Patientenautonomie. Theoretische Grundlagen – Praktische Anwendungen 9783897859661, 9783897858046

Selbstbestimmung ist ein Schlüsselwort medizinethischer Debatten. Die Autonomie des Patienten, verstanden als das Recht,

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Patientenautonomie.  Theoretische Grundlagen – Praktische Anwendungen
 9783897859661, 9783897858046

Table of contents :
Patientenautonomie
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Teil 1 Patientenautonomie und Philosophie
Die Autonomie des Patienten in der modernen Medizin
Patientenautonomie im Spannungsfeld philosophischer Konzeptionen von Autonomie
»Relationale Autonomie« Eine kritische Analyse
Relationale Autonomie 2.0
Teil 2 Patientenautonomie und Recht
Patientenautonomie und Einwilligungsfähigkeit
Ärztliche Aufklärung
Patientenvertreter und Patientenvorsorge
Patientenautonomie und Patientenvertrauen im Gesundheitsdatenschutz
Teil 3 Patientenautonomie aus theologischer Perspektive
Patientenautonomie aus katholisch-theologischer Perspektive
Selbstbestimmung: relational – responsiv – hermeneutisch Evangelisch-theologische Perspektiven
Teil 4 Patientenautonomie und klinische Praxis
Patientenautonomie in der klinischen Praxis
Zustimmung und Veto Aspekte der Selbstbestimmung im Kindesalter
Patientenautonomie in der Psychiatrie
Teil 5 Reproduktive Autonomie
Reproduktive Autonomie in der liberalen Demokratie Eine ethische Analyse
Reproduktive Autonomie aus rechtlicher Sicht
Teil 6 Patientenautonomie und Biopolitik
Die Autonomie des Patienten im Licht jüngster politischer Entscheidungen
Biopolitische Paradoxien der Patientenautonomie
Autonomie als politisch-ethisches Prinzip im Liberalismus
Patientenautonomie, Humangenetik und Biopolitik
Teil 7 Kollektive Autonomie
Kollektive Patientenautonomie Theorie und Praxis eines neuen bioethischen Konzepts
Kollektive Autonomie und Autonomie in Kollektiven
Selbstbestimmt und unabhängig leben mit Behinderung Eine ethische Reflexion der Forderungen nach persönlicher und kollektiver Autonomie der Behindertenbewegung
Teil 8 Patientenautonomie – Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis
Der »natürlicheWille« bei Kindern und Demenzkranken Kritik an einer Aufdehnung des Autonomiebegriffs
Selbstbestimmung von Patienten imWachkoma Eine qualitative Interviewstudie mit Angehörigen
Leibliche Ausdrucksformen als Zeichen der Selbstbestimmung
Paradoxer Paternalismus? Widerspricht ein Teilnahmeverzicht am informed consent dem Prinzip der Patientenautonomie?
Medizinische Indikation und Patientenwille Eine qualitative Interviewstudie mit onkologisch tätigen Ärzten zur Entscheidungsfindung bei Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen
Patientenautonomie bei tiefer Hirnstimulation als Herausforderung in der Medizinethik
Selbstbestimmung und die Rolle der Familie in der Lebendorganspende
Patientenverfügungen aus der Perspektive von Ärztinnen und Ärzten in Österreich
25 Jahre Patientenverfügungen in der Schweiz Wie hat sich die Patientenautonomie verändert?
Gefährden Ethikkomitees die Autonomie des Patienten?

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Wiesemann/Simon (Hrsg.) · Patientenautonomie

Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Claudia Wiesemann / Alfred Simon (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit der Forschergruppe »Autonomie und Vertrauen in der modernen Medizin« Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften, VolkswagenStiftung unter Mitarbeit von Linda Hüllbrock

Patientenautonomie Theoretische Grundlagen Praktische Anwendungen

mentis MÜNSTER Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Gefördert von der VolkswagenStiftung

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© 2013 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen ISBN 978-3-89785-804-6 Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Teil 1 Patientenautonomie und Philosophie Herausgegeben von H. Steinfath, C. Wiesemann Claudia Wiesemann Die Autonomie des Patienten in der modernen Medizin . . . . . . . . . . .

13

Holmer Steinfath, Anne-Marie Pindur Patientenautonomie im Spannungsfeld philosophischer Konzeptionen von Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Johann S. Ach, Bettina Schöne-Seifert »Relationale Autonomie« Eine kritische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

Joel Anderson Relationale Autonomie 2.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Teil 2 Patientenautonomie und Recht Herausgegeben von G. Duttge, V. Lipp Gunnar Duttge Patientenautonomie und Einwilligungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Christian Katzenmeier Ärztliche Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Volker Lipp, Daniel Brauer Patientenvertreter und Patientenvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106

Marion Albers Patientenautonomie und Patientenvertrauen im Gesundheitsdatenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

Teil 3 Patientenautonomie aus theologischer Perspektive Herausgegeben von R. Anselm, M. Zimmermann-Acklin Hille Haker Patientenautonomie aus katholisch-theologischer Perspektive . . . . . . .

139

Michael Coors Selbstbestimmung: relational – responsiv – hermeneutisch Evangelisch-theologische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

154

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Inhaltsverzeichnis

Teil 4 Patientenautonomie und klinische Praxis Herausgegeben von F. Nauck, A. Simon Alfred Simon, Friedemann Nauck Patientenautonomie in der klinischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

Andrea Dörries Zustimmung und Veto Aspekte der Selbstbestimmung im Kindesalter . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180

Raoul Borbé Patientenautonomie in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

190

Teil 5 Reproduktive Autonomie Herausgegeben von K. Beier, C. Wiesemann Katharina Beier, Claudia Wiesemann Reproduktive Autonomie in der liberalen Demokratie Eine ethische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

Dagmar Coester-Waltjen Reproduktive Autonomie aus rechtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . .

222

Teil 6 Patientenautonomie und Biopolitik Herausgegeben von S. Schicktanz, C. Wiesemann Urban Wiesing Die Autonomie des Patienten im Licht jüngster politischer Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237

Günter Feuerstein Biopolitische Paradoxien der Patientenautonomie . . . . . . . . . . . . . . . .

250

Christine Bratu, Julian Nida-Rümelin Autonomie als politisch-ethisches Prinzip im Liberalismus . . . . . . . . .

263

Vilhjálmur Árnason Patientenautonomie, Humangenetik und Biopolitik . . . . . . . . . . . . . .

275

Teil 7 Kollektive Autonomie Herausgegeben von S. Schicktanz, I. Jordan Silke Schicktanz, Isabella Jordan Kollektive Patientenautonomie Theorie und Praxis eines neuen bioethischen Konzepts . . . . . . . . . . . .

287

David P. Schweikard Kollektive Autonomie und Autonomie in Kollektiven . . . . . . . . . . . .

303

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Inhaltsverzeichnis

Sigrid Graumann Selbstbestimmt und unabhängig leben mit Behinderung Eine ethische Reflexion der Forderungen nach persönlicher und kollektiver Autonomie der Behindertenbewegung . . . . . . . . . . . . . . . .

7

316

Teil 8 Patientenautonomie – Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis Herausgegeben von F. Nauck, A. Simon Ralf J. Jox Der »natürliche Wille« bei Kindern und Demenzkranken Kritik an einer Aufdehnung des Autonomiebegriffs . . . . . . . . . . . . . .

329

Katja Kühlmeyer Selbstbestimmung von Patienten im Wachkoma Eine qualitative Interviewstudie mit Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . .

340

Irmgard Hofmann Leibliche Ausdrucksformen als Zeichen der Selbstbestimmung . . . . . .

355

Carola Seifart Paradoxer Paternalismus? Widerspricht ein Teilnahmeverzicht am informed consent dem Prinzip der Patientenautonomie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

364

Jan Schildmann, Jochen Vollmann Medizinische Indikation und Patientenwille Eine qualitative Interviewstudie mit onkologisch tätigen Ärzten zur Entscheidungsfindung bei Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

376

Kirsten Brukamp Patientenautonomie bei tiefer Hirnstimulation als Herausforderung in der Medizinethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

388

Sabine Wöhlke, Mona Motakef Selbstbestimmung und die Rolle der Familie in der Lebendorganspende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

396

Julia Inthorn Patientenverfügungen aus der Perspektive von Ärztinnen und Ärzten in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

411

Daniela Ritzenthaler-Spielmann 25 Jahre Patientenverfügungen in der Schweiz Wie hat sich die Patientenautonomie verändert? . . . . . . . . . . . . . . . . .

420

Friedhelm Hufen Gefährden Ethikkomitees die Autonomie des Patienten? . . . . . . . . . . .

431

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Inhaltsverzeichnis

Gerald Neitzke Autonomie ermöglichen Ein Konzept für die Ethikberatung im Gesundheitswesen . . . . . . . . . .

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Vorwort Selbstbestimmung ist ein Schlüsselwort medizinethischer Debatten. Die Autonomie des Patienten, verstanden als das Recht, über die eigenen Belange und insbesondere über den eigenen Körper selbst zu entscheiden, gilt heute als Voraussetzung medizinischen Handelns. Nicht der Arzt als wissenschaftlich ausgewiesener Experte, sondern der Patient als Experte seines eigenen Lebens soll letztlich über Mittel und Ziele ärztlichen Handelns entscheiden. Kaum ein anderes Konzept hat einen ähnlich prägenden Einfluss auf die medizinische Praxis, das Selbstverständnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen, auf Patientinnen und Patienten und nicht zuletzt die Öffentlichkeit ausgeübt wie das der Autonomie. Und kein anderes Konzept hat für die Entwicklung der Medizin- und Bioethik eine ähnlich große Rolle gespielt. Autonomie stand und steht im Mittelpunkt von Schlüsselkontroversen, in denen z. B. um die Zugänglichkeit von neuen Reproduktionstechniken oder die Zulässigkeit von manchen Formen der Sterbehilfe gerungen wird. Wenngleich das Prinzip der Patientenautonomie mehr und mehr Anerkennung gewinnt, führt dies nicht zu einem Verstummen der Diskussion. Im Gegenteil werden Fragen neu aufgeworfen, weil die Umsetzung des moralischen Prinzips in die Praxis so ernst genommen wird. Manche davon betreffen die notwendigen Weiterungen dieses Konzepts für spezifische Kontexte wie die Fortpflanzungsmedizin, die Kinder- und Jugendmedizin oder die Psychiatrie. Dem Triumphzug der Patientenautonomie folgt aber auch eine Reihe von kritischen Fragen. Wie kann Autonomie in hochkomplexen, risikobehafteten und schwer prognostizierbaren Entscheidungssituationen sinnvoll ausgeübt werden? Was bedeutet individuelle Autonomie, wenn ihr ein Netz von sozialen Ermöglichungsbedingungen vorausliegt? Welche Rolle spielen dabei jene gesellschaftliche Strukturen, die das Individuum als soziales Wesen konstituieren, wie die Familie oder peer groups, Rechtssysteme oder gar ein das Individuum transzendierender Gottesbezug? Die Vielschichtigkeit medizin- und bioethischer Probleme und der hochgradig politische und kulturelle Charakter medizinethischer Kontroversen, die weit in die Öffentlichkeit hineinreichen, haben die Konturen des Autonomiekonzepts verschwimmen lassen. Dem Autonomiediskurs wird vor allem ein überzogener Individualismus vorgeworfen, der der sozialen Natur von Menschen und der vielfältigen sozialen Abhängigkeit von Patienten nicht gerecht werde. Vor diesem Hintergrund erscheint heute mit Blick auf die Medizin vor allem dreierlei dringend: Erstens muss der Begriff der Patientenautonomie mit Bezug auf die deutsche wie internationale Debatte theoretisch in seinen verschiedenen Facetten erfasst werden. Dabei leisten Philosophie, Recht und Theologie wesentliche Beiträge. Zweitens bedarf der Begriff kontextspezifischer Differenzierungen. Wie wird Patientenautonomie in der klinischen Praxis umgesetzt? Welche Probleme treten dabei auf? Drittens gilt es, das Verhältnis von Autonomie zu sozialen Bezügen auszuloten. Der vorliegenden Band zeichnet sich dadurch aus, dass er diesen Themen aus philosophischer, rechtlicher, theologischer und kliClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Vorwort

nisch-praktischer Perspektive nachgeht, interdisziplinär angelegt ist und dabei sowohl einführende Texte als auch Beiträge zur praktischen Anwendung miteinander verbindet. Es ist als Grundlagenwerk konzipiert und soll zur Einführung in diese für Ethik und Politik, Medizin und Pflege so wichtige Thematik dienen. Während Fragen der Selbstbestimmung in der medizinischen Forschung schon vielfach im Überblick dargestellt wurden, fehlt es bisher an einer derartigen systematischen Befassung mit der Autonomie des Patienten in ihren theoretischen wie praktischen Dimensionen. Diese Lücke will der vorliegende Band schließen. Er bietet eine kritische Bestandsaufnahme der theoretischen Grundlagen sowie praktischen Reichweite und Geltung von Patientenautonomie. In den ersten, theoretischen Teilen wird das moralische Konzept aus der Perspektive verschiedener Fächer wie der Philosophie, dem Recht und der Theologie sowie der klinischen Praxis vorgestellt und in seinen verschiedenen Ausdeutungen diskutiert. Besonderes Augenmerk gilt der reproduktiven Autonomie als einer bedeutsamen, wenngleich umstrittenen Erweiterung des Konzepts der individuellen Autonomie. Weitere Grundlagenkapitel widmen sich der Wechselwirkung von Autonomie und Biopolitik im Allgemeinen sowie einem bedeutsamen neuen Konzept der biopolitischen und bioethischen Debatte: der kollektiven Patientenautonomie. Kollektive Patientenautonomie steht für die prozeduralen und deliberativen Komponenten einer Patientenbeteiligung auf der politischen, überindividuellen Entscheidungsebene. Der normative Charakter solcher kollektiver Akteure ist auch für die Medizinethik von großem Interesse. Im letzten Teil, der der Praxis der Patientenautonomie gewidmet ist, wird das weite Spektrum der Anwendung dieses bedeutsamen Konzepts im klinischen Kontext vorgestellt. Darin geht es um Weiterungen des Konzepts mit Blick auf den so genannten natürlichen Willen und andere leibliche Ausdrucksformen, insbesondere in Hinsicht auf die Rolle der Pflegenden, um Entscheidungen am Lebensende und bei Neurointerventionen sowie um die besondere Bedeutung der Familie. Weitere Beiträge befassen sich, unter anderem mit Blick auf die Nachbarländer Österreich und Schweiz, mit der Patientenverfügung als einem Instrument zur Sicherung der Patientenautonomie in der Praxis sowie mit den damit verbundenen Chancen und Risiken der klinischen Ethikberatung. Der Band präsentiert die Forschungsergebnisse einer interdisziplinären Forschergruppe zum Thema »Autonomie und Vertrauen in der modernen Medizin« an der Universität Göttingen, gefördert von der VolkswagenStiftung als Teil des Förderbereichs »Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften«. In Zusammenarbeit mit der Akademie für Ethik in der Medizin sowie der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen veranstaltete die Forschergruppe im Herbst 2011 eine Tagung zum Thema »Die Selbstbestimmung des Patienten und die Medizin der Zukunft«. Zusätzlich zu den Beiträgen dieser Tagung wurden von den Kapitelherausgebern weitere Aufsätze eingeworben, um die Thematik in all ihren Facetten darzustellen. Sämtliche Beiträge wurden einem Peer-review-Verfahren unterzogen. Wir danken den Herausgebern der Kapitel, dem Philosophen Holmer Steinfath, den Medizinrechtlern Gunnar Duttge und Volker Lipp, den Theologen Reiner Anselm und Markus Zimmermann-Acklin, den Medizinethikerinnen KathaClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Vorwort

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rina Beier, Isabella Jordan und Silke Schicktanz sowie dem Palliativmediziner Friedemann Nauck für ihren Beitrag bei der Konzeption der Kapitel, der Einwerbung der Autoren und der Begutachtung der Beiträge. Dank schulden wir überdies weiteren Personen, die entscheidend zur Qualität des Bandes beigetragen haben: einer Reihe von anonymen Gutachtern für ihre konstruktive Kritik, dem Übersetzer Felix Klein, der die Beiträge von Joel Anderson und Vilhjálmur Árnason aus dem Englischen ins Deutsche übertrug, dem mentis Verlag, der uns mit Enthusiasmus und Professionalität unterstützte, und vor allem Linda Hüllbrock, die die Redaktion des Bandes von Anfang an begleitet und mit großer Sorgfalt betreut hat. Unser ganz besonderer Dank aber gilt der VolkswagenStiftung für ihre großartige ideelle und finanzielle Unterstützung dieses Projekts. Göttingen, im Frühjahr 2013 Claudia Wiesemann (Universitätsmedizin Göttingen)

Alfred Simon (Akademie für Ethik in der Medizin)

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TEIL 1 PATIENTENAUTONOMIE UND PHILOSOPHIE Herausgegeben von H. Steinfath, C. Wiesemann

Claudia Wiesemann

Die Autonomie des Patienten in der modernen Medizin 2008 verunglückte der Amerikaner Brooke Hopkins beim Fahrradfahren. Ein Helm bewahrte ihn zwar vor schweren Kopfverletzungen, aber er erlitt einen Halswirbelbruch und war vom Kopf ab gelähmt, konnte weder Arme noch Beine bewegen, nicht einmal mehr selbstständig atmen. Dieser erschreckende Unfall wurde aus einem besonderen Grund bekannt. Denn Brooke Hopkins und seine Ehefrau Margaret Pabst Battin sind Philosophen, Margaret arbeitet als Medizinethikerin an der Universität Utah. Beide haben über die Therapiefortschritte und Rückfälle von Brooke einen Internetblog geführt. 1 Sie lassen uns an der extremen menschlichen Last, die eine solche Querschnittslähmung bedeutet, teilnehmen. Wir erfahren dabei auch von jenem Moment tiefer Verzweiflung, in dem Brooke Hopkins seine Frau bat, ihn aus dieser Qual zu erlösen, ihn sterben zu lassen. Margaret Battin schildert diese Episode ein weiteres Mal in einem äußerst bewegenden Artikel im Journal of Medicine, Health Care and Philosophy. Darin reflektiert sie über die Rechtfertigung aktiver Sterbehilfe und erklärt, warum die Erfahrung dieses Schicksalsschlags sie in allem, was sie als Bioethikerin bis dahin über Sterbehilfe gedacht und geschrieben hatte, ins Grübeln gebracht hat (Pabst Battin 2010). Dabei geht es ihr gerade nicht – wie man vermuten würde – darum, leidenschaftlich, mit der Wucht der Emotionen des tragischen Falls, für die rechtliche Freigabe der Tötung auf Verlangen zu plädieren. Im Gegenteil reflektiert sie darüber, wie die Dramatik des individuellen Falls, die Dynamik des kranken Körpers, die engen sozialen Beziehungen und der Einfluss des professionellen Teams die einfache Matrix des Für und Wider von Sterbehilfe in ein wesentlich komplexeres Argumentationsgeflecht verwandelten. 1

http: // brookeandpeggy.blogspot.de / (Zugegriffen 18. Jan. 2013). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 1: Patientenautonomie und Philosophie

Selbstbestimmung ist das Schlüsselwort für bioethische Debatten über Fälle wie dem von Brooke Hopkins. Menschen auch in derart fremdbestimmter Lage ein Recht auf Selbstbestimmung über ihr Leben und Sterben zu bewahren, gilt zu Recht als hohes und wichtiges Ziel. Autonomie als moralisches Recht ist ganz allgemein zu einem Schlüsselbegriff moderner Gesellschaften avanciert. Davon blieb auch die Medizin nicht ausgespart. Im 21. Jahrhundert, etwas mehr als einhundert Jahre, nachdem ein deutsches Reichsministerium die »Vorsteher der Kliniken, Polikliniken und sonstigen Krankenanstalten« per Anweisung dazu anhielt, in Forschungsprojekten den Willen des Probanden zu berücksichtigen, ist das Recht von Patienten auf Selbstbestimmung als moralisches Prinzip anerkannt und als praktische Erfordernis im Alltag umgesetzt worden. 2 Vor dem Hintergrund einer rasanten technischen Entwicklung hat das Konzept der Patientenautonomie in den letzten Jahrzehnten vor allen Dingen in Auseinandersetzung mit dem traditionellen Paternalismus der Medizin an Bedeutung gewonnen. Nicht der Arzt als wissenschaftlich ausgewiesener und überlegener Experte, sondern der Patient als Experte seines eigenen Lebens soll letztlich über die Mittel und Ziele ärztlichen Handelns entscheiden. Dem Patienten steht es zu, das ärztliche Handeln durch seine Einwilligung zu autorisieren. Diese Autorität in Fragen des eigenen Lebens sollte möglichst vielen, auf jeden Fall aber allen selbstbestimmungsfähigen Patienten zustehen. Um nicht systematisch zu vielen Personen Freiheitsrechte vorzuenthalten, sollten die Kriterien für Selbstbestimmungsfähigkeit nicht zu anspruchsvoll gefasst sein. Wer von einer selbstbestimmten Person fordert, sie müsse jederzeit vernünftige Gründe für ihr Handeln angeben können, fordert in den allermeisten Fällen zu viel. Unsere Vorlieben sind womöglich nicht vernünftig, aber sie können uns dennoch lieb und teuer sein. Auch von den Bürgerinnen und Bürgern liberaler Demokratien werden nicht Weisheit oder ein rein vernunftgesteuertes Verhalten verlangt, um sie als vollwertige Mitglieder zu akzeptieren. Die Freiheitsrechte des Bürgers machen auch vor der Medizin nicht Halt. In modernen demokratischen Gesellschaften darf die Medizin keinen Sonderstatus beanspruchen. Dennoch sind die Debatten über das Wesen, die praktische Umsetzung und die Reichweite von Selbstbestimmung nicht verstummt. Was heißt »Selbstbestimmung«, wenn der Körper, ihr Instrument, ohne die Hilfe anderer Menschen oder komplizierter biomedizinischer Technik gar nicht existieren kann? Was heißt »Selbstbestimmung«, wenn die Realisierung dieses moralischen Prinzips in der Praxis ein Mindestmaß an Respekt, Anerkennung und Vertrauen voraussetzt? Was heißt »Selbstbestimmung«, wenn ihr zur Sicherung ihres eigenen politischen Fundaments Grenzen gesetzt werden müssen? Diesen Fragen möchte ich mich im Folgenden widmen.

