Paul Natorps Ästhetik
 9783110855357, 3110065878, 9783110065879

Table of contents :
VORWORT
EINLEITUNG: AUSSENBEZÜGLICHKEIT DES ÄSTHETISCHEN
1. Grundthesen der Untersuchung
2. Entwicklungsgeschichtliche Stellung des Ästhetischen bei Natorp
KAPITEL I: FUNDIERUNGSPROBLEME DES ÄSTHETISCHEN – HEURISTISCHER TEIL
A. Ästhetik - Systematik - Subjektivität
B. Drei Leitgedanken der Untersuchung
C. Zu Methode und Ziel der Untersuchung
KAPITEL II: VORAUSSETZUNGEN DER ÄSTHETIK - NATORPS FRÜHE SYSTEMATIK
A. Kultur als Orientierungsbegriff
B. Zum Problem des Ableitungsgrundes
C. Das Verhältnis von Idee und Erfahrung
KAPITEL III: ÄSTHETISCHE GRUNDKRITERIEN NATORPS - ANALYSE UND DISKUSSION
A. Ansätze einer systematischen Ästhetik
B. Kategoriale Notwendigkeit des Ästhetischen
C. Die Bestimmtheit des Ästhetischen
SCHLUSS: ERGEBNISSE UND GESAMTKRITIK
A. Funktion des Ästhetischen
B. Systemtheoretische Mängel
LITERATURVERZEICHNIS
A. Werke und Schriften Natorps
B. Sekundärliteratur
REGISTER
A. Stellenregister
B. Personenregister
C. Sachregister

Citation preview

Inge Krebs Paul Natorps Ästhetik

W DE G

Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft In Verbindung mit Ingeborg Heidemann herausgegeben von Gerhard Funke und Joachim Kopper 109

Walter de Gruyter · Berlin * New York

1976

Inge Krebs

Paul Natorps Ästhetik Eine systemtheoretische Untersuchung

Walter de Gruyter - Berlin · New York

1976

ISBN 3 11 006587 8 Copyright 1976 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J, Göschen's die VerlagsHandlung — J. Guttentag, Verlagsbudi hand lung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit £c Comp , Berlin 30 — Printed in Germany — Alle Rechre der Obersetzung, des Nachdrucks, der photomechanisdien Wiedci^abes und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Druck: Werner Hildebrind OHG, I Berlin 65 Bindearbeiten: Lüderlti Si Bauer, l Berlin 61

Meinem Mann Karl H. Krebs gewidmet

VORWORT

In Natorps Philosophie existiert die Ästhetik zwar als Systemtheoretisches Gebiet, sie liegt aber nicht in ausgearbeiteter Form vor, wie etwa die Sozialpädagogik. Bei einer Untersuchung der Ästhetik Paul Natorps geht es daher zunächst darum, seine verstreuten Äußerungen zum Bereich des Ästhetischen zusammenzustellen und ihren systemtheoretischen Stellenwert zu ermitteln. In der vorliegenden Natorp-Literatur wurde gerade die systematische Funktion der ästhetischen Kategorien, insbesondere deren Bedeutung im Hinblick auf die Umwandlung der Natorpschen Systematik im Spätwerk, völlig übersehen. Lediglich in einer Arbeit (in Jörg Ruhloffs Dissertation "Paul Natorps Grundlegung der Pädagogik" von 1966) ist die "Frage nach den Prinzipien des Ästhetischen" als ein "legitimes Problem der Philosophie" gesehen worden, und zwar speziell aus bildungstheoretischem Interesse. Der gesamte ästhetische Bereich ist seit Kants "Kritik der Urteilskraft" grundlegungstheoretisch in eine besondere Nähe zu subjektstheoretischen Fragestellungen gerückt. Das kann gerade eine neukantische Theorie wie die Natorps nicht leugnen, ohne in systematische Widersprüche zu geraten, obwohl sie objektivistisch angelegt ist. Die kulturtheoretische Ästhetik Natorps gewinnt daher ein zusätzliches philosophisches Interesse, wenn der Systembezug von ästhetischer Theorie selbst begreiflich gemacht werden kann. Dieser Systembezug der Ästhetik muß bei Natorp in seiner Abhängigkeit von dessen Philosophiebegriff gesehen werden. Natorps philosophische Rechtfertigung der Ästhetik im Systemzusammenhang erweist sich als Begründungstheorem für Kultur. Deren idealistische Fassung im Marburger Neukantianismus führte allerdings dazu, daß die Funktion der Kunst innerhalb des Kulturganzen nicht kritisch genug gefaßt werden konnte. Ich meine aber, daß bei einem grundsätzlichen Fest1 V g l . S. 80.

Viii

Vorwort

halten am Systembezug des Ästhetischen durch eine Revision der Philosophie-Auffassung dieser emphatische Idealismus rückgängig zu machen wäre. Weiterführend in diesem Sinne scheint mir etwa der systemtheoretische Ansatz von Jürgen Habermas zu sein, in dem die Philosophie eine ideologiekritische Rolle zu übernehmen hätte . Mit dieser Überlegung sollen die grundsätzlichen Unterschiede zwischen der Kulturtheorie und der Kritischen Theorie nicht übersehen werden. Dennoch ist den beiden systemtheoretisch ausgerichteten Ansätzen von Natorp und Habermas der Kampf gegen positivistische Problemverkürzungen und das Bemühen um ein geklärtes Verhältnis zwischen Theorie und Praxis gemeinsam. Eine solche systemtheoretische und kritische Reflexion muß auch auf die Ästhetik ausgedehnt werden. Insofern geht es in dieser Arbeit um einen Beitrag zur Bestimmung des Ästhetischen als Teilbereich der Kultur und um dessen wissenschaftliche Erfassung. Pur das Ästhetische wird der Zusammenhang zwischen Ästhetik, Kulturtheorie und Wissenschaftstheorie in der Frage nach der Bestimmbarkeit geisteswissenschaftlicher Gegenstände greifbar. Sie wird heute in weit voneinander abweichenden Ansätzen transzendentalphilosophischen, hermeneutischen, kritischen, marxistischen, phänomenologischen und strukturalistischen - gestellt. Verwirrend bei diesen konkurrierenden Positionen innerhalb der geisteswissenschaftlichen Diskussion ist vor allem die differierende Wahl des Bezugsfelds, das wechselnd als Stilgeschichte, Problemgeschichte, allgemeine Geistesgeschichte, politische Geschichte, Historic, Tradition, Sprache, Gesellschaft und Individuum gefaßt wird. Unabhängig von Standpunktfragen t r i f f t es generell zu, daß der ästhetische Bereich objektiv umfassenderen Strukturen zugeordnet werden muß und daher von ihnen prinzipiell auch methodisch nicht isoliert werden darf, unter dieser Voraussetzung bleiben darum für eine ästhetische Theorie die Prinzipien der 2 Vgl. i n s b e s . E r k e n n t n i s und I n t e r e s s e , F r a n k f u r t e r A n t r i t t s v o r l e s u n g v o m 2 8 . 6 . 1 9 6 5 , i n : T e c h n i k und W i s s e n s c h a f t , t . A u f l . 197o, S. 146-168,

Vorwort

IX

Subjektivität und der Systematik grundlegende Postulate. Sie können zudem in einer ersten begrifflichen Fassung so weit formalisiert werden, daß für ihre konkrete Bestimmung als ästhetischer Bezugsrahmen ein Spielraum bleibt. Eine solche Flexibilität ist bereits unter dem generellen Aspekt des historischen Wandels erforderlich. Die Eigenart der ästhetischen Subjektivität und die Sonderstellung ästhetischer Produktion müssen gegen den theoretisch-praktischen Erfahrungsbereich funktional abgegrenzt werden. Das kann nur eine fundamental ausgerichtete Systemtheorie leisten,, Ein Modell, das hinsichtlich der Stellung des Ästhetischen untersucht werden kann, liegt in Natorps Kulturtheorie vor. Die Untersuchung wurde mit Unterstützung durch das Graduiertenstipendium des Landes Nordrhein-Westfalen fertiggestellt und hat der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn 1972 als Inaugural-Dissertation vorgelegen. Für ihre Anregung und Betreuung möchte ich an dieser Stelle Herrn Professor Dr. Gerd Wolandt danken. Ebenso danke ich den Herausgebern der Kantstudien in Mainz, Herrn Professor Dr. Gerhard Funke und Herrn Professor Dr. Joachim Kopper, für die freundliche Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe der Ergänzungshefte und Herrn Professor Dr. Wenzel vom Verlag Walter de Gruyter & Co. für das Interesse an ihrer Veröffentlichung. Der Druck der Arbeit wurde durch einen großzügigen Druckkostenzuschuß des Rektors der Universität Bonn und ein Honorar seitens der Kant-Studien unterstützt. Frau Dörfert aus Berlin und Frau Koppe aus Bad Godesberg haben mir mit Sorgfalt und Geduld bei der Herstellung des Typoskripts geholfen. Ihnen und nicht zuletzt auch meinem Mann danke ich herzlich für ihre Mitarbeit. Bonn, im Februar 1976

Inge Krebs

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

VII

EINLEITUNG: AUSSENBEZUGLICHKEIT DES ÄSTHETISCHEN ......

1. Grundthesen der Untersuchung . „ . . . . . . . , . „ . , (a) Transzendente Ästhetikbegründung . .. . (b) Emphatischer Idealismus ....... (c) Einheit und Faktizität

.

2. Entwicklungsgeschichtliche Stellung des Ästhetischen bei Natorp ». · (a) Problemkonvergenz im Begriff des Individuellen . (b) Methodische Voraussetzungen Natorps (c) Subjektivität und Geltungstheorie KAPITEL I:

l

3 3 3 4 5 5 6 lo

FUNDIERUNGSPROBLEME DES ÄSTHETISCHEN - HEURISTISCHER TEIL

A. Ästhetik - Systematik - Subjektivität l« Ästhetik und Ästhetisches 2. System und Systematik 3. Subjektivität und Subjektivierung

15 15 25 37

B. Drei Leitgedanken der Untersuchung .... 1. Ästhetik als Teil der Logik 2. Logische Fundierung des Ästhetischen 3. Ästhetik als Prüfstein der Systematik

48 48 51 53

C. Zu Methode und Zi&1 der Untersuchung

56

KAPITEL II:

VORAUSSETZUNGEN DER ÄSTHETIK - NATORPS FRÜHE SYSTEMATIK

A. Kultur als Orientierungsbegriff 1. Logik als Grundlehre und Sachlehre .............. 2. Philosophie, Wissenschaft und Kultur 3. Kunst als Kulturbereich nach Cohen 4. Philosophie und Wissenschaft .....,,.....,., 5. "Kultur" als systematischer Begriff bei Natorp , * 6* Philosophie als Geltungstheorie

61 61 63 67 69 73 76

Inhaltsverzeichnis

XI

B. Zum Problem des Ableitung s gründe s . 1. Wissenschaftssystematik und Spekulation 2. Vortheoretische Grundbegriffe ... 3. Der Begriff der "Idee" bei Natorp (a) Frühe Definition (b) Spätere Definition 4. Idee und Subjektivität (a) Doxa und Idee (b) Die Stellung des Eros 5. Idee und Kultur 6. Ableitbarkeit (a) Transzendentalphilosophie und idealistischer Monismus (b) Skizze eines Schemas (c) Idee und Entwicklung C. Das Verhältnis von Idee und Erfahrung 1. Erfahrung im engeren Sinne 2. Erfahrung im Vollsinne: Praxis (a) Wirkliche Erfahrung (b) Natorps Logik des Sollens (c) Die Idee der Freiheit £d) Realisation der Idee im Zweck (e) Idee und praktisches Urteil 3. Idee als Fiktion

81 81 85 89 91 92 93 94 96 98 loo loo lol Io2 Io4 Io4 Io8 Io8 111 113 117 125 129

KAPITEL III: ÄSTHETISCHE GRUNDKRITERIEN NATORPS - ANALYSE UND DISKUSSION A. Ansätze einer systematischen Ästhetik 1. Natorps Objektivationslehre . (a) Ästhetik als Geltungstheorie

135 135 135

(b) Das Problem der "Setzung"

2. Zum Problem des Schönen 3. Isolation und Dialektik

137



B. Kategoriale Notwendigkeit des Ästhetischen ......... 1. Der Eigenwert des Kunstschaffens (a) Kunst als Erkenntnisform (b) Die Logik des Kunstwerks 2. Grundkriterien der Gestaltung ., (a) Produktion (b) Anschauung 3. Individualität als Geltungsgrund des Ästhetischen {a} Zur Autonomie frage (b) Das Problem der Individualität bei Natorp ... (c) Historisch-systematischer Exkurs (d) Gebietssystematische Stellung des Individuellen (früher Natorp} (e) Schematismus in der Stellung des Ästhetischen (f) Kategoriale Stellung des Individuellen (später Natorp) , .

143 147 154 154 155 156 159 16o 162 166 166 168 171 181 189 193

XII

Inhaltsverzeichnis (g) Überleitung zu ästhetischen Grundbestimmtheiten . .. ., .

C. Die Bestimmtheit des Ästhetischen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aus dem Gedanken der Ableitbarkeit: die ästhetische Wahrheit ,. (a) Die Formel des "Als-ob" (b) Versöhnung .... Ich betonte, daß bei Natorp die Darstellung der Disziplinen Theorie, Ethik, Ästhetik nur dann originell ist gegenüber ihrer Schulgebundenheit, wenn es um die Verbindung, die Übergänge, das Zwischen von Disziplinen geht, und dies aufgrund des Problems der Durchführung des Monismus, des Gedankens der Einheit der Vernunft, Diese Problematik ist unmittelbar rückführbar auf die Grundlegungsfragen Natorps. Also nicht die speziellen Kategorienlehren der Theoretik und der Ethik oder Praktik oder Sozialphilosophie interessieren uns, sondern die leitenden Grundkategorien und deren Abwandlung im Interessenzusammenhang des Bewußtseins, die systematische Entwicklung der Disziplinen in ihrer rückgebundenen Autonomie. Wollen wir diesen Ableitungsgang, die Abwandlung des Geltungsgedankens, auf Natorpsche Begriffe bringen, so handelt es sich um die Stellung der Idee als (a) Gesetz (b) als

Aufgabe

(c) als Fiktion 4 7 . Es sind die Formeln / die Natorp für die Trias des Wahren, Guten und Schönen Platos einsetzt, und damit die Formen für den ausgeführten Geltungsgedanken in seiner Relat-ijnsbest'immtheit« Gemeint sind damit die entwickelten Erfahrungsgehalte, deren Sachgründe sich zunächst in "Sein" und "Sollen" erschöpfen. Der Sachgrund der "Fiktion" erhellt bei Natorp lediglich aus der Rückgebundenheit an Sein und Sollen, den gesamten Bereich der Erfahrung» Wie diese Rückgebundenheit bei gleichzeitiger Autonomie zu denken sei, ist unser Problem, Es fordert den systematischen Zusammenhang der geistigen Leistungen, die aber wiederum nur aus den Bestimmtheiten, den Determinanten, dieses Zusammen45 S . o . S. 73. 46 D e r T e r m i n u s " A b w a n d l u n g " findet sich a u c h bei Natorps Schüler K t H a r t m a n n 3 nun aber nicht m e h r in g e l t u n g s t h e o r e t i scher F u n k t i o n s 47 Zum T e r m i n u s "Fiktion" v g l « N a t o r p , A l l g e m e i n e Psychologie (1912), S. 127.

Vortheoretische Grundbegriffe

89

hangs aufgeklärt werden können, unserer These nach, durch die Durchführung der Subjekt-Objekt-Korrelation bei Natorp, durch den Umschlag des objektivistischen Bewußtseins zur subjektsbejahenden Funktion der Idee, wie sie bereits in der Praxis eingeleitet wird„ Der Subjektsbezug leistet erst die fundierende Relation,, Nach Zocher geht es um den Umschlag zum "heautonomen" Bewußtsein^ also um den Wert des Wahren in seiner restlos bejahten Reflexionsbestimmtheito Daß die künstlerische Fiktion ein Sinnphänomen ist, unterscheidet sie radikal vom Wert des Seins und des Sollens, ohne dadurch von ihrer Rückgebundenheit befreit zu sein* Ja gerade in ihr ist

sie sinnvoll objektives

Fürsich. Ihre transzendentale, kritische und systematische Geformtheit hat die Fiktion mit Gesetz und Aufgabe gemeinsam, aber in besonderer Funktion im sozialen Zusammenhang. Die kritische und transzendentale Funktion der Idee als Fiktion kann darum nur systematisch erfaßt werden» Die Stellung des "Alsob" bei Natorp darf nicht zum bloßen Schein bagatellisiert werden. Es ist eine Wahrheit als Seins- und Sollensmächtigkeit, nicht geltungstheoretische Unbestimmtheit» Die Fiktion wahrt ihre ideelle Gebundenheit im universalen Sinn der einheitsstiftenden Idee.

3. Der Begriff der "Idee" bei Natorp Natorp selbst nennt seine philosophische Position "Kritischen Idealismus"„ Was besagt dieser Doppelausdruck? Wir orientieren uns zunächst in seiner einführenden Schrift: "Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme", deren Untertitel lautet: "Einführung in den kritischen Idealismus":, Noch bevor wir irgend etwas Über den Begriff der Idee erfahren, schreibt Natorp am Ende des ersten Kapitels erläuternd zu dem vorher problematisch entwikkelten Philosophiebegriff: "Diese Besinnung ist es, welche die kritische Philosophie bedeuten will. Nimmt sie für sich den Ehrentitel des Idealismus f aber des kr-itisehen Idealismus in Anspruch, so führt sie sich damit gleich bestimmt zurück auf Platjf den Urheber der Methode der Ideen, und auf Kant/ der den schon ursprünglich kritischen Sinn dieser Methode zur vollen Klarheit und bisher reinsten Durchführung gebracht hat. 'Idee' ist 'Sicht'

9o

Voraussetzungen der Ästhetik

- 'Sehe 1 , sagt Fichte; die ' ei-ne Sicht' ( y f c t ) , in die das zerstreute Mannigfaltige 'zusammengeschaut'wird 0 Der Blick des Gedankens, den es sich eint, ist an sich und aus sich in keinen beschränkten Umkreis gebannt, ist Fernblick in ungemessene Weiten. In solcher Erhebung über jede starre Schranke erwacht die Seele zum Jubel der Befreiung von jeder Fessel, in die ein enger Empirismus sie einschließen möchte» Das Wort ' K r i t i k ' t für sich allein, könnte gerade diese Einschränkung zu besagen scheinen; durch die Verbindung 'kritischer Idealismus* wird sie bestimmt ausgeschlossen a Eine Philosophie aber, die in der gezeigten Weise geradezu alles, was Erkenntnisgegenstand ist oder je sein kann, auf die Unendlichkeit der Idee nicht bloß bezieht, sondern ganz zu ihr hinaufhebt; für die es sozusagen nichts gibt als schaffendes Erkennen, erkennendes Schaffen ohne Ende? die alles Endliche, woran sie arbeitet, aufs Unendliche nicht nur hinausführen möchte, sondern von Haus aus ihm zugehörig, aus ihm geboren erkennt - eine solche Philosophie ist gewiß berechtigt, sich die Benennung 'Idealismus' zuzulegen."^° Dieses Zitat möchte ich an den Anfang der Darstellung des Natorpschen Idee-Begriffs stellen, weil es sowohl den historischen Ursprung klar wiedergibt, als auch die entscheidenden Stichworte für die Begriffsbestimmung enthält: Methode, "Sicht" (etwa als Synthesis?), Unendlichkeit, erkennendes Schaffen. Zudem wird die diesem kritischen Idealismus entgegengesetzte Philosophie und Erkenntnisweise genannt: der Empirismus g Wenn man die Zusammenhänge zwischen historischer Abhängigkeit und historischer Front, und eben auf diesem Hintergrund die begriffliche Eingrenzung der "Idee" beachtet, fällt es auch leichter, das Pathos der Natorpschen Sprache in Kauf zu nehmen. Bevor wir jedoch auf das Thema Idee und Erfahrung kommen können, müssen wir den Begriff der Idee bei Natorp klären e Im systematischen Zusammenhang wird die Idee erst in der praktischen Philosophie maßgebend. Das praktische Bewußtsein ist zentral für das Auftreten des Ideenbegriffs in Natorps Philosophie. Wie es zu dieser systematischen Stellung der Idee bei Natorp kommt, soll später untersucht werden« Wir fragen vorher: welche Definition erfährt der Begriff "Idee" bei Natorp? Diese Frage ist notwendig, weil wir zwischen einer frühen und einer späten Fassung zu unterscheiden haben.

48 N a t o r p , P h i l o s o p h i e , Ihr P r o b l e m , S , 2 2 / 2 3 . D i e Unterstreichungen sind von N a t o r p s

Natorps Begriff der Idee

91

(a) Fr he Definition In Natorps Plato-Buch 49 finden wir eine Auseinandersetzung Natorps mit dem Sokratischen und Platonischen Ideenbegriff, die eine charakteristische Interpretation enth lt, die Fassung der Idee als Gesetz 0 Natorp geht in der einleitenden Begriffsbestimmung von rein philologischen Bestimmungen aus. Demnach bedeutet das Wort ι δ έ α 'Idee 1 , noch vor aller philosophischen Terminologie: a) der Anblick, die Gestalt; b) die Artung, die Qualit t} c) das Sehen, der Anblick als T tigung, Der Unterschied zu ε ΐ δ ο σ liegt vor allem in der zuletzt genannten aktivischen Bedeutung. Der Unterschied von a) und b) liegt in der einmal blo u eren Bestimmung als "Sehen" gegen ber der inneren Erfassung einer Sache„ Natorps philosophische Interpretation schlie t sich dieser philologischen Bestimmung an: "So war dies Wort wie ausersehen, um die Entdeckung des Logischen, d . i . der eigenen Gesetzlichkeit, k r a f t deren das Denken sich seinen Gegenstand gleichsam hinschauend gestaltet, nicht als gegeben blo hinnimmt, in ihrer ganzen Urspr nglichkeit und lebendigen Triebkraft auszudr cken und dem Bewu tsein festzuhalten."5° Die Entdeckung Platos gehe auf die Sokratische Frage nach dem Begriff (ο εστίν, αυτό ο ε σ τ ί υ) zur ck. Damit ist f r Natorp zugleich der Zusammenhang mit dem Logischen gegeben. Die "eine Idee" (μία ι δ έ α , μία τ ι σ ι δ έ α ) meint den Inhalt der bestimmten Pr dikation, wobei ε ί δ ο σ den Begriffsumfang bezeichnet, \ 6 € c t aber die Einheit des Begriffsinhalts als erzeugten: das Gesetzte , Der Logos meint sowohl die einzelne Aussage, als auch die zusammenh ngende Rede und damit den Denkzusainmenhang e Beide sind nur unter einer doppelten Voraussetzung m glich: a) der Identit t des Begriffs (Sinn der Pr dikation) und b) der Einheit der gedanklichen Verkn pfung (Synthesis). Der Idealismus Platos wird von Natorp also prinzipiell auf die Bewu tseinsleistung zur ckgef hrt, Ziel dieser Ideenlehre sei 4 9 Vgl. N a t o r p , Platos Ideenlehre 50 N a t o r p , i b . , S , 1.

(1961).

51 Vgl, Natorp, Platon, i n s Grufle Denker I, S. 91.

92

Voraussetzungen der

sthetik

die Aufdeckung der Grundgesetzlichkeit der logischen Verkn pfung als formale und inhaltliche Konstitution. (b) Sp tere Definition Bei der zweiten Auflage52 seines Plato-Buches 192o nimmt Natorp gerade auch in bezug auf den Ideenfaegriff charakteristische nderungen vor, die sich allerdings, wie Natorp betont, als Konsequenzen der fr hen Interpretation notwendig ergeben. Ich m chte zun chst die Neudefinition wiedergeben und danach erst auf die Wandlung des Begriffs selbst eingehen: Die Idee ist weder gegeben, noch ist sie diskursiv erfa bar, sondern sie ist nur "intuitiv", d * h 4 unmittelbar dem Bewu tsein zug nglich; denn sie fungiert in einem schlechthin grundlegenden und begr ndenden Sinne, d 0 h a die Idee ist "schlechthin aktivΛ dynamisch, funktional". Die Idee wird im Folgenden durch eine Reihe von Pr senspartizipien charakterisiert: erkennend, setzend, verst ndigend, logisierend, ferner: absolut, selbsthaft, spontan, aus der r k r a f t des "Logos selbst", der "Denkung selbst"; schauend^ gestaltend; Einheit der Handlung, Sch pfung; naturierend; sie ist Ursprung (αρχίί, α ι τ ί α , α ί τ ι ο ν , α ΐ τ ι ο σ ) ; unmittelbar schaffend, zeugend; das Leben, das Wirken? sie ist eine Spontaneit t, Selbstheit; sie ist die R ckbez glichkeit auf sich selbst. Sie ist Ausdruck des Urkonkreten, Lebendigen, nicht Abstrakten; sie ist das Urgesetz des "Zum-Sein-Werdens" ( j £ ~ νεσι,σ εχσ ο υ σ ί α ν ) / also Genesis, nicht abstraktes Sein, sondern konkret, also v llig wechseldurchdrungen. Wenn wir die fr he und die sp te Fassung des Ideenbegriffs vergleichen, ist zun chst folgendes hervorzuheben: F r die Interpretation des Ideenbegriffs bei Katorp ist der Begriff des "Logos" immer leitend. Beide Interpretationen implizieren einen grundlegungstheoretischen Sinn: sie interpretieren die Idee als a) erkttnntnisbezjgen und b) einheitsbezogen. In dem Ma e, wie sich die grundlegungstheoretischen Begriffe Erkenntnis und Einheit wandeln, ndert sich auch die Stellung des Ideenbegriffs* 52 V g l . N a t u r p , Platos I d e e n l e h r e , Metakritischer· A n h a n g , S. 462-473.

Idee und Subjektivität

93

Der Wandel im grundlegungstheoretischen Sinne wird durch den Weg vom "Bewußtsein" zum "Sein als Werden" gekennzeichnet. Dabei verschwindet der bewußtseinstheoretische Ansatz nicht völlig in der späten Kategorialanalyse: der eubjektstheoretische Grundzug der Selbstbezüglichkeit, der Reflexivität des Logos bleibt erhalten. Er tritt in der Spätphilosophie grundsystematisch in der Verknüpfung von "Sein" und "Sinn" stärker hervor. Wir fragen darum noch vor der systemtheoretischen Aufschlüsselung des Ideenbegriffs nach seiner subjektstheoretischen Implikation.

4. Idee und Subjektivität Das Thema 'Idee und Subjektivität 1 stellt eine Verbindung zwischen allgemeiner Grundlegungstheorie und Subjektslehre her. Dieses Thema wird bei Natorp in seiner philosophischen Psychologie angeschlagen. Am Begriff der "Idee" wird deutlich, daß in Natorps Werk eine Reihe von Begriffen im vorregionalen Bereich der Grundlegungstheorie verankert sind, die für die speziellen Disziplinen darum auch eine rückbindende und verbindende Funktion haben. Die Subjekt-Objekt-Korrelation kann durch diese Begriffe aufgeschlüsselt werden„Wenn die Subjekt-ObjektLehre den Schlüssel für die Natorpsche Geltungsglivderung bildet, so haben wir es in der Grundlegungstheorie selbst mit dem Problem der Möglichkeit von Geltung überhaupt zu tun. Das heißt, die Möglichkeit der Wahrheitsfindung und -konstitution und deren Aufgliederung in verschiedene Intentionsbereiche kann nicht durch den Geltungsgedanken unmittelbar und ebensowenig durch einen einfachen Pluralismus begründet werden. Daß das Denken selbst seinen Weg nimmt, ist das Thema der philosophischen Psychologies Innerhalb der von Natorp diskutierten Platonischen Ideenlehre bildet die Lehre von der Doxa die unmittelbare Vorstufe zur Bewußtseinstheorie. Der Gedanke der Einheit des Logos findet 53 V g l , N a t o r p » i b . , S. ^73

ff.

94

Voraussetzungen der Ästhetik

nicht nur seine objektstheoretische Verankerung im Denkgesetz, sondern hat sein Subjektstheoretisches Korrelat im Gedanken der Einheit der Psyche. Die Relation zwischen Logos und Psyche wird durch Platos Begriff der Teilhabe ( 4 6 9 ) in den grundlegungstheoretischen Rahmen der Wahrheitsfrage aufgenommen» Neues zum Problem der Doxa glaubt Natorp im metakritischen Anhang von 192o beizutragen„ Hier finden wir eine zusammenhängende Darstellung des Problems: Die Doxa nehme bei Plato eine "mittlere Stellung ein" zwischen "Aisthesis und Episteme" ( 4 7 3 ) . Diese Stellung aber schwanke zwischen drei wesentlich voneinander verschiedenen Bedeutungen: "l der rein verneinenden, ja wegwerfenden des Scheinens aber nicht Seins, des Trugs, oder im gegebenen Fall vielleicht glücklichen doch blinden Treffens; 2 » der eines gegen Wahrheit und Falschheit nur indifferenten, Berichtigung vorbehaltenden Someinens, Dafürhaltens, Erachtens ; 3. der rückhaltlos bejahenden des Urteilens, kraft der ursprünglichen Einheitsfunktion, in deren Ausübung die 'Psyche selbst', nachdem sie sich selbst die Frage gestellt hat: Ist es oder ist es nicht? Ja oder Nein? sich der Schwankung entr a f f t und zur bestimmten Entscheidung durchringt: Ja, es ist, oder: Nein, es ist nicht, Die so verstandene Doxa ist mit Episteme zwar nicht identisch, aber ihre unmittelbare Vorstufe, ganz auf sie gerichtet, während die Doxa erster Bedeutung ihr schroff gegensätzlich gegenüber, die zweite indifferent zu ihr steht, keinesfalls sie einschließt."54 (a) Doxa und Idee Das Verhältnis von Logos und Psyche formuliert die Platonische Fassung des Problems von Wahrheit und Subjektivität. Es stellt sich bei Plato zunächst als ein zu überwindender Dualismus dar Dieser Dualismus werde von Plato nicht überwunden, aber Natorp glaubt Ansätze dafür in der Entwicklung ihres Verhältnisses zu finden« Charakteristisch für die erste Stufe dieses Verhältnisses zwischen Logos und Psyche sei der Meno. Doxa ist hier der Ausdruck des Emportauchens einzelne? Wahrheiten, 54 N a t o r p , i b . » S. 474, Die aufgegliederte Schreibweise ist vom Vf, 55 Vgl. z u s ä t z l i c h : N a t o r p , Philosophie, Ihr Problem, S > 135139.

Doxa

95

und zwar aus dem Grunde der Psyche„ Aber dieses Emportauchen ist noch nicht Erkennen. Es muß in der Episteme gesichert werden, durch die Arbeit des beziehenden, fragenden, folgernden, also Rechenschaft ablegenden Denkens. Demgegenüber bleibe die Doxa passiv: "Sie selbst urteilt so wenig wie die Aisthesis" {475) o Sie sei keine Funktion der Erkenntnis, allenfalls eine materiale Bedingung wie die Aisthesis. Im Phaedo werde die Beziehung der Ideen zur Psyche enger gefaßt; Hier sind die Doxai schon Erkenntnis und das Rechenschaftablegen hat die Funktion einer nachträglichen Probe. Das heißt, der Grund der Wahrheit liegt schon in den Doxai; aber die Entwicklung des Grundes in die Folgen geschieht erst durch ein Besinnen. "Mit der 'Psyche selbst' erschauen wir die 'Sachen selbst'" ( 4 7 6 ) , "Doxa und Logos scheinen völlig eins zu sein, die unmittelbare Vorstufe der Erkenntnis, ihr Kern, ihr Fundament, wenn nicht geradezu sie selbst" ( 4 7 7 ) » Rezeptiv und passiv ist hier nur noch die Aisthesis 0 "Mehr, die Psyche entdeckt sich selbst letzten Grundes als Eidos" { 4 7 7 } . Die Irrtumsfähigkeit der Doxa ist zugleich der Beweis ihrer Wahrheitsfähigkeit. Was zur Überwindung des Dualismus noch fehlt, ist die methodische Entwicklung des Grundes. Diese methodische Klärung fordert auch der Phädrus (4844 8 9 ) , also Wissenschaftlichkeit ( ) , Dialektik des Denkens o Klärend für eine solche Gedankenentwicklung sind die Abgrenzungen im Theätet: Hier sei die Stellung der beiden Extreme Episteme und Aisthesis klar - und zwar für jeden Idealismus formuliert. Denken wird nicht nur negativ gegen Aisthesis abgegrenzt, sondern Denken hat diese zur unerläßlichen materialen Bedingung, "indem sie dem Denken bestimmte, unüberschreitbare Grenzen setzt" (481). Zur Leistung des Denkens ergibt sich daraus: Kategorien des Denkens können nicht Äußerem entnommen werden, sondern nur auf es angewandt werden. Sie entstammen der Psyche selbst. Sie brauchen nicht wie die Empfindungen Organe. "Solche strenge 'Einheit 1 der Bestimmung kann nur aus dem Zentralpunkt der 'Psyche selbst 1 hervorgehen" (481), deren wesentliche Funktion die Einheitssetzung ist e Der Vorzug der Doxa ist ihre Möglichkeit des Verfehlens» Aber es fehlt noch das Kriterium, das Maß für richtige und falsche Erkenntnis, die somit

96

Voraussetzungen der Ästhetik

eine Instanz über der Doxa fordert. Die entscheidende Lösung des Konflikts zwischen Rationalität und Irrationalität der Wahrheit bringt erst das Gastmahl : Die schöpferische Aktivität des Logos war schon in Meno und Theätet als die Kraft der Psyche erkannt worden„ Die kritische Zweifelsfrage aber lautet hier: "Wie ist es denn möglich zu denken, was nicht ist?" ( 4 8 9 ) . Auf diese Frage hin erst wird die Doxa als Mittleres zwischen Aisthesis und reiner Erkenntnis in ihrer Di-skursivität erkannt: als das notwendige Zwischen selbst. "Das Zwischenreich des Logismos, der Dianoia mußte wohl sein ein nur nicht mehr haltlos schweifendes, gesetz- und richtungsloses, sondern streng gerichtetes, nämlich zentral, von der ins Unendliche verschwindenden Peripherie zum sicheren Zentrum der "einen Sicht' ( y f c t \ 6 ) - oder vielleicht umgekehrt, vom Zentrum zur Pheripherie? - gerichtetes Bewegen" ( 4 9 o ) . Das Mittlere zwischen Weisheit und Unwissenheit ist Doxa, "das Rechturteilen ohne Rechenschaftgeben-könneno" (b) Die Stellung des Eros Das Verhältnis von Wahrheit und Psyche bildet in Natorps Gedankenentwicklung ein grundlegendes systematisches Problem. Es sprengt den Rahmen eines disziplingebundenen Denkens in der Frage nach der Subjektivität und ihrer Teilhaftigkeit an der Wahrheit . Die Durchführung des transzendentalen Gedankens Kants in Richtung auf eine universale Logik wird in der Arbeit am Subjektsbezug der Wahrheit möglich„ Dieser zeigt sich nicht allein in der erkenntnistheoretischen Korrelation von Subjekt und Objekt, sondern, im Anschluß an Kants Kritiken, im Sinne eines autonomen Vermögens im künstlerischen Urteil. Welche Stellung es im Urteilszusammenhang einnimmt, ist die Frage Kants; aber dessen Lösung befriedigt Natorp nicht„ Er sucht einen neuen Weg: "Den Ausschlag gab hier aber die erneute Beschäftigung mit 56 V g l „ N a t o r p , Platos I d e e n l e h r e , S. 489-495, 57 V g l „ Gadamer über Natorp, in: Natorp, Philosophische System a t i k » S. X I - X V I I : Die philosophische Bedeutung Paul Natorps, S. XIV,

Eros

97

Platon, die ihn - im Gastmahl - auf den Begriff der Poiesis treffen ließ und damit überhaupt auf das , auf das Schaffen, das zwar auch die Tätigkeit des Künstlers in sich begreift, und zwar als dessen äußerste Steigerung, aber zugleich die volle Spannweite des theoretisch-praktischen Gegensatzes zu überbrücken schien,," 58 Diesem Hinweis Knittermeyers soll nachgegangen werden, da er unmittelbar auf das hier gestellte systematische Problem des Ästhetischen bei Natorp zielt 0 Bei Natorp wird als Abschluß des Themas Logos und Psyche im metakritischen Anhang des PlatoBuchs eine Neuinterpretation

des Gastmahls vorgenommen: Die

Doxa als Mittleres zwischen Erkenntnis und Täuschung kann nicht bloßer Schein sein. Ihre eigentümliche Leistung des Verfehlens wird positiv faßbar in ihrer noch nicht aufgeklärten Möglichkeit

zu denken, was nicht ist.

Welchen Sinn also hat der

Schein? Die eigentümliche Aktivität der Psyche in der Doxa wird in Platos Gastmahl durch den Vergleich mit dem Eros verdeutlicht. Der Eros ist weder ein Gott, noch das Gegenteil; er steht als ein Dämon zwischen beiden, wie die Doxa zwischen Wahrheit und Unwissenheit. "So bleibt der Eros auch in schwebender Mitte zwischen Gut und Ungut, Schön und Häßlich, Selig und Unselig, Unsterblich und Sterblich" (491). Der Eros ist nicht schön; denn er strebt erst nach Schönheit» Wesentlich für die Zwischenstellung des Eros ist

die Notwendigkeit seiner Entstehung:

"Aus Bedürftigkeit (Penia-Aporia) und Erwerbstrieb (Porös) ist der Eros geboren, darum ist er um Vernunft bemüht, sie zu erwerben unablässig geschäftig, also wiederum nicht Sophos r sondern Philosophos ... Und da er Seligkeit nicht bes i t z t / aber umso mehr nach ihr strebt, so hat er sein Wesen in der Schöpfungt Poiesis, die, als Überführung aus dem Nichtsein ins Sein, am genauesten und positivsten die Eigenheit jenes geheimnisvollen 'Zwischen' ausdrückt."59 Hier verläßt Natorp die bildliche Redeweise, um bei der Definition der Poiesis zu bleiben, um die es ihm in der Erfassung der Doxa als "schöpferische Aktivität des L^g^s" (489) spätestens seit dem Theaetet ging: "Die Poiesis aber verschärft sich weiter zur Erzeugung ( , ) f die für ..." (491f) die 58 Vgl„ Knittermeyer über Natürp, i b , , S, X X 0 59 N a t o r p , Platos Ideelllehre (1961), S „ 4-91,

98

Voraussetzungen der Ästhetik

"Selbsterneuerung" von Seele} Leib und Erkenntnis konstitutiv ist. "Daraus wird alle geistige Schöpfung: Technik, Gewerbe, Staatsordnung, Heldentum, Dichtung, Erziehung vor allem erklärt, , , . " ( 4 9 2 ) . Auf dieser Grundlage vollziehe sich der Stufengang der Schönheit: von der leiblichen über die geistige zur absoluten Schönheit, die schließlich als absolutes Schaffen verstanden werden muß. Die Zwischenstellung des Eros wie der Doxa ist darum eben nicht sinnlos, sondern das Zwischen ist das "Lebendige" selbst. Es erweist sich in ihm die zugrundeliegende einigende Kraft der Schöpfung„ Die Psyche wäre also demnach der Spiegel der Wahrheit als Schöpfung, da sich die schöpferische Aktivität des Logos in ihr offenbart., Sofern diese hinter allen psychischen Leistungen steht, ist nicht nur die Erkenntnis und die Doxa, sondern auch die "Anschauung" ( ) aktiv. In diesem Gedanken sei erst der erkenntnistheoretische und metaphysische Dualismus Platos überwunden 0

5„ Idee und Kultur Natorps subjektstheoretische Reflexionen über das Zwischen sind Ergebnisse seiner psychologischen Rückfragen und seines systematischen Einheitsgedankens„ Nicht unvermittelt dürfen darum seine im Text folgenden kulturtheoretischen Folgerungen verstanden werden C 4 9 3 ) „ Der erkenntnistheoretische Methodengedanke und der psychologische Aktivitätsgedanke ' fließen im "metakritischen" Grundlegungsgedanken zusammen. Die ursprüngliche Subjekt-Objekt-Korrelation, aus der allein jene "Prädikate", Grundkategorien, bei Natorp entwickelt sind, wird aufgehoben im ontologisch-subjektstheoretischen Gedanken des Werdens. Freilich vernachlässigt diese Lehre die Bestimmtheit der EinzelSo Die erkenntnistheoretische E r ö r t e r u n g muß hier u n t e r b l e i b e n , Ich möchte hier nur den Zusammenhang von W a h r h e i t , Psyche und Poiesis verfolgen, der natürlich auf der Natorpschen Suche nach der Einheitsgrundlegung b e r u h t , alsu auf seinem bewußt vollzogenen Monismus. 81 Zum Begriff der Aktivität vgl, Natorps Allg* P s y c h .

Idee und Kultur

99

Subjektivität 62 ,, Dafür aber wirft sie neues Licht auf die übersubjektiven Kulturleistungen r und zwar auf deren Verknüpfung in etwas, was metaphysisch Idee heißen mag, was aber im Sinne des objektiven Geistes verstanden werden kann, also im Absehen von einer Spekulation um das Epekeina, das gleichwohl noch nicht zuende durchdacht ist» Das Thema Idee und Kultur jedenfalls ist aktuell, noch ganz abgesehen davon, welche Erwartungen sich im heutigen Sprachgebrauch an das Wort "Idee", das vielleicht kein brauchbarer Begriff mehr ist, heften. Wir sagen heute vielleicht "Einfall" und meinen damit einen weiterführenden Gedanken; wir sagen womöglich "Perspektive" und meinen {mit Lukäcs) die geschichtstheoretische Wahrheit. Das Thema Idee und Kultur tritt bei Katorp bereits innerhalb des Themas Logos-Psyche-Eros auf : Die Idee ist keine Abstraktion, sondern meint das "Urkonkrete"„ Das Urkonkrete ist das alles Begründende. "So ist das Sophon nicht getrennt vom Kalon und Agathon, sondern mit ihm ganz ungetrennt Eins." . a . "Hier zuerst ist der wahre Springpunkt nicht der Erkenntnis allein, sondern des Lebens „ . „ das ist der yienschengeschiehte getroffen; es ist erstmals der Grund gelegt zum tiefsten Sinn humaner KultuY·, zugleich - das ist im Grunde dasselbe - der Sinn der Idee erst ganz frei enthüllt. Als schöpferische Kraft ist sie unendlich mehr als was sie s c h a f f t e " 6 4 Der Logos leuchtet auf in der Seelenkraft, die den schöpferischen Sinn der Idee offenbart. Die Doxa ist nur ein Ausdruck, aber - wie Platos Sophist naher bestimmt - derjenige, der die Möglichkeit des Urteilens selbst erst bedingt; denn das Zwischen evoziert den Gedanken des Nichtseins und des Anderen ( 4 9 7 ) . ihre Positivität vertritt schon vorher Platos Staat: als Pistis und als Eikasia (bildliches Vorstellen = Anschauung?). Das Verhältnis von Logos und Psyche ist untrennbar; jener bedingt alle ihre Leistungen, aber ohne die Seele kann von Logos nicht geredet werden^ Zusammenfassend sagt Natorp: " , . „ die Psyche vertritt gleichsam die Integration aller Entwicklungen des sich aus sich selbst ewig fortzeugenden Logos, in denen eben ihre zeugerische 62 Zur Ontologie der E i n z e l s u b j e k t i v i t ä t vgl. H. Cramer, 63 Vgl. K a t o r p , Platos I d e e n l e h r e , S . 4 9 2 61 ib. S. 4 9 3 .

ff,

loo

Voraussetzungen der

sthetik

Kraft sich bet tigt und in ihrer Selbstentfaltung sich bewu t wird; ganz nach Heraklits tiefem Wort: ψυχησ εστί λογοσ εαυτδν αύξων" ( 4 9 9 ) . Im Thema Logos und Psyche bleibt trotz allem noch ein gro es bei Plato ungel stes Problem, das der Individuation in die Einzelseele. Das Prinzip der Individuation und damit auch der Ideen des Einzelwesens erfindet erst Plotin (5oo). F r Natorp wird dieses Prinzip grundlegend in der sp ten Kategorienlehre, allerdings nicht ohne da es vorher als systematisches Mittel sowohl in der Disziplinenfolge als auch in der philosophischen Psychologie eingesetzt wurde . Soweit Natorp Plato in der Aufnahme des Ideenbegriffs folgt, kommen in ihm insbesondere zwei grundlegende Gedanken des Natorpschen Philosophierens zum Ausdruck: der Gedanke der Einheitsgrundlegung und der Gedanke der subjektstheoretischen R ckbindung des Wahren als Ganzes„ Das Thema Idee und Erfahrung, Idee und Kultur mu notwendig eine Differenzierung dieses Grundlegungsbegriffs der "Idee" bringen: die Entwicklung der Idee und die Spezifizierung der Idee. Wie stellt Natorp sie innerhalb der Subjekt-Objekt-Korrelation dar?

6. Ableitbarkeit (a) Transzendentalphilosophie und idealistischer Monismus Der R ckgang Natorps auf die Ideenlehre Platos bedeutet nicht ein Verlassen des geltungstheoretischen Rahmens. Die transzendentale Frage - also: wie Erfahrung m glich sei - wird auch im berschreiten des objektivistischen Horizonts von Natorp prinzipiell nicht aufgegeben. Sein Versuch der systematischen Einheitsgrundlegung der Kultur - als geltungsgegliederte und als subjektsbegr ndete - im monistischen Idealismus geht davon aus, den Kantischen Gedanken der Kritik fortzuf hren» Das bedeutet: die eirf Idee ist die Klammer des Objektiven und - im Sinne der poietischen Logik - der Stachel der durch das Subjekt zu leisten-

65 Das Problem des I n d i v i d u e l l e n wird erst u n t e n im III. tel als G r u n d b e g r i f f der s t h e t i k e n t w i c k e l t .

Kapi-

Ableitbarkeit

lol

den Erfahrung. Die Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung erarbeitet die philosophische Prinzipienanalyse. Es ist demnach zu fragen: Wie gestaltet sich Ideenlehre als Prinzipienanalyse? Wie begründet Ideenlehre die Differenzierung von Erfahrungsgehalten? Im Zusammenhang der Natorpschen Geltungstheorie müssen die Erscheinungsweisen der Idee als Leistungen entwickelt werden. Wir stoßen dabei auf eine dritte Frage: Wie gestaltet sich der monistische Idealismus aus der Methode der Subjekt-Objekt-Korrelation? Die Idee als Gesetz t als Aufgabe und als Fiktion muß die verschiedenen Sachgründe von Sein, Sollen und Als-ob-Bestimmtheit konstituieren. Prinzipientheoretisch ist damit die Einheitsbegrundung verschiedener Prinzipiationsordnungen gefordert, die als Apviovitäten gleichrangig sind. Systematische Philosophie ist bei Natorp die Deduktion dieser Prinzipienordnun-

gen. (b) Skizze eines Schemas Ein Schema soll den Natorpschen Ableitungsgang skizzieren: a) Im Ansatz stehen bei Natorp zwei Aprioritätsbereiche nebeneinander, nicht drei oder mehr, die prinzipientheoretisch differieren: Konstitutivität Regulativitat Die Zweiheit dieser Prinzipiationsweisen wird insbesondere beim späten Natorp überlagert durch eine in die Grundlegungstheorie aufgenommene M^dallehre: Möglichkeit - Notwendigkeit - Wirklichkeit. Aus diesen beiden Ordnungen ergeben sich für die Ideenlehre zwei verschiedene Begründungsweisen: — die der SeEj^utse-t^sbestiinmtheit; - die der 5^-ittsbestimmtheit,, Die Modallehre muß allerdings aus der Kategorienordnung im einzelnen, also mittelbar aus der Bewußtseinslehre, entwikkelt werden. Ohne diese ist nicht verständliche

sie vor allem in ihrer Abfolge

b) Die beiden Prinzipiationsweisen des Bewußtseins führen auf den einen Begriff der "Idee": Idee als unendliche Natur - Idee als unendliche Aufgabe

Io2

Voraussetzungen der Ästhetik

Die Idee der Natur ist als Einheit bloßer Grenzbegrifft ein die Empirie überschießender Zielgedanke 0 Die Idee der Aufgabe ist Archä und Telos zugleich, unmittelbare Vermittlung der Unendlichkeit. c) Die Übergänge von einem Status der Idee zum anderen werden verschieden gewonnen: - als Man gelbe stimm t he i t der abstrakt gefaßten theoretischen Idee ; - durch die Abwandlung von Modalitäten; - durch die inhaltliche Bereicherung des Subjektsbegriffs. In allen drei Aspekten handelt es sich um die Bestimmung von Reflexionsarten, mit Zocher geredet, vom Weg aus der Heteronomie über die Autonomie zur Heautonomie des Bewußtseins. d) Systematische Leitfäden der Entwicklung der Prinzipienanalyse sind: - der Gedanke der Einheit: (a) der Natur als der obejtiver theoretischer Erfahrung £b) des Willens als subjektive Allgemeinheit oder Sittlichkeit - die Disjunktion endlich-unendlich: sie bewirkt das Umschlagen des objektivistischen Bewußtseins zum Selbstbewußtsein der Idee im Verhältnis von (a) und (b) s - der Begriff des Bewußtseins: er fordert die korrelative methodische Differenzierung, die schließlich durch die Modalitäten -im Ideenbegriff aufgefangen wird» (c) Idee und Entwicklung Das Schema soll den Gedankengang bei der Analyse des Verhältnisses von Idee und Erfahrung verdeutlichen» Der Gedanke der Entwicklung der Idee ist bei Natorp nicht erst ein ethischer und sozialpädagogischer „ Die Entwicklung der Idee findet nicht nur in zeitlicher Dimension, sondern bereits in der Dimension der Gleichzeitigkeit statt: in den Objektivationsbereichen. Da66 Vgl, N a t o r p » S o z i a l p ä d a g o g i k , 2. A u f l .

1

!, S.

Ableitbarkeit mit soll nicht die Dreizahl gerechtfertigt werden; aber sie wird als Folge sinnvoll. Diese stellt sich dar unter der Notwendigkeit des Darüfaerhinausgehens vom theoretischen und praktischen zum ästhetischen Bewußtsein. In der ideell bestimmten Subjekt-Objekt-Korrelation ist die Bewußtseinsbewegung überschüssig gegenüber der primären Theorie-Praxis-Erfahrung, Die subjektstheoretische Entfaltung beruht auf der objektiven Nötigung der Idee, Sein verschieden zu legitimieren und damit zu artikulieren. Die Frage ist noch nicht beantwortet: Wie keimt es zu den verschiedenen Legitimationen des Bewußtseins? Wie kommt es daneben zu geltungstheoretisch nicht mehr formulierbaren Bewußtseinsbereichen: Psychologie, Sozialpädagogik, Religionsphilosophie? Eine geltungstheoretische Kulturtheorie will nicht in Typologien stecken bleiben, wie man die neukantische Kulturlehre mißverstehen kann. Die Bereiche des Wissens, des Handelns, der Kunst^ der Religion, des Sozialen etc. werden nicht durch empirischen Ansatz gewonnen. Der Kantische Autonomiegedanke meinte dementsprechend auch nicht innerhalb der Erfahrung isolierte Leistungsbereiche,, Das heutige Theorie-Praxis-Problem macht dieses Mißverständnis auf ideologiekritischem Wege rückgängig. Worum es in der Autonomiefrage geht, ist die Sinnbezogenheit und Sinndifferenziertheit von Wahrheit,, Bei Natorp wird dieser Gedanke in der einheitlichen Rückbeziehung der Wahrheit auf die eine Idee formuliert, deren wesentliches Moment ihre horizontale und vertikale Entwicklung ist^ Der Entwicklungsgedanke zeigt sich in der Disziplinenfolge, und zwar im Erfahrungsbereich als Methode und als S^1lent in der Kunst als Geschichte , im religiösen und personalen Bereich als Erleben,, Im Erfahrungsbereich als ganzem, nämlich als Praxis, wird dieser Grundcharakter der Idee offenbar als unendliche Aufgegebenheit.

67 V g l . N a t o r p , R e c h t und Sittlichkeit

(1913).

C . DAS VERHÄLTNIS VON IDEE UND ERFAHRUNG

£O

Idee und Erfahrung stehen in Natorps Philosophie nicht gleichwertig nebeneinander„ Der Begriff der Erfahrung wird durch die Idee kritisch gefaßt, das heißt, der Objektivitätsanspruch bei Bewußtseinserlebnissen soll durch bestimmte Gesetzlichkeiten der Idee aufrechterhalten werden„ Diese entwickelt sich, nicht das subjektive Bewußtsein. Indem die Idee das Bewußtsein reguliert^ nötigt sie es zu bestimmten Leistungen im Sinne des Erscheinens der Idee als Gesetz, als Sollen und als Fiktion. Die Funktion der Idee in Natorps Erfahrungslehre dient nicht der Begründung eines idealistischen Standpunkts, sondern der Wahrung der Kontinuität der Erfahrung im Übergang von Theorie und Praxis» Die Stellung des Ästhetischen sprengt schließlich den Rahmen der Erfahrungstheorie» Aber es basiert auf dem Theorie-Praxis-Verhältnis „ Dieses Verhältnis wird zunächst in der Disjunktion von Idee und Erfahrung gefaßt,. In ihr verwendet Natorp einen weiteren und einen engeren, nur auf Natur bezogenen, Erfahrungsbegriff,

1. Erfahrung im engeren Sinne Erfahrung im engeren Sinne bedeutet bei Natorp Wissen, theoretische Wahrheit. Erfahrung markiert den Anfang des Denkens, nicht den Ursprung. Diesen Kantischen Gedanken interpretiert Natorp im logischen Sinne, das heißt, Natur wird auf Sein zurückbezogen; Natur ist dem Bewußtsein gegenüber nicht heterogen. Im Gedanken "Es ist" konstituiert sich Sein gemäß dem logii. hen Grundsatz der Identität im voll inhaltlichen Sinne der Synthesis von Mannigfaltigem,. "Natur" ist

nicht ontologisch ge-

68 V g l , z u m Thema I d e e u n d E r f a h r u n g v o r a l l e m : N a t u r p , Sozialp ä d a g o g i k , 2, A u f l . ( 1 9 o 4 ) , §§ 1-6, S. 3-54.

Theoretische Erfahrung

Io5

geben. Das wird bei Natorp an der Auflösung des B e g r i f f s "Tatsache" ain deutlichsten. Die Einzigkeit der Tatsache konstituiert sich nicht im Absehen vom Bewußtsein. Vielmehr kann von Tatsache nur die Rede sein im Hinblick auf den Tatsachenzusammenhang, das heißt, im Hinblick auf den universalen theoretischen Horizont, innerhalb dessen das Bewußtsein Sein als Seiendes konstituiert, also kategorial begründet. Dieses Ausgehen Natorps vom denkbaren All der Wirklichkeit verdeutlicht ein Zi-

tat: " ' D i e ' Wirklichkeit i s t ihrem ganzen Begriff nach e i n e , und sie bedeutet, ihrer letzten, notwendig logischen Begründung zufolge, nichts anders als ' d e n ' , seinem ganzen Begriff nach eben einzigen Gesetzeszusammenhang der Erfahrung oder Natur; 'eine 1 Wirklichkeit aber, die Wirklichkeit einer einzelnen Tatsache kann nur gültig ausgesagt werden im Sinne der Einordnung in diesen einzigen Zusammenhang, auf Grund des Gesetzes, das überhaupt nur diese Funktion hat, das Einzelne der sogenannten Tatsachen in einen einigen Zusammenhang zu ordnen. Es gibt also nicht eine doppelte Erkenntnis, der Tatsachen und der Gesetze, sondern die Tatsache wird als solche nur erkannt, indem sie durch das Gesetz eingeordnet wird in den Gesamtzusammenhang der Tatsachen: die Erfahrung oder Natur»"69 Die Widerständigkeit des naturalen Bereichs ist damit in eine methodische Formel aufgehoben, in das X der Gleichung der Erkenntnis. Natur ist

auf Erfahrung reduziert; sie ist das zu Er-

fahrende,, Lediglich dieser Forderungscharakter erinnert an die tatsächliche Heterogenität des Naturalen. Positiv gesehen, bedeutet diese Reduktion die logisch bedingte Abwehr jeglicher Hypostasierung der N a t u r , sei es im ontologischen oder im metaphysischen Sinne o Das Zwingende der theoretischen Wahrheit kann nach Natorps logischem Ansatz nicht mit Heterogenität erklärt werden, sondern nur mit der Unbedingtheit des logischen Anspruchs selbst. Sofern Logik Inhalte bestimmt, kann Natur als Inhalt nicht außerhalb der Logik konstituiert sein. Die problematische Frage heißt darum: Wie können logische Gesetze auf die Natur angewendet· werden? Sie erinnert an Kants Einleitung der Kategorienlehre, Natorps Konsequenz besteht in der rücksichtslosen Vorordnung des Logischen vor die Differenzierung der Wahr-

69 N a t o r p , A l l g e m e i n e Psychologie (1912), S. 159

Io6

Voraussetzungen der Ästhetik

heit in theoretische oder praktische Erfahrung . Danach bleibt das Logische die fundamentalere Ordnung gegenüber dem als Natur Begründeten. Die Möglichkeit theoretischer Erfahrung ist an die Möglichkeit der Bestimmbarkeit überhaupt gebunden0 Erfahrung ist nur möglich durch die Kategorialität des Logischen, seine allgemeine Relatijna'litäti "Die möglichen Relationen des Gedachten systematisch zu entwickeln, ist die ganze, dem Begriff nach einfache, in der Ausführung sehr zusammengesetzte Aufgabe der Logik t allgemein der Erkenntniskritik."71 "Nichts weiter als die Besinnung auf diesen Ursprung (der Erkenntnis) ist aber erforderlich, um zur Idee zu gelangen. Sie besagt schließlich nichts anders als die bloß gedachte letzte Einkeitt den letzten, eigensten Btiakpunkt der Erkenntnisa"72 Aufgrund ihrer Letztstelligkeit ist die Idee fundamentales Prinzip/ und zwar nicht nur der Natur, sondern der gesamten Welt des Bewußtseins. Die spezielle Begründungsweise im theoretisch Erfahrbaren basiert auf dem Ursache-Wirkung-Verhältnis. Wo kausal gefragt wird, handelt es sich um primäre Erfahrung im Sinne theoretischer Wahrheit. Die Idee, das heißt die Einheit des kategorialen Begründungszusammenhangs, ist hier konzentriert auf den Status des Gesetzes, Die theoretische Idee fordert bestimmte Urteile, für die das Bedingungsverhältnis Wenn-Dann konstitutiv ist 0 Die fundamentale Disjunktion von Idee und Erfahrung im engeren Sinne beruht auf der Partialität des theoretischen Wissens gegenüber dem Gesamtbereich des Logischen, auf ihrer eingeschränkten Allgemeinheitsart im Verhältnis zur Universalität des Allgemeinen,, Diese Eingeschränktheit des theoretischen Erfahrungsurteils wird nach Natorp am ExistenzuTteit evident . An ihm erweist sich sowohl der eingeschränkte Geltungssinn der Modalität der Notwendigkeit, als auch der Grund der Prozeßhaftigkeit der theoretischen Erfahrung„ Natorp findet folgende Bestimmung für "Existenz": "Wirklichkeit oder Existenz , . bedeutet abschließende 74 Bestimmung, die nichts in Unbestimmtheit läßt." Damit läßt 70 71 72 73 74

Vgl. ib.} ib., Vgl. ib..

Hatorp, Sozialpädagogik, 1, A u f l . 19y4, S. 19. S. 2 2 . S. 2 4 , N a t o r p , Philosophie, Ihr Problem, S. 56-5o. S, 58.

Theoretische Erfahrung

Io7

sich zunächst der Tatsachenbegriff kritisieren: "Daß die Tatsache in sich bestimmt sein müsse, bedeutet nur, daß ihre Bestimmtheit gefordert ist; ändert aber nichts daran, daß ihre Bestimmung in der Erkenntnis erst vollzogen sein will, und stets 75 nur bedingterweise vollzogen werden kann." Die Unabschließbarkeit der Bestimmung, wie sie im Existenzurteil für die theoretische Erfahrung deutlich wird, erweist nicht nur den defekten modalen Status der primären Erfahrung, sondern verweist zugleich auf einen neuen Geltungsbereich des im Universalitätsanspruch angelegten Erkenntnisideals. Die Grenze der primären Erfahrung ist der Anfang der Praxis. Diesen logisch begründeten Übergang formuliert Natorp am Ende seiner Logik der Erfahrung: "In diesen Grenzfragen berührt sich nun schon das Gebiet des Seins mit dem des Sollens* die Logik der Erfahrung mit der der Idee. Die letzte Wahrheit der Erfahrung, Erfahrung selbst, als Erkenntnis dessen, was 'ist', entdeckt sich als Idee im strengen Sinne der unendlichen Aufgabe," Die Verschränkung der bloßen Erfahrung mit der Praxis im Problem der Aufgabe läßt die objektive Klammerfunktion der Idee zum Vorschein kommen 0 Idee als Einheit des Erkenntnisursprungs entfaltet sich bei Natorp kategorial. Ihr Verständnis macht die kategoriale Deduktion erforderlich„ Die Möglichkeit des bloßen Erkennens, der bloßen Erfahrung, ist durch die Urteilsfunktion selbst abstraktiv gegeben 0 Der kategoriale Anfang beim Urteil als Beziehungsgefüge impliziert bei Natorp die theoretische Reduktion. Die Entwicklung oder Deduktion der möglichen Urteile führt auf eine Bereicherung des Beziehungsgefüges nicht nur im formalen Sinne, sondern in einer Abwandlung in inhaltlicher Hinsicht , Die Steigerung der kategorialen Valenz erfaßt noch die Grenze der bloßen Erfahrung im Aufscheinen des Gesamtanspruchs der kategorialen Einheit als Idee» Sie bewirkt die Begründung neuer Geltungsbereiche für die Erfahrung in ihrem vollen Wirklichkeitssinn der theoretisch-praktischen Einheit, Die Disjunktion von Idee und Erfahrung impliziert a) den zunächst reduzier75 Vgl. i b . , S. 6 . 75 i b . , S. 6 . 77 Vgl. ib., S. 41.

Io8

Voraussetzungen der Ästhetik

ten Erfahrungsbegriff, b) das Prinzipiationsgefälle und c) den kategorialen Überschuß des an der Totalität des Wirklichen orientierten Bewußtseins. Die exemplarische Logik der Erfahrung im engeren Sinne genügt nicht der Bestimmung von Existenz, weder im theoretischen, erst recht nicht im praktischen Sinne, das heißt, sie genügt nicht zur Erfassung der Idee in ihrer unmittelbaren Wirklichkeit,

2 0 Erfahrung im Vollsinne: Praxis Der Gedanke der vollkommenen Bestimmtheit erwies sich als idealistisches Desiderat im Bereich der bloßen Erfahrung„ Das Aufleuchten der Idee im Begriff der Wahrheit hat noch nicht die positive Kraft des Versprechens, daß Idee auch zu sich kommt. Die resignative und fatalistische Prozessuaiität bloßer Erfahrung straft sich mit der Negation der Idee als dem unverbrüchlichen Grund der Erfahrung als ganzer. Die Kantische Aufklärung über den Primat des Regulativen im Kontext des Erkennens leugnet der Positivismus„ Gegen ihn wendet sich der jenen aufklärerischen Gedanken systematisch erfassende idealistische Monismus Natorps. Die Frage, was Erfahrung anfänglich ermöglicht, entläßt nicht die Frage nach der kritischen Einbezogenheit von Erkenntnis in den Totalitätsbereich dessen, was Ursprung der Wahrheit ist. Das Bewußtsein als Leistungsinbegriff erschöpft sich nicht in unverbrüchlicher und unaufhörlicher Gesetzlichkeit. Es begründet auch praktisch-regulativ. Der Einbruch des Zweckgedankens ins theoretische Erkennen offenbart erst den reflexiven Charakter der Vernunft, die in einem gesteigerten Modus Bewußtsein ist: Selbstbewußtsein. (a) Wirkliche Erfahrung Die Erfahrung der an der Idee des Seins orientierten Wissenschaft begrenzt sich abstraktiv im Begriff der "reinen Erfah78 rung" „ Diese wird möglich in der statischen Konstitution des Seins innerhalb bestimmter aufeinander folgender Stadien der 78 Vgl. i b . ,

Se 65,

Praxis als wirkliche Erfahrung

Io9

wissenschaftlichen Erkenntnis„ Das im jeweiligen Forschungsstand erlangte Wissen impliziert den Zwang, den jeweils erreichten Stand zu Überschreitens Im damit in den Forschungsprozeß aufgenommenen Begriff der Aufgabe wird das Desiderat einer "wirklichen" Erfahrung 79' formuliert. Damit meint Natorp das dynamische Fortschreiten selbst, "den Marsch selbst" gegenüber dem "Sein auf dem Marsche" 0 "Dieser (der Marsch selbst) ist gleichwohl kein anderer als der der 'Erfahrung' in der letzten Vertiefung, welche dieser Begriff zuläßt." " Das Sollen, das Grundprinzip der Praxis, formuliert Natorp also zunächst wissenschaftstheoretisch: der Gesichtspunkt der Totalität der Erfahrung reguliert die wissenschaftlich-statische Erkenntnis im Sinne der richtungweisenden Verknüpfung. Der Gedanke der Totalität, der bei Kant im Prinzip der Gesetzlichkeit überhaupt rein formal gefaßt ist, muß nach Natorp inhaltlich verstanden werden. Und zwar resultiert die Inhaltlichkeit des Aufgabenbegriffs aus seiner Erfahrungsbezogenheit. So schreibt Natorp gegen Kant: "Aber diese Durchführung (einer konkreten Ethik } ist möglich, und sie würde den Einwand der Inhaltlosigkeit mit der Tat widerlegen, indem sie nicht weniger als den ganzen Inhalt der Erfahrung unter den Gesichtspunkt, des Ballens bringt^ also jede bloße Nebeneinanderstellung und allenfalls Aneinandergrenzung von Natur und Sittenwelt überwindet; und zwar hatte sie dies zu vollbringen, nicht, indem sie das Sittliche dem Natürlichen ein- und unterordnet, sondern indem sie das Natürliche ganz ins Sittliche auf- und zu ihm emporhebt. "^3 Die Verklammerung des Normativen mit dem Gesetzlichen ist heute ein vorrangiges Problem der Wissenschaftstheorie, wie es exemplarisch im sog. Positivismusstreit der Sozialwissenschaften diskutiert wird 84 . Der Positivismus einer wertfreien Forschung besteht in der Leugnung gerade dieses normativen Horizonts ihrer Fragestellungen und ihrer Ergebnisse sowie in der damit verbundenen Ablehnung jeglicher Verantwortung für die Anwendung der Forschungsergebnisse» Die abstrakte Frage nach dem, was "Ist", 79 8^ 81 82 83 84

Vgl, i b . > S . 6 4 „ i b . , S. 65 i b e , S, 65„ Zusatz des Vf. ib.., S. 72 . V g l . z u m T o t a l i t ä t s b e g r i f f z . B . Haberinas, A n a l y t i s c h e W i s senschaftstheorie und Dialektik (1963),

Voraussetzungen der Ästhetik glaubt sich von der gesellschaftlichen Verankerung der Forschungsdeterminanten entbunden und überläßt damit zugleich ihre Ergebnisse den die Anwendung normierenden Instanzen wie Wirtschaft, Politik, also den derart zur Herrschaft legitimierten Machtbereichen, die sich selbst nicht mehr an die theoretische Rechtfertigung ihrer Unternehmungen gebunden wissen. Was dagegen aus Natorps Grundlegungstheorie der Kultur hervorgeht, ist: Die Notwendigkeit der Kontrolle im normativen Bereich schlägt nicht einfach um zur autonomen Praxis., Vielmehr entsteht bereits im Erkenntnisbereich selbst der normative Anspruch, hier als Kontrollfunktion der Idee als Aufgabe, also in einer kritisch erweiterten Methüdenlehre. Der Gedanke der Totalität schränkt nicht das Wissen ein, sondern erweitert die Erkenntnis im Gedanken der Einheit wirklicher Erfahrung. Diese kann nicht als Empirie mißverstanden werden, sofern sie der Unendlichkeit verpflichtet ist. Die regulative Idee der Aufgabe hat 85 nach Hatorp eigenen Erkenntniswert , indem sie das Statische des Wissens unter bestimmten Prinzipien in den Fluß des Fortschreitens ordnet. Nun bleibt bei Natorp gegenüber Kant der Gedanke des Fortschritts nicht auf die Naturwissenschaft eingeschränkt. Unter dem Gesetz des Sollens gerät nämlich das ganze soziale Leben in eine Entwicklung mit seinen Naturgrundlagen. Zur Begründung beruft sich Natorp auf die drei regulativen Prinzipien Kants: Generalisierung, Individualisierung und KontinuiRf> tat . Während Kant diese Prinzipien auf die Naturerkenntnis bezog^ überträgt Natorp sie auf die gesamte Naturwissenschaft und darüber hinaus auf Technik, Wirtschaft, Recht und SozialOrdnung und leitet zugleich mit diesen Prinzipien den sozialidealistischen Entwicklungsgedanken als Moment der Idee ein. Erläuternd schreibt Natorp: RR "An dieser {der Naturerkenntnis ) ist es in der Tat ohne weiteres ersichtlich, daß sie 1) zur höchsten erreichbaren Allgemeinheit der Prinzipien strebt; 2} dabei doch die Einzelerscheinungen soviel wie möglich in ihrer unverkürzten Individualität zu lassen sucht; um aber diese beiden Forderungen, deren Gegensatz und Spannung hauptsächlich den keiD 7

85 86 87 88

V g l . N a t o r p , Philosophie, I h r P r o b l e m , S . 6 5 „ i b . , S, 9o. i b . , S. 91. Z u s a t z des V f .

Natorps Sollenslogik

111

neawegs geradlinigen Gang der Entwicklung der Forschung bedingt, miteinander zu versöhnen, muß sie 3) streben in der unbegrenzten Mannigfaltigkeit der Erscheinungen überall stetige Übergänge zu finden . „ . " 8 9 Die Stellung der regulativen Prinzipien, die den Totalitätsgedanken erläutern, im Kulturganzen ist es, was den Primat des praktischen Bewußtseins bei Natorp begründet. Die Aktualität dieser zunächst wissenschaftstheoretischen Dimensionsänderung liegt in der Sicht für die notwendige Einbeziehung der Praxis - als soziales Bezugsfeld des wissenschaftlichen Interesses in den wissenschaftlichen Methodengedanken,, Mir scheint in der Logik des Sollens bei Natorp ein solcher wissenschaftskritischer Ansatz systematisch vollzogen, wenn auch nicht in seinen Konsequenzen für einzelne Wissenschaftstheorien reflektiert zu sein. Es bleiben aber noch die Fragen nach der Bedeutung der Dimensionsänderung selbst und nach der Stellung der praktischen Freiheit und des Zwecks im Natorpschen Erfahrungsbegriff ungeklärt „ Mein Versuch geht dahin, diese Begriffe aus der heute unverständlichen Umklammerung bei Natorp durch eine reine und konkrete Ethik zu lösen, indem ich direkt nach der Möglichkeit und der Notwendigkeit autonomer praktischer Objektivität frage. Worin also liegt der Unterschied theoretischer und praktischer Objektion nach Natorp, wenn der Übergang zwischen'Theorie und Praxis im Aufgabenbegriff markiert ist? Wie gewinnt die im theoretischen Bereich ansetzende Idealität praktische Bedeutung im außerwissenschaftlichen Leben? (b) Natorps Logik des Sollens Die "Logik des Sollens" will kein Anhang zur Erkenntniskritik sein s, Das unterstreicht - in Kantischer Terminologie - der Primat der Praktischen Idee„ Er besagt bisher, vom Blickpunkt der Theorie aus: theoretische Sätze sind mit Bezug auf die Erfahrung abstraktiv und befinden sich immer schon - im Sinne der Kritik - im Horizont der Geschichte, das heißt im sozial realisierten Entwicklungsstand der Idee als Aufgabe. Bei der von Natorp abgeleiteten geltungstheoretischen Dimensionsänderung müß89 ib. , S . 9 o f .

112

Voraussetzungen der Ästhetik

te der Satz umkehrbar sein: Praxis im geltungs theoretischen Sinne bedarf zu ihrer Rechtfertigung der die Erfahrung primär konstituierenden Theorie. Soziale Praxis hat Theorie - als naturwissenschaftliche, technische und wirtschaftliche - zur Voraussetzung. Natorps Logik des Sollens braucht hier nicht vollständig entwickelt zu werden, sondern lediglich die Ableitung des eigentümlichen Geltungsanspruchs in der Idee der Aufgabe, wir sagen heute: im normativen Geltungsanspruch, wobei "Norm" hier den Begriff des Sollens vertritt. Die Schwierigkeit einer solchen Deduktion liegt in der Neuformulierung des ursprünglich "ethischen" Bereichs, der bei Natorp unter verschiedenen Titeln auftritt: als reine und konkrete Ethik, als Sozialphilosophie, als Praktik und als Praxis im umfassendsten Sinne. Die speziell werttheoretische Ableitung Natorps kann über gangen werden, da für die Praxis-Begründung die positive Bestimmung der praktischen Idee als "Freiheit" und als "Zweck" vorrangig ist. Bei der Begriffsverbindung von Freiheit und Zweck springt die prinzipientheoretische Ebenenverschiedenheit ins Auge^ Während der "Zweck" zunächst als konkreter Begriff verstanden werden kann, ist "Freiheit" eine nur auf Prinzipienebene verifizierbare Größe. Worauf es ankommen wird, ist der von Natorp als vermittelnder Begriff eingeführte Gedanke der "Richtung" oder der "Dimension" und dessen kategoriale und - wie sich zeigen wird - subjektstheoretische Deduktion. Die Deduktion der Sollenslogik setzt bei Natorp im "Ur91 sprung" der Erkenntnis an . Der Erkenntnisursprung führt die theoretische Logik oder Logik der Erfahrung im engeren Sinne auf den regulativen Bereich der Idee im Begriff der unendlichen Aufgabe. Danach gilt zunächst positiv Folgendes: - Das Sollen ist weder irrational noch empirisch f sondern logisch, "Das Soll ist also nichts Außer- oder Über-Log-isah^s , sondern es ist nur tiefer log-isah, als jenes Sein, in dessen Begriff 90 Vgl„ ti>., S. 91 Vgl„ i b . ,

S. 67.

Natorps Freiheitsbegründung

113

vom Sollen abstrahiert wird."" - Das Sollen ist nicht subjektiv, sondern objektiv* "Das Gesetz des Sollens hat seinen Grund auch nicht etwa erst in irgendeiner Subjektivität des Wollens, sondern es ist von genau so objektiver, ja in noch radikalerem Sinne objektiver Begründung als das Sein der Erfahrung 0 "93 - Die Objektivität des Sollens ist nicht bedingt, sondern unbedingt* "Aller solchen bloß bedingten Objektivität des Erfahrungsseins gegenüber ist die Objektivität des Sollens allein unbedingt . „ . " 9 4 - Das Sollen ist

Sache des Urteils, der Erkenntnis.

" ... die Setzung des Sollens aber ist ihrem letzten Erkenntnisgrunde nach unbedingte Setzung."" Wie läßt sich aus diesen Bestimmungen die praktische Freiheit deduzieren? Die desiderative Formulierung des Aufgabenbegriffs im abstrakt-theoretischen Denken schlägt im praktischen Bewußtsein zur Positivität und Pvsitiunalität des Sollens im Begriff der "Freiheit" um. Die Relation 'bedingt - unbedingt' läßt einen Aspekt des Logischen zum Vorschein kommen, der jenes in seinen Wurzeln als akausal im Sinne einer Setzung erweist, die objektive Erkenntnis allein aus Logik, aus der Idee als Idee, behauptet. Es ist die Frage, wie weit diese Unbedingtheit der Idee sich praktisch verwirklichen läßt„ Das bedeutet: die idealistische Problemkumulation in der Praktik muß noch nicht die Problemlösung in der Praktik zur Folge haben,, Der mögliche Überschuß der ideellen Komponente in der Praktik treibt den systematischen Gedanken des Erscheinens der Idee weiter zur Ästhetik, Religion, Subjektivität. (c) Die Idee der Freiheit Der logische Gedanke der Unendlichkeit und der Unbedingtheit begründet in einer Dimensionsänderung des Bewußtseins die Möglichkeit, die Idee selbst in den Erfahrungsbereich eingehen zu 92 ib. 93 ib. 94 i b e 95 i b . , S. 6 9 .

114

Voraussetzungen der Ästhetik

lassen. Das verspricht eine Steigerung ihres Rechts gegenüber einer bloß methodischen Manifestierung des Logischen» "In der Idee der Freiheit drückt dies Hinausgehen sich unmittelbar faßlich aus."96 "über jede gegebene Stufe der Erfahrung hinaus aber gibt es eine höhere, und für jede höhere Stufe gilt wieder das Gleiche. Also sind wir " f r e i 1 , den seinsollenden Gegenstand so zu setzen, wie das eigene Gesetz des Sollens es vorschreibt, d , h 0 wir sind darin nicht durch irgendeine Schranke der Erfahrung beengt, ... Alle Arbeit der Erfahrung zielt selbst nur auf Realisation 1der Idee, » a . Diese ist somit und bleibt 'an Macht und Alter , wie Plato sagt, d „ h 0 an Geltungswert und Ursprünglichkeit, der stets bedingten Setzung der Erfahrung gegenüber überlegen,"97 Die Idee als praktische ist nach Natorp also nicht bloß ein theoretisches Desiderat, ein notwendiges Übel der eigentlich bloß exakten Wissenschaft, sondern im Sinne des Erscheinens der Idee, der Realisation des Logischen, der Aufklärung des Bewußtseins im Realen, das "Positivste". Die uneinholbare Positivität der Idee der Freiheit wird heute im wissenschaftstheoretischen Begriff der "Antizipation" formuliert 98 „ In Natorps Praktik als Begründung einer wissenschaftlich angeleiteten Erfahrung wird der Abstand zu einer auf "Handeln" reduzierten Ethik deutlich. Während noch bei Cohen die Gebietsgliederung bei den quasi-psychologischen Wesenheiten 'Erkennen, Handeln, Fühlen 1 ansetzt, deduziert Natorp den Aufbau der kulturbegründenden Denkdimensionen systematisch aus dem Rationalen. Darum darf man sich durch die traditionalistische Terminologie des frühen Natorp - "reine und konkrete Ethik" - über den gegenüber Cohen systematisch fortgeschrittenen Charakter der Kulturtheorie nicht täuschen lassen. Der Primat der Praxis bei Natorp ist ein streng geltungstheoretisches Ergebnis, das den Kantischen Aufklärungsgedanken im Sinne der durchgeführten Rationalität fundiert. Natorps Logik des Sollens formuliert keine apriorischen Grundsätze der Ethik, sondern deduziert den geltungstheoretisch ausgewiesenen Zweckbegriff aus dem Ursprung der Freiheit im Logischen„ Die Bestimmung des Zweckbegriffs führt bei Natorp über die eigenartige Inhaltlichkeit der rational begründeten Freiheit. Diese Inhaltsbestimmung führt Natorp über Plato und Kant 96 ib, „ S, 68. 97 ib., S. 69, 98 V g l , A d o r n o - H a b e r m a s e

Natorps Freiheitsbegründung

115

hinaus: "Die Begründer der idealistischen Ethik, Plato wie Kant, wußten durchaus nichts zu nennen als die reine Form des Logischen: Gesetzlichkeit überhaupt', darin freilich so wichtige Dinge wie: Einheit, durchgängige Übereinstimmung, Folgerichtigkeit. 1 ^ 9 Die Inhaltlichkeit der Freiheit wird von Natorp nicht in der Disjunktion formal-material begründet„ Eine materials Ethik müßte den praktischen Autonomiegedanken relativieren„ Natorp fragt dagegen zunächst, analog zum engeren Erfahrungsbereich: Wie läßt sich das scheinbar nur formale sittliche Gesetz auf das reale Wollen anwenden °°? Die Mangelbestimmtheit in der theoretischen Erkenntnis bewirkte eine "Verflüchtigung der Erfahrung" 101 . In der wirklichen Erfahrung dagegen muß die Vernunft als ganze für das Erkennen bestimmend werden: " . , . auch bis zum letzten Empirischen, bis zum Natürlichsten der Natur reicht jetzt die Herrschaft der ewigen Idee." 102 Das heißt, die Inhaltlichkeit der Freiheit wird erst in der "wirklichen" (nicht: realen) Erfahrung deutlich , Sie formuliert die Theorie-Praxis-Verklammerung nicht bloß in der wissenschaftlichen Antizipation, sondern als rückläufiges

Begründungsverhältnis, im Hinblick auf die unreduzier-

te Erfahrung. Das bedeutet: " , a . den ganzen Inhalt der Erfahrung unter den Gesichtspunkt des Sollens" ° bringen„ Wesentlich für die Interpretation dieses Satzes ist die mit der Dimensionsänderung eintretende Modifikation des Erfahrungsgehalts; denn der Inhalt der Praxis ist nicht einfach derselbe wie der der Theorie. Die primäre Erfahrung gibt nur den S t o f f , nicht den Gehalt der Praxis ab. Die Theorie-Praxis-Verklammerung widerlegt einerseits den Gedanken einer absoluten Heterogenität von Theorie und Praxis und die damit verbundene Aufspaltung der Erfahrung in exaktes und "unexaktes" Wissen. Sie bedeutet andererseits auch nicht eine gegenseitige Heteronomie, Die Konkretion der zunächst rein formal deduzierten Freiheit muß nach Na99 loo lul 102 103

N a t u r p , P h i l o s o p h i e , Ihr Problem, S. 6 9 , Vgl. ib., S. 71. V g l . ib. ib., S. 11, ib.

116

Voraussetzungen der Ästhetik

torp "an jedem Punkt der Erfahrung" beschrieben werden können, Io4 und zwar durch den Begriff der "Riehtung"~ „ Dieser aus der Objekt-Subjekt-Korrelation entwickelte Begriff ist der Angelpunkt für eine inhaltliche Deduktion der Autonomien, der Objektionen,, Er ermöglicht die Durchführung des Gedankens der Konkretion der Idee, der den reinen Idealismus abstreift. Der Gedanke der Richtungsbestimmtheit des Logischen darf nicht als simple Umkehrung der Intentionalität mißverstanden werden. Er verbindet vielmehr den systematischen Subjekt-Objekt-Gedanken mit dem wirklichkeitstheoretischen Gedanken der Abwandlung der Modalitäten des Logischen. Die Richtungsbestimmtheit des Bewußtseins setzt bei Natorp nicht die Subjekt-Ob^ekt-Spaltung voraus, sondern stellt das korrelative Verhältnis selbst dar, und zwar in allen Modalitäten. Diese Theorie ermöglicht schließlich die subjektstheoretische Begründung der objektiven Kultur,, Die Systematisierung der Kantischen Vermögenslehre setzt hier mit der Einbeziehung des Begriffs des "Strebens" an "Das Streben schließt eine Art Bejahung ein, die gerade nicht auf den als 1wirklich vorgefundenen, erfahrenen Zustand {Lust oder Unlust 0 ^), sondern auf ein nicht als wirklich Gegebenes, nicht Erfahrenes sich richtet„ Auch ist es nicht der Fall, daß sie dieses {wie die repräsentative Vorstellung) bloß vergegenwärtigt, d „ h v in die Gegenwart gleichsam übersetzt und wie gegeben ansieht; sondern im bestimmtesten Bewußtsein seines Nichtgegebenseins fordert sie seine Gegenwart. Es ist somit eine Bejahung gerade gegen die empirische Wirklichkeit." 107 Die Richtungsbestimmtheit der Idee und des Strebens geht auf das Symbol des Eros in Platos Gastmahl und auf die dort entwikkelte Lehre von der Doxa als "Zwischen" zurück ° „ Die psychologische Stufung des Strebens in Trieb, Wille und Vernunft muß aus dem kategorialen Gedanken der Richtung entwickelt werden. Für die wissenschaftliche Erkenntnis bedeutet der Gedanke der prinzipiellen Richtungsbestimmtheit des Bewußtseins nicht nur 104 Das im B e g r i f f der R i c h t u n g a n g e s p r o c h e n e A b w a n d l u n g s v e r hältnis von S u b j e k t i v i t ä t und O b j e k t i v i t ä t in der Folge der O b j e k t s b e r e i c h e basiert auf dem V e r h ä l t n i s von E n d l i c h k e i t U n e n d l i c h k e i t , v g l « N a t o r p , P h i l o s o p h i e , Ihr Probleiü s S . 6 7 . 105 Vgl. diesen B e g r i f f bei N a t o r p in t a) E t h i k , b) Psychologie, c) Sozialpädagogik. 106 Zusatz des V f „ 107 N a t o r p , P h i l o s o p h i e , Ihr P r o b l e m , S. 77. 108 Siehe oben Kapitel I I . B . 4 .

Natorps Zweckbegriff

117

prozessualen Fortschritt, sondern den Einbezug der Subjektivität in diesen Entwicklungsgang, indem unter praktischem Aspekt die Unendlichkeit in der Richtungsbestimmtheit zur Positionalität umschlägt„ Praxis stellt sich auf den Standpunkt des Unendlichen, Die Entwicklung der Idee ist also kein rein theoretisches, rein methodisches Moment, sondern impliziert die praktische Rückgebundenheit des Wissens im Erkennen durch Antizipation und Anwendung, das heißt, durch die Konzentration des Wissens auf den praktischen Horizont in dessen idealem und realem Modus: Freiheit und Zweck. (d) Realisation der Idee im Zweck Das Problem der Vermittlung ins Endliche: Im Modus der Verwirklichung des Sollens realisiert sich die Io9 muß den deIdee der Aufgabe; das Unbedingte des "Endzwecks""" duktiven Ausgangspunkt des Zweckbegriffs markieren. Die Endlichkeit der praktischen Zwecksetzung bildet in Natorps Praktik ein besonderes Problem °, denn deren aristotelische Verkürzung schlägt jegliche Praxis wieder in den Bannkreis der Kausalität. Aus diesem Dilemma hilft zunächst die subjektstheoretische Zurückführung des Zwecks auf das Wollen heraus, allerdings nur, wenn dieses nicht im Sinne eines Vermögens hypostasiert wird, sondern auf das dem Moment der Richtung anhaftende Streben rückbezogen bleibt. Das Wollen gibt keine Erklärung für die idealistische Bedeutung des Zwecks; es weist lediglich die in der Praktik unumgängliche Reflexion auf das Subjekt des Handelns auf „ Der Zweck hat in der Ideenlehre Natorps eine vermittelnde Funktion: "Zwecksetzung scheint selbst Punktsetzung, also noch empirisch zu sein, Aber sie erfolgt doch unter dem Gesichtspunkt des Sollens; sie gerade führt das Sollen in die Erfahrung ein, sie leistet also eben die hier noch notwendige Vermittlung t indem sie den Gang, dem das Sollen die Richtung weist, als Gang von Punkt zu Punkt im Endlichen - im Unterschied aber vom bloßen Verstande vorgreifend, nicht nachfolgend, und damit schöpferisch, nicht bloß abbildend - beschreibt, muß sie 109 V g l . N a t o r p , P h i l o s o p h i e , Ihr 1 P r o b l e m , S. 76. 110 V g l . ib. , S. 66. 111 V g l . i b . , S. 7 4 ,

118

Voraussetzungen der Ästhetik

zugleich dem Gesetze des Sollens und dem der Erfahrung genügen» Sie vereint beide» indem sie nach dem Gesetz des Sollens den Endpunkt setzt, die Verbindungslinie aber vom je erreichten Punkte zu diesem gedachten Endpunkte hin nach den Gesetzen der Erfahrung konstruiert,, " Die Vermittlungsfunktion des Zwecks setzt voraus, daß zwischen Verschiedenem vermittelt werden muß: zwischen dem, was sich als primäre Erfahrung konstituiert, und dem, was von da aus Desiderat bleibt, der Idee„ Diese Spannung macht weitere Wirklich.keitsbestimmungen der Idee erforderlich 0 Welche Rolle spielt also der Zweck zwischen dem bloß Möglichen und der zu erstrebenden Wirklichkeit? Zwecksetzung, Praxis, kann nicht bloßes Erkennen sein. Sie erfolgt nicht auf die Frage: was ist, sondern auf die Frage: was soll sein? - Woher stammt diese Frage? Natorp beschreibt den Sinn der Zwecksetzung durch folgende Situation: "Mein Gedanke findet sich nicht bestimmt durch eine sichere Kenntnis oder wahrscheinliche Hypothese über einen ursachlichen Zusammenhang, gemäß welchem der Moment B durch den Moment A voraus (im kausalen Sinne) determiniert wäre, sondern es bleibt ihm ein gewisser Spielraum, er schwankt in gewissen Grenzen; was also, welcher einzusehende Grundt welches gerechtfertigte Verfahren des Denkens läßt ihn nicht in dieser Schwebe, sondern fixiert ihn, d.h. gibt ihm Einheit, so daß er nicht mehr so oder so aussagt, sondern nur so?"113 Praktisches Bewußtsein fordert damit eine besondere Methode des Denkens zur "Bestimmung des Endpunkts einer Veränderungsrei114 he"""" „ Den Zusammenhang dieses zugleich objektiven und subjektiven Problems formuliert Natorp darauf folgendermaßen: "Das Problem des Sollens 1st demnach präzise so zu stellen: Wodurch ist der Endpunkt mir bestimmt, was determiniert meine Gedanken, das und das soll sein, gerade sofern es mir nicht determiniert ist durch meine Kenntnis oder Präsumption eines ursachlichen Zusammenhangs .t . ? . „ . welche Art von Gesetzlichkeit, die im Inhalt des Gedachten ihren Grund hat, welche Methude des Denkens, von der sich im Denken selbst Rechenschaft geben läßt, bestimmt den Gedanken, das und das soll sein?"115 Im zweiten Teil dieses Zitats wird über den rein praktischen Aspekt hinaus wiederum zugleich die Verklammerung mit der Theo112 113 114· 115

ib., S. 75. Natorp, Sozialpäd., 2, A u f l , , S. 3 6 / 3 7 . i b . , S, 36. ib.

Natorps Zweckbegriff

119

rie formuliert; und zwar in der Wiederaufnahme des Rechtfertigungsanspruchs der theoretischen Setzung in der Praxis. Das bedeutet, da die Begr ndung der praktischen Setzung nur in ihrer theoretischen/ das hei t, in der kritischen Philosophie, also in der geltungs theoretischen Reflexion liegen kanneti$ahen 12 Grundbegriff aufrückt „ Der andere Aspekt des Arbeitsbegriffs bei Natorp ist ein objektstheoretischer und tritt in der frühen Geltungslehre stärker hervor 0 Kulturarbeit vollzieht sich unter Voraussetzung verschiedener geltungsdifferenter Leistungsbereiche des Bewußtseins „ Geltungsdifferenzierung aber bedeutet eine Abwandlung von verschiedenen "Außenwendungen" des Bewußtseins. Damit erweist sich das Geltungsverhältnis, das Verhältnis von 14 Subjekt und Objekt, als abwandlungsbestimmt im Hinblick auf den Gegensatz von Innen und Außen, Dieser enthält also eine eigentümliche methodische Bestimmung für die Konstitution der verschiedenen Objektsbereiche, die mir für eine Abgrenzung der Geltungslehre Natorps gegen eine reine Wertlehra wichtig zu sein scheint. Der Objektsbegriff Natorps läßt sich aufgrund seiner methodischen Bestimmtheit nicht gehaltstheoretisch reduzieren. Die Unterscheidung und der Fortschritt verschiedener Objektsetzungen beruht nicht lediglich auf unterschiedlichen Aspekten der Gehaltskonstitution, in der Terminologie von N. Hartmann, auf verschiedenen Objektionsarten u Deren Bestimmtheit re11 12 13 14

V g l . Natorp, Vorlesungen über P r a k t i s c h e Philosophie, 3 V g l . i b . , S, 4o4· und 4 ü 7 - t l 2 , V g l , H a t o r p , Philosophie, Ihr P r o b l e m , S, 28 und 15^. Der Gedanke der A b w a n d l u n g wird von N a t o r p u n t e r dem Terminus der "Dynamik" g e f a ß t e Als s y s t e m t h e o r e t i s c h e s G r u n d p r i n zip stellt N. Hartmann diesen Gedanken in den V o r d e r g r u n d , Vgl. Systembildung und Idealismus (1912). Hier verweist er besonders auf die Abwandlung der S u b j e k t - O b j e k t - K o r r e l a t i o n in den G e l t u n g s b e r e i c h e n und auf deren Bewegung vom Idealismus zum R e a l i s m u s , vgl , S, 65-76.

I4o

Ästhetische Grundkriterien Natorps

sultiert dagegen aus gegeneinander abgegrenzten Außenwendungen des Bewußtseins, die Natorp auch "Äußerungen" oder "Aussageweisen" nennt. Der Geltungsgedanke Natorps läßt sich nicht auf Intentionalität reduzieren. Meinen und Gesetzmäßigkeit des Meinens im Sinne der Bestimmtheit lassen sich Natorp zufolge nicht nur nicht voneinander trennen , sie erfüllen auch den Anspruch des Denkens, des Erkennens, gemeinsam nur dann, wenn das Bewußtsein das Gemeinte spezifisch "äußern" und dadurch intersubjektiv vermitteln kann „ Unter diesem Kriterium kann zürn Beispiel die Religion nicht als autonomer Kulturbereich gelten. Das religiöse Denken bildet zwar Glaubensinhalte, aber es kann diese nicht adäquat äußern, das heißt in der Geltungslehre, es kann nicht selbst Objekte setzen„ In Hinsicht ihrer objektiven Darstellung ist sie auf theoretische, praktische und insbesondere ästhetische Setzungen angewiesen. Die religiöse Symbolik muß durch die Kunst gereinigt werden. Das bedeutet, daß nach Natorps Auffassung die künstlerische Setzung die vorzüglich humane Art ist, das Unendliche, wie es dem subjektiven Erleben erscheint, darzustellen. Die autonomen Bewußtseinsleistungen zeichnen sich dadurch aus, daß sie nicht nur eigenwertige Inhaltsarten bilden, sondern diese auch adäquat zur Erscheinung bringen^ Für die Ästhetik ist es in der frühen Lehre sogar so, daß sie gerade als Erscheinungsweise der Idee autonom ist, als Inhaltsbereich dagegen abkünftig, man kann sagen, unselbständig; denn ihr Sachgrund ist nicht in gleicher Weise wie Sein und Sollen evident. Das Ästhetische also ist primär eine Aussageweise, Das gilt für die frühe Systematik im objektstheoretischen und für die Spätlehre im seinstheoretischen Sinne, indem sich im Poietischen das Absolute, das Letzt-Individuale, unter dem Wert des Kalon positiv ausspricht B Die spekulative Bestimmung, daß das Absolute sich im Sein ausspricht, scheint mir in der Bewußtseinstheorie ursprünglich angelegt zu sein» Das würde bedeuten, 15 V g l . h i e r z u N a t o r p s A b l e h n u n g e i n e r T r e n n u n g z w i s c h e n Inhalt und G e g e n s t a n d und damit der p h ä n o r a e n o l o g i s c h e n M e t h o de H u s s e r l s , i n : N a t o r p ^ Allgemeine Psychologie (1912), S 0 llo und 2 7 8 - 2 8 7 . 16 Die A b l ö s b a r k e i t g e i s t i g e r Ä u ß e r u n g e n wird später bei N, H a r t m a n n im Begriff der "Objektivation" material, struktural u n d v o r - g e l t u n g s t h e o r e t i s c h b e g r ü n d e t .

Interesse

141

daß diese ein reflexives Grundmoment enthält, das die objektstheoretisch durchgeführte Geltungslehre nicht voll zur Entfaltung bringen konnte„ Eine vergleichbare Doppelgesichtigkeit zeigt auch ein dritter Grundzug des Setzungs-Begriffs bei Natorp, der Terminus "Interesse" . Er ist zunächst nicht spezifisch praktisch gemeint , sondern steht im Zusammenhang mit dem Erkenntnisbegriff, der für alle drei Erkenntnisarten gültig ist. Die Erkenntnis "besondert sich" unter verschiedenen Grundinteressen in die Richtung des Theoretischen, in die Richtung des Praktischen und in die Richtung des Ästhetischen, Der Richtungsbegriff darf ebenfalls nicht auf Aspekthaftigkeit reduziert werden; denn er enthält ein Vollzugs" und ein Zt^imoment. Das Vollzugsmoment wird in Natorps Psychologie durch das subjektstheoretische Konstitutionsmoment des Strebens fundiert« Das Zielmoment wird ideentheoretisch formuliert, indem die verschiedenen Richtungen durch Sein, Sollen und Fiktion bezeichnet sind„ Unter dem Gegensatz von Innen und Außen begründen die verschiedenen Interessen des Bewußtseins im Fortschreiten vom bloßen "Außen" über das "Veräußern" zur "Entäußerung" verschiedene Geltungsbereiche der Idee« Methodisch wird dieser Interessenwandel des Bewußtseins unter dem Begriff der Richtungsänderung greifbar. Faßt man die Übergänge von einem Bewußtseinsbereich zum anderen einmal unter diesem Aspekt, nämlich der zweimal abgelenkten Richtung, so stößt man meines Erachtens auf einen Ansatzpunkt für die zirkuläre Aufbaustruktur der Grundkategorien, also für das Dreiphasengesetz 18 Die Kultur als Einheitsbegriff bestimmter Interessen des Bewußtseins - an (1) der Konstitution des Anderen als Anderes,

17 So erst in der S p ä t p h i l o s o p h i e , v g l . N a t o r p , V o r l e s u n g e n über Praktische P h i l o s o p h i e , S . 2 5 2 . 18 Der T e r m i n u s R i c h t u n g s ä n d e r u n g w i r d von N a t o r p z u m e i s t zur Kennzeichnung der "Subjektivierung" v e r w e n d e t , wobei tatsächlich e i n e g e n a u e U m k e h r u n g gemeint i s t « Es zeigt sich daran n u c h d i e B e f a n g e n h e i t N a t o r p s im korrelativen D e n k e n . S y s t e m a t i s c h gesehen aber, l i e g e n Ä n d e r u n g e n d e r G r u n d r i c h t u n g d e r E r k e n n t n i s b e r e i t s in d e n G e l t u n g s b e r e i c h e n v o r ä

142

Ästhetische Grundkriterien Natorps

als Sein, als Natur, ( 2 ) am Entwurf des Subjekts innerhalb der Natur, als Zweck, als "Sittenwelt" und (3) an seinem Produkt als solchem, als Gestaltung - gliedert sich demgemäß in die Bereiche der Wissenschaft, der Praxis und der Kunst„ Im Begriff des Interesses bestimmt sich der Natorpsche Qbjektivationsbegriff zu unterschiedenen und gleichrangig verbindlichen Hinsichten oder Aussageweisen des Bewußtseins„ Die "Reinheit" des jeweiligen Bewußtseinsinteresses entspringt einer je eigenen Gültigkeit des Inhalts, genügt einem unbedingten Anspruch der Wahrheit nach Maßgabe einer je eigenen Gesetzlichkeit oder Idee: die theoretische Erkenntnis ist gebunden an die Idee der subjektswna&ftäng'iif'en Wahrheit,, das Wollen ist gebunden an die -intersubjektive Idee des unbedingten Sollens, das künstlerische Gestalten gewinnt seinen Eigenwert in Anspruch auf schöne Gestaltung. Religion und Psychologie lassen sich demgegenüber nicht auf ein bestimmtes eigenes Interesse am Objekt, auf selbständige Aussageweisen, zurückführen. Sie werden ausschließlich subjektstheoretisch thematisiert 19 . Der Begriff des Interesses faßt den Idealismus Natorps bewußtseinstheoretisch, das bedeutet zunächst: gegenstandstheoretisch. Der spekulative Gedanke der Ableitbarkeit führt aber auf dem "Umweg" über den Objektsbegriff und dessen Differenzierung zugleich zur weiteren Ausformung des Subjektsbegriffs, so daß man von einem Objektstheoretischen Ansatz und einer Subjektstheoretischen Durchführung des differenzierten Geltungsgedankens sprechen kann. Das heißt, daß die Folge der Gesetzlichkeiten den Objektsbegriff derart auseinanderlegt, daß in ihr der Begriff des Subjekts sich zum Begriff des Selbst bereichert, ohne dabei im objektiven Geltungsanspruch nachzugeben. Objektivitäten stehen nicht "ontologisch" nebeneinander„ Sie sind zugleich sich aufbauende Ausdruckshinsichten des Bewußtseins. Der Begriff der Subjektivierung kann also schon geltungstheoretisch fundiert werden, ohne daß vorher eine "Richtungsanderung" im philosophisch-psycholo19 A k t u e l l wird ein überdisziplinär-er B e g r i f f des Interesses h e u t e in H a b e r m a s ' B e g r i f f des "erkenntnisleitenden I n t e r e s s e s " , der das T h e o r i e - P r a x i s - V e r h ä l t n i s in den W i s s e n s c h a f ten m e i n t , also t r a n s z e n d e n t a l p h i l o s o p h i s c h v e r w e n d e t w i r d , nicht unmittelbar- p r a k t i s c h .

Das Schone als Grundgesetzlichkeit

143

gisehen Sinne einsetzt„ Die Ästhetik Natorps (wenn wir von einer solchen sprechen wollen) ist darum eine systematische Ästhetik, weil das ästhetische Interesse hier nur auf dem Hintergrund der gesamten Bewußtseinslehre Natorps bestimmt werden kann c Der Sachgrund der Kunst, auf den das ästhetische Interesse bezogen sein muß, erscheint erst nach dem Durchgang des an sich selbst getäuschten reinen Bewußtseins durch seine theoretisch-praktische Erscheinungsweise. Ich nannte diesen sich erst bildenden Sachgrund "Erfahrung"„ Den langen Weg, den das Bewußtsein als ästhetisches bereits zurückgelegt hat/ müssen demnach alle ästhetischen Kategorien widerspiegelno Wie sie sich als ästhetische zu einem äußerungsmächtigen Interesse zusammenfinden, das ist die Frage nach der Realisierbarkeit der ästhetischen Idee, also der Idee als Fiktion.

2. Zum Problem des Schönen Natorp nennt seine Ästhetik auch "Philosophie der Kunst" °. Ist damit nicht von vornherein, eben aufgrund der Bewußtseinslehre als Objektivationstheorie, das Gebiet des Ästhetischen eingeschränkt 21? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir wieder auf Natorps "Ideenlehre" zurückgreifen und prüfen, welche grundsystematischen Wurzeln das Reich der Kunst rechtfertigen. In dieser an Plato geschulten Grundlegungslehre Natorps stoßen wir nun auch auf denjenigen B e g r i f f , der seit Plato den Gegenstand der Ästhetik umfassend bezeichnet, den Begriff des "Schö-

nen". Auf den Begriff des "Schönen" kommt Natorp in seiner Auslegung des Platonischen Gastmahls zu sprechen, und zwar in der frühen Fassung von "Platos Ideenlehre", also in der Zeit, als er noch Bewußtseinsphilosoph ist . Die Stelle sei kurz re20 N a t o r p , Philosophie, Ihr Problem, S. 95 21 V g l » Hariülf Oberer, Vom Problem des o b j e k t i v i e r t e n G e i s t e s , S. 85 t 22 Vgl. H a t o r p , Platos Ideenlehre, S» 174-179; auch S. 51 mit Bezug auf Platos Gorgias.

144

Ästhetische Grundkriterien Natorps

feriert: Das Schöne wird in Platos Gastmahl als Gegenstand der Philosophie Thema. Diese, im Bild des Eros, hat nicht ihren Gegenstand, sie erringt ihn sich erst auf einem Weg, der als Durchgang über vier verschiedene Stufen, induktiv, gekennzeichnet ist: er reicht von den in der Erfahrung gegebenen "schönen Gegenständen" bis zu dem "Schönen selbst" als höchstem Wissensobjekt. Die philosophische Erkenntnis richtet sich zuerst auf das Physische, dann auf das Psychische und schließlich auf die Wissenschaften, um in einem letzten Schritt nach dem "Einheitsgrund", der Idee des Schönen selbst, zu fragen. Das Schöne meint nun nach Natorps Interpretation durchweg die "Gesetzesordnung": "Vertritt aber das Schöne durchweg das Gesetzliche, so bedeutet das eine Schöne notwendig das Gesetz der Gesetzlichkeit selbst*"23 Die Frage "Was ist

das an sich Schöne?" ist

da-

mit bewußtseinstheoretisch beantwortet: "Es kann nach allen diesen Bestimmungen nur sein: nicht eine Idee, aber die Idee, nicht ein Gesetz, sondern das Gesetz, das Gesetz der Gesetzlichkeit selbst, welches allen besonderen Gesetzlichkeiten besonderer Wissenschaften unveränderlich zu Grunde liegt," Also ist es das ?

. Die Bestimmung des Schönen an sich kollidiert aber

an dieser Stelle mit der des Guten bei Plato. Natorp lost

die-

sen Widerspruch, indem er doch Momente der Idee für das Schöne aussondert; "Das Schöne hebt am Gesetzlichen das Befriedigende des Einklangs, der Einstimmigkeit, des Maßes, der Wohlordnung, der gegliederten, der harmonischen Einheit, des 'Kosmos' hervor; es ist der eigentliche Ausdruck des Formalen als solchen und im weitesten Sinne«, Das Gute dagegen betont mehr den Sinn der Erhaltung r des identischen Bestandesf der Feststellung im Ewigen. Es betont also mehr die fundamentale Einheit selbst, in der alles Mannigfaltige befaßt ist und erhalten bleibt, das Schöne mehr die Beziehung der Einheit auf das Mannigfaltige, und wie sie in ihm gegenseitige Zusammenstimmung und damit Befriedigung hervorbringt„"24 Die Unterscheidung der Idee des Schönen von der des Guten im Begriff des Beziehens selbst findet erst beim späten Natorp seine konsequente Interpretation in der Poiesislehre, als 25 schöpferische Aktivität u Man muß diesen Weg Natorps berück23 ib. , S . 1 7 6 , 24 ib., S. 177/78. 25 ib., S. 4 9 - 4 9 5 ,

Das Schöne als Form

145

sichtigen!, um den Unterschied der Momente der Idee klar zu begreifen,, Als bewußtseinstheoretische Interpretation wird diese Auslegung Platos noch besonders gekennzeichnet in Natorps Abwehr des Aristotelischen Mißverständnisses, Plato sei Metaphysiker« Das "An sich" im Begriff der Idee muß noch erklärt werden. Zum metaphysischen Mißverständnis schreibt Natorp darum: "Das An-sich und Für-sich-Sein der Idee ( ) , die einzigen Ausdrücke, die etwa dazu verleiten konnten, kennen wir längst als schlichte Bezeichnung des Gegensatzes zur bloß beziehentlichen, daher mit dem Wechsel der Beziehung verf\ /änderlichen Setzung, oder der Setzung schlechthin." Das an sich Schöne ist damit nicht Etwas, sondern Pr-inz-ip, und zwar erzeugendes Prinzip: " . , . sie wird selbsttätig hervorgebracht in jener beständigen Selbsterneuerung, in der überhaupt das Bewußtsein nur lebt. Wir erkennen darin, nicht die Aufhebung, aber die letzte Vertiefung und Reinigung des Motivs der Wiedererinnerung. O . e Das letzte Erzeugende freilich/ das reine Gesetz 'selbst', kann nicht mehr ein Erzeugnis des Gedankens genannt werden. Aber aller und jeder bestimmte Gedanke, der ganze Inhalt der Wissenschaften und selbst der gemeinen Empirie ist erzeugt und nicht vorgefunden«"27 2o Diese bewußtseinsimmanente Deutung des "an sich" begründet für Natorp das apriori der Idee als transzendentales und nicht metaphysisches. Inwiefern das Schöne Gegenstand der Philosophie ist, macht der Rückgang auf Platos Phädrus 29" deutlich, in dem das Schöne nicht induktiv, sondern deduktiv entwickelt wird s Hier ist das Schöne "Gleichnis", und in dieser Funktion verliert sich seine Bestimmung nicht in die der Idee überhaupt, sondern ihre Momente treten deutlicher hervor. Wiederum geht es in diesem Platonischen Dialog um die Frage, was Philosophie sei. Das Schöne kommt gleichnishaft bei Plato ins Spiel, sofern die Frage nach der Form, nicht nach dem Stoff der Philosophie gestellt wird. "In jedem Fall aber bleibt bestehen,, daß die Liebe als Metapher des philosophischen Triebes und zwar der Gemeinschaft in diesem 26 27 28 29

ib., ib., ib., ib.,

S. 178. S. 179. S, 179. S. 5 8 / 5 9 ,

146

Ästhetische Grundkriterien Natorps

Triebe in genauer logischer Beziehung gedacht ist zum Schönen der Gestalt als Metapher der Idee und zwar in Bedeutung der Form." ° Die Bestimmung der Schönheit als Form erscheint Natorp also als das grundlegende Moment: " „ . o die Idee aber nach einer bestimmten Seite, der der Form, der 'Gestalt 1 , was ja auch die nächste, wiewohl nicht erschöpfende Bedeutung der 'Idee 1 ist. Es bedeutet die Einheit des Mannigfaltigen, zuletzt der geistigen, nur abbildlich auch der sinnlichen Anschauung, so daß die Schönheit der sinnlichen Gestalt zum bloßen Gleichnis der ewigen Gestalt, der Idee als Form, herabgesetzt wird,, "31 Im Vergleich zum Guten ist Natorp dann allerdings doch auf das Moment der sinnlichen Anschauung angewiesen: aber das ewige Gute (Gerechtigkeit, Besonnenheit, praktische Vernunft) hat kein hell erkennbares irdisches Gleichnis g während das Schöne, d.h. nach unserer Deutung das Formale den· inneren Einstimmigkeit, sein sinnliches Gleichnis dem hellsten unserer Sinne, dem Gesicht, darbietet in der schönen körperlichen Gestalte"32 In der Bedeutung des Schönen als Gleichnis der Idee, und zwar deren formeller Seite, kommt ein Moment in den Blick, das vorerst auch von Natorp nur recht problematisch gefaßt werden kann: das Sinnliche in der Anschauung. Natorp stellt fest, daß an dieser Stelle jedenfalls der sonst im Phädrus betonte Abstand zwischen Idee und Erscheinung nicht durchgeführt ist, daß das Verhältnis aber auch im "Schönen" von Plato nicht geklärt ist. Natorp selbst möchte wenigstens einen Erklärungsversuch machen: "Zu einem klaren Verständnis würde man gelangen, wenn man voraussetzte, daß das Objekt der Vernunft/ das Unbedingte, die unbedingte Einheit, als das letzte Ziel des reinen Denkens, freilich ganz unerreichbar über allem Sinnlichen liegt, aber die Methode der Vereinheitlichung, der Beziehung des Mannigfaltigen auf eine Einheit, und damit der Fortschritt vom Bedingten zu immer radikaleren Bedingungen, auch im Sinnlichen möglich ist, namentlich dem Triebe der künstlerischen Phantasie, der auch ein Trieb der Vereinheitlichung des Mannigfaltigen ist, von Haus aus zu Grunde liegt."33 Natorp sieht offenbar keine Schwierigkeit darin, das Schöne als besondere Seite der Idee, das Formelle der fundamentalen Einheit, anzuerkennen. Im Kantischen Begriff der "Einheit des ManSo N a t o r p , Platos Ideenlehre, S. 59. 31 ib. , S. 5 8 j 32 ib. 33 ib., S. 5 8 / 5 9 .

Natorps transzendentallogische

Reflexion

147

nigfaltigen" als synthetischer Bewußtseinsleistung holt er die Platonischen Ideen ins Denkmögliche zurück. Dennoch bleibt zwi34 sehen dem Begriff der "Schau"" und dem Begriff der sinnlichen "Anschauung"„ die beide das Schöne bei Plato charakterisieren, eine Kluft zu überwinden, die für Natorp auf jeden Fall nicht ontologisch und auch nicht psychologisch aufgefüllt werden kann. Das bedeutet, daß für Natorp das Grundmoment des Sinnlichen oder des Materialen nicht konstitutiv für die ästhetische Leistung werden kann. Im Begriff der "Anschauung", wenn er für das ästhetische Erleben entscheidend ist, muß sich vielmehr die Idee der Einheit des Mannigfaltigen auf eine besondere Weise verwirklichen gegenüber der theoretischen und der praktischen Leistung. Der Begriff des "Schönen" fehlt bei Natorp in den Partien, in denen er ausdrücklich auf die Kunst zu sprechen kommt. Die Begriffe der "Idee" und der "Anschauung" sind demgegenüber dort grundlegend,, Ausschlaggebend dafür ist, daß das Grundmoment der Form an der Idee in der Ästhetik konstitutiv wird. Wie dieses Grundmoment, das hier der Ideenlehre selbst entnommen wird, mit der Deduktion des Ästhetischen aus der Idee als Fiktion in Zusammenhang zu bringen ist/ muß der folgende analytische Teil entwickeln, in dem es um die Möglichkeit der Realisierung der Idee als ästhetischer geht. Das Schöne fällt möglicherweise darum nicht rait dem Ästhetischen zusammen, weil sein Grund der Idee nach mit dem Wahren und dem Guten eins ist, die Realität aber gerade diese nur gleichnishaft widerspiegeln kann,,

3. Isolation und Dialektik Bevor die ästhetischen Grundmomente, wie Natorp sie ableitet, dargestellt und diskutiert werden können, ist es nötig, auf ihren kategor-Calen Charakter und damit auf Natorps Ableitungsmethode zurückzukommen. Diese muß sich in der Ästhetik bewähren, auch wenn sie lediglich für die Logik als Theoretik von Natorp durchgeführt ist. Philosophische Prinzipienerkenntnis kommt auf 34 ib., S. 58, 35 Vgl, H. Brelage, Fundamentalanalyse, S. 41f. und S. 31.

148

Ästhetische Grundkriterien Natorps

keinem Gegenstandsfeld ohne Begründung eben dieser ihrer Prinzipienerkenntnis aus. In der Ästhetik ist die Lage gerade für den neukantianischen, wissenschaftsorientierten Ansatz darum schwierig, weil hier zwischen den Gegenstand und die philosophische Theorie kein vermittelndes "Faktum", das heißt, keine spezielle Wissenschaft als Sachlehre auftritt. Zumindest wurden die verschiedenen Kunstwissenschaften nicht als solche angesehen 36 . Der Grund für das ins Freie Schweben einer Ästhetik bei Natorp sowie bei Cohen kann nur in deren Reduktion des Geltungsgedankens auf "reine" Bewußtseins^efcaZte gesucht werden. Was als vermittelnde Sachlehre hätte anerkannt werden können/ hätte nur eine solche Disziplin sein können, die in ihrer paradigmatischen Gesetzlichkeit der Mathematik gleichkäme. Es wäre zu fragen, ob bei Natorp nicht schließlich für das Gebiet der Praxis das Soziale im Begriff der "Menschheit" diese Funktion einnimmt. Gesagt ist es so bei ihm nicht» Erwägt wird von Natorp, anstelle des Rechts bei Cohen die "Geschichte" als Paradigma einer eigentümlichen Kategorialität, des Regulativen, einzusetzen „ Man kann fragen, warum dieser Gedanke von Natorp nicht weiter verfolgt wird, warum der bloß spekulative Weg einer Kontinuierung des Grundlegungsfeldes aus sich allein einge38 schlagen wird » Es wird weiter zu fragen sein, ob nicht wenigstens für eine gewisse Kontrolle philosophischer Begriffsbildung die entsprechenden Sachlehren aufzukommen hätten. Das geht über Natorps eigene Problemstellung hinaus* Hier bleibt nur zu fragen: auf welchem Wege ermittelt Natorp die ästhetischen Fundamentalkategorien? Brelage schreibt zum "kritizistischen Grundsatz" erläuternd: "Die Aufgabe der transzendental-logischen Reflexion gilt sowohl für die theoretische Philosophie ('Theoretik'} als auch für die Ethik und Ästhetik„ Eine philosophische Gegenstandserkenntnis wird hingegen strikt abgelehnt." Und in einer Anmerkung dazu führt er weiter aus: "Die Mediatisierung, die auch die Ethik durch ihren Bezug auf das 'Faktum 1 einer Wis36 Vgl. Natorp, Philosophische S y s t e m a t i k , S. 291. 37 Vgl. Natorp, Recht und Sittlichkeit (1913), S. 27-31. 38 Der Versuch einer grundkategor-ialen B e g r ü n d u n g des Geschichtlichen liegt in der "Funktionslogik" der Spätphilosophie Natorps vor* Siehe u n t e n , I I I , C . 3 .

Natorps transzendentallogische

Reflexion

149

senschaft (der Rechtswissenschaft) bei H. Cohen erfährt, darf hier außer acht bleiben. Natorp - und später Cassirer - sind hierin Cohen nicht gefolgt und haben die ferneren, nichttheoretischen Disziplinen der Philosophie als Reflexionen auf die Gesetze der atheoretischen Leistungen selbst verstanden. Aber auch Cohen führte seinen Grundsatz der Korrelation von Philosophie und wissenschaftlichem Faktum in der Ästhetik nicht mehr durch." 39 Das Problem einer Begründung der Prinzipienerkenntnis, jenseits von Induktion und Deduktion, erwägt Brelage mit Bezug auf die Fundamentalkategorien 4·'" Dort stellt er bei Natorp, ausgehend von dem Grundsatz "durchgängiger Wechselbezüglichkeit", zwei Methoden der Prinzipienbegründung fest; (a) den Weg der Bewährung von Prinzipien aufgrund von Isjlationr "die dem Platonischen Verfahren der Hypothesis entspricht"; (b) den systematischen Weg des dialektischen Nachweises, eben41 falls nach Platonischem Vorbild Wie beide Methoden zueinander stehen, wird bei Brelage nicht weiter verfolgt^ Extrapolierend ist zu sagen, daß die Methode der Prinzipienisolation oder der Hypothesis die Stellung einer transzendentalen Methode einnimmt, der eine Dialektik auf der Ebene der Grundbegriffe selbst folgt a Eine exemplarische Durchführung dieses Isolationsverfahrens

verbunden mit einer durch-

laufenden Dialektik dürfte bei Natorp die Kategorie der Indi42 vidualität gefunden haben „ Eine vom Gegenstandsfeld unabhängige Methodenlehre wird bei Natorp nicht entwickelt. Methodische Überlegungen sind bei ihm immer schon geltungstheoretische Ableitungsversuche. Rekonstruktiv könnte man dennoch unterscheiden zwischen solchen Kategorienentwicklungen, die in problematischem Stil die Übergänge verschiedener Inhaltskonstitutionen im Sinne der Abwandlung versuchen (Recht und Sittlichkeit), und solchen Kategorienentwicklungen, die gebietsbezogen den Aufbau von grundlegenden Kategorienverbänden quasi -immanent konstruie39 B r e l a g e , F u n d a m e n t a l a n a l y s e f S, 31. 40 i b . , S. 4 1 / 4 2 , 41 Vgl. hierzu bei N a t o r p : Philosophie und P ä d a g o g i k , S. 17o/ 71, u n d : Platos I d e e n l e h r e , 2. A u f l 0 > ü b e r P h ä d r u s S. 63-89 und über P a r m e n i d e s S. 2 4 3 - 2 7 8 . 42 V g l , H a t o r p : I n d i v i d u a l i t ä t und G e m e i n s c h a f t , und die Bed e u t u n g dieser Kategorie im Spätwerk i s i e h e u n t e n , K a p i t e l III B . 3 .

15o

Ästhetische Grundier i terien Natorps

ren (Aufbau der logischen Kategorien und der ethischen Werte). Für die Ästhetik Natorps sind beide Typen der Kategorienentwicklung nicht eigentlich durchgeführt, also weder die Frage des grundsystematischen Anschlusses noch die ästhetische Grundgesetzlichkeit finden eine dem Theoretischen und dem Praktischen entsprechende Behandlung. Der Status/ in dem wir ästhetische Grundbegriffe bei Natorp vorfinden, ist der von Kriterien. Diese vertreten lediglich die logische Funktion der notwendigen Bedingung zur Begründung des "Eigenwerts" des Ästhetischen im einheitlichen BewußtseinsZusammenhang. Nicht hinreichend sind diese Kriterien schon darum, weil sie von sich aus keinerlei Möglichkeit geben, das Gebiet des Ästhetischen selbst zu differenzieren. Bei der Abkünftigkeit des Ästhetischen in der Natorpschen Gebietsfolge wird dennoch das Methodengefüge von Isolation und Dialektik tragend/ und zwar unter dem Aspekt der Abwandlung. Das bedeutet beispielsweise eine Fragestellung wie diese: wenn Erkenntnis dem Bewußtsein wesentlich ist, wie konstituiert sie sich als ästhetische Erkenntnis? Oder: wenn das Ästhetische tatsächlich ein autonomer Bewußtseinsbereich ist, muß es dann nicht immer auch ein Urteilen implizieren? Es ist bezeichnend, daß bei dieser philosophischen Methode die spezifischen ästhetischen Leistungshinsichten, zunächst jedenfalls, nur abkünftig formuliert werden können, das heißt, nur fundamentalkategorial mit dem Index 'ästhetisch 1 , wie: ästhetische Erkenntnis, ästhetischer Gegenstand/ ästhetische Methode, ästhetisch Allgemeines etc». Man muß sich fragen, ob hier nicht das qualitativ Neue des Ästhetischen terminologisch unterschlagen wird. Jedenfalls fordert diese Methode der Kategorienfindung bei Natorp eine zusätzliche Ubersetzungsarbeit, damit die gefundenen Kategorien für das ästhetische Gebiet nicht unverständlich bleiben. Natorp selbst geht es nicht um eine Über die Fundamentaltheorie hinausreichende Verifizierung seiner Begriffe, weder um deren gegenstandsbezogene Kontrolle, noch um deren sprachliche Eindeutigkeit,, Was für ihn zählt, ist einzig der kategoriale Anschluß des ästhetischen Bereichs an die vorgängigen autonomen Bewußt43 seinsfelder. Dementsprechend geht es ihm um : ^3 Vgl. N a t o r p , Philosophie, Ihr Problem, S, 95-lo5.

Dialektik des Ästhetischen

151

(a) die Selbständigkeit des Ästhetischen (b) den Objektivitäts- und Individualitätscharakter (c) die Überwindung von Sein und Sollen und (d) die psychologische Charakteristik des Ästhetischen. Die Kriterien, die aus diesen Interessen Natorps am Ästhetischen entstehen, lassen sich wie folgt zusammenstellen: (a) Erkenntnis, S t o f f , Methode, Ziel; (b) Allgemeinheit, Inhalt, Idee, Rationalitat; (c) Wahrheit, Freiheit, Anschauung, Darstellung; (d) Haltung, Selbstgefühl, Gestaltung, Bewußtseinsgenese, Kulturbewußtsein. Dieser Katalog von Grundkriterien kann in seiner Abstraktion sofort im Sinne der Normgebung aus außerästhetischen Forderungen mißverstanden werden. Das Mißverständnis wäre unvermeidlich, würde Natorp bei einer Isolation von Begriffen stehenbleiben. Allerdings führt bereits die Aufeinanderfolge dieser Kriterien auf eine Spezifikation, die erst durch die Anwendung der dialektischen Methode deutlich wird. Diese kann bei einer derart abrißhaften Darstellung bzw. Ableitung, wie sie bei Natorp vorliegt, nicht unmittelbar einleuchten. Es wird darum eine wesentliche Aufgabe dieser Arbeit sein, die dialektische Spezifizierung der Kriterien für den ästhetischen Bereich herauszukristallisieren „ Das ist nur möglich durch eine Rückführung und Ableitung der ästhetischen Begriffe aus der Bewußtseinslehre und durch die Hervorhebung ihrer inhaltliahen Eigenbestimmtheit im Bereich des Ästhetischen. Die Voraussetzungen, die in der Ideenlehre Natorps gegeben sind, führten bereits auf eine Dialektik eigener Art f ü r s Ästhetische: auf den formalen Anspruch, der im Begriff der Idee des Schönen gesetzt ist, und auf den gehaltlichen Anspruch, der sich aus der Mangelbestimmtheit der Idee in den Bereichen des theoretischen und des praktischen Bewußtseins ergab. Der Begriff der "Schönheit" und der Begriff der "Fiktion" sind nicht ohne weiteres kommensurabel. Wie sie im Ästhetischen verwirklicht werden sollen, müßten die ästhetischen Kategorien zeigen^ Anders gesagt, es steht zu vermuten, daß die ästhetischen Kategorien, nun nicht als Kriterien, sondern als

152

Ästhetische Grundkriterien Natorps

Grundmomente, in ihrer Besonderheit und inhaltlichen Unverwechselbarkeit eben jene Dialektik von Stoff und Form widerspiegeln. Und noch ein weiteres läßt sich bereits hier vermuten: daß aufgrund der Dialektik, aufgrund der wirklichen Unlösbarkeit des Abstands zwischen Idee und Erfahrung, das Bewußtsein weitere Zuwendungsbereiche kennt: den gesamten subjektiven Bereich des religiösen und des konkreten Erlebens. Die Darstellung der ästhetischen Grundkategorien im Werk Natorps soll nun so angelegt werden, daß sie (a) Natorps Methode der Isolation und Dialektik bewußt macht; (b) die Kategorien in ihrer spezifischen Notwendigkeit nachweist; (c) den subjektstheuretisahen Überschuß nicht unterschlägt. zu a ) : Für die Gliederung dieses Kapitels ergibt sich daraus, daß die ästhetischen Kategorien aus Prinzipien der Systematik Natorps verständlich zu machen sind* Solche Prinzipien sind: I. Zusammenhang und Autonomie II o Gegenständlichkeit III„ Ableitbarkeit IV. Korrelativität (Implikation) V. Methode {Subjektivierung) VI. Wechselbezüglichkeit (Gemeinschaft) zu b ) : Für die Ausarbeitung der einzelnen Kategorien ergibt sich, daß über Natorps Ästhetik hinaus die neuere Ästhetik zur Problemaufschlüsselung zu berücksichtigen ist. Erst von ihr aus kann Natorps besondere Position erhellt werden. zu c ) : Die Subjekt theoretischen Implikationen werden zunächst aus der Orientierung an Natorps ästhetischer Kriterienfolge gewonnen. Das bedeutet, daß die systematischen Prinzipien in ihrer Abfolge bei Natorp den Subjektsgedanken selbst zutage fördern, ohne daß dieser systematische Vorgang von Natorp selbst explizit gemacht wird. Zentral - sowohl als Beleg für Natorps subjektstheoretische Problemsicht, als auch für seine Unterbewertung einer Subjektstheorie für die Objektsbereiche - ist Natorps Terminus der "Subjektivierung", der sowohl methodisch als auch substantiell verstanden werden muß. Die folgende Analyse will

Dialektik des Ästhetischen

153

vor allem den vermittelnden Charakter des ästhetischen Subjektsbegriffs bei Natorp, das heißt, seine Stellung zwischen Erfahrung und Erleben, in den Vordergrund stellen.

Bo KATEGORIALE NOTWENDIGKEIT DES ÄSTHETISCHEN

1. Der Eigenwert des Kunstschaffens Kunst ist notwendig, wenn sie für die Kultur notwendig ist 44 Das ist der unhintergehbare geltungstheoretische Rahmen, innerhalb dessen bei Natorp das Ästhetische diskutabel wird 0 Der geltungstheoretische Ansatz nötigt Natorp zu einer zunächst objektstheoretischen Begründung des Ästhetischen mit Bezug auf die Gültigkeit des ästhetischen Gegenstandes als Kunstwerk,, Die Wertfrage des Ästhetischen orientiert sich also nicht am ästhetischen Subjekt, wie man von einer Bewußtseinslehre erwarten könnte„ Darum deckt sich die ästhetische Reflexivität auch nicht mit einem unvermittelten "Für-uns". Der ästhetische Wertanspruch muß vielmehr strenge Richtungsbestimmtheit intendieren, entsprechend dem theoretischen und dem ethischen. Diese abstrakte und rein analog gewonnene Forderung an das ästhetische Wertgebiet ist es nun zugleich, an der Natorp weiterzuarbeiten versucht. Cohen fand durchaus ein Analogon zu einem Substrat, das Richtungsbestimmtheit verbürgt: bei ihm tritt an einen dem Sein und dem Sollen vergleichbaren Platz die "Menschheit". Natorp verwirft das Cohensche Analogieprinzip für die Systemtheorie. Vom Eigenwert des Ästhetischen ist bei ihm überhaupt nur im Modus der Frage die Rede, innerhalb einer Wenn-dann-Beziehung: wenn das Ästhetische einen Eigenwert hat, dann muß es gewissen Kriterien, nämlich solchen, die überhaupt einen Eigenwert begründen, nicht nur per analogiam genügen, sondern auch abgeleiteterweise, das heißt: der Saehgrund des Ästhetischen muß ableitbar und systematisch kontrollierbar sein 0 Ivo Frenzels Urteil: "Formalistisch und zugleich normativ ist die neu-kantische Ästhetik (H. Cohen, J. Cohn; 'der ästhetische Wert hat Forderungscharak-

Vgl. N a t o r p , Philosophie, Ihr Problem, S. 96

Ästhetische Autonomie

155

t e r 1 ) " , muß im Hinblick auf Natorp noch überprüft werden. Um den eigentümlichen ästhetischen Ansatz bei Natorp - gerade gegenüber der Ästhetik Cohens - herauszuarbeiten, möchte ich zunächst von einem Satz Natorps ausgehen und ihn zu interpretieren versuchen: "Ästhetik ist nicht bloß Psychologie des Kunsterlebnisses, sondern Gesetzeslehre der Kunst selbst, gleichsam die Logik des objektiven Kunstwerks. Denn dieses Werk schließt eine Erkenntnis in sich, die eigenen Gesetzen untersteht. Kommt aber ein solcher reiner Erkenntniswert, ja in einem erweiterten Sinne 'logischer' Wert dem Kunstwerk zu, so muß es auch möglich sein, diesen irgendwie zu Begriff zu bringen,,"^ (a) Kunst als Erkenntnisform Der Eigenwert des Ästhetischen ist damit noch nicht definiert, aber er ist radikal der psychologistischen Deutung entrückt, der auch Cohen noch nahestand. Positiv faßbar ist der Wert am objektiven Werk insofern, als daß Werk Indiz einer eigentümlichen Erkenntnisart ist. Der Eigenwert des Ästhetischen kann als Wert nur ein Erkenntnisuert sein» Dieser steht damit im Vergleich zu anderen Erkenntniswerten, dem theoretischen und dem praktischen. Systematische Ästhetik muß einen Bereich begründen, der - gegenüber der Wissenschaft, mit ihrem "Anspruch, das Wirkliche, wie es ist, zu erkennen" und gegenüber der Praxis mit "dem anderen Anspruch, verbindliche Ziele für das Han47 dein zu zeigen" einen gleichen Ernst und Anspruch mit sich führt a Die ästhetische Äußerung oder Objektsetzung muß eine besondere und gleichrangige Weise des Örteilens und Erkennens sein, in einer "eigenen Krisis des Echten und Unechten, ja Wahren und Falschen", die der Strenge der wissenschaftlichen und der praktischen Forderung nicht nachsteht. Natorp bekennt sich zu diesem Kantischen Ansatz in der Ästhetik: "Es mußte erst ein so wenig in Kunstenthusiasmus schwelgender Philosoph wie Kant auftreten, um der 'Kritik der ästhetischen Urteilskraft' eine gleichberechtigte Stellung neben der Erkenntniskritik und der Ethik im System der 'Vernunftkritik 1 , in das die Philosophie 45 I. F r e n z e l , Artikel ' Ä s t h e t i k ' , in: F i s c h e r - L e x i k o n , Philosophie, S. 41. 46 N a t o r p » Philosophie, Ihr Problem, S. 99. 47 Vgl. im Folgenden ib, , S. 96 „

156

Ästhetische Grundkriterien

Natorps

sich ihm aufgelöst hatte, zu sichern." Die Notwendigkeit der Kunst unterliegt dem Anspruch des Bewußtseins auf Wahrheit. Sie bemißt sich an ihrem Erkenntniswert, noch bevor gesagt werden kann, was und wie sie erkennt. Ihre Geltung fordert die Möglichkeit einer eigenartigen Urteilsart 0 Diese manifestiert sich jedoch nicht im Vollzug, sondern in ihrem Objekt und ist an diesem zu rekonstruieren. Natorp rekurriert nicht auf ein subjektives Vermögen, etwa auf das "Gefühl", sondern sofort auf eine Logik des Kunstwerks, deren Möglichkeit nicht werkimmanent begründet wird, sondern im ge l tungs logischen Sinne gefordert ist: im Begriff des "Gesetzes". (b) Die Logik des Kunstwerks Daß Kunst auf Wahrheit insistiere, fordert eine spezielle Logik/ die den Wert ihres Gegenstandes nicht aus ihrem Abstand zum eigentlich Logischen, zum Theoretischen, gewinnt, sondern ihn zunächst als Modifikation von "Gesetz" faßt, Ästhetik hat diesen "logischen" Wert auf seinen Begriff zu bringen „ Die Modifikation des "Gesetzes" fordert zugleich eine Eigenart des Problems, der Methode, des Allgemeinen und des Subjektsbezugs. Dieses Gefüge von Grundmomenten der Erkenntnis hat zunächst den Stellenwert von noch inhaltlich zu erfüllenden Grundpostulaten ; die, auch in ihrer Zueinanderordnung, die Besonderheit einer ästhetischen Norm, deren Reichweite und deren Fragwürdigkeit, einschließen. Die Verwendung geltungslogischer Grundelemente der Erkenntnis für die geltungslogische Formulierung ästhetischer Grundfragen verpflichtet noch nicht auf einen rein theo48 retischen Gesetzesbegriff. Am Verhältnis von Gesetz und wird die Abwandlung schließlich deutlich, die die Idee im richtungsbestimmten Bewußtsein durchläuft. Gesetz ist Norm als konkretes, nicht als Gesetzlichkeit, nur folgeweise, nicht in seinem ursprünglichen Sinn. An den Begriff der Norm klammert sich eine Erwartung, die als solche der Kunst heterogen ist. Das am "So ist es" und "So soll es sein" geschulte Bewußtsein verliert die Orientierung angesichts der MaSstabswiderständigkeit von 48 Vgl. N a t o r p , über· P h i l o s o p h i e als G r u n d w i s s e n s c h a f t der Pädagogik ( I 9 o 9 ) , in: F i s c h e r , S. 157 und 159.

Logik des Kunstwerks

157

Gebilden individuell konstituierter Konsistenz, Die Antinomie, in die der Anspruch an Gesetzlichkeit in der Kunst führen könnte, hat eben jene Logik des Kunstwerks aufzudecken und auf ihren Begriff zu bringen, das heißt, aufzuweisen, wie weit die Antinomie ein Fehler im Anspruch ist oder wie weit sie ein Konstituens von Kunst selbst ist„ Die moderne Ästhetik Adornos 49" besteht gerade auf dieser Antinomie, auf der Forderung einer Logik des Kunstwerks, eben um seiner Wahrheit willen: "Obwohl die Kunstwerke weder begrifflich sind noch urteilen, sind sie logisch. Nichts wäre rätselhaft an ihnen, käme nicht ihre immanente Logizität dem diskursiven Denken entgegen, dessen Kriterien sie doch regelmäßig enttäuscht. Am nächsten stehen sie der Form des Schlusses und dessen Vorbild im sachhaltigen Denken" .Die Logik der Kunst läßt sich nicht auf eine einzige Formel bringen. Eine Reduktion auf "Struktur" müßte sie gegenstandsimmanent verkürzen . Der geltungslogische Gehalt des Kunstwerts wird vor allem aus seinem "Außenbezug" sichtbar werden, zunächst in seiner Angewiesenheit auf "Stoff" e Die ästhetische Wahrheit wird einer Logik folgen, deren äußerste Rationalität im Rückbezug auf außerästhetisch Rationales begründet ist« Der Anspruch ästhetischer Wahrheit läßt sich nicht auf Stimmigkeit reduzieren. Er meint, daß ästhetische Objektivation fiktiv auf Erfahrung rekurriert. Die Logik der Kunst fällt nicht einfach mit der Logik des Beg r i f f s und der Logik des Zwecks zusammen. Sie ist Logik insofern, als Sie gegenstandskonetitutiv ist. Die Konstitutionsleistung des Denkens erfährt in der Kunst eine Ausprägung, die sowohl auf das, was Konstitution überhaupt ist, als auch auf die Möglichkeit des Denkens, autonom über Gegenständlichkeit bestimmter Art zu verfügen, Licht wirft„ Unter dem Prinzip von Zusammenhang und Autonomie spezifiziert sich das Denken im Bereich des Ästhetischen zu bestimmten Leistungen, die als Grundkriterien in die Kunst als logische Gebilde eingehen. Diese Grundkri49 Vgl. T h . W . Adorno, Ästhetische Theorie, S. 2o5-2o8. 50 ib., S. 2 o 5 . 51 ZurBestimmtheit der ästhetischen Wahrheit siehe unten, Kapitel III.C.l.

158

Ästhetische Grundkriterien Natorps

terien, in denen am einschneidendsten die Logik am Kunstwerk scheint, sind nach Natorp "schöpferische Gestaltung", "For-

er-

co

mutig" und das Gesetz der "Individuation". Es sind zunächst rein formal erscheinende Bedingungen ästhetischer Gebilde, die aber für die allgemeine und die spezifische Geltungsbestimmtheit von Ästhetischem den Ausschlag geben. Die Logik des Kunstwerks, so läßt sich bereits schließen, muß eine Logik individueller Gestaltgesetsl-Cahkeit sein. Was sie - und nun gerade im Hinblick auf die modernere Kunst - bedeuten kann, formuliert Adorno in seinem Begriff der ästhetischen "Konsequenzlogik": "Die Verpflichtung der Kunstwerke, sich selbst gleich zu werden; die Spannung, in die sie dadurch zu dem Substrat ihres immanenten Vertrages geraten, schließlich die traditionelle Idee der zu erlangenden Homöostase bedürfen des Xonsequenzlogischen Prinzips: das ist der rationale Aspekt der Kunstwerke." Und einschränkend fügt Adorno hinzu: "Daß die Logik der Kunstwerke Derivat der Konsequenzlogik, nicht aber mit ihr identisch ist, zeigt sich darin, daß jene - und das nähert Kunst dem dialektischen Gedanken - die eigene Logizität suspendieren, am Ende deren Suspension zu ihrer Idee machen können; darauf zielt das Moment des Zerrütteten in aller modernen Kunst." 54 Was hier einschränkend von Adorno angeführt wird, ist die Möglichkeit der Kunst, ihre eigene formale Grundgesetzlichkeit zu überschreiten, und zwar auf Grund ihrer "Idee", Was das bedeuten kann, muß hier weiter unten, wenn wir auf die Gegenständlichkeit des ästhetischen Gebildes zu sprechen kommen, bedacht werden e Auch läßt sich nicht ohne weiteres der Adornosehe, an Hegel geschulte Gedanke der Dialektik auf Natorp übertragen. Aber die ästhetische Antinomie zwischen Formgesetz und Gegenständlichkeit hatten wir bei Natorp als Problem der Kommensurabi litat zwischen der Idee des Schönen und der Idee als Fiktion formuliert» Diese Antinomie darf in keiner der Grundbegriffe ästhetischer Bewußtseinsleistung vergessen werden. Die formale Gesetzlichkeit des ästhetischen verdeutlicht zwar am einschnei52 Vgl. N a t o r p , Philosophie, Ihr Problem» S, 97 und 99. 53 A d o r n o , Ä s t h e t i s c h e T h e o r i e , S, 2 o 5 « 54 ib., S. 2o8,

Schöpferische Gestaltung

159

dendsten den Zusammenhang und die Besonderheit der Logik im Schönen, aber sie verwirklicht sich nicht schwebend, außerhalb gegenständlicher Bestimmtheit,

2» Grundkriterien der Gestaltung Das systematische Prinzip des Zusammenhangs führt Natorp auf das ästhetische Grundkriterium der "schöpferischen Gestaltung" 55 : "Man glaubt einen tiefsinnigen Zusammenhang der Kunst mit der Wissenschaft zu erkennen, und zwar mit aller Wissenschaft, von der Mathematik angefangen durch die Mechanik, Physik und Biologie bis zur Sprach- und Geschichtswissenschaft; einen nicht minder tiefen Zusammenhang auch mit der Welt der Sitten, mit dem unmittelbaren 'Leben' der Menschheit, sei es Volksturn oder Eigenleben des Individuums» Und dieser doppelte Zusammenhang wird nicht etwa nur darin gefunden, daß die Kunst ihre Stoffe diesen beiden großen Reichen entnimmt, sondern er geht zurück bis auf das Innerste der Formung, bis auf den Kern jener schöpferischen Gestaltung, die den Objekten beider Art überhaupt ihren Ursprung und Geltungscharakter verleiht." Das formale Moment des Denkens wird hier als "schöpferische Gestaltung" gefaßto Es ist zugleich Ursprung und Geltungsgrund alles Denkens. Der Produktionsgedanke ist durchgängig. Also müssen wir fragen: wie wird er bei Natorp begründet? Wie wandelt er sich ab? Wie wird er schließlich im Ästhetischen autonom? Was heißt ästhetische Autonomie, wenn der Produktionsgedanke, im Unterschied zu Hönigswalds Theorie des Ästhetischen, durchgehend ist? Der Zusammenhang der ästhetischen Leistung mit der theoretischen und praktischen liegt also zunächst in ihrer Rationalitat, die gleichwohl nicht die theoretische oder die praktische ist. Der Kantische Gedanke der Kritik grenzt in der Verschiedenheit von Urteilsarten verschiedene Rationalitäten gegeneinander ab: Verstand, Vernunft, Urteilskraft, Die neukantianische Modifikation dieser Vernunftkritik, wie sie Cohen begründete, ist der Konseptualiemue der Erkenntnis, die Eliminierung des von Kant noch mitgeschleppten "Dings an sich", das heißt, sie ist die 55 Vgl. N a t o r p » P h i l o s o p h i e , Ihr Problem, S. 96 f.

16o

Ästhetische Grundkriterien Natorps

Konzentration der Erkenntniskritik auf die Präge nach der Möglichkeit des "synthetischen" 56 Urteils. Es ist die Wurzel des Natorpschen Produktionsgedankens, der sich, angereichert durch Platostudien, in der späten Poiesislehre gegenüber der gegenstandstheoretischen Subjekt-Objekt-Korrelation verselbständigt. Das synthetische Urteil ist bereits in der frühen Erkenntnislehre Natorps Produktion, und zwar umso mehr, als sie eine rein kategoriale Konstitution sein will: sie überformt das zum materialen Moment herabgewürdigte Wahrnehmen, die Sinnlichkeit. Die Konzentration der Erkenntniskritik auf den synthetischen Charakter des Urteils, die Priorität der kategorialen Geformtheit des Denkens vor ihrer sinnlichen und die Eliminierung des ontologisch bestimmten Seins hangen bei Natorp zusammen und bilden schließlich den Grund für eine Ästhetik als Gestaltlehre, die als Potenzierung des Denkens als Produktion gemeint ist und in dieser Potenzierung einen Subjektsbegriff entwickeln muß, den der objektivistische Geltungsanspruch zunächst leugnet. Die generelle Denkleistung des "Gestaltens" wandelt sich zur "Gestaltung "e Diese denkimmanente Entwicklung Iä0t sich nur zeigen, wenn ich zunächst auf jene Prämissen in der Erkenntnislehre zurückgehe und sie in ihrer Abwandlung verfolge, also Synthesis in Theorie, Praxis und Kunst zu bestimmen versuche„ (a) Produktion Um die Prämissen der Logik des Kunstwerks mit Bezug auf das Grundkriterium der "Gestaltung" zu verstehen, muß man auf Natorps Bestimmung von "Aufgabe und Methode der Logik überhaupt" zurückgehen. Natorp definiert die Aufgabe folgendermaßen: "Das Denken im Zent-yum seiner Gesetzlichkeit zu fassen, ist Aufgabe der Logik." "Das Urgesetz und damit die letzte Einheit des Logischen selbst aufzudecken, ist das Einzige, was als eigentümliche Aufgabe einer Logik verbleibt, die nicht den positiven Wissenschaften, namentlich auch nicht der Mathematik, entweder vorgreifen oder in sie gar aufgehen will. Diese Einheit wird aber nicht die eines einzelnen Satzes (wie etwa Fichtes A = A) sein können, sondern nur die des letzten, zentralen Zusammenhanges der logischen Funktionen in einer zwar einzigen, 56 V g l » ib., S. 45. 57 Vgl. ib., S. 44 ff.

Produktion

161

aber von Haus aus mehrseitigen Grund function denkender Setzung überhaupt; die Einheit also eines Systems zueinander streng korrelativer, zur Einheit der Denksetzung überhaupt sich zusammenschließender, gleich ursprünglicher Weisen gedanklicher Setzung." Das Zentrum der Gesetzlichkeit von Denken, noch vor aller Differenzierung des Denkens, liegt - mit Kant - in der Möglichkeit r Q des synthetischen Urteils 0 Nach Natorps Auffassung aber ist diese Erkenntnis bei Kant noch nicht deutlich genug zum Ausdruck gekommen, indem dessen Logik von Begriff, Urteil und Schluß am sprachlichen Ausdruck orientiert bleibe, ohne daß die Abkünftigkeit des "Begriffs" reflektiert sei. Natorps These dagegen ist, daß Begriffe nicht gegeben sind, sondern erst werden; "In letztem Betracht also sind es vielmehr die Begriffe, die durch die Urteile, d.h» es sind die Bezugspunkte des Denkens, die durch die Beziehungen erst gesetzt werden. Dies Setzen aber bedeutet Bestimmen - eines, abgesehen davon {überhaupt oder wenigstens im gerade fraglichen Betracht) nicht Bestimmten - X. So kommt das Denken als Schöpfung, als lebendiger Prozeß, zu sicherem Ausdruck," 59 Es ist hier nicht nötig, auf die Möglichkeit des Denkens als Produktion im theoretischen Bereich weiter einzugehen „ Worauf es ankommt, ist Natorps Insistieren auf der These, daß Denken Schaffen sei, bzw. daß Denken nur dann den Wert des Erkennens hat, wenn es kreatives Denken ist, also daß nicht-kreatives Denken gar nicht als solches gewertet werden kann. Das bedeutet nicht,, daß die Gegenstände des Gedachten, letztlich Sein, erst gefunden werden„ Diese Folgerung ist absurd. Es bedeutet aber, daß, sofern etwas gedacht ist, es auch produziert isto Eine ontologische Wendung dieses Produktionsgedankens als genereller Voraussetzung von Denken findet sich in Wolfgang Cramers Theorie des Erlebens » Ontologisch ist diese neue Produktionslehre, weil sie - gerade als Subjektslehre - die Vielheit 58 Vgl, ib., S. 4 5 , Hl, 59 ib. t S, 45 f „ 60 Vgl» vor allem i b . t S, 4 7 : C o h e n s " S o n d e r u n g und Vereinigung" und S » 48: N a t o r p s " D r e i s c h r i t t - V e r f a h r e n " in der Kategorienlehre , 61 Vgl. W o l f g a n g Cramer, Grundlegung einer T h e o r i e des G e i s t e s .

162

Ästhetische Grundkriterien Natorps

des Seienden und die Einzigkeit des Denkenden, präzise: "Erlebenden", berücksichtigt, gegenüber einer objektivistischen Geltungslehre bei Natorp. Diese Produktionstheorie Cramers ist als mögliche Fundierung einer Geltungslehre bisher noch nicht recht berücksichtigt worden. Die Monadologie Cramers will keine Geltungslehre sein, sondern eine Ontologie des Subjekts, die im Kern die Selbstkonstitution des Erlebens zu begründen sucht. Cramers Ausscheren aus der Geltungstheorie muß noch nicht eine grundsätzliche Ablehnung der Geltungslehre bedeuten, wohl aber den Zweifel, daß mit geltungstheoretischen Fragestellungen und Mitteln die Gründe der Möglichkeit von Geltung überhaupt zureichend eingesehen werden können. Sein Abrücken von der geltungstheoretischen Bindung kann als Differen2ierung des Problems der Produktion angesehen werden« Diese Differenzierung ist aber in bezug auf eine noch zu erstellende Subjektslehre dringend erforderlich, die die Heterogenität der Subjektsmomente überwinden will e Nicht substantiell noch übersubjektiv, noch intersubjektiv, noch als Inbegriff will die Subjektivität verflüchtigt werden s Der Gedanke HÖnigswalds vom Zusammenfall von Prinzip und Tatsache ist bei Cramer weitergedacht. Das ermöglicht es zwischen einer Erkenntnispraa^s, in der der Mensch nur noch Tatsache ist, bloß ein Gegenstand, und einer Theorie, in der das Subjekt, sofern es Bewußtsein ist, vor allem Prinzip ist, Ursprung von Denken/ wesentlich Produktion, gleich welcher Richtung, zu vermittelno Die geltungstheoretische Aufstockung des Produktionsgedankens bei Natorp ist implizit ein Weg, den Subjektsgedanken aus seiner Abstraktion wenigstens bis zum Syndrom des "Individuellen" zurückzuführen, wie er ebenfalls im Begriff der Gestaltung vorliegt und im psychologischen Bereich auch aktivisch entwickelt wird 0 Diese Fäden sind noch zusammenzuführen. (b) Anschauung Die Interpretation des Kantischen Gedankens der Synthesis als f T Konzentration auf das Unbekannte, das Noch-Nicht "* des Gedankens , hat bei Natorp - auch schon bei Cohen - eine weitere Folge für die Erkenntniskritik, die sich in einer Änderung und Erwei62 Vgl. Natorp, Platos Ideeniehre, S» 5o5.

Anschauung

163

terung der Kategorienlehre zeigt und zugleich den Begriff der generellen Gestaltung ausformt: die Umstellung der "Anschauung" an den Schluß der Kategorientafel . Dieser Vorgang hat eine zentrale Konsequenz für die Ästhetik; denn die Bestimmung der Synthesis als "Erzeugung" des Gedankens erlaubt es nicht, von "Gegebenem" auszugehen Der Begriff des Seins schließt in der Marburger Schule Gegebenheiten nicht ein, sondern ist logischer Grenzbegriff, der im Modus der "Aufgegebenheit" für das theoretische Denken relevant wird. Diese Logisierung des Kantischen Gedankens des An-sich-Seins hat für die Anschauungslehre, für die Stellung der "Kategorien" Raum und Zeit, bestimmte Folgen. Nach Kants Lehre sind Raum und Zeit Formen der Anschauung, und als eigene Bedingungen von Seiten der Sinnliahkeit sind sie von den reinen Verstandesbegriffen, von den Kategorien, unterschieden, ja diesen als sinnliche Voraussetzungen des begrifflichen Bestimmens vorangestellt , Die Änderung dieses Kantischen Anschauungsbegriffs durch Cohen liegt zunächst in der Eliminierung der "Wahrnehmung" als Erkenntnisbedingung. Raum und Zeit treten als Kategorien innerhalb der Kategorientafel auf« Ihre Funktion wird innerhalb dieser Kategorienoränung festgelegt. Natorp nun schließt sich der Änderung durch Cohen an, aber bezieht Anschauung direkt auf die Möglichkeit von Existenzurteilen Diese zielen auf den Einzigkeitseharakter von Gegenständen. Dadurch wird Anschauung zum konzentriertesten Ausdruck der Einheit s f orderung des Denkens a Als reine Anschauung bedeutet sie Vollendung des reinen Denkens 0 Gegenüber dem allgemeinen Funktionscharakter reiner Begriffe kommt das Denken erst durch die Anschauung zu seiner vollen "Realisierung" oder "Existenz", zu seinem wirklichen Vollzug, das heißt, zu einer "Bestimmung, in der nichts unbestimmt" (S 0 55) bleibt« Das ist der idealistische Sinn der Korrektur am Kantischen Anschauungsbegriff: die Anschauung erst vertritt die notwendige Einheit der Erfahrung und 63 Vgl. N a t o r p , Philosophie, Ihr P r o b l e m , S. 53-56. 64 Vgl. K a n t , K r i t i k der r e i n e n V e r n u n f t , 2 . A u f l . , § 1-8 der transzeiidentalen Ästhetik, Akademie-Werkausgabe Bd. III, S. 49-73. 65 Vgl. C o h e n , K a n t s Theorie der E r f a h r > u n g s 66 Vgl. N a t u r p , Philosophie, Ihr Problem, S. 54; Die logischen G r u n d l a g e n der exakten W i s s e n s c h a f t e n , S. 3 2 7 - 4 9 ,

164

Ästhetische Grundkriterien Natorps

muß daher im System der Kategorien nach den reinen Denkfunktionen behandelt werden. Auch die Wahrnehmung ist demnach Denkbestimmung f also denkimmanent, nicht heterogen,, Raum und Zeit werden mit Kant zwar als Formen des Denkens beibehalten; aber sie stehen nicht mehr gleichursprünglich dem begrifflichen Denken gegenüber, sondern sind reinster Ausdruck von Bestimmtheit, von Synthesis. Diese Interpretation des Anschauungsbegriffs ist grundlegend in Natorps Erkenntniskritik. Sie führt bei Natorp, im Anschluß an seine Platointerpretation* schließlich zum Gedanken der "Poiesis" als reinstem Ausdruck der Aktivität des Geistes. In der "Philosophischen Propädeutik" von 19o3 ist die Stellung von Raum und Zeit demgegenüber noch konventionell gefaßt als erste und sinnliche Bedingung der Erkenntnis „ Die Wurzel der Bestimmung des Denkens als Poiesis, als schöpferische Hervorbringung und als zusammenfassende Einheitsschau, liegt in der idealistischen Bestimmung des Denkens als "Ursprung" und als "Setzung" bei Cohen 0 Die Änderung der Kantischen Lehre läßt sich nur aus dem monistischen Idealismus erklären, der bei Natorp konsequenter vertreten wird als bei Cohen. Natorp geht es zunehmend um die Bestimmung der eigentlichen Kraft des Denkens als Synthesis, und zwar in der Platonischen Interpretation: als Schau» Er verliert allerdings dabei aus dem Äuge, wae er durchschauen will und warum er es durchschauen will. Das heißt, er verliert den Blick für die ontologische Bestimmtheit von Raum und Zeit als Bedingungen der D-istrakthe-Ct des zu Erfahrenden, insbesondere für die Erfahrung des eigentlich Fremden und dem Denken Entgegenstehenden, desweiteren aber auch für eine Lehre von der viel| fältigen VermitteItheit des Geistes selbst . Damit werden Raum und Zeit ungeeignet als Gl-iederungsmögl-ichkeiten: so zunächst für eine Ordnung der Wissenschaften, weiterhin für eine Ordnung der Welt, in der der Ort des Subjekts oder des Geistes selbst 67 Vgl. H a t o r p , P r o p ä d e u t i k , 5 , A u f l , 64-66.

(1927), S. 2 6 / 2 7 und S.

6 8 Vgl, z u r ontologischen O r t s b e s t i m m u n g N . H a r t m a n n s Ontolog i e j Vgl» zur G e i s t l e h r e die Theorie W o l f g a n g Cramers sowie Hegels J e n e n s e r G e i s t p h i l o s o p h i e und deren I n t e r p r e t a t i o n bei J e Habermas in: T e c h n i k und W i s s e n s c h a f t , S. 9 - 4 7 .

Anschauung

165

bestimmt werden könnte. In der Ästhetik macht sich dieser Mangel im Fehlen einer Theorie der Künste und der Kunstwissenschaften bemerkbar. Was dieser formalisierte Anschauungsbegriff bei Natorp dennoch bedeutet, zeigt der ästhetische Realisationsweg der Idee als Fiktion» Es wird darauf ankommen, die mathematische Anschauung von der ästhetischen klar zu differenzieren. Das Verhältnis von Wahrnehmung, reiner Anschauung und ästhetischer Schau wird nicht nur in der Ästhetik wichtig; auch für eine rückblickende Analyse des Natorpschen Erkenntnisbegriffs wird die ästhetische Schau r aufgrund ihrer Genese aus der Erkenntnismöglichkeit überhaupt, grundlegende Bestimmungen bringen müssen. "Gestaltung" als formalästhetischer Grundbegriff ist zunächst kein genuin ästhetischer Begriff,, Seine Abkünftigkeit aus der Bestimmtheit des Denkens als Synthesis fordert seine Ableitung für alle Arten des Denkens, Theoretische, praktische und ästhetische Urteile sind gleichermaßen Produktion des Bewußtseins. Die Einheit des letztlich einen Bewußtseins bewährt sich im Moment der Gestaltung in allen seinen Leistungen.Aber sie erfährt jeweils eine andere kategoriale Ausprägung: das Schöpferische des Gedankens bewährt sich in der Theorie in der Form der "Hypothese", in der Praxis in der Form des "Plans" oder des "Entwurfs" , im künstlerischen Bereich als "Einfall" oder als "Mimesis", Allen drei Gestaltungsarten liegt eine verschiedene Gesetzlichkeit zugrunde, deren Unterscheidung von Natorp gegenstandstheoretisch, Objektstheoretisch, durchgeführt wird, aber - wegen seines Rekurses auf die Ideenlehre als Grundlehre schließlich einen subjektstheoretischen Akzent erhält, der den ursprünglichen Formalismus im theoretischen Produktionsgedanken Subjektstheoretisch überwindet. Diese Entwicklung bei Natorp wird aber erst deutlicher, wenn wir seine Ableitung der Kategorie des "Individuellen" verfolgen» Damit kommen wir zugleich auf das zweite formale Grundkriterium des Ästhetischen: das Gesetz "Schlechthinniger Individualität" 69 Vgl. zum Folg.: N a t o r p , Philosophie, Ihr Problem, S . 9 8 „ Das ''Problem des Individuellen" bei Natorp wird von H . - E . W i n t e r hager in seiner gleichnamigen Dissertation (1974) e n t w i c k lungsgeschiehtlich u n t e r s u c h t , vgl. L i t e r a t u r v e r z e i c h n i s .

166

Ästhetische Grundkriterien Natorps

3, Individualität als Geltungsgrund des Ästhetischen Der formale Grundzug der Gestaltung im ästhetischen Bereich kann in seiner autonomen Funktion nur im Zusammenhang mit dem anderen formalen Grundzug des "Individuellen" verstanden werden. Dieses tritt als Epitheton notwendig zur "Gestaltung" hinzu: ästhetische Gestaltung ist schlechthin individuelle Gestaltung. Dieser Satz ist im normativen Sinne mißverständlich, wenn der Terminus "Individualität" bei Natorp ungeklärt bleibt. Die neue Einsicht von der heute möglichen und praktizierten "technischen Reproduzierbarkeit" der Kunst steht zunächst jenem Satz der schlechthinnigen Individualität der ästhetischen Gestaltung entgegen und relativiert sie objektiv, (a) Zur Autonomiefrage Natorps Theorie des Ästhetischen zielt dahin, durch- die Begründung eines autonomen GeXtungswerts der Kunst, die Skylla des Relativismus ebenso wie die Charybdis einer normativen Ästhetik zu passieren. Die Bestimmung, ein Kunstwerk habe dem Grundkriterium individueller Gestaltung gerecht zu werden, ist darum bei Natorp zunächst nicht eine Frage des bloßen Inhalts, noch eine Frage der bloßen Struktur des Kunstwerks oder seiner Technik, sondern die geltungslogische Frage nach dem Allgemeinheitswert der Kunst. Dieser zeigt sich, wenn Kunst autonom ist, darin, daß Kunst eine eigenständige Problematik und eine eigenständige Methodik von sich aus entwickelt. Der Fragehorizont, der mit der Forderung einer besonderen Problematik und einer besonderen Methode umrissen ist, führt nun in jene Paradoxie, in der das Verhältnis von Allgemeinem und Individuellem sich gegenüber dem theoretischen Bewußtsein genau umkehrt und in der die von Natorp in der Praxis angenommene Gleichgewichtslage der doppelten kategorialen Bestimmtheit zugunsten des Individuellen überschritten wird: 7o Vgl. Walter B e n j a m i n , Das K u n s t w e r k im Zeitalter seiner technischen R e p r o d u z i e r b a r k e i t .

Probleme ästhetischer Geltung

167

"Aber gleichwohl und gerade nun geht uns die künstlerische Gestaltung nicht mehr auf in die wissenschaftliche oder die sittliche, oder in irgendeine bloße, aus diesen selbst zu begreifende Gesellung oder Mischung oder selbst innige Vermählung beider; sondern wir glauben begriffen zu haben, daß sie dennoch selbständig und gleichsam selbstverantwortlich beiden gegenübertritt; daß sie nach ihr allein eigentümlichen Gesetzen etwas wie eine dritte Welt neben die der Natur und der Sitten stellt. Und nicht als ein Zurückbleiben hinter dem Ernst der Wahrheitsforderung jener, sondern fast schon als ein Übertreffen derselben glaubt man es jetzt verstehen zu müssen, wenn sie allerdings weder den Bedingungen der Erfahrungswirklichkeit noch denen der idealen Wirklichkeit, welche die sittliche Forderung dieser gegenüber aufrichtet, sich unterwirft. Ihr Problem ist überhaupt ein eigenes und will als vollwertig neben denen der Wissenschaft und der Sittlichkeit anerkannt sein» . s . Indessen fragt sich noch, ob das Wort Problem auf die Aufgaben der Kunst überhaupt im gleichen Sinne wie auf die der Wissenschaft und des sittlichen Lebens Anwendung leidet. ... So kann auch von Methode, im gewöhnlich verstandenen Sinne einer überall gleichmäßig zu befolgenden allgemeinen Norm oder Vorschrift des Verfahrens, bei ihr nicht die Rede sein.""^ Damit ist bei Natorp für das Ästhetische ein Problem wie eine Methode sowohl gefordert, und zwar aus Gründen der Geltung, als auch zurückgewiesen, und zwar aus Gründen der Autonomie, Das Problem der Kunst liegt in dem Eigensinn ihres Gehalts. Eine Methode der Kunst besteht nur in dem Sinne, daß sie nicht auch zugleich Norm isti "Ein 'Gesetz* im Sinne eines bestimmenden Allgemeinen gibt es also im Ästhetischen nicht; daher kein Sollen, keine allgemein zu befolgende Regel oder Norm» Was als eine solche in Hinsicht der Kunst erscheint, ist in Wahrheit Technik und schließlich Naturgesetz, also zur Kunst wohl als 72 Mittel gehörig, aber an sich nichts Künstlerisches." " Der Eigenwert des Ästhetischen, der im Produktionsgedanken wurzelt, muß diesen in einer besonderen Weise ausformen. Aber das Ästhetische bleibt nicht bruchlos mit normaler Produktion des Denkens verbunden» Sie schüttelt ab, was jene abstraktiv fesselt: dasjenige Allgemeine, das Einzelnes nur als "Fall von" bestimmt. Die Bestimmung der Autonomie des Ästhetischen tritt nun beim frühen Natorp nicht unmittelbar als Gehaltstheorie a u f . Was ästhetischer Gehalt ist, positiv zu wissen, ist zwar das Ziel ei71 Natorp, Philosophie, Ihr Problem, S, 97 f. 72 N a t o r p , Individualität und G e m e i n s c h a f t , S. 19ü.

168

Ästhetische Grundkriterien Natorps

ner philosophischen Ästhetik; sie kann aber ihre Analysen nicht als Gehaltsbestimmungen beginnen lassen. Dazu fehlen ihr im Anfang sämtliche Momente. Die Grundkriterien, von denen Natorp ausgeht, um das, was als Gegenstand einer Ästhetik auftreten könnte, schließlich abzuleiten, reichen dagegen zunächst zurück auf die Zentralprobleme der allgemeinen Geltungslehre und auf den kategorialen Rahmen der allgemeinen Logik. Innerhalb des geltungslogischen Rahmens der Ästhetik stellt sich die Frage nach Autonomie, oder Heteronomie ästhetischer Bewußtseinsproduktion bei Natorp kategorial: als Frage nach dem Individuellen als Substanz des Gesetzes, Das heißt: wenn das Ästhetische mit kategorialer Notwendigkeit auftritt, so wird es an der Stelle seine Aufgabe übernehmen müssen, an der in Theorie und in Praxis die logische Spitze immer abbricht und abbrechen muß: am logischen Ziel Schlechthinniger Bestimmtheit und damit Einzigkeit. Dieses Ziel der Logik zeigte sich in der Theoretik in der Frage nach der Möglichkeit von Existenzurteilen. (b) Das Problem der Individualität bei Natorp "Individualität" ist bei Natorp zentraler Begriff der Ästhetik . Seine Bedeutung kann nur aus dem Gesamtsystem Natorps entwickelt werden. Dabei haben wir zwischen der frühen, gegenstandstheoretischen und der späten, logischen oder kategorialen Fassung zu unterscheiden» In der frühen Theorie Natorps ist Individualität ein Bestimmungsbegriff, der zuerst bei der Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Existenzurteilen, also in der Theoretik, auftaucht. Beim späten Natorp ist Individualität eine Fundamentalkategorie, die innerhalb des Systems der Fundamentalkategorien eine unverwechselbare Stelle einnimmt. Das heißt, daß der Begriff der Individualität, der bei Natorp im frühen System gerade in der Ästhetik in seiner durchgehenden Bedeutung erkannt wird, von einem fundamentaltheoretisch noch problematischen Status zu einer fundamentaltheoretisch gesicherten Stellung aufsteigt« Aufgrund des Postulats der "Wirklichkeit" kommt schließlich der "Individuität" die systemtragende Funktion zu, die UnVerborgenheit der Totalität des Seins als Sinn zu of73 Vgl. Natorp, Philosophische Systematik, z . B . S, 144, 152.

Individualität bei Natorp

169

fenbaren . Diese Funktion wird in Natorps früher Ästhetik in der Bestimmtheit des ästhetischen Individuellen als "Irrationalität des bloß Rationalen" antizipiert, Individualität kommt bei Natorp zunächst zweierlei zu: - allem, was "Tataashe" ist und - allem, was "Erleben" ist 76 . Beides ist Existierendes. Der späte Natorp würde sagen: beides erhebt den Anspruch auf Wirklichkeit. Die dritte Bestimmung der "Letztindividuität" bleibt bewußtseinsjenseitig. Das Verhältnis von Tatsache und Erleben ist nicht einfach das Verhältnis von "Tatsache und Prinzip" * Theoretische Philosophie und Monadologie78 lassen sich nicht auf die Relation von Prinzip und Prinzipiatum reduzieren. Sie intendieren beide Sein. Im Kantischen Begriff der "Anschauung" findet Natorp dieses Problem von Tatsache und Erleben gerade in seiner Verflochtenheit angelegt. 79 Wie ist es möglich, daß die "Empfindung" ' zugleich apriorisch und unmittelbar gegenstandsgebend, der späte Natorp würde sagen: "seinsgebend" ist? Individualität muß eine Kategorie sein, die sowohl Gegenständliches wie Subjektives ermöglicht. Diese Zweigleisigkeit im Begriff des Individuellen wird in der Ästhetik zu prüfen sein. Dabei wird auch die Praktik für die Bestimmung der Individualität wichtig. Sie eröffnet die subjektstheoretische Dimension in verschiedenen Richtungen: - in Richtung auf das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft 80 ; - in Richtung auf die nur im Individuum verankerbare Aktivitat81; 74 Vgl. i b . , S. 3 7 6 . 75 V g l , N a t o r p , Philosophie, Ihr Problem» S. 54-6o, und Philosophische S y s t e m a t i k , S, S / 9 ; 115/116. 76 Vgl. N a t o r p , Philosophische Systematik, S, 8/9 und 125/126; zur Psychologie beim f r ü h e n Natorp vgl, z . B . Philosophie, Ihr Problem, B, 129/13o. 77 Diese Terminologie e n t n e h m e ich der Theorie R. Hönigswalds. 78 Zu Natorps R ü c k g r i f f auf L e i b n i z vgl. Philosophische Systematik» S. 385 f. 79 Vgl. i b . , S. 1H6, 148. 80 Vgl. N a t u r p , Individualität und G e m e i n s c h a f t , S. 169-lDo. 81 V g l . vor allem: Allgemeine Psychologie (1912) und Vorlesungen über Praktische Philosophie (1925),

17o

Ästhetische Grundkriterien Natorps

- in Richtung auf den fundamentalen Funktionssinn der Metho, 82 de ; - in Richtung auf die Einzigkeit der Monas. Die in der Praktik angelegte Problemverknüpfung des Individuellen mit dem subjektstheoretischen Akzent, die Einführung des Begriffs des "Individuums", führt in der Ästhetik zu einem Balanceakt von Objektivem und Subjektivem, der bei Natorp erst in der späten Poietik in seiner vollen subjektstheoretischen Bedeutung erkannt wird a Das soll eine gesonderte Darstellung des Individualitätsbegriffs beim frühen und beim späten Natorp herausstellen. Vorher aber muß ich auf einen weiteren systematischen Gesichtspunkt eingehen, ohne den der Begriff des Individuellen nicht in seiner grundlegenden Bedeutung gesehen werden kann. Sowohl philosophiegeschichtlich als auch systematisch stellt sich das Problem der Individualität innerhalb des Gegensatzes von Allgemeinem und Besonderem, Das Geltungsproblem in der Philosophie, das an die Bedingungen der Allgemeinheit und der Notwendigkeit geknüpft ist, kann eben unter diesen Bedingungen nur paradox formuliert werden, wenn es um die Geltungsautonomie von Ästhetischem geht 0 Diese paradoxe Formulierung findet sich beim frühen Natorp, also in der noch gegenstandstheoretischen, das heißt, am Objekt orientierten Ästhetik: "Und dies fuhrt auf den wurzelhaften Unterschied: daß es überhaupt nicht ein gesetzmäßig Allgemeines irgendwelcher Art ist, welches die Kunst zu ihrem Objekt hat und in ihren Schöpfungen darstellen will, sondern ein schlechthin Individuelles, In dieses muß wohl das Uberindividuelle, Gesetzmäßige {wissenschaftlicher wie sittlicher Ordnung) irgendwie eingehen, denn gewiß gibt es kein Individuelles ohne überindividuellen Bezug„ Aber es geht eben ins Individuelle so gänzlich ein und auf, daß der Allgemeinheitscharakter als solcher wie ausgelöscht ist. Es scheint hier, so paradox es lautet, das Uberindividuelle geradezu das Individuelle als sein Höheres anzuerkennen,"°3 Es sieht so aus, als ob Natorp den unterscheidenden Geltungssinn aus der einfachen Korrelation von Allgemeinem und Indivi82 Vgl. h i e r z u in der Spltphilosüphie den F u n k t i o n s c h a r a k t e r aller F u n d a m e n t a l k a t e g o r i e n und das D i s t r i b u t i o n s p r i n z i p der " B e s o n d e r u u g " . 83 N a t & r p , Philosophie, Ihr Problem, S. 98.

Zur Geschichte des Individualitätsproblems

171

duellem entwickeln möchte» Auch der paradigmatische Ansatz Natorps in "Individualität und Gemeinschaft" könnte eine solche Deutung nahelegen 3 Wir werden aber gerade hier zu fragen haben, wie sich der methodische Grundsatz der Korrelation von Allgemeinem und Individuellem mit der anderen Korrelation von Objekt und Subjekt durchdringt und ob nicht in ihrer Abwandlung in den drei Objektivationsbereichen die auch historisch verbürgte Dreiheit von Allgemeinem-Besonderem—Einzelnem unumgänglich wird. Die Spätphilosophie Natorps enthält diese Dreiheit nicht erst in der Gehaltstheorie des Theoretischen, Praktischen und Poietischen, sondern bereits als vor-kategoriales Gliederungs- und Entfaltungsprinzip der Fundamentalkategorien, als Dreiphasengesetz , das mit N. Hartmann als "kategoriales Gesetz" bezeichnet werden kann. Bevor wir die fundamentalkategoriale Problemverankerung des "Individuellen" bei Natorp verfolgen, muß zum Verständnis des weitreichenden Zusammenhangs, in dem eine ästhetische Bestimmtheit dieses Begriffs steht, in einem Aufriß die historische Begriffsentwicklung in Erinnerung gebracht werden. (c) Historisch-systematischer Exkurs Das philosophische Problem des Individuellen wird bei Aristoteles in der Frage nach dem "Einzelding" spruchreif , Das Problem des Einzeldings führt hier zur Begründung der ontologischen Fragestellung und zur Einführung des Substanzbegriffs. Auf Aristoteles rekurriert Natorp in seiner späten Kategorienlehre. Und zwar steht die Kategorie der Substanz bei ihm am Anfang der Relationskategorien, Sie entspricht damit unter dem Titel der Modalität der Möglichkeit } unter dem Titel der Individuation der Qualität 85 . Das Problem der Identität des Subjekts führt nach Natorp zwar nicht schon zur Bestimmtheit des Individuellen, aber jedenfalls auf "das Fundament aller bestimmenden Aussagen über Wirkliches, und gehört, genau in dieser logischen Funktion, notwendig an den Anfang der Kategorienordnung, welche die Bestimmung eines Was des Wirklichen überhaupt zur Aufgabe hat. Als grundlegende, aller weiteren unterliegende, von ihr 84 Vgl. hierzu N . H a r t m a n n , Der A u f b a u , S e 335-348. 85 Vgl. N a t o r p , Philosophische Systematik, S, 153-183 S

172

Ästhetische Grundkriterien Natorps

unterstellte (supponierte) Bestimmungsweise, als Fundament aller weiteren, trägt sie mit vollem Recht diesen Namen 'Substanz ' 8 6 ." In der Frage nach dem 'principium individuationis' des Mittelalters wird der Aristotelische Begriff des Einzeldings wieder aufgenommen und zum Streitpunkt zwischen Realisten (Thomas v. Aquin) und Nominalisten (Duns Scotus) im sog« Universalienstreit 87 . Im Hinblick auf Natorp ist daran zweierlei interessant: erstens kehrt bei Natorp der methodische Aspekt, der sich im Terminus "Individuation" niederschlägt, wieder in der Neuprägung: "Individuierung". Zweitens wird bei Natorp der Satz 'individuum est ineffabile', das individuelle ist unaussagbar, neu durchdacht und gewinnt eine besondere Bedeutung für die Stellung des Ästhetischen, in dem das diskursive Denken durch "Anschauung" konkretisiert werden kann. Zentrale Bedeutung gewinnt das Individuelle in der Monadologie von Leibniz 0 Historisch gesehen, knüpft Natorp hier an: "Aber noch viel weiter (als Aristoteles 88 ) geht Leibniz in der Konkretisierung der Substanz: 1) Auch jedes ihrer Phänomene ist ein punktueller Ausdruck {'expression') der ganzen Folge der Phänomene einer Substanz; ihre ganze Vergangenheit und Zukunft ist in jedem Punkte ihres Seins virtuell gegenwärtig» 2) stehen alle individuellen Substanzen mit allen in einer durchgängigen Gemeinschaft so, daß alle in ihren Phänomenen die Phänomene aller anderen 'ausdrücken' oder 'abbilden 1 , 'spiegeln 1 ; eben dadurch aber stehen sie alle in der letzten, absolut konkreten Einheit der Einheiten, 'Monas Monadum', welche die Gottheit ist* . „ . Diese Leibniz'sehe Substanzenlehre erscheint überschwenglich, sie greift jedenfalls weit hinaus über das, was wir der Substanz als erster Relationsphase zuweisen. Sie umfaßt nicht nur die sämtlichen Leistungen der Relation in ihren drei Phasen, sondern überdies die, welche wir der dritten Kategorienordnung, der der Individuation, zurechnen." 89 Die Singularität des Seins/ nicht nur als numerische Einheit, sondern eben als Einzigkeit, Konkretheit und ursprüngliche Aktivität wird damit für Natorp zur Spitze der grundkategorialen Funktionalität und führt schließlich zur Ergänzung der Kanti86 87 68 B9

Vgl. ib, , S, 154-. V g l . ib., S. 118. Zusatz des Vf. Natorp, Philosophische Systematik, S* 158, vgl. S » 118,

Zur Geschichte des Individualitätsproblems

173

sehen Kategorientafel durch den Fundamentalbegriff der "individuität". Das Allgemeine, Besondere und Einzelne sind bei Kant Urteilsarten der Quantität 90 ,, Diese Verbindung wird bei Natorp aufgelöst: Quantität und Qualität gehören nicht mehr zwei verschiedenen Tafeln an, sondern rücken, wie in Hegels Logik 91 , aneinander. Ansätze für die Bestimmung des "Letztwirklichen" als Individuelles findet Natorp bei Kant in verschiedenen Systemstükken: "Kant wurzelt tiefer in dieser letzten Leibnizisehen Grundanschauung als man denkt, obgleich seine schwersten Fehler in der ungenügenden Erkenntnis, in dem überhaupt unzureichenden Eingehen auf den vollen Ernst des Problems der Individuitat ihren Grund haben. Doch ist es in dem Begriff der Anschauung, in der Methode der Antinomie, in dem regulativen Prinzip der Kontinuität, im Begriff des Intelligiblen, besonders des intelligiblen Selbst und der intelligiblen Freiheit, und noch vielem anderen der geheime Lenker und richtig weisende Kompaß seines ganzen philosophischen Denkens. Erst in der Urteilskraft und zwar der reflektierenden, auch in den letzten Grundbegriffen der Ästhetik, wie dem des Genies und des Symbols tritt es deutlicher heraus, aber alles bleibt in ersten Ansätzen stecken, .«,."." Im Verhältnis von kategorialer Bestimmtheit und Erfahrung von Einzigem, Individuellem, kommt Natorp auf Kants Begriff der "reflektierenden Urteilskraft" zurück, und zwar zur Verdeutlichung des Unterschieds zwischen "Erklären" und "Verstehen""93.

Natorp geht davon aus, daß Individuelles letztlich nicht erklärbar ist, und führt den Begriff des "Verstehens" auf die regulative Reflexion zurück, die er am Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem erläutert: "Das Wesentliche und keineswegs bloß Subjektive daran ist die Umkehrung des Verhältnisses zwischen dem Individualen und Universalen, zwischen der Tatsache und dem Gesetz. .,. Die reflektierende Urteilskraft kehrt das Verfahren (der bestimmenden^) um, wendet es zurück (d.h. 'reflektiert') in das Individuale selbst, und bestimmt erst von diesem aus den Gang, den dann die Besonderung vom allgemeinen Gesetz aus zu nehmen hat, um das Individuale zu treffen? nicht zwar es zu er90 91 92 93

Vgl. Kant, K d r V , 2, A u f l . , S „ 87. Vgl. Hatorp , Philosophische S y s t e m a t i k } S. 23o. ib., S. 118, vgl. S. 122. V g l . l b , , S. 221 NatorAblehnung des g e i s t e s w i s s e n s c h a f t lichen Dualismus. 94 Zusatz des Vf.

174

Ästhetische Grundkriterien Natorps

reichen (zu erreichen ist es im absteigenden Gang der Besonderung vom Gesetz aus eben nicht), aber doch die Richtung festzulegen, ...". Reflexion in ihrer regulativen Geltung wird damit aufgrund der Kategorie der Individualität bereits im Theoretischen erforderlich, nach Natorp jedoch nicht erst in der Biologie, wie in Kants Teleologie, sondern sofern es überhaupt um Tateachenbeetitnmung in ihrer Singularität geht. Das Problem der Individualbestimmung wird noch dringlicher im praktischen und poietischen Bereich: " . „ . daß alles Gesagte nicht im theoretischen Bereich allein gilt, sondern ebenso im praktischen und im poietischen, welcher Stufengang selbst eine fortschreitende Näherung zur Individualbes t imrnung bedeutet, denn schon das Praktische ist dem Individualen einen großen Schritt näher, ohne es jedoch ganz zu erreichen. Die Poiesis lebt ganz in ihre; wie denn auch die Individualität im verschärften Sinne eigentlich an ihr zuerst entdeckt worden ist."95 Gegen die Kantische Einordnung des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen in die Urteilsart der Quantität wandte sich bereits Hegel in seiner Logik und, in einer Kritik am uneingestandenen Empirismus Kants in der Kategorienlehre , bekommen das Allgemeine, Besondere und Einzelne ihren Ort in Hegels Lehre vom Begriff 97 . Sie sind die drei Momente des einen Begriffs, Als diese Einheit können im Begriff

Verstand und Vernunft nicht

QQ

getrennt sein Als dialektischer entwickelt der Begriff durch Negation und durch Negation der Negation seine Momente. "In dem Begriff ist die Identität zur Allgemeinheit, der unterschied zur Besonderheit, die Entgegensetzung, die in den Grund zurückgeht, zur Einzelheit fortgebildet. In diesen Formen sind jene 99 Reflexionsbestirranungen, wie sie in ihrem Begriffe sind.""~ Für die "Einzelheit" als drittem Moment ergibt sich: "So unmittelbar die Allgemeinheit schon an und für sich selbst Besonderheit ist, so unmittelbar an und für sich ist die Besonderheit auch Einzelheit, welche zunächst das dritte Moment des Begriffes, in95 96 97 98 99

ib., Vgl» Vgl. Vgl. ib.,

S. 2 2 2 . Hegel, Logik II, S. 253, Anmerkung. ib., S. 238-264 und Ä s t h e t i k I, S. 112-116, Logik II, S. 2 5 2 . S. 256.

Zur Geschichte des Individualitätsproblems

175

sofern sie gegen die beiden ersten festgehalten wird, aber auch als die absolute Rückkehr desselben in sich, und zugleich als der gesetzte Verlust seiner selbst zu betrachten ist." "Die Einzelheit ist aber nicht nur die Rückkehr des Begriffes in sich selbst, sondern unmittelbar sein Verlust. Durch die Einzelheit, wie er darin in sich ist, wird er außer sich und tritt in die Wirklichkeit." 101 Dieses Außersichsein des Begriffs im Moment der Einzelheit bedeutet also den Schritt in die "Wirklichkeit" und das Erfassen des "Prinzips der Individualität und 1 f\ 1 Persönlichkeit" ' . in der Funktion der Einzelheit als Richtung aufs Individuelle und Wirkliche finden wir eine Prallele bei Natorp r insbesondere in der Spätphilosophie. Sie liegt einmal in dem Versuch der Verknüpfung von Verstand, Vernunft und Urteilskraft, zum anderen in der Einführung des systembegründenden Dreiphasengesetzes« Aber auch in der Ästhetik kommt es zu einem interessanten Vergleich zwischen Hegel und Natorp. Bei Hegel gewinnt die Kategorie der "Besonderheit" zum ersten Mal eine fundamentale Bedeutung für die Ästhetik 103 . Hierauf hat vor allem Georg Lukäcs aufmerksam gemacht und diese selbst in seine Ästhetik an zentraler Stelle als "Kategorie" aufgenommen . Der Zusammenhang zwischen Hegels Logik und Ästhetik im Moment der "Besonderheit" scheint im Verhältnis von Idee und Begriff des Schönen zu liegen ° „ Diesem Zusammenhang soll hier soweit nachgegangen werden, wie es um eine Analogie zwischen Hegel und Natorp in dieser Bestimmung geht: das Verhältnis von Idee und Begriff des Schönen treibt offenbar in Hegels Ästhetik jene Bestimmung hervor, daß die Kunst zum "Besonderen" neige„ Vorausgesetzt sind dabei eine Reihe dialektischer Bestimmungen: "Idee nun überhaupt ist nichts anderes als der Begriff, die Bealität des Begriffs und die Einheit beider." 106 Dies also gilt allgemein,, Für die. Objektivität des Begriffs im Schönen gilt ib., S. 253. ib., S. 262. Vgl. ib., S. 260/261. V g l , Ä s t h e t i k I, S. 158; Ästhetik II, S. 3 H 7 ; Ästhetik I , S. 543-561. lot Vgl, G . LukScs, Die Eigenart des Ästhetischen I, 2, S. 193256. 105 Vgl. Hegel, Ä s t h e t i k I , S. 112-121, 106 Vgl. i b . , S. 112. 100 101 102 103

176

Ästhetische Grundkriterien Natorps

dann: "Denn der Begriff erlaubt es der äußeren Existenz in dem Schönen nicht t für sich selber eigenen Gesetzen zu folgen, sondern bestimmt aus sich seine erscheinende Gliederung und Gestalt, die als Zusammenstimmung des Begriffs mit sich selber in seinem Dasein eben das Wesen des Schönen ausmacht. Das Band aber und die Macht des Zusammenhalts ist die Subjektivität, Einheit, Seele, Individualität,, " Diese Subjekt s theoretische Bestimmtheit wird von Hegel in der Lehre vom "Ideal" wieder aufgenommen . Die Bestimmtheit der Seele als Individualität wird zunächst allgemein eingeleitet: "Das Allgemeinste, was sich unserer bisherigen Betrachtung nach vom Ideal der Kunst in ganz formeller Weise aussagen läßt, geht darauf hinaus, daß einerseits zwar das Wahre nur in seiner Entfaltung zur äußeren Realität Dasein und Wahrheit hat, andererseits aber das Außereinander derselben so sehr in Eins zusammenzufassen und zu halten vermag, daß nun jeder Teil der Entfaltung dieser Seele, das GanIo9 ze an ihm erscheinen kann." J Das Ideal als "schöne Individualität" wird von Hegel gegen die Individualität des natürlichen Dings und der natürlichen Seele abgegrenzt: die erste als "Beschränktheit"/ weil ohne "Selbständigkeit" und "Freiheit", die zweite als "nur innerliche Individualität" „ Dagegen bedeutet das Kunstideal ein Geistiges, indem in ihm "das nur Äußerliche und nur Innerliche zusammenfallen" . Das Ideal des Schönen wird von Hegel folgendermaßen bestimmt: "Das Ideal ist demnach die Wirklichkeit, zurückgenommen aus der Breite der Einzelheiten und Zufälligkeiten, insofern das Innere in dieser der Allgemeinheit entgegengehobenen Äußerlichkeit selbst als lebendige Individualität erscheint. Denn die individuelle Subjektivität, welche einen substantiellen Gehalt in sich trägt und denselben zugleich an ihr selber äußerlich erscheinen macht, steht in dieser Mitte, in der das Substantielle des Inhalts nicht abstrakt für sich seiner Allgemeinheit nach heraustreten kann, sondern in der Individualität noch eingeschlossen bleibt und dadurch mit einem bestimmten Dasein verschlungen erscheint - welches nun auch seinerseits, von der bloßen Endlichkeit und Bedingtheit losgewunden, mit dem Inneren der Seele zu freiem Einklang zusammen107 108 109 110 111

ib.» Vgl. ib, , Vgl, Vgl.

S. 118. ib., S. 155-162, S „ 155. ib. , S. 156. i b . » S. 158.

Zur Geschichte des Individualitätsprobleins

177

112 geht."""" "Diese Kraft der Individualität, dieser Triumph der in sich konzentrierten konkreten Freiheit ist es, den wir besonders in antiken Kunstwerken in der heiteren Ruhe ihrer Gestalten erkennen."113

Soweit ist bei Hegel von der "Individualität" die Rede. Es scheint aber einen Unterschied zu machen, ob es sich beim Schönen um das Ideal selbst oder um die Kunst als konkrete handelt; denn Hegel beschließt sein Kapitel über die "schöne Individualität" mit dem Rückgang aufs "Besondere": "Denn das Ideal bedarf eines in sich substantiellen Gehalts, der freilich dadurch, daß er sich in Form und Gestalt auch des Äußeren darstellt, zur Besonderheit und hiermit zur Beschränktheit wird, doch die Beschränktheit so in sich enthält, daß alles nur Äußerliche daran getilgt und vernichtet wird." 114 Die Gebundenheit an die Natur als substantiellem Medium scheint es zunächst zu sein, die die Kunst zur Besonderheit bestimmt. Dazu tritt bei Hegel an anderer Stelle, über das poetische Kunstwerk, ein Moment der spezifischen künstlerischen Intentionalität: "... daß die Kunst beim Besonderen zu verweilen liebt" , nämlich ganz im Gegensatz zum theoretischen und zum praktischen Interesse, dies begründet einen dritten Gesichtspunkt: "... auf die Besonderung nämlich des Kunstwerks in sich zu einzelnen Teilen, welche, um in eine organische Einheit treten zu können, als für sich selber ausgebildet erscheinen müssen." Die Verschlungenheit von Individuellem, Besonderem und Allgemeinem erfährt im Kunstwerk eine von Theorie und Praxis verschiedene strukturale Ausprägung: "Fehlt dagegen den einzelnen Teilen die individuelle Lebendigkeit, so wird das Kunstwerk, das wie die Kunst überhaupt dem Allgemeinen nur in der Form der Besonderheit ein Dasein geben kann, kahl und tot." Schließlich kann das Besondere in der Kunst auch als inhaltliches Moment auftreten, nämlich in der "romantischen Kunst" 112 113 114 115 116 117 118

ib., ib. , ibe> Vgl. ib., ib., Vgl,

l R

: "Hier ist

S. 158. S. 159„ S. 162. Hegel, Ä s t h e t i k I I , S. 347. S. 347. S, 248. Ä s t h e t i k I, S. 549-561.

es also die Welt des Be-

178

Ästhetische Grundkriterien Natorps

sonderen, Daseienden überhaupt, welche für sich frei wird und, « , . » , sich auf ihre eigenen Füße stellt und in ihrem eigenen Bereiche selbständig ergeht."'119 Solche Inhalte sind bei Hegel vor allem: die "Selbständigkeit des Charakters", die "Zufälligkeit" und die "Zerfallenheit"„ Aus diesem geschichtlichen Aspekt der Besonderheit der Kunst folgert Hegel schließlich, daß die Kunst "endet mit der produktiven Macht der künstlerischen Subjektivität über jeden Inhalt und jede Form" °. Bei Hegel bleibt das "Einzelne" an das "Besondere" in der Kunst gebunden. Aber es kann bei ihm nicht in der Weise streng T 2l terminologisch vorgegangen werden, wie es z a B . Lukäcs "" gerne sähe. Die Eindeutigkeit, mit der dieser die "Besonderheit" als Kategorie in der Ästhetik ansetzt, geht über Hegel hinaus, und zwar in einer Weise, daß eine überbetonung des normativen Aspekts nicht ausgeschlossen wird. Als Kategorie, und zwar Realkategorie, der Vermittlung zwischen Allgemeinem und Einzelnem ist das Besondere bei Lukäcs zugleich zentrale Kategorie der 122 Bestimmung "* . In der Ästhetik wird diese Funktion nicht bloß prozessual realisiert, sondern zum Ausgangspunkt eines "typisehen"'123 " Erfassens des Besonderen als "Mitte": "Das Spezifische der ästhetischen Sphäre ist, daß die Besonderheit nicht einfach als Vermittlung zwischen Allgemeinheit und Einzelheit gesetzt wird, sondern als organisierende Mitte." 124 Der Begriff der "Mitte" ist nun bei Lukäcs zugleich ein grundlegender anthropologischer und ethischer Begriff 125 ' . Der Exkurs über Hegel und Lukäcs macht deutlich, daß die ästhetische Kategorie des "Individuellen" bzw„ des "Besonderen" in ihrer Bedeutung von der jeweiligen logischen Grundkonzeption vorgeprägt ist. Darum ist auch ein unmittelbarer Vergleich etwa zwischen Hegels, Lukäcs', Natorps und N. Hartmanns Auffas119 12ü 121 122 123 12it 125 126

ibe, ib., Vgl, Vgl„ Vgl. Vgl. Vgl. Vgl„ 348,

S. 5 U 9 . S, 551. Lukäcs, ib., S. I b . , S, ib. , S, i b . , S. auch N.

Die Eigenart des Ä s t h e t i s c h e n 1,2, S. 193-266. 196 und 2 u ^ e 239. 2o6. 2o7-226. H a r t m a n n , Der Aufbau der realen W e l t , £ „ 335-

Zur Geschichte des Individualitätsproblems

179

sung nicht durchführbar„ Der Zusammenhang zwischen Grundlehre und spezieller Disziplin ist konstitutiv, und Vergleich oder Kritik der Ästhetik betreffen auch die Grundlehre. Insgesamt gesehen fällt a u f , daß die Notwendigkeit einer Kategorienlehre als ästhetische Fundamentaltheorie von den verschiedenen Standpunkten aus gleichermaßen zugegeben werden muß. Die Frage nach der kategorialen Begründungsmöglichkeit des Individuellen stellt heute Wolfgang Cramer sung nach ist

, Seiner Auffas-

das "Einzelsein des Einzelnen bislang noch in

keiner Philosophie bewältigt worden"„ Er macht selbst den Versuch, im Ausblick auf eine noch auszuführende Kategorienlehre Bestimmungsstücke für das "Einzelne" zu finden. Der Begriff des Individuums enthält drei verschiedene Bestimmungen: (a)

Individuum ist

(b) Es ist

soviel wie Einzelnes*

zugleich ein unteilbares Einzelnes.

(c) Als Individualität ist es einzig und einmalig. In der Ableitung dieser Bestimmungen müssen Cramer zufolge

ei-

ne Reihe von Schwierigkeiten überwunden werden., Diese sollten hier in wenigen Punkten widergegeben werden, da sie mir für die Probleme, die in Natorps Spätphilosophie a u f t r e t e n , paradigma128

tisch erscheinen '

. Es geht um die Zusammenhänge zwischen Ein-

zelsein, Kategorialität f

Absolutheit, Arten des Seienden, Mona-

de und Geist: {!) Einzelnes kann nicht Prädikat oder Inbegriff von Prädikaten sein„ Gesucht sind dennoch allgemeine Bestimmungen, die Einzelnes als Einzelnes konstituieren» Das Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem kann kein Korrelationsverhältnis sein, sondern nur das von Kategorie und kategorial Bestimmtem. Einzelnes ist (2)

nicht Kategorie, sondern Einzelnes v^n Kategorie.

Kategorien sind Formen der Bestimmtheit von möglichen Ein-

zelnen,,

(Damit sind sie noch nicht Verstandskategorien!) Grund

der Bestimmtheit von Kategorien ist ferenziert in

das Absolute, das sich dif-

(a) Denken oder Selbstbestimmen und (b) Aktion

1 2 7 Vgl. z u m F o l g e n d e n : W a C r a m e r , I n d i v i d u u m u n d Kategorie ( 1 9 6 2 ) o Auf ästhetische Probleme speziell geht Cramer nicht ein. Es geht um eine b e g r ü n d e t e G r u n d l e h r e . 128 V g l . die R e z e n s i o n von Dieter H e n r i c h , Über System und Methode von Cramers d e d u k t i v e r Monadologie ( 1 9 5 8 ) , zu N a t o r p S. 261.

18

Ästhetische Grundkriterien Natorps

oder Geben„ ( 3 ) Das Einzelne ist durch das absolute Geben, Die Ungleichheit der Individuen beruht auf ihrer Gegebenheit, und zwar als Gattungen, "Die spekulative Philosophie muß zwar Kategorien ableiten, aber sie kann nicht Gattungen ableiten." (4) Die Bestimmung Unteilbarkeit des Einzelnen macht eine differenzierte Analyse des Begriffs des Teils erforderlich. Das Verhältnis von "Für-Anderes-Sein" und "Für-Sich-Sein" am Teil wurde von Leibniz nicht zuendegedacht 0 Nach Cramers Ableitung darf Einzelnes nicht Menge sein? wenn es unteilbar sein soll» Die Bestimmung gilt für Lebewesen, aber auch bereits für Substanzen. Besondere Widersprüche für den Anspruch der Unteilbarkeit ergeben sich im Hinblick auf die Tatsache des "Entstehens" von Organismen. Für das Verhältnis von Natur und Geist wird es in einer ausgeführten Kategorienlehre entscheidend sein, welche Rolle der Begriff des Mjments spielt u Es wird von Gramer die Möglichkeit von "Versetzungsverhältnissen" erwägt, nämlich: "daß Sprünge im Kategorienreiche derart sind, daß keine von zwei 129 {nicht beliebigen zwei!) Kategorien Moment der ändern ist." (5) Individualitäten zeichnen sich durch "Selbstbeziehung" aus. Sie werden Monaden genannt. Durch ihre Zentriertheit sind sie einmalig. Als Erleben zeugt die Monade ihre Welt. (Entgegen Leibniz ist nicht jedes Individuum Monade,,) Das heißt, sie "per*· zipiert und verhält sich agierend zu dem Perzipierten." ( 6 ) Die Kategorie des Geistes ist Selbstbestimmen. Denken ist von bloßem "Sichbestimmen" durch das Zeugen von Bestimmtheitsgedanken oder (Verstandes-)Kategorien unterschieden„ Die Schwierigkeit liegt in der Bestimmung der Individualität als Faktizität und Prinzip, als endlich und unendlich* Das Problem kann nur mit Hilfe der spekulativen Absolutheitstheorie angegangen werden. Cramer skizziert eine dreistufige Theorie des "Werdens" mit einer abschließenden Stufe des Geistes» Alle Stufen gelten als "Modi der Entäußerung" des Absoluten a Die Kategorienlehre Cramers wird gegenwärtig von reflexionstheoretischen Richtungen kritisiert. Das Problem der Letztbe129 Hier k o r r i g i e r t Gramer seine f r ü h e r e K o n z e p t i o n in "Grundlegung einer Theorie des G e i s t e s " » V g i « dort in der 2, A u f lage das N a c h w o r t , S. 88-lo5.

Individualität und Gemeinschaft

181

gründung scheint bei Cramer von der Subjektivität auf den Best immtheitsgedanken verschoben zu sein °„ Mir ging es in dem Zusammenhang des Individualitätsproblems um den Aufweis des Umfangs und der Schwierigkeiten, die dessen Bestimmung enthalten. In Natorps Spätphilosophie leitet das Individualitätsproblem auf allen Stufen den Gedanken der Letztbegründung ein. Die absolute Bestimmtheit nennt Natorp "Individuität". Sie ist letzter Grund des Seins und letztverantwortlich für allen Sinn. Aber sie ist selbst nicht Kategorie» Das Verhältnis von kategorialen und nicht-kategorialen Bestimmtheiten ist bei Hatorp nicht aufgeklärte Es ist aber Thema in Cramers Philosophie, insbesondere in seinen Überlegungen und Ableitungen zum Begriff des Individuellen. Der historisch-systematische Exkurs sollte keine Entscheidungen über Richtigkeit und Nicht-Richtigkeit verschiedener Theorien fällen, sondern die Zusammenhänge, die das Individualitätsprinzip impliziert, aufweisen. Individualität erwies sich als kategoriales, als ästhetisches und schließlich als subjektstheoretisches Problem. (d) Gebietssystematische Stellung des Individuellen (früher Natorp) Das "Individuelle" in Natorps Ästhetik ist ein systematischer Begriff, das heißt, er erhält seinen Stellenwert und seine Bestimmtheit aus seiner Position in anderen Systemteilen. In der frühen Philosophie Natorps ist dieser Vergleich im Verhältnis der Ästhetik zu Theoretik und Praktik einerseits, zur Psychologie andererseits durchgeführte Das ästhetisch Individuelle fällt dabei äußerlich noch ganz auf die Seite des Objektiven. Das Verhältnis des Allgemeinen und Individuellen wird in dieser Abhandlung als Korrelationsprinzip paradigmatisch durchdacht132.

130 V g l „ D „ H e n r i c h , Über System und Methode von Cramers d e d u k tiver Monadologie, S a 26o-263, und H. Wagner, Ist Metaphysik des T r a n s z e n d e n t e n möglich? 131 Vgl. N a t o r p , Individualität und Gemeinschaft ( I 9 o 9 ) . 132 Vgl. i b , , S. 157.

182

Ästhetische Grundkriterien Natorps

Natorp geht also von einer allgemeinen Reflexion Über das Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem aus, mit dem Ergebnis133: - Das Spezifische ist begrifflich nur vom Generellen her zu fassen,, - Alle Spezifikation geht ins Unendliche. Daraus folgt: - Das Spezifische scheint im Verhältnis zum Begriff ein schlechthin Füreiaheeiendee, ein unfaßliches Ansich, jedenfalls ohne genus proxlmum, zu sein. - Dennoch ist im Begriff der Unendlichkeit die Richtungsbestimmtheit der Spezifikation gegeben» Natorp zieht daraus die Konsequenz: "Das individuelle vertritt die Diskretion, aber es bestände eben als das Diskrete gar nicht ohne das Kontinuum, dessen Diskretion es eben darstellt„ Damit fällt der täuschende Schein des auf sich stehenden Individuellen; freilich auch der eines außer aller Individuation bestehenden Gemeinsamen." 134 Wichtig an dieser Vorüberlegung Natorps ist die Einführung des Begriffs der "Kontinuität", der zwischen dem Generellen und dem Individuellen vermittelt, das heißt zugleich: auf beide angewiesen ist, wie beide auf ihn. In diesem Begriff kann eine Analogie zur "Besonderheit" als Vermittlung zwischen Allgemeinem und Einzelnem gesehen werden. Der Begriff der Kontinuität als Vermittlung kehrt in allen Gegenstandsrichtungen wieder. Eine Differenzierung des Begriffs des "Individuellen" soll die systematische Anleitung in objektiver und subjektiver Richtung brin-

gen: In der theoretischen Erkenntnis dominiert das Allgemeine. Das Einzelne interessiert nur als Fall des Gesetzes 135 " . Damit ist das Individuelle hier aber nicht getilgt, sondern als KorrelatBegriff tritt es in dreifacher Weise auf: (1) in der Grundfunktion des Erkennens, sofern sie mit Kant "Synthesis" ist136: "Synthetische Einheit ist Einheit eines 133 Vgl. ib., S. 153-157. 134- ib., S e 156/157, 135 Vgl« i b . , S. 157 und 168/169; vgl. auch über " G e s c h i c h t e " , S , 169 und 189. 136 Für dieses und die folgenden Zitate vgl. ib., . 15 .

Individualität und Gemeinschaft

183

Mannigfaltigen. Ein Mannigfaltiges aber setzt sich zusammen aus Einzelnen, " Die Vermittlungskategorie ist wiederum die "Kontinuität" : "Die synthetische Einheit ist nur ein anderer (und nicht der bezeichnendste} Ausdruck der logischen Kontinuität; Kontinuität aber ist, eben logisch, nur zu verstehen als Kontinuität eines Diskreten." (2) in "bloß" mathematischer Bedeutung: das Einzelne wird hier selbst als Allgemeines gedacht , und zwar: a) quantitativ als das numerisch Eine b) qualitativ als die Einzelheit ( z s B „ Farbe)

c) relational als Einzelwert der Funktion d) modal in der notwendigen Konstruktion (Darstellung, Anschauung) . Das Individuelle bleibt durchweg dem Allgemeinen unterworfen, da es nur in einem "Kontinuum" a u f t r i t t , nicht als Einzelnes, also entweder in einer Reihe, oder (bei der Anschauung) zur Darstellung des Allgemeinen,, l " R (3) in existenzialer Bedeutung " : der fundamentale Unterschied zum Mathematischen ist die "absolute Einzigkeit, in der die _ 139 Existenz gedacht wird"" . Die Methode der Individuation erreicht hier ihre äußerste Zuspitzung^ Unter dem Titel der Modalität zielt sie auf a) Raum und Zeit müssen - entgegen Kant 14o * - als Grundlagen der Existenzbestimmung einzige Ordnungsweisen sein u b) Empfindung bedeutet die Forderung der Wirklichkeitsbestimmung, die Auf gegebenheit des Gegenstandes. c) Das Problem der lebendigen Natur 141 ' beinhaltet, daß das Einzelne eine bestimmte Form des Naturprozesses wird: Selbsterhaltung ist - mit Kant - eine Individuation der Natur 3 die ein eigenes "Erkenntnisinteresse" erfordert, insofern sie bereits unter das regulative Prinzip des Zwecks fällt. Hier scheint auch der Aristotelische Substanzbegriff 137 JL38 139 l^o 141

Vgl, Vgl, ib., Vgl. Vgl,

i b s , S. ib., Se S, 162. i b . t S. ib., S.

16o. 161-166, 16o-163. 155-168,

184

Ästhetische Grundkriterien Natorps

berechtigt. Der teleologische Charakter des biologischen Individuums ist jedoch nicht absolut, sondern bewegt sich innerhalb eines bestimmten "Umfangs der Variabilität". Die Methode erfordert darum bloß eine Typik f deren teleologischer Gehalt im Begriff der "Entwicklung" dem Generellen untergeordnet bleibt. Als Ergebnis kann festgehalten werden: Das Individuelle bleibt 142 im Theoretischen abstrakt ' . In der praktischen Erkenntnis sind Allgemeines und Individuelles zunächst gleich wichtig,, Die Wechselbeziehung zwischen "Individuum und Gemeinschaft" ist fundamental. Damit bekommt aber die ganze Korrelation ein subjektstheoretisches Substrat. Das Individuelle wird im Begriff des "Individuums" positiver Wert. Das Allgemeine hat nicht mehr die bloße Geltung eines Ansichseienden, sondern die eines Für-Seins, der Aufgabe. Dennoch kommt das Allgemeine für die Vermittlung der Kontinuität zwischen den Individuen a u f : als objektive Inhalte begründendes allgemeines Sollen stiftet es erst Gemeinschaft. Erst in der Praxis kann darum auch von "Intersubjektivität" im Sinne der Wechselwirkung der Erkenntnis gesprochen werden 0 So hat das Individuum hier nicht Geltung als Einzelnes, Subjektives, sondern als "Arbeit, als Leistung". Der Eigenwert des Individuums in der Praxis wird von Natorp (1) genetisch und ( 2 ) konkret gefaßt: (1) genetisch im Begriff

der Bildung als Entwicklung einer

ein-

geschränkten Sinnlichkeit zu Talent und Charakter in der

reiferen Willenstätigkeit, bis zur Teilhabe "an der Höhe 144 der Menschenvernunft"" " .

(2) konkret im Begriff der Gemeinschaft als Freiheit', a) im Bereich des Sozialen, begründet durch die moralischen Individualwerte , die sich gemäß der Individualgenese differenzieren; b) in der Arbeit , die aber meistens noch heteronom aufgefaßt werde; Vgl. ib., S. 167 u. 143 Vgl. ib., S. 173-189. Vgi. ib., S„ 182/183, Die Stellung des "Genies" ist

halb dieses Bildungeaspektes paradigmatisch«,

inner-

Individualität und Gemeinschaft

185

c) im Recht t sofern es dem Einzelnen einen Spielraum läßt. Die Positivität des Individuellen in der Praxis bemißt sich am Gesetz dev Gemeinschaft, Dieser bloß ideale Gemeinschaftsbegriff verhindert also die Einbeziehung der konkreten Subjektivität in die Prinzipienanalyse der Praxis. Darum bleibt die Autonomie der praktischen Erkenntnis ans Allgemeine gefesselt. Das Recht ist eine bloß formale Größe. Arbeit und soziale Werte werden schließlich beim späten Natorp nicht mehr in einer idealistischen Tugendlehre, sondern durch eine sozial-idealistische Wirtschafts- und Gesellschaftslehre begründet. Das Positive des Individuellen hat beim frühen Natorp nur Wert als Stufe im Aufstieg zur Ideef in der Generelles und Individuelles überhaupt nicht zu trennen sind a Individuelle Praxis im Horizont der Gemeinschaft bleibt, aufgrund ihrer Gerichtetheit auf die Idee r an den theoretischen Wirklichkeitsbezug zurückverwiesen. Das Allgemeine des Theoretischen ragt auf verschiedene Weise in die Praxis hinein 145 · (1) durch das Biologische als Substrat des Individuums, ( 2 ) durch das Technische und ukonomische als materieller Grundlage, (3) durch Recht und Staat als formalen Faktoren, ( 4 ) durch die Geschichte als Entwicklung der Humanität. Dieser letzte Faktor der Geschichte ist bei Natorp sowohl theoretisches als auch praktisches Erkenntnisfeld . Sofern Geschichte als Gegenstand von Wissenschaft in Betracht kommt, steht sie unter theoretischer, das heißt hier, Geschehensgesetz· lichkeit» Das bedeutet für das Individuum, daß es Geschichte betrachtet und als Geschichtswissenschaftler hinter dem Allgemeinen des Gegenstandes zurücktritt„ Sofern aber Geschichte gemacht wird, tritt das Individuum aus der Distanz zum Allgemeinen in die Position seines Äquivalents. Dann aber ist wertendes Verhalten aus dem Gesichtspunkt der allgemeinen Idee des Sollens gefordert» Das historische Individuum tritt damit unter den ethischen Gesichtspunkt, und zwar in einer solch radikalen

Vgl. ib., S. 189. Vgl,

ib., S. 169 und 189.

186

Ästhetische Grundkriterien Natorps

Weise, daß die Person neben ihrem geschichtlichen Werk nicht noch einen Eigenwert zu beanspruchen hat„ Das Individuum übernimmt gleichsam nur eine Rolle im Kandlungsdrama und gehorcht damit objektiven Gesetzen 147 , Das bedeutet: indem das Individuum sich zum Allgemeinen verhält, tritt es in konkrete Auseinandersetzung mit ihm« Darum ist außer dieser Auseinandersetzung das Subjekt als praktisches nicht existent. Seine Gültigkeit bezieht es aus seiner produktiven Allgemeinheit. Daraus ist zu erkennen, daß mit zunehmender Entneutralisierung des Subjekts auch das Allgemeine von einem nur geforderten Modus in einen aktiv zu gestaltenden übergeht. Im Ideal der "Menschheit" bindet die praktische Idee auch noch das "Genie". "Den höchsten Eigenwert erreicht das Individuelle im ästhetischen Gebiet." Um die Interpretation dieses Satzes geht es in der Ksthet-Lk,, Das Problem formuliert Natorp weiter unten: "Das Schwerste des ästhetischen Problems liegt eben hierin: wie die künstlerische Phantasie in ihrer unendlichen Beweglichkeit zugleich die unausweichliche Bestimmtheit erreicht; was überhaupt es ist, das sie bestimmt, da es allgemeiner ^ . _ Begriff (wie in allem Wissenschaftlichen) nicht sein kann." Natprp stellt damit das ästhetische Individuelle dem theoretischen Begriff gegenüber, wie er in den Wissenschaften auftritt. Von diesem Problemansatz her, nämlich daß die individuelle Produktion oder die unendliche Phantasie überhaupt Begrifflichem konfrontiert wird, mußte Natorp notwendig zu einer zunächst schematisierenden Erklärung des Ästhetischen kommen, Er fragt nicht, ob das Ästhetische sich in der Gegenüberstellung begreifen läßt« Natorp löst das Problem vorläufig so, daß er eine Formel als logische Synthese der beiden vorhergegangenen Systemstücke für die philosophische Diskrepanz zwischen Subjekt und Begriff findet: "Es scheint hier, so paradox es lautet, das überindividuelle geradezu das Individuelle als sein Höheres anzuerkennen." ° Hinter dieser dialektischen Formulierung verbirgt sich die noch zu lösende Aufgabe der Negation des Be147 V g l . dazu N a t o r p , Vorlesungen über Praktische Philosophie» S. 359 und 376. 148 Vgl e K a t o r p , Individualität und G e m e i n s c h a f t , S. 19o. 149 ib. , S. 194. 150 H a t o r p , Philosophie, Ihr Problem, S. 98,

Individualität und Gemeinschaft

187

g r i f f s , die von Natorp hier als "Nichts" gekennzeichnet wirdi " D . s überhaupt nach nichts ist hier die Frage". Natorp scheint sich an dieser Stelle, wo das Allgemeine in seiner Bedeutung dem Individuellen gegenüber nichts ist als besondere Frage, der Begrifflichkeit im Terminus "nichts" zu enthalten. Wo bleibt also das vermittelnde Moment zwischen Allgemeinem und Individuellem im Ästhetischen, das Natorp in theoretischer und in praktischer Erkenntnis als "Kontinuität" angesetzt hatte? Die für das begriffliche Denken paradoxe Seinsweise des Allgemeinen und Individuellen im Ästhetischen wird beim frühen Natorp durch die für die Funktion des Ästhetischen gefundene Fwmel des "Als~obn erläutert 152 " „ Sie fordert für die Vollendung der theoretischen und der praktischen Idee eine solche Art von Objekten, die "Wirklichkeit" integrieren. Wollen wir dem ästhetischen Gegenstand von seiner autonomen Dimension her auf die Spur kommen, so ist es die Verdeutlichung des Nichts, das sich dem theoretischen und praktischen Erkennen als positiver Begriff verborgen hatte. Die Irrationalität des existierenden Gegenstandes und die Irrationalität des handelnden Einzelsubjekts konnten unter dem Anspruch der Rationalität des Begriffs und der Idealität der Gemeinschaft nicht voll erfaßt werden. Sie blieben Grenzvorstellungen des theoretischen und praktischen Erkennens 0 Im ästhetischen Gebiet bleibt aber die Individualität nicht bloßer Grenzbegriff, sondern fällt mit dem Objekt zusammen, das daher - vom Anspruch des Begriffs aus - selbst irrational bleiben muß. Das Individuelle des "Kunstobjekts" ist "irrational . 0 . im verschärften Sinne des durchs Rationale überhaupt nicht Darstellbaren" . Für die Erfassung des Kunstwerks gilt darum analog der Erfassung von Existenz und Individualität des Individuums, daß der Begriff es nicht erreicht, sondern allenfalls Grenzlinien ziehen kann für die Bewegung der Vorstel-

151 Vgl. Individualität und G e m e i n s c h a f t , S, 19o: das "Nichts" ist hier nur implizit g e f a ß t , und es wird erst explizit in der späten L o g i k , durch die R e z e p t i o n Platts und Heraklits. 152 V g l , N a t o r p , Philosophie, Ihr P r o b l e m , S. lol. 153 ib , » B. loo.

188

Ästhetische Grundkriterien Natorps

lung: "Ein echtes Kunstwerk ist nie ausrechenbar, sonst wäre 154 es nicht individuell."'""' Das ausschließende Verhältnis des Kunstwerks zum Begriff führt Natorp auf ein vergleichbares Verhältnis in der Psychologie: "Entzieht sich also das Kunstwerk gar allem Begriff? Nein; wie könnte es sonst Objekt sein? Aber es gibt auch einen Begriff des Individuellen: das Erfassen der 'Einheit des Mannigfaltigen' im Individuum ist auch B e g r i f f « " Natorps Feststellung bezieht sich bereits auf das Individuelle in "psychologischer Bedeutung" . Das "Erleben" ist nach Natorp "in der Tat streng individuell" 0 Dennoch ist es dem Begriff auf zweierlei Weise zugeordnet: - durch seine Inhaltsbezogenheit, die vom Subjektiven abstrahiert und objektiv zugänglich sein muß; - durch das zwar individuelle, aber nur am Erlebten entwickelte Selbstbewußts ein u Die Einheit des Mannigfaltigen im Individuum ist das Thema der philosophischen Psychologie, in der der Geltungsgedanke subjektstheoretisch verlängert wird,, Für die Problementwicklung in der Ästhetik wäre es vorteilhaft, wenn ihr in der Disziplinenfolge die Psychologie vorausginge, da diese im "Begriff" des Individuellen als Erleben Konstitutionsmomente des "Individuums" aufdeckt, die die Forderung eines dem Erleben adäquaten Objektsbereichs erst deutlich machen: ich meine Konstitutionsmomente, die Reflexionsbestimmtheit begründen, Natorp verfährt schematisch, wenn er die verschiedenen Objektsbereiche sich folgen läßto So kommt das Verhältnis von Kunst und Erziehung an drei verschiedenen Stellen zur Sprache: in der Ästhetik, in der Psychologie und in der Sozialpädagogik, und überall fragmentarisch, weil an keiner Stelle das Verhältnis von "Erleben" und "ästhetischem Erleben" als - objektives bei Künstler und Betrachter und - subjektives unter dem genetischen und sozialen Gesichtspunkt

Natorp, Individualität u n d G e m e i n s c h a f t , S . 155 ib., S,193. 155 Vgl. ib., S, 197-2o7.

Natorps Schematismus der Bildung, Erziehung und Gemeinschaftsstiftung, im Zusammenhang thematisiert wird e (e) Schematismus in der Stellung des Ästhetischen Die Stellung der Ästhetik beim frühen Natorp ist schematisch, weil der objektivistische Geltungsgedanke eine Parallelität von Objektsbereichen und Objektsautonomien vortäuscht, der subjektstheoretisch zu Verlegenheiten führt wie der Auskunft am Ende des praktischen wie des ästhetischen Kapitels, "... daß die Höhe der individuellen Gestaltung mit der Höhe der Gemeinschaft nicht streitet, sondern Hand in Hand geht" " , bzw. "... daß mit der Vertiefung der Gemeinschaft die Individualität nicht abT CD nimmt, sondern wächst" , Diese Sätze bleiben unklar, wenn man nicht hinzudenkt, daß das Individuum in der Praxis unterbestimmt bleibt und daß Gemeinschaft, abgesehen von "höher" und "tiefer", im Praktischen nicht dieselbe sein kann wie im Ästhetischen, wenn "Gemeinschaft" nicht gar ein genuin praktischer Begriff sein sollte, dessen Funktion in der Ästhetik noch völlig unausgewiesen ist, so lange nicht auf subjektstheoretischem Wege, unter Einbezug der philosophischen Psychologie in die Grundlehre, die Notwendigkeit ästhetischer Kommunikation konstitutionstheoretisch deutlich gemacht ist. Das Schematisehe an der frühen Ästhetik Natorps ist, daß sie die "Wahrheitsfrage" des Ästhetisehen nur Objektstheoretisch stellt 159 " , während der Subjektsbezug nur anhangsweise zur Sprache kommt. Die kategoriale Begründung der Poietik im SpMtwerk geht davon ab und kommt fconsequenterweise zu einer stärker subjektstheqretischen Formulierung der poietischen Wahrheit. Die Kunst ist nicht mehr das Paradigma des ästhetischen Erlebens; sie kann diesem sogar entgegengesetzt sein a Der Schematismus der frühen Ästhetik äußert sich in der Art der Problemstellung für die ästhetische Individualität. Ich will versuchen, sie in vier Schritten zu skizzieren als; 157 Vgl. ib., S, 197. 158 V g l . i b e , S. 185..

159 Vgl. i b . » S. 196: "Wir haben bis hierher das ästhetische Objekt selbst als Individuelles ins Auge g e f a ß t . " 160 Vgl. Natorp, Philosophische Systematik, S. 379-381: Kunst als "Pseudo-Kategorie" t ebenso wie "Kultur",

19o

Ästhetische Grundkriterien Natorps

{1} Geltungsfrage (2) Objektsfrage (3) Subjektsfrage (4) Wahrheitsfrage,, Diese Aufstellung geht insofern über den Text Natorps hinaus, als die Subjektsfrage und die Wahrheitsfrage von Natorp nicht einheitlich und explizit gestellt werden; sie sind Ergebnis der Textanalyse, (1) Die ästhetische Geltung s frage hat zu prüfen, wie es möglich ist, daß das Individuelle im Ästhetischen das Bestimmende ist . Die Geltungsproblematik selbst läßt sich aber nur negativ formulieren: als Ablehnung von Frage, Gesetz, Norm. Positiv bleibt es bei der Formel: "... sondern was ist, will schlechterdings so angesehen sein, als solle es sein, was sein soll, als sei es." Sie muß durch die Bestimmung der ästhetischen Wahrheit ausgelegt werden« Die Frage nach der spezifischen Kontinuität zwischen Subjekt und Objekt im Ästhetischen ist unterschlagen. Subjektivität und Objektivität kommen aber durch die Reflexion auf die geltungslogische Allgemeinheit und Notwendigkeit ins Ästhetische„ Für eine Antwort zentral ist Natorps Satz: "Nichts hat in der Kunst, wenn nach dem Zweck und nicht bloß nach den 162 Mitteln gefragt wird, allgemeine Notwendigkeit..." J . Dieser Satz ist in seiner NegativitMt für die Schwierigkeiten bezeichnend, denen Natorp sich in der ästhetischen Geltungsbestimmung gegenüber sah und die er in der gegenstandstheoretischen, reinen Bewußtseinslehre nicht lösen konnte a Die Stellung der Kategorien des Allgemeinen, Besonderen, Einzelnen und die Stellung der Modalitätskategorien Möglichkeit, Notwendigkeit, Wirklichkeit muß fürs Ästhetische geklärt werden« Denn beide Bestimmungsarten beanspruchen Durchgängigkeit, Fundamentalitat, und beide müssen zugleich Differenzierungen, Geltungsdifferenzierungen, leisten e Die Schwierigkeiten werden erst durch die späte Logik als vor-theoretisches Reflexionsfeld durchschaubar. Natorp hilft sich in der frühen Lehre anders, da ihm hier weder

161 V g l e N a t o r p , I n d i v i d u a l i t ä t und G e m e i n s c h a f t , S, 19o. 162 i b . , S. 191.

Natorps Schematismus

191

Dispositionsgesichtspunkte noch Modalkategorien als Funktionen zur Verfügung stehen. Er teilt den Geltungsgedanken in einen objektiven und einen subjektiven, indem er Allgemeinheit und Notwendigkeit auseinanderreißt: die Notwendigkeit ist die des Kunstuerfes, die Allgemeinheit liegt in seiner Bestimmung für alle, Insichbeschlossenheit und Reflexivität konstituieren den ästhetischen Bereich, und zwar durch Individualwerte j e k t s f r a g e im ästhetischen wird weiter u n t e n genauer d i s k u t i e r t « Vgl. Kapitel I I I . C . 2 .

192

Ästhetische Grundkriterien Natorps.

einen Erlebensbegriff zu antizipieren, ist evident. Aber die Möglichkeit des schöpferischen Erlebens und des Nacherlebens sind von Natorp bisher nur gefordert, nicht abgeleitet.Natorp hätte in einer Verbindung der ästhetischen mit der psychologischen Frage eine Gefahr gesehen. Er flüchtet folgerichtig in die Disjunktion von Bewußtsein und Bewußtheit, ohne das Verhältnis von "Selbst" und "Inhalt" zu klären, auf das in der ästhetischen Subjektsfrage alles ankommt „ Erleben muß nicht schon ästhetisch sein; aber Ästhetisches fordert immer Erleben. Inwiefern ästhetische Gültigkeit erst Erleben konstituiert, bleibt beim frühen Natorp ungeklärt. ( 4 ) Die ästhetische Wahrheit sfrage kompliziert das Verhältnis von Allgemeinem und Individuellem insofern, als in dieser Frage auf kein Substrat, weder auf das Werk noch auf das Erleben, zurückgegriffen werden kann. Individualität als Grund von Wahrheitsautonomie im Ästhetischen fordert den Zusammenhang mit Wahrheiten anderer Art 0 Der "Sonderanspruch" des Ästhetischen kann nicht absolut sein.. Er muß in Verbindung mit theoretischer und praktischer Wahrheit bleiben» Natorp leitet das Ideal der Kunst aus der "Verbindung" von Sein und Sollen im "Als-ob", einer bloß ideellen Modalität, ab. "Die Wahrheit solcher Dichtung liegt darin, daß diese Vereinbarung in der Tat gefordert \ fi R ist«," ' Damit beruht die ästhetische Wahrheit auf einem Postulat. Es wird in mehreren Schritten gerechtfertigt: - Die Forderung impliziert die Freiheit der Vorstellung gegenüber der Wirklichkeit; - Die Individualität des Kunstwerks impliziert eine Lebendigkeit als Unendlichkeit und zugleich Unmittelbarkeit durchgängiger Bezüglichkeit; - Durchgängige Beziehung impliziert Darstellung der Universalität des Bewußtseins, des höchst Allgemeinen, der Idee; - Schau, Anschauung der Idee, impliziert das Eingehen des Vollgehatts des Allgemeinen in das Individuelle; - Ästhetische Leistung als Integration des Allgemeinen um des 165 Vgl. i b . , S. 192 und 196/197«, 0.67 Vgl. ib. , S. 194. ib., S, 195,

Wirklichkeit und Individualität

193

Einzelnen willen impliziert die "Harmonie aller ursprünglichen Gestaltungsrichtungen" 169 . Sie ist darum "unentbehrliches Moment der Bildung1'. Die Begründungsschritte des individuellen Wahrheitswerts reichen damit von der subjektiven Vorstellung über die Allgemeinheit der Idee bis zur Selbstbestimmung der Subjektivität, Es wird darum sinnvoll sein, bei der Entfaltung der Grundmomente des Ästhetischen gerade von diesem Wahrheitswert des Ästhetischen auszugehen. ( f ) Kategoriale Stellung des Individuellen (später Natorp) In Natorps Spätphilosophie170 wird die Stellung des Individuellen nicht mehr aus dem Korrelationsprinzip entwickelt und schematisch in den Gegenstandsrichtungen abgeleitet, sondern nimmt innerhalb der ausgearbeiteten Kategorienlehre eine ganz bestimmte Stelle an deren Spitze, dem Telos, ein. Das soll hier in drei Schritten gezeigt werden: 1) als Problementfaltung, 2) innerhalb der Kategorienentwicklung, 3} im Zusammenhang der Gehaltstheorie . Problemansätze: Die Kategorie der "Wirklichkeit" als dritte Phase der Modalität nach Möglichkeit und Notwendigkeit zielt auf die "Faktizität" sowohl der "Tatsache" als auch des "Erlebens" i71 . Damit wird zwar der von Kant als Basis angenommene Erfahrungshorizont überschritten, aber - wie Natorp meint - nicht im metaphysischen Sinne, sondern im Sinne einer notwendigen Erweiterung des kritizistischen Ansatzes in Richtung auf die Faktizität des Erlebens: "Die Antwort ist einfach: unser Erleben ist doch wohl selbst wirklich. Was also sollten wir darin erleben, wenn nicht Wirkliches? Allerdings nicht schlechthin die Wirklichkeit, aber doch etwas, das ganz den Charakter der Wirklichkeit trägt, also doch eben Wirklichkeit l -" Der Ansatz beim theoretischen Erkennen als erstem Zugang zum Faktum wird aller— 169 ib., S, 196. 170 Vgl. zum Folgenden N a t o r p , Philosophische Systematik. 171 Vgl. ib., 5 37, S, 126-128,

194

Ästhetische Grundkriterien Natorps

dings verlassen: "Aber etwas ganz anderes ist es, Wirklichkeit erkennen, was sie ist. Erleben ist nicht erkennen." Die für das "erkennende, handelnde und schaffende Leben" als Ziel festgestellte Wirklichkeit wird im Erleben noch nicht "erfaßt" , sondern erst "anerkannt", "... daß es sie gibt, oder vielmehr, daß sie allein es ist, die überhaupt etwas gibt . . . " . Wirklichkeit, die durch die Uninittelbarkeit des Erlebens angezeigt ist, ist nicht bloß empirisch Seiendes, sondern qualita1 72 tiv bestimmt durch Einzigkeit . Auch die "Tatsache" ist nicht mehr nur "Fall von", sondern "Individuität": "Der letzte Grund dieses Verhältnisses zwischen Gesetz und Tatsache ist aber dieser: Notwendigkeit, Gesetz, bestimmt allgemein, mit aller Allgemeinbestimmung aber, und auch mit aller Besonderung, unter besonderen Gesetzen, aber doch eben Gesetzen, von nur engerer Allgemeinheit, wie weit auch die Besonderung gehen mag, wird nie die letzte Individuität, die Einzigkeit und damit Ganz-in-sich-Beschlossenheit der Tatsache erreicht. 1 '^ 73 Darum lehnt Natorp die Aristotelische Relativierung der Wirklichkeit auf den "endlichen Bereich" ab: "Und doch weiß Aristoteles sehr gut, daß das Letztwirkliche individual, einzig bestimmt sein müßte, diese Einzigkeit der Bestimmung aber durch keinerlei Allgemeinheit und dann Besonderung je zu erreichen ist." Einzigkeit gilt nicht nur von der unbelebten Natur, sondern auch von allem Lebendigen, das ebenfalls bei Aristoteles nur allgemein gefaßt ist: "Die ganze Erfülltheit des gelebten Augenblicks tritt nirgends auch nur als Problem a u f / geschweige daß die Denkmittel, welche die Aristotelische Philosophie aufzuweisen hat, zulangen würden, dies Problem auch nur aufzustellen 6 . „ Auf die ganze Frage des Letzt-Individualen hat Aristoteles keine Antwort, als daß es eben unbestimmbar ( ) sei." Ansätze für eine Lösung sieht Natorp historisch bei Heraklit, Plato, Plotin, Nicolaus Cusanus und vor allem bei Leibniz: "Dem harten Problem ging, man muß wohl sagen als erster, Leibniz zu Leibe und beantwortete es durch den Gedanken der Monade, die als absolutes Individuum die einzig echte ree, das echte Seiende ( d v » Wesen) sei» denn was nicht wahrhaft ein We172 V g l e zum Folgenden i b . , S. 115-119 173 i b e i S. 115.

Wirklichkeit und Individualität

195

sen, sei nicht wahrhaft ein Wesen," Die Reichweite der Individualitätsbestimmung wird in diesem Leibnizschen Gedanken logisoh-ontologisöh formuliert: "Die Einheit aber verstand er streng als Einzigkeit, als Individuität. Diese aber sei nur möglich durch die engste, logisch-ontische, ontisch- logische Einheit (Einzigkeit) der Monas, jeder Monas, ja sogar jedes gelebten Augenblicks, jedes Existenzpunktes der Monas, mit ihrer ganzen eigenen Vergangenheit und Zukunft, mit der ganzen Erlebenskette der einzelnen Monade, mit der ebenso unendlich voraus und zurück sich schlingenden Erlebenskette alles lebendigen, und zuletzt mit der eben dadurch bestehenden, vielmehr in diesem Ganzen nur sich ausdrückenden, allbefassenden Einheit der Einheiten, Monas Honadum, der Gottheit» " Aber nicht nur in der Logik und der Ontologie will Natorp das Individuelle berücksichtigt wissen,, Ebenso grundlegend sei es in der Wiseensehaftstheorie , wenn es um die Bestimmtheit von Natur und Geschichte geht» Die Leibnizsche These vom "individuellen Gesetz" gelte in Natur und Geschichte, nicht entweder nur in der Natur oder nur in der Geschichte. Gegen eine statische Naturbetrachtung wendet sich Natorp besonders im Hinblick auf Rickert: "Nichts ist falscher, als wenn man, mit Rickert, Gesetzlichkeit überhaupt starr und darum den Bereich der Natur, als den eben der starren Gesetzlichkeit, schroff entgegenstehend denkt dem der Kultur oder der Geschichte, als des allein Lebendigen; als ob da allein Individuität und freie, bewegliche, schöpferische Geistigkeit zu finden und überhaupt zu suchen sei»" Die Auseinandersetzung mit Rickerts Bestimmung des Individuellen als ausgezeichneter Geschichtskategorie wird von Natorp noch einmal in einer Kritik an Rickerts Wertbegriff aufgenommen ' , Die Zuordnung von Geschichte, Wert und Individualität in Rickerts Kultur lehre erscheint Natorp zu einfache Aufgrund seiner eigenen Kategorienlehre gehören "Geschichte" und "Wert" in der Entwicklung des Logischen der Funk t ions lehre im engeren Sinne an, und diese vertritt das Dispositionsprinzip der Besonderung in der Entwicklung der Form zum Gehalt des Logischen. Der Wert fällt unter die Kategorie der Aktualisierung und ist damit auf der Stufe der dritten Funktionsphase kategorial einVgl. zum Folgenden ib , , S, 198-2ol und 323. 175 Vgl. ib., S. 3 2 6 - 3 2 7 ; siehe u n t e n , Kapitel III. C. 3. b .

196

Ästhetische Grundkriterien Natorps

zuordnen. Diese entspricht zwar der dritten Stufe der Fundamentalkategorien, der Individualität, aber als spezielle logische Kategorie wird das Individuelle erst in der der Funktionslogik folgenden Gehaltslogik relevant» Dieser formalen Zuordnung kommt inhaltliche Bedeutung zu, insofern der Wert auf Graduierung angewiesen ist, die Individuität dagegen über einer solchen Abstufung stehti die Individuität ist absolut, "Individuation" als Kategorienordnung: Die Stellung der Kategorien der "Individuation" im System der Fundamentalkategorien gibt Aufschluß über die Bedeutung, die Natorp dem Problem des Individuellen, das in der frühen Philosophie nur in Grenzproblemen der objektiven Geltungslehre und in der Ästhetik auftaucht, später beimißt „ Unter den Titel der Individuation fallen bei Natorp die Kategorien: Qualität j Quantität und "Lokation"« Die Probleme, die sich für Natorp in der Kant-Rezeption ergaben, versammeln sich hier und führen zu einer korrigierenden Ergänzung der Kantischen Kategorienlehre Den Beginn des Kapitels über Individuation möchte ich hier zitieren, da er einen gerafften Überblick über die Stellung dieser Kategorien in Natorps Spätlehre gibt : "Als dritte Kategorienordnung zu denen der Modalität und der Relation stellen wir auf die der Individuation« Soll sie als solche gelten, so muß sich zeigen lassen, daß nach dem Gesetz des logischen Dreischritts erstens die Individuation der unerläßliche dritte Schritt ist, durch welchen das von der Modalität und der Relation zusammen Geleistete seine Ergänzung, seinen natürlichen, durch die Sache geforderten Abschluß findet.. Es muß zweitens gezeigt werden können, daß den je drei Phasen der Modalität und der Relation drei Phasen der Individuation so entsprechen, daß A) die Folge der Phasen der Individuation ebenso wie die der Modalität und der Relation das Dreiphasengesetz erfüllt; und daß B) auch die erste Phase der Individuation der ersten der Relation und der Modalität, die zweite der zweiten, die dritte der dritten in gleichem Sinne entsprechen, nämlich die drei ersten Phasen der drei Kategorienordnungen, die drei zweiten und die drei der drit176 Vgl, ib.,

S. 223-29o und 142-153.

177 Mir geht es im Zusammenhang der Ästhetik Natorps lediglich um die Stellung einiger Kategorien,, Eine E i n f ü h r u n g in Natorps spätere Grundlehre findet sich bei: Ernst Cassirer, Paul N a t o r p , in: Kantstudien 3o (1925) und bei: Heinrich Lev y » Natorps "Praktische Philosophie", in: Kantstudien 31 ( 1 9 2 6 ) . Bei Levy findet man auf S.315/16 zudem einen schematischen Überblick über das System der Grundkategorien.

Individuation als Kategorienordnung

197

ten je unter sich, entsprechend der Stellung der drei Ordnungen im ganzen System der Grundkategorien, wiederum das Dreiphasengesetz erfüllen. Stellt man also die Grundkategorien in drei Reihen zu je drei Kategorien so zusammen, daß die drei Phasen jeder der drei Ordnungen horizontal nebeneinander, die drei Ordnungen selbst vertikal untereinander stehen, so muß sich in der Horizontalen und in der Vertikalen das Dreiphasengesetz durchweg bewähren." Die drei Phasen der Individuation müssen das Ziel der gesamten Aufstellung der Grundkategorien enthalten. Sie müssen der Forderung individualbestimmender Kategorien genügen» Natorp kommt zu der Aufstellung gerade der Kategorien Qualität, Quantität und "Lokation" durch eine grundlegende Kantkritik, und zwar einerseits an der Kategorientafel, andererseits an der Anschauungslehre 178 ' . Wir konzentrieren uns hier jedoch nicht auf diese Kritik, sondern auf ihr Resultat insbesondere in der dritten Phase, da diese den positiven Sinn dieser Korrektur formuliert.

•t 70 Qualität und Quantität : "Was "-Be s timin the i t fordert, gegenüber den Modalitäts- und Relationskategorien, individualisierende Kategorien,, Aufgrund von drei Kriterien komme diese Funktion bei Kant den Kategorien der Quantität und der Qualität zu: (a) als mathematische sind sie apriorische Bestimmungen im Konkreten der Anschauung; (b) als konstitutive bleiben sie nahe der Anschauung; (c) gemäß den "Grundsätzen" sind sie "Axiome der Anschauung", bzw. "Antizipationen der Wahrnehmung"„ Natorp folgert: Die enge Beziehung dieser Kategorien zum Unmitelbaren macht die Aufgabe der Individuation, der Individualbestimmung, evidente Gemäß der Funktion von Qualität und Quantität stellten schon Cohen und vor ihm Hegel beide Kategorien in eine Kategorienordnung, da sie sich als Intensität und Extensität der Bestimmung gegenseitig voraussetzen» Die Qualität wird die fundamentalere Kategorie Natorp präzisiert ihre Bestimmtheit durch Individuationskategorien. Qualität heißt nun so viel wie Qualifikation, das Eigentümliche im strengen Sinne, die Punktualität im Sinne Leibniz 1 : die intensive Einheit und Inhaltsbestimmtheit der Monas, die ihre Phänomene aus sich hat. 178 Vgl e N a t o r p , Philosophische S y s t e m a t i k , S. 146 und 232-234·. 179 Vgl. i b , § 144/145 und 236-251.

198

Ästhetische Grundkriterien Natorps

Quantität vertritt die extensive Entwicklung der Was-Bestimmtheit. Als Gegenbegriff zur Punktualität gehört hierhin auch die "Konti "Kontinuität" °, Sie ist die Spannung von Intension und Extension. 181 Lokation '' Die dritte Phase der Individuation enthält das Problem der abschließenden Individuierung, die bei Kant unter l ft9 die "ganz neue Rubrik eines Apriori der Anschauung" "' falle. Diese Kantische Entdeckung meine die Darstellung "in concrete" und "in individuo" und enthalte in sich als Momente nicht nur die Formen Raum und Zeit, sondern auch die "Empfindung". Von hier aus entwickelt Natorp die Momente der Lokation, und zwar durch die Kategor i s ler ung von Zeit und Raum und eine quasi-kategoriale Bestimmtheit der Empfindung als "Vereinzigung" 183 " . Die Spitze der Grundkategorien tendiert damit zu einer ontologischen Geisttheorie.

Das Problem der Lokation ist die "Bestimmung, in der nichts unbestimmt bliebe", also "komplete, nicht abstrakte (abzügliche) , sondern konkrete (volle, ganz erfüllte) Bestimmung", ... "letzte Bestimmtheit des Soseins " e "Der logischen Struktur nach ist Bestimmung Prädikat ion, das zu Bestimmende also das letzte Subjekt, der Vollzug der Prädikation am Subjekt aber würde sich vollenden im Urteil sspruch* " Es ist eine Parallele zu Hegels Stellung des Einzelnen als Überleitung zur Urteilslehre. Die kategoriale "Einzigkeit" der "Faktizität" ist Voraussetzung T DC

der Möglichkeit des Urteils als Bestimmung. Der Begriff ser dritten Phase wird terminologisch verschieden gefaßt 186 Einstellung, Position, Lokation, das Da des Seins ' ,

'

dieals:

; Einsatz, Einzigkeit, Einzigung; Selbstsetzung, Sichselbst-setzen (medial und reflexiv) , Gegenwärtigsein, Sein im Absoluten, Einfügung, Sichhalten im Ganzen. Außer im Leibniz180 Vgl. i b . , S, 181 Der Terminus ist

eine Heuprägung N a t o r p s ,

182 Vgl, ib., S. 146 und 148. 183 Vgl. ib., S. 151. 18* Vgl. ib., S. 2 2 4 - 2 3 3 . 185 Vgl. ib., S. 2 2 3 , 149/15

186 Aus dem Aristotelischen haecceitas .

und 251-256.

und der scholastischen

Individuation als Kategorienordnung

199

sehen Monadenbegriff findet Natorp zu dieser Kategorie keine Parallele in der Philosophiegeschichte. Darum greift er zu Umschreibungen und neuen Wortbildungen. Die Momente der Kategorie der Lokation sind Zeit und Raum und ein drittes, das wiederum nur umschrieben werden kann, weil es offenbar so noch nicht gedacht worden ist: "Fügung". Zeit und Raum sind jetzt bei Natorp Kategorien mit bestimmter Individuationsfunktion, sofern sie auf "Empfindung" als ihre Materie angewiesen bleiben Sie sind dieser gegenüber noch mittelbar, da sie den Charakter der Form, der Formung, der Ordnungsgrundlegung, nicht abstreifen. Zur Rechtfertigung dieses kategorialen Charakters von Zeit und Raum setzt sich Natorp mit 1 fi 7 Kants Anschauungslehre nochmals auseinander: Der Bruch zwischen Anschauung und Begriff bei Kant scheint ihm in der Radikalität des doppelten apriori nicht begründet. Zeit und Raum sind vielmehr "konkrete Begriffe", Es sind Bestimmungen vom Typus des Denkens im Sinne des Auswählens und Absonderns, nicht im Sinne des diskursiven und reinen Denkens. Ihre Funktion der Darstellung "in concreto" bedeute Individuation, die bei Kant in zwei Hinsichten auch gesehen sei: (a) als Vermittlung von "Gegebenheit" und (b) durch ihren eindeutigen Bezug auf das Ganze der einzigen "Erfahrung"„ In der Divergenz dieser Bezugsrichtungen zeigt sich das besondere Problem eines Denkens, in dem "Einzigkeit" und "Unendlichkeit" zusammenfallen sollen. Beide Merkmale der "Fügung" verlangen gerade in ihrer Koinzidenz "Spontaneität" im strengsten Sinne, also bestimmte Akte des Erfassens Anhaltspunkte für eine solche Interpretation findet Natorp in Kants Lehre von den drei Stufen der Synthesis: (1) Apprehension als zeitliche Auseinanderstellung, (2) Reproduktion als räumliche Zusammenstellung, (3) Regulation und deren Vertiefung zur transzendentalen Apperzeption. Hier söien die Merkmale der Anschauung t Einzigkeit und Unendlichkeit nachträglich in das reine Denken zurückgenommen 188 , 187 Vgl. I » Kants transzendentale Ä s t h e t i k , Kritik der reinen V e r n u n f t , 1. A u f l . , a . a . O . S, 29-46» dazu N a t o r p , Philosophische Systematik, S, 116, 148, 15o; 232-234; 2 5 6 ; 2 5 8 . 188 Vgl. ib., S. 259 die Kritik an Cohens Eliminierung des Kantischen E r s c h e i n u n g s b e g r i f f s ,

2oo

Ästhetische Grundkriterien Matorps

Die Differenzierung von Zeit und Raum als verschiedene Momente der "Figuration" setzt bei Kants Lehre vom "inneren und äui89 ßeren Sinn" an ' : (1) Mit Bezug auf die "Einzigung" ist Zeit als Ordnung des Auseinander fundamentaler,, Als Korrelat von Substanz ist sie allgemeine Möglichkeitsgrundlage des Daseins der Erscheinungen 0 Mit Bergson ist sie simultan in der "Dauer". Dagegen ist die Simultaneität des Raumes aktiv, quantitierend. (2) Mit Bezug auf die Unendlichkeit ist Zeit rein qualitativ, Raum dagegen von unendlichem Fortgang im Sinne der Quantitierung e Innerer und äußerer Sinn werden von Natorp als zentralisierende und peripherische Richtungsbestimmtheit gedeutet. Als zwei Beziehungsrichtungen derselben Spontaneität sind sie Ergebnisse synthetischer Akte: der das innerlich Erlebte sukzessiv aufspannenden Apprehension und der in Außenbeziehung setzenden Reproduktion., Das Jetzt und das Hier bleiben als Individuationsgrundlagen jedoch streng unterschieden: das Jetzt als Inbegriff der Zeit bezeichnet den Punkt des Erlebens als Selbstkontinuation des Bewußtseins 19o ' „ Das Hier ist demgegenüber willkürlich, zufällig; feststellbar ist es nur durch den Außenbezug. Als Kategorien der Lokation haben Zeit und Raum zwei verschiedene Funktionen 191 ' : (!) In weitester Verallgemeinerung bilden sie die Möglichkeitsgrundlagen der Individuierung nicht nur im theoretischen, sondern auch im praktischen und im poietischen Bereich, in der Subjekt-Objekt-Beziehung, sogar auch in der Religion. (2) Sie sind dann aber auch konstruierbar t "Figuration". Zeit und Raum werden hier Grundlage jeder sich entwickelnden Formung als Gestaltung. Paradigmatisch erscheint diese Figurationsfunktion in der Kunst, sie gilt aber für alles reine Erleben, für allen Ausdruck und für die Sprache. "'Logik' heißt hierbei jede mit innerer Notwendigkeit sich vollziehende Entwicklung von Beziehungen und Beziehungen unter Beziehungen ohne Ende, in welchen Sein und Sein, Sinn 189 Vgl„ ib., S. 2 5 6 / 2 5 7 ; dazu auch W, Cramer, Die Monade, Teil I, S, 7-110» 190 V g l , ib., S. 2 7 2 - 2 7 5 : Im Anschluß an Kant und an Aristoteles ( M e t a p h y s i k , Buch I V ) . 191 Vgl, ib., S. 15o.

Individuation als Kategorienordnung

2ol

und Sinn sich zusammenfügen wie in lebendiger Rede ( d . h . ja Logos), so daß jedes Einzelne seinen Sinn gleichzeitig empfängt,, von allen anderen und von sich aus allem anderen mitteilt und Übermacht." 1 9 2 Empfindung: Die Vollendung der Individuation führt auf sub193 jektstheoretische Kategorien: Monade und Empfindung ~ „ Eine Monade ist die "intensive Konzentration" in "extensiver Vereinzigung", "K^'inzidem des sahlechthin Universalen mit dem schlechthin Singularen". Eben diesen Zusammenfall kann nun nicht eine Kategorie ausdrücken, sondern nur das ganze System letzter Kategorien» "'Empfindung' ist dafür immer noch ein viel zu schwacher und enger, aber doch an sich wohl bezeichnender Ausdruck," Natorps frühere Ablehnung der Kantischen "Wahrnehmung" wandelt sich zu der Einsicht: "Das Postulat der Wirklichkeit ist in der Tat in der Empfindung allein erfüllt,, . „ " „ Diese hat nicht weniger als das ganze Gefüge der Fundamentalkategorien zur Voraussetzung 0 Ihren Charakter als Koinzidenzkategorie erkannte Kant in ihrer K o n t i n u i t ä t begründenden Bedeutung^ Am bezeichnendsten dafür ist der Leibnizsche Begriff der "Perzeption""194 . Er impliziert intensive und extensive Einzigkeit. Hatorp nennt es "Einstellung, E i n f ü g u n g , Einfügung" und meint ein Geschehen im Sinne der Platonischen , der Gegenwärtigkeit der Idee in der Erscheinung, Es ist., mit Hobbes, das merkwürdige Phänomen des (f>afvc-j6cti f des Sichdarsteliens. Dies sei auch der tiefere Sinn der Kantischen "Erscheinung". Im Z-^ltbegriff als innerem Sinn deutete sich diese Beziehung von Sein und Seele bereits an„ Der Neuplatonismus k n ü p f t e an diese Beziehung von Erleben 195 und Präsenz den Gedanken des Schöpferischen Schöpferi: "" : es liegt in der Kontinuation des Jetzt, der . Individuierung kann es nur geben, wenn das den Erscheinungen Zugrundeliegende, die Idee, selbst individual ist. Dieses Jenseitige als das Ungesetzte, Unerschöpfliche und Absolute versucht Plato in einer Begriffstriade zu fassen, in der dem 192 193 IBk 195 196

ib., Sa 151. Vgl. ib., S, V g l . ib., S. Vgl. i b . , S. Im P h i l e b u s ,

151/152. 26o. 273. vgl. i b , , S. 2 8 3 - 2 8 5 .

2o2

Ästhetische Grundkriterien Katorps

"Kalon" gegenüber dem Guten und der Wahrheit der reinste Individualcharakter zufällt. Es ist nicht das "Schöne" im Sinne des bloß künstlerisch Ästhetischen, sondern das Maßhafte im .

"Sein ^ hat mit Geschmack, mit ästhetischer Urteilskraft, oder was sonst ein Moderner hier nennen möchte, nichts gemein, es ist rein innere Beschaffenheit dessen, von dem es ausgesagt wird; es beruht auf der ganzen Ausfüllung des eigenen inneren Maßes und reinen Verhältnisses; nicht sofern reine Verhältnisse gefallen, oder weil sie sich selbst innerlich selig empfinden müßten, sondern einfach, sofern etwas so ist, wie es ist, sein soll, wie es ist, oder sofern es sein Wesen e seine Bestimmung, seine Idee oder Norm rein erfüllt." Die Formel vom Zusammenfall von Sein und Sollen begegnete uns beim frühen Natorp als desiderativer Modus der Wirklichkeit und damit als Wahrheitsgrundlage von Kunst. Wenn in diesem späteren Zusammenhang nun die rein kunsttheoretische Interpretation abgelehnt wird, so müssen sich bei Natorp sowohl die Begriffe von Sein und Sollen wie der Begriff von Ästhetischem gewandelt haben. Für das Sein gilt, daß es dem späten Natorp nicht nur Grenze ist, sondern Grund. Insofern ist alles, was ist, aus ihm. Für das Sollen gilt, daß es nicht nur im Bewußtsein ist, sondern Moment des Seins selbst. Fürs Ästhetische stellten wir fest, daß es eine paradigmatische "Fügung" bedeutet, aber im Zusammenhang alles ausdruckhaften Erlebens. Erleben aber steht im Zusammenhang des Seins als bestimmter Seinspunkt; Empfindung deutet nicht nur auf Wirklichkeit, sie ist Wirklichkeit» Auf das Verhältnis von Erleben und Gestaltung wird es ankommen, wenn die künstlerische Wahrheit, die nicht schon mit dem Kalon zusammenfällt, bestimmt werden soll u Der weite Rahmen des Künstlerischen ist das Ästhetische, sofern es nicht mehr reine Leistungskategorie ist, sondern ^nt^l^gische Subyektskateg^rie, also PoiesiSu Auf der Stufe der Fundamentalkategorien ist der Untersuchungsrahmen das Moment der "Fügung" in der mittleren Stufe der dritten Individuationsphase: Lokation. Der Zusammenhang von Fügung und Maß wird von Natorp, im Anschluß an Plato und Hegel, eigens unter dem Problem der "Norm" diskutiert 197 ~ . Norm, Maß darf hier nicht heteronom verstanden werden, sondern (a) imma197 Vgl, ib.,

S, 2 5 2 / 2 5 3 .

Kalon als Gehalt

2o3

nent und (b) transzendierend, als In-sich-Gemessenheit und Zusammenhang stiftende Maßhaftigkeit im Sinne der Leibnizschen Spiegelung. Die im Begriff des Maßes erneut formulierte Koinzidenz von Einzigkeit und Universalität erscheint am paradoxesten l QQ in der "Präsenz 1 " 1 ·' 0 . Das "Es ist" oder "Es gibt" bestätigt sich nicht diskursiv, sondern unmittelbar im Heraklitischen Sinne des Verhältnisses von Logos und Psyche,, Das Ganze muß in der Monas so gedacht werden, daß es sich in ihm integriert, auch wenn es nicht vorgestellt werden kann. Erleben ist dann prinzipiell das teilhaftige Erscheinen der Monas Monadum, des Seinsgrundes. Das Sosein der Faktizität beruht auf einem totalen Ansich, das erst das letzte Konkrete ist. Gehaltstheoretische Auswertung des "Kalon": Der frühe Natorp entwickelt seine Kulturtheorie bewußtseinstheoretisch. Der späte Natorp fundiert seine Bewußtseinslehre kategorial. Das bedeutet für die verschiedenen ursprünglichen Erkenntnisrichtungen, daß sie kategorial notwendig sein müssen und nicht aus der Korrespondenz zu ursprünglichen Verhaltensarten als Objektsbereiche entwickelt werden können 199 " . "Es handelt sich überhaupt nicht um bloß Menschliches a " °° Es handelt sich um die gehaltliche oder inhaltliche Erfüllung des im System der Grundkategorien bloß formal bestimmten Schemas des "Es gibt"„ Bereits für die Abgrenzung der verschiedenen "Hauptprovinzen des Geistes - Theorie, Praxis, dann Kunst, Religion, und was in dieser Aufzählung etwa übergangen sein mag -" müssen zuerst die kategorialen Grundlagen aufgewiesen werden. Das bedeutet zugleich eine grundkategoriale Verflechtung der ursprünglichen Geltungsarten, die es verhindert, bestimmte Kategorien einseitig für bestimmte Geistesgebiete zu reservieren. Folglich muß Natorp die Begriffe des Individuellen, der Geschichte und des Werts, wie etwa Rickert sie entwickelt, kritisieren. Uns interessiert Natorps Begründung der dritten Gehaltsphase,

198 V g l . i b . , S. 286-29,,. 199 Diese K r i t i k r i c h t e t sich w^hl vor allem gegen Cohens Trias von W i s s e n , W o l l e n und F ü h l e n , 200 i h . » S . 292 .

2o4

Ästhetische Grunkriterien Natorps 1

die aus dem "Ästhetischen" hervorgegangen sein muß ' . Ihr Grundkriterium wurde bereits auf der höchsten und individual bestimmten Stufe der Idee als Kalon abgeleitet: "Sie muß das sein, was ist, wie und indem es sein soll; sein soll, wie und fy —. O indem es ist." lj "Damit entspricht das Dritte der dritten Wertart, der des Kalon," Die dem Kalon entsprechende Haltung des Subjekts ist "Poiesis, Gestaltung, Schaffen" 2 . Von Wollen, Handeln und Einsicht ist sie unterschieden, indem sie ein "Mächtigsein" beinhaltet, das keine Einsicht ermöglicht und kein Wollen erzwingt. Es ist Gabe, nicht Aufgabe, Tat des "Genius", Die sog» "Kunst" ist dafür nur ein sehr reduzierter Ausdruck. Kunst im Sinne der Poiesis ist "Gestaltung eines Kalon", die mit "Können" nichts zu tun h a t , sondern mit dem Wert des "Insichruhens", Poiesis findet sich überhaupt nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Natur (natura naturans), eben als "Schöpfung". Kunst gelingt in dieser "Seinsbeständigkeit" erst im "Kairos" und in der subjektiven Haltung des "Eros", das heißt, in der Sehnsucht nach Sein im Sinne der Idee des Kalon. Diese Teilhabe an der naturhaften, aus sich wachsenden Gestaltung nennt Natorp "Freiheit", die jetzt nicht mehr mit Kants "vernünftigem Handeln" zusammenfällt. Die Wörter "Kunst" und "Kultur", die Natorp bis dahin für den Bereich der Gestaltung in Anspruch nahm, lehnt er jetzt als unzulänglich ab, da sie der Poiesis gegenüber äußerlich sind. Er nennt diesen Bereich "Bildung": denn poietische Freiheit ist nicht erst in der Kunst möglich, sondern lebt in allen "menschlichen Lebensgestaltungen"« Der Gehalt der dritten Wertart ist also dem Grunde nach das Kalon, dem Vollzug nach Poiesis. "Es ist, was Schiller 'Gestalt* heißt, bei Plato die ' I d e e ' , die dem Kalon entspricht und der Poiesis." Damit ist das, was wir das Ästhetische nennen, im Begriff der Gestaltung über den formalen Kunstbegriff weit hinausgeschritten und fordert, nicht nur genetisch/ eine Begründung des Kunst201 V g l , i b . , 5 95, S „ 338-341» 202 ib., S. 3 3 8 . 2ü3 B e s t i m m u n g e n im A n s c h l u ß an Plato und A r i s t o t e l e s , vgl, ib., S. 3 3 9 .

Das ästhetisch Individuelle

2o5

lerischen im Begriff der "Bildung", der eine ontologische Subjektstheorie voraussetzt. Der späte Natorp entwickelt sie unter dem Begriff der

. >