtsabnahme informiert und plant die Erhöhung konkreter Aktivitäten im Alltag (Treppensteigen statt Fahrstuhlnutzung, bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel eine Station früher aussteigen und letzte Strecke zu Fuß zurücklegen) sowie ein regelmäßiges rückenschonendes Ausdauertraining (Wassergymnastik in der Rehabilitationseinrichtung, Fortführung im Hallenbad nach der Rehabilitation) ein. Diese Umstellung der Lebensweise kann sie sowohl in der Rehabilitationseinrichtung als auch zu Hause am Abend und am Wochenende ausprobieren. Zusammen mit der Psychologin wurden im Gruppensetting konkrete umsetzbare Ziele formuliert und zweimal pro Woche auf ihre Durchführbarkeit hin verfolgt und ggf. adaptiert (Zielerreichungskonzept). Frau E. erwähnt im Eingangsgespräch, dass sie immer noch sehr unter der Trennung von ihrem Mann und dem Alleinleben leidet. Nach einem psychologischen Erstgespräch werden drei weitere Einzelgespräche verordnet, da leichte Depressionen und verhaltensbezogene, den Schmerz aufrechterhaltende Mechanismen (Katastrophisieren, mangeln-

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> Die medizinische Rehabilitation umfasst neben der Behandlung physischer Symptomatik auch die Förderung einer angemessenen Einstellung zur Erkrankung, eines adäquaten Umgangs mit der Erkrankung und ihrer Folgen sowie eines krankheitsgerechten Ernährungs-, Bewegungsund Freizeitverhaltens. Sie versucht auf somatischer, psychischer und sozialer Ebene einzuwirken (biopsychosoziales Konzept). ä Beispiel

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Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

de Ablenkung durch sozialen Rückzug, geringes Aktivitätsniveau, mangelhafte Entspannungsfähigkeit) festgestellt wurden. In den Gesprächen mit der Psychologin kann sie zunächst Entlastung hinsichtlich ihrer Einsamkeits-, Ärger- und Schuldgefühle finden. Sie nimmt Anregungen zur weiteren Bearbeitung der Trennung auf (Selbsthilfegruppe bzw. Literatur zur Trennungsbearbeitung) und entwickelt gemeinsam mit der Therapeutin Ideen, Einsamkeitsgefühle zu bewältigen und aus der sozialen Isolation herauszutreten. Sie wird diesbezüglich in ihrer Idee, ein früheres Hobby (Singen im Chor) wieder aufzunehmen, unterstützt. Im Weiteren werden Ideen für alternative Problemlösungen erarbeitet, um dem nächtlichen Frustessen entgegen zu treten.

6.11.3 Vorgehensweise Das Ziel der medizinischen Rehabilitation, noch vorhandene Kräfte so zu entwickeln und zu unterstützen, dass trotz Schädigungen und Beeinträchtigungen ein möglichst normales Leben geführt werden kann, ist nur mit einer Vielzahl von Einzelschritten zu bewältigen (Deutsche Rentenversicherung, 1996): 4 Diagnostik 4 Erstellung eines Rehabilitationsplans 4 Durchführung der medizinischen und psychologischen Therapie 4 Training von Restfunktionen und Ausbildung neuer Fertigkeiten zur Kompensation von Beeinträchtigungen 4 Krankheitsbezogene Wissensvermittlung 4 Förderung einer angemessenen Einstellung zur Erkrankung 4 Selbstmanagement, Anleitung zum eigenverantwortlichen Umgang mit der Erkrankung 4 Verhaltensmodifikation, Förderung angemessenen, gesundheitsförderlichen und Abbau gesundheitsschädigenden Verhaltens 4 Beratung und Schulung von Bezugspersonen 4 Beratung des Rehabilitanden hinsichtlich zukünftiger Möglichkeiten in Beruf und Alltag 4 Weitere rehabilitative Maßnahmen planen und dazu motivieren Wie hieraus deutlich wird, ist eine individuelle therapeutische Arbeit unter aktiver Mitwirkung des Patienten kennzeichnend für die medizinische Rehabili-

tation. Vor allem psychotherapeutische Maßnahmen sind zu verstehen als Hilfe zur Selbsthilfe. Die aufgeführten Anforderungen an die ambulante, teilstationäre und stationäre Rehabilitation lassen sich nur mithilfe eines interdisziplinären und ganzheitlichen Rehabilitationskonzeptes erfüllen, das von einem Rehabilitationsteam (Arzt, Psychologe, Krankenschwester, Krankengymnast, Ernährungsberater etc.) getragen wird. Sofern die Betroffenen nicht lernen, sich auf Krankheitsfolgen und Behinderungen angemessen einzustellen, werden alle Bemühungen um die Verbesserung ihres Gesundheitsstatus letztlich erfolglos bleiben. Darum ist es unverzichtbar, dass psychosoziale Belastungen der Rehabilitanden erkannt und entsprechend behandelt werden. Durch gesundheitliche Störungen und Einschränkungen bedingte Beeinträchtigungen auf psychischer und sozialer Ebene werden primär durch den Arzt diagnostiziert, der idealerweise so vielfältige Aspekte wie psychische Belastungsmomente, Erwartungshaltung, Krankheitsfolgen und -verarbeitung, Ernährungsgewohnheiten und Suchtverhalten unter Verwendung psychosozialer Messinstrumente erfasst. Empfohlen wird ein zweistufiges Vorgehen zur Diagnostik psychischer Belastungen, beginnend mit einem Screening-Verfahren und eventuell, abhängig von den Ergebnissen dieser Untersuchung, weiteren differenzierten psychodiagnostischen Verfahren. p Die Identifizierung von Patienten mit psychischen Störungen ist aufgrund der Personalstruktur häufig dem Stationsarzt vorbehalten. Hierbei kann es leicht zur Überinanspruchnahme des psychologischen Dienstes durch »falsch-positive« bzw. Unterinanspruchnahme durch »falschnegative« Patienten kommen. Zur Unterstützung der Entscheidung können Screening-Verfahren hilfreich sein.

6.11.4 Indikationen für psychologisch-

psychotherapeutische Maßnahmen Die Psychotherapie richtet sich nicht nur an Menschen mit psychischen Erkrankungen, sondern in der Rehabilitation vor allem an chronisch kranke und ältere Rehabilitanden mit Verhaltens-, Kommunikationsund emotionale Störungen. Bedingt durch den Verlust der Selbstständigkeit, der Arbeitsfähigkeit sowie durch dauerhafte Beeinträchtigungen aufgrund psychischer

205 6.12 · Künstlerische und körperorientierte Therapien

und physischer Funktionsminderung, erfahren die Patienten wesentliche Lebenskrisen, die sie zum Teil ebenso behandlungsbedürftig machen wie Menschen mit klassischen Persönlichkeitskrisen. Hilfeleistungen zur Wiedergewinnung und Erhaltung der aktiven Teilnahme am normalen Leben in Beruf, Familie und Gesellschaft werden in § 10 SGB I explizit als Auftrag zur Rehabilitation formuliert. Der Bedarf an klinisch-psychologischen und psychotherapeutischen Leistungen ergibt sich aus Problemen, die im Prozess der Krankheitsverarbeitung auftreten. Zu diesen gehören insbesondere: 4 Emotionale Störungen, wie Angst und Depressivität 4 Konflikte in Partnerschaft und Familie 4 Beeinträchtigung des Sozialverhaltens, z. B. soziale Rückzugstendenzen 4 Psychische Beeinträchtigungen, die die körperliche oder psychische Leistungsfähigkeit oder die psychophysische Stabilität beeinflussen 4 Probleme mit der Akzeptanz der Erkrankung 4 Diskrepanzen zwischen Behandlungserwartungen und Behandlungsangebot 4 Inadäquates Krankheitsverhalten Einige dieser Probleme können in krankheitsspezifischen, vertiefenden Gruppenprogrammen in Form von Patientenschulungmaßnahmen angegangen werden (Diabetikerschulung, Erkrankung der Atmungsorgane, Schmerzbewältigung, Essstörungen etc.; 7 Kap. 6.13). Verhaltensmedizinisch orientierte Programme beinhalten beispielsweise Komponenten wie Konfliktbewältigung, Selbstsicherheitstraining, autogenes Training). Ergibt sich im Rahmen der Therapieplanung, dass der Rehabilitand spezieller psychologischer Unterstützung bedarf, können einzel- oder gruppentherapeutische Interventionen von Psychotherapeuten durchgeführt werden. Das Vorgehen muss auf einer anerkannten Psychotherapieform beruhen. Fazit Die psychologischen Interventionen richten sich nicht nur bzw. nicht in erster Linie auf die Behandlung psychischer Krankheiten oder Störungen. Vielmehr wird eine Verbesserung der Krankheitsverarbeitung mit Optimierung von Copingstrate-

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gien angestrebt. Dabei kommt es vor allem auf die Entwicklung einer selbstständigen Lösungsstrategie an, die auch krankheitsbegleitende und symptomverstärkende soziale Konflikte mit einbezieht. Nach einer eingehenden Psychodiagnostik kann dies in einer individuellen therapeutischen Arbeit oder verhaltensmedizinisch ausgerichteten Gruppentherapie geschehen.

6.12

Künstlerische und körperorientierte Therapien I.-H. Pages

6.12.1 Grundlagen Die künstlerischen und die körperorientierten Therapien sind eine heterogene Gruppe verschiedener psychosomatisch orientierter Therapieformen. Obwohl zahlreiche unterschiedliche Schulen und Konzepte existieren, lassen sich einige gemeinsame Grundprinzipen dieser Methoden identifizieren. So nutzen die meisten Verfahren kreative Handlungen, freie Bewegungsabläufe und das bewusste Wahrnehmen der damit verbundenen Empfindungen und Emotionen als Basis für eine verbale Aufarbeitung des Erlebten. Das praktische Vorgehen besteht dabei meistens in sog. Angeboten an die Patienten, die in Gruppen oder einzeln an der Therapie teilnehmen. Diese Angebote umfassen Aufforderung zu Bewegungen und damit verbundenen Wahrnehmungen. Beispiele für solche Aufforderungen sind: 4 »Gehen Sie im Raum umher und achten Sie darauf, wie sich die Abstände zu den anderen Gruppenteilnehmern verändern« 4 »Bitte legen Sie sich auf den Rücken und spüren die Kontaktflächen zum Boden« 4 »Legen Sie eine Hand auf den Bauch und spüren Sie die Atembewegung« Bei den künstlerischen Therapien handelt es sich bei diesen Aufforderungen z. B. um die Auswahl eines Musikinstrumentes und die freie Improvisation (Musiktherapie)oder eine freie Form auf ein Papier zu malen (Kunsttherapie).

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Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

Diese gemeinsamen Techniken der künstlerischen und körperorientierten Therapien lassen sichnach Gutenbrunner wie folgt gruppieren: 4 Raumerfahrung und -orientierung (inkl. Erfahrungen mit Zeiträumen, z. B. Wahrnehmung der Dauer einer Minute) 4 Freie Handlungen (hier kann die Therapie als Experimentierfeld aufgefasst werden) 4 Verbale oder nonverbale Interaktionen zwischen den Gruppenteilnehmern oder mit dem Therapeuten 4 Bewusste Erfahrungen von Bewegungen und Handlungen mit anschließender Selbstreflektion 4 Erspüren der Symbolgehaltes von Objekten, z. B. frei gewählte Anordnungen von Gegenständen und Interpretation des Ergebnisses als Symbol von bestehenden sozialen Beziehungsmustern 4 Kommunikation, z. B. über Spielen von Musikinstrumenten (eine solche Kommunikationsanbahnung ist z. B. auch bei bewusstseinsgestörten oder sedierten Patienten auf der Intensivstation möglich!) 4 Verbale Aufarbeitung der gemachten Erfahrungen als zentrales Element der Annäherung an psychische Probleme, zur Übertragung des Erfahrenen in das Alltagsleben bzw. zum Anstoß weiterer psychotherapeutischer Prozesse Alle im Folgenden dargestellten Therapien können je nach Indikation als Einzel- und Gruppentherapien durchgeführt werden.

Erlebnisse und Gefühlsqualitäten zum Ausdruck zu bringen. Sie bietet die Möglichkeit der Kommunikationsanbahnung schwer hirngeschädigter Patienten in der Frühphase der medizinischen Rehabilitation. Die wichtigste Aufgabe der Musiktherapie ist die Beeinflussung der seelischen Situation des Patienten, insbesondere des Verlassenheitsgefühls und der Ängste.

Methoden Die wichtigsten Interventionsverfahren der Musiktherapie sind 4 Wiedererleben von Gefühlen und deren Reflexion auch auf einer bewussteren sprachlichen Ebene zum besseren Selbstverständnis bzw. zur Lösung von Kommunikations- und Beziehungsproblemen 4 Anbahnung und Aufbau erst einer nonverbalen, letztlich aber auch einer verbalen Kommunikation bei Patienten mit hirnorganisch bedingtem Verlust der sprachlichen bzw. geistigen Kommunikation 4 Hilfe zur Krankheitsverarbeitung (Patient-Therapeut-Dialog in psychotherapeutischem Sinne) auch in der Gruppe Die 3 wesentlichen methodischen Richtungen der Musiktherapie sind 4 Funktionelle Musik 4 Rezeptive Musiktherapie 4 Aktive Musiktherapie Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit

6.12.2 Musiktherapie Definition und Grundlagen Seit der Antike wurde das Hören von Musik therapeutisch eingesetzt, auch die Heilkraft des aktiven Musizierens stand immer außer Zweifel. Doch erst im 20. Jahrhundert etablierte sich das Fach Musiktherapie als eine Form der Psychotherapie. Musik gilt als Sprache der Gefühle. Mit ihr lässt sich ausdrücken, was sonst nicht aussprechbar scheint. > Musiktherapie ist ein kommunikatives, interaktives, nicht-sprachliches Geschehen, durch das den Patienten die Möglichkeit gegeben wird, verdrängte oder unaussprechliche, traumatische 6

Die positiven Wirkungen von Musik sind: 4 Bewusstes Hören bewirkt eine Entfaltung von Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit, den Abbau von Spannungen und Angst, die Vermittlung des Gefühls der Geborgenheit. 4 Aktives Musizieren, Singen und Improvisieren unterstützen die Entfaltung der Persönlichkeit, die Entwicklung von Kreativität und Phantasie. 4 Hören und Musizieren tragen bei zur Beseitigung von Konzentrationsschwächen und Lernhemmungen zum Abbau von Unsicherheit, Nervosität, Niedergeschlagenheit, Frustration und Aggression. Beides kann vegetative Körperfunktionen positiv beeinflussen.

207 6.12 · Künstlerische und körperorientierte Therapien

ä Beispiel Frau M. kommt sehr labil und weinerlich in die Musiktherapie. Sie zittert am ganzen Körper und setzt sich in eine Ecke des Raumes. Sie ist nicht in der Lage, ein Instrument auszuwählen und selbst zu spielen. Deshalb bietet die Therapeutin an, für sie zu spielen. Sie nimmt eine große Indianertrommel und schlägt im langsamen, gleichbleibenden Rhythmus. Frau M. entspannt sich deutlich. In den folgenden Stunden wünscht sie sich immer wieder, dass die Therapeutin für sie trommelt. Frau M. äußert: »In meinem Leben herrscht nur Chaos, und ich habe meinen Rhythmus verloren. Ihr Trommelspiel gibt mir Halt und Orientierung. Ich finde wieder eine Richtung.« In den nächsten Therapiestunden versucht Frau M. auf einer Trommel ihren eigenen Rhythmus zu finden und stabiler zu werden. Nach 3 Wochen Musiktherapie tritt eine Besserung ein. Frau M. spielt ausdauernd und kraftvoll auf den Instrumenten. Sie konzentriert sich auf sich und hat ihren Lebensrhythmus wieder gefunden. Sie ist ausgeglichen und kann ihre Arbeit wieder aufnehmen.

Der nonverbale Charakter der Musiktherapie ist bei depressiven Patienten besonders geeignet. Musik erreicht diese Patienten direkter als Worte und kann sie in Bewegung bringen. Musik und Töne wecken und fördern innere Bilder. Rhythmik und Dynamik vermitteln Lebendigkeit und Flexibilität. Aus Spannung und Verdichtung kann sich Entspannung und Befreiung entwickeln. Indikationen und Kontraindikationen Im Bereich der Musikmedizin wird heute das gegenwärtige Wissen um die eigenständige Wirkung und Funktion der Musik auf die Gesundheit genutzt und zur Minderung von körperlichen und psychischen Störungen eingesetzt. Der funktionelle Einsatz von Musik unterstützt die klinische und medikamentöse Behandlung. Grundlage des Einsatzes ist die medizinische Nutzwirkung, wie z. B. bei der Senkung von Stoffwechsel, Herzfrequenz und Blutdruck, die Reduzierung des Schmerzempfindens oder der Angst. Indikationen sind: 4 Herz-Kreislauf-Erkrankungen 4 Schmerzzustände 4 Angstzustände 4 Stressabbau 4 Depressionen

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Die funktionelle Musik lässt sich in einigen Bereichen von der Musikmedizin abgrenzen. Behandlungsziel und Musik hängen ähnlich eng zusammen, es wird jedoch die Kommunikation mit den Therapeuten wichtig. In der Rehabilitation wird z. B. Herz-Kreislauf-Patienten ein ausgewähltes Musikrepertoire zusammen mit klassischen Entspannungsübungen angeboten, damit sie lernen Stress bzw. Angst abzubauen. Für Patienten mit Stimm- und Sprachstörungen gibt es Rhythmustherapien, für aggressive und hyperaktive Jugendliche Trommeltherapien. Indikationen sind: 4 Psychosomatische Erkrankungen 4 Psychiatrische Erkrankungen 4 Aggressive und hyperaktive Jugendliche 4 Stimm- und Sprachstörungen 4 Rehabilitation geriatrischer Patienten 4 Rehabilitation von Herz-Kreislauf-Patienten 4 Rehabilitation von Schlaganfallpatienten 4 Heilpädagogische Betreuung geistig behinderter Menschen In der rezeptiven Musiktherapie steht das Hören und Erleben von Musik im Vordergrund, angeboten durch den Therapeuten oder durch den Tonträger. Diese Therapie gibt es entweder als eigenständiges Verfahren oder kombiniert mit aktiver Musiktherapie. Wenn kombiniert, dann wird sie als Vorstufe bzw. Einstieg in die Arbeit mit aktiver Improvisation angeboten oder im Wechsel mit dieser eingesetzt. Indikationen sind: 4 vegetative Dysregulation (z. B. Herz-, Kreislauf-, Magenbeschwerden ohne nachweisbare organische Ursachen) 4 Einengung und Reduzierung der Erlebnis- und Wahrnehmungsfähigkeit 4 Probleme, die mit der Bewältigung von Krankheit zusammenhängen (wie Angst, depressive, aggressive, hypochondrische Reaktionen) Aktive Musiktherapie ist ein Sammelbegriff für alle Methoden der Musiktherapie, bei denen der Patient aktiv mit Instrument und/oder Stimme (freies Spiel auf Instrumenten, Improvisation) beteiligt ist. Die aktive Musiktherapie wird vielfältig eingesetzt: in der Rehabilitation, Psychosomatik, Psychiatrie, Onkologie, der Geriatrie, bei chronisch kranken Patienten und in der Arbeit mit Behinderten. Weitere Indikationen im ambulanten Bereich sind: 4 Psychosomatische Störungen 4 Psychoneurotische Störungen

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Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

Kontraindikationen gibt es für die Musiktherapie eigentlich nicht. Wichtig ist, dass sie von Musiktherapeuten indikationsgerecht eingesetzt wird.

6.12.3 Kunsttherapie Definition und Grundlagen

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> Kunsttherapie ist der Einsatz künstlerischer Mittel mit dem Ziel, Patienten in Lebenskrisen oder mit seelischen Störungen zu ermöglichen, eigene Stärken und Probleme kennen zu lernen und durch den schöpferischen Prozess positiv einzuwirken. Ein Schwerpunkt liegt in der Rehabilitation von Patienten mit erworbenen Hirnschäden.

Es geht bei der Kunsttherapie nicht um formalästhetische Wertungen, nicht um »schön« oder »hässlich«, sondern darum, dass der Patient seine Gedanken und Gefühle, Ängste, Träume und Phantasien zum Ausdruck bringt. So können innere Prozesse bewusst gemacht und Lösungsmöglichkeiten entwickelt werden. Kunsttherapie hat das Ziel, das seelische Gleichgewicht wieder herzustellen. Methoden Die wichtigsten Interventionsverfahren der Kunsttherapie sind: 4 Anbahnung und Aufbau einer nonverbalen und verbalen Kommunikation auf bildnerischer Ebene 4 Aufbau und Schulung der Funktionen hirnorganisch bedingter Störungen der Motorik, Handlungsplanung, Wahrnehmung 4 Ausdruck von Gefühlen und deren Reflexion auf künstlerischer Ebene zur Förderung der IchStärke 4 Hilfe zur Krankheitsverarbeitung (Einzel- und Gruppentherapie) Das kreative Gestalten erfolgt mit verschiedenen Medien wie z. B. Pinsel, Stiften und Farben. In Einzelund Gruppenarbeit entstehen Zeichnungen, Malereien, Grafiken, Plastiken, Drucktechniken und Fotografien. Wirkungsmechanismen und Wirksamkeit Die positiven Wirkungen der Therapieform sind, dass im Rahmen der Kunsttherapie die Patienten

4 verlorengegangene kreative Fähigkeiten wiederentdecken, 4 Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl aufbauen, 4 sich ihrer Umwelt verstärkt öffnen, 4 in der Gruppenarbeit soziale Erfahrungen erleben und soziale Kompetenzen entwickeln, 4 psychische Stabilität erlangen und Lebensfreude zurückgewinnen. ä Beispiel Eine junge Studentin S. leidet seit 2 Jahren an Panikattacken. Während ihrer Angstzustände treten Atemnot sowie schneller und unregelmäßiger Herzschlag auf, gepaart mit dem Gefühl der Beklemmung und Verkrampfung. Frau S. erlebt diese körperlichen Symptome als bedrohlich und hat Angst, sie würde sterben oder verrückt werden. Die Anfälle häufen sich und treten vor allem in der Öffentlichkeit und im Zusammenhang mit sozialen Kontakten auf. Die Studentin kann auch nicht mehr die Vorlesungen besuchen. Frau S. erhält 12 Wochen lang regelmäßig zweimal wöchentlich Kunsttherapie. In dieser Zeit entstehen viele Bilder. Das erste Bild zeigt eine nackte angstverzerrte Frau vor einem strahlend blauen Hintergrund. Frau S. meint dazu, sie möchte endlich die Angst verlieren, denn ansonsten sei alles in Ordnung, Familie, ihr Freund und das Umfeld. In der zweiten Stunde soll Frau S. ihre Biographie darstellen. Sie zeichnet einen abgeschlossenen Kreis, in dessen Innerem Chaos herrscht. Frau S. meint dazu, dass von innen nach außen kein Austausch stattfindet. In diesem Zusammenhang spricht Frau S. wieder über die Angst, die sie nur körperlich wahrnimmt. Im Spiegel der Angst zersetzt sich auch das Idealbild, das sie von sich hat und festhalten will. Zurück bleibt eine instabile Person, die sie selbst nicht anerkennen und akzeptieren will. So lange Frau S. in der Familie und Schule eingebunden war, deren Anforderungen sie entsprechen konnte, erhielt sie die Zuwendung und Anerkennung, die die Basis für ihr Selbstwertgefühl darstellen. Während der Zeit des Fernseins von zu Hause fehlt der strukturierte stützende Rahmen, und es treten erstmalig Angstgefühle auf. Die Therapie beginnt, sobald die Patientin S. bereit ist, sich den Angst machenden Situationen auszusetzen, d. h. aktiv und bewusst allem gegen-

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209 6.12 · Künstlerische und körperorientierte Therapien

überzutreten, was sie anfangs um jeden Preis vermeiden wollte. Es entstehen in der Therapiezeit Bilder, die Kraft und Aggression ausdrücken, auch zarte und gefühlvolle Arbeiten, die ihre Wünsche nach Geborgenheit formulieren. S. ist in der Vielfalt ihrer Empfindungen lebendig geworden. Sie gewinnt das Selbstvertrauen zurück und meistert schließlich auch schwierige Situationen.

Indikationen und Kontraindikationen Die Kunsttherapie kann sehr breit eingesetzt werden. Bei psychisch Kranken erhöht oft die Gabe von Medikamenten die Erfolgsaussichten für die Kunsttherapie. Es muss stets die Verbindung zu anderen Therapieformen wie der Pharmako- oder Psychotherapie gesehen werden, aber auch zu anderen kreativen Therapien wie der Musik-, Tanz- und Bewegungstherapie. Indikationen können sein: 4 Rehabilitation von Patienten mit erworbenen Hirnschäden 4 Beziehungsstörungen 4 Stressbewältigung 4 Angstzustände 4 Suchtkrankheiten 4 Psychiatrische Erkrankungen im Kinder- und Jugendalter 4 Essstörungen 4 Psychosen Es gibt keine Kontraindikationen für die Kunsttherapie. Sie sollte indikationsgerecht und nur von Kunsttherapeuten durchgeführt werden.

6.12.4 Körperorientierte Therapien Definition und Grundlagen > Die körperorientierte Therapie nutzt die komplexen psychosomatischen und somatopsychischen Funktionszusammenhänge zur Behandlung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen, wobei sowohl die Beeinflussung psychischer Funktionen durch sensorische und Bewegungsreize als auch die Effekte mentaler und kognitiver Funktionen auf den Körper therapeutisch genutzt werden. Ent6

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spannung kann sowohl über die psychologische als auch über die körperliche Seite erzielt werden.

Methoden Die wichtigsten Interventionsverfahren der körperorientierten Therapien sind: 4 Entspannungstechniken 4 Verfahren mit psychoanalytischer Orientierung 4 Verfahren mit verhaltenstherapeutischer Orientierung 4 Ablenkende Verfahren Wichtige Konzepte sind: 4 Konzentrative Bewegungstherapie 4 Integrative Bewegungstherapie 4 Autogenes Training 4 Progressive Muskelrelaxation 4 Funktionelle Entspannung 4 Eutonie Wirkungen Die konzentrative Bewegungstherapie ist eine psychosomatische Behandlungsmethode. Dabei kommt es über Konzentration und Zuwendung auf den eigenen Körper zu einer Steigerung der Eigenreflexe und einer Tonisierung (»Bereitsein«). Die Integrative Bewegungstherapie fußt auf der Theorie von Moshe Feldenkrais, nach der drei Faktoren den Menschen prägen: Vererbung, Erziehung und Selbsterziehung. Nur die letzte Komponente kann der Erwachsene noch gestalten. Ein wichtiger Schritt dabei ist, sich seiner Beschränkungen sowohl der körperlichen Bewegungsweise als auch damit verbunden der geistigen Freiheit, bewusst zu werden. Ziel ist es, nach einer Wahrnehmung solcher Deformität diese mit Selbsthilfe und Selbsterziehung zu regulieren (funktionale Integration, Bewusstheit durch Bewegung). Damit kommt es zu einem Ausgleich emotionaler Dysbalancen und erfahrener Störungen der Befindlichkeit. Aus der Hypnosetherapie leitet sich das autogene Training ab. Die Konzentration auf formelhafte, prägnante Vorsätze führt nach entsprechender Übung zur Umschaltung in einen Zustand der Selbstentspannung, die die erstrebte innere Ruhe bringt. Weitere Steigerungen werden durch bildhafte Vorstellungen erzielt.

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Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

Die progressive Muskelrelaxation nach Edmund Jacobson ist primär eine medizinisch-ärztliche Behandlung. Sie wirkt aber auch präventiv bei Gesunden im Sinne einer effektiveren Nutzung ihrer Energie. Mittels einer erlernten, d. h. erspürten Muskelentspannung sollen Verspannungen von Muskeln sukzessiv abgebaut werden. Dadurch können psychische, aber auch somatische Befindlichkeitsstörungen und Erkrankungen beeinflusst, gemindert bzw. behoben werden. Bei der funktionellen Entspannung nach Marianne Fuchs wird die Konzentration auf die Wahrnehmung der eigenen Gestalt gelenkt. Man entdeckt die Störquellen dort, wo sie im Körper wirken. Die Atmung wird trainiert, Verkrampfungen und Verspannungen lösen sich. Das pädagogische Konzept der Eutonie nach Gerda Alexander geht davon aus, dass jeder Mensch seinen eigenen Rhythmus finden muss, um größtmögliche Ausgeglichenheit zu erreichen. Dies kann erzielt werden, wenn Bewegungsabläufe nicht wie sonst üblich automatisch und mechanisch, sondern bewusst durchgeführt werden. Schlechte Sitzhaltung und Gewohntheiten in der Bewegung sowie blockierende Muskelverspannungen werden zuerst aufgespürt. Dann können sie mit Übungen abgebaut werden. Es entsteht ein neues Körperbewusstsein, aber man entdeckt auch, wie man mit Gedanken und Gefühlen umgeht und wie das auf die Körperhaltung zurückwirkt. ä Beispiel Die 44-jährige Patientin L. leidet seit 6 Monaten unter wiederholt auftretenden Spannungskopfschmerzen. Seit dieser Zeit arbeitet sie in einer anderen Abteilung der Firma, wo sie Terminaufgaben zu erledigen hat. Sie berichtet, dass die Arbeit sie sehr strapaziert und sie ihren Freizeitsport (Schwimmen) auch nicht mehr ausüben kann. Die Patientin erhält eine Entspannungstherapie in der Gruppe über 6 Wochen, zweimal wöchentlich. Dabei erfährt sie, wie wichtig Körperhaltung und Atmung für den Spannungszustand der Muskulatur sind. Die Entspannung erreicht Frau L. über Phantasiereisen. Dabei ruft die Therapeutin eine mentale Vorstellung des Zielortes der Reise hervor, z. B. Südseeinsel. Für die Übenden wird damit die Möglichkeit gegeben, sich zu den Vorgaben ein inneres Erlebnis zu schaffen. Frau L. lernt in den Therapiesitzungen, sich zu entspannen, wird beschwerdefrei und führt zu Hause regelmäßig ihr Entspannungsprogramm fort. Sie findet auch wieder zweimal wöchentlich Zeit für ihren Freizeitsport.

Indikationen und Kontraindikationen Indikationen der körperorientierten Therapien sind: 4 Angstzustände 4 Depressionen 4 Chronifizierte Schmerzsyndrome 4 Chronische Haltungs- und Bewegungsstörungen mit muskuloskelattalen Beschwerden 4 Myofunktionelle Störungen 4 Schlafstörungen 4 Spannungskopfschmerzen 4 Begleittherapie bei psychosomatischen Erkrankungen wie z. B. funktionelle Herz- und Magen-DarmBeschwerden Zu den klassischen Kontraindikationen der konzentrativen Bewegungstherapie gehören die Psychosen. > Eine therapeutische Beziehung zwischen Patient und Therapeut und Mitpatienten im Rahmen eines Übertragungsprozesses ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. Das bedeutet, dass durch die gemachten Erfahrungen Beziehungen entstehen, bei denen quasi modellhaft typische Verhaltensweisen und Gefühle entstehen bzw. sichtbar werden. Diese können für einen weiterführenden psychotherapeutischen Prozess genutzt werden. Fazit Künstlerische und körperorientierte Therapien sind Gruppen- und Einzeltherapien, bei denen freie Angebote zu bewussten Erfahrungen und Gruppeninteraktionen genutzt werden. Diese Erfahrungen werden stets verbal aufgearbeitet und für weiterführende psychotherapeutische Prozesse nutzbar gemacht. Körperorientierte und künstlerische Therapien kommen vor allem in der psychosomatischen und psychiatrischen Rehabilitation zum Einsatz und besitzen ein breites Indikationsspektrum, von somatischen Erkrankungen mit psychischen Auswirkungen (z. B. chronische Schmerzen) bis hin zu den klassischen psychosomatischen Krankheitsbildern. Insbesondere die Musiktherapie kann aber auch in der Akutmedizin und Frührehabilitation eingesetzt werden, z. B. zur Kommunikationsanbahnung bei bewusstseingestörten Patienten.

211 6.13 · Patientenschulung

6.13

Patientenschulung

I. Ehlebracht-König 6.13.1 Definition und Grundlagen > Durch Patientenschulung im Rahmen der Rehabilitation sollen chronisch Kranke in die Lage versetzt werden, ihre Erkrankung und die damit verbundenen Belastungen eigenverantwortlich zu bewältigen. Dies beinhaltet die kognitive Wissensvermittlung, die Erweiterung der praktischen Kompetenz im Alltag und die günstige Beeinflussung von Einstellungen und Bewertungen im Rahmen der Krankheitsbewältigung. Patientenschulung ist somit ein elementarer Baustein im rehabilitativen Prozess.

Es ist zwischen Patientenaufklärung, -information, -training und Patientenschulung zu unterscheiden. 4 Patientenaufklärung ist als Bestandteil ärztlicher Beratungsleistungen zu sehen und findet vor allem an konkrete Situationen gebunden in der Sprechstunde und während der Stationsarbeit statt. Je nach aktuell vorliegender Problemlage, vorgetragener Fragestellung oder anstehender Behandlung wird Patientenaufklärung in der üblichen Arzt-Patient-Beziehung durchgeführt. Typische Beispiele sind Aufklärungen über unerwünschte Medikamentenwirkungen oder vor invasiven Eingriffen. 4 Patienteninformation zielt vor allem auf die kognitive Ebene, d. h. auf die Vermittlung von Wissen. Sie enthält somit Elemente der Patientenschulung. Patienteninformation benötigt für die Umsetzung didaktische Konzepte, es können unterschiedliche Methoden und Medien eingesetzt werden (z. B. Vorträge, Videos, Kassetten, Bücher). 4 Beim Patiententraining liegt der Schwerpunkt im Bereich der praktischen Dimension. Im Vordergrund stehen übende Verfahren, d. h. die Vermittlung krankheitsrelevanter Fertigkeiten. Als Beispiele seien hier spezielle Atemtechniken, Fußpflege und Spritztechniken genannt. Auch hier bestehen Überlappungen mit der Patientenschulung. 4 Patientenschulung ist auf mehrere Dimensionen ausgerichtet. Sie beinhaltet kognitive, praktische und emotionale Elemente. Neben der Wissensvermittlung und dem praktischen Training zielt sie vor allem auf die Veränderung von krankheitsbezogenen oder therapeutisch relevanten Einstellungen.

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Unter Patientenschulung werden alle systematisch geplanten, methodisch und didaktisch aufbereiteten Maßnahmen verstanden, die Einstellungen und Verhaltensweisen von Patienten im positiven Sinne beeinflussen sollen. Dazu werden psychologische und pädagogische Methoden eingesetzt. Die Vorgehensweise ist themenzentriert und patientenorientiert. Die Gestaltung der Gruppenstunde orientiert sich an einem vorgegebenen Lehrplan. Sie wird nicht im Vortragsstil abgehalten, sondern interaktiv unter Einbeziehung der Patientenerfahrungen gestaltet. Gruppendynamische Elemente stehen dabei im Vordergrund. > Für den Erfolg eines strukturierten Therapieprogramms ist es wichtig, dass eine effektive Interaktion der Teilnehmer in einer überschaubaren und beschützenden Kleingruppe möglich ist.

6.13.2 Bewältigung einer chronischen

Krankheit Auf welche Art und Weise eine chronische Krankheit von den Betroffenen bewältigt wird, hängt von vielfältigen Einflüssen ab und wird heute insgesamt als Prozess verstanden. Die Bewältigung ist von der Art der Erkrankung und von den individuellen und soziologischen Voraussetzungen des Betroffenen abhängig. Vor diesem Hintergrund erfolgen zunächst eine erste Auseinandersetzung mit dem Ereignis und eine Bewertung der Erkrankung. In diese Bewertung gehen die Krankheitstheorien des Individuums im Hinblick auf die Erkrankung selbst und auch die Behandlungsmöglichkeiten mit ein (Laientheorien). Oft wird die Erkrankung als Verlust bzw. Schädigung, als Bedrohung für die Persönlichkeit oder als Herausforderung verstanden. Es erfolgen weitere Bewertungen unter den Gesichtspunkten: 4 Was kann ich selber tun? 4 Über welche Kompetenzen verfüge ich? 4 Welche Unterstützungen stehen mir zur Verfügung? Es folgen Bewältigungsversuche, die sowohl effektiv als auch ineffektiv sein können. Je weniger Kompetenzen vorhanden sind, umso ineffektiver werden die Bewältigungsversuche. Betroffene erfahren eine Unkontrollierbarkeit der Situation. Dieses kann in der Folge zu Gefühlen der Hilflosigkeit, Unsicherheit, Passivität und auch zunehmender Depressivität führen.

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Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

> Patientenschulung will der Erfahrung der Unkontrollierbarkeit und dem Gefühl der Hilflosigkeit entgegenwirken und einen aktiven Bewältigungsstil fördern. Entscheidend ist, dass möglichst überschaubare Ziele gesteckt werden, um Belohnungen – das Gefühl der Kontrollierbarkeit – zu erfahren. Daher ist es sinnvoll, die Ressourcen der Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen und weniger auf die bestehenden Risiken der Erkrankung und Behandlung abzuheben.

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Patientenschulungsprogramme sind am effektivsten in der Steigerung der Selbstwirksamkeit der Betroffenen. Unter wahrgenommener Selbstwirksamkeit versteht man die Erwartung einer Person, dass sie 4 erstens ein bestimmtes Verhalten ausführen kann (Wirksamkeitserwartung) und dass 4 zweitens dieses Verhalten auch zu einem gewünschten Ergebnis führt (Handlungsergebniserwartung). In der Rehabilitation könne chronisch Kranke so erfahren, dass eigene Verhaltensstrategien einen günstigen Einfluss auf das subjektive Befinden haben. Beispiel: Ein Patient mit Spondylitis ankylosans ist der Überzeugung, dass er Bewegungsübungen und ein regelmäßiges spezifisches Atemübungsprogramm richtig beherrscht und diese zu einer Verbesserung oder Erhaltung der Funktion führen.

6.13.3 Schulungsprogramme Für die Rehabilitation einzelner Krankheitsbilder und Zielgruppen wurden strukturierte Schulungsprogramme entwickelt. Sie zeichnen sich durch ein Curriculum aus, in dem spezifische Lernziele, darauf abgestimmte Inhalte und Methoden für die Umsetzung niedergelegt sind. Schulungsprogramme und ihre Ziele unterliegen einem zeitlichen Wandel und müssen in regelmäßigen Abständen überarbeitet werden. Inhalte Unabhängig von der Diagnose verfolgen Patientenschulungsprogramme heute folgende Ziele: 4 Auf der kognitiven Ebene: Chronisch Kranke erhalten spezifische Informationen zur Erkrankung selbst und den Behandlungsmöglichkeiten. Dazu

gehören Themen wie Krankheitsursachen, -verläufe, -folgen aber auch medikamentöse und nichtmedikamentöse Therapieansätze. 4 Auf der Ebene der Wahrnehmung von krankheitstypischen Signalen: Die Betroffenen erkennen Krankheitssymptome oder Warnsignale, die sofortige professionelle Hilfe erforderlich machen, sie lernen die eigenen Belastungsgrenzen kennen und wissen um erwünschte und unerwünschte Therapieeffekte. 4 Auf der Ebene des Selbstmanagements: Chronisch Kranke beherrschen krankheitsbezogene Fertigkeiten. Sie sind in der Lage, selbstständig eine Anpassung von bestimmten Medikamenten vorzunehmen, Entscheidungen bei der Anwendung physikalischer Therapieformen oder im Einsatz von Hilfsmitteln zu treffen. Auf das Wahrnehmen von Warnsignalen folgt eine adäquate Handlung. Dies kann der Einsatz von Selbstbehandlungsmöglichkeiten sein oder aber auch das sofortige Aufsuchen eines Arztes bei Krisensituationen. 4 Auf der Ebene der Einstellungen und Bewertungen: Chronisch Kranke reflektieren ihre Bewertungen und Einstellungen bezüglich der Erkrankung und können sie verändern. Sie erhöhen ihre Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortlichkeit im Umgang mit der Erkrankung, z. B. indem sie die Erkrankung als Teil ihres Lebens akzeptieren und aktiv mit ihr umgehen. Das bedeutet einerseits, dass sie in ihrer Lebensgestaltung auf die Krankheit Rücksicht nehmen. Andererseits beteiligen sie sich aktiv am Therapieregime. Sie erlangen besondere kommunikative und soziale Kompetenzen bezüglich des privaten, beruflichen und medizinischen Umfeldes. Aufbau Patientenschulungsprogramme sind themenzentriert und patientenorientiert; sie bestehen in der Regel aus mehreren Bausteine mit speziellen inhaltlichen Schwerpunkten. Die Lernziele und Inhalte für die einzelnen Bausteine werden in Trainerhandbüchern beschrieben. Dort werden auch Methoden, Medien und mögliche Stolpersteine im Ablauf aufgeführt. Folienvorlagen können die Unterlagen ergänzen. Es wird empfohlen, schriftliche Teilnehmerinformationen nach Ablauf der Schulung auszugeben. Die Schulung wird je nach Konzeption mit Hilfe eines qualifizierten Schulungsteams oder Trainer durchgeführt. Dabei sind pädagogische

213 6.13 · Patientenschulung

und lernpsychologische Grundlagen zu berücksichtigen. Das Curriculum bietet ein Grundgerüst, das jedoch an jede Gruppe speziell adaptiert werden kann und muss. Jede Patientengruppe hat ihre eigenen Schwerpunkte. Aktives Zuhören, Motivierung der Teilnehmer zur aktiven Mitarbeit und die Schaffung eines angenehmen sozioemotionalen Klimas in der Gruppe sind Kompetenzen, über die ein Trainer verfügen sollte. Dazu gehört auch eine einfache, gut verständliche Sprache. Zur Verbesserung der rhetorischen Fähigkeiten und der Sensibilisierung hinsichtlich möglicher gruppendynamischer Prozesse werden spezielle Trainerseminare zur Vorbereitung angeboten. ä Beispiel Eine 45-jährige Patientin leidet seit 2 Jahren an einer rheumatoiden Arthritis und wird hauptsächlich durch den Hausarzt betreut. Die Krankheit wurde bisher mit nichtsteroidalen Antiphlogistika und Kortikoiden behandelt. Wegen anhaltender Krankheitsaktivität (Gelenkschwellungen, Schmerzen, Morgensteifigkeit und hohe humorale Entzündungszeichen) bestand ein hoher Kortikoidbedarf. Eine Dosisreduktion unter 15 mg pro Tag war nicht möglich. Der Hausarzt hatte die Patientin bereits einmal bei einem Rheumatologen vorgestellt. Es war eine immunmodulierende Therapie mit 15 mg Methotrexat pro Woche vorgeschlagen worden. Die Patientin hatte dies jedoch aus Angst vor dem Medikament abgelehnt. Eine Freundin der Patientin hatte dies Medikament im Rahmen einer Chemotherapie bei einem Tumorleiden erhalten. Eine weitere Vorstellung beim Rheumatologen war von ihr ebenfalls abgelehnt worden. Wegen langer Arbeitsunfähigkeitszeiten und deutlicher funktioneller Einschränkungen erfolgte die Aufnahme in einer Rehabilitationsklinik. Im Rahmen des stationären Aufenthaltes nahm die Patientin an einem Schulungsseminar für chronische Polyarthritiden teil. Ihr wurden hier Informationen zur Erkrankung und den therapeutischen Möglichkeiten vermittelt. In dem Seminar wurden die Grundprinzipien der medikamentösen Therapie dargelegt. Sie hatte umfassend Zeit für einen Erfahrungsaustausch mit gleichermaßen Betroffenen. Sie erfuhr, dass mehrere Kursteilnehmer mit Metotrexat schon über einen langen Zeitraum eingestellt waren und dies Medikament auch gut vertrugen. Nach zusätzlichen Aufklärungsgesprächen mit dem behandelnden Stations-

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arzt stimmte sie der Einleitung einer Basistherapie mit Methotrexat zu. Die Behandlung wurde nach Entlassung vom Hausarzt fortgeführt, nach 8 Wochen konnte langsam eine Kortisonreduktion erfolgen. Die Entzündungsaktivität ging weiter zurück, die Erkrankung stabilisierte sich. Die Patientin stimmte einer rheumatologischen Mitbetreuung zu. Das Schulungsseminar konnte bei dieser Patientin zu einem Angstabbau bezüglich der Basismedikation beitragen. Wichtige Rollen spielt dabei die Informationsvermittlung und der Erfahrungsaustausch mit anderen Patienten. Erst durch die Schulung der Patientin konnte eine Therapie nach den Empfehlungen der wissenschaftlichen Fachgesellschaft erfolgen.

Effektivität Für verschiedene chronische Krankheiten ist die Wirksamkeit von Patientenschulung im Rahmen von Rehabilitationsmaßnahmen nachgewiesen. So führt z. B. eine qualifizierte Diabetikerschulung nicht nur zu mehr Wissen, sondern auch zu einer besseren Compliance, einer verbesserten Stoffwechseleinstellung sowie einer Reduktion der Spätkomplikationen und der lebensbedrohlichen Stoffwechselentgleisungen. Folgekosten für die Sozialsysteme können auf diese Weise vermieden werden.

Diabetikerschulung Folgende Schwerpunktthemen finden sich in den meisten Schulungsprogrammen für Diabetiker wieder, wobei sich die Ausprägung der einzelnen Themenbereiche nach der Zielgruppe und der Ausgestaltung richtet: 5 Informationen zur Pathophysiologie des Diabetes mellitus, Leitsymptome, Warnzeichen für Hyperglykämien 5 Spätfolgen der Erkrankung, notwendige Langzeitkontrollen 5 Behandlung mit Insulin oder oralen Antidiabetika, Warnzeichen für Unterzuckerungen 5 Urin- bzw. Blutzuckerselbstkontrolle, ggf. Spritztechniken, Spritzhilfen 5 Informationen über Nahrungsmittel und Ernährungsprinzipien bei Diabetes mellitus 5 Fußpflege, ggf. Fußgymnastik 5 Informationen über Komplikationen bei zusätzlichen Erkrankungen

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Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

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Verhalten im Urlaub Berufliche Anforderungen, z. B. Schichtdienst Fragen zu Schwerbehinderung und Führerschein Fallbeispiele

Auch für die Schulungsprogramme für Patienten mit Asthma, weiteren Lungenerkrankungen, Erkrankungen des Bewegungsapparates (Morbus Bechterew, Fibromyalgiesyndrom, Lupus erythematodes und Polyarthritiden sind anhaltende Verbesserungen der Lebensqualität, Funktionskapazität, Alltagskompetenz, eine reduzierte Medikamenteneinnahme und ein Rückgang der indirekten Kosten nachgewiesen. Fazit Ziel der Patientenschulung in der Rehabilitation ist es, den Patienten einen selbstständigen und selbstbestimmten Umgang mit der Krankheit zu ermöglichen. Das beinhaltet eine Wissensvermittlung über die Krankheit selbst und die Therapiemöglichkeiten sowie psychologische Hilfen zur aktiven Krankheitsverarbeitung. Patientenschulungsprogramm sind standardisierte Gruppenprogramme, die problemorientiert unter aktiver Teilnahme der Betroffenen durchgeführt werden. Die Gruppenstunden werden von Angehörigen der verschiedenen an der Rehabilitation beteiligten Berufsgruppen geleitet.

6.14

Arbeits- und berufsbezogene Rehabilitation H. Irle

Erwerbsrolle und Gesundheit sind eng miteinander verschränkt. Das Berufsleben ist durch unterschiedliche Einflüsse gekennzeichnet, die sich sowohl stabilisierend als auch gefährdend auf die Gesundheit auswirken können. In den Arbeits- und Ingenieurswissenschaften sowie in der Psychologie werden stresstheoretische Modelle und Konzeptionen erörtert, die dem Zusammenhang zwischen Stressoren bzw. Belastungen und individuellem Leistungsvermögen genauer nachgehen.

6.14.1 Wechselwirkungen zwischen

Gesundheit und Arbeitsplatz Schwierigkeiten im Arbeits- und Berufsleben stellen für viele Rehabilitanden ein gravierendes Problemfeld dar. Gesundheitliche Beeinträchtigungen stehen häufig in Wechselwirkung mit der Situation am Arbeitsplatz. Neben längerer Krankheit oder Behinderung kann zusätzlich auch Arbeitslosigkeit die berufliche Leistungsfähigkeit einschränken. Körperliche Beanspruchungen im Berufsleben durch physische und physikalische Belastungen sind durch den Einsatz technischer Hilfsmittel inzwischen eher in den Hintergrund getreten. Psychosoziale Belastungsfaktoren spielen dagegen eine zunehmend größere Rolle. Die Veränderungen in der Arbeitswelt sind in den letzten Jahrzehnten durch eine Abkehr vom Produktionsbereich und eine Zunahme des Dienstleistungssektors geprägt. Hiermit verbunden sind wachsende Anforderungen an Qualifikation und Flexibilität der Arbeitnehmer. Dieser gesellschaftliche Wandel spiegelt sich mittlerweile auch in den Konzepten der medizinischen Rehabilitation wider, die sich stärker auf die berufliche Situation der Rehabilitanden ausrichten. Im Rahmen eines integrativen Ansatzes wird dem arbeitsplatzbezogenen Interventionsbedarf beim einzelnen Patienten in der medizinischen Rehabilitation inzwischen vermehrt Rechnung getragen. Leitprinzip ist dabei die Förderung von Aktivität und Fähigkeit zur Selbsthilfe. Darüber hinaus wird aber auch den Schnittstellen zur beruflichen Rehabilitation sowie dem Übergang zwischen der medizinischen Rehabilitation und der Rückkehr an den Arbeitsplatz (»return to work«) mehr Bedeutung beigemessen.

6.14.2 Rehabilitation der Renten-

versicherung > Für die medizinische Rehabilitation der Rentenversicherung gehört die arbeits- und berufsbezogene Orientierung von Beginn an zu ihrem Kernauftrag. Das Ziel, eine Frühberentung zu verhindern oder sie so weit wie möglich hinaus zu schieben, ist im Sozialgesetzbuch VI (§ 15) festgelegt. Rehabilitative Leistungen der Rentenversicherung setzen allerdings eine erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung voraus.

215 6.14 · Arbeits- und berufsbezogene Rehabilitation

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (früher: »berufsfördernde Leistungen«) werden durch die Träger der Rentenversicherung laut § 16 SGB VI erbracht. Unter Berücksichtigung der verschiedenen Ebenen der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF; 7 Kap. 4.2) kommen folgende Bereiche in Betracht: 4 Beeinträchtigungen auf der Ebene der Körperfunktionen und Körperstrukturen können z. B. durch Mobilitätseinschränkungen zu erheblichen Aktivitäts- und Partizipationseinschränkungen im Arbeitsleben führen. Hier sind innerhalb der medizinischen Rehabilitation individuelle, ergonomisch ausgerichtete Anpassungs- und Trainingsmaßnahmen zu prüfen. Dies kann darüber hinaus auch eine geeignete Arbeitsplatz- und Hilfsmittelausstattung umfassen. So kann z. B. eine Stehhilfe (sog. Stehstuhl) die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz deutlich steigern, wenn Schmerzen bei einer schweren Koxarthrose eine stehende Tätigkeit über längere Zeit nicht mehr erlauben. 4 Beeinträchtigungen bei den psychischen Funktionen können sich zum Beispiel in Form von mangelndem Selbstvertrauen, Konzentrationsmangel und vorzeitiger Erschöpfung äußern; auf der Ebene der Aktivitäten bzw. Teilhabe kann dies zu einer Einschränkung der Belastbarkeit bzw. der Umstellungs- und Problemlösefähigkeit im Berufsalltag mit Verlust an Handlungskompetenz und Unabhängigkeit führen. Durch Versagensängste und überhohe Erwartungen an die eigene Leistungsfähigkeit ist bei den Rehabilitanden häufig ein Ungleichgewicht zwischen beruflicher Verausgabung und wahrgenommener Gratifikation zu verzeichnen, das psychotherapeutisch ausgerichtete Interventionen im Rahmen der medizinischen Rehabilitation notwendig machen kann. Ein häufiges Symptom psychischer Erkrankungen, aber auch eine Folge von Schädel-Hirn-Verletzungen und Schlaganfall ist ein Mangel an Konzentrationsfähigkeit. Die daraus resultierende Verminderung der beruflichen Leistungsfähigkeit mit geringerer Anerkennung und ggf. auch Zurückstufung in der Arbeitshierarchie kann eine wesentliche zusätzliche psychische Belastung darstellen, die durch eine psychosomatische Rehabilitation aufgefangen oder zumindest erträglicher gemacht werden kann. 4 Auf der Ebene der fördernden oder hemmenden Kontextfaktoren spielen Fragen des sozioökono-

6

mischen Status mit seinen verschiedenen Aspekten wie Ausbildung, spezifische Qualifikation, berufliche Position, Einkommen oder die Integration in das soziale Netz eine Rolle. Bei zahlreichen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit kann es z. B. hilfreich sein, dass im Laufe eines Arbeitstages wiederholte kurze Pausen eingelegt oder Ausgleichsbewegungen durchgeführt werden. Dies ist nur in einem akzeptierenden Arbeitsumfeld oder einem eigenen abgeschlossenen Arbeitsraum möglich. Beide Bedingungen wären also als fördernde Kontextfaktoren zu bezeichnen. Hierzu zählt auch, wenn z. B. Konzentrationsstörungen durch vermehrte Aufmerksamkeit von Mitarbeitern ausgeglichen werden.

6.14.3 Arbeitsbezogener

Rehabilitationsbedarf Um den arbeitsbezogenen Rehabilitationsbedarf für die medizinische Rehabilitation im Einzelfall zu erfassen, muss auf möglichst anschauliche und vollständige Angaben zur Sozial- und Berufsanamnese zurückgegriffen werden. > Für eine berufsorientierte Analyse sind neben der Klärung der sozialen Situation auch die Motivation des Betroffenen, das zugrunde liegende Modell von Krankheit und Gesundheit sowie die Wechselwirkungen zwischen Belastbarkeit und Beanspruchung zu berücksichtigen.

Hierfür kann der Einsatz von orientierenden Selbstauskunfts- bzw. Screening-Fragebögen und standardisierten Befragungsinstrumenten bis hin zu Assessmentverfahren sinnvoll sein (7 Kap. 5). Dies gilt auch für Merkmalskataloge, die spezifisch zur Integration in die Arbeitswelt entwickelt worden sind. Eine umfangreichere Erhebung im Vorfeld der medizinischen Rehabilitation – z. B. im Rahmen der Reha-Antragstellung – wird dabei meist nicht zu leisten sein. Spätestens bei Antritt einer Maßnahme ist aber eine genauere diagnostische Abklärung erforderlich, um die individuellen Rehabilitationsziele gemeinsam mit dem Betroffenen innerhalb des therapeutischen Teams abstimmen zu können. Letztlich muss in der medizinischen Rehabilitation nur ein begrenzter Kreis von Patienten einem besonders strukturierten diagnostischen, therapeutischen

216

6

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

und motivationalen Prozess unterzogen werden. Trotzdem gehören die Identifikation der potenziellen sozialmedizinischen Problemfälle und die Beschreibung des Handlungsbedarfs zu ihren wesentlichen Aufgaben. Erprobende und trainierende Maßnahmen für Patienten, die eine spezifische Arbeitsplatzproblematik aufweisen, sollten prinzipiell in allen Reha-Einrichtungen durchgeführt werden. Darüber hinaus haben sich in den letzten Jahren an einzelnen Standorten zusätzliche konzeptionelle Schwerpunkte ergeben, die in spezifischen Abteilungen z. B. unter dem Stichwort »medizinisch-berufsorientierte Rehabilitation – MBO« zur Anwendung kommen. Mit dem Ausbau der ambulanten Rehabilitation und einem verstärkten Wohnortbezug ergeben sich weitere Optionen für eine Umsetzung arbeitsbezogener Strategien, die durch die verstärkte Nutzung von RehaNachsorge und stufenweiser Wiedereingliederung ergänzt werden.

6.14.4 Inhalte der arbeits- und

berufsbezogenen Rehabilitation Folgende Inhalte mit Berufsbezug können Bestandteil des therapeutischen Programms in der medizinischen Rehabilitation sein: 4 Überprüfung der bisherigen Krankheits- bzw. Behinderungsbewältigung 4 Resignationsgefühle, Antriebsminderung, Vermeidungsstrategien und Lernblockaden erkennen und verringern 4 Erwerb und Umsetzung von Angst- und Stressbewältigungsstrategien, Abbau berufsbezogener Befürchtungen 4 Realistische Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit, Förderung einer positiven beruflichen Selbsteinschätzung und Selbstwirksamkeit 4 Erprobung somatischer und psychischer Belastbarkeit sowie berufsrelevanter Kommunikations- und Interaktionsfähigkeiten 4 Reflexion gesundheitlicher, beruflicher und privater Ziele und deren Verknüpfung 4 Behandlungsbegleitende praxisbezogene Tätigkeiten, um die Übertragung von Lösungsansätzen ins berufliche Umfeld zu erleichtern 4 Entwicklung einer realistischen beruflichen Perspektive, um längere Arbeitsunfähigkeitszeiten oder Frühberentung zu verhindern

Das interdisziplinär ausgerichtete Methodenspektrum der medizinischen Rehabilitation setzt sich u. a. aus Modulen der Bewegungs- und Sporttherapie, der Physiotherapie, der Ergotherapie und der themenbezogenen Gruppenarbeit z. B. im Rahmen des Gesundheitstrainings zusammen. Berufsbezogene Inhalte sollten auch bei der Beratung durch Sozialdienst oder RehaBerater berücksichtigt werden. ä Beispiel Ein 33-jähriger Montagearbeiter aus der Automobilindustrie kommt nach erfolgreicher lumbaler Bandscheibenoperation in die Anschlussrehabilitation. Zu Beginn bestehen noch eine Restparese der Fußhebermuskulatur sowie eine insuffiziente Rumpfmuskulatur. Der Patient ist unsicher, ob er seine Arbeit noch ausführen kann. Sie beinhaltet das wiederholte Anheben eines 7 kg schweren Bauteils und dessen Einbau in Rumpfvorneige von 30° und leichter Rechtsrotation (ca. 10°). In der Rehabilitation erfolgen eine krankengymnastische Behandlung der Funktionsdefizite und eine medizinische Trainingstherapie der Rumpfmuskulatur. Im Rahmen der Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit nach Isernhagen wird der Arbeitsplatz nachgestellt und unter therapeutischer Beobachtung die notwendige Bewegung über längere Zeiträume wiederholt durchgeführt. Da noch Defizite bzw. leichte Überlastungserscheinungen bei mehr als zweistündiger Tätigkeit bestehen, werden die insuffizienten Muskeln speziell weiter trainiert. Der Patient gewinnt an Selbstbewusstsein und traut sich bei Ende der Rehabilitation zu, mittelfristig wieder an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Da er seine Leistungsfähigkeit noch nicht voll erreicht hat, wird über den Sozialdienst eine stufenweise Wiedereingliederung in das Berufsleben veranlasst, sodass der Patient zunächst nur 4 Stunden am Tag arbeiten muss. Die Belastung wird stufenweise bis zum 8-h-Arbeitstag gesteigert.

p Bei Reha-Antritt neigen viele Patienten nach längeren Krisen- und Krankheitszeiten häufig zur Distanzierung von ihrem beruflichen und sozialen Kontext – zumindest auf Zeit. Ihre Erwartungen richten sich dabei oft weniger auf die Mitgestaltung ihres Therapieprogramms als auf Zuwendung und Entlastung. Somit bedarf die 6

217 Literatur

aktive Entwicklung von Problemlösekompetenz für den sozialen Alltag und insbesondere für das Erwerbsleben eines besonderen therapeutischen Geschicks, das neben Empathie auch motivationale Fähigkeiten umfasst. In diesem Zusammenhang muss die Veränderungsbereitschaft der Patienten erkundet und gefördert werden, um die Voraussetzungen für eine Umsetzung in den Alltag zu schaffen.

6

vorbereitung oder eine berufliche Anpassung in Betracht. Während in der medizinischen Rehabilitation meist eine Rückkehr an den bisherigen oder einen vergleichbaren Arbeitsplatz im Vordergrund steht, zielen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben meist eher darauf ab, die Betroffenen für eine neue Tätigkeit zu qualifizieren, die ihrem spezifischen Leistungspotenzial Rechnung trägt. Fazit

In den Reha-Einrichtungen haben sich inzwischen folgende arbeits- und berufsbezogene Angebote etabliert: 4 Psychoedukative Gruppen (z. B. zur Bewältigung von Stress und psychosozialen Problemen am Arbeitsplatz, zu Arbeitslosigkeit und beruflicher Orientierung) 4 Arbeitstherapie (z. B. Soziales/Hauswirtschaft, EDV/Bürokommunikation, Handwerk) 4 Arbeitsplatztraining (z. B. im Rahmen einer internen oder externen Belastungserprobung) 4 Arbeitsplatzbesuche 4 Betriebsseminare 4 Sozial- und Berufsberatung, sozialrechtliche Beratung Die Belastungserprobung stellt nicht nur ein therapeutisches, sondern auch ein diagnostisches Instrument zur Bestandsaufnahme der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit eines Rehabilitanden in einem berufspraktischen Setting dar. Hier sollte die Leistungsfähigkeit in arbeitsbezogenen Anforderungssituationen realitäts- und aufgabenorientiert eingeschätzt werden. Um ein neues Berufsziel oder die Eignung, Fähigkeit und das Leistungsprofil fundiert zu ermitteln, kann aber auch eine Klärung der beruflichen Eignung unter Rückgriff auf arbeitspsychologische Kompetenz erforderlich sein. > Sollten berufsbezogene Leistungen in der medizinischen Rehabilitation allein nicht ausreichen, um den Rehabilitanden die Rückkehr an einen Arbeitsplatz zu ermöglichen, sind ggf. auch berufliche Rehabilitationsmaßnahmen in Erwägung zu ziehen.

Bei den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben kommt u. a. eine Arbeitserprobung und Eignungsabklärung, eine Qualifizierung im Rahmen einer Berufs-

Vor allem im Bereich der Rentenversicherung ist die Reintegration in das Berufsleben ein zentrales Ziel von Rehabilitationsmaßnahmen. Dabei geht es einerseits darum, den Rehabilitanden körperlich und psychisch in die Lage zu versetzen, wieder im Beruf zu arbeiten. Andererseits soll, entsprechend den Bedürfnissen der Betroffenen, die Wiedereingliederung durch Hilfsmittel und eine ergonomische Arbeitsplatzgestaltung erreicht werden. Neben der medizinischen Rehabilitation stehen im Rahmen der berufsorientierten Rehabilitation weitere Maßnahmen zur Verfügung wie z. B. Hilfen zur Arbeitsplatzumgestaltung, Umschulungsmaßnahmen oder finanzielle Wiedereingliederungshilfen. Auch die Belastungsdiagnostik und Arbeitserprobung gehören zu einer arbeitplatz- und berufsorientierten Rehabilitation.

Literatur AUVA (Allgemeine Unfallversicherungsanstalt) (1994) Ganzheitliche Pflege – die Chance für erfolgreiche Rehabilitation. Handbuch für die Praxis Bartolome G, Buchholz D, Feussner H et al. (1999) Schluckstörungen – Diagnostik und Rehabilitation. Urban & Fischer, München Jena 1999 Böhme G (2001) Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen, 3. Aufl. Urban & Fischer, Stuttgart Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Landesversicherungsanstalten, Bundesknappschaft, Seekasse im Verband deutscher Rentenversicherungsträger (2000) KTL-Klassifikation therapeutischer Leistungen in der medizinischen Rehabilitation, 4. Aufl. BfA, Berlin Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (2003) Der Mensch im Mittelpunkt einer zukunftsorientierten Rehabilitation. BfA, Berlin Delbrück H, Haupt E (1998) Rehabilitationsmedizin, 2. Aufl. Urban & Schwarzenberg, München Fialha-Moser V (2005) Kompendium Physikalische und Rehabilitative Medizin. Springer. Wien 2005

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6

Kapitel 6 · Rehabilitative Interventionen

Gutenbrunner Chr, Weimann G (2004) Krankengymnastische Methoden und Konzepte. Springer, Berlin Heidelberg New York Juchli L (1987) Krankenpflege, 5. Auflage. Thieme, Stuttgart New York Karnath HO, Thier P (2003) Neuropsychologie. Springer, Berlin Heidelberg New York Marotzki U (2002) Ergotherapeutische Modelle praktisch angewandt. Springer, Heidelberg Berlin New York Nelles G (2004) Neurologische Rehabilitation. Thieme, Stuttgart Scheepers C, Steding-Albrecht U, Jehn P (1999) Ergotherapie – Vom Behandeln zum Handeln. Thieme, Stuttgart Schuntermann M (2006) Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit und der Behinderung. ICF, World Health Organisation, Genf (im Druck); im Internet: www.deutscherentenvericherung.de Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) (1999) Förderschwerpunkt »Rehabilitationswissenschaften«. DRV-Schriften, Band 16, Frankfurt/Main Vohs M, Winter I (1999) Fachpflege Rehabilitation. Urban & Fischer, München Jena

1 7

III. Naturheilverfahren 7 Definitionen und Klassifizierung der Naturheilverfahren Chr. Gutenbrunner 7.1

Begriffe und Definitionen – 220

7.2

Naturheilmittel und Konzepte der Naturheilverfahren – 221

7.3

Natürliche Therapie

7.4

Alternative Therapie – 224

7.5

Wissenschaftlicher Nachweis Literatur

– 226

– 222

– 225

220

Kapitel 7 · Definitionen und Klassifizierung der Naturheilverfahren

> > Einleitung Unter dem Begriff der Naturheilverfahren werden zahlreiche zum Teil sehr unterschiedliche Therapieverfahren und Konzepte subsumiert, deren theoretischer Hintergrund ebenfalls stark variiert. Daher werden zunächst die wichtigsten Definitionen und Begründungen abgehandelt. Ziel ist es dabei, angebotene Verfahren einzuordnen und in Bezug auf theoretische Begründung und das zugrunde liegende Therapieprinzip besser beurteilen zu lernen. In 7 Kap. 8 werden einige klassische Naturheilverfahren sowie einige komplexe Therapiekonzepte ohne Anspruch auf Vollständigkeit dargestellt. Die weiteren Verfahren sind speziellen Lehrbüchern zu entnehmen.

7 7.1

Begriffe und Definitionen

Für die Naturheilverfahren gibt es keine einheitliche und allgemeingültige Definition. Vielmehr sind unterschiedliche Definitionen gebräuchlich, die von zum Teil sehr unterschiedlichen Ansätzen und Theorien ausgehen. Hieraus ergeben sich erhebliche Abgrenzungsprobleme bis hin zu ideologisch geführten Diskussionen über die Stellung der Naturheilverfahren in der Medizin. > Die beiden wichtigsten Definitionsansätze, die unten näher erläutert werden, sind: 5 Naturheilverfahren sind Therapien, die aus der Natur stammen, wie beispielsweise Wärme, Kälte, natürliche Strahlung, Pflanzenzubereitungen u. a. (»Naturheilmittel« ). 5 Naturheilverfahren sind Therapien, die im Körper natürliche Reaktionen auslösen oder fördern, die ihrerseits Krankheiten heilen oder Krankheitssymptome lindern können (»natürliche Therapie«).

Zur Kritik der erstgenannten Definition wird häufig angeführt, dass einige der gebräuchlichen Naturheilverfahren einen hohen technischen Aufwand beinhalten (z. B. Herstellung von Medikamenten aus Pflanzen, Wärmetherapie mit elektrischen Geräten). Gleichzeitig haben viele Therapieverfahren, die nicht den Naturheilverfahren zugerechnet werden, einen natürlichen Ursprung (z. B. Pflanzenstoffe in der konventionellen Pharmakotherapie, wie Digitalispräparate und Salizylsäure) oder die Bestrahlungstherapie in der Onkologie.

Innerhalb der Naturheilverfahren gibt es Abgrenzungen zwischen 4 »anerkannten Naturheilverfahren« (Hydro- und Thermotherapie, Massagen, Bewegungstherapie u. a.), 4 »unkonventionellen, wissenschaftlich nicht anerkannten Therapieverfahren« (Magnetfeldtherapie, Elektroakupunktur, Ozontherapie u. a.) und 4 »paramedizinischen Verfahren« (Irisdiagnostik, Pendeln u. a.). Sie implizieren, dass es Verfahren gibt, deren Wirksamkeit bereits erwiesen ist, solche, deren Wirksamkeit mit wissenschaftlichen Methoden (zumindest theoretisch) nachweisbar ist, und solche, die bereits in ihrem Ansatz unwissenschaftlich sind. Einige dieser Verfahren haben oft einen starken rituellen Charakter, was deren Popularität erklären könnte. Dies könnte den Begriff einer »rituellen Medizin« rechtfertigen. Neben der Bezeichnung Naturheilverfahren werden eine Reihe weiterer Begriffe verwendet, die in der Regel aber nicht klar voneinander getrennt verwendet werden: 4 Naturheilkunde: Dieser Begriff geht davon aus, dass zu den verwendeten Therapiemitteln (Naturheilmitteln) eine umfassende naturphilosophische Sichtweise von Krankheit und Heilung hinzukommen muss. Diese umfasst z. B. verschiedene Konstitutionslehren und umfassende Krankheitsinterpretationen (Nosologie), die zu wesentlichen Teilen auf die aus der griechischen Antike stammenden Humoralpathologie zurückgehen (7 Kap. 8.1). 4 Alternativmedizin: Dieser Begriff geht davon aus, dass Naturheilverfahren eine Alternative zu sog. »schulmedizinischen« Verfahren darstellen (»unkonventionelle medizinische Richtungen«). Die Alternativmedizin orientiert sich somit an einer (scheinbar) klaren Definition von Schulmedizin und verzichtet damit auf eine eigenständige Definition ihrer Therapiemittel und Therapieprinzipien. 4 Komplementärmedizin: Ähnlich wie der Begriff der Alternativmedizin geht dieser Begriff davon aus, dass die Naturheilverfahren ergänzend (komplementär) zu einer (standardisierten) Basismedizin hinzutreten. Auch hier fehlt eine eigenständige Definition der Verfahren selbst.

221 7.2 · Naturheilmittel und Konzepte der Naturheilverfahren

4 Erfahrungsheilkunde: Dieser Begriff grenzt die Naturheilverfahren von wissenschaftlich nachweisbaren Therapien ab und geht davon aus, dass die verwendeten Verfahren auf einer langjährigen Erfahrung beruhen. Dies impliziert, dass ein weiterer wissenschaftlicher Beweis nicht nötig sei. Dieser Terminus wird häufig auch von nichtärztlichen Therapeuten (z. B. Heilpraktikern) verwendet. 4 Ganzheitsmedizin: Dieser Ansatz geht davon aus, dass die Naturheilverfahren in umfassender Weise die somatische, die psychisch-emotionale und soziale Ebenen von Krankheit berücksichtigen und positiv beeinflussen (holistischer Ansatz). Hier bestehen gewisse Übergänge zur psychosomatischen Medizin und zur Rehabilitation.

7.2

Naturheilmittel und Konzepte der Naturheilverfahren

Die gebräuchlichsten Naturheilverfahren sind: 4 Verfahren der Physikalischen Therapie (7 Kap. 3), wie Hydro- und Thermotherapie, Bewegungstherapie, Atemtherapie, Massagetherapie und Balneotherapie. 4 Einige Verfahren der Ernährungstherapie, wobei hier weniger die internistischen Diäten bei Stoffwechselerkrankungen gemeint sind (Diabetesdiät, purinarme Kost bei Hyperurikämie oder lipidarme Kost), sondern Gesamtkonzepte einer »gesunden« Ernährung oder vorübergehend angewendeter Kostformen, die meist eine gewisse Einseitigkeit besitzen. 4 Die Phytotherapie, die in der Regel Aufbereitungen ganzer Pflanzen oder von Pflanzenteilen zu Therapiezwecken nutzt. Dabei wird davon ausgegangen, dass komplexe Pflanzenzubereitungen andere (günstigere) Wirkungen haben als isolierte Pflanzenwirkstoffe. 4 Sog. ausleitende Therapieverfahren, deren theoretische Begründung aus der Humoralpathologie stammt und darin besteht, dass Krankheitszustände durch Entfernen krankheitsverursachender Körpersäfte gebessert werden könnten. Hierzu zählen beispielsweise der Aderlass, die Blutegelbehandlung, das Schröpfen sowie die Verwendung von Abführmitteln oder Diuretika.

7

Homöopathie – ein Naturheilverfahren? Von einigen Autoren wird auch die Homöopathie zu den Naturheilverfahren gezählt. Da sie aber stark aufbereitete Arzneimittel verwendet und einen eigenen theoretischen Hintergrund besitzt, wird diese Zuordnung vielfach abgelehnt. Wesentliche Prinzipien der Homöopathie sind, dass nicht Krankheiten, sondern kranke Individuen behandelt werden, die in ausführlichen Anamnesen klassifiziert werden. Prinzipien der homöopathischen Arzneitherapie sind: 5 Verdünnte Zubereitungen werden bei den Symptomen gegeben, die bei unverdünnter Gabe desselben Heilmittels bei Gesunden hervorgerufen werden (»Simileregel« ). 5 Spezielle Zubereitungsverfahren, bei denen die Ursprungssubstanzen mehrfach um den Faktor 10 verdünnt werden, z. B. durch bestimmte Schüttelungsverfahren (»Potenzieren« ). Obwohl inzwischen einzelne methodisch gute Studien zur Homöopathie vorliegen, ist die Homöopathie als Gesamtkonzept heute stark umstritten.

Zu den klassische Naturheilverfahren, die sich auf einen wissenschaftlichen Hintergrund berufen, werden nach Hentschel gerechnet: 4 Hydrotherapie (7 Kap. 3.9) 4 Sauna 4 Massagetherapie (7 Kap. 3.5) 4 Bewegungstherapie (7 Kap. 3.1) 4 Chirotherapie (7 Kap. 3.4) 4 Ernährungstherapie 4 Phytotherapie 4 Ordnungstherapie 4 Balneotherapie (7 Kap. 3.10) 4 Klimatherapie (7 Kap. 3.11) Sie entstammen entweder der Physikalischen Therapie oder dem Therapiekonzept nach Kneipp (7 Kap. 8.2), das die folgenden Elemente (»Fünf Säulen« ) enthält: 4 Hydrotherapie 4 Bewegungstherapie 4 Ernährungstherapie 4 Phytotherapie 4 Ordnungstherapie

222

Kapitel 7 · Definitionen und Klassifizierung der Naturheilverfahren

Ordnungstherapie Unter Ordnungstherapie wird die Einhaltung bestimmter gesundheitsfördernder Verhaltensweisen verstanden. Da dieser Begriff unzureichend definiert ist, wird er von verschiedenen Autoren auch sehr unterschiedlich interpretiert. Kneipp selbst, der Pfarrer war, verstand hierunter vor allem eine christlich orientierte Lebensweise einschließlich der spirituellen Ebene. Hildebrandt hat die Ordnungstherapie vordringlich als Lebensführung im Einklang mit den natürlichen biologischen Rhythmen (Chronohygiene) und die Therapie von gestörten biologischen Rhythmen (z. B. Tag-Nacht-Rhythmus) interpretiert (Chronotherapie), und zwar auf der Basis der wissenschaftlichen Chronobiologie. Zahlreiche andere Autoren verstehen die Ordnungstherapie als umfassendes psychosomatisches Konzept mit starken Beziehungen zum Salutogenesekonzept von Antonovsky (7 Kap. 7.3).

7

Natürliche Therapie

7.3

Die meisten therapiemittelunabhängigen Begründungen für die Naturheilverfahren beziehen sich auf die Kräftigung natürlicher Abwehrvorgänge bzw. der Stimulation der sog. »Selbstheilungskräfte« . Hierzu wurden zwei grundlegende Theorien entwickelt, die der »Hygiogenese« und die der »Salutogenese« . Beide Konzepte gehen davon aus, dass es Mechanismen oder Potenziale der Krankheitsabwehr oder Krankheitsheilung gibt, die sich therapeutisch positiv beeinflussen lassen. Die wichtigste Grundüberlegung zur Hygiogenese ist, dass fast alle chronischen Erkrankungen als Regula-

tionsstörungen beginnen oder in ihrer Symptomatik durch die Regulationsstörungen verschiedenster Körperfunktionen charakterisiert sind. Auch die vermehrte Krankheitsanfälligkeit im Sinne chronisch rezidivierender Störungen kann als Regulationsdefizit in den entsprechenden Funktionssystemen interpretiert werden. Als Beispiel für eine solche Regulationsstörung am Anfang chronischer Erkrankungen kann die Insulinresistenz bei Übergewichtigen genannt werden, die dazu führt, dass der Blutzuckerspiegel nur mit erhöhten Insulinspiegeln aufrechterhalten werden kann. Daher ist die Hyperinsulinämie bei noch normalen Blutzuckerspiegeln oft das erste Symptom eines Diabetes mellitus vom Typ II. Entsprechende Zusammenhänge sind für die Herz-Kreislauf-Regulation, aber auch für Funktionen des Bewegungssystems (insuffiziente muskuläre Stabilisierung der Lendenwirbelsäule) bekannt. > Ziel hygiogenetischer therapeutischer Ansätze ist es, die Regulation verschiedener Körperfunktionen zu verbessern bzw. zu optimieren.

Der wichtigste Mechanismus hierbei ist die Auslösung bzw. Unterhaltung funktioneller Adaptationsprozesse (7 Kap. 1.2.5). Aber auch das Training bestimmter Körperfunktionen im Sinne einer trophisch-plastischen Adaptation fällt darunter (7 Kap. 1.2.6). Die gezielte Nutzung von solchen adaptiven Mechanismen zur Krankheitsvorbeugung oder -behandlung wird als »natürliche« Therapie bezeichnet. Ihre Therapieprinzipen lassen sich in einer gewissen Analogie anderen Therapieprinzipen (»künstliche« Therapie) gegenüberstellen (. Tab. 7.1). Als »künstliche« Therapien werden solche Therapieformen bezeichnet, die direkt auf die Krankheitsur-

. Tabelle 7.1. herapieprinzipen und Therapiebeispiele von »natürlicher« und »künstlicher« Therapie. (Nach Hildebrandt 1985)

»Künstliche« Therapie (pathogenetische Orientierung)

»Natürliche« Therapie (hygiogenetische Orientierung)

Ziel

Therapie

Ziel

Therapie

Ausschaltung

Zum Beispiel Antibiose, operative Entfernung

Erholung

Schonung(stherapie)

Lenkung

Zum Beispiel medikamentöse Blutdruckeinstellung

Funktionsoptimierung

Funktionelle Adaptationstherapie

Ersatz

Hormonsubstitution, Totalendoprothesen

Kräftigung

Trainingstherapie

223 7.3 · Natürliche Therapie

sachen oder Symptome zielen (sog. »pathogenetische Orientierung« ). Demgegenüber sind die Maßnahmen der sog. »natürlichen« Therapie auf gesunde Restfunktionen und deren Optimierung ausgerichtet (hygiogenetische Orientierung). Bei allen diesen Maßnahmen handelt es sich um physiologische Reaktionen, die durch therapeutische Maßnahmen induziert werden können (7 Kap. 1.2). ä Beispiel Eine 35-jährige Frau kommt zur Kneipp-Therapie in einen Kurort. Sie klagt über Schlafstörungen, diffuse Muskelschmerzen, häufigen Wechsel zwischen Durchfällen und Verstopfung. Darüber hinaus sei sie vermehrt kälteempfindlich und habe im vergangenen Winter gehäuft »Erkältungen« gehabt. Sie leide unter der Doppelbelastung mit der Erziehung ihrer beiden Kinder sowie der Tätigkeit als Sekretärin in einer großen Handelsfirma, wo ein zunehmender Arbeitsdruck bestünde. Bei der klinischen Untersuchung finden sich multiple vegetative Zeichen mit feuchter Haut, muskulären Verspannungen im Schulter-Nacken-Bereich und einem deutlichen Blutdruckabfall bei Orthostase. Die Therapie besteht aus morgendlichen Kneipp’schen Kniegüssen, Fahrradergometertraining, detonisierenden Muskelmassagen und Leibwickeln. Darüber hinaus erhält sie eine Vollwertdiät. Sie nimmt an regelmäßigen geführten Wanderungen mit intermittierendem Kneipp’schen Wassertreten teil. Nach etwa einer Woche klagt sie nach initialer Besserung über vermehrte Schlafstörungen, Muskelschmerzen und ein quälendes inneres Unruhegefühl. Wenige Tage später bessert sich ihr Allgemeinzustand. Nach insgesamt vierwöchiger Therapie gibt sie an, sich wesentlich kräftiger zu fühlen. Sie kann gut durchschlafen und hat regelmäßigen Stuhlgang. Sie habe das Gefühl, aufrechter zu gehen. Objektiv ist die Muskulatur deutlich weniger verspannt und die Orthostasereaktion abgeschwächt.

Das Prinzip der Salutogenese beruht auf Beobachtungen bei Patienten in starken Stresssituationen, bei denen aufgefallen war, dass bei gleichen Belastungen einige diese Belastungen gut kompensieren konnten, während andere Erkrankungen entwickelt haben. Hieraus hat Aaron Antonowski ein umfassendes Konzept entwickelt und die Salutogenese als Kräfte definiert, die dem Individuum helfen, Gesundheit zu entwickeln. Es

7

bezieht sich in erster Linie auf psychische Funktionen, wobei als wichtigster Faktor das sog. Kohärenzgefühl (»sense of coherence« ) hervorgehoben wird. Das Kohärenzgefühl beschreibt die Fähigkeit, mit Belastungen kreativ und erfolgreich umzugehen. Die einzelnen Faktoren für das Kohärenzgefühl sind: 4 Verstehbarkeit: die Möglichkeit, Ereignisse im Leben strukturiert zu erleben und für sich selbst zu erklären 4 Handhabbarkeit: die Ressourcen, den entsprechenden Anforderungen gerecht zu werden, wobei das Erlebnis, diese Ressourcen erfolgreich einzusetzen, mit eingeschlossen ist 4 Bedeutsamkeit: die Fähigkeit, Anforderungen als Herausforderungen zu begreifen, die ein Engagement lohnen > Es gibt also zwei unabhängig voneinander entwickelte Theorien des Gesundbleibens und Gesundwerdens, wobei das Modell der Hygiogenese die somatischen und vegetativen und die Salutogenese die psychischen Mechanismen beschreibt.

Obwohl beide Konzepte unabhängig voneinander entwickelt worden sind, bestehen dennoch Zusammenhänge. So konnten Korrelationen zwischen dem Kohärenzgefühl und vegetativen Störungen sowie der Krankheitsanfälligkeit nachgewiesen werden, was für eine wechselseitige Beeinflussung von psychischen und vegetativen Funktionen spricht. Reflexmechanismen Ein weiteres Prinzip für verschiedene Naturheilverfahren ist die Nutzung von Reflexmechanismen wie z. B. des kutiviszeralen Reflexes. Grundlage hierfür sind Verschaltungen verschiedener sensibler und vegetativer Afferenzen auf Rückenmarksebene mit efferenten Fasern. Dabei wird davon ausgegangen, dass über eine Reizung von Rezeptoren der Haut und des subkutanen Bindegewebes reflektorisch auch die Funktionen innerer Organe sowie der vegetativen Regulation beeinflusst werden können. Dieses Prinzip wird sowohl bei thermischen Anwendungen (Wärme, Kälte) als auch in der Massagetherapie (z. B. Bindegewebsmassage) genutzt. So findet man bei Funktionsstörungen der Brustwirbelsäule häufig in der dem betroffenen Segment entsprechenden Head-Zone Verhärtungen des subkutanen Bindege-

6

224

Kapitel 7 · Definitionen und Klassifizierung der Naturheilverfahren

7.4

7

. Abb. 7.1. Kibler-Falte im Bereich der Brustwirbelsäule. Beim Rollen des subkutanen Bindegewebes zwischen Daumen und Zeigefinger findet sich über den betroffenen Segmenten eine deutliche Verhärtung, u. U. auch mit Schmerzangabe des Patienten

webes, die durch fortlaufendes Rollen einer Hautfalte am Rücken leicht erkannt werden können (KiblerFalte; . Abb. 7.1). In der Bindegewebsmassage werden solche sog. bindegewebigen Zonen gezielt massiert, was die Beschwerden bessern kann.

Fazit Im Bereich der Naturheilverfahren gibt es Therapieformen, deren Wirkungen weitgehend bekannt sind und deren Wirksamkeit teilweise in klinischen Studien nachgewiesen worden ist (7 Kap. 7.5, 8.1 und 8.2). Diese Verfahren zählen überwiegend zur Physikalischen Medizin, Ernährungstherapie sowie zur Phytotherapie. Sie werden teilweise in komplexen Therapiekonzepten kombiniert, wobei Verhaltensänderungen und psychische Interventionen mit einbezogen werden (7 Kap. 8.2). Für solche Therapiekonzepte gibt es gute Nachweise einer Wirksamkeit auf körperlicher (Hygiogenese) und psychischer (Salutogenese) Ebene. Demnach können Resistenz und Selbstheilung gezielt angeregt und verbessert werden. Für die Reflexmechanismen gilt, dass sie zweifellos zu Reaktionen führen; ihre therapeutische Bedeutung dürfte in der Unterbrechung funktioneller Circuli vitiosi, u. U. auch in der Triggerung funktioneller Adaptationen, liegen.

Alternative Therapie

Neben den sog. klassischen Naturheilverfahren (s. o.) werden häufig auch andere Verfahren zu den Naturheilverfahren gezählt. Diese sind aus Sicht der wissenschaftlichen Medizin dadurch charakterisiert, dass sie 4 eigene Theorien der Krankheitsentstehung und Krankheitsheilung zugrunde legen, die mit den wissenschaftlichen pathophysiologischen Erkenntnissen nicht übereinstimmen (eigene Theoriebildung ohne Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse), 4 die Therapieeffekte mit nicht näher bezeichneten Energien oder einer postulierten Informationsübertragung begründen (Scheinbegründung), 4 die Therapieeffekte stets nur in der Beseitigung der in der Theorie genannten (meist nicht begründeten) pathologischen Phänomene messen (Wirkungsnachweis ausschließlich innerhalb des Systems), 4 umfassende Indikationslisten, die in der Regel sehr viele unterschiedliche Krankheiten und Störungen beinhalten (Allheilmittel), angeben, 4 Nebenwirkungen verneinen (Betonung der Ungefährlichkeit) sowie 4 häufig von einem Begründer vertreten und seither unverändert gelehrt bzw. weitergegeben (Schulenbildung) werden. Beispiele für solche Theoriebildungen zu alternativen Verfahren sind 4 Krankheitsentstehungstheorie: Die Regena-Therapie geht davon aus, dass innerhalb der Zelle bei einem pathogenen Gärungsstoffwechsel aufsteigende »Gifte« entstehen, die wegen ihres geringen spezifischen Gewichtes in den Kopf steigen. Dort sollen sie zu chronischen Krankheiten vom Kopfschmerz über Schwindel, Schlaflosigkeit usw. führen. 4 Theorie zur Begründung der Therapiemittelentwicklung: In der Spagyrik wird davon ausgegangen, dass die Heilkraft einer Pflanze an die »Verkörperlichung« (Materialisierung) von Kräften gebunden ist, die es zu »lösen« gilt. Durch spezielle Verfahren sind der Pflanze innewohnende Heilkräfte zu erschließen und zu veredeln, krankmachende Gifte dagegen abzutrennen.

225 7.5 · Wissenschaftlicher Nachweis

Fazit Die theoretischen Begründungen solcher alternativer Therapieverfahren haben nach wissenschaftlich-physiologischen Gesichtspunkten keinen Sinn. Die Wirksamkeit dieser Verfahren ist nicht in kontrollierten Studien nachgewiesen. Die fehlende rationale Begründung dieser Therapien lässt nach heutigem Wissensstand auch nicht vermuten, dass ein solcher Wirksamkeitsnachweis möglich ist. Die Tatsache, dass diese Verfahren dennoch bei den Patienten auf eine gute Resonanz stoßen, dürfte der hohen Suggestivität und Überzeugungskraft der Therapien und der Therapeuten zuzuschreiben sein. Im Sinne eine rituellen oder Suggestivtherapie können sie dabei durchaus zu Erfolgen bei funktionellen Störungen führen.

7.5

Wissenschaftlicher Nachweis

> Unter Wirkungen werden die unmittelbaren (physiologischen) Reaktionen auf eine Therapieanwendung verstanden. Wirksamkeit umschreibt die therapeutischen Wirkungen einer Therapie bei einem definierten Krankheitsbild.

Zur Beurteilung von Naturheilverfahren müssen letztendlich dieselben wissenschaftlichen Kriterien angewendet werden wie für alle anderen Therapieverfahren auch. 4 Die Therapie muss dem unterliegenden Konzept nach dem naturwissenschaftlichen oder psychologischen Wissensstand entsprechen. 4 Die Wirkungen der Anwendung müssen reproduzierbar messbar sein, und zwar im Vergleich zu einer Nicht- oder Kontrollanwendung. 4 Die Wirksamkeit bei definierten Krankheitsbildern muss in prospektiven kontrollierten Studien nachgewiesen werden, also in Studien, bei denen definierte Einschlusskriterien gelten, die Therapie vorher festgelegt und eine Kontrollgruppe mitgeführt wurde. Die für Therapiestudien häufig zusätzlich geforderte »Verblindung« von Patient und Untersucher (d. h. beide haben keine Kenntnis darüber, ob die Patienten die Verum- oder Plazebotherapie erhalten haben), ist in vielen Fällen allerdings nicht möglich, und zwar immer dann, wenn die Anwendung vom Patienten wahrgenommen werden kann.

7

Allerdings müssen bei der Studienplanung und der Beurteilung wissenschaftlicher Studien einige Besonderheiten berücksichtigt werden, die aber nicht nur für die Naturheilverfahren gelten: 4 Bei adaptiv wirksamen Therapieformen kommen Cross-over-Studien (Studien, in denen jeder Patient sowohl die Verum als auch die Plazebotherapie erhält, und zwar in gekreuzter Reihenfolge) in der Regel nicht in Frage, weil die Rückbildung der Adaptationen u. U. sehr lange dauert. Wenn z. B. bei einer trainierenden Therapie nach 4 Wochen eine deutliche Leistungssteigerung erzielt worden ist, kann am selben Probanden oder Patienten zu diesem Zeitpunkt die Alternativ- oder Plazebotherapie nicht mehr geprüft werden, da sie auf eine vollkommen andere Ausgangssituation treffen würde. Dies wäre erst wieder nach Monaten möglich, nämlich dann, wenn die Trainingseffekte der ersten Therapie wieder vollkommen abgeklungen sind. 4 Für den Nachweis adaptiver Wirkungen müssen wegen der periodischen Reaktionsverläufe engmaschige Messwertkontrollen erfolgen (7 Kap. 1.2). Ein einfacher Prä-post-Vergleich kann zu erheblichen Fehlschlüssen führen, weil nicht festzustellen ist, ob er zum Zeitpunkt eines Gipfels oder eines Tiefpunktes im periodischen Verlauf gemessen worden ist. Die Amplituden der reaktiv-periodischen Verläufe können im Vergleich zur mittleren Veränderung ein erhebliches Ausmaß haben. Darüber hinaus müssen bei adaptiven Wirkungen, wegen der im Verlauf der adaptiven Normalisierung (▶ Kap. 1.2) eintretenden Konvergenzen, Kollektive untersucht werden, deren Werte zu Beginn der Therapie inhomogen, also breit gestreut sind. 4 Bei traditionell und seit langer Zeit angewendeten Therapien können mögliche unerwünschte Wirkungen aufgrund bisher dokumentierter Therapieerfahrungen erfasst werden. Dies unterscheidet sie von neu eingeführten Therapieverfahren, bei denen nur wenige Fälle untersucht worden sind. Demgegenüber kann bei Naturheilverfahren meist auf eine lange Tradition mit einer großen Zahl an Therapien zurückgegriffen werden. Wenn hier keine gravierenden Komplikationen eingetreten sind bzw. berichtet wurden, sind sie mit größter Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft nicht zu erwarten.

226

Kapitel 7 · Definitionen und Klassifizierung der Naturheilverfahren

Fazit Zum wissenschaftlichen Nachweis der Wirksamkeit müssen im Prinzip die selben Kriterien angelegt werden wie bei allen anderen Therapieverfahren (z. B. prospektive kontrollierte Studien). Allerdings ergeben sich einige Besonderheiten, z. B. weil eine Verblindung der Patienten und Cross-over-Studiendesigns nicht möglich sind. Schließlich ist – anders als bei der Neueinführung von Medikamenten – bei langjährig angewendeten Therapieverfahren eine neue Risikoabschätzeung in der Regel nicht notwendig (Rückgriffsmöglichkeit auf historische Daten).

7 Literatur Bühring M, Kemper FH (1992) Naturheilverfahren – Grundlagen, Methoden, Nachweissituationen. Springer, Berlin Heidelberg New York Hentsche, HD (1991) Naturheilverfahren in der ärztlichen Praxis. Dt. Ärzte-Verlag, Köln Hildebrandt G (1998) Therapeutische Physiologie. In: Gutenbrunner Chr, Hildebrandt G (Hrsg) Handbuch der Balneologie und medizinischen Klimatologie. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, S 5–84

1 8 8 Methoden und Anwendung der Naturheilverfahren 8.1

Klassische Naturheilverfahren – 228

8.1.1 8.1.2

M. Fink Geschichte – 228 Therapieformen – 229

8.2

Komplexe Konzepte der Naturheilverfahren – 239

8.2.1 8.2.2

Th. Stamm Einleitung – 239 Konzepte, die auf Erstbeschreiber oder traditionelle Philosophien zurückgehen

8.3

Klinisch-pragmatische Anwendung von Naturheilverfahren – 244

8.3.1 8.3.2 8.3.3

Th. Stamm Diabetes mellitus und metabolisches Syndrom – 244 Chronisch-rezidivierende Atemwegserkrankungen – 246 Osteoporose – 247

Literatur

– 248

– 240

228

Kapitel 8 · Methoden und Anwendung der Naturheilverfahren

8.1

Klassische Naturheilverfahren M. Fink

8.1.1 Geschichte

8

Naturheilkunde ist eine der ältesten Formen der Medizin (zur Definition 7 Kap. 7). Bereits in der Steinzeit erkannten Menschen die heilende Wirkung verschiedener Kräuter. Im antiken Griechenland praktizierten und lehrten die ersten schriftlich erwähnten Ärzte eine Naturheilkunde. Im Mittelalter wurde die Naturheilkunde vor allem in den Klöstern gepflegt. Äbtissin Hildegard von Bingen gilt bis heute als namhafteste Klosterärztin dieser Zeit. Die Naturheilverfahren definieren sich nicht nur aus ihren Therapiemitteln, vielmehr begründen sie sich auch aus traditionellen weltanschaulich geprägten Krankheitskonzepten und daraus abgeleiteten Therapieempfehlungen (7 Kap. 7). Solche Konzepte finden sich sowohl in Europa (»Traditionelle Europäische Medizin«) als auch in Asien (»Traditionelle Chinesische Medizin«, »Traditionelle Indische Medizin«). Diese Konzepte werden in 7 Kap. 8.2 näher erläutert. Die europäische Tradition der Naturheilkunde wurde zurzeit der griechisch-römischen Medizin vorwiegend von der indischen Medizin beeinflusst. Die griechisch-römische Medizin wurde ihrerseits maßgeblich von Hippokrates (460 bis etwa 370 v. Chr.) geprägt. Wesentliche Kernaussagen der Krankheitslehre der griechischen Antike, die im Hauptwerk von Hippokrates, dem Corpus hippocraticum, zusammengefasst wurden, sind: 4 Krankheit wird definiert als Störung der Gesamtharmonie der menschlichen Konstitution. 4 Schauplatz der Pathogenese ist der Säftehaushalt (»humores«). 4 Das richtige Zusammenwirken der »humores« bringt Gesundheit, ihre Entmischung bringt Krankheit.

Die Grundvorstellung beruht auf der sog. Säftelehre: »Der Körper des Menschen hat in sich Blut und Schleim und gelbe und schwarze Galle, und das ist die Natur seines Körpers. Am gesündesten ist er, wenn diese Säfte im richtigen Verhältnis ihrer Kraft und ihrer Qualität zueinander stehen und am besten gemischt sind.« (Hippokrates, zitiert nach Schipperges). Als (relevante) Körpersäfte werden bezeichnet: 4 Blut 4 Gelbe Galle 4 Schwarze Galle 4 Schleim Diese Säftelehre wurde von Galen (Claudius Galenus, griechisch-römischer Arzt, 129–199 n. Chr.) zur Konstitutionslehre weiterentwickelt, deren Konstitutionstypen heute noch geläufig sind (. Tab. 8.1). > Bereits bei Galen standen die Selbstheilungskräfte im Mittelpunkt. Medikamente hatten nur subsidiären Charakter. Der Arzt war dienender Helfer (»medicus minister naturae« ).

Die hippokratische Krankheitslehre weist folgende für die Entwicklung der Medizin wichtigen Charakteristika auf: 4 Eine Fülle von gut beobachteten und richtig gedeuteten Krankheitssymptomen 4 Die Schilderung von geschlossenen Krankheitsverläufen: Prodromalstadium, Krise und Rekonvaleszenz 4 Die Schilderung von diätetischen, pharmazeutischen und chirurgischen Eingriffen 4 Die ärztliche Erfahrung beginnt zu dominieren: Verknüpfung von spekulativ-theoretischen Überlegungen und empirischer Forschung Stand in der hippokratischen Medizin die Pathogenese, d. h., die einzelne Erkrankung im Mittelpunkt, gewinnt in der Klostermedizin durch den religiösen Hintergrund der Mensch als erkranktes Wesen zunehmende Bedeutung (Krankheit → Kranksein). Diese Sichtweise

. Tabelle 8.1. Zuordnung der in der Säftelehre als relevant angesehenen Körpersäfte zu den Konstitutionstypen nach Galen

Temperament

Blut

Gelbe Galle

Schwarze Galle

Schleim

Sanguiniker

Choleriker

Melancholiker

Phlegmatiker

229 8.1 · Klassische Naturheilverfahren

wurde auch von Paracelsus (1493–1541) vertreten und von Kneipp (1821–1897) fortgeführt, dessen Lehre von der »Ordnung des Lebens« für die Naturheilkunde einen immer noch aktuellen Ansatz bietet. Zu Beginn des Industriezeitalters Ende des 19. Jahrhunderts verlor diese Sichtweise allerdings an Bedeutung, vor allem mit der Entwicklung der Zellularpathologie Virchow’s und der Entdeckung krankheitsspezifischer Pharmaka (vor allem Antibiotika). Diese krankheitszentrierte Sichtweise wurde in der modernen Schulmedizin des 20. Jahrhunderts beibehalten und führte in konsequenter Weise zu aktuellen Entwicklungen in der Pharmakotherapie bis hin zur Herstellung künstlicher Gewebe (»tissue engineering«). Die heutige Naturheilkunde betont dagegen den präventivmedizinischen Aspekt und hat die Gesundheit und Gesunderhaltung des Menschen zum Ziel (7 Kap. 7).

8.1.2 Therapieformen Wegen der großen Zahl von Naturheilverfahren und der uneinheitlichen Definition (7 Kap. 7) wird im Folgenden nur eine Auswahl dargestellt, und zwar die sog. klassischen Naturheilverfahren (»fünf Säulen der Kneipp-Therapie«) 4 Ordnungstherapie, 4 Ernährungstherapie, 4 Hydro- und Thermotherapie, 4 Bewegungstherapie und 4 Phytotherapie sowie die 4 ausleitenden Verfahren und 4 Neuraltherapie. Ordnungstherapie Der Begriff der Ordnungstherapie wurde von dem schweizer Arzt Bircher-Benner geprägt. Inhaltlich geht die moderne Ordnungstherapie auf Sebastian Kneipp und seinen pädagogischen Imperativ »So sollt ihr leben« zurück. > Ordnungstherapie zielt auf eine Optimierung der Lebensführung. Der zentrale Begriff ist das »Maß halten«. Ziel ist es, den Menschen zu einem maßvollen Umgang mit seinen körperlichen und psychischen Ressourcen zu erziehen.

8

Die Ordnungstherapie basiert auf einer ganzheitlichen Sichtweise, die biologische, chronobiologische, psychisch-emotionale, soziologische und spirituelle Faktoren berücksichtigt. Die konkreten Inhalte und Arbeitsweisen moderner Ordnungstherapiekonzepte werden von der jeweiligen Zielgruppe und dem Behandlungssetting bestimmt.

Behandlungsziele 5 Gesundes Ess- und Bewegungsverhalten 5 Ökonomischer Lebensrhythmus (Schlaf-WachZyklen) 5 Stressreduktion 5 Belastungsfreie soziale Integration

Behandlungsinhalte 5 Motivierung 5 Kognitive Wissensvermittelung (»Was kann ich tun, um gesund zu bleiben«) 5 Körperwahrnehmung 5 Emotionale Selbstwahrnehmung 5 Ordnungsfähigkeit (Kompetenz, Korrekturen in der Lebensführung vorzunehmen)

Information, Selbstwahrnehmung und Einübung eines gesundes Lebensstils sind die zentralen Inhalte der Ordnungstherapie. Hier bestehen Parallelen zur Patientenschulung (7 Kap. 6.13), wenngleich hier weniger krankheitsspezifische als allgemein gesundheitsfördernde Inhalte im Mittelpunkt stehen. Daher beinhaltet die Ordnungstherapie für den Patienten eine Hilfe zur Selbsthilfe bei Erhaltung oder Wiederherstellung seiner Lebensordnung. Diese Lebensordnung vollzieht sich im Spannungsfeld zwischen Erholung und Leistung, Freude und Leid, Anspannung und Entspannung. Der Patient ist zunehmend verunsichert im Umgang mit seiner Gesundheit und mit sich selbst. Er bedarf einer durch gegenseitiges Vertrauen geprägten ärztlichen Begleitung und Beratung. Mit dieser Begleitung übernimmt der Arzt für seinen Patienten die wichtige Aufgabe, ihm zu helfen, seine Sicherheit, innere Ruhe und sein Selbstvertrauen wieder herzustellen. Eine so verstandene ärztliche Ordnungstherapie ist im Rahmen der Naturheilverfahren ein wichtiger Baustein für die Gesundung des Patienten. Das häufigste Verfahren der Ordnungstherapie ist die Gruppentherapie. Sie ermöglicht eine gegenseitige

230

Kapitel 8 · Methoden und Anwendung der Naturheilverfahren

persönliche und inhaltliche Unterstützung der Teilnehmer. Unabhängig vom jeweiligen Thema ist der Inhalt einer Gruppentherapie ein Gesundheitstraining (▶ Kap. 6.13). Schwerpunkte sind: 4 Entwicklung der Fähigkeit, umsetzbare Lebensund Gesundheitsziele zu entwickeln 4 Entwicklung der Kompetenz, diese Ziele im Rahmen der eigenen Möglichkeiten erfolgreich umzusetzen 4 Entwicklung der Kraft, sich erfolgreich von den Forderungen und Bedürfnissen anderer Menschen abzugrenzen, die den eigenen Lebens- und Gesundheitszielen zuwiderlaufen

8

Für die Ordnungstherapie werden verstärkt auch Entspannungsverfahren wie Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson sowie Yoga und Hypnose eingesetzt, während das Autogene Training eher an Bedeutung verliert, da es schwerer zu erlernen ist und größere Ansprüche bezüglich einer geeigneten Umgebung stellt. Diätetik, Ernährungstherapie und Fasten Die Diätetik ist ein aus dem lateinischen (diaetetica, von griechisch diaitçtike) stammender Sammelbegriff für Maßnahmen, die sich mit gesunder Lebensweise in seelischer und körperlicher Beziehung sowie mit Krankheitsvorbeugung und Krankheitsheilung befassen. Die Diätetik war also wesentlicher breiter gefasst als heute und besaß in allen medizinischen Traditionen einen hohen Stellwert. Diätetik im hippokratischen Sinn war Synonym für Ordnungstherapie im heutigen Sinn. In der schulmedizinischen Ernährungstherapie stehen die bilanzierte Nahrungszufuhr (einschließlich Vitaminen und Spurenelementen) und die krankheitsspezifische Ernährung (z. B. Weglassen oder Ersatz von krankheitsbedingt nicht verträglichen Nährstoffen) im Vordergrund. Demgegenüber zielt die Ernährungstherapie im Rahmen der Naturheilverfahren auf den Gesamtorganismus und die Steigerung von Regulationsleistungen (7 Kap. 1.2). Ziele der Ernährungstherapie im Rahmen der Naturheilverfahren sind die Vermeidung fehlernährungsbedingter Erkrankungen, wie z. B. das metabolische Syndrom, oder eine Verbesserung der Stoffwechselregulation. Ein wesentliches Grundprinzip sind zeitlich begrenzte Ernährungsumstellungen (z. B. beim Fasten), durch die vor allem vegetativen Umstellungen im Sinne einer funktionellen Adaptation ausgelöst bzw. unterhalten werden (7 Kap. 1).

Beispiele für Ernährungskonzepte im Rahmen der Naturheilverfahren sind Vollwerternährung, Grunddiät und Fasten. Vollwerternährung (nach Kollath). Bei der Vollwerter-

nährung werden Nahrungsmittel soweit wie möglich unverändert gelassen. Hierdurch werden einerseits alle notwendigen Nährstoffe in ausreichender Menge zugeführt. Andererseits werden die Funktionen der Verdauungsorgane angeregt (z. B. Darmmotorik) und Fehlregulationen vermieden. So tritt nach Aufnahme unveränderter Lebensmittel durch die mitgeführten Ballaststoffe eine rasche Sättigung ein, die bei aufbereiteten Nahrungsmitteln ausbleibt. So führt beispielsweise der Verzehr eines rohen Apfels rasch zur Sättigung, die Zufuhr der vielfachen Kalorienmenge in Form von Apfelsaft hingegen nicht. Grunddiät (nach Pischinger). Auch hier ist das Grund-

prinzip eine vollwertige Ernährung. Für bestimmte Erkrankungen werden in Modulen bestimmte Modifikationen vorgenommen (Kalorienreduktion, Bilanzierung von Kohlenhydraten, Fetten oder bestimmten Elektrolyten, purinarme Grunddiät) sowie krankheitsspezifische Varianten angeboten (Krebs-, Magen-, Lebererkrankungen, Colitis ulcerosa und Morbus Crohn, Zöliakie u. a.).

Prinzipien der Grunddiät 5 Begrenzung der Energieaufnahme bezogen auf den Energiebedarf bei Normalgewicht 5 Bevorzugung von Lebensmitteln von hoher ernährungsphysiologischer Qualität und Naturbelassenheit 5 Berücksichtigung eines hohen Anteils vegetabiler Frischkost 5 Bevorzugung von Speisen, die Kohlehydrate zusammen mit essenziellen Nahrungsbestandteilen und Ballaststoffen enthalten 5 Begrenzung der Aufnahme von Raffinadezucker 5 Begrenzung der Gesamtfettaufnahme 5 Gezielte Auswahl der Streich- und Zubereitungsfette (z. B. mit hohem Anteil an mehrfach ungesättigten Fettsäuren) 5 Begrenzung der Eiweißaufnahme

6

231 8.1 · Klassische Naturheilverfahren

5 Begrenzung der Aufnahme von Kochsalz 5 Reichliche Flüssigkeitsaufnahme 5 Wertschonende Zubereitung und Vermeiden der Entstehung zubereitungsbedingter Schadstoffe 5 Verteilung der Nahrungsmenge auf mehrere kleine Mahlzeiten pro Tag

Heilfasten. Das Heilfasten stellt ein kurzfristiges inten-

sives ernährungstherapeutisches Naturheilverfahren dar. Neben dem totalen Fasten (»Nulldiät«) sind eine Reihe weiterer Konzepte, wie das kohlehydratergänzte Fasten mit Rohsäften oder Rohkost, das eiweiß- und kohlehydratergänzte Fasten mit Molke u. a. bekannt. Ziel ist es, Verdauungsorgane, Stoffwechsel und HerzKreislaufsystem vorübergehend zu entlasten und eine vegetative Umstimmung zu erreichen. ! Wichtig sind beim Fasten das Abführen zu Beginn und eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr während der Fastenperiode. Wegen der nicht unerheblichen Belastung durch das Fasten ist eine vorherige ärztliche Untersuchung anzuraten.

Hydro- und Thermotherapie Die Hydrotherapie (7 Kap. 3.9) ist die äußere Anwendung reinen Wassers in flüssigem (Güsse, Waschungen, Wickel, Bäder), gasförmigem (Dämpfe, Sauna) und festem Zustand (Kryotherapie) (7 Kap. 3.8). Sie ist eine Kombination aus Thermotherapie (Stimulation von Warm- und Kaltrezeptoren) und Mechanotherapie (Stimulation subkutaner Mechanorezeptoren). Die Anwendungsformen sind sehr variantenreich und schließen auch Anwendungen im Wechsel von kaltem und warmem Wasser ein. Mechanotherapeutische Aspekt spielen im Vollbad (Auftrieb, hydrostatischer Druck) und beim sog. Blitzguss eine Rolle. Bei diesem wird ein Wasserstrahl mit hohem Druck auf den Rücken des stehenden Patienten gerichtet, sodass neben den thermischen Wirkungen ein Massageeffekt eintritt. Bei der Hydrotherapie im Rahmen der Naturheilverfahren stehen weniger die lokalen Effekte als vielmehr das Reiz-Reaktions-Prinzip mit unterschiedlichen Adaptationsprozessen im Mittelpunkt (7 Kap. 1 und 7). Die klassische Hydrotherapie verfolgt das therapeutische Ziel, den Körper zur aktiven Überwindung von Funktionsstörungen und Krankheitsprozessen an-

8

zuregen, die er spontan (direkt) nicht überwinden kann. Ein weiterer Schwerpunkt ist der präventive Einsatz zur Vermeidung vegetativer Fehlregulationen und zur Steigerung der Immunabwehr. > Naturheilkundlich gesprochen führt die Hydrotherapie zur Regulation von Funktion und Leistung des menschlichen Organismus, zur Anpassung an Umweltanforderungen, zur Regeneration und Reparation sowie zur Steigerung der Abwehrkräfte.

Indikationen sind u. a: 4 Vegetative Regulationsstörungen 4 Colon irritabile 4 Fibromyalgie 4 Allergien unterschiedlicher Ausprägung (z. B. Rhinitis allergica) 4 chronisches Fatigue-Syndrom Hydrotherapeutische Anwendungen werden in Deutschland in der ambulanten Versorgung zurzeit fast nur auf Selbstzahlerbasis angeboten. Bewegungstherapie Im Rahmen der Naturheilverfahren kommt der Bewegungstherapie eine zentrale Bedeutung zu, wobei die Schwerpunkte auf den Allgemeinwirkungen des körperlichen Ausdauertrainings (7 Kap. 1 und 3.1) und den psychosozialen Aspekten des Sich-Bewegens liegen. Die wichtigsten regulativen Wirkungen des körperlichen Trainings sind: 4 Normalisierung von Kreislauffunktionen (Blutdruck, Herzfrequenz) 4 Optimierung der Atmung (Atemtiefe, Atemfrequenz) 4 Normalisierung von Stoffwechselfunktionen (Steigerung der Insulinempfindlichkeit, Normalisierung des Fettstoffwechsels) 4 Verbesserung der Beweglichkeit und Koordination mit Optimierung von Bewegungsabläufen und 4 Verbesserung der Gewebstrophik in verschiedenen Funktionsgeweben des Bewegungssystems (Muskulatur, Bandapparat, Knochen) Die Ausführung aktiver Bewegungen hat auch psychische Rückwirkungen und verbessert die soziale Integrationsfähigkeit, vor allem bei Durchführung in Gruppen. Diese Aspekte der Bewegung wurden insbesondere in der Gymnastikbewegung der 20er-Jahre des vori-

232

Kapitel 8 · Methoden und Anwendung der Naturheilverfahren

gen Jahrhunderts gepflegt. Im Rahmen der Naturheilverfahren werden folgende psychosozialen Effekte besonders betont: 4 Direkte Bewegungsfreude, die bei allen dynamischen Bewegungen sofort eintritt und durch Bewegung im Freien noch gesteigert wird 4 Verbesserung des Körpergefühls und Eintreten eine als angenehm empfundenen Müdigkeit nach Ende der Übungen 4 Freiwerden von quälenden Gedanken 4 Verbesserung des körperlichen und in der Folge auch des psychosozialen Selbstvertrauens 4 Soziale Kommunikation bei Bewegungen in der Gruppe

8

Auf die positiven Auswirkungen eines Ausdauerleistungstrainings auf Depressivität und Ängstlichkeit wurde bereits in 7 Kap. 3.1 hingewiesen. Phytotherapie Die Therapie mit Heilkräutern hat in allen medizinischen Traditionen immer einen großen Stellenwert eingenommen, so auch in der europäischen. Das Wissen, das seit der Antike, zum Teil durch islamische Gelehrte tradiert, im Mittelalter in den Klöstergärten weitergetragen wurde, bestimmte die Therapie bis in die Neuzeit. Die Äbtissin Hildegard von Bingen, Hl. (1098– 1179) war eine der zentralen Persönlichkeiten in der Entwicklung der Klostermedizin und der europäischen Pflanzenheilkunde. Erst mit dem Aufkommen chemischer Pharmazeutika wurde die Heilpflanze als Mittel der Therapie verdrängt. > Die Phytotherapie oder Pflanzenheilkunde verwendet ausschließlich ganze Pflanzen (= Drogen) und deren Teile (Blüten, Blätter, Wurzel, Rinden, Samen), die auf verschiedene Weise zubereitet und verabreicht werden. Auch Pulverisierung und Trockenstandardisierung sind möglich.

Pflanzliche Arzneimittel müssen in Deutschland wie chemisch definierte Arzneimittel vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zugelassen werden. Das bedeutet, dass Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nachgewiesen werden müssen.

Wichtige Zubereitungsformen von Phytopharmaka 5 Dekokt: Abkochung mit Wasser, meist bei harten Pflanzenteilen (z. B. Wurzeln, Rinden) 5 Destillat (»Geist« ): Konzentrierter Extrakt aus Drogen mit flüchtigen (= volatilen) Wirkstoffen, durch Wasserdampfdestillation gewonnen 5 Elixier: Weingeistige Tinktur evtl. mit Zusätzen (z. B. Extrakten, ätherischen Ölen) 5 Extrakt: Konzentrierter Pflanzenauszug mit wässrigen, alkoholischen oder ätherischen Lösungsmitteln 5 Infus: Aufguss aus kochendem Wasser, meist bei zarten Pflanzenteilen (z. B. Blüten, Blätter) 5 Mazeration: Kaltwasserauszug, meist bei schleimhaltigen Drogen (sog. Muzilaginosa, z. B. Leinsamen) und Baldrian 5 Teegemisch (Spezies: Mischung ganzer oder zerkleinerter Pflanzenteile. Zubereitung meist als Infus, je nach verwendeter Droge aber auch als Dekokt oder Mazeration; ein Teerezept sollte genaue Angaben über Bestandteile, Zubereitungsform, Dosierung und Dauer der Anwendung enthalten. 5 Tinktur: Dünnflüssiger Drogenauszug, entspricht einer länger dauernden Mazeration mit Ethanol, Extraktionsverhältnis 1:5–1:1

Die Wirkstoffe für Phytopharmaka werden auch industriell aus den verschiedenen Pflanzenteilen gewonnen. Anwendungsbereiche für einige Phytopharmaka sind . Tab. 8.2 zu entnehmen. ä Beispiel Eine 45-jährige Journalistin wurde wegen beständiger Oberbauchbeschwerden mit Übelkeit seit Jahren, die nach Nahrungsaufnahme auftreten vorgestellt. Wiederholte Gastroskopien erbrachten keinen pathologischen Befund, insbesondere keinen Helicobacterpylori-Befall. Anamestisch waren unregelmäßige Essenszeiten am Arbeitsplatz, meist in Eile oder in Verbindung mit berufsbezogenen Unterhaltungen, zu verzeichnen. Der Allgemeinzustand war insgesamt reduziert. Die postprandialen Beschwerden traten unabhängig von der zugeführten Nahrung auf. Unterschiediche Diäten hatten keinerlei Erfolg gezeigt.

6

233 8.1 · Klassische Naturheilverfahren

8

. Tabelle 8.2. Anwendungsbereiche wichtiger Phytopharmaka

Organsystem

Erkrankung

Droge

Darreichungsform

Bronchialsystem

Erkältung

Knoblauch (Allium sativum L.)

Frischer Knoblauch: Tagesdosis 2–5 g; Knoblauchextrakt: Tagesdosis 300–1000 mg oder entsprechend 4–12 mg Alliin oder 2–5 mg Allicin

Linde (Tilia cordata)

Teezubereitung: 1 Teelöffel (etwa 2 g) getrocknete Lindenblüten mit ca. 150 ml kochendem Wasser übergießen und nach 5–10 min abseihen. Ein- bis zweimal täglich eine Tasse frisch bereiteten Tee möglichst heiß trinken.

Entzündungen der Bronchialschleimhaut

Kamille (Chamomilla recutita)

3 g Kamillenblüten (ca. 1 Esslöffel) mit 150 ml kochendem Wasser übergießen, zugedeckt 10 min ziehen lassen, dann abseihen. 3–4 Tassen täglich frisch bereiteten Tee zwischen den Mahlzeiten trinken.

Dysmenorrhö

Liebstöckel (Levisticum officinale)

½–1 Teelöffel (etwa 1,5–3 g) fein zerkleinerte, getrocknete Liebstöckelwurzel werden mit ca. 150 ml siedendem Wasser übergossen und nach 10–15 min abgeseiht. Mehrmals täglich zwischen den Mahlzeiten eine Tasse frisch bereiteten Tee trinken.

Prämenstruelles Syndrom

Mönchspfeffer (Vitex agnuscastus)

Extrakte: Entsprechend 30–40 mg Mönchspfefferfrüchte einmal täglich. In Apotheken sind Mono- oder Kombinationspräparate mit Mönchspfefferfruchtextrakten erhältlich.

Benigne Prostatahyperplasie (I–II)

Sägepalme (Serenoa repens)

Verwendet werden Zubereitungen, die mit lipophilen Lösungsmitteln wie hochprozentigem Ethanol hergestellt werden. Die Dosierung beträgt 320 mg Extrakt täglich, entsprechend 1–2 g Sägepalmenfrüchte. Eine Besserung des Beschwerdebilds ist erst nach einer Behandlungsdauer von 1–2 Monaten zu erwarten!

Herz-Kreislauf / Gefäßsystem

Herzinsuffizienz (Stadien I und II NYHA)

Weißdorn (Crataegus laevigata)

Tee: Ein knapper Teelöffel (ca. 1,5 g) Weißdornblätter mit -blüten werden mit 150 ml kochendem Wasser übergossen und nach 10–15 min abgeseiht. Tagesdosis: 5 g Droge. Anwendung 3- bis 4-mal pro Tag über mehrere Wochen.

Gastrointestinalsystem

Fettverdauungsstörungen (Anregung des Galleflusses)

Löwenzahn (Taraxacum officinale)

Tee: 1–2 Teelöffel Löwenzahnkraut mit Wurzel werden mit ca. 150 ml Wasser kurz aufgekocht und nach etwa 15 min abgeseiht. Morgens und abends 1 Tasse frisch zubereiteten Tee trinken. Zubereitungen aus Löwenzahn sollten kurmäßig über 4–6 Wochen angewendet werden.

Vorbeugung und Behandlung toxischer Leberschäden, unterstützende Behandlung akuter und chronischer Leberentzündungen

Mariendistel (Silybum arianum)

Die leberschützenden Wirkstoffe sind kaum wasserlöslich, sodass die Teezubereitung vermutlich wirkungslos ist. Fertigpräparate bestehen meist aus Trockenextrakten, die mit polaren, lipophilen Lösungsmitteln, z. B. Ethylacetat gewonnen wurden. Die Tagesdosis beträgt 200–400 mg Silymarin bzw. berechnet als Silibinin.

Urogenitalsystem

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Kapitel 8 · Methoden und Anwendung der Naturheilverfahren

. Tabelle 8.2. Anwendungsbereiche wichtiger Phytopharmaka (Fortsetzung)

Organsystem

Nervensystem und Psyche

Erkrankung

Droge

Darreichungsform

Krampfartige Beschwerden der Verdauungsorgane, Appetitlosigkeit

Schafgarbe (Achillea millefolium)

Tee: 2 Teelöffel (2–4 g) Schafgarbenkraut mit ca. 150 ml heißem Wasser übergießen und 10 min bedeckt ziehen lassen, dann abseihen. 3- bis 4-mal täglich eine Tasse frisch bereiteten Tee warm zwischen den Mahlzeiten trinken.

Leichte bis mittelschwere Depressionen

Johanniskraut (Hypericum perforatum)

Tee: 2 Teelöffel Johanniskraut mit 150 ml kochendem Wasser übergießen, nach 10 min abseihen. Regelmäßig 1–2 Tassen morgens und abends frisch bereiteten Tee trinken.

a Die Teezubereitung enthält vermutlich die Wirkstoffe nicht in ausreichender Menge. Fertigpräparate mit standardisierten Extrakten sind vorzuziehen. Fertigarzneimittel: Die Schwellendosis für eine antidepressive Wirkung wird auf 300 mg Extrakt täglich geschätzt, empfohlen werden 500–1000 mg Extrakt täglich.

8 Die erweiterte Anamnese ergab häufige Angstgefühle, vor allem Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, quälende Gedanken und Durchschlafstörungen. Die Patientin übte keine Hobbies oder Sport aus. Das Gewicht war normal, das Abdomen vorgewölbt; es wurde keine Druckdolenz in Ober- oder Unterbauch gefunden, die Darmgeräusche waren normal. Der ordungstherapeutische Ansatz sah eine Nahrungsaufnahme in Ruhe mit langsamem und ausdauerndem Kauen der Nahrung und, soweit möglich, nicht im Beisein Anderer vor. Zum körperlichen Ausgleichstraining fuhr die Patientin mit dem Rad statt mit dem Auto zum Arbeitsplatz. Außerdem erlernte sie die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Nach 8 Wochen berichtet die Patientin von einem insgesamt besseren Allgemeinzustand, dennoch hätten sich die postprandialen Beschwerden nicht wesentlich verändert. Ihr wurde deshalb ein frisch zubereiteter Schafgarbentee verordnet, den sie zwischen den Mahlzeiten trinken sollte, zusätzlich dreimal pro Woche einen Johanniskrauttee vor dem Schlafengehen. Nach weiteren 8 Wochen berichtet die Patientin von einem deutlichen Rückgang der postprandialen Oberbauchbeschwerden, auch Übelkeit würde sie nicht mehr beobachten. Zugleich habe sich der Nachtschlaf verbessert. Der Patientin wird abschießend empfohlen, den Schafgarbentee zu reduzieren (zweimal pro Woche), nach 4 Wochen einen Auslassversuch zu unternehmen und die Teezubereitung als Bedarfmedikation zu verwenden.

Neuraltherapie M. Bernateck > Neuraltherapie ist die Behandlung chronischer Schmerzen und Syndrome des vegetativen Nervensystems mit Hilfe von LokalanästhetikaInjektionen.

Die Neuraltherapie nach Huneke nutzt die Eigenschaft eines Lokalanästhetikums (z. B. Procain), im vegetativen Nervensystem eine regulative Wirkung zu entfalten. Hierin unterscheidet sich die Neuraltherapie im Rahmen der Naturheilverfahren von der therapeutischen Lokalanästhesie, bei der die lokalen analgetischen Effekte im Vordergrund stehen (7 Kap. 3.14). Krankheiten oder Verletzungen hinterlassen häufig Reizzustände im Gewebe, die nach der Therapie der Neuraltherapie als »organische Irritation« bezeichnet werden. Sie können bestehen bleiben, selbst wenn alle klinischen Symptome verschwunden sind. Sie werden als Ursache für Störungen der Regulationen und Funktionen des autonomen Nervensystems aufgefasst. In der Neuraltherapie werden gezielte diagnostische oder therapeutische Injektionen in alle Schichten des pathologisch veränderten Gewebes eines Segmentes durchgeführt (Haut, Schleimhaut, Periost, Muskulatur, GefäßNervenbündel u. a.). Das Neuraltherapeutikum wird direkt in ein solches »Störfeld« injiziert. Hierdurch wird eine Heilung der durch dieses Störfeld unterhaltenen Krankheit angestrebt. Verständlich werden die Therapieerfolge durch mögliche adaptive Umstellungen der vegetativen Regulation durch Reizung oder

235 8.1 · Klassische Naturheilverfahren

Dämpfung von sensiblen Afferenzen mit kollateralen Verschaltungen zu vegetativen Zentren. Störfelder Nach Huneke kann jede chronische Krankheit durch ein Störfeld bedingt sein. Chronische Entzündungen, Residuen abgelaufener Entzündungsvorgänge oder auch Narben können einen so starken vegetativen Dauerreiz ausüben, dass es zu nachhaltigen Regulationsstörungen kommt. Das Störfeld kann an jeder Stelle des Organismus die unterschiedlichen Krankheitsprozesse auslösen bzw. unterhalten. Abgestorbene oder beherdete Zähne, chronisch entzündete Tonsillen, Narben an Haut, Schleimhaut, Prostata, im gynäkologische Raum, in Leber, Gallenblase und Appendix sind Störfelder, die in Betracht gezogen werden.

Anwendungsformen 4 Die Lokaltherapie (Synonyme: Locus-dolendiTherapie, ähnelt der therapeutischen Lokalanästhesie 7 Kap. 3.14): Hier erfolgt die Behandlung am Ort des Geschehens, umgangssprachlich auch als »Dawos-Methode« (»Da wo es weh tut«) bezeichnet. 4 Die segmentale Therapie: Sie geht davon aus, dass alle einem Körpersegment zugehörigen Strukturen (Haut, Muskulatur, Knochen, Gefäße, innere Organe) nerval miteinander vernetzt und funktionell aufeinander abgestimmt sind. Dies hat zur Folge, dass jede Erkrankung und jede Regulationsstörung innerhalb eines Segmentes seine Repräsentanz an der Haut und Muskulatur (Dermatom, Myotom) im Sinne einer Veränderung des Turgors bzw. Tonus findet. Über diese Strukturen ist somit auch ein therapeutischer Zugang zum Sklerotom, Viszerotom oder auch Angiotom möglich. Hierbei handelt es sich um Hautareale, um Bezirke innerer Organe oder um Gefäßabschnitte, die in einer funktionellen (reflektorischen) Beziehung zum Hauptsymptom stehen. Voraussetzung für diesen therapeutischen Ansatz ist die exakte Anamnese und Palpation (z. B. Kibler-Hautfalte, Muskeldruckpunkte). 4 Die Therapie über zentrale Strukturen des vegetativen Nervensystems (z. B. Grenzstrang und seine Ganglien): Hierbei erfolgt der Einsatz der Neuraltherapeutika zur Hemmung von neuralen Afferenzen insbesondere zur Sympathikolyse. Ein Beispiel ist die Ganglion-stellatum-Blockade mit Pro-

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cain, die eine maximale Gefäßerweiterung und Schmerzausschaltung im Gesicht und Armbereich der behandelten Seite zum Ziel hat. 4 Die Störfeldtherapie bzw. die Probebehandlung störfeldverdächtiger Strukturen: Durch die vorübergehende Inaktivierung eines maßgeblich am aktuellen Krankheitsgeschehen beteiligten Faktors (z. B. Operationsnarbe) durch Infiltration oder Umflutung mit Procain kann der Gesamtorganismus in Eigenarbeit sein gestörtes regulatorisches Gleichgewicht wiederherstellen oder zumindest vorübergehend auf ein höheres Niveau heben. Injektionstechniken Die wichtigsten Injektionstechniken der Neuraltherapie sind: 4 Intrakutane Quaddeln 4 Intramuskuläre Infiltrationen 4 Injektionen an/in Sehnen 4 Injektionen an das Periost 4 Injektionen an periphere Nerven 4 Injektionen an vermutete Störfelder (Tonsillen, Zähne, Narben) 4 Injektionen an den Grenzstrang und seine Ganglien 4 Injektionen an und in venöse oder arterielle Gefäße 4 Injektionen in den gynäkologischen Raum oder an die Prostata Neuraltherapeutika Das klassische Neuraltherapeutikum ist das Procain, ein Paraaminobenzoesäureester. Es wird im Gewebe vollständig durch Esterasen hydrolysiert. In den letzten Jahren ist auch Lidocain als Neuraltherapeutikum verstärkt eingesetzt worden. Es besitzt eine Amidstruktur und kann von der Leber abgebaut werden. Die Moleküle beider Lokalanästhetika besitzen sowohl einen lipophilen als auch einen hydrophilen Rest. Das verleiht ihnen eine oberflächenaktive Eigenschaft, die es ihnen ermöglicht, sich an die Zellmembranen anzulagern. Dabei kommt es zu einer Natrium-Kanal-Blockade, die die Entstehung von Aktionspotenzialen verhindert. Die betroffenen Zellen des behandelten Gewebes werden unerregbar. Das führt zur Unterbrechung von Reflexmechanismen; so werden u. a. die nozizeptiven Afferenzen nicht fortgeleitet. Auch eine vorübergehende Unterbrechung solcher Reflexbögen (die Halbwertszeit der Neuraltherapeutika beträgt 2–4 h) kann zu längerfristiger Normalisierung der Regulation führen.

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Kapitel 8 · Methoden und Anwendung der Naturheilverfahren

Die Lokalanästhetika haben neben der Schmerzausschaltung und der Unterbrechung der Nervenleitung weitere therapeutisch nutzbare Effekte. Dazu gehören besonders eine Verbesserung der Mikrozirkulation und eine Absenkung der Katecholaminausschüttung. Dies wiederum führt zu einer Verbesserung der Stoffwechselsituation im Bindegewebe und zur Abdämpfung überschießender Reaktionen. Daher kann die Neuraltherapie gerade bei bereits pathologischen Verläufen im Sinne eines Circulus vitiosus das sich aufschaukelnde Geschehen (z. B. Schmerz – Functio laesa – Mikrozirkulationsstörung – Schmerz – Functio laesa u.s.w.) unterbrechen und es wieder regulieren. p Zur Neuraltherapie empfohlene Lokalanästhetika sind Procain 0,5–1% und Lidocain 0,5%.

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Indikationen und Kontraindikationen Hauptindikationen für den Einsatz der Neuraltherapie sind reversible Funktionsstörungen aus den viszerosomatischen und/oder psychosomatischen Funktionskreisen. Bei fast allen Störungen ist der Schmerz das Hauptsymptom. Die wichtigsten Indikationsgruppen sind: 4 Schmerzzustände als Folge von Entzündungsprozessen (Beispiele: Abszesse, entzündlich-rheumatische Erkrankungen, Lungenerkrankungen) 4 Tonusstörungen der Muskulatur (Beispiele: Pseudoradikulärsyndrome, viszeraler Schmerz bei gastroenteralen Erkrankungen) 4 Störungen des inneren Milieus (Beispiele: Diarrhö, Gastritis, Kolitis, Migräne, vegetative Dysregulationen) 4 Störfeldbedingte Erkrankungen (Beispiele: chronische Nasennebenhöhlenentzündungen, Hyperthyreose, chronische Prostatitis) Kontraindikationen der Neuraltherapie sind: 4 Überempfindlichkeit gegenüber Procain oder Lidocain (insgesamt sehr selten) 4 Myasthenia gravis 4 Herzinsuffizienz ab NYHA-Stadium III (Luftnot bei geringer Belastung) 4 Hämophilie A und B 4 Aktuelle Behandlung mit Vitamin-K-Antagonisten (z. B. Phenprocoumon oder Warfarin)

ä Beispiel Ein 60-jähriger Patient litt seit ca. einem Jahr unter atypischem Gesichtsschmerz und geringgradigen, rezidivierenden flächigen Schwellung der Wangenregion links. Bei der palpatorischen Untersuchung wurde keine Druckdolenz der Nervenaustrittspunkte oder der Kaumuskulatur festgestellt. Ebenso ergab sich kein radiologischer Hinweis auf eine chronische Sinusitis maxillaris. Wegen des Verdachts auf apikale Ostitis wurden 2 noch vorhandene Molaren im Oberkiefer entfernt, was die Symptomatik jedoch nicht beeinflusste. Die Therapie bestand in unterschiedlichen Analgetika (Therapieversuch mit Gabapentin) und führte zu einem Rückgang der Gesichtsschmerzen; als Dauermedikation wurde die Analgetika jedoch nicht empfohlen. Bei genauer Inspektion des Mundraumes fand sich wangenseitig im Oberkiefer eine deutliche Narbenbildung. Bei nochmaliger Befragung berichtet der Patient von einer mehrere Jahre zurückliegende Wurzelspitzenresektion. Dieser sanierte Zahn musste jedoch vor ca. 2 Jahren komplett entfernt werden, da sich erneut ein Wurzelgranulom ausgebildet hatte. Auf Druck war diese Narbenregion schmerzhaft. Da keine Anzeichen einer chronischen Entzündung vorlagen, wurde ein Narbenstörfeld vermutet und eine Narbenunterspritzung mit Lidocain 0,5% (2 ml), einmal pro Woche, durchgeführt. Bereits nach der dritten Behandlung berichtete der Patient über eine Schmerzreduktion, die mehrere Tage anhielte. Die Therapie wurde fortgesetzt und zusätzlich die gesamte Schleimhaut der linken Oberkieferzahnleiste unterspritzt. Nach 10 Behandlungen gab der Patient an, auf Schmerzmedikamente verzichten zu können. Nach Beenden der Behandlungsserie traten die Beschwerden erneut auf, jedoch geringer ausgeprägt. Hierauf erfolgte eine 3-malige Injektion (Lidocain 0,5%, 2 ml) an das Ganglion trigeminale. Dadurch wurde nahezu völlige Beschwerdefreiheit und das Verschwinden der gelegentlichen Weichteilschwellung erreicht. Dem Patienten wurde empfohlen, die Behandlung bei Bedarf zu wiederholen.

Ausleitende Therapieverfahren > Die ausleitenden Verfahren der naturheilkundli-

chen Behandlungsmethoden basieren auf der Theorie einer »Entschlackung« des interstitiellen Bindegewebes.

237 8.1 · Klassische Naturheilverfahren

Die ausleitenden Verfahren sind in allen medizinischen Traditionen bekannt und gehen in der europäischen Tradition auf Hippokrates zurück. Aus dem Zusammenhang zwischen Körperinnerem und Hautoberfläche folgerte er, dass die Organe eines kranken Körpers gereinigt werden können, indem über äußere Maßnahmen schädliche Stoffe nach außen abgeleitet werden. Daraus resultiert der Begriff »Ausleitende Verfahren«. Pathophysiologisch finden die ausleitenden Verfahren eine Erklärung in der auf die antike 4-Säfte-Lehre zurückgehende Humoralpathologie (von humores = Säfte). Die Humoralpathologie versteht unter Krankheiten eine Störung der Zusammensetzung der Säfte, der sog. Dyskrasie, die durch Ableitung und Ausscheidung über Haut, Nieren, Darm (und Menstrualblut) beseitigt werden kann und zu einer »richtigen« Mischung der Säfte führt, der sog. Eukrasie. Diese Vorstellungen der antiken Säftelehre beherrschten die Medizinlehre von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, bis Virchow durch das Postulat der Zellularpathologie eine neue Sichtweise entwickelte, die in letzter Konsequenz die Grundlagen für moderne Zell- und Gewebeforschung bis hin zur Anzüchtung von Organgeweben bildet. Humoralpathologie Parallel zur Virchow’schen Zellularpathologie etablierte sich im 20 Jahrhundert, begründet von dem Wiener Histologen Alfred Pischinger (1899–1983), eine moderne Form der Säftelehre, die als Humoralpathologie bezeichnet wird. Dabei kommt dem Interstitium als Transitstrecke zwischen Intravasalraum und Intrazellulärraum die wesentliche Bedeutung für den Transport von Nährstoffen und Abbauprodukten des Zellstoffwechsels zwischen diesen beiden Kompartimenten zu. Als metabolisch bedeutsame Transitstrecke bildet sie die entscheidende Umsatzstelle für Ver- und Entsorgung der Zellen und deren regelrecht verlaufenden Stoffwechselfunktion. Von Pischinger wurde hierfür der Begriff »System der Grundregulation« geprägt. Das von Pischinger benannte Grundregulationssystem beinhaltet das Netzwerk aus mesenchymalem Bindegewebe (extrazelluläre Matrix), Kapillaren, interzelluläres Fibroblastenund Fibrozytenmilieu, Zellmembranen und vegetativen Nervenfasern. Als histochemische Grundlagen gelten Proteoglykane und Glykoproteine, die das Interstitium mosaikartig strukturieren und ubiquitär den gesamten Organismus durchziehen.

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Einteilung Der Ausleitungsprozess wird durch thermische, chemische oder mechanische Reize induziert. Die ausleitenden Verfahren lassen sich wie folgt einteilen.

Äußerlich anzuwendende ausleitende Verfahren 5 Thermische Stimuli – Generalisiert: Sauna, ansteigende Voll- und Teilbäder, Wickel (7 Kap. 3.9) – Lokal: Kauterisation 5 Mechanische Stimuli: trockenes und blutiges Schröpfen 5 Chemische Stimuli: äußerlich mit Zielorgan Haut: Blutegeltherapie, Kantharidenpflaster 5 Kombinierte mechanisch-chemische Verfahren: Baunscheidtieren (s. u.)

Innerlich anzuwendende ausleitende Verfahren 5 Zielorgan Haut: Diaphoretika (schweißtreibende Phytotherapeutika) 5 Zielorgan Lunge: Expektoranzien (Mukolytika, Sekretolytika) 5 Zielorgan Magen-Darm-Trakt: Emetika (pflanzliche oder chemische Brechmittel), Purganzien (pflanzliche oder chemische Abführmittel, Klistiere) 5 Zielorgan Niere: Diuretika (pflanzliche oder chemische harntreibende Mittel) 5 Zielorgan weibliches Genitale: Emmenagoga (Förderung der Regelblutung, gilt wegen eines schwer kontrollierbaren Blutverlustes als obsolet) 5 Zielorgan Gefäßsystem: Aderlass

Kauterisation Die traditionelle Kauterisation mit einem Glüheisen setzt kleinere oder größere Verletzungen an der Epidermis. Hierbei wird zum Teil auch die Basalmembran verödet, wodurch es zu einer verzögerten Heilung kommt. Die Folge sind therapeutisch erwünschte, langsam heilende und ständig Wundsekret absondernde Ulzera. Die Abdeckung mit einer sterilen Kompresse verhindert eine bakterielle Superinfektion. Diese Form der Ausleitung ist in Westeuropa

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238

Kapitel 8 · Methoden und Anwendung der Naturheilverfahren

weitgehend verlassen worden, ist aber in arabischen Staaten, in Afrika und in Indien auch heute noch gebräuchlich.

Schröpfen

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Die Schröpfkopftherapie stammt aus dem klassischen Altertum, es war in ähnlicher Form aber auch bei den alten Chinesen bekannt. Beim Schröpfen wird in sog. Schröpfgläsern oder Schröpfköpfen ein Unterdruck erzeugt. Die Schröpfgläser werden direkt auf die Haut gesetzt, mit der Vorstellung, durch den Unterdruck eine Ab- bzw. Ausleitung von Schadstoffen über die Haut zu erreichen. Der Unterdruck wird üblicherweise dadurch erreicht, dass die Luft im Schröpfkopf erhitzt wird und der Schröpfkopf sofort auf die zu behandelnde Körperpartie gesetzt wird. Das Erhitzen erfolgt durch einen in Äther getauchten Wattebausch, der angezündet wird. Eine andere Methode verwendet zum Erhitzen eine offene Flamme, die kurz in die Glasöffnung gehalten wird. Alternativ kann der Unterdruck durch eine Absaugvorrichtung im Schröpfglas erzeugt werden. Moderne Schröpfköpfe sind mit einer pistolenartigen Vorrichtung versehen, mit der ein genau dosierter Unterdruck erzeugt werden kann. Wirkungsweise und Indikationen. Durch das Schröpfen soll eine Unstimmung und Regulierung gestörter Körperfunktionen, die Beeinflussung von Schmerzen und die lokale Auflösung von Gelosen (Verquellungen der Subkutis) erreicht werden. Schröpfen wird gegen eine Vielzahl von Beschwerden eingesetzt, u. a. bei Erkrankungen innerer Organe über Therapie der Head’schen Zonen, bei Migräne und Spannungskopfschmerzen, bei Lumbalgien und myofaszialen Schmerzsyndromen. Nebenwirkungen. Insbesondere bei starkem Unter-

druck oder langer Applikation können sich Blasen an der Behandlungsstelle bilden.

Wunde ab, darunter die Blutgerinnungshemmer Heparin und Hirudin – aus diesen Stoffen ergeben sich ein Teil der medizinischen Heilwirkungen des Blutegels – und auch Stoffe, die Entzündungen bekämpfen und Schmerzen lindern können. Allerdings ist die exakte Wirkung aller anderen Stoffe noch nicht bekannt. Für Hirudin wurden neben der antithrombotischen Wirkung auch diuretische, gefäßdilatierende und antibiotische Wirkungen nachgewiesen. Indikationen. Die wichtigen Anwendungsgebiete der Blutegeltherapie sind: 4 Hämatome 4 Venöse Stauungssymptomatik, Phlebitiden, Varikosis 4 Arthrosen (vor allem Arthrosen der Fingergelenke, Kniegelenke) 4 Enthesiopathien (Epikondylopathie, Achillodynie) 4 Distorsionen, Kontusionen (Sportverletzungen) 4 Tinnitus, Otitis media 4 Dysmenorrhö Kontraindikationen. Kontraindiziert ist die Blutegel-

therapie bei: 4 Antikoagulanzientherapie 4 AVK (Gangrängefahr) 4 Hirudin-Allergien Kantharidenpflaster Bei der Therapie mit Kantharidenpflaster wird Kantharidin, das aus der getrockneten und verriebenen spanischen Fliege (Lytta vesicatoria bzw. Lantharis vesicatoria) gewonnen wird, auf die Haut aufgebracht. 10–16 h nach Aufbringen des Pflasters bildet sich eine Blase, die einer Brandblase ähnelt. Es wird vermutet, dass Kantharidin auf das Lymphsystem einwirkt. Man spricht vom »weißen Aderlass« im Gegensatz zum »roten Aderlass« des Schröpfens. Als Nebenwirkung kann es zu nephrotoxischen Wirkungen kommen.

Blutegeltherapie Bei der Blutegeltherapie werden medizinische Blutegel (Hirudo medicinalis) auf die Haut gesetzt, wo sie sich fest saugen, um dann meist schmerzfrei die Haut zu durchbeißen. Anschließend kann ein Egel in etwa 30 min bis zum Fünffachen seines Körpergewichts an Blut saugen. Nach Erreichen der Sättigung fällt der Blutegel von selbst von seinem »Opfer« ab. Während des Saugvorganges sondert der Egel über den Speichel etwa 20 verschiedene Substanzen in die

Baunscheidtieren Das Baunscheidtieren wurde von Karl Baunscheidt (1809–1873) entwickelt und besteht in der Anwendung einer münzgroßen Scheibe, an der 25–30 Stahlnadeln befestigt sind und die von Hand oder mit einer Feder 1–2 mm tief in die Haut gestochen werden. Die so gereizte Haut wird anschließend mit dem sog. »Baunscheidt-Öl« eingerieben. Heute gängig sind Rezepturen mit Histamin, Wacholder- und Nelkenöl.

239 8.2 · Komplexe Konzepte der Naturheilverfahren

Weitere Ausleitungsverfahren Zu den innerlich anzuwendenden ausleitenden Verfahren gehören schweißtreibende Phytotherapeutika (Diaphoretika) wie schwarzer Holunder, (Sambucus nigra) und Lindenblüten (Tilia cordata). Andere schweißtreibende Maßnahmen sind Wickel, Teilbäder, Vollbäder, Sauna und Dampfbad. Zur Ausleitung über die Lunge werden Expektoranzien (Mukolytika, Sekretolytika) eingesetzt. Im Magen-Darm-Trakt werden Emetika (pflanzliche oder chemische Brechmittel wie z. B. die Brechwurzel (Ipecacuanha) oder Laxanzien (Abführmittel, wie z. B. Magnesiumsulfat oder pflanzliche Mittel) angewendet. Zur Ausleitung verwendete Diuretika sind Birkenblätter (Betula pendula), Brennnesselkraut (Urtica dioica) und Goldrute (Solidago virgaurea). Fazit Die Naturheilverfahren leiten ihre Therapiemethoden im Wesentlichen aus traditionellen Therapiekonzepten her und beinhalten vegetativ wirksame und verhaltensmodulierende Elemente. Die verwendeten Methoden können dabei sehr unterschiedlich sein, z. B. Ordnungstherapie, Ernährungstherapie, Hydro- und Thermotherapie, Bewegungstherapie und Phytotherapie sowie die ausleitenden Verfahren und Neuraltherapie. Bei den in den Industrienationen häufigen Funktionserkrankungen des Bewegungsapparates und der Verdauungsorgane, aber auch des Immunsystems (Allergien) können sie sinnvll eingesetzt werden.

Komplexe Konzepte der Naturheilverfahren

8.2

Th. Stamm Definition Unter »komplexen Konzepten der Naturheilverfahren« versteht man den Einsatz verschiedener Naturheilverfahren mit unterschiedlichen Schwerpunkten in festgelegten Therapiekonzepten. Sie werden häufig mit einem Erstbeschreiber identifiziert. Auch traditionelle Therapieverfahren bestimmter Länder oder Regionen (traditionelle chinesische Medizin, traditionelle indische Medizin) kön-

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nen unter komplexen Therapiekonzepten subsumiert werden.

8.2.1 Einleitung Naturheilverfahren besitzen in der Bevölkerung eine ausgeprägte Wertschätzung. Motivation, Eigenverantwortung und aktive Teilnahme des Patienten werden gefördert, wenn die Therapieverfahren akzeptiert und die Wirkungen vom Patienten verstanden werden, sodass er sich angstfrei darauf einlassen kann. Diese positive Einstellung zu den Naturheilverfahren verstärkt wiederum deren positive Wirkung. Die »natürliche Behandlung« wird heute oft ausdrücklich verlangt. Dies spiegelt sich auch im Trend zum Phythopharmakon deutlich wieder. Zwischen 1990 und 1997 hat der Einsatz von Phythopharmaka in den USA um 380% zugenommen. Ähnliche Zuwächse sind auch in Deutschland zu beobachten, insbesondere bei Patienten mit einem höheren Bildungsstand und Patienten in einem höheren Lebensalter. p Naturheilverfahren können in Deutschland auch zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden, wenn der Verordnende Arzt die Zusatzweiterbildung »Naturheilverfahren« führt.

Die ärztlich-therapeutische Arbeit mit Naturheilverfahren zielt – wie in den vorangegangenen Kapiteln erwähnt – vermehrt auf das Aktivieren körpereigener Heil- und Abwehrkräfte im Patienten durch den gestuften Einsatz verschiedenster Reize. Es ist Ziel dieser ärztlich-therapeutischen Arbeit, den Prozess der Selbstheilung und Selbstordnung im Patienten zu fördern, d. h. selbstregulierende Prozesse anzustoßen und damit ein neues Gesundheitsbewusstsein zu fördern. > Entscheidend sind ein indikations- und stadiengerechter Einsatz von Naturheilverfahren sowie die gleichzeitige Durchführung einer adäquaten medizinischen Diagnostik, Akuttherapie und Rehabilitation.

In der Praxis werden Naturheilverfahren unter 2 verschiedenen Blickwinkeln durchgeführt: 4 Anwendung von Konzepten, die der Lehre bestimmter Erstbeschreiber folgen (Kneipp, Pischinger, Mayr u. a.) und auf die umfassende »ganzheitliche« Behandlung kranker Menschen zielen,

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Kapitel 8 · Methoden und Anwendung der Naturheilverfahren

4 Pragmatische indikationsspezifische, individuell zusammengestellte Therapiekonzepte mit Elementen aus der Physikalischen, Ernährungsund Phytotherapie sowie anderen Naturheilverfahren.

8.2.2 Konzepte, die auf Erstbeschreiber

oder traditionelle Philosophien zurückgehen Das Konzept nach Kneipp Die Wurzeln des Kneipp-Konzepts entstammen den Wassertherapien des 19. Jahrhunderts. Sebastian Kneipp (1821–1897) selbst war Pfarrer in Wörrishofen

8 . Tabelle 8.3. Die 10 Grundregeln der Kneipp’schen Wasseranwendungen Kälteanwendungen nur bei vorgewärmtem Körper! Je kälter das Wasser, desto kürzer der Reiz. Bei Wechselanwendungen erfolgt erst der Warm- und anschließend der Kaltreiz. Der Warmreiz ist deutlich länger zu halten als der kalte. Um eine optimale Gefäßreaktion zu erreichen, ist es wichtig, zwischen warm und kalt zu wechseln und nicht zwischen heiß und kalt. 15–20 min nach einer Wasseranwendung sollte der gesamte Körper wieder gut durchgewärmt sein (aktive oder passive Wiedererwärmung).

und entwickelte aus Selbstbehandlungen und gelegentlichen Therapien ein Therapiesystem, in dessen Mittelpunkt kalte Wassergüsse stehen. Im Laufe der Zeit sind Badezusätze, Pflanzenheilmittel, Diät und Bewegungstherapien hinzugetreten. Schließlich empfahl er aufgrund seines Berufes auch eine christlich orientierte Lebensweise, was er als Ordnungstherapie bezeichnete. Heute wird unter Kneipp-Therapie die einzelne oder kombinierte Anwendung der sog. fünf Säulen 4 Hydrotherapie, 4 Bewegungstherapie, 4 Ernährungstherapie, 4 Phytotherapie und 4 Ordnungstherapie verstanden. Im Rahmen von Kneipp-Kuren wird diese Kombination über 4 Wochen in speziellen Kureinrichtungen angewendet. Kneipp-Therapien können aber auch zu Hause oder im Rahmen anderer Therapiekonzepte adjuvant gegeben werden. Für die Wasseranwendungen wurden von Kneipp aus der Therapieerfahrung heraus zahlreiche Regeln und Vorschriften entwickelt, die teilweise später durch physiologische Untersuchungen untermauert werden konnten (. Abb. 8.1). Einige dieser Regeln sind in . Tab. 8.3 zusammengestellt. Indikationen. Das Indikationsspektrum für die Kneipp-Therapie ist sehr umfassend und betrifft Regu-

Nach Kälteanwendungen braucht nicht abgetrocknet zu werden. Es genügt, die Haut abzustreifen, um durch die entstehende Verdunstungskälte die Reizwirkung zu verlängern. Ausnahmen: starke Körperbehaarung, Zehenzwischenräume, Auftreten von Fehlreaktionen. Warme Bäder sollten prinzipiell mit einer kühlen Anwendung (Waschung oder Guss) beendet werden. Nach warmen und temperaturansteigenden Bädern sollte eine Nachruhe von wenigstens 30 min folgen. Zwischen einzelnen Wasseranwendungen und zwischen Anwendungen und Mahlzeiten sollten Pausen von 1–2 h liegen, um die Reaktionen abklingen zu lassen. Ausnahme: Anwendungen, die sich in der Wirkung unterstützen oder verdauungsfördernde Maßnahmen.

. Abb. 8.1. Beispiel für eine Kneipp’sche Gussführung: Die Begießung der Haut erfolgt mit breitem Wasserstahl und geringem Druck, sodass ein sog. Wassermantel entsteht. In der Regel beginnen die Güsse in der Peripherie und herzfern und werden später nach proximal sowie zur Gegenseite geführt

241 8.2 · Komplexe Konzepte der Naturheilverfahren

lationsstörungen aller vegetativ gesteuerten Organsysteme. Die Kneipp-Therapie wird vor allem auch präventiv eingesetzt z. B. zur unspezifischen Infektionsprophylaxe). Wirksamkeit. Die Wirksamkeit des Therapiekonzeptes nach Kneipp, insbesondere seine Anwendung in komplexen Kuren, ist durch klinische Studien gut belegt.

Ernährungstherapeutische Konzepte Ähnlich wie in der Krankengymnastik gibt es neben den in 7 Kap. 8.1.2 beschriebenen Grundsätzen naturheilkundlich orientierte Ernährungskonzepte, die mit den Namen ihrer Erstbeschreiber verbunden sind und überwiegend auf eine (zeitlich begrenzte) Ernährungsumstellung mit einer Verbesserung regulativer Stoffwechselprozesse abzielen. Beispiele sind: 4 Heilfasten nach Buchinger: Hierbei handelt es sich um ein über mehrere Tage bis mehrere Wochen durchgeführtes Fastenkonzept, bei dem während der Fastenzeit Früchte- und Kräutertees mit Honig sowie Gemüsebrühe oder Obst- und Gemüsesäfte gegeben werden. Am zweiten Tag der Fastenzeit wird abgeführt. Diese Form des Fastens wird auch in Kliniken in Kombination mit Bewegungstherapie und anderen physikalischen und psychosomatischen Therapien angewendet. 4 Vegetabile Rohkost nach Bircher-Benner: Es wird ausschließlich nicht erhitzte, vegetabile Grundnahrung mit hohem Anteil an essenziellen Nahrungsbestandteilen verabreicht. Zur Proteinzufuhr werden Mandelmilch, Sojamilch oder Tofu hinzugesetzt. Diese Diät wird in der Regel mehrere Wochen lang beibehalten. 4 Reinigungs- und Darmsanierungskur nach F.X. Mayr: Dieses Konzept beruht auf der Vorstellung, dass ein insuffizienter intestinaler Nahrungsabbau über die Bildung von Säuren, toxischen Eiweiß-

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abbauprodukten und Alkoholen zu einer chronischen Entzündung der Darmschleimhaut führt. Dies sei wiederum Ursache von vegetativen Symptomen wie Erschöpfung, Kopf- oder unspezifischen Gelenkschmerzen. Nach initialem Abführen werden abgelagerte Weißmehlbrötchen mit Buttermilch löffelweise zugeführt. Darüber hinaus wird ungesüßter Kamillentee in größeren Mengen zugeführt. Als wichtig wird ein gründlicher Kauvorgang zur Zerkleinerung der Speisen und Förderung der Mundverdauung erachtet. Adjuvant werden Bauchmassagen durchgeführt. Dia Dauer der Mayr-Kuren beträgt 3–4 Wochen. 4 Schroth-Kur: Sie kombiniert Schwitzprozeduren (durch heiße Ganzpackungen) und ein spezielles Ernährungsschema: Trockentage (ca. 1000 ml Obstsaft oder Kräutertee), »kleine Trinktage« (mit Wein, Suppe und Kräutertees) und »große Trinktage« (bis zu 1000 ml Wein, Gemüsesuppe und Grieß). An allen Tagen wird abgelagertes Brot gegeben. Aus ernährungsphysiologischer Sicht sind das Fehlen von Eiweiß und die Alkoholzufuhr allerdings problematisch. Traditionelle indische Medizin (Ayurveda) Die traditionelle indische Medizin beruht ähnlich wie die traditionelle europäische Medizin auf einer Konstitutionslehre, deren wesentliche Begründung sich aus dem Begriff »Ayurveda« herleitet. Dieser setzt sich aus den Worten ayus = Leben und veda = vollständiges Wissen zusammen. Die Konstitutionstypen der traditionellen indischen Medizin werden unterschiedlichen Lebensenergien zugeordnet, die als »Doshas« bezeichnet werden und in den »humores« der traditionellen europäischen Medizin ihre Entsprechungen haben (. Tab. 8.4; 7 Kap. 8.1.1). Dabei wird von einer Einheit von Körper und Geist ausgegangen.

. Tabelle 8.4. Lebensenergien des Ayurveda und ihre Entsprechungen in der Säftelehre Galens

Lebensenergien

Bedeutung

Entsprechung in der Säftelehre von Galen

vata (Prinzip Bewegung)

Aktivität

Sanguiniker

pitta (Prinzip Überhitzung)

Emotionales Ungleichgewicht

Choleriker

kapha (Prinzip Trägheit)

Emotionale Ausgeglichenheit

Phlegmatiker!

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Kapitel 8 · Methoden und Anwendung der Naturheilverfahren

Diagnostik. Die Diagnostik des Ayurveda zielt auf das

Erkennen des Konstitutionstyps und die Ausprägung der Lebensenergien. Anamnese, körperliche Untersuchung und Therapieversuche werden herangezogen, um diese Grundfaktoren abzuschätzen. Dabei werden auch die Lebensgeschichte, Umwelt und Ernährungsgewohnheiten mit einbezogen. Die den einzelnen Prinzipien zugeordneten Symptome sind nach westlichem Krankheitsverständnis überwiegend als vegetative Beschwerden zu bezeichnen bzw. Symptome vegetativer Dysregulationen.

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Therapiespektrum. Das Therapiespektrum der traditionellen indischen Medizin ist sehr breit, da es sich um eine Grundanschauung und nicht um eine Methode handelt. So gibt es chirurgische Interventionen und geburtshilfliche Techniken. Vielfach werden ausleitende Verfahren (sog. Pacha-karma) eingesetzt (7 Kap. 8.1.2). Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Massagen mit Ölanwendungen (Kerala panca-karma). Ähnlich wie in der traditionellen europäischen Medizin kommen auch zahlreiche Pflanzenzubereitungen zum Einsatz. > Ziel der traditionellen indischen Medizin ist ein als »Zustand des inneren Glückes« bezeichnetes Gleichgewicht der Körperfunktionen sowie von Seele und Geist.

Traditionelle chinesische Medizin einschließlich Akupunktur

verbrauch (zurück zur Norm), »Metall« als Umkehrphase (unterhalb der Norm) und »Wasser« als Regenerationsphase (zurück zur Norm) bezeichnet. Die »Erde« entspricht in diesem System dem Ausgangspunkt und Zielwert (Norm).

Diagnostik. Die Diagnostik in der traditionellen chine-

sischen Medizin versucht dementsprechend die Symptome in diese bildhaften Schemen einzuordnen und ist daher keine eigentliche Krankheitsdiagnostik im modernen europäischen Sinn, sondern vielmehr eine bildhafte Beschreibung von Funktionszuständen des Organismus. Das »Yin«-»Yang«-System ist so weit ausdifferenziert, dass auch die Organe und ihre Funktionen dieser Polarität zugeordnet werden. Darüber hinaus werden den Organen auf der Körperoberfläche Punkte und Linien zugeordnet (sog. Meridiane), die in einer funktionellen Verbindung zu den Organen stehen sollen. Sie bilden die Grundlage für die Wahl der Akupunkturpunkte. Therapiespektrum. Die Therapie der traditionellen

chinesischen Medizin kennt ähnlich wie die der traditionellen indischen Medizin eine Reihe verschiedener Interventionen, von denen die Therapie mit Pflanzen und die Akupunktur herausragen. Akupunktur bedeutet dem Wortsinn nach »Nadeln und Brennen«. Es handelt sich also um Hautreiztherapien mit Einstechen dünner Nadeln (. Abb. 8.2) oder der thermischen Reizung bestimmter Hautpunkte (»Moxibustion«).

Auch die Traditionelle chinesische Medizin ist ein Konzept, das sich auf überlieferte Vorstellungen von der Entstehung von Krankheit und Gesundheit beruft. Demnach erzeugt die Urkraft »Tao« ein Spannungsfeld polarer Kräfte (»Yin« und »Yang«), dem auch die Körperfunktionen unterliegen. Hieraus entsteht eine Lebensenergie (»Qi«), die nur anhand ihrer Auswirkungen wahrgenommen werden kann. Weiterhin werden zum Verständnis prozesshafter Abläufe 5 Wandlungsphasen beschrieben und bildhaft mit »Holz« , »Feuer« , »Erde« , Metall« , und »Wasser« bezeichnet. Die 5 Wandlungsphasen Man unterscheidet hemmende und fördernde Zyklusphasen. So wird »Holz« als Symbol für Energiebereitstellung (über die Norm), »Feuer« als Energie-

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. Abb. 8.2. Technik einer Akupunkturnadelung. Die Nadel wird bis in das Subkutangewebe eingestochen und dort für 20–30 min belassen. Zur Steigerung der Reizintensität kann die Nadel von Hand um ihre eigene Achse gedreht werden

243 8.2 · Komplexe Konzepte der Naturheilverfahren

ä Beispiel Eine vom Hausarzt überwiesene 38-jährige Patientin stellt sich mit der Diagnose Fibromyalgie in der Ambulanz vor. Sie leidet seit ca. 2 Jahren an zunehmenden Schmerzen mit verschiedenen Lokalisationen. Daraus resultieren eingeschränkte Mobilität und Beweglichkeit, die sich auch in den alltäglichen Tätigkeiten auswirken. Die Patientin berichtet über ein stetig zunehmendes Gefühl der Überforderung. Sie schlafe schlecht ein, wache morgens viel zu früh auf und sei dann völlig »gerädert«. In den letzten 2 Jahren hat die Patientin 8 verschiedene Ärzte aufgesucht und mehrere Therapien erfolglos beendet. Sie nimmt verschiedene Schmerzmittel nach Bedarf ein und hat seit ca. 4 Monaten ständig Magenschmerzen. Außerdem sei ihre Menstruation nun schon seit 7 Monaten ausgeblieben, was sie als »Wechseljahrerscheinung« interpretiert. Die Patientin hat diesbezüglich keinen gynäkologischen Kollegen aufgesucht. Sie ist alleinstehend und arbeitet im Callcenter einer großen Versicherung. Aufgrund der vorliegenden Befunde und einer klinischen Untersuchung wurde die Diagnose eines (therapieresistenten) Fibromyalgiesyndroms gestellt. Im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzepts wurde auch eine Diagnostik und Therapie nach den Regeln der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) durchgeführt: Aus dem Anamnesegespräch ergab sich ein Dysharmoniemuster im Sinne eines Blutmangels (Xue-Mangel), wobei Blut im traditionell chinesischen Sinne alle funktionellen Gewebe des Körpers impliziert. Zeichen hierfür waren ein relativ hoher Körperfettanteil, verbunden mit einem relativen Mangel an Muskulatur. In dieser Richtung wurde auch die ausgebliebene Monatsblutung und die Müdigkeit und Abgeschlagenheit interpretiert. Die muskulären Schmerzen und die druckdolenten Triggerpunkte wurden ebenfalls als relativen Mangel an funktionellem Gewebe gewertet, das die stetigen Belastungen nicht mehr kompensieren kann und mit Überbelastungsschmerzen reagiert. Der »Stress« und die Schlaflosigkeit bei Müdigkeit deuteten ebenfalls auf Zeichen des nicht mehr zu kompensierenden Leistungsdefizits mit resultierender vegetativer Labilität hin. Diese Verdachtsdiagnose wurde über die Zungen- und Pulsdiagnostik erhärtet. Es zeigte sich eine kleine geschwollen Zunge mit einer eingefallenen länglichen medialen Furche, die ebenfalls mit der

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Diagnose Blutmangel konform geht. Diese Zeichen des Blutmangels korrelieren mit der Atrophie der Muskulatur der Zunge und der Schleimhaut auf der Zungenoberfläche. Der Puls war schnell und schwach, was man auch als »leer« bezeichnet und sich ebenfalls in das Konstitutionsbild einfügt. In der Akupunkturtherapie wurde der Schwerpunkt auf dem gezielten »Energieausgleich« gelegt, und zwar durch Nadelung an sog. konstitutionell wirksame Punkte. Ziel war es, den »Blutaufbau« zu steigern,bzw. den Abbau zu minimieren. Kombineirt wurde diese Akupunktur mit einer gezielten parallel durchgeführten Akupunktur zur Analgesie. Weiterhin nahm die Patientin eine Ernährungsberatung in Anspruch. Genügend Ruhe und Schlaf sowie eine Reduktion der Arbeitsbelastung standen zu Beginn im Vordergrund. Nach der frühen Regenerationsphase wurde das Therapiekonzept durch eine gezielte medizinische Trainingstherapie zur Verbesserung der Ausdauerkraft und des Muskelstatus erweitert. Die Therapie erfolgte über einen Zeitraum von ca. 6 Monaten mit insgesamt 20 Akupunktursitzungen. Die Patientin konnte beschwerdefrei aus der ambulanten Therapie entlassen werden. Erste Erfolge zeigten sich in diesem Fall durch die Verbesserung des Schlafes, der Reduktion der Schmerzen sowie dem Wiedereinsetzen der Menstruation. Im weiteren Verlauf reduzierte sich der Fettanteil, der muskuläre Status verbesserte sich. (Verfasser: J. Schiller, Hannover)

Indikationen. Die wichtigsten Indikationen der Aku-

punktur sind akute und chronische Schmerzzustände. Es werden aber auch funktionelle und chronische Erkrankungen verschiedener Organe mit Akupunktur behandelt (. Tab. 8.5). Schließlich wird die Akupunktur mit Erfolg in der Suchtentwöhnungsbehandlung (z. B. Raucherentwöhnung) eingesetzt. Wirksamkeit. Neuere Studien belegen die Wirksamkeit der Akupunktur bei Schmerzen einschließlich chronischer Reizzustände am Bewegungsapparat. Dabei zeigen kontrollierte Studien mit Scheinnadelungen, dass das Einstechen in die Haut, also die eigentliche Hautreiztherapie, entscheidend zu sein scheint. Eine Abhängigkeit der Wirkungen vom Nadeln der traditionellen Akupunkturpunkte scheint hingegen nicht zu bestehen.

244

Kapitel 8 · Methoden und Anwendung der Naturheilverfahren

. Tabelle 8.5. WHO-Indikationsliste für Akupunktur (modifiziert) Oberer Respirationstrakt

Akute Sinusitis und Rhinitis Erkältungskrankheiten Akute Tonsillitis

Bronchopulmonale Erkrankungen

Akute Bronchitis Asthma bronchiale

Augenerkrankungen

Akute Konjunktivitis Zentrale Retinitis Myopie bei Kindern Katarakt Augenlähmungen nach Schlaganfall

Erkrankungen der Mundhöhle

Zahnschmerzen und Schmerzen nach Zahnexstirpation Gingivitis Akute und chronische Pharyngitis

Gastrointestinale Erkrankungen

Ösophagus und Kardiaspasmus, Singultus Gastroptose Akute und chronische Gastritis, Hyperazidität Chronische Ulcera duodeni Akute und chronische Kolitis Bakterielle Dysenterie, Diarrhö Obstipation

Neurologische und orthopädische Erkrankungen

Kopfschmerzen und Migräne Trigeminusneuralgie und Fazialisparese Morbus Menière Neurogene Blasenstörungen Enuresis nocturna Schulter-Arm-Syndrom und Epikondylopathie Interkostalneuralgie Ischialgie und Lumbalgie Schmerzen bei rheumatoider Arthritis

8

8.3

Klinisch-pragmatische Anwendung von Naturheilverfahren

Ein klinisch-pragmatisches Konzept ist das Nebeneinander von naturwissenschaftlich orientierter Medizin (insbesondere Physikalischer Medizin) und klassischen Naturheilverfahren. Hierbei erfolgt die Behandlung zunächst nach Therapiekonzepten der Schulmedizin. Diese wird in Absprache mit dem Patienten um Elemente der klassischen Naturheilverfahren und der Physikalischen Therapie erweitert. Diese Behandlungsregime werden entsprechend den Krankheitsstadien modifiziert und auf die besonderen Bedürfnisse des Patienten abgestimmt. Hierbei kann auch ein Wechsel von Schulmedizin und Naturheilverfahren erfolgen, wobei in der hochakuten Krankheitsphase tendenziell

die Schulmedizin den Vorrang erhält, während in der abklingenden Akutphase zunehmend klassische Naturheilverfahren und Physikalische Therapien zum Einsatz kommen. Im Folgenden werden solche komplexen Behandlungskonzepte mit Naturheilverfahren an 3 klinischen Beispielen vorgestellt: 4 Diabetes mellitus und metabolisches Syndrom 4 Chronisch-rezidivierende Atemwegserkrankungen 4 Osteoporose

8.3.1 Diabetes mellitus und

metabolisches Syndrom Unter einem metabolischen Syndrom wird eine erhöhte Insulinresistenz mit gestörter Glukosetoleranz bzw.

245 8.3 · Klinisch-pragmatische Anwendung von Naturheilverfahren

ein Diabetes mellitus Typ IIa, eine arterielle Hypertonie, Adipositas, Hyperlipoproteinämie und Hyperurikämie verstanden. Es tritt bei Bewegungsmangel und Fehlernährung auf. Für die Behandlung des metabolischen Syndroms mit Naturheilverfahren gilt im Grundsatz ein chinesisches Sprichwort, das besagt: »7/10 aller Erkrankungen heilt die Ernährung, 3/10 aller Erkrankungen heilt die Medizin«. Dementsprechend stehen zur Behandlung des metabolischen Syndroms die Reduktionskost und das Fasten sowie der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Genussmittel für begrenzte Zeit im Mittelpunkt. Das Fasten geht einher mit der Förderung aller Ausscheidungsvorgänge sowie einem ausgewogenen Verhältnis von Bewegung und Ruhe. Zur Anwendung kommen folgende Formen der Ernährungstherapie und des Fastens: 4 Therapeutisches Fasten: Es beinhaltet Langzeitfasten unter ärztlicher Aufsicht in einem Zeitumfang von 14–32 Tagen und entspricht einer moderaten Reduktion um 250–500 kcal auf etwa 70% des Energiebedarfs. Dies erfolgt durch Reduktion von Alkohol, Zucker und Fett. 4 Modifiziertes Fasten: Proteinsubstituiertes Fasten, wobei 50 g Eiweiß, 25–40 g Kohlehydrate sowie Vitamine und Mineralstoffe aufgenommen werden im Unterschied zum Tee- oder Wasserfasten (Nulldiät). Bei den 50 g Eiweiß handelt es sich um hochwertiges Molkeeiweiß. 4 Vollwertkost: Für den Diabetiker sind die meisten Regeln der Vollwertkost uneingeschränkt zu empfehlen. Die Vollwertkost führt zu geringeren postprandialen Blutzuckeranstiegen sowie einem anhaltenden Sättigungsgefühl. 4 Vegetarismus: Vegetarier ernähren sich in allen Altersgruppen eiweiß- und cholesterinarm. Die Kost ist ballaststoffreicher und arm an Zucker. Diese Ernährung bietet sich für die Therapie übergewichtiger Typ-II-Diabetiker an. ä Beispiel Ein 72-jähriger, deutlich übergewichtiger Witwer mit einem Body-Mass-Index von 32 cm/kg2 und einem Bauchumfang von 104 cm war als langjähriger Hypertoniker mit einer antihypertensiven Dreierkombination eingestellt (Diuretikum, β-Blocker, AT1-Blocker) und erhielt Amaryl 1 mg morgens und abends zur

6

8

Behandlung eines Diabetes mellitus Typ IIa. Aufgrund des Alters, der bestehenden Risikofaktoren, der Multimorbidität sowie auch der sich entwickelnden Isolation und einer beginnenden Depression war eine Verschlechterung der Stoffwechselsituation zu erwarten. Um diese Fehlentwicklung aufzuhalten, wurde ein komplexes Behandlungskonzept unter Einschluss der Naturheilverfahren eingeleitet. Zur vorrangig notwendigen Ernährungsumstellung wurde in der Klinik das Heilfasten nach Buchinger begonnen. Für zuhause wurde eine vollwertige Grunddiät mit Begrenzung der Kalorienzufuhr auf maximal 30% der täglichen Gesamtnahrungsenergie, ergänzt durch eine mediterrane Ausrichtung der Ernährung (Olivenöl, Fisch etc.), viel Gemüse, Obst und Vollkornprodukte. Diese Nahrungsumstellung wurde von dem Patienten rasch akzeptiert. Um die körperliche Aktivität stufenweise in den Alltag zu integrieren, wurde während des Klinikaufenthaltes zunächst mit täglichem 30-minütigen Spazierengehen, dann mit Wandern in der Gruppe, Schwimmen, Tanzen und Treppensteigen begonnen. Als zusätzliche Physikalische Therapie erhielt der Patient CO2-Vollbäder, kalte Waschungen und detonisierende Massagen. An Phytotherapie, Vitaminen und Spurenelemente wurde Selen, Zink und Omega-3Fettsäuren verordnet. Das Ergebnis nach 8-wöchtiger Behandlung war ein Gewichtsverlust von 4,5 kg, eine Blutdrucksenkung von 12/6 mmHg und eine Senkung des Medikamentenbedarfs sowohl für die Antihypertensiva wie auch für das orale Antidiabetikum. Als Nebeneffekt verbesserte Stimmung, verbesserte Mobilität, verbesserte soziale Integration, Einbindung in eine gemischte Wandergruppe »Wir über 70 plus« .

Weiterhin sind folgende Naturheilverfahren zur Behandlung des Diabetes mellitus und des metabolischen Syndroms geeignet, die in Kombination mit der Ernährungstherapie und dem Fasten angewendet werden: 4 Hydro- und Thermotherapie: Sie tragen zur Senkung des Blutdruckes bei (z. B. Teil- und Vollbäder mit CO2, ansteigende Armbäder nach Hauffe; 7 Kap. 3.9 und 3.10). 4 Bewegungstherapie: Gehtraining, Terraintraining, Tanzen, Schwimmen, Radfahren. Ausdauertraining senkt Blutdruck und Blutfette und verbessert die Fließeigenschaften des Blutes.

246

Kapitel 8 · Methoden und Anwendung der Naturheilverfahren

4 Massagetherapie: Mit klassischen Handmassagen von Rücken und Brustkorb (7 Kap. 3.5). 4 Ordnungstherapie: Regelmäßiger Lebensstil sowohl bezüglich der Mahlzeiten wie auch der Bewegung. Ein aktiver Lebensstil verhindert das Auftreten eines Typ-II-Diabetes bzw. schiebt es weit hinaus. 4 Phytotherapie: Bei Hypercholesterinämie Knoblauch- und Artischockenextrakt z. B. Aargamm à 2-2-2 Dragéees, zur Unterstützung der Herzfunktion bei gleichzeitiger Hypertonie z. B. Crataegutt novo 1-0-1 Tablette oder Crataegus Mistelextrakt Beasguviscum 3×1 Tablette. > Mehr Bewegung ist für Patienten mit metabolischem Syndrom und Diabetiker wichtiger als kalorienarme Ernährung.

8

8.3.2 Chronisch-rezidivierende

Atemwegserkrankungen Ca. 90% der Atemwegsinfekte sind durch Viren verursacht. Trotz dieser weit verbreiteten Erkenntnis setzen 50–70% aller Ärzte zunächst zur Akuttherapie dieser Bronchitiden Antibiotika ein. Diese frühe Gabe von Antibiotika kann zu vermehrten Durchfällen, Allergien und zu Antibiotikaresistenzen bei einer zunehmenden Zahl von resistenten Bakterienstämmen führen. Wiederholte Atemwegsinfekte können darüber hinaus zu chronisch-obstruktiven Lungenerkrankungen führen. Daher kommt der Vermeidung von Rezidiven durch Verbesserung der Infektabwehr und der Besserung der Atemfunktion ein hoher Stellenwert zu. Hierzu stehen verschiedene Methoden der Physikalischen Medizin und klassischen Naturheilverfahren zur Verfügung. Die Stärkung der Infektabwehr wird unter dem Begriff der »Abhärtung« zusammengefasst. Maßnahmen der Hydro- und Thermotherapie bei der chronisch obstruktiven Bronchitis stehen dabei im Mittelpunkt dieser Behandlung. Hierzu gehören 4 Ansteigende bzw. warme Fuß-/Armbäder mit einer Temperatur von 35–39°C in einer Zeitdauer von 12–15 min mit Nachruhe 4 Ansteigendes Halbbad mit Brustwickel 1× täglich 4 Heublumensack 30–40 min auf die zu behandelnde Region, z. B. Brustkorb 1× täglich 4 Wassertreten, kalte Güsse nach Kneipp oder morgendlich kalte Dusche 1× täglich (nicht im akuten Krankheitsstadium!)

4 Sauna 1× pro Woche 4 Sole-Inhalation mit Heiminhaliergerät (Pariboy) oder Kamilledampfbad bzw. Kopfdampf 1–2× täglich Sauna Saunabäder verbessern die Infektabwehr durch eine gesteigerte Durchblutung der Akren und des NasenRachenraums, wobei dieser Effekt durch entsprechende zusätzliche Kaltreize im Wechsel verstärkt wird (7 Kap. 3.8.3).

Zu einer umfassenden Therapie mit Naturheilverfahren bei Atemwegserkrankungen gehören darüber hinaus: 4 Atmungstherapie: fünfmaliges Üben pro Woche nach krankengymnastischer Anleitung, u.a. auch mit Atemhilfsgeräten 4 Ausdauersport: mild dosiertes Ausdauertraining, Walking, Schwimmen, Radfahren, dosierte medizinische Trainingstherapie 4 Klassische Massagen: in Verbindung mit heißer Rolle 3× pro Woche 4 Bindegewebsmassagen: thorakal und lumbal über 20 min 3× pro Woche 4 Ernährungstherapie: vollwertige Ernährung mediterraner Ausrichtung, evtl. Heilfasten oder Entlastungskost wie Obsttage und Kartoffel/Reis-Tage 4 Phytopharmaka: 5 Umckaloabo-Lösung 3× täglich 10–20 Tropfen. Diese Substanz wirkt zu Beginn der Erkrankung antiviral, antibakteriell und immunmodulatorisch. Der Pflanzenextrakt zieht einen Schutzfilm über die Schleimhautzellen der Atemwege. Er mobilisiert körpereigene Abwehrzellen und hemmt die Vermehrung von Bakterien. Spitzwegerich wirkt abschwellend, reizlindernd, antibakteriell z. B. Bronchoforton 3× täglich 5 ml. 5 Spitzwegerich wirkt abschwellend, reizlindernd, antibakteriell z. B. Bronchoforton. 5 Eukalyptus wirkt schleimlösend, entkrampfend, z. B. Gelomyrtol oder Bronchikum. 4 Ordnungstherapie: 5 Richtiger Umgang mit Kälte, Wasser, Licht und Luft 5 Angemessene Bewegungstherapie 5 Angemessener Wechsel zwischen Arbeit und Erholung, Wachzustand und Schlafen

247 8.3 · Klinisch-pragmatische Anwendung von Naturheilverfahren

5 Maßvoller Genuss von Nahrungsmitteln 5 Innere Ausgeglichenheit, Kontakt und Besin-

nung

4

5 Entspannungsverfahren: Autogenes Training/

Progressive Muskelrelaxation 2×/Woche 4 Weitere Therapieoptionen: Rotlicht 3× pro Woche im Bereich der Brust oder des Rückens

8.3.3 Osteoporose Unter Osteoporose wird ein pathologischer Knochenabbau verstanden, der den organischen und den Mineralanteil des Knochens gleichermaßen betrifft. Die primären Formen der Osteoporose sind die postklimakterische und die senile Osteoporose. Die postklimakterische Osteoporose beginnt nach dem 40. Lebensjahr mit einem sukzessiven Knochenabbau, der sich bei den Frauen insbesondere in der Menopause verstärkt. Daneben findet sich die senile Osteoporose die im höheren Lebensalter sich verstärkt ausprägt, wobei Immobilisierung, Diabetes mellitus, Malabsorption und verschiedene Medikamente diesen Prozess beschleunigen können. Bei Osteoporose stehen neben der Gefahr von Knochenbrüchen (inkl. Wirbelkörperfrakturen) an Symptomen meist die Schmerzen sowie Fehlhaltungen mit erheblicher Einschränkung der Lebensqualität im Vordergrund. Eine klinisch-pragmatische Anwendung von Naturheilverfahren in Kombination mit der schulmedizinischen Osteoporosetherapie beinhaltet: 4 Ernährungstherapie: 5 Kalziumreiche Vollwerternährung, Hartkäse (Emmentaler, Appenzeller, Tilsiter), Gemüse (Grünkohl, Brokkoli, Wirsing, Lauch); Vollkornerzeugnisse und 2× Fisch/Woche (Hering und Lachs); kalziumreiches Mineralwasser 5 Konsequentes Meiden von Zucker und phosphatreichen Lebensmitteln wie Fleisch, Wurst, Schokolade, Coca-Cola, Alkohol, Nikotin und Koffein 5 Vitamin-D-haltige Nahrungsmittel wie Fischleberöle, Weizenkeimöle, Hefe, Pilze und Gemüse, täglich einen halben Liter Milch oder eine entsprechende Menge an Joghurt 5 Spurenelemente und Vitamine/Nahrungsergänzungsmittel: regelmäßige Einnahme von Kalzium, Magnesium und Vitamin D 1000 IE

4

4

4

8

in einem Komplexmedikament (Vitamin D plus Kalzium 1000 mg) Hydro- und Thermotherapie: 5 Kleine Kneipp’sche Hydrotherapie mit Teilwaschungen, Teilgüssen, Arm- und Fußbädern 5 Wärmebehandlung zur Förderung der Durchblutung im Rückenbereich, z. B. heiße Rolle, feuchtwarmer Rumpfwickel, Heublumensack 5 Wärmetherapie in Form von Pelloiden, Moorpackungen, Moorbreibäder 5 Kryotherapie bei akutem Schmerzereignis in Form von Packungen, Kaltluft und Ganzkörperkältetherapie Bewegungstherapie und Massage 5 Tägliche körperliche Bewegung als wichtige Basisbehandlung, bestmögliche Schulung von Haltung und Bewegung 5 Gangschulung, Training von Kraft und Balance für eine effektive Sturzprophylaxe 5 Krafttraining in der Medizinischen Trainingstherapie zur Verminderung von osteoporotischen Frakturen 5 Krankengymnastik im Bewegungsbad 5 Vorsichtige klassische Massage 5 Bindegewebsmassage 5 Milde Unterwasserdruck-Strahlmassage Lichttherapie 5 Lichtbäder 5 Kurzdosierte Sonnenbäder Ordnungstherapie und Verhaltensempfehlungen 5 Regelmäßige Übungstherapie 5 Bei akuten Wirbelkörperfrakturen angepasstes elastisches Mieder 5 Schweres Heben und unkontrolliertes Stützen vermeiden 5 Kurze Liegepausen im Tagesverlauf bei nicht zu weicher Unterlage Fazit Ähnlich wie in der Physikalischen Medizin gibt es bei den Naturheilverfahren komplexe Konzepte, die verschiedene Therapieelemente miteinander kombinieren. Traditionelle und weit verbreitete Konzepte sind die Kneipp-Therapie sowie die traditionelle indische und chinesiche Medizin. Die beiden letzgenannten Konzepte beruhen auf einer

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Kapitel 8 · Methoden und Anwendung der Naturheilverfahren

eigenen Krankheitslehre und interpretieren ihre Therapieeffekte innerhalb dieser Systeme. Bei chronischen Erkrankungen wie z. B. Diabetes mellitus, chronisch-rezidivierenden Atemwegsinfekten oder Lumbalsyndromen können unter pragmatischen Gesichtspunkten einzelne Naturheilverfahren sinnvoll mit herkömmlichen Therapiemaßnahmen kombiniert werden.

Literatur

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Augustin M, Schmiedel V (1993) Praxis-Leitfaden Naturheilkunde. Jungjohann, Neckarsulm Bühring M, Kemper H (2006) Naturheilverfahren und unkonventionelle medizinische Richtungen. Springer, Berlin Heidelberg New York (Loseblattwerk mit fortlaufenden Aktualisierungen) Hentschel HD (1991): Naturheilverfahren in der ärztlichen Praxis. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln Kraft K (1994) Naturheilverfahren und Homöopathie. Enke, Stuttgart 1994 Schimmel Ch (1990) Lehrbuch der Naturheilverfahren. Hippokrates, Stuttgart

Sachverzeichnis

250

Sachverzeichnis

A Aachener Aphasietest 143, 165, 166 Aachener-Aphasie-Bedside-Test 166 Abreibung 82 Adaptation 156 – funktionelle 6, 37 – psychische 38 – sensomotorische 5, 37 – trophisch-plastische 8, 38 ADL 7 Alltagsaktivitäten ADL-Skalen 161 Affolter-Konzept 154, 160, 183 Aktivität – Beeinträchtigung 116 – Förderung 214 – Wiederherstellung 156 Aktivitätsstörung 116 – Erfassung 136 – Krankengymnastik 156 Akupunktur 242–244 – Indikationen 243, 244 – Wirksamkeit 242 Akutrehabilitation 125–127 – 7 Frührehabilitation Alertness 175 Algometrie 27–29 Alltagsaktivitäten 161 – Hilfsmittel 189, 190 – Selbstständigkeit 45 – Unterstützung 184 Alltagsfunktionen 35 – Störung 43 – Wiederherstellung 121 Alternativmedizin 224, 225 – Definition 220 Amphetamine 180 Analgesie 39, 41, 79 Analgetika, nichtopioide 197 Anamnese – Ergotherapie 43 – Krankengymnastik 155 – Physikalische Medizin 14, 15 – Rehabilitation 136, 137 Angehörigenarbeit 185–188 Anpassungsreaktion 2 Anschlussheilbehandlung 133 Anschlussrehabilitation 120, 136 Antidepressiva 180, 181, 199

Antirheumatika, nichtsteroidale 198 Antispastika 181 Antriebsstörungen, medikamentöse Therapie 179 Anziehhilfe 189 Aphasie 143, 164–168 – amnestische 165 – Definition 164 – Diagnostik 165, 166 – globale 165 – Klassifikation 164, 165 – Therapie 166, 167 Apraxie 143, 177, 178 – gliedkinetische 177 – ideatorische 177, 178 – ideomotorische 177 Arbeitserprobung 217 Arbeitsplatzanalyse 47 Arbeitstherapie 7 Ergotherapie Armbad 77 Armhalteversuch 20 Arthrosonographie 29 Aspiration 169, 171 Aspirationsschnelltest 171 Assessment 137, 160 – 7 Fragebogen – funktionelles 155 – Überblick 137 Atemtechnik, Inhalation 95 Atemübung 35 Atmungsanregung 35 Atmungstherapie 155, 246 Aufmerksamkeit – Beurteilung 142 – Einschränkung 175 Ausdauertraining 39, 51, 246 Ausziehhilfe 189 Autogenes Training 209 Avoidance-endurance-Modell 200 Ayurveda 240–242

B Babinski-Zeichen 22 Baclofen 181 Bad 80 – 7 Balneotherapie

– hydrogalvanisches 70 – medizinisches 83 Bahnung 4, 5 – 7 Fazilitation Balneotherapie 85–90 – Definition 85 – Indikationen 88, 89 – Kontraindikationen 88 – Wirkungsmechanismen 86–88 Barthel-Index 133, 137, 138, 161 – erweiterter 161 Baunscheidtieren 239 Begutachtung, sozialmedizinische 147 Behindertenfahrzeug 191 Behindertensport 54 Beinhalteversuch 20 Belastung – körperliche 214 – psychische 204 – psychosoziale 204, 214 Belastungserprobung 217 Belastungstraining, berufsbezogenes 47 Berg-Balance-Scale 142 Beschäftigungstherapie 7 Ergotherapie Betriebshilfe 131 Beweglichkeit, eingeschränkte 57 Beweglichkeitstraining 51 Bewegung – aktive 3 – passive 34 Bewegungsabläufe – Beobachtung 15 – direktes Üben 152 – komplexe 35 – Prüfung 26, 27 Bewegungsanalyse 26, 27 Bewegungsanbahnung 153 Bewegungsanregung, reflektorische 35 Bewegungsapparat, funktionsbezogene Untersuchung 16–20 Bewegungseinschränkung 15 – Prävention 51 Bewegungslehre, funktionelle 154 Bewegungsprüfung – globale 16

251 Sachverzeichnis

– im Rahmen der Naturheilkunde 231, 240, 245, 247 – im Wasser 80 – integrative 209 – konzentrative 209 – segmentale 16 Beziehungsfähigkeit, Rehabilitation 121 Bindegewebsmassage 61, 246 Blockierung 7 Gelenkblockierung Blutdruckreaktion, pathologische 31 Blutegeltherapie 238 Bobath-Konzept 152, 153, 160, 161, 183 Botulinumtoxin 181 Broca-Aphasie 165 Bronchitis, chronische 246 Bronchoskopie 172 Brügger-Konzept 154 Brustwirbelsäule, Untersuchung 18

C Carbamazepin 182 Chirodiagnostik 56, 57 Chronifizierungsscore nach Gerbershagen 27, 28, 142 Clonazepam 181 CO2-Bad 83, 86, 87 Coping 142, 145, 200, 211 Cross-over-Studie 225

Diabetikerschulung 213 Diadochokinese 24 Diagnostik – Aphasie 165, 166 – leistungsphysiologische 49 – manuelle 56, 57 – Physikalische Medizin 14–30 – Rehabilitation 135–148 Diätetik 230, 231 Diathermie 73 Diazepam 181 Diuretika 240 Dopaminantagonisten 180 Doping 203 Dosha 241 Drainage, autogene 35, 155 Druck, hydrostatischer 81 Druckalgometrie 27 Dysarthrie 164, 165 Dysästhesie 16, 17, 22 Dysphagie 168–174 – Adaptation 173 – Definition 168 – Diagnostik 170 – Einteilung 170 – klinische Symptomatik 170 – Kompensation 173 – neurogene 170 – Pathophysiologie 168, 169 – strukturell-mechanische 170 – Therapie 172–174

E D Dampfbad 77, 80 Dantrolen 181 Darmsanierung 241 DASH 138 Deadaptation 4 Defizit, neuropsychologisches 43 Dekokt 232 Deposition 94 Depression 180, 181 Destillat 232 Diabetes mellitus 244, 245

EFL 147 Eignungsabklärung 217 Einbeinstand 142 Elektromyographie 25 Elektroneurographie 26 Elektrostimulation 71 Elektrotherapie 69–73 – Analgesie 196 – Definition 69 – Indikationen 73, 74 – Kontraindikationen 73 – Wirkungen 71, 196 – Wirkungsmechanismen 74

A–F

Elixier 232 Empfindungsqualität 22, 23 Endgefühl 19 Endoskopie, transnasale 171 Entlastung 4 Entspannung, funktionelle 210 Entspannungstechniken 36, 47, 230 – 7 Muskelrelaxation Entstauungstherapie 65, 57 – komplexe physikalische 64 Entzündungshemmung 79 Erfahrungsheilkunde, Definition 221 ERGOS-System 147 Ergotherapie 43–49 – adaptative Verfahren 45 – Aufgaben 159 – Definition 43 – Dosierung 49 – Durchführung 162 – Indikationen 48, 159 – Kombinationsmöglichkeiten 49 – Kontraindikationen 49 – Konzepte 160–162 – in der Rehabilitation 158–162 – Techniken 44–47 – Therapieziele 47 – Wirkungsmechanismen 47, 48 – Zielstellung 159, 160 Ergotropie 7 Ernährungstherapie 221, 230, 231, 247 – im Rahmen der Naturheilkunde 240, 241, 246 Erythem, UV-induziertes 99 Esshilfe 173, 189 Eutonie 210 Exekutivfunktionen, Einschränkung 178 Expektoranzien 240 Extension 34 Extrakt 232

F Fahrradergometer 30 Fallhand 21 Fallpauschalensystem 133

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Sachverzeichnis

Fasten 231 – modifiziertes 245 – therapeutisches 245 Faustschlussprobe 24, 25 Fazilitation 4, 35, 37 – propriozeptive neuromuskuläre 153 Fear-avoidance-Modell 199 Fehladapatation, Abbau 4 Feinmotorik, Prüfung 24 Fersengang 20 Fibromyalgiesyndrom 105 FIM 138, 143, 161 Finger-Nase-Versuch 24 Forced-use-Therapie 9, 10, 154 Fragebogen – 7 Assessment – Ergotherapie 43 – krankheitsübergreifende 137 – Rehabilitationsbedarf 215 Fremdbewertungsassessment 137 Frischluft-Liegekur 92 Früherkennung 11 Frühmobilisation 4 Frühreha-Barthel-Index 137, 161 Frührehabilitation 120, 123 – Entlassung 126 – Indikationen 125 – OPS-Katalog 132 – Voraussetzungen 145 Frührehabilitationsstation 125 Frührehabilitationsteam, mobiles 125, 126 Funktionen – basale motorische 142 – mentale, Verbesserung 119 – psychische, Beeinträchtigung 215 Funktionseinschränkung, Erfassung 136 Funktionsstörung – Krankengymnastik 156 – Beurteilung 142–145 Funktionstraining 53

G Galvanisation 70 Ganganalyse 26, 27 Gangataxie 24 Ganglienblockade 103 Ganzheitsmedizin, Definition 221 Gasbad 87 Gedächtnishilfe 177 Gedächtnisstörung 176, 177 Gehstock 191 Gehtest 143 Geldzähltest 144 Gelenkbeweglichkeit 19 Gelenkblockierung 56–58, 154 – Auslöser 58 – Pathomechanismus 57, 58 Gelenke – Bewegungsumfang 19 – Manipulation 59 – Untersuchung 19, 56, 57 Gelenkfunktion – Störung 57 – Untersuchung 56, 57 Gelenkinstabilität 57 Gelenkmobilisation 39, 44, 59 Gelenkschutz 37, 44 Gelenkspiel 19 – Störung 57 Gerbershagen-Score 27, 28, 142 Gestentraining 177, 178 Gesundheit – Definition 114 – funktionale 114 Gewebsabschwellung 79 Gewebshyperämisierung 63 Gleichgewichtstest 142 Gleichstromtherapie 70, 196 Gleitbewegung 19 – gestörte 57 Gleitmobilisation 60 Großzehenhebung 20 Grunddiät 230 Guss 80, 82

H Habituation 3, 4 Halswirbelsäule, Untersuchung 17, 18 Haltungskontrolle 153 Handfunktion – Erfassung 44 – Störung 43 Handlungsfähigkeit 43 Haushaltshilfe 131 Hautdurchblutung, Förderung 63 Head-Zone 223 Heilfasten 231, 241 Heilgas 86 Heilmittel, verordnungsfähige 110 Heilmittelkatalog 109, 110 Heilmittelkombination, standardisierte 110 Heilmittelrezept 109 Heilmittelrichtlinie 108–111 Heilmittelverordnung 108 Heilwasser 85 Heiße Rolle 77 Heliotherapie 92 Hemmung 4 Heparin 238 Herz-Kreislauf-Training 35, 155 Hilfe zur Selbsthilfe 114 Hirnschaden, schwerer 185, 186 Hirudin 238 Hochfrequenztherapie 73 Hochgebirgsklima 92, 93 Homöopathie 221 Humoralpathologie 237 Hydrotherapie 80–84 – Anwendungen 82, 83 – Definition 80 – Indikationen 84, 85 – Kontraindikationen 85 – im Rahmen der Naturheilkunde 231, 240, 245, 247 – Wirkungsmechanismen 80, 81 Hygiogenese 222 Hypermobilität 57 Hypomobilität 57

253 Sachverzeichnis

I ICF-Core-Set 144, 145 ICF-Klassifikation 117 ICF-Modell 114–118 Immobilisation 37 Immunsystem, Stärkung 246 Infiltration – intraartikuläre 103 – intramuskuläre 235 – periartikuläre 103 – topische 103 Infrarotlicht 99 Infrarotstrahlung 98 Infus 232 Inhalate 97, 98 Inhalationsgeräte 96 Inhalationstherapie 94–98 – Atemtechnik 95 – Definition 94 – Indikationen 98 – Kontraindikationen 98 – Techniken 94, 95 Inhibition 4, 37 Inspektion 15, 16 Insulinresistenz 244 Integrationsfähigkeit, Beurteilung 144 Interferenzstrombehandlung 72 Interventionen, rehabilitative 149–217 Iontophorese 70 IRES (Indikatoren des Reha-Status) 138

K Kältekammer 78 Kältetherapie – Analgesie 79, 196 – Anwendungen 79 – Indikationen 80 – Kontraindikationen 80 – Wirkungsmechanismen 75 Kantharidenpflaster 238 Kantharidin 239 Karpaltunnelsyndrom 23

Kauterisation 237, 238 Klimaexposition 91, 92 Klimatherapie 90–94 – Definition 90 – Indikationen 93, 94 – Kontraindikationen 94 – Wirkungsmechanismen 92, 93 Kneipp-Therapie 221, 222, 228, 240, 241 Knie-Hacke-Versuch 24 Knieliegestütz 143 Kohärenzgefühl 223 Koma-Remissions-Skala 137 Kommunikationshilfsmittel 191, 192 Kommunikationsstörung 204 Komorbidität 142 Kompensation 156 Komplementärmedizin 220 Komplextherapie 104–108, 110 – Definition 104 – Fibromyalgiesyndrom 105 Kompressionssyndrome 23 Kompressionstherapie 65 – Kontraindikationen 68 Konstitutionslehre nach Galen 228 Kontextfaktoren 114, 215 – Beurteilung 145 Kontingenzmanagement 178 Koordinationsprüfung 24 Koordinationstraining 51 Körperfunktion, Definition 116 Körperstruktur, Definition 116 Körperwahrnehmung, Verbesserung 48 Kortikoide, Schmerztherapie 199 Kraftmessung – isokinetische 25 – isometrische 25 – klinische 20 Krafttraining 8, 51 Krallenhand 21 Krankengeld 131 Krankengymnastik 34–43 – Abschlussbefund 158 – aktive 35 – Anamnese 155 – Aufgaben in der Rehabilitation 151 – Definition 34 – Dosierung 39, 41

F–L

– – – – – –

Durchführung 155–158 Indikationen 39, 40, 152 Kombinationsmöglichkeiten 41 Kontraindikationen 39, 41 Konzepte 151–155 neurophysiologische Grundlage 151–154 – passive 34 – Schmerzreduktion 195 – Techniken 34–36 – Wirksamkeit 38, 39 – Wirkungsmechanismen 36–38 Krankheitsbewältigung 7 Coping Kreuzadaptation 6 Kryotherapie 7 Kältetherapie Kunsttherapie 205, 208 – Definition 208 – Indikationen 209 – Methoden 208 – Wirkungsmechanismen 208 Kur, medizinische 89, 90 Kuration 12 Kurzwellenbehandlung 73

L Lagerungsprobe nach Ratschow 24 Laktatblutspiegel 30 Lasègue-Zeichen 23 – umgekehrtes 24 L-Dopa 180 Lebensbedingung, krankheitsbeeinflussende 14 Lebensqualität, gesundheitsbezogene 118 Leistungen – kommunikative 167 – zur Teilhabe am Arbeitsleben 131, 215 – zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft 131 Leistungsbeurteilung, sozialmedizinische 147 Leistungsfähigkeit – berufliche 147, 214 – funktionelle 147 – kognitive 12

254

Sachverzeichnis

Lendenwirbelsäule, Untersuchung 18 Lequesne-Index 140, 141 Lesehilfe 192 Lichttherapie 7 Phototherapie Lidocain 235 Limbisches System 10 Loci-Technik 177 Locus-dolendi-Therapie 235 Logopädie, in der Rehabilitation 164–168 Lokalanästhesie – diagnostische 101, 102 – therapeutische 101, 103, 104 – – 7 Neuraltherapie Lokalanästhetika 101, 235, 236 Lokaltherapie 235 Lumbalsyndrom, chronisches pseudoradikuläres 106 Lungenfunktionsanalyse 30 Lymphdrainage, manuelle 61, 63 – Definition 64 – Erhaltungstherapie 66, 67 – Indikationen 68 – Kontraindikationen 68 – Techniken 65–67 Lymphödem 64, 65 – primäres 65 – sekundäres 65 Lymphtherapie 64–67 – 7 Lymphdrainage, manuelle

M Maladaptation 54 Manipulation 59 Manometrie 172 Manuelle Medizin 55–61, 154 – Definition 55 – Indikationen 60 – Kombinationsmöglichkeiten 61 – Kontraindikationen 60 – Schmerzreduktion 195, 196 – Techniken 58–60 – Untersuchung 56, 57 – Wirkungsmechanismen 60 Massage 61–64, 196, 247 – Definition 61

– Grifftechniken 62 – Indikationen 62 – klassische 61–63, 196, 246 – Kontraindikationen 63 – Wirkungsmechanismen 62 Mazeration 232 Medikation, in der Rehabilitation 179–182 Medikomechanik 188 Medizinische Trainingstherapie 50–52, 155 – Indikationen 54 – Trainingsgeräte 52 – Wirkungsmechanismen 54 – Zielstellung 51 Meerbad 92 Meeresklima 93, 94 Meerwasserinhalation 97 Meralgia paraesthetica 23 Metabolisches Syndrom 244, 245 Missempfindung 16 – dermatombezogene 22 Mittelfrequenztherapie 72 Mittelgebirgsklima 92, 93 MMSE 142 Mobilisation 59 – passiv repetitive 60 Mobilität – Beurteilung 144 – Hilfsmittel 190, 191 Mobilitätstest nach Tinetti 144 Moorbad 77 Morbus Bechterew 55 Morton-Metatarsalgie 23 Motorik – Beurteilung 16 – Prüfung 20 Motorschiene 193 Moxibustion 242 Mukolytika 240 Multi-Joint-Therapie 53, 54 Musiktherapie 206–208 – aktive 207 – Definition 206 – funktionelle 207 – Indikationen 207 – Methoden 206 – rezeptive 207 – Wirkungsmechanismen 206

Muskelatrophie 21 Muskeldehnungsreflexe 21 Muskeldetonisierung 39, 63 Muskelentspannungstechniken 36, 47, 60, 210, 230 Muskelfunktionsanalyse 25 Muskelfunktionsprüfung nach Janda 143 Muskelfunktionstraining 44 Muskelkater 3 Muskelkraft – apparative Messung 25 – klinische Prüfung 20 Muskelkrafttraining 8, 51 Muskelrelaxation 36, 60 – postisometrische 60 – progressive nach Jacobson 210, 230 Muskeltonus 20, 31 – Regulierung 45 Muskulatur – Dehnfähigkeit 20 – Untersuchung 20 – Verkürzung 20 Myogelose 20

N Nachsorgeintervention 130 Naturheilkunde – Definition 220 – Geschichte 228, 229 Naturheilmittel 220 Naturheilverfahren 219–226 – anerkannte 220 – Definition 220 – fünf Säulen 221, 229, 240 – klassische 221, 228–239 – klinisch-pragmatische Anwendung 244–248 – komplexe Konzepte 240–243 – Verordnung 239 – Weiterbildung 239 Neglect 176 – Krankengymnastik 156 Nervenblockade 103 Nervendehnungstest 22, 23

255 Sachverzeichnis

Nervenfunktionsanalyse 25 Nervenkompressionstest 22 Nervenleitgeschwindigkeit 26 Nervenstimulation, transkutane elektrische 70, 71, 196 Nervensystem, Untersuchung 20–24 Nervenwurzelblockade 103 Nervus – cutaneus femoris lateralis, Kompressionssnydrom 23 – medianus – – Kompressionssnydrom 23 – – Parese 21 – radialis, Parese 21 – ulnaris Kompressionssnydrom 23 – – Parese 21 Neuraltherapeutika 235, 236 Neuraltherapie 103, 234, 235 – 7 Lokalanästhesie, therapeutische – Indikationen 236 – Injektionstechnik 235 – Kontraindikationen 236 – lokale 235 – segmentale 235 Neurogenese 9 Neuroleptika 199 Neuroplastizität 5, 9, 37 Neuropsychologie 174–179 – Aufgaben 174 – Definition 174 Neutral-Null-Methode 16 Niederfrequenztherapie 69, 70, 196 Normalisierung, adaptive 6, 7 Notrufeinrichtung 191 Nozireaktion 56 Nozizeption 56

O Oberflächensensibilität 22 Opiatabhängigkeit 198 Opioide 198 Optimum, regulatives 6 Ordnungstherapie 222, 229, 230, 240, 246, 247 Orthese 192

– dynamische 192 Ösophagogastroskopie 172 Osteoporose, Naturheilverfahren 247

P Packung 77, 80, 82 Palliativmedizin 122, 123 Paracetamol 198 Paraphasie – phonematische 164 – semantische 164 Parästhesie 22 Partizipation 7 Teilhabe Patientenaufklärung 211 Patienteninformation 211 Patientenschulung 211–214 Patiententraining 211 Peloid 76, 86, 87 Perfetti-Konezpt 161 Periostbehandlung 61 Perzeptionsregulierung 45 Pflanzenheilkunde 7 Phytotherapie Pflege – aktivierende 184 – rehabilitative 182–185 Pflegebedürftigkeit – Reduktion 148 – Verhinderung 146 Pflegekonzepte 183, 184 pH-Metrie 172 Phonophorese 74 Photochemotherapie 100 Photosole 100 Phototherapie 98–101, 247 – Definition 98 – Kontraindikationen 101 – Nebenwirkungen 100, 101 – Voraussetzungen 100 – Wirkungsmechanismen 99 Physikalische Medizin – Anamnese 14, 15 – Definition 2 – Diagnostik 14–30 – Therapiemittel 2, 31–110 – Wirkprinzipien 2–11 – Zielstellung 11, 12

L–R

Physiotherapie 7 Krankengymnastik Phytopharmaka – Anwendungsbereiche 233, 234 – schweißtreibende 240 – Zubereitung 232 Phytotherapie 221, 232–234, 240, 246 Plastizität – 7 Neuroplastizität – kortikaler Repräsentationsfelder 9 – synaptische 9 Plazebo 225 Podographie 27 Polyarthritis, chronische 144 Potenzial, evoziertes 26 Potenzieren 221 Prä-post-Vergleich 225 Prävention, Definition 11 Problemlösetraining 178 Procain 235 Pronator-teres-Syndrom 23 Prothesenversorgung 192 Pseudo-Lasègue 23 Psychopharmaka 199 Psychostimulanzien 180 Psychotherapie – Definition 202 – Indikationen 204, 205 – in der Rehabilitation 202–205 Puls-Atem-Frequenzverhältnis 25 Pyrazole 198

Q Quaddeln 103, 235 Querdehnung 35

R Radon 87 Reaktion – direkte 3 – gegenregulatorische – indirekte 36 Reaktionsvermögen, individuelles vegetatives 7, 8

256

Sachverzeichnis

Reduktionskost 245 Reflex, pathologischer 21 Reflexmechanismen 223 Reflexprüfung 21 Reflexzonenmassage 62 Regena-Therapie 224 Regulation – körperliche – vegetative 7 Rehabilitation 113–134 – Abschluss 147 – akute Krankheitsphase 120 – allgemeine Ziele 118–121 – ambulante 120, 129, 130 – berufliche 131, 216, 214–217 – chronische Erkrankungen 128–130, 133, 136, 146 – Definition 12, 114 – fachspezifische 124 – fachübergreifende 124 – Finanzierung 133 – Hilfsmittel 188–193 – Indikationen 121–124 – Interventionen 149–217 – Leistungsträger 133 – medikamentöse Therapie 179–182 – medizinisch-berufsorientierte 216 – medizinische 124–131 – mobile 130 – Motivation 122, 142, 145, 146 – Motivierbarkeit 122, 145, 146 – neurologische 124 – Psychotherapie 202–205 – Rentenversicherung 214, 215 – Schmerztherapie 193–202 – schwerer Hirnschaden 185, 186 – soziale 131 – teilstationäre 129 – vor Rente 119 – zur Verhinderung der Pflegebedürftigkeit 146 – Zuweisung 123 Rehabilitationsanamnese 136, 137 Rehabilitationsbedarf 121, 122 – arbeitsbezogener 215, 216 Rehabilitationsbedürftigkeit, Kriterien 145, 146 Rehabilitationsdiagnostik 135–148 Rehabilitationsfähigkeit 121, 122

– Kriterien 145, 146 Rehabilitationsformen 124–133 Rehabilitationsnachsorge 130 – intensivierte 130 Rehabilitationspflege 182–185 Rehabilitationsprognose 122, 145, 146 Rehabilitationsprozess, Evaluation 147 Rehabilitationssport 53 Rehabilitationsziel 215 Reiz – adaptogener 3, 8 – thermischer 81 – Überdosierung 3 – unspezifischer 3 Reizintensität 3, 4 Reiz-Reaktions-Aufgabe 175 Reiz-Reaktions-Prinzip 2, 3 Reizregulation 175 Reizstromtherapie 70, 71 – nach Träbert 70 – niederfrequente 70 Reizsymptome, sensible 22 Relaxation 7 Muskelrelaxation Rentenversicherung, Rehabilitation 214, 215 Repräsentationsfelder, kortikale 9 Restitutio ad integrum 156 Restitutio ad optimum 156 Rivermead-ADL-Skala 161 Rohkost nach Bircher-Benner 241 Rollator 191 Rolle, heiße 7 Heiße Rolle Romberg-Versuch 24 Rooming-in 186 Rückenschule 50 Rumpfataxie 24

S Säftelehre 228, 237 Salutogenese 223 Sauna 77, 80 Schädigung, Definition 116 Schiene, therapeutische 192 Schlingentisch 155

Schluckdiagnostik 143 Schluckstörung 7 Dysphagie Schluckuntersuchung 170, 171 Schluckvorgang 168, 169 Schmerz – akuter 194 – Bagatellisierung 199 – chronischer 194 – Definition 193 – Entstehung 56 – neuropathischer 182 Schmerzbewältigung 199, 200 Schmerzchronifizierung 193, 199–201 Schmerzempfindlichkeit 27 Schmerzintensität 27 Schmerzmessung 27–29 Schmerzmittel 182 Schmerzskala 14, 27 Schmerzsyndrom, chronisches regionales 107 Schmerztherapie 119, 182, 193–202 – medikamentöse 195, 197–199 – physikalisch-medizinische 194–197 – psychologische 195, 199 Schonhaltung 15 Schonphase 4 Schreibhilfe 192 Schröpfen 238 Schroth-Kur 241 Schulungsprogramm 212 Schwefelwasserstoff 87 Schwurhand 21 Sedimentationsrate 95 Seebad 92 Seeklima 92 Segmentmassage 61 Sehstörung, zerebrale 176 Sekretolytika 240 Sekundärprävention 11 Selbstbewertungsassessment 137 Selbsthilfetraining 47 Selbstinstruktionstraining 178 Selbstmanagement 212 Selbstständigkeit – im täglichen Leben 44 – Unterstützung 185 – Verbesserung 148

257 Sachverzeichnis

Selbstwirksamkeit 212 Sensibilitätsprüfung 22 Sensibilitätsschulung 44 Sensibilitätsstörung 16, 17 Sensorik, Beurteilung 161 SF-12 141 SF-36 138, 140 Simileregel 221 Slump-Test 24 Sonnenbestrahlung 91, 92 Spagyrik 224 Spastik 21 – medikamentöse Therapie 179, 181 Spiroergometrie 30 Spontansprache 164, 165 Sporttherapie – Definition 49 – Konzepte 50–54 – Zielstellung 50 Sprachstörung 164 – 7 Aphasie Sprechapraxie 164–166 Sprechstörung 164 Standataxie 24 Stangerbad 70 Stimulation, basale 183 Stimuluskontrolle 178 Störfeld 234, 235 Störfeldtherapie 235 Störung, emotionale 204, 205 Strom, diadynamischer 71 Subakutrehabilitation 127, 128 Subluxation 57 Sulcus-ulnaris-Syndrom 23

T Tarsaltunnelsyndrom 23 Tee 232 Teilbad 80 Teilhabe – Beeinträchtigung 116 – Beurteilung 144 – Definition 116 – Wiederherstellung 121, 156 Telefon, behindertengerechtes 192

TENS 7 Nervenstimulation, transkutane elektrische Terrainkur, klimatische 91, 92 Tertiärprävention 11 Therapie – aktive 2 – alternative 7 Alternativmedizin – komplementäre 7 Komplementärmedizin – körperorientierte 209, 210 – künstlerische 7 Kunsttherapie – künstliche 222, 223 – natürliche 220, 222–224 – passive 2 – physikalische 7 Physikalische Medizin Therapieverfahren – ausleitende 221, 236–239 – paramedizinische 220 – unkonventionelle 220 Thermographie 29 Thermoregulation, im Wasser 81 Thermotherapie 75–78 – Analgesie 196 – Definition 75 – Indikationen 78 – Kontraindikationen 78 – lokale 78 – im Rahmen der Naturheilkunde 231, 245, 247 – systemische Anwendung 78 – Techniken 76–78 – Wirkungen 78 – Wirkungsmechanismen 75 Tiefensensibilität 22 Timed-up-and-go-Test 144 Tinktur 232 Toilettentraining 184 Token-Test 143, 166 Toleranztemperatur 81 Tonusregulierung 45 Traditionelle chinesische Medizin 242–244 Traditionelle indische Medizin 241, 242 Training 49 – auxotonisches 50 – isokinetisches 50 – isometrisches 50

R–V

– thermisches 81 Trainingstherapie – medizinische 7 Medizinische Trainingstherapie – im Wasser 83 Traktion 34 Tremor, Untersuchung 24 Triggerpunkt 20, 56 Triggerpunktbehandlung 62 Trinkhilfe 173, 189 Trinkkur 87, 88 Trophotropie 7

U Üben – direktes 5, 15 – – repetitives 17 – hochfrequentes repetitives 15 – konsensuelles – mentales 5 Übergangsgeld 131 Überwärmungsbad 77 Ultraschalltherapie 73, 74 Umweltfaktoren 116, 117 Unterarmgehstütze 190 Unterberger-Tretversuch 24 Unterwasserdruckstrahlmassage 64 UV-A-Therapie 99, 100 UV-B-Therapie 99 UV-Strahlung 92, 98 UV-Therapie 99, 100 – selektive 99

V Vegetarismus 245 Verblindung 225 Verhaltensänderung 10, 11, 38 Verhaltensstörung 204 Verletztengeld 131 Versorgungskrankengeld 131 Verumtherapie 225 Videofluroskopie 171

258

Sachverzeichnis

Video-Pharyngolaryngoskopie 171 Vikariation 9 Visuelle Analog-Skala 27 Visuelle Rating-Skala 27 Vojta-Konzept 153 Vollbad 80, 86 – hydrogalvanisches 70 Vollwerternährung 230, 245 Vorlaufphänomen 19

W Wahrnehmung, Beurteilung 142 Wahrnehmungsstörung 176 Wärmeträgertherapie 7 Thermotherapie Waschung 82 Weitertrainierbarkeit 4

Wellnessprogramm 12 Wernicke-Aphasie 165 W-Fragen 177 WHO-Stufenschema 197 Wickel 80, 82 Wiedereingliederung, berufliche 130, 131 Wirbelsäule, Untersuchung 16–19 Wirksamkeit – Definition 225 – Nachweis 225 Wohnungshilfe 131 WOMAC 138

X, Y Yang 242 Yin 242

Z Zehenstand, monopedaler 20 Zeichen, reflektorisch-algetische 56 2-Zellen-Bad 70 4-Zellen-Bad 70 Zielwert 6 Zirkadekanperiodik 7 Zirkasemidekanperiodik 7 Zirkaseptanperiodik 7 Zwei-Waagen-Test 27