2

Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten (1900). Dies haben die Patienten – nicht nur in Deutschland – vor allem dem Einsatz engagierter Juristen zu verdanken. Maßgeblich war hier auch das Urteil des Reichsgerichts von 1894 zu eigenmächtigen Heilbehandlungen. Zur Geschichte des Konzepts der Selbstbestimmung in der Medizin s. Maehle (2000; 2009); Wiesemann (1997). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Wiesemann: Die Autonomie des Patienten in der modernen Medizin

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Was heißt »sich selbst zu bestimmen«? Moralische Autonomie im Sinne eines Rechts auf Selbstbestimmung spielt in der Medizin eine bedeutsame Rolle. 3 Wie jedoch Selbstbestimmung philosophisch zu fassen sei, darüber wird bis heute unverändert intensiv diskutiert. Der Begriff ist Objekt zahlreicher Definitionsversuche, die sich teilweise grundlegend in ihren Vorannahmen unterscheiden. Dies liegt zum einen an einer Ambivalenz des Begriffs Selbstbestimmung, der zugleich ein Verhältnis und ein Verhalten zu sich selbst bezeichnet, wobei sowohl dieses Selbst, als auch der Akt der Selbstbeziehung Fragen aufwirft. Wer ist es, der bestimmt? Wer (oder was) wird bestimmt? Das Selbst ist eine philosophisch umstrittene Größe. Mancher Neurowissenschaftler hält es für eine Illusion des evolutionär fortgeschrittenen Gehirns. Von anderen wiederum wird das, was wir für unser individuelles Selbst, unseren ureigenen Wesenskern halten, als sozial konstituiert angesehen, d. h. als Ausdruck einer sozialen Identität aufgefasst. Wenn wir uns dazu verhalten, verhalten wir uns zu unserem sozialen Ich und damit zu den sozialen Prägungen unserer Person. Zudem ist unklar, was als selbstbestimmte Handlung gelten kann. Reicht es, wenn eine Person aus freiem Willen oder eigenem Wunsch heraus handelt, oder muss diese Handlung externen Kriterien der Angemessenheit oder gar Vernünftigkeit genügen? Und schließlich stellt sich die Frage, wie Selbstverhalten und Selbstverhältnis zueinander in Beziehung stehen. Zeigt sich Autonomie nur lokal in jeweils einzelnen Handlungen oder lassen sich globale Kriterien für die Autonomie der Person benennen? Prozedurale und substantielle Bestimmungen von Autonomie Alle diese auf den ersten Blick spitzfindigen theoretischen Probleme erhalten Bedeutung in praktischen Konflikten der Medizin. Es ist von grundlegender Bedeutung, ob man Autonomie prozedural oder substantiell, lokal oder global, auf persönliche Motive oder Vernunftgründe gestützt, individuell oder sozial versteht (Rössler 2011). Krankheitsgeschichten wie die von Brooke Hopkins können uns dies unmittelbar vor Augen führen. So spricht beispielsweise einiges dafür, Autonomie als ein sich in einer einzelnen Handlung manifestierendes Vermögen zu verstehen und dieses rein prozedural, also nur über das Verfahren der Entscheidungsfindung zu definieren. Autonom wäre eine Person dann nur im Hinblick auf eine bestimmte Entscheidung, die wiederum auf eine bestimmte Art und Weise zu Stande gekommen sein muss. Der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt hat eine solche prozedurale Definition vorgeschlagen (Frankfurt 2001). Eine Handlung gilt schon dann als selbstbestimmt, wenn sie durch den Willen zu wollen, autorisiert wurde (»a second-order volition«). Nach dieser Definition ist es nicht nötig, Ziel oder Gehalt der Willenshandlung inhaltlich zu bestimmen. Es reicht, wenn wir uns voll und ganz mit unseren Zielen identifizieren, weil sie etwas repräsentieren, 3

Zu verschiedenen Verständnismöglichkeiten von Autonomie s. Feinberg (1989); Arpaly (2003, 118–125). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 1: Patientenautonomie und Philosophie

was uns wirklich wichtig ist. Harry Frankfurt nennt jene Wünsche, mit denen wir uns identifizieren, »caring«. 4 Diese Definition erlaubt es, Selbstbestimmung von achtlos spontanen Handlungsimpulsen abzugrenzen. Sie überfrachtet überdies Selbstbestimmung nicht mit Ansprüchen an Vernünftigkeit, Schlüssigkeit, Planung etc. (Dworkin 1988). Als orientierende Herangehensweise in einer medizinischen Entscheidungssituation ist sie außerordentlich hilfreich. Sie bietet dem Arzt, der seinen Patienten über die Vor- und Nachteile sowie Alternativen einer Maßnahme umfassend informiert hat, eine Hilfestellung bei der Einschätzung der Wertigkeit der Entscheidung auf der Basis der folgenden Fragen: Ist die Entscheidung vom Patienten tatsächlich so gewollt, oder gibt es Anzeichen dafür, dass der Patient seinen Willen nicht mehr auf sein eigenes Wollen richten kann? Drückt die Entscheidung etwas aus, was dem Patienten wichtig ist und mit dem er sich identifiziert, oder fehlt es dem Patienten ganz an Anteilnahme für sein eigenes Leben? Doch gerade in der Medizin führt die prozedurale Herangehensweise oft zu keinem befriedigenden Ergebnis, denn zum einen erleben manche Patienten äußerst wechselhafte emotionale Zustände, zum anderen kann sich das, was ihnen wirklich wichtig ist, im Verlauf der Zeit durch die existentielle Bedeutung der Krankheit dramatisch ändern. Margaret Battins Ehemann beispielsweise erlebte Phasen eines extremen psychischen und körperlichen Aufs und Abs, des Wechsels der Stimmungen von ozeanhaftem Eins-Sein mit der Welt zu abgrundtiefer Verzweiflung. Keine dieser Erfahrungen war oberflächlich, aber keine war auch beständig oder vertraut. Was ist in einem solchen Zustand spontaner Impuls, was second-order volition, was Laune und was echtes caring? Die üblichen Hierarchien menschlichen Denkens und Empfindens – hier der impulsive Körper, dort die denkende, kontrollierende Instanz – funktionieren oft gerade in der Krankheit nicht mehr auf gewohnte Weise, und unsere einst so wichtigen Wünsche und Vorlieben können sich als belanglos und oberflächlich herausstellen. Frankfurts Definition ist von weiteren Philosophen – z. B. von John Christman und Laura Ekstrom – ergänzt worden. Christman schlägt vor, als weiteres Kriterium die Lebensgeschichte der Person hinzuzuziehen (Christman 2011); Ekstrom, Übereinstimmung mit anderen Präferenzen derselben Person als Kennzeichen echter Selbstbestimmung zu bewerten (Ekstrom 2005). 5 Wenngleich in einem von normalen Erfahrungen geprägten Alltag sinnvoll, sind diese

4

5

Vgl. dazu Betzler (2001) sowie die Weiterentwicklung dieses Konzepts in Jaworska (2007); Quante (2000). Christman und Ekstrom suchen nach Wegen, zwischen einer freien und einer manipulierten Entscheidung zu differenzieren. Sie können deshalb durchaus hilfreich sein bei Problemen, die entstehen, wenn eine Person ihre Entscheidungen unter innerem und äußerem Zwang oder Manipulation trifft, z. B. bei der Bewertung der Entscheidung eines Sektenmitglieds oder eines Suchtkranken. Die Philosophin Beate Rössler argumentiert dagegen, es entscheide sich oft erst im Vollzug unserer Handlungen, welche Gründe wir uns für unser Handeln zu Eigen machen. (»Trommeln für die Menschenrechte« (Bericht vom 22. Deutschen Kongress für Philosophie) Süddeutsche Zeitung, 17./18. September 2011, 15). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Wiesemann: Die Autonomie des Patienten in der modernen Medizin

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Ergänzungen in der Medizin jedoch gelegentlich ebenso wenig hilfreich. Der biographische Bruch durch eine Querschnittslähmung oder eine Krebserkrankung ist dramatisch; viele Präferenzen eines Patienten werden nach einem solchen Einschnitt keinen Bestand haben. Wenn Erkrankungen das normale Funktionieren von Körper und Geist langfristig und in hohem Grade beeinträchtigen und damit unsere Identität verändern, stoßen prozedurale Definitionen von Selbstbestimmung auf ernst zu nehmende Schwierigkeiten. Müssen wir also zu einer substantiellen Definition von Autonomie Zuflucht nehmen? Dann würden wir von der selbstbestimmten Person erwarten, dass sie gute, nachvollziehbare Gründe für ihr Handeln angeben kann oder sogar mit bestimmten Persönlichkeitseigenschaften ausgestattet ist. Solche Kriterien schützten uns z. B. davor, Menschen, die in Folge existentieller Not oder einer Zwangssituation Entscheidungen treffen, allzu leichtfertig Glauben zu schenken. Wir würden dann etwa den Wunsch eines Patienten nach Beihilfe zum Suizid oder den Wunsch einer jungen Afrikanerin nach Beschneidung kritisch und auf der Basis allgemeiner Vorstellung von menschlicher Freiheit oder der Angemessenheit der Ziele hinterfragen. In diesem Fall würde man also die Gründe der Personen prüfen; und der Nachweis intersubjektiv geteilter, ggf. sogar vernünftiger Gründe würde als Kriterium für echte Selbstbestimmung gelten. Allerdings basiert dieses Vorgehen auf dem Ideal einer kulturell homogenen Gesellschaft, deren Mitglieder sich leicht auf gemeinsam geteilte Werte einigen können, eine Voraussetzung, die gerade im Bereich der Medizin gelegentlich nicht mehr zutrifft. Bei Entscheidungen zu Beginn und am Ende des Lebens können wir zum Beispiel auf solche intersubjektiv geteilten Werthaltungen nicht mehr ohne Weiteres zurückgreifen. Deshalb erscheint den einen der Wunsch nach ärztlicher Suizidbeihilfe als rational verständliche Antwort auf unerträgliches Leiden, während andere darin die rationalistisch verbrämte Folge einer von Hedonismus geprägten Oberflächlichkeit erkennen. Der »normal chooser« Beauchamp und Childress haben deshalb als pragmatische Herangehensweise vorgeschlagen, die philosophische Definition von Selbstbestimmung hintan zu stellen und sich stattdessen an den Handlungen von »normal agents« oder »normal choosers« zu orientieren, an Beispielen alltäglicher Entscheidungen wie »ein Bankkonto eröffnen, etwas einkaufen, ein Auto in Reparatur geben« oder »eine Finanzinvestition tätigen, einen Mitarbeiter anstellen, ein neues Haus kaufen« (Beauchamp, Childress 2009, 101f., Übersetzung C. W.). Jemand, der in der Lage ist, die Entscheidung für die Eröffnung eines Bankkontos zu fällen, so die Überlegung, wird auch über eine Operation entscheiden können, vorausgesetzt er wurde ausführlich über die Vor- und Nachteile informiert. Ein solches Vorgehen ist im medizinischen Alltag, wenn Entscheidungen für Standardsituationen getroffen werden müssen, tatsächlich hilfreich und stellt nicht allzu große Ansprüche an denjenigen, der als selbstbestimmt respektiert werden soll. Dennoch sollte gerade bei der Diskussion von strittigen Fällen nicht übersehen werden, dass schon mit den von Beauchamp und Childress gewählten BeiClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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spielen ein bestimmtes Ideal des autonomen Subjekts kommuniziert wird: Es sind dies typischer Weise Handlungen, über die von Einzelnen, ohne Zeitdruck, ohne Not und ohne besondere Berücksichtigung ihrer sozialen Situierung entschieden werden kann. Dieser »normal chooser« und ein Patient in der Medizin haben oft nicht mehr viel gemeinsam. Entscheidungen in der Medizin werden häufig aus Not, unter Zeitdruck und zusammen mit anderen, für den Patienten unentbehrlichen Personen, z. B. dem Ehepartner, getroffen. Zudem sind von den Folgen einer Entscheidung nicht selten mehrere Personen zugleich unmittelbar betroffen, in der Genetik z. B. die von einer genetischen Disposition ebenfalls betroffenen Verwandten, in der Fortpflanzungsmedizin der Partner oder das Kind, in der Geriatrie die mit der Pflege betrauten Angehörigen. 6 Welche Reichweite hat beispielsweise Selbstbestimmung in der Humangenetik, wenn Untersuchungsergebnisse zugleich Erkenntnisse über nahe Verwandte erlauben oder gar diagnostische Tests bei Angehörigen voraussetzen, weil sonst die Untersuchung keinen aussagefähigen Befund ergibt? Was bedeutet reproduktive Autonomie, wenn Fortpflanzung im Normalfall drei Menschen gleichzeitig involviert? Die sogenannten »Grenzfälle«, die das Konzept der Autonomie in Theorie und Praxis erzeugt, stellen im Alltag der Medizin oft die Normalität dar. Relationale Autonomie Soziale Beziehungen erlangen ganz allgemein bei der Ausformung und Ausübung von Selbstbestimmung eine große Bedeutung. In Interaktion mit anderen Menschen formt sich die freie und selbstbewusste ebenso wie die ängstliche und unterdrückte Persönlichkeit. Deshalb sprechen manche sogar von relationaler Autonomie (Mackenzie, Stoljar 2000). Damit soll ausgedrückt werden, dass förderliche und respektvolle Beziehungen mit anderen Menschen zum einen kausal notwendig für die Ausbildung von Selbstbestimmungsfähigkeit sind, da Selbstvertrauen und Selbstrespekt, die Grundvoraussetzungen jeder Form von Autonomie, nicht ohne förderliche menschliche Beziehungen gedeihen können. Zum anderen sind Identität und Selbstbild des Menschen abhängig von Beziehungen wechselseitiger Anerkennung, diese erweisen sich damit sogar als konstitutiv für Autonomie, d. h. Autonomie kann nur innerhalb von Anerkennungsbeziehungen sinnvoll ausgeübt werden (Mackenzie, Stoljar 2000, 22; s. a. Anderson, Honneth 2005). Die Autonomie des querschnittsgelähmten Patienten zum Beispiel kann man als relational in einem konstitutiven Sinn verstehen. Für die allermeisten Wünsche benötigt der Querschnittsgelähmte nicht nur einen Ausführenden, sondern einen Interpreten; für jede Handlung muss Brooke Hopkins mit anderen Personen kommunizieren, dabei werden seine Wünsche gespiegelt und ggf. modifiziert in der Reaktion derjenigen, die ihn ernst nehmen und seine Wünsche umsetzen müssen. Sie werden ihm Fragen stellen wie: »Wäre es nicht besser, 6

Vgl. die Kritik der Care-Ethik am Zerrbild der autonomen als beziehungsloser Person (Baier 1987; Friedman 1987). Für einen Überblick zu den verschiedenen Strömungen der Care-Ethik s. Biller-Andorno (2001). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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wir verschieben das Absaugen, bis der Arzt da ist?«, »Sollen wir dich nicht erst umbetten?« usw. Damit agieren sie nicht nur als Ersatz für Hopkins’ ausgefallene Motorik, sondern interpretieren seine Bedürfnisse, als wären sie selbst Teil der Person des Kranken. Die Notwendigkeit zu quasi-symbiotischem Agieren in solchen Situationen erzwingt eine psychische Ausnahmeleistung von allen Beteiligten. Sie kann sich paradoxerweise am ehesten zu einer Belastung auswirken, wenn die beteiligten Personen dennoch versuchen, die Fiktion des Patienten als eines von anderen unabhängigen Individuums aufrecht zu erhalten. Nicht umsonst hat man das Schlagwort von der Überforderung durch Autonomie geprägt. Überforderung tritt ein, wenn mit Hilfe des Ideals der Selbstbestimmung nur verbrämt wird, dass der Patient eigentlich in seinen existentiellen Nöten allein gelassen wird. Der Begriff der relationalen Autonomie sensibilisiert dagegen für jene Seiten unserer Persönlichkeit, die auf Respekt, Anerkennung und Einfühlung von anderen konstitutiv angewiesen sind. Gerade in der Medizin gilt oft, dass Selbstbestimmungsfähigkeit erst durch ein ermutigendes und förderliches Verhalten des Arztes, das den Patienten darin bestärkt, sich und seinen Körper besser kennen zu lernen und dessen Bedürfnisse ernst zu nehmen, ermöglicht wird. In solchen Fällen verhilft eine gute ärztliche Betreuung dem Patienten zu einem geschärften Bewusstsein seiner selbst und einer Sensibilisierung für seine körperlichen Bedürfnisse. Ein Patient mit Bluthochdruck kann beispielsweise motiviert werden, seine Leistungsmaßstäbe zu überprüfen und seinen Fähigkeiten, mit Stress umzugehen, anzupassen. Das heute weit verbreitete Ideal der deliberativen Arzt-Patient-Beziehung beruht auf einer solchen Form der Relationalität; Selbstbestimmung wird dabei verstanden als Ergebnis eines dialogischen Prozesses, in dem Arzt und Patient sich gemeinsam über die am Anfang noch unklaren, mit der Zeit aber sich deutlicher herauskristallisierenden Ziele der Behandlung verständigen (Emanuel, Emanuel 1992). Dabei ist auch der Arzt nicht als ein distanzierter Berater zu verstehen, sondern als jemand, der im Austausch mit seinem Patienten tiefere Einsicht in die für den Heilungsprozess notwendigen Maßnahmen gewinnt. Die Schattenseiten einer solchen relationalen Perspektive auf Autonomie sind allerdings auch allzu offensichtlich (May 2005; Rössler 2002). Manche sozialen Beziehungen mögen unsere Selbstbestimmungsfähigkeit fördern, viele aber engen sie ein. Wann werden aus Anerkennungsverhältnissen Manipulationsverhältnisse? Was qualifiziert das soziale Selbst als noch ausreichend frei, unabhängig oder authentisch? Dies zu beantworten ist äußerst schwierig angesichts der Vielfalt sozialer Identitäten und Rollen und ihrer kulturell unterschiedlichen, überdies mit der Zeit sich wandelnden Bewertungen. Wie frei ist die geistig behinderte, noch bei ihren Eltern lebende junge Frau, die ihrem Bruder eine Niere spenden will? Wie ist es zu bewerten, wenn ein älterer Patient sich nicht mit seiner Krankheit auseinander setzen will und alle Entscheidungen, selbst die über lebensrettende Maßnahmen, an seine erwachsenen Kinder delegiert? In der Medizin fällt die Abgrenzung der förderlichen von den manipulierenden Beziehungen besonders schwer, da Krankheit vertraute Verhältnisse umkehrt, die Identität von Menschen verändert, Biographien mit Brüchen versieht und soziale Rollen neu definiert. Wer sich für frei und unabhängig gehalten hatte, Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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kann sich wie Brooke Hopkins plötzlich im Rollstuhl wiederfinden, in den alltäglichsten Verrichtungen abhängig von der Hilfe seiner Mitmenschen, die auf eine solche Rolle ebenfalls nicht vorbereitet sind. Selbstbestimmung bei Kindern und Jugendlichen Deshalb wird gerade in der Medizin über inhaltliche, wertbezogene, also substantielle Kriterien für die Selbstbestimmungsfähigkeit des Patienten besonders intensiv diskutiert. Wie notwendig eine solche Diskussion ist, kann man in der Kinderheilkunde und Jugendmedizin erkennen. Denn Kinder und Jugendliche haben laut UN-Kinderrechtskonvention, die übrigens den Status einer Menschenrechtserklärung hat, ein Recht darauf, dass ihre Meinung gehört und angemessen in allen sie betreffenden Entscheidungen berücksichtigt wird. Dies sollte ohne Zweifel auch für Behandlungsentscheidungen gelten. Das deutsche Recht gesteht Jugendlichen Selbstbestimmung regelhaft erst ab 16 Jahren, in Ausnahmen, z. B. bei der Verschreibung von Verhütungsmitteln, auch schon früher zu. Diese verhältnismäßig restriktiven Grenzen entsprechen weder den Zielen der von Deutschland ratifizierten Kinderrechtskonvention, noch dem, was wir im Alltag Kindern und Jugendlichen mittlerweile zuzutrauen bereit sind, vor allen Dingen jenen, die frühzeitig Selbstverantwortung übernehmen mussten, beispielsweise weil sie durch eine chronische Krankheit zu Experten ihrer eigenen medizinischen Situation geworden sind. Das zeigt das Beispiel der 13-jährigen chronisch leukämiekranken Hannah aus England. Sie lehnte gegen den Rat ihrer Ärzte eine lebensrettende Herztransplantation ab. Hannah, die über Jahre hinweg gegen ihren Krebs behandelt worden war, wollte keine Ärzte und keine Krankenhausbetten mehr sehen. Ein Gericht billigte ihren Entschluss zu sterben und akzeptierte ihre Entscheidung als selbstbestimmt. 7 Die Selbstbestimmung von Kindern in der Medizin ist ein noch wenig bearbeitetes Thema. 8 Auch hier handelt es sich anscheinend um eine Form der relationalen Autonomie. Die Kompetenz von Minderjährigen, selbstbestimmt zu entscheiden, wird erst durch anerkennende und ermutigende soziale Beziehungen ermöglicht. Ein Kind, das von seinen Eltern nie angehalten wurde, Selbstverantwortung zu übernehmen und eigene Entscheidungen zu treffen, dessen Wünsche nicht respektiert und dessen Selbstwertgefühl nicht gefördert wurden, wird auch im fortgeschrittenen Alter noch Schwierigkeiten haben, moralische Autonomie zu entwickeln (Giesinger 2007). Ein Kind wird nur in dem Maße Selbstbestimmungsfähigkeit entwickeln, in dem man es ermutigt, Selbstbestimmungsfähigkeit einzuüben. Doch fast immer wird hier mit zweierlei Maß gemessen: Während bei Erwachsenen dafür plädiert wird, die Kriterien für moralische 7

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Für eine Darstellung des Falls s. Cornock (2010). Bemerkenswerter Weise verstarb Hannah nicht, sondern erholte sich zu Hause wider Erwarten so gut, dass sie die Transplantation nach einem Jahr erneut ins Auge fasste. Mittlerweile lebt sie mit einem neuen Herzen. S. die Beiträge von Duttge und Dörries in diesem Band sowie Alderson (2003); Perera (2008). In den großen philosophischen Abhandlungen zum Autonomie-Begriff wird in der Regel gar nicht oder nur kursorisch auf die Rolle des Kindes eingegangen. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Autonomie nicht zu hoch anzusetzen, um ein alltagstaugliches Konzept zu erhalten, das möglichst viele Personen in den Genuss von Freiheitsrechten kommen lässt, wird bei Kindern und Jugendlichen der Maßstab für Selbstbestimmungsfähigkeit – aus einem gewissen Schutzbedürfnis heraus – sehr hoch angesetzt. Mit anderen Worten: Während ein Erwachsener sich auch offenkundig vernunftwidrig, ja sogar selbstschädigend verhalten darf, ohne als selbstbestimmungsunfähig angesehen zu werden, wird ein solches Verhalten bei Kindern und Jugendlichen in der Regel als ein Zeichen für mangelnde Selbstbestimmungsfähigkeit interpretiert. Diese Ungleichbehandlung ist ethisch nicht zu rechtfertigen. Es ist jedoch nicht zu leugnen, dass wir an der Schwelle zur Selbstbestimmungsfähigkeit inhaltliche Kriterien benötigen, um uns davon überzeugen zu können, dass ein Kind selbstbestimmungsfähig ist. Es reicht nicht aus, sich an rein prozeduralen Kriterien zu orientieren; es genügt also nicht festzustellen, dass das Kind – im Sinne einer »second-order volition« – wollen will, dass es nicht nur spontan aus einer Laune heraus agiert, dass es in Übereinstimmung mit anderen persönlichen Präferenzen und frei von innerem und äußerem Zwang handelt. Wir würden, um das Erwachen der Selbstbestimmungsfähigkeit beim Kind zu objektivieren, seine Entscheidungen auch inhaltlich prüfen wollen: Ist dies im Lichte der Situation des Kindes, seiner Erfahrungen und Erwartungen, seiner Ziele im Rahmen eines selbstgestalteten Lebens eine angemessene Entscheidung? 9 Dabei sollte man jedoch nicht über das Ziel hinausschießen, denn beim Kind wie beim Erwachsenen kann es nur um die Bedingungen minimaler Autonomie gehen (Jaworska 2009). So schön es wäre, wenn es gelänge, die Lebensentscheidungen jederzeit vernünftig, vorausschauend planend und organisatorisch durchstrukturiert zu treffen – unsere Lebenswirklichkeit, die von Kindern wie von Erwachsenen, entspricht dem in der Regel nicht. Manches aus der Situation des Kindes kann man ohnehin auf den erwachsenen Patienten übertragen, denn wenn die Beziehungen des Kindes zu Eltern, Ärzten oder Pflegenden, wenn das dadurch gestärkte Selbstvertrauen von entscheidender Bedeutung für die Autonomiefähigkeit des Kindes sind, warum sollte dies für den kranken Erwachsenen nicht ähnlich gelten? 10 Selbstbestimmung und Vertrauen Diese allgemeinen Überlegungen zeigen, wie wichtig es ist, wer im Alltag damit betraut ist, eine Handlung als ausreichend selbstbestimmt einzuschätzen. Es ist nicht ohne Brisanz, dass Ärzte, deren Macht mit Hilfe des informed consent auf 9

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Dabei wird die Fähigkeit von Erwachsenen, sich in die Situation des Kindes zu versetzen und eine verständnisvolle Haltung zu entwickeln, unerlässlich sein. Heutzutage kann es jedenfalls nicht mehr ausreichen, die Lücke, die die Existenz des Kindes in einer auf Autonomie basierenden Moraltheorie reißt, lediglich durch Stellvertreter-Konstrukte oder durch Modelle des antizipierten Konsenses zu füllen. Zudem können wir uns beim Kind nicht wie beim einwilligungsunfähigen Erwachsenen mit Patientenverfügungen behelfen. Dennoch ist offensichtlich, dass sich die Situation des Kindes und die des Erwachsenen, nicht nur des einwilligungsunfähigen Erwachsenen, in vielen Punkten gleichen. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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demokratische Weise beschränkt werden sollte, zugleich jene Personen sind, die in der Regel Selbstbestimmungsfähigkeit attestieren oder aberkennen. Gerade im durchorganisierten Klinikalltag lassen sich Respekt und Anerkennung aber auf subtile Art und Weise verweigern. Auch die Pflegenden, die ohnehin weitaus häufiger mit dem Patienten Kontakt haben, spielen eine wichtige Rolle bei der Anerkennung des Patienten als Person. Margaret Pabst Battin unterstreicht, wie groß der Einfluss der Pflegekräfte, Physiotherapeuten und Beschäftigungstherapeuten auf die seelische Verfassung ihres Mannes war (Pabst Battin 2010, 410), Personen, denen die Medizinethik oft nur am Rand Beachtung schenkt. Mit der wachsenden Bedeutung von guter Pflege, vor allen Dingen im Alter, und der zunehmenden Komplexität von Pflegeleistungen gewinnt notwendiger Weise auch das moralische Verhältnis zwischen Pflegekräften und Patienten an Gewicht. Die Pflegeethikerin Irmgard Hofmann diskutiert deshalb z. B. die Frage, ob Pflegekräfte die Einschlägigkeit einer Patientenverfügung eigenständig bewerten sollten oder dürfen (Hofmann 2011). Dies ist in Alten- und Pflegeheimen eine praktisch höchst relevante Frage. Auch mit dem klinischen Ethik-Komitee wächst die Zahl der an den Entscheidungen eines Falls beteiligten Personen. Geschieht dies stets zu Gunsten des Patienten und seiner Rechte? Wie oft werden die Patienten selbst über Beratungen in Kenntnis gesetzt, gar in solche Prozesse einbezogen? Wer in der Verantwortungsdiffusion des Klinikalltags ein ethisches Problem erkannt hat, kann das Ethik-Komitee von solchen Sorgen nicht freisprechen. Selbst wenn das EthikKomitee nur beratend tätig wird, wird es doch nicht unerheblich auf den Ausgang eines Falls Einfluss nehmen. Welche Verfahrensschritte gewährleisten die Selbstbestimmung des Patienten bei der Einbeziehung eines Ethik-Komitees? Diese Frage ist bisher noch nicht befriedigend beantwortet, stellt aber ein ernsthaftes Problem dar, besteht hier doch die Gefahr, dass Patienteninteressen allein durch das Verfahren systematisch benachteiligt werden, z. B. weil Patienten oder ihre Angehörigen nicht regelmäßig angehört werden. Dem letztlich unendlichen Regress von Selbstbestimmung, Umsetzung der Selbstbestimmung, Kontrolle der Umsetzung der Selbstbestimmung und Kontrolle der Kontrolle der Umsetzung der Selbstbestimmung ist unter den Bedingungen der modernen Medizin kaum zu entkommen. Um solche komplexen sozialen Systeme dennoch funktionsfähig zu erhalten, braucht es Vertrauen (Luhmann 2000). Ein Übermaß an Entscheidungsoptionen, hohe Risiken und die Unmöglichkeit vollständiger Kontrolle nötigen auch dem prinzipiell Entscheidungsfähigen ein hohes Maß an Vertrauen ab, sollte er nicht entweder handlungsunfähig oder paranoisch werden. Vertrauen wird somit zum notwendigen Gegenspieler – oder sollte man nicht besser sagen: Mitspieler? – von Autonomie (O’Neill 2002). Wer die Selbstbestimmung stärken will, sollte deshalb auch Personenvertrauen und Systemvertrauen zu erhalten suchen. Der Begriff des Vertrauens verdeutlicht, wie sehr Selbstbestimmung in einen Kosmos sozialer Voraussetzungen eingebettet ist. Mit dem französischen Soziologen Alain Ehrenberg kann man sagen, dass das menschliche Leben heute, wenngleich es individualisierter erscheint, nicht weniger sozial oder weniger Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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institutionell ist. »Vielmehr«, so Ehrenberg, »ist es auf andere Art und Weise sozial« (Ehrenberg 2011, 20). Dies stellt gerade die Medizin vor besondere Herausforderungen. Selbstbestimmung im kulturellen und politischen Kontext Deshalb ist auch unmittelbar ersichtlich, wieso kulturelle Einflüsse einen großen Stellenwert für Anerkennung und Ausgestaltung selbstbestimmten Handelns haben (Miller 2000; Wiesemann 2012). Man kann dies ermessen, wenn man wie Silke Schicktanz, Aviad Raz und Carmel Shalev Entscheidungen am Lebensende in Deutschland und Israel, zwei modernen, technologiebetonten Gesellschaften, vergleicht, die beide der Selbstbestimmung des Patienten einen hohen Wert beimessen (Schicktanz et al. 2010). Bei aller Gemeinsamkeit im Umgang mit Patientenselbstbestimmung zeigen sich doch bemerkenswerte Unterschiede darin, welcher Bereich als prinzipiell außerhalb individueller Entscheidungskompetenz liegend begriffen wird. In Israel sind dies Entscheidungen zum Beenden lebenserhaltender Maßnahmen. Dies führte zur Einführung des sogenannten Timers, einer zeitgesteuerten automatischen Abschaltung des Beatmungsgeräts, das von Hand wieder in Betrieb genommen werden muss. Mit dem Timer wird aus einer illegalen Entscheidung über das Beenden eine legale über das Unterlassen einer Therapie. Alle modernen, demokratischen Gesellschaften müssen heute jenen Bereich eingrenzen, der aus ethischen wie politischen Gründen individueller Entscheidung vorenthalten werden soll. Ist es die Freiheit, seine Organe zu verkaufen, sich mittels Gehirndopings bessere intellektuelle Leistungen zu ermöglichen oder durch Fusion mit computergestützten Technologien in eine neue transhumane Gattung zu verwandeln? Wie auch immer sich Gesellschaften in diesen Fragen entscheiden – mit ihren innovativen Techniken und Technikutopien stellt die moderne Biomedizin in jedem Fall eine große Herausforderung für liberale Demokratien dar. Dies ist der Grund für das große Echo auf Habermas’ besorgte Studie über »Die Zukunft der menschlichen Natur« (Habermas 2001). Die Politikwissenschaftlerin und Bioethikerin Katharina Beier hat herausgearbeitet, auf welche Weise ein genetisches Enhancement menschlicher Eigenschaften wie Intelligenz oder Körperkraft das Autonomieideal in Frage stellen kann. Denn nicht nur würden so womöglich neue Normalitätsvorstellungen generiert und aus der freien Wahl Einzelner über kurz oder lang ein Pflichtprogramm für viele. (Beier 2009, 375–379) Zukünftigen Generationen würden auch neue, genetische Formen der Ungleichheit aufgebürdet und damit – als Ergebnis planvollen Handelns – die »universale Gleichheitsunterstellung« (Beier 2009, 379) des politischen Liberalismus unter Druck geraten. 11

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Auch die Frage nach der Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe bringt moderne liberale Gesellschaften solcherart in Bedrängnis. Margaret Pabst Battin ist sich heute nicht mehr sicher, ob die ihr als Philosophin vertraute Debatte zu einer Lösung dieses gesellschaftlichen Problems führen wird, ja, ob sie das Problem überhaupt angemessen abbildet. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Schlussfolgerungen Die Medizin ist als Teil einer demokratischen Gesellschaft auf die Legitimierung ihres Handelns durch die selbstbestimmte Entscheidung des Patienten angewiesen. Der in der Medizin verwendete Autonomie-Begriff muss dem Prinzip nach jenem der politischen Sphäre gleichen, d. h. Entscheidungen müssen in der Regel im Sinne der minimal autonomy nur wenigen, prozeduralen Kriterien genügen, um als selbstbestimmt zu gelten. Allerdings kommt es gerade in der Medizin zu Entscheidungen in den Grenzbereichen menschlicher Existenz und personaler Identität, in denen diese Regel problematisch wird. Je existentieller die Bedrohung durch Krankheit, je größer die Auswirkung auf die personale Identität des Kranken, je bedeutsamer die menschlichen Beziehungen im Entscheidungskontext, desto weniger kann darauf verzichtet werden, Kriterien für Autonomie inhaltlich zu präzisieren. Eine rein prozedurale Herangehensweise mag genügen, wenn es sich um einfache, gewöhnliche, eben »normale« Entscheidungen von »normalen« Personen handelt, die die Identität und soziale Rolle dieser Personen unbeeinträchtigt lassen. In allen anderen Fällen werden Ärzte vernünftiger Weise dazu tendieren, nach Sinn und Bedeutung der Entscheidung zu fragen, um Anhaltspunkte für deren Einschätzung zu erhalten. Im Einzelfall kann das bedeuten: Wenn in einer existentiellen Situation die Wahl, die der Patient trifft, für den Arzt völlig überraschend kommt oder gar unsinnig erscheint, sollte dies zum Anlass genommen werden, den Prozess der Willensbildung beim Patienten zu hinterfragen. Dabei darf es keinesfalls darum gehen, solche Entscheidungen pauschal zu entwerten; das wäre sehr bedenklich. Das Ziel ist vielmehr zu verstehen, ob und welche carings (im Sinne von H. Frankfurt) den Patienten bewegen, d. h. was ihm wichtig ist und warum. Dies wird nicht ohne ein eigenes wertendes Urteil möglich sein und besonders dann erforderlich sein, wenn Arzt und Patient keinen gemeinsamen sozialen Hintergrund teilen. Solcherart nach dem Sinn einer Entscheidung zu fragen kann einen deliberativen Entscheidungsfindungsprozess einleiten, bei dem Patient und Arzt letztlich gemeinsam neue, von beiden als gut und richtig eingeschätzte therapeutische Ziele entwickeln. Dabei ist der Patient jedoch in besonderem Maße auf den Respekt und die Ermutigung des Arztes angewiesen. Dies gilt auch für jene vulnerablen Patienten, die ihre Selbstbestimmungsfähigkeit noch entwickeln, wie Kinder und Jugendliche, oder zu verlieren drohen, wie Demenzkranke. Die Erfahrung lehrt, dass diese Verfahrensweisen dennoch in einer Reihe von Situationen nicht ausreichen, entweder weil die Entscheidungen und ihre Folgen nicht auf einzelne Personen beschränkt sind oder weil sich fundamentale gesellschaftliche Fragen, z. B. des Menschenbilds einer Gesellschaft, damit verbinden, wie dies beim genetischen Enhancement oder bei der aktiven Sterbehilfe der Fall ist. In solchen strittigen Fällen müssen sich die Bürgerinnen und Bürger in einem politischen Prozess auf sinnvolle Optionen von Selbstbestimmung einigen. Diese werden sich dann idealerweise an Gesichtspunkten der Vernunft oder der sozialen Zuträglichkeit orientieren.

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Holmer Steinfath, Anne-Marie Pindur

Patientenautonomie im Spannungsfeld philosophischer Konzeptionen von Autonomie Autonomie ist ein Schlüsselkonzept nicht nur der modernen Medizin, sondern moderner liberaler Gesellschaften insgesamt. Als Patient oder als Person überhaupt – sich als autonomes Individuum zu begreifen und als solches geachtet zu werden, gehört zum Selbstverständnis der meisten von uns. Doch gerade weil Autonomie zu einer zentralen und kaum verzichtbaren Selbstverständigungskategorie moderner Individuen und Gesellschaften geworden ist, ist ihre Ausdeutung Gegenstand anhaltender Dispute. Zurzeit werden sowohl das Konzept der Patientenautonomie im Besonderen als auch das der Autonomie von Personen im Allgemeinen wieder stärker befragt. Klassische liberale Interpretationen sind zunehmend in die Kritik geraten; sie stehen im Verdacht, ein einseitig individualistisches und übertrieben rationalistisches Bild von Personen zu zeichnen, das deren soziale Einbettungen abblendet und der Vielschichtigkeit und Verletzlichkeit des menschlichen Lebens nicht gerecht wird. Im Folgenden soll nach einem Mittelweg gesucht werden. Einerseits gilt es den kritischen Anfragen an das liberale Verständnis von Autonomie zu ihrem Recht zu verhelfen; andererseits gibt es gute Gründe, darüber nicht den Kern des liberalen Autonomieverständnisses preis zu geben. Beide Seiten zusammenzubringen erscheint zumal für ein Weiterdenken des Konzepts der Patientenautonomie fruchtbar. Trotz der Besonderheiten des medizinischen Kontextes kann dies freilich nur vor dem Hintergrund allgemeinerer philosophischer Diskussionen zum Autonomiebegriff sinnvoll geschehen. Nicht zufällig stehen Reflexionen zur Patientenautonomie von Beginn an in mannigfaltigen Wechselbeziehungen zu allgemeineren philosophischen Konzeptionen von Autonomie. Die liberale Standardauffassung von Patientenautonomie Bezugspunkt nahezu aller heutigen Kontroversen um den Charakter und Stellenwert der Patientenautonomie bildet eine Auffassung, die als »liberale Standardauffassung« bezeichnet werden kann. Diese Auffassung ist am ethischen Leitprinzip des Respekts vor der Autonomie von Patienten orientiert. Kann dieser Respekt unter Umständen hinter andere ethische Rücksichten zurücktreten, so wird ihm doch ein so großes Gewicht zugeschrieben, dass er nur in begründeten Ausnahmefällen übertrumpft werden darf. Aber was soll im Respekt vor der Autonomie von Patienten geachtet werden? In einer Lesart ist dies zunächst das moralische (und möglichst auch juristische) Recht von Patienten, selbst zu entscheiden, ob und gegebenenfalls auch wie sie medizinisch behandelt werden. Der Patient soll die Möglichkeit haben, zu einer ärztlichen Empfehlung zustimmend oder ablehnend Stellung zu nehmen und so ihre Umsetzung zuzulassen oder zu verhindern. Beim in dieser Weise verstandenen Recht handelt es sich um ein individuelles Abwehrrecht. Nur in einzelnen Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Fällen wird erwogen, Patienten darüber hinaus ein Anspruchsrecht auf von ihnen gewünschte Maßnahmen zuzubilligen, die nicht medizinisch indiziert sind und deren öffentliche Finanzierung strittig ist; dies gilt etwa für die Inanspruchnahme von Techniken der modernen Reproduktionsmedizin. Die Fixierung des Respekts vor der Patientenautonomie auf die Achtung eines entsprechenden Rechts kann zu einer terminologisch leicht verwirrenden Gleichsetzung von Autonomie und Recht führen. Die Autonomie des Patienten meint dann nichts anderes als sein Recht, über die Anwendung medizinischer Behandlungen selbst zu entscheiden (vgl. Feinberg 1986, 47ff. zu Autonomie als Recht). Ein solches Recht kann grundsätzlich noch dann gegeben sein, wenn der Patient nur situativ oder überhaupt nicht in der Lage ist, eigene Entscheidungen zu treffen. Ein Recht ist ein Status, den jemand zugewiesen bekommt, während die Wahrnehmung dieses Rechts gegebenenfalls auch stellvertretend erfolgen kann. Auch in der liberalen Standardauffassung wird Autonomie jedoch nicht ausschließlich als Recht verstanden. Auf einer weiteren Ebene gilt der Respekt vor der Autonomie des Patienten vielmehr entweder seiner Fähigkeit, in Bezug auf medizinische Behandlungen zu eigenen Entscheidungen zu gelangen, oder direkt seinen konkreten Entscheidungen. Im ersten Fall wird die zu respektierende Autonomie als dispositionelle Eigenschaft von Personen, eben ihre Fähigkeit, selbst Entscheidungen zu treffen, begriffen, im zweiten Fall als ein Zustand, der mit der tatsächlichen Ausübung der Fähigkeit vorliegt. Im einen wie im anderen Fall kommt es freilich darauf an, dass die (möglichen oder tatsächlichen) Entscheidungen des Patienten bestimmten Anforderungen genügen, um in den Fokus des Autonomierespekts rücken zu können. Die nötigen Qualifizierungen entsprechen denen, die für das Vorliegen einer »informierten Zustimmung« (oder Ablehnung) regelmäßig angeführt werden. Folgt man der einflussreichen Darstellung von Tom Beauchamp und Ruth Faden ist eine informierte Zustimmung gegeben, wenn die Entscheidung des Patienten (oder die daraus resultierende Handlung) a) absichtlich, b) mit Verständnis und c) frei vom kontrollierenden Einfluss anderer erfolgt (Faden, Beauchamp 1986, 241–262). Die Bedingung b) schließt im medizinischen Kontext vor allem ein, dass der Patient die für seine Entscheidungen relevanten Informationen mitgeteilt bekommen hat und angemessen zu verarbeiten und zu begreifen vermag. Die Bedingung c) schließt insbesondere Formen von Zwang und Manipulationen aus. Im Unterschied zu a) sind b) und c) graduierbar, so dass auch die Entscheidung des Patienten mehr oder minder autonom sein kann (während Autonomie als Recht gerade nicht graduierbar ist). Wie Bedingungen wie a), b) und c) im Einzelnen auszubuchstabieren sind, ist strittig und dürfte letztlich immer nur kontextbezogen zu klären sein. Auch kann man darüber streiten, ob die Bedingungen einzeln notwendig und zusammen hinreichend für autonome Entscheidungen und Handlungen sind. Eine liberale Auffassung wie die von Beauchamp und Faden (und genauso von Beauchamp und Childress 2009) stellt in dem Sinn auf Handlungsautonomie ab, als es ihr vorrangig um die Beurteilung und Respektierung einzelner, situativ besonderer Handlungen und Entscheidungen geht. Das kann auch dann noch zutreffen, wenn der Respekt vor der Entscheidung des Patienten an die UnterClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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stellung seiner Entscheidungsfähigkeit oder Entscheidungskompetenz gebunden wird, denn obwohl im medizinischen Kontext meist auf der Grundlage einer generellen Kompetenzvermutung agiert wird, kann auch die Kompetenz situativ variieren. Zwischen der generellen Kompetenzunterstellung und der Konzentration auf Handlungs- und Entscheidungsautonomie sind Spannungen möglich, die sich etwa an der Frage entzünden mögen, ob, wie und wann Kompetenztests vorzunehmen und ob diese gegebenenfalls der Größe des Eingriffsrisikos anzupassen sind. 1 Trotz vieler Kontroversen im Einzelnen gehört zur liberalen Standardauffassung das Bestreben, die Anforderungen an Patientenautonomie relativ anspruchslos zu halten, so dass möglichst viele Patienten in den Genuss des Respekts vor Autonomie kommen können und dieser Respekt nicht primär als Ausschlusskriterium fungiert. Bei der Einschätzung von Entscheidungen und Handlungen von Patienten als autonom ist die Annahme der Autonomie die Default-Position, zumindest sofern es sich – eine wichtige und nicht unproblematische Einschränkung – um erwachsene Patienten handelt. Vor dem Hintergrund dieser – notgedrungen vereinfachenden – Skizze der liberalen Standardauffassung von Patientenautonomie lassen sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für Kritik und Vertiefung ausmachen, deren Ressourcen von allgemeinen Theorien der Autonomie von Personen bereitgestellt werden. Es empfiehlt sich, diese Punkte entlang etablierter (wiewohl nicht unkontroverser) Unterscheidungen zu ordnen. Lokale versus globale Autonomie Eine erste Kritik am liberalen Standardmodell kann sich an dessen Privilegierung der Handlungsautonomie gegenüber einer umfassenderen personalen Autonomie entzünden. Des Öfteren operiert diese Kritik mit der Unterscheidung von »lokaler« und »globaler« Autonomie (vgl. (Oshana 2006, 2) sowie die dort in Anm. 2 angegebene Literatur). Nicht selten werden dabei jedoch verschiedene Unterscheidungen vermengt. Obwohl die Rede von »lokaler« Autonomie zumeist auf die Autonomie einzelner Entscheidungen und Handlungen zielt, ist auch manchmal von lokaler personaler Autonomie die Rede. »Lokal« ist dann zeitlich zu verstehen und steht für eine punktuelle Zuschreibung von Autonomie an die ganze Person zu einem bestimmten Zeitpunkt. Hinter den unterschiedlichen Verwendungen stehen dabei bisweilen grundsätzlich verschiedenartige Ansichten darüber, ob der Begriff der autonomen Handlung primär und der Begriff der autonomen Person derivativ ist oder umgekehrt. 2 Bei der Rede 1

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Zu Letzterem s. Beauchamp, Childress (2009, 116). Zu solchen »Risiko-relativen« Ansätzen gehören zum Beispiel: Roth et al. (1977); Drane (1985); Buchanan, Brock (1989). Kritisch: Culver, Gert (1990); Wicclair (1991). Die Sicht, dass die Rede von autonomen Personen derivativ zu verstehen ist, findet sich zum Beispiel bei Marilyn Friedman: »My account of autonomy revolves around a conception of what it is for choices and actions in particular to be autonomous. I sometimes refer to choices and actions indifferently as behaviour. Other autonomous phenomena may then be defined Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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von »globaler« Autonomie kann es entweder um die generelle Lebensführung einer Person gehen oder – und das ist im Kontext der Patientenautonomie die interessantere Variante – um Dispositionen der Personen, die für sie über einen gewissen Zeitraum ihres Lebens charakteristisch sind und sich jedenfalls nicht in einzelnen Augenblicken erschöpfen. Es lässt sich somit eine globalere Sicht auf einzelne Entscheidungen und Handlungen einnehmen, indem man zur Beurteilung dieser eben jene diachronen Dispositionen und weitere Fähigkeiten der Person heranzieht. So betrachtet, entpuppt sich manche Kritik am lokalen Charakter der Standardauffassung als Kritik, die letztlich darauf abzielt, dass die Autonomiebedingungen der Standardauffassung zu anspruchslos sind: Demnach fehlten vor allem Authentizitätsbedingungen, um die Grundidee von Autonomie einzufangen, dass nämlich die Personen in einem emphatischen Sinne eigene Entscheidungen treffen (vgl. Quante 2002, 5. Kapitel). Die liberale Konzentration auf lokale Autonomie hat dort gute Gründe, wo sie der Abhebung von der Lebensgestaltung der Person insgesamt dient. Gerade im komplexen institutionellen Kontext der modernen Medizin ist die Überprüfung einzelner Entscheidungen noch machbar, während die Beurteilung der Lebensführung eines Patienten schon epistemisch ausgeschlossen erscheint. Normativ spricht für die Beurteilung einzelner Entscheidungen, dass diese situationsbezogen auch von einer Person autonom getroffen werden können, deren globale Autonomie erheblich eingeschränkt ist. So mögen Patienten mit mentalen Störungen zwar generell unfähig sein, selbstständig zentrale Belange ihres Lebens zu regeln; gleichwohl können auch sie entschiedene Wünsche z. B. bezüglich ihrer Kleidung, ihrer Nahrung oder des Umgangs mit ihnen haben, die nach Möglichkeit respektiert werden sollten. Ebenso kann der umgekehrte Fall einer Person, die generell selbstständig, aber situativ entscheidungsunfähig ist, auftreten und von der liberalen Auffassung adäquat berücksichtigt werden. Die Ausblendung der Weiterungen der über punktuelle Entscheidungen hinausgehenden personalen Autonomie führt jedoch auch in der medizinischen Praxis zu Schieflagen, wenn dabei die »globaleren« Dispositionen der Person unter den Tisch fallen. Zum einen muss oft schon die Einschätzung einer Maßnahme als dem Willen des Patienten entsprechend auf die Persönlichkeit des Patienten und seine biographische Identität Rücksicht nehmen (dazu und zum Folgenden Quante 2002, 5. Kapitel). Das gilt insbesondere dort, wo keine ausdrückliche Einwilligung vorliegt, sondern die Zustimmung des Patienten der Umstände wegen nur eine implizite oder mutmaßliche ist. Aber auch in die Beurteilung der expliziten Willensäußerung eines Patienten gehen unweigerlich Überlegungen zu

in terms of autonomous behaviour. An autonomous person is someone who behaves autonomously with relative frequency« (Friedman 2003, 4). Die umgekehrte Position, wonach der Autonomiebegriff primär auf Personen anzuwenden sei, vertritt dezidiert Marina Oshana: »[T]here is no natural transition from a conception of autonomy that focuses on psychological states, or capacities, to an account of the autonomy of persons. Although a person’s status as self-governing is in part dependent on her psychology, personal autonomy and autonomy vis a vis one’s psychological states differ in kind [. . .]. [W]hat I am interested in is [. . .] the autonomy of persons [. . .]« (Oshana 1998, 85). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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ihrem Charakter und den verschiedenen Fähigkeiten ein, die sie als Person ausmachen. Dass eine der Persönlichkeit eines Patienten entsprechende Entscheidung nicht notwendig autonom erfolgt, wie Beauchamp und Childress bemerken (Beauchamp, Childress 2009, 111), ist sicherlich richtig. Nur lassen sich Entscheidungen, die sich überhaupt nicht mit den charakteristischen Zügen der Person und ihren längerfristigen Anliegen zusammenbringen lassen, schwerlich noch ihr selbst zurechnen und damit als selbstbestimmt bewerten. Die Abkoppelung einzelner Entscheidungen und Aussagen von der Person als Ganzes birgt darüber hinaus die Gefahr, dass die Aufmerksamkeit nicht mehr der Veränderung von Autonomie unterminierenden Strukturen gilt. Eine Stärkung der Autonomiefähigkeit von Patienten, also ihrer dispositionellen Verfasstheit, muss ihre Persönlichkeit im Blick haben und den ganzen institutionellen und interpersonalen Kontext medizinischer Entscheidungen einbeziehen. Prozedurale versus substantielle Autonomie Eine weitere verbreitete Kritik bedient sich der Unterscheidung zwischen prozeduralen und substantiellen Autonomiekonzeptionen. Die liberale Standardauffassung ist insofern eine prozedurale Konzeption als sie beansprucht, die Autonomie einzelner Entscheidungen und den Respekt vor ihnen nicht von deren Inhalten abhängig zu machen; das Verständnis von Autonomie soll inhaltsneutral sein (vgl. Christman 1991). Oder anders ausgedrückt: eine Entscheidung mag Außenstehenden noch so bizarr und unvernünftig erscheinen – ob sie selbstbestimmt getroffen wurde oder nicht, hängt allein daran, wie sie zustande gekommen ist oder welche strukturellen Merkmale die Entscheidung und die mentale Verfassung der Person aufweisen. In medizinischen und medizinethischen Zusammenhängen werden die prozeduralen Kriterien zumeist niedrig gehängt, um so gut wie niemandes Entscheidung als fragwürdig in Zweifel ziehen zu müssen. Die Person soll ihre Entscheidung (einigermaßen) wohl erwogen haben, sie soll die nötigen Informationen aufgenommen und (zureichend) verstanden haben und von anderen nicht bedrängt werden. Zu was für einem Ergebnis sie dann kommt, ist ihre Sache. Erneut sprechen insbesondere im Kontext medizinischer Beratung und Behandlung gute Gründe für ein solches Vorgehen. Um den Respekt vor den autonomen Entscheidungen der Patienten wäre es schlecht bestellt, würden nur solche Entscheidungen respektiert, die das medizinische Personal oder eine hypothetisch angenommene vernünftige Durchschnittsperson für angemessen hielten. Das Recht auf Autonomie schließt das Recht auf Irrtum und idiosynkratische Vorlieben ein (vgl. Dworkin 1988, 102). Da eine Person sich durch ihre Entscheidungen schaden kann, gerät die Achtung vor der Autonomie des Patienten an dieser Stelle in einen möglichen Gegensatz zum ärztlichen Fürsorgeprinzip, dem es um das Wohl der Person geht. Das kann zum schwierigen Abwägen zwischen dem Prinzip des Respekts vor der Autonomie und dem Prinzip der Sorge um das Wohl von Patienten führen, sollte aber nicht dazu verleiten, den autonomen Willen von Patienten so umzudeuten, dass sich Patienten bereits aus begrifflichen Gründen gar nicht autonom gegen ihr Wohl entscheiden könClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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nen (andernfalls wäre der Streit um zulässige Formen von Paternalismus gegenstandslos). 3 Auch in den philosophischen Theorien zur personalen Autonomie dominieren prozedurale und dem Anspruch nach inhaltsneutrale Konzeptionen. Sie weichen von in der Medizinethik verbreiteten Ansätzen zumeist dadurch ab, dass sie höhere Ansprüche an die Reflektiertheit und Rationalität von Personen stellen, als dies im Rahmen von Modellen für Patientenautonomie schon aus pragmatischen Gründen die Regel ist. Das hat den philosophischen Arbeiten den Vorwurf des Intellektualismus oder eines überzogenen Rationalismus eingetragen, auf den noch zurück zu kommen sein wird. Trotz dieser wichtigen Differenz teilen prozedurale Autonomieverständnisse in der allgemeinen Philosophie und prozedurale Auffassungen von Patientenautonomie in der Medizinethik aber die generelle Hintergrundüberzeugung, dass in modernen pluralistischen Gesellschaften mit einer Vielzahl unterschiedlichster Lebensentwürfe der Respekt vor der Autonomie des Einzelnen äußerste Zurückhaltung in Bezug auf die inhaltliche Kritik von Lebensanschauungen und persönlichen Entscheidungen verlangt. Liberale Konzeptionen von Autonomie wollen damit freilich nicht grenzenloser Beliebigkeit das Wort reden. Sofern sie den Handlungen und Lebensweisen der Individuen Schranken auferlegen, tun sie dies jedoch entweder nicht im Rekurs auf den Autonomiebegriff, sondern z. B. im Rückgriff auf Gesichtspunkte der Gerechtigkeit (oder ggf. auch der Effizienz). Oder sie bemühen doch den Autonomiebegriff, dann aber einen speziellen, von Kant her inspirierten Begriff moralischer Autonomie. Die Übersichtlichkeit des Autonomiediskurses wird dadurch leider nicht erhöht. Moralische Autonomie kann einmal meinen, dass eine Person die Fähigkeit hat oder ausübt, sich zu den moralischen Anforderungen reflektiert zu verhalten, die ihr eigenes Tun leiten oder die an sie von anderen herangetragen werden (vgl. Feinberg 1986, 36ff.). Von Kant her kommend kann moralische Autonomie aber sodann auch enger gefasst werden und speziell die Fähigkeit und Bereitschaft einer Person meinen, Andere als Gleiche und Freie zu respektieren. Personen, die in einem kantischen Sinn moralisch autonom sind, realisieren ihre je persönlichen Lebensvorstellungen im Rahmen von Regeln, die sich im Licht einer öffentlichen Moral der gleichen Achtung aller rechtfertigen lassen (vgl. Gaus 2005). Dass dieses kantische Verständnis von Autonomie von einer prominenten Autorin wie Onora O’Neill (O’Neill 2002) gegen einen auf den Gedanken der informierten Zustimmung abgestimmten Begriff von Autonomie auszuspielen versucht worden ist, beruht letztlich auf einem Missverständnis. Der moralisch-rechtliche Rahmen, innerhalb dessen die informierten Entscheidungen von Patienten zu respektieren sind, mag auf eine kantische Moral der Selbstgesetzgebung (respektive Autonomie) angewiesen sein; aber wie sich die persönliche Autonomie, die sich in diesem Rahmen vollzieht, ausnimmt, ist eine davon unabhängige Frage. Personen mögen sich moralisch einwandfrei verhalten und sich dennoch als wenig kompetent zeigen, ihr Leben innerhalb des moralisch Erlaubten selbstbestimmt zu führen. 3

Die oben schon erwähnten Ansätze, die vorschlagen, Kompetenzstandards mit der Größe des Eingriffsrisikos zu variieren, sind aus eben diesen Gründen problematisch und kritikwürdig. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Nun sind prozedurale Konzepte von Autonomie in der allgemeinen philosophischen Debatte der letzten Jahre vermehrt in die Kritik geraten und in Folge davon auch analoge Auffassungen in der Medizinethik. Dies hängt mit der Fixierung auf einzelne Entscheidungen und Handlungen sowie mit den dabei herangezogenen Kriterien zusammen. Nimmt man die Person als Ganzes in den Blick, so wird man als erstes sagen können, dass die Sicherheit ihrer einzelfallbezogenen Entscheidungen von verschiedenen Dimensionen ihres Selbstverhältnisses abhängig ist. Gerade in der bedrängenden Lage eines Patienten brauchen Personen ein gewisses Maß an Selbstvertrauen und Selbstwertschätzung, um zu selbstbewussten Entscheidungen zu gelangen. Selbstvertrauen und Selbstwertschätzung sind affektiv gefärbte Dispositionen von Personen, sich zu sich selbst auf eine eigene Art und Weise zu verhalten, die nur über längere Zeiträume aufgebaut werden können und der Stützung durch ein förderndes soziales Umfeld bedürfen. Es ist argumentiert worden, dass prozedurale Konzeptionen von Autonomie auch aufgrund ihrer Konzentration auf die kognitiven Fähigkeiten von Personen, über ihre Situation und ihr Innenleben nachzudenken, nicht in der Lage seien, Haltungen wie Selbstvertrauen oder Selbstbewusstsein als Voraussetzungen von Autonomie konzeptuell einzufangen (vgl. Benson 1994). Zugleich ist vorgeschlagen worden, Autonomiekonzeptionen, die solchen Haltungen Rechnung tragen, als »schwach substantielle« Ansätze zu bezeichnen (Benson 1994; Benson 2005). Zum Teil ist das ein fruchtloser Streit um Worte. Auch ein prozedural ansetzendes Verständnis von Autonomie kann grundsätzlich einräumen, dass die für Autonomie zentrale Entscheidungsfähigkeit auf einen Hintergrund weiterer Fähigkeiten und Dispositionen von Personen angewiesen ist. Allerdings wird sie diese Bedingungen tatsächlich nur in den Blick bekommen, wenn sie die einzelnen Entscheidungen und Handlungen von Personen im Allgemeinen und von Patienten im Besonderen stets im größeren Kontext der Persönlichkeit und des Umfeldes der Person sieht. Dagegen werden Vertreter einer liberalen Grundauffassung so genannten »stark substantiellen« Konzeptionen von Autonomie mit prinzipiellen Vorbehalten begegnen müssen. Die liberale Sicht lebt vom Gedanken, dass sich letztlich immer nur das Wie, nicht das Was der Wünsche und des Willens von Personen kritisieren lassen, sofern es um die Belange der Person selbst und nicht etwa um moralische Grenzen geht. Stark substantielle Ansätze widersprechen dem, indem sie bestimmte Präferenzen wie beispielsweise die zur generellen Unterordnung der eigenen Person gegenüber anderen oder der durchgängigen Delegierung der Entscheidung über zentrale Angelegenheiten des eigenen Lebens an andere als unvereinbar mit der (globalen) Autonomie einer Person betrachten (vgl. Stoljar 2000; Oshana 1998; Oshana 2006). In der Praxis wird sich der Gegensatz zwischen liberalen und stark substantiellen Auffassungen häufig entschärfen lassen, weil die von den »Substantialisten« kritisierten Präferenzen nicht selten unzulänglichen Informationen, einem falschen Verständnis der eigenen Situation, der unbilligen Einflussnahme Anderer oder einem Mangel an Selbstachtung und Selbstvertrauen geschuldet sein werden, also Faktoren, die von prozeduralen und schwach substantiellen Ansätzen herausgefiltert werden können. Aber es gibt eine Dimension, die liberale Theorien tatsächlich in den Hintergrund Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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zu rücken geneigt sind: Vor allem in liberalen Gesellschaften gibt es das substantiell aufgeladene Ideal einer selbstständigen Lebensführung, das sich nicht mit sozialen Verhältnissen der Unterordnung oder Unterdrückung verträgt, und zwar auch dann nicht, wenn die Unterordnung oder Unterdrückung von den Subordinierten reflektiert begrüßt wird (vgl. Oshana 1998; Oshana 2006). Wer ohne inneren Widerstand in einem Kollektiv aufgeht, sich einer streng hierarchisch organisierten Sekte anschließt, als Frau die Verantwortung für das eigene Leben vollständig in die Hände des Mannes legt oder auch als Patient alles in rückhaltlosem Vertrauen den Ärzten überlässt, mag zwar den Anforderungen prozeduraler Konzeptionen von Autonomie genügen (gerade die Abgabe von Verantwortung kann hochbewusst erfolgen), 4 seine soziale Position steht jedoch quer zum Vorbild eines selbstbestimmten – und zwar hier verstanden als eines substantiell unabhängigen – Lebens als einer distinkten Lebensform. Es ist unklar, inwiefern konkrete Entscheidungen im medizinischen Alltag von dieser »globalen« Problematik tangiert werden. Aber es sind Szenarien denkbar, wo auch der Arzt und das medizinische Personal sich werden fragen müssen, ob sie etwas zur Stärkung von Patienten tun sollten, was diese dem substantiellen Ideal eines selbstbestimmten Lebens näher bringt. Sollten sie die Patienten z. B. aktiv dazu ermuntern, eigene Entscheidungen zu treffen, oder sich darum bemühen, den Einfluss der Familie oder eines anderen (etwa religiösen) Kollektivs auf Patienten zurückzudrängen? Mit der von liberalen politischen Philosophen propagierten »Neutralität« des Staates gegenüber divergierenden Lebensentwürfen, unter denen das Ideal eines selbstbestimmten und unabhängigen Lebens nur eines unter mehreren ist, ließe sich dies nicht vereinbaren (vgl. Rawls 1993, 191ff.; dagegen Raz 1986, 5. Kapitel). Es ist aber eine offene Frage, ob liberale Gesellschaften letztlich nicht doch darauf angewiesen sind, dass zumindest viele ihrer Bürger am substantiellen Ideal eines selbstbestimmten Lebens festhalten. Es deutet auf jeden Fall einiges darauf hin, dass es zumindest kontingente Verbindungen auch zwischen prozedural verstandener Autonomie und substantieller Unabhängigkeit gibt (vgl. Dworkin 1988, 29). Wer zum Beispiel niemals dazu ermuntert wird oder gar überhaupt nie die Chance bekommt, eigenständig zu entscheiden, wird kaum die von den prozeduralen Ansätzen geforderten Fähigkeiten, etwa zur kritischen Reflexion, entwickeln können. Umgekehrt kann die Ausübung der Autonomiefähigkeiten dazu führen, dass Personen ihre Beziehungen so grundsätzlich überdenken, dass sie diese infolgedessen auflösen und somit auch substantiell unabhängig werden (vgl. Friedman 2000).

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Vgl. etwa Gerald Dworkins entschiedene Meinung: »Someone who wishes to be the kind of person who does whatever the doctor orders is as autonomous as the person who wants to evaluate those orders for himself« (Dworkin 1988, 108 f.). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Individualistische versus relationale Autonomie Wie eingangs angedeutet, lautet einer der Generalvorwürfe gegen liberale Verständnisse der Autonomie von Personen wie von Patienten, dass diese Verständnisse zu individualistisch seien. Sie trügen der vielfachen sozialen Einbettung von Personen nicht Rechnung. Diese Einseitigkeit soll durch stärker »relationale« Autonomiekonzeptionen ausgeglichen werden, die das Leben von Personen als eines begreifen, das von einer Vielzahl von Relationen oder Beziehungen zu anderen Personen und Institutionen geprägt ist (Mackenzie, Stoljar 2000a). In der allgemeinen Diskussion zur Autonomie ist dieses Anliegen pointiert, obgleich mit unterschiedlichen Akzenten, von kommunitaristischen Theoretikern einerseits und von Feministinnen andererseits formuliert worden. Auch hier wird man im ersten Schritt zur Vorsicht mahnen müssen, um dann im zweiten Schritt der Kritik doch zu ihrem Recht zu verhelfen. Der Respekt vor der Autonomie von Personen gilt dem Recht des Individuums, über zentrale Angelegenheiten seines Lebens selbst zu befinden. Analog ist das Autonomie-Recht des Patienten eines, das ihm als Individuum zukommt; er und er allein soll in letzter Instanz entscheiden, wie mit ihm medizinisch verfahren wird. Gerade in medizinischen Kontexten kann es immer wieder zu offenen und versteckten Formen des Paternalismus und der Fremdbestimmung kommen. Prima facie wird diese Gefahr nicht gemildert, sondern gesteigert, wenn das Modell der Individualentscheidung um Modelle ergänzt oder durch sie sogar ersetzt wird, die medizinisch relevante Entscheidungen als gemeinsame von Patient und medizinischem Personal begreifen oder gegebenenfalls auch als Entscheidungen, die der Patient gemeinsam mit seiner Familie oder anderen Nahestehenden fällt. 5 Im liberalen Grundverständnis ist das Individuum allein die autoritative Entscheidungsinstanz in Fragen des eigenen Lebens. Dieser individualistische Kern der liberalen Standardauffassung lässt sich in manchen Hinsichten jedoch durchaus mit »relationalen« Anliegen vermitteln. Es wurde bereits eingeräumt, dass die Validität der Entscheidungen von Personen überhaupt und von Patienten im Besonderen auch von ihrem affektiv-dispositionellen Selbstverhältnis abhängt. Die Entscheidungen einer selbstbewussten und sich selbst schätzenden Person haben ein anderes Gewicht als die eines unsicheren und sich gering achtenden Menschen. Die mehrdimensionale Selbstachtung von Personen hängt jedoch aus sozialpsychologischen Gründen von ihrer Positionierung im sozialen Raum und ihren Beziehungen zu anderen ab (vgl. Anderson, Honneth 2005). Ein wichtiges Instrument zur Stärkung personaler Selbstachtung ist dabei nicht zuletzt die Zuschreibung von Entscheidungsrechten; Personen, die das Recht haben, selbst zu entscheiden, stehen anders in der sozialen Welt als rechtlose Personen. Das ist eine zentrale Funktion auch des Autonomie-Rechts in der Medizin, wobei dieses Recht selbst eine soziale Institution ist. Aber die Fixierung auf Rechte führt leicht zur Ausblendung anderer Dimensionen des Selbstverhältnisses von Personen. Um selbstsicher Entschei5

Verschiedene Modelle der Arzt-Patient-Beziehung werden vorgestellt in (Emanuel, Emanuel 1992); zur Idee des »shared decisionmaking« s. Katz (1984); Kuczewski (1996). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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dungen treffen zu können, sind Personen auch auf nicht-rechtsförmige Anerkennungsverhältnisse angewiesen; sie müssen sich als Mensch wertgeschätzt fühlen und nicht nur als Rechtsträger. Natürlich stellt sich die Frage, wieweit man dem im medizinischen Alltag gerecht werden kann. Die Schaffung eines vertrauenswürdigen und von Mitmenschlichkeit getragenen Umfelds etwa im Krankenhaus ist aber auch deswegen ein erstrebenswertes Ziel, weil seine Einlösung zu den Voraussetzungen sicherer autonomer Entscheidungen und Handlungen gehört. Trotz der berechtigten Skepsis gegen die Idee durchgehend gemeinsamer Entscheidungen erscheint es des Weiteren realistisch und wünschenswert, den Prozess der Entscheidungsfindung und Willensbildung stärker als einen gemeinsamen und nicht rein individuellen zu verstehen. Das liberale Standardmodell tendiert dazu, das Verhältnis zwischen Patient und medizinischem Personal nach dem Muster unabhängiger Vertragspartner zu konturieren, die einander mit voll ausgebildeten Absichten entgegen treten (vgl. Donchin 2001). Oft begegnen wir Anderen aber nicht mit schon fertigen Überzeugungen und Intentionen. Zumal für die schwierigen Fragen, die sich schwerer erkrankte Patienten stellen müssen, hat der Einzelne in der Regel keine fertigen Antworten. In solchen Situationen ist er auf das Gespräch mit Anderen angewiesen, aus dem sich erst sein Wille bildet. Ist der Wille auch am Ende sein eigener, so ist der Willensbildungsprozess doch oft sinnvoll als ein genuin gemeinsamer zu begreifen, dessen Gelingen von intakten sozialen Beziehungen zwischen dem Patienten, den ihm Nahestehenden und den behandelnden Personen abhängt. Aus einer an begrifflicher Präzision interessierten Perspektive können sich Schwierigkeiten bei der genauen Zuordnung der Beziehungsmomente ergeben, die in relationalen Autonomiekonzeptionen betont werden. Geht es bei dem Verweis auf intakte Beziehungen nur um notwendige (oder wenigstens hilfreiche) Voraussetzungen für autonome Entscheidungen, die diese kausal befördern? Oder ist Autonomie selbst anders zu denken, so dass sie als konstitutiv relational bzw. sozial anzusetzen ist? (Vgl. Mackenzie, Stoljar 2000b) Dass hier stets eine klare Grenze zu ziehen ist, erscheint fraglich. Für eine stärker konstitutive Interpretation sprechen insbesondere genuin gemeinsame Willensbildungsprozesse, die sich nicht auf die Kombination vorgängig vorliegender Elemente in Form von Absichten, Überzeugungen, Präferenzen oder anderen Einstellungen reduzieren lassen. Selbst hier könnte man aber noch einmal, wie eben berührt, zwischen dem Prozess der Willensbildung und dem Willen selbst differenzieren, so dass die Interaktionen mit Anderen auf die Seite der Vorbedingungen autonomer Entscheidungen fallen würden. Ähnlich könnte man Voraussetzungen wie die einer hinreichenden Selbstachtung der autonomen Person einstufen; auch sie wären, so gesehen, Bedingungen selbstbestimmter Handlungen und Lebensführungen, nicht deren integraler Bestandteil, und erst recht träfe dies auf die intersubjektiven Voraussetzungen gelungener Selbstverhältnisse selbst zu. Aber dies ist nicht die einzig denkbare Betrachtungsweise. Wenn eine Person eine Entscheidung trifft, die von Selbstachtung und Selbstschätzung getragen ist, dann stellt die Art ihres Selbstverhältnisses in einer Hinsicht einen Modus ihrer Entscheidung selbst dar und keine bloße Ermöglichungsbedingung. Ähnliches könnte für Entscheidungen im Bewusstsein der vielschichtigen Bezogenheit auf andere gelClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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tend gemacht werden. Eine Entscheidung, die auf der Grundlage eines offenen und von Vertrauen getragenen Austausches mit Anderen getroffen wird, ist eine Entscheidung von anderer Art als eine Entscheidung, die isoliert von Anderen oder in Frontstellung zu ihnen gefällt wird. 6 Für stärker praktische Zwecke bleibt abermals festzuhalten, dass erst die Einbeziehung der Person als Ganzes oder größerer Einheiten ihres Lebens die Sensibilität für die interpersonalen Voraussetzungen gelungener Selbstbestimmung schaffen kann. Im medizinischen Kontext wären mit Blick darauf sowohl das Verhältnis zwischen Patienten und medizinischem Personal wie das gesamte institutionelle Geflecht der modernen Medizin auf ihre Autonomie behindernden oder Autonomie befördernden Züge hin zu durchleuchten. An einem entscheidenden Punkt ist allerdings nicht zu rütteln: das für die liberale Position zentrale Recht, selbst über medizinische Maßnahmen zu entscheiden, muss ein Individualrecht bleiben, soll der Kern der liberalen Auffassung nicht aufgegeben werden. Würde man beispielsweise der Familie des Patienten ein (nicht vom Patienten an sie delegiertes oder in besonderen Fällen advokatorisch gedachtes) Recht zugestehen, bei den Patienten betreffenden medizinischen Behandlungen mit (oder gar allein) zu bestimmen, wäre der normative Kern nicht nur liberaler Autonomiekonzeptionen, sondern liberaler Gesellschaften insgesamt gefährdet. Rationalistische versus nicht-rationalistische Autonomie Neben dem Individualismus wird liberalen Auffassungen von Autonomie häufig ein überzogener Rationalismus vorgeworfen. Es ist allerdings fraglich, ob dieser Vorwurf eine liberale Konzeption von Patientenautonomie wie die von Tom Beauchamp wirklich trifft. Zweifel daran sind angebracht, weil Beauchamp gerade allgemein-philosophischen Konzeptionen von Autonomie seinerseits einen überzogenen Rationalismus und übertriebene kognitive Anforderungen an autonome und authentische Entscheidungen unterstellt (Faden, Beauchamp 1986 sowie Beauchamp, Childress 2009). Im Rahmen von Beauchamps und Fadens einflussreicher Analyse der informierten Zustimmung wäre der Rationalismusvorwurf an den Bedingungen zu überprüfen, denen eine Zustimmung genügen soll, um als informiert zu gelten. Wie erwähnt sind dies die Bedingungen a) der Absichtlichkeit, b) des Verstehens und c) der Abwesenheit problematisch

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Eine andere Variante, Autonomie konstitutiv relational zu verstehen, besteht darin, die Autonomie der Person nicht nur von ihren internen (psychologischen) Zuständen abhängig zu machen, sondern auch von externen Elementen wie sozialen Stellungen (Oshana 1998; Oshana 2006). Dabei werden die sozialen Bedingungen wie die, in angemessenen Relationen zu anderen und innerhalb bestimmter sozialer Praktiken und Institutionen zu stehen, als begrifflich notwendige Bestandteile von Autonomie angesehen. Ein in der Weise konzipiertes Autonomieverständnis bringt schon aufgrund des externalistischen Elements ganz eigene Probleme mit sich. Darüber hinaus ist es auch wegen der mangelnden Inhaltsneutralität kaum für den medizinischen Kontext geeignet. Eine kritische Auseinandersetzung mit derartigen Ansätzen im Allgemeinen und dem von Marina Oshana im Besonderen findet sich in Christman (2004). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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kontrollierender Einflüsse Anderer. Den Verdacht einer kognitiven Überforderung könnten a) und b) provozieren. Eine absichtliche Handlung wird als »action willed in accordance with a plan« (Faden, Beauchamp 1986, 243) definiert, und daran könnte die Bindung von Absichtlichkeit an das Verfolgen von Plänen zu rationalistisch wirken. Der daraus resultierende Einwand träfe mit noch größerer Wucht eine differenzierte Theorie personaler Autonomie wie die von Michael Bratman, der die Fähigkeit sich über Pläne und »policies« als zeitlich erstrecktes Subjekt zu konstituieren zum zentralen Charakteristikum von Personen wie auch von deren Autonomie erklärt (Bratman 2007). Doch steckt der Teufel hier im Detail, weil auch die Rede von »Plänen« ganz unterschiedlich anspruchsvoll verstanden werden kann, so dass zuweilen selbst die Einstellung, die Dinge auf sich zukommen zu lassen und spontan zu reagieren, als eine planhafte Einstellung angesehen wird. – Ähnliche Unsicherheiten, die erneut nur en detail zu klären wären, ergeben sich hinsichtlich der Bedingung des Verstehens der eigenen Entscheidungen und Handlungen. Beauchamp und andere neigen dazu, propositionales Verstehen gegenüber Formen des »knowing how« zu privilegieren (Faden, Beauchamp 1986, 248ff.). Daran kann sich eine differenzierende Kritik festmachen: Das Problem vieler Konzeptionen von Autonomie im Allgemeinen und von Patientenautonomie im Besonderen ist weniger, dass sie den Akteuren Grade an Rationalität und Reflektiertheit zumuten, die zumal unter den angespannten Bedingungen einer Krankheit und medizinischer Behandlung unrealistisch sind. Eine Schwäche vieler verbreiteter Autonomietheorien liegt vielmehr darin, dass sie ihr Augenmerk so sehr auf rein kognitive (wiewohl nicht unbedingt sonderlich anspruchsvolle) Fähigkeiten richten, dass darüber andere Fähigkeiten aus dem Blick geraten. Gegen kognitivistische Einseitigkeiten hat etwa Diana Tietjens Meyers einen ganzen Strauß von autonomieförderlichen Fähigkeiten aufgefächert, zu denen insbesondere Formen des know-how gehören, die sich unter anderen in der Sensibilität für die Regungen des eigenen Unterbewussten und im verständigen Umgang in intersubjektiven Beziehungen manifestieren (Meyers 1989; Meyers 2005). Eine größere Achtsamkeit für solche Fähigkeiten und ihre behutsame Unterstützung könnten erneut nur gewährleistet werden, wenn sich das Verständnis von Patientenautonomie von der ausschließlichen Betonung einzelner Entscheidungen und der informierten Zustimmung lösen würde. Der Einbezug nicht rein kognitiver Fähigkeiten und Aspekte der Selbstbeziehung könnte darüber hinaus Ausgangspunkt für Versuche sein, noch solchen Menschen eine Form von Autonomie zuzusprechen, die temporär oder permanent geistig so eingeschränkt sind, dass sie zu ausgreifenderen Planungen und differenzierteren Überlegungen nicht in der Lage sind (vgl. Jaworska 1999; Jaworska 2005; Jaworska 2007). Gewiss ist die Idee der Autonomie zunächst für das Paradigma ihrer Sinne mächtiger Personen, die grundsätzlich zu einer selbstständigen Lebensführung fähig und bereit sind, entwickelt worden. Aber schon kleine Kinder und noch altersdemente Menschen haben nicht nur flüchtige und unreflektierte Wünsche, sondern einen identifizierbaren eigenen Willen, den man achten oder missachten kann. Der Respekt vor dem Willen dieser Menschen, vor dem, was ihnen sichtlich wichtig ist, und zu dem sie sich auch in der einen oder Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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anderen (nur eben nicht hoch reflektierten) Weise verhalten, ist vielleicht nicht als Respekt vor Autonomie angemessen zu fassen, aber er stellt doch ein Analogon zu dieser dar. Welche Schlussfolgerungen sind aus diesen Überlegungen zu ziehen? Wir hatten gesehen, dass die liberale Standardauffassung von Patientenautonomie auf einzelne Entscheidungen und Handlungen zugeschnitten ist. Sie ist auf der Suche nach sinnvollen Kriterien für die autonomiebezogene Bewertung von Situationen, in denen Patienten die Gelegenheit haben, sich durch eine informierte Zustimmung oder Ablehnung zu ärztlichen Empfehlungen zu verhalten. Das bleibt ein sinnvolles und unverzichtbares Unterfangen. Das normative Zentrum der liberalen Position bildet letztlich das Festhalten an einem Individualrecht von Patienten, selbst über den Umgang mit ärztlichen Empfehlungen zu entscheiden, und es gibt keine guten Gründe, ein solches Individualrecht ganz oder zugunsten eines Kollektivrechts aufzugeben. Die liberale Standardauffassung hat jedoch eine Reihe blinder Flecken, die ihr durch den Verzicht auf die Einbeziehung »globaler« Momente von Autonomie verborgen bleiben. Werden die Entscheidungen von Patienten in den größeren Kontext ihrer Persönlichkeit und ihres weiteren Umfelds gestellt, ergeben sich von selbst Seiten entweder von Autonomie selbst oder sie stützender oder behindernder Bedingungen, die über den Kern der liberalen Standardauffassung hinausführen. Die Vorschläge, die von denen gemacht werden, die Autonomie globaler, substantieller, relationaler und weniger rationalistisch fassen möchten als es Vertreter der liberalen Position in der Regel tun, sind nicht notwendig als Plädoyer für einen radikalen Gegenentwurf zur liberalen Standardauffassung zu verstehen. In einer versöhnenden Perspektive würden sie die Vertreter der liberalen Position vielmehr auf Verkürzungen aufmerksam machen, deren Behebung am Ende auch die Fähigkeit, situativ eigenständig über eine medizinische Maßnahme oder das eigene Leben überhaupt zu entscheiden, nur stärken könnte.

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Steinfath, Pindur: Patientenautonomie im Spannungsfeld

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Johann S. Ach, Bettina Schöne-Seifert

»Relationale Autonomie« Eine kritische Analyse Autonomie in der modernen Medizinethik Mit Blick auf die Entwicklung der (westlichen) Medizinethik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird häufig der »Triumph der Patientenautonomie« betont (vgl. Veatch 1984; Charlesworth 1997; O’Neill 2002, Kapitel 2.3. (mit eben dieser Überschrift)). Diese je nach Perspektive kritisch oder lobend gemeinte Diagnose ist offenkundig vage. Zutreffend ist gewiss, dass die mainstream Medizinethik dem Respekt vor der Autonomie von Patient/-innen einen deutlich höheren Stellenwert einräumt als in früheren Zeiten. Das ist, zumal in liberalen Gesellschaften, kaum verwunderlich. Warum sollte der in anderen Bereichen des Lebens gewährte Schutz persönlicher Selbstbestimmung ausgerechnet vor der Medizin halt machen? In der Medizinethik-Theorie (wie auch in der realen Praxis) spielt die Selbstbestimmung von Patient/-innen oder Proband/ -innen inzwischen eine große Rolle, sei es mit Blick auf klinisch-therapeutische Eingriffe, biomedizinische Studien, genetische Diagnostik oder Public HealthMaßnahmen, sei es in aktuellen Debatten über assistierte Fortpflanzung, Enhancement oder Sterbehilfe. Über den hohen normativen Stellenwert der Patientenautonomie gibt es in den bioethischen Debatten kaum noch einen grundsätzlichen Dissens. In der Medizinethik verdankt sich der Triumphzug des Autonomie-Prinzips (genauer: des Prinzips des Respekts vor der Autonomie von Patient/-innen) ganz wesentlich den Arbeiten von Tom L. Beauchamp, James F. Childress und Ruth Faden. Beginnend in den späten 1970er Jahren und bis in die Gegenwart andauernd, haben sie maßgeblich die Debatten über ein angemessenes Verständnis von Patientenautonomie mitbestimmt und zur Etablierung eines bestimmten, nachgerade zum Standardmodell gewordenen Verständnisses von Autonomie und deren ethischer Bedeutung in der Medizin beigetragen (Faden, Beauchamp 1986; Beauchamp, Childress 1979 bis 2009). Ihre Überlegungen zum Autonomie-Prinzip und, damit unmittelbar zusammenhängend, zu Theorie und Verständnis von Patienten-Zustimmung (informed consent) sind breit rezipiert worden. Sie haben Maßstäbe für alle weiteren Auseinandersetzungen mit der Autonomie von Patient/-innen gesetzt, seien diese affirmativ, erweiternd oder kritisch. Dabei haben Beauchamp und Childress auf viele Einwände dadurch reagiert, dass sie ihre eigene Position – gewissermaßen von Auflage zu Auflage ihrer Monographie Principles of Biomedical Ethics (Beauchamp, Childress 1979 bis 2009) – geschärft, revidiert und verfeinert haben. Kritik an der »Autonomieethik« ist schon seit den 1990er Jahren von verschiedenen Seiten geübt worden (vgl. dazu auch Ach, Runtenberg 2002, Kap. 2). Neben Einwänden, die dem Autonomie-Prinzip grundsätzlich skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstehen bzw. dessen besonderen normativen Stellenwert Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Ach, Schöne-Seifert: »Relationale Autonomie«

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in Frage stellen, sind in dieser Debatte vor allem immer wieder Vorschläge gemacht worden, Selbstbestimmung anders und vermeintlich angemessener zu verstehen, als es das im Wesentlichen auf Beauchamp, Childress, Faden u. a. zurückgehende »Standardverständnis« tue. Die Motive und auch die theoretischen Quellen, aus denen sich diese kritischen Einwände speisen, sind vielfältig und heterogen. Im vorliegenden Beitrag werden wir uns nur mit einem kleinen Ausschnitt aus dem Spektrum dieser autonomiekritischen Einwände auseinandersetzen. Und zwar mit der – insbesondere von feministischen und kommunitaristischen (vgl. zum Beispiel Jennings 2000) 1 Autor/-innen vertretenen – Behauptung, das Standardverständnis von Autonomie sei in seinen Anforderungen und Auswirkungen überzogen individualistisch. Von manchen Autor/-innen ist vor dem Hintergrund dieser Behauptung vorgeschlagen worden, Autonomie relational zu verstehen. Wenn wir uns im Folgenden mit dem Konzept einer »relationalen Autonomie« auseinandersetzen, so hat dies mehrere Gründe: Zum einen scheint uns die Analyse der verschiedenen Vorschläge einer »Relationierung« von Autonomie theoretisch insofern interessant, als sie Differenzierungen erzwingt, die auch unabhängig vom Projekt einer relationalen Autonomie für die Debatte über ein adäquates Verständnis des Autonomie-Prinzips fruchtbar sein können. Zum anderen zeigt die Analyse dieser Vorschläge aber auch, dass die verschiedenen Varianten »relationaler Autonomie« unterschiedliche, für das Selbstbestimmungsrecht aber zum Teil gravierende praktische Implikationen mit sich bringen. Diese Beobachtung ist deshalb von Bedeutung, weil das Konzept einer »relationalen Autonomie« seit einigen Jahren nicht mehr nur als theoretische Alternative zum »Standardverständnis« von Autonomie diskutiert, sondern in unterschiedlichen medizinischen Kontexten auch praktisch etabliert wird (oder zumindest werden soll). Aktuelle Beispiele für diese Tendenz finden sich in der Stellungnahme Dementia: ethical issues des Nuffield Council on Bioethics von 2009 (Nuffield Council on Bioethics 2009) oder in der Stellungnahme Demenz und Selbstbestimmung des Deutschen Ethikrates aus diesem Jahr (Deutscher Ethikrat 2012). Wir werden in unserer Diskussion so vorgehen, dass wir hinsichtlich des Konzeptes der (Patienten-)Autonomie zunächst verschiedene Aspekte oder Ebenen unterscheiden und auf deren keineswegs triviale (deskriptive und normative) Verschränkungen hinweisen. Diese Unterscheidung wird sich als für das Verständnis der verschiedenen Varianten des Konzepts einer »relationalen Autonomie« bedeutsam herausstellen. Daran anschließend werden wir in aller Kürze das – auf Beauchamp und Childress und andere zurückgehende – »Standardmodell« von Autonomie in Erinnerung rufen, dieses Modell als ein lokales und prozedurales Konzept von Autonomie charakterisieren und eine Reihe von kritischen Einwänden skizzieren. In einem weiteren Schritt werden wir die im Begriff der »relationalen Autonomie« zusammenlaufenden Kritikmotive etwas genauer in 1

Barclay hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich die feministische und die kommunitaristische Kritik am Autonomie-Konzept freilich in wichtigen Punkten unterscheiden (Barclay 2000). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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den Blick nehmen, verschiedene Lesarten »relationaler Autonomie« unterscheiden und diese auf ihre theoretischen und praktischen Implikationen hin befragen, bevor wir ein vorläufiges Fazit ziehen. In unserem Beitrag verfolgen wir also ein sehr eingeschränktes Ziel: Es geht uns nicht darum, einen bestimmten Begriff von Autonomie bzw. eine bestimmte Lesart des Prinzips der Autonomie gegen konkurrierende Vorschläge umfassend zu verteidigen. Insofern werden wir uns weder mit der Vielfalt an AutonomieKonzeptionen beschäftigen, die sich in der Literatur inzwischen identifizieren lassen (vgl. dazu Christman 2011), noch werden wir uns mit den Argumenten jener Kritiker/-innen der »Autonomieethik« auseinandersetzen, die dem Autonomie-Prinzip grundsätzlich skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstehen. Im Zentrum unserer Diskussion werden vielmehr solche kritischen Stellungnahmen stehen, die an dem hohen normativen Stellenwert des Autonomie-Prinzips festhalten wollen, aber glauben, dieses Prinzip sowie den Begriff der Autonomie in Abgrenzung zum ›Standardmodell‹ adäquater fassen bzw. explizieren zu können. Autonomie: Begriff und Prinzip, Begründungen und Kriterien Hilfreich für alle medizinethischen Auseinandersetzungen mit Fragen der Autonomie (synonym: Selbstbestimmung) ist zunächst eine Differenzierung zwischen dem Autonomiebegriff und dem Prinzip des Respekts vor der Autonomie (im Folgenden PRA). Erstgenannter legt fest, in welcher Hinsicht und unter welchen Bedingungen von Autonomie die Rede sein soll. In der Medizinethik geht es dabei offenkundig zentral um selbstbestimmte Handlungen (und insbesondere Entscheidungen) von Patient/-innen. Demgegenüber buchstabiert PRA aus, welche Rolle Autonomie für Dritte spielt. In der Medizinethik sollen u. a. Ärzte / innen autonome Therapieablehnungen ihrer Patient/-innen respektieren. Zwischen Autonomiebegriff und PRA nun bestehen komplexe Verschränkungen, auf die wir in diesem Abschnitt näher eingehen wollen. Dabei sind zum einen der Wert von Entscheidungsautonomie und die Begründung ihrer normativen Autorität mit im Spiel, zum anderen die deskriptiven und normativen (Akzeptanz-)Kriterien auf der Ebene des Begriffs. Letztlich müssen der Wert, der Begriff und das Prinzip von Autonomie zueinander, aber auch zu sonstigen ethischen Vorstellungen und zu unserem Sprachgebrauch »passen«. Im Folgenden wollen wir vor allem genauer ansehen, wie Inhalt und Reichweite von PRA von der Art der Begründung abhängen und wie PRA und der Autonomiebegriff genauer miteinander zusammenhängen. In der medizinischen Ethik hat sich, wie oben skizziert, PRA seit den 1970er Jahren fest etabliert. Zunächst vor allem als Abwehrrecht von Patient/-innen oder Forschungs-Proband/-innen gegen jede Form von Instrumentalisierung oder paternalistischer Bevormundung eingeführt, lässt sich PRA nach gegenwärtig weitgehend geteilter Auffassung nicht nur als negative, sondern auch als positive Verpflichtung ausbuchstabieren. Patient/-innen sollen durch PRA nicht nur vor kontrollierenden Einflüssen durch Dritte geschützt werden. Vielmehr erlegt PRA über diese negative Verpflichtung hinaus Ärzt/-innen auch Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Ach, Schöne-Seifert: »Relationale Autonomie«

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eine Reihe positiver Verpflichtungen auf. So sollen sie die ihnen anvertrauten Patient/-innen angemessen aufklären, sie bei ihren Entscheidungsprozessen unterstützen, gesundheitsrelevante Informationen vertraulich behandeln etc. Neben seinen anti-paternalistischen Pflichten umfasst PRA nach gängigem Verständnis auch Autonomie-befähigende Pflichten. Dieses Verständnis von PRA hat Folgen für die erforderlichen Begründungsressourcen: Ein Verständnis von PRA, das sowohl die Respektierung als auch die Beförderung autonomen Entscheidens verlangt, setzt eine spezifische normative Begründung voraus. Wer das Prinzip so versteht, dass es auch fordert, Patient/-innen zu autonomen Entscheidungen zu befähigen, sie also dabei zu unterstützen, normative Autorität in Fragen des eigenen Lebens wahrnehmen zu können, muss Autonomie, bzw. ihre Ermöglichung oder Realisierung, in irgendeinem Sinne als wertvoll ansehen. Tatsächlich ist damit über Inhalt und Art der Begründung von PRA noch wenig gesagt. Ein so verstandenes PRA ist beispielsweise sowohl mit deontologischen als auch mit konsequentialistischen Begründungsmustern verträglich. Auch kann der Wert der Autonomie sowohl im Sinne eines intrinsischen Wertes als auch im Sinne eines instrumentellen Wertes verstanden werden, eines Wertes also, der um der Verfolgung anderer Ziele willen bedeutsam ist. Insbesondere der unterstützende und befähigende Teil von PRA ist aber offenkundig nicht mit jeder Art von Begründung kompatibel, sondern nur mit solchen Begründungsansätzen, die den Wert der Autonomie in der einen oder anderen Weise zu ihren »axiologischen Ingredienzien« zählen (vgl. dazu auch Ach, Schöne-Seifert 2013). Reichweite und Inhalt von PRA werden aber nicht nur durch seine spezifische Begründung bestimmt. Auch das dem Prinzip zugrunde gelegte Autonomieverständnis diktiert in spezifischer Weise PRAs konkrete Ausgestaltung, insbesondere seine Anwendungsbedingungen und inhaltliche Reichweite. Von diesem Begriff wird man sagen können, dass es sich zumindest insofern um einen deskriptiven Begriff handelt, als sich eine Reihe von deskriptiven Kriterien angeben lassen, die ihn definieren. Es ist, zumindest im Prinzip, eine empirische Frage, ob eine bestimmte Handlung autonom ist oder nicht. Gleichwohl scheint uns der Begriff in spezifischer Weise normativ imprägniert zu sein. Damit ist nicht nur gemeint, dass es sich beim Begriff der Autonomie nicht um einen alltagssprachlichen, sondern um einen philosophischen Begriff handelt, dessen Bedeutung festgelegt werden muss. Insofern ist eine Form von Begriffsnormierung im Hinblick auf den Autonomiebegriff unvermeidlich. Wenn wir davon sprechen, dass der Begriff der Autonomie, den wir für plausibel halten, normativ imprägniert sei, meinen wir aber vor allem, dass zu den Adäquatheitsbedingungen des Autonomiebegriffs solche gehören, die selbst in gewisser Weise als normativ bezeichnet werden können. Ohne an dieser Stelle ins Detail gehen zu können, scheinen uns drei Aspekte oder Bündel von Adäquatheitsbedingungen sinnvoll: Zunächst sollte der herangezogene Autonomiebegriff unseren vortheoretischen Auffassungen von Autonomie entgegenkommen. Auch wenn eine Definition des Autonomiebegriffs sich nicht einfach auf dessen üblichen Gebrauch stützen kann, sollte sie sich von diesem dennoch nicht allzu weit entfernen, sonst verliert die Verwendung Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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des Wortes »Autonomie« für das damit Bezeichnete ihre sprachliche Anschlussfähigkeit. Zweitens sollte der herangezogene Begriff von Autonomie sich in ein Geflecht ähnlicher oder verwandter Begriffe einpassen lassen. Wir stimmen Gerald Dworkin (Dworkin 1988, 6) darin zu, dass eine solche Einpassung mit Blick auf die Begriffe der Freiheit, der Selbst-Gesetzgebung, der Unabhängigkeit, der Integrität oder Individualität zu fordern ist. Drittens, und dies ist die im vorliegenden Kontext offenkundig bedeutsamste Adäquatheitsbedingung, muss der herangezogene Begriff von Autonomie zum Prinzip des Respekts vor der Selbstbestimmung von Personen »passen«: »One test, and perhaps the most important test of the adequacy of an analysis of autonomy is how well the analysis would function in the moral life, where it will inescapably be connected to the principle of respect for autonomy« (Faden, Beauchamp 1986, 265).

Dabei handelt es sich um eine normativ motivierte Adäquatheitsbedingung: Insofern wir gute moralische Gründe für die Geltung des Prinzips des Respekts vor der Autonomie haben, so das Argument, haben wir auch gute Gründe dafür, den Begriff der Autonomie auf eine Weise zu fassen, die es zulässt, dass das Autonomieprinzip seine Arbeit tun kann. Diese Passung setzt zumindest dreierlei voraus: Der herangezogene Begriff der Autonomie muss (1) so beschaffen sein, dass er das Prinzip des Respekts vor der Autonomie weder unakzeptabel noch trivial macht (Tännsjö 1999, 10). Er muss (2) der – dem Autonomieprinzip eignenden – kontextadäquaten Flexibilität ausreichend Rechnung tragen. Und er muss (3) die Formulierung von Kriterien für Autonomie ermöglichen, die operationalisierbar sind. Für unsere Diskussion der verschiedenen Varianten einer »relationalen Autonomie« sind diese Überlegungen aus zweierlei Gründen wichtig: Erstens richtet sich, wie im Fortgang noch deutlich wird, mancher unter dem Begriff »relationale Autonomie« segelnde Einwand gegen das Standardverständnis genau genommen gegen ein bestimmtes, vermeintlich einseitiges Verständnis von PRA. Sofern diese Beobachtung zutrifft, fällt die Forderung einer substanziellen begrifflichen Revision entsprechend weg. Zweitens, und wichtiger, spielt die Fassung des Autonomiebegriffs eine wichtige, um nicht zu sagen: zentrale Rolle im Hinblick auf die Inklusivität bzw. Exklusivität von PRA. Das Standardmodell von Autonomie in der Medizinethik Das Standardverständnis von PRA, wie es im Wesentlichen auf die Arbeiten von Beauchamp, Childress und Faden zurückgeht, impliziert moralische prima facie Pflichten beispielsweise zur Wahrhaftigkeit, zum Schutz der Privatsphäre oder zu Verschwiegenheit (Beauchamp, Childress 2009, 103ff.). Vor allem aber kommt PRA im Respekt vor den (zustimmenden oder ablehnenden) Entscheidungen von Patient/-innen über medizinische Maßnahmen zum Ausdruck (Stichwort: informed consent). Solche Entscheidungen machen nämlich das Gros derjenigen medizinischen Alltagssituationen aus, in denen sich die Frage der normativen Entscheidungsautorität überhaupt stellt. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Ach, Schöne-Seifert: »Relationale Autonomie«

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Dem Standardmodell, um es ganz kurz in Erinnerung zu rufen, geht es um die Frage, wann Patient/-innen in einer konkreten Entscheidungssituation (nämlich: zu einem konkreten Diagnostik- oder Therapie-Vorschlag am Ende »ja« oder »nein« zu sagen) normative Entscheidungsautorität zukommen soll. Mit der Perspektive auf konkret anstehende Entscheidungshandlungen (statt sich auf die Autonomie der Person oder der Lebensführung zu richten) ist zugleich vorausgesetzt, dass es sich beim Gegenstand der Analyse um intentionales Verhalten, eben um Handlungen handelt. Diese Handlungen müssen dem Standardmodell zufolge drei notwendige, aber erst gemeinsam hinreichende Bedingungen erfüllen, indem sie erstens von einer entscheidungskompetenten Patient/-in getroffen werden, die – zweitens – versteht, was zur Entscheidung ansteht, und die diese Entscheidung drittens ohne kontrollierende Beeinflussung (Zwang oder unzulässige Manipulation) durch andere Personen (z. B. die Ärztin, die Krankenkassen, Nahestehende) trifft. 2 Alle drei Einzelbedingungen – und so auch die resultierende Handlungsautonomie als Ganze – sind graduell zu verstehen und müssen für die Zuschreibung normativer Autorität in nur hinreichendem Maße realisiert sein. Wo die Schwellenwerte für die hinreichende Realisierung der drei Bedingungen anzusetzen sind, ist eine der zahlreichen Detailfragen und -schwierigkeiten, die sich bei der Feinanalyse des Autonomiebegriffs und bei der Feststellung von Autonomie im konkreten Einzelfall ergeben. Darauf können wir hier nicht näher eingehen. Wichtig ist zunächst nur, dass das Standardmodell einen lokalen und prozeduralen Autonomiebegriff wählt, d. h. auf konkrete Handlungen blickt und keinerlei substanzielle Vorgaben macht – also Autonomie gänzlich unabhängig von den Inhalten der Entscheidung konzipiert. Gegen dieses Standardmodell wurden schon früh (und werden noch immer) mit Argumenten aus der Ethik, der philosophischen Anthropologie und der politischen Philosophie verschiedene Einwände erhoben. Zu ihnen gehören insbesondere die folgenden Forderungen nach einer Anreicherung des Autonomiebegriffs bzw. eines »dichten« oder »dicken« Konzepts von Autonomie, wobei es selbstredend Zusammenhänge und Überlappungen zwischen den Kritikmotiven gibt: Manche Autor/-innen kritisieren die Lokalität des Konzepts und halten, anders als das Standardverständnis, auch personale Autonomie für erforderlich, um PRA adäquat verstehen zu können. Die Autonomie einer Person kann sich, so Michael Quante, sowohl in Handlungsautonomie (action-autonomy) als auch in personaler Autonomie (personal autonomy) ausdrücken (Quante 2011, 597). Vor dem Hintergrund seines eigenen Konzepts personaler Autonomie (vgl. dazu insbesondere Quante 2002) glaubt Quante zeigen zu können, dass – anders als 2

Krankheitsbedingte »innere Zwänge« werden im Standardmodell ausdrücklich nicht als Verletzung der Kontrollbedingung subsumiert, welche nur das Handeln anderer Personen in den Blick nimmt (Beauchamp, Childress 2009, 132). Nahe liegt daher, die Freiheit von inneren Zwängen als Teilkriterium der Kompetenz-Bedingung zu verstehen, was allerdings Beauchamp, Childress in ihrer summarischen Abhandlung der Kompetenzbedingungen nicht ausdrücklich tun (vgl. Beauchamp, Childress 2009, 114 f.). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Beauchamp und andere unterstellen – die Hinzunahme des Konzepts personaler Autonomie keine moralisch unakzeptable Folgen haben müsse. Die Forderung nach realisierter personaler Autonomie verletze somit nicht das Adäquatheitskriterium für den Autonomiebegriff, das eine »Passung« zwischen Autonomiebegriff und PRA fordert. Darüber hinaus argumentiert Quante, dass personale Autonomie sogar eine notwendige Bedingung für Autonomie sei: »in biomedical ethics we need both action-autonomy and personal autonomy« (Quante 2011, 598). Entsprechend sieht Quante auch Anlass, PRA in zwei Sub-Prinzipien zu differenzieren, die auf das Konzept von personaler Autonomie bzw. von Handlungsautonomie zurückgehen, und die seiner Auffassung nach zwar in vielen, aber eben nicht allen Fällen Hand in Hand gehen und auch in unterschiedliche Richtungen weisen können (Quante 2011, 599). Andere fordern eine Anreicherung des Autonomiebegriffs durch eine Authentizitätsbedingung. Diese wird als reflektierende Aneignung der entscheidungsleitenden Wünsche – wie beim frühen Harry Frankfurt (Frankfurt 1971) – verstanden oder als Identifikation mit den eigenen handlungsleitenden Präferenzen, mit deren Entstehungsbedingungen oder mit der eigenen Entscheidungsverantwortung – wie beim späteren Frankfurt (Frankfurt 1987), John Christman (Christman 2009, etwa 149f.) oder Michael Bratman (Bratman 2007). In jedem Fall soll sie garantieren, dass der Handelnde auf seine emphatisch eigene Weise agiert. Wieder andere Autor/-innen kritisieren die »Ratiozentriertheit« bzw. den vorgeblichen »Hyperintellektualismus« der Standardlesart der Kompetenzbedingung und schlagen Anreicherungen um emotionale Kompetenzen vor oder wollen Abstriche an den Anforderungen an kognitive Mindestbedingungen machen (und entsprechend auch kleineren Kindern oder schwer dementen Personen Autonomiefähigkeit zugestehen). Diesen Ansatz vertritt etwa George J. Agich, wenn er schreibt: »The account of autonomy sketched in this book [. . .] presupposes that affectivity and other nonintellectual ways of relating to the world and other persons will be central features in any phenomenologically complete account of autonomy« (Agich 2003, 176).

Und schließlich wird dem Standardverständnis von Autonomie von manchen Autor/-innen mangelnde »Relationalität« vorgeworfen. Mit den verschiedenen Varianten dieses Vorwurfs werden wir uns im folgenden Abschnitt genauer beschäftigen. Kleine Typologie »relationaler Autonomie« Beim Ausdruck »relationale Autonomie« handelt es sich, wie Catriona Mackenzie und Natalie Stoljar in der Einleitung zu ihrem 2000 herausgegebenem Band Relational Autonomy. Feminist Perspectives on Autonomy, Agency, and the Social Self feststellen, um einen Sammelbegriff (umbrella term): »The term ›relational autonomy‹ as we understand it, does not refer to a single unified conception of autonomy but is rather an umbrella term, designating a range of Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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related perspectives. These perspectives are premised on a shared conviction, the convictions that persons are socially embedded and that agents’ identities are formed within the context of social relationships and shaped by a complex of intersecting social determinants, such as race, class, gender, and ethnicity. Thus the focus of relational approaches is to analyze the implications of the intersubjective and social dimension of selfhood and identity for conceptions of individual autonomy and moral and political agency« (Mackenzie, Stoljar 2000b, 4).

Gemeinsamer Ausgangspunkt der verschiedenen Plädoyers für »relationale Autonomie« sind die kaum zu bestreitenden Tatsachen, dass Personen in sozialen Beziehungen aufwachsen und leben, und dass ihre Vorlieben, Grundeinstellungen und Werte in Auseinandersetzung mit anderen Menschen erworben und also durch soziale Einflüsse geprägt sind. Eben dieser »sozialen Eingebettetheit« (social embeddedness) von Handelnden und ihren Handlungsentscheidungen aber, so die Kritik, werde vom Standardverständnis von Autonomie nicht adäquat Rechnung getragen. Gordon M. Stirrat und Robin Gill erklären sogar kurz und bündig, die individualistische Version autonomer Entscheidung sei deshalb grundlegend fehlerhaft (fundamentally flawed) (Stirrat, Gill 2005, 127f.). Der gemeinsame Name »relationale Autonomie« und die geteilte basale Einsicht, dass Menschen soziale Wesen und in verschiedenster Weise in soziale Kontexte eingebunden sind, können und dürfen freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die verschiedenen Versionen und Konzepte, die unter dem Sammelbegriff »relationale Autonomie« zusammengefunden haben, tatsächlich auf sehr unterschiedliche Behauptungen zurückgeführt werden können. Dies lässt sich in Form der nachfolgenden kleinen »Typologie relationaler Autonomie« zeigen, in der wir sechs Lesarten des Konzepts einer »relationalen Autonomie« unterscheiden: Relationale Autonomie 1: Befähigungspflichten? Einem ersten Vorschlag zufolge bedeutet relationale Autonomie vor allem, dass autonome Patientenentscheidungen nicht nur zu respektieren seien, sondern dass Patient/-innen – nicht zuletzt durch ihre Ärzt/-innen – zum Treffen autonomer Entscheidungen soweit als möglich auch befähigt werden sollen. Hierzu sollten etwa ein förderliches Gesprächsklima, ärztliches Nachfragen und Beraten, das gemeinsame Erörtern gesundheitlicher Ziele und medizinischer Optionen oder ggf. auch der Abbau institutioneller Barrieren dienen. 3 Diese Befähigungspflichten aber, so die Kritik, berücksichtige das Standardmodell gar nicht oder nicht in ausreichender Weise. So schreibt, beispielhaft, Onora O’Neill: »In short, the focus of biomedical discussions of autonomy is not on patient autonomy or individual autonomy of any distinctive sort. What is rather grandly called ›patient autonomy‹ often amounts simply to a right to choose or refuse treatments on offer, and the corresponding obligations of practitioners not to proceed 3

Geisler beispielsweise spricht in diesem Zusammenhang von »gestützter Autonomie« (Geisler 2004, 454), andere sprechen von »assistierter Selbstbestimmung« (Deutscher Ethikrat 2012, 50, mit Verweis auf Graumann 2011). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 1: Patientenautonomie und Philosophie without patients’ consent. Of course, some patients may use this liberty to accept or refuse treatment with a high degree of reflection and individuality, hence (on some accounts) with a high degree of individual or personal autonomy. But this need not generally be the case. Requirements for informed consent are relevant to specifically autonomous choice only because they are relevant to choice of all sorts. What passes for patient autonomy in medical practice is operationalised by practices of informed consent: the much-discussed triumph of autonomy is mostly a triumph of informed consent requirements« (O’Neill 2002, 37 f.).

Mit ähnlicher Stoßrichtung hat auch Anita Ho das Standardverständnis von Autonomie kritisiert: »Discussions regarding self-determination, or autonomy, often focus on two dimensions – the capacity of the patient and the freedom from external coercion. The practice of obtaining informed consent, for example, has become a standard procedure in therapeutic and research medicine. On the surface, it appears that patients now have more opportunities to exercise their self-determination than ever. Nonetheless, discussions of patient autonomy in the bioethics literature, which focus on individual patients making particular decisions, neglect the social structure within which health-care decisions are made« (Ho 2008, 193).

PRA bedeutet, folgt man O’Neill und Ho, im Standardverständnis nicht mehr als das Recht unabhängiger Patient/-innen auf Nichteinmischung in ihre Angelegenheiten – ein Recht auf »Alleingelassen-Werden«, das sich in der Praxis letztlich in einer mechanistischen oder legalistischen Anwendung des informed consent niederschlage. Nach O’Neills Auffassung hat dies desaströse Folgen für die allein gelassenen Patient/-innen wie auch für das Gesundheitssystem insgesamt: »Yet, if autonomy is a matter of independence, it is very easy to see why it bears hard on relations of trust. Independent people may be self-centered, selfish, lacking in fellow-feeling or solidarity with others – in short the very people in whom one would have least reason to place trust and who might encourage a culture of mistrust« (O’Neill 2002, 24).

Die einigermaßen abenteuerlich anmutenden Thesen O’Neills vom Zusammenhang zwischen Unabhängigkeit und Egoismus oder Selbstsucht wollen wir an dieser Stelle nicht kommentieren, wohl aber den vermeintlichen Zusammenhang zwischen Autonomie und Vertrauen. Man könnte O’Neills Überlegungen so verstehen, dass sie eine defizitäre Praxis diagnostizieren und kritisieren. Ob sich für die Behauptung, die »Autonomieethik« habe im medizinischen Alltag zu einem Verlust wechselseitigen Vertrauens geführt, tatsächlich empirische Belege finden ließen, mag dahingestellt bleiben. Klar ist aber, dass auch die Vertreter/ -innen des Standardmodells ein bloß legalistisches Ratifizieren der informed consent-Bedingungen dort, wo es im Klinikalltag vorkommen mag, für unvereinbar mit PRA halten müssen. O’Neill indes versteht sich als Kritikerin nicht nur einer defizitären Praxis, sondern eines bestimmten Verständnisses des Autonomiekonzepts, das sich in der bioethischen Diskussion durchgesetzt habe und Autonomie im Wesentlichen mit individueller Unabhängigkeit gleichsetze. Vor dem Hintergrund unserer Unterscheidung zwischen PRA einerseits und dem Begriff der Autonomie Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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andererseits scheint uns freilich, dass O’Neills Kritik weniger gegen einen falsch verstandenen Begriff von Autonomie verfängt als gegen ein einseitiges und damit falsches Verständnis von PRA. Es wäre ein eklatantes Fehlverständnis von PRA, dieses als reine Respektierungspflicht, als Pflicht zur Nichtbehinderung autonomer Handlungen aufzufassen. Ein solchermaßen halbiertes PRA-Verständnis haben auch die Vertreter/ -innen des Standardverständnisses immer zurückgewiesen. Beauchamp und Childress beispielsweise heben in den Principles of Biomedical Ethics ausdrücklich hervor, PRA sei sowohl als eine negative als auch als eine positive Verpflichtung zu verstehen: »As a negative obligation: Autonomous actions should not be subjected to controlling constraints by others. [. . .] As a positive obligation, this principle requires both respectful treatment in disclosing information and actions that foster autonomous decision making« (Beauchamp, Childress 2009, 104).

Explizit formuliert findet sich dieser Doppelcharakter von PRA zwar tatsächlich erst in den jüngeren Auflagen der Principles. In den früheren Auflagen stehen die Respektpflichten gegenüber bereits autonom getroffenen Patientenentscheidungen stark im Vordergrund – vermutlich weil hier zunächst der größte Reformbedarf im ärztlichen Denken und Handeln gesehen wurde. Gleichwohl haben die positiven Befähigungspflichten beim Zustandekommen von autonomen Entscheidungen der Sache nach von Anfang an zur Standardauffassung von PRA gehört, was etwa in den ausführlich entfalteten Verpflichtungen zu wahrhaftiger und verständlicher Aufklärung zum Ausdruck kommt. Immerhin schon in der dritten Edition der Principles von 1989 weisen Beauchamp und Childress aber auch ausdrücklich auf die positiven Anteile (»positive implications«) (Beauchamp, Childress 1989, 73) von PRA hin, die dann in den folgenden Auflagen noch mehr Aufmerksamkeit erfahren. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die erste Lesart »relationaler Autonomie« keine Korrektur der Standardsicht von PRA und auch keine Revision des Autonomie-Begriffs erforderlich macht. Die Vertreter/-innen des Standardmodells von Autonomie werden aber durch O’Neill’s Kritik zu Recht daran erinnert, dass die positiven Befähigungsverpflichtungen, die Teil von PRA sind, in den Routinen des Alltags und den Unwägbarkeiten einer verrechtlichten Medizin allzu schnell in den Hintergrund geraten können. Relationale Autonomie 2: Soziale Kontrolle? Eine zweite Lesart relationaler Autonomie hebt insofern auf soziale Bedingungen oder Kontexte ab, als betont wird, dass Entscheidungen von Patient/ -innen nicht unter kontrollierenden sozialen Zwängen stehen dürfen (vgl. etwa Oshana 2006, Kap 3). Auch diese Forderung findet sich im Standardmodell mit der Bedingung der Kontrollfreiheit (non-control) bereits formuliert. Allerdings kommt es auch hier wieder darauf an, zwei Ebenen auseinanderzuhalten: Einerseits die Ebene begrifflicher Klärung (was gehört konstitutiv zum AutonomieBegriff?), andererseits die Ebene der praktischen Realisierung und Adjustierung. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Auch wenn das Standardmodell die non-control-Bedingung in den Autonomiebegriff aufnimmt, stellen sich schwierige praktische Fragen. So haben etwa schon Beauchamp und Childress deutlich gemacht, wie schwierig es im Einzelfall sein kann, den cut-off point auf dem Spektrum möglicher Einflüsse auf die Entscheidung von Patient/-innen zu setzen – reichen diese Einflüsse doch vom ggf. akzeptablen Überreden bis zum keinesfalls mehr akzeptablen physischen oder psychischen Zwang (Beauchamp, Childress 2009, 101). Die Art von Fragen, die sich hier stellt, kann man sich an einem Beispiel leicht vor Augen führen: In den deutschsprachigen ethischen Diskussionen um Sterbehilfe scheinen manche Autor/-innen zu bezweifeln, dass eine Entscheidung älterer Menschen zugunsten von Sterbehilfe (in welcher Variante auch immer) jemals autonom genannt werden könne, solange die palliativmedizinische Versorgung aufgrund vermeintlicher oder tatsächlicher ökonomischer Zwänge suboptimal ist oder die Betroffenen Angst davor haben müssen, ihren Angehörigen »zur Last zu fallen« (vgl. die bei Fenner 2007 diskutierte Literatur). Auch wenn wir diese Auffassung nicht teilen: Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die sozialen Bedingungen, unter denen Menschen leben, massive Auswirkungen auf ihre Möglichkeiten haben können, ihre Autonomie zu realisieren. Dass dies auch von den Verfechtern des Standardmodells nie bestritten, sondern im Gegenteil immer wieder auch explizit zum Thema gemacht worden ist, ändert nichts daran, dass es hier nach wie vor praktische Schwierigkeiten hinsichtlich der entsprechenden Grenzziehungen gibt. Mit einer begrifflichen Erweiterung des Autonomieverständnisses hat all dies freilich nichts zu tun. Relationale Autonomie 3: Selbstwert? Wesentlich interessantere theoretische Fragen wirft eine dritte Lesart von relationaler Autonomie auf. Manche Autor/-innen fordern nämlich, dass Entscheidungen, um autonom genannt werden zu können, nicht auf einem Mangel an Selbstvertrauen oder an Selbstwertschätzung basieren dürfen (vgl. McLeod, Sherwin 2000; Benson 2000; Mackenzie 2008). Diese Argumente zielen im Wesentlichen auf ein näher zu charakterisierendes (praktisches) Selbstverhältnis: Es geht, um eine Formulierung von Paul Benson aufzunehmen, also nicht nur darum, »what we are capable of doing but also (. . .) who we regard ourselves as being« (Benson 2000, 85). Damit eine Person zu autonomem Entscheiden oder Handeln fähig ist, so das Argument, muss sie zumindest ein elementares Zutrauen in ihre eigene Verlässlichkeit und in ihre grundlegenden Fähigkeiten haben und sich selbst für wert halten, eine (bestimmte) Entscheidung zu treffen bzw. eine (bestimmte) Handlung auszuführen. Sie muss sich selbst als jemanden verstehen können, deren Wünsche und Überzeugungen im Hinblick auf die anstehende Entscheidung oder Handlung relevant sind (vgl. dazu auch Ach, Pollmann 2012, 5f.). Folgt man dieser Überlegung, ergibt sich, dass jede/-r, die bzw. der der PRA verpflichtet ist, erstens ein Interesse daran haben muss, dass Menschen in möglichst intakten sozialen Beziehungen aufwachsen und möglichst intakte soziale Beziehungen erleben können. Dass dies weitreichende soziale, politische, kultuClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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relle oder auch pädagogische Konsequenzen hat, ist gewiss unstrittig. Und er / sie muss zweitens dafür Sorge tragen, dass das Selbstvertrauen und die Selbstwertschätzung anderer nicht durch systematische Missachtung oder nachhaltige Demütigung verletzt oder zerstört werden. Der autonomiespezifische Grund dafür ist einfach, dass halbwegs intakte Sozialbeziehungen für den Erwerb eines Autonomie ermöglichenden Selbstverhältnisses kausal bzw. genetisch erforderlich sind, während umgekehrt die Abwesenheit bestimmter Formen zerstörerischer sozialer Verhältnisse und Beziehungen für deren späteren Erhalt konstitutiv sind (vgl. dazu noch einmal Ach, Pollmann 2012, 15). Ob die angesprochene Bedingung des Selbstvertrauens oder der Selbstwertschätzung tatsächlich in den Begriff der Autonomie, zum Beispiel in die Kompetenzbedingung, aufgenommen werden muss, wie es zum Beispiel John Christman vertritt (Christman 2009, 182f.), hängt offenbar davon ab, wie man sie im Einzelnen expliziert. Hier gibt es aus unserer Sicht weiteren Diskussionsbedarf. Zumindest im Hinblick auf anspruchsvollere Varianten, wie beispielsweise das anerkennungsbasierte relationale Verständnis von Autonomie (»recognitionbased relational view«), das Catriona Mackenzie (Mackenzie 2008) oder auch Anderson und Honneth (Anderson, Honneth 2005) vorschlagen, sind wir skeptisch. Die theoretisch-begrifflichen Entscheidungen, die man hier trifft, haben, wie schon gesagt, durchaus praktische Konsequenzen: Das Verständnis von PRA wird umso exkludierender sein, je anspruchsvoller man die Selbstvertrauens- bzw. Selbstwertschätzungsbedingung ausbuchstabiert. Ein zu hohes Maß an Exklusion würde jedoch eine der oben angesprochenen Adäquatheitsbedingungen verletzen. Relationale Autonomie 4: Relationale Fähigkeiten? Mit dieser und den folgenden Lesarten betreten wir den Bereich eindeutig revisionistischer Vorschläge. John Christman markiert diesen Bereich als denjenigen »uniquely« relationaler Konzepte: ». . . to make a conception of autonomy uniquely ›relational‹ or ›social‹ is that among its defining conditions are requirements concerning the interpersonal or social environment of the agent. In particular, to mark out such accounts from others in the literature, social conditions of some sort must be named as conceptually necessary requirements of autonomy rather than, say, contributory factors« (Christman 2004, 147 f.).

Zu differenzieren, was lediglich zu den (sozialen, oder unserethalben: relationalen) Bedingungen der Entwicklung oder Entfaltung von Autonomie gehört, und was zu deren konzeptionellen, definierenden Bedingungen, ist allerdings weniger leicht und eindeutig, als man zunächst denken könnte. Das zeigt sich an der vierten Lesart von relationaler Autonomie. Ihr folgend muss ein/-e Patient/-in bestimmte relationale Kompetenzen besitzen, um autonom entscheiden zu können. Die in Rede stehenden Fähigkeiten sind Fürsorglichkeit, Beziehungsfähigkeit oder die Bereitschaft, soziale Einbettungen, Nähe- und auch Abhängigkeitsverhältnisse als Bereicherung des Lebens zu schätzen. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Ausgerechnet John Christman, als dezidierter Vertreter eines schlanken prozeduralen Autonomieverständnisses, sieht in solchen Vorschlägen lediglich das Ausbuchstabieren plausibler Kontributionsfaktoren: »Competence conditions typically refer to such things as self-control, capacities for rational thought, and freedom from debilitating pathologies, systematic selfdeception, and so on. But, as feminists and other ›relational‹ theorists have been insisting, many life patterns (particularly for women and marginalized groups, according to some) crucially involve intertwined personalities, close relations of care and dependence, embedded cultural identities and values, and the like. For autonomy to pick out the ability of persons to lead lives that they can fully embrace as their own, then surely people need to develop those abilities that are central to interpersonal relations of a variety of sorts. [. . .] it is competency conditions in proceduralist views of autonomy that are problematic insofar as they do not include or make room for the wide variety of capacities for care, intimacy, social interaction, and the like that will be crucial for socially embedded persons to flourish« (Christman 2004, 155 und 2009, 177).

Doch werden nicht mit derlei zusätzlichen Kompetenzforderungen bereits Vorstellungen von einem gelingenden Leben gleichsam durch die paternalistische Hintertür eingeführt? Es entspricht gewiss einer weit geteilten Idealvorstellung, dass Menschen in engen Beziehungen zu anderen leben, dass sie Freundschafts- und Liebesbeziehungen pflegen und als beglückend empfinden. Und ganz gewiss ist zutreffend, dass ohne relationale Fähigkeiten die Optionen solcher Lebensformen als Gegenstand autonomer Wahlentscheidungen weitgehend entfallen. Doch diesen Fähigkeiten den Status notwendiger Bedingungen für Entscheidungsautonomie zu verleihen, ist unseres Erachtens problematisch. Was zunächst als bloße prozedurale Anreicherung des Autonomieverständnisses (so sieht es offenbar Christman) imponiert, entpuppt sich auf den zweiten Blick als indirekte substanzielle Restriktion desselben. Zugespitzt liefen solche Forderungen nämlich darauf hinaus, dass etwa die Entscheidung einer gefühlskalten, gefühlsarmen oder beziehungsunfähigen Patientin – so wenig man ihr Leben für erstrebenswert halten mag – tatsächlich keine normative Autorität besäße. Diese Exklusion wäre in unseren Augen nicht zu rechtfertigen. Relationale Autonomie 5: Sozialer Status? Andere Relationalisierungsforderungen gehen noch einen Schritt weiter: So behaupten die Vertreter/-innen einer fünften Lesart von relationaler Autonomie, dass für die Fähigkeit zu autonomen Entscheidungen bestimmte soziale Beziehungen bzw. eine bestimmte Art sozialer Beziehungen konstitutiv seien. Nach dieser Lesart relationaler Autonomie geht es also nicht nur darum, anzuerkennen, dass Menschen unweigerlich in unterschiedliche soziale Kontexte eingebettet sind. Die Behauptung lautet jetzt vielmehr, dass autonome Entscheidungen nur bei Vorliegen bestimmter, inhaltlich ausgezeichneter sozialer Umstände möglich sind. Die Stoßrichtung dieser Überlegungen, die man etwa bei Marina Oshana finden kann, ist auf den ersten Blick zweifellos sympathisch: Oshana und andeClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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ren geht es vordringlich um eine Kritik an repressiven Sozialstrukturen, die die Würde von Menschen, insbesondere von Frauen, verletzen, ihren Akteurstatus bedrohen und ihre Fähigkeiten zur Selbstbestimmung unterminieren. Um zu illustrieren, dass Menschen nur unter der Voraussetzung bestimmter sozialer Mindeststandards autonom entscheiden können, beschreibt Oshana eine Reihe von Fällen, darunter den von Frauen in einer Taliban-Gesellschaft, denen sie »the role of subservience and the abdication of independence that it demands, out of reverence, a sense of purpose, and an earnest belief in the sanctity of this role as espoused in certain passages of the Qu’ran« (Oshana 2006, 60)

attestiert. Tatsächlich kann es in der moralischen Beurteilung von Taliban-ähnlichen Repressionsstrukturen wohl kaum zwei Meinungen geben. Auch wird man kaum bestreiten können, dass extrem repressive soziale Kontexte die Fähigkeit zu autonomen Entscheidungen stark einschränken können. Etwas ganz anderes aber ist es, zu behaupten, dass bestimmte inhaltlich ausgezeichnete soziale Beziehungen für Autonomie konstitutiv seien. Dies nämlich würde zum einen bedeuten, den Betroffenen bestimmte moralische Werte, nämlich die Wertschätzung einer bestimmten Form sozialer Beziehungen, aufzudrängen, und die Realisierung dieser Werte im Zweifelsfall auch gegen sie durchzusetzen. Dies hat John Christman zu Recht als moralisch problematischen Perfektionismus kritisiert (Christman 2004, 152). Zum anderen öffnete dieses Verständnis relationaler Autonomie die Tür für paternalistische Interventionen in unakzeptabler Weise. Zumindest theoretisch muss man nämlich mit der Möglichkeit rechnen, dass die betreffende Person mit dem sozialen Kontext, in dem sie ihre Entscheidungen trifft, durchaus einverstanden ist. Unter dieser Voraussetzung sind die von ihr getroffenen Entscheidungen nolens volens zu respektieren. Zudem hinge nach diesem Verständnis die Reichweite von PRA davon ab, welche Art von sozialen Kontexten man für autonomieverträglich hält. 4 Das auf inhaltliche Neutralität festgelegte Standardmodell von Autonomie kann sich solchen Zusatzbedingungen nicht öffnen. Ihm zufolge muss man akzeptieren, dass sich normative (Entscheidungs-)Autorität letztlich auch auf die Wahl sozialer Beziehungen erstreckt, mit denen die betroffene Person sich identifiziert, die sie hinnimmt oder akzeptiert, die sie ablehnt, von denen sie sich lossagt oder gegen die sie sich wehrt.

4

Dass hier viel Raum für Interpretation besteht, zeigt die Diskussion über die ästhetische Chirurgie, in der einige, insbesondere feministisch orientierte Kritikerinnen die Möglichkeit einer autonomen Entscheidung für ästhetisch-chirurgische Eingriffe schlicht in Abrede stellen. Für Kathryn Morgan (Morgan 1991), um zumindest ein Beispiel zu nennen, sind die von Frauen diesbezüglich getroffenen vermeintlich selbstbestimmten Entscheidungen »at a deeper level« nicht viel mehr als Zeichen einer im Wortsinne unter die Haut gehenden compliance mit den vorherrschenden kulturellen und gesellschaftlichen Normen, die Frauen dazu bringen, sich selbst immer schon durch die Augen tatsächlicher oder hypothetischer Männer und deren ästhetischem Normensystem zu sehen. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Relationale Autonomie 6: Transzendenz der Individualität? Eine sechste Lesart verbindet mit der Kritik am vermeintlich »abstrakten Individualismus« des Standardmodells der Autonomie und dem Begriff der »relationalen Autonomie« die Forderung, die Grenze zwischen Individuum und Angehörigen durchlässig zu machen. Dieser Auffassung liegt die These zugrunde, Individuen seien durch den sozialen Kontext konstituiert. Damit kann, wie Mackenzie und Stoljar deutlich gemacht haben, freilich zweierlei gemeint sein: zum einen eine psychologische Behauptung, zum anderen aber eine metaphysische Behauptung (Mackenzie, Stoljar 2000a, 7f.). Anders gesagt: Es ist eine Sache, zu behaupten, dass Personen in ihrem Selbstverständnis von den sozialen Kontexten, in denen sie groß geworden sind und in denen sie sich bewegen, geprägt sind (wie dies die Lesarten 3 bis 5 in je unterschiedlicher Weise tun). Etwas ganz anderes aber ist es, die Separatheit von Individuen als Entitäten zu bestreiten. Genau dies wird von manchen »Extremisten« in der Debatte aber getan (vgl. Whitbeck 1983. Kritisch dazu: Zutlevics 2002). Dass letztere These überhaupt noch mit irgendeinem Begriff von auf Individuen bezogener Autonomie vereinbar ist, kann man mit Fug und Recht bezweifeln.

Fazit Unsere kleine »Typologie relationaler Autonomie« hat ergeben, dass sich unter dem umbrella term »relationale Autonomie« höchst unterschiedliche Vorstellungen und Behauptungen versammeln, die mit dem medizinethischen Standardmodell von Autonomie teils vereinbar, teils unvereinbar sind. 1. Bei dieser Analyse haben wir es hilfreich gefunden, die Differenz zwischen dem Begriff der (Patienten-)Autonomie und dem Prinzip des Respekts vor dieser Autonomie (PRA) im Blick zu behalten. Der Autonomiebegriff buchstabiert aus, was unter welchen Bedingungen autonom genannt werden soll. Hier legt sich das Standardmodell auf eine lokale, prozedurale und individualistische Position fest. PRA hingegen buchstabiert aus, wie Patienten mit Blick auf ihre Autonomie behandelt werden sollen. Hier ist zwischen Respektierungs- und Befähigungspflichten zu unterscheiden, die auch das Standardmodell durchaus beide ernst nimmt. 2. Zumindest die beiden Lesarten 1 und 2, möglicherweise auch Lesart 3, heben zwar hervor, dass Personen in vielfältiger Weise »sozial eingebettet« sind, und postulieren aus dieser Perspektive bestimmte Voraussetzungen für die Ermöglichung von Patienten-Autonomie. Wer will, kann solche Vorschläge in einem schwachen Sinn relational nennen. Um aber zu signalisieren, dass es sich weiterhin um individualistisch und prozedural verstandene Selbstbestimmung handelt, bevorzugen wir die Rede von einem beziehungssensitiven individualistischen Autonomiebegriff. Dessen Voraussetzung und Bedingungen sind auch im Standardmodell bereits formuliert, wohl aber in der Debatte zu wenig betont und systematisch entfaltet worden. Sie geben Anlass für eine (Rück-)Besinnung darauf, warum und was an Autonomie – im Kontext von Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Patientenversorgung und darüber hinaus – wertvoll ist. Sie machen aber, und darauf kommt es uns hier entscheidend an, keine substanzielle begriffliche Revision des Standardmodells von Autonomie erforderlich. 3. Es gibt allerdings auch einige weitere Lesarten (4, 5 und 6) relationaler Autonomie, die tatsächlich eine Revision des Autonomie-Begriffs gegenüber dem Standardmodell fordern. Sie verlangen entweder bestimmte psychologische oder soziale Zusatzbedingungen in den Begriff der Autonomie aufzunehmen und sind insofern exkludierender als das Standardmodell (Lesarten 4 und 5). Oder sie ent-individualisieren den Autonomiebegriff, indem sie etwa auch die Angehörigen des Patienten als Mitentscheidende inkludieren (Lesart 6). Diese Vorschläge mag man starke oder genuin relationale Revisionen nennen. Sie alle halten wir für problematisch – und zwar sowohl aus theoretischen Gründen als auch aufgrund der praktischen Konsequenzen, die sich ergeben, wenn man PRA im Lichte eines im starken Sinn relationalen Begriffs von Autonomie deutet. 4. Schließlich hat sich gezeigt, dass es an den Schnittstellen zwischen abstrakter Ethik, Moralpsychologie und Medizinethik eine Reihe strittiger Fragen gibt, die einer systematischen Aufarbeitung bedürfen. Dazu gehört beispielsweise die Frage, wie die in Lesart 3 angesprochene Selbstwertschätzung angemessen zu verstehen ist und welche praktischen Konsequenzen sich aus diesem Verständnis ergeben. Die theoretisch-begrifflichen Entscheidungen, die man hier trifft, hätten nämlich durchaus praktische Konsequenzen: Das Verständnis von PRA wird auch hier wieder umso exkludierender sein, je anspruchsvoller man die Selbstwertschätzungsbedingung ausbuchstabiert. 5. Wir haben im Rahmen dieses Aufsatzes nicht näher untersuchen können, inwieweit relationale Revisionen des Autonomieverständnisses bereits Einzug in die praxisbezogene Bioethik gehalten haben. Beispiele für solche »Relationalisierungen« finden sich etwa in der Stellungnahme des Nuffield Councils oder des Deutschen Ethikrates zum Umgang mit dementen Patient/-innen. Beide betonen die Notwendigkeit eines »reicheren« bzw. »weiteren« Autonomieverständnisses, gemessen am Standardmodell. Und beide betonen die Bedeutung sozialer Beziehungen für die Autonomie der Patient/-innen, auch dann, wenn diese ihre rationalen Kompetenzen weitgehend eingebüßt hätten. Solchen eher programmatischen Texten wird man freilich nicht gerecht, wenn man jedes Wort auf die Goldwaage legt. Aber es beschleicht uns gleichwohl die Sorge, dass unter dem sympathisch klingenden und gut gemeinten Segel der Relationierung eine in der Sache problematische Revision des Autonomiebegriffs auf den Weg gebracht werden könnte. Unsere Differenzierungen zwischen beziehungssensitiven Präzisierungen und relationalen Revisionen des Autonomiekonzepts könnten hier zukünftig als Lesehilfe dienen. 5

5

Wir danken unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Kollegforschergruppe Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik für die kritische Diskussion einer früheren Fassung dieses Aufsatzes sowie Jan-Ole Reichardt, Markus Rüther, Silke Tandetzki, Margret Titze und Felix Krause für zahlreiche Hinweise. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Ach, Schöne-Seifert: »Relationale Autonomie«

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Zutlevics TL (2002) Relational Selves, Personal Autonomy and Oppression. In: Philosophia 29: 423–436

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Joel Anderson

Relationale Autonomie 2.0 Einleitung Debatten über die Rolle des Autonomiebegriffs in der Bioethik kreisen häufig um die Frage, ob Autonomie notwendigerweise ein individualistischer Wert ist, und falls ja, ob sie aus diesem Grund einen fragwürdigen Anknüpfungspunkt für die Bioethik darstellt. 1 Feministische, kommunitaristische und nichtwestliche Kritiker haben argumentiert, dass Autonomie ein individualistischer Wert ist und deshalb in einem Spannungsverhältnis zu anderen wichtigen Werten steht, die aus Sicht dieser Kritiker häufig vernachlässigt werden. Die Antwort liberaler Theoretiker besteht für gewöhnlich darin, diese Charakterisierung der Autonomie als eines individualistischen Wertes zu akzeptieren, dann aber zu erklären, dass sie gerade deshalb von so überragender Bedeutung sei. Sogenannte »relationale« Theorien der Autonomie nähern sich der Frage auf andere Weise an. Sie bestreiten die Annahme, Autonomie sei wesentlich als ein individualistischer Wert zu verstehen. Ihnen zufolge ist es nicht nur vereinbar mit Autonomie einer Person, sondern trägt vielmehr wesentlich zu ihr bei, dass ihre Lebensführung und ihre Perspektive mit denen anderer Individuen verwoben ist. Das unterscheidet Anhänger dieser Theorien sowohl von liberalen Verfechtern einer individualistisch begriffenen autonomiebasierten Bioethik als auch von denen, die der Dominanz des Autonomiebegriffs in der neueren Bioethik kritisch gegenüberstehen. Mein Augenmerk gilt hier der ersten dieser beiden Auseinandersetzungen, der zwischen Liberalen und Relationisten. 2 Diese Auseinandersetzung weist ein beträchtliches Maß an Unübersichtlichkeit auf – teils deshalb, weil Relationstheoretiker traditionelle Autonomieverständnisse infrage stellen, teils weil es eine Reihe unterschiedlicher Auffassungen davon gibt, was hier mit »relational« gemeint ist, und schließlich auch deshalb, weil Theorien dieser Familie nicht nur als »relational«, sondern mitunter auch als »dialogisch«, »sozial« oder »intersubjektiv« bezeichnet werden. Es bedarf deshalb dringend einer erneuten Erläuterung davon, was relationale Theorien eigentlich auszeichnet. Hinzu kommt, dass sich im Zuge der Diskussion zwischen Liberalen und Relationalisten die Positionen verschoben haben, da jede der beiden Seiten zu zeigen versucht hat, dass sie Einsichten der anderen Seite Rechnung tragen kann. Ein gutes Beispiel für diese Entwicklung ist der Beitrag von Johann Ach und Bettina Schöne-Seifert in diesem Band. Aus ihrer Sicht lassen sich die diversen Thesen, die unter der Flagge »relationaler Ansatz« verkehren, in zwei Grup1 2

Übersetzung des Textes aus dem Englischen von Felix Koch. Einige besonders wichtige Überblicke über relationale Konzeptionen der Autonomie, von denen ich beim Verfassen dieses Aufsatzes profitiert habe, sind Mackenzie, Stoljar (2000b); Kauppinen (2011); Christman (2009); Westlund (2009); Rössler (2002); Baumann (2008); Holroyd (2009) und Mackenzie (im Erscheinen). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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pen einordnen: einerseits die vernünftigen Behauptungen, die ein wohldurchdachter liberaler Ansatz in Kauf nehmen kann, und andererseits die problematischen Behauptungen, die bei näherer Betrachtung besorgniserregende Formen des Paternalismus zulassen. Meines Erachtens gelingt es dieser Unterscheidungsweise aber nicht, die wirklich eigenständigen Einsichten oder zumindest das noch zu entwickelnde Potential relationaler Ansätze herauszuarbeiten. Mein Ziel ist es daher, den gegenwärtigen Stand der Debatte zwischen Liberalen und Relationisten auf eine Weise zu rekonstruieren, die das Potential relationaler Ansätze offenlegt und zeigt, in welche Richtungen sie sich sinnvoll weiterentwickeln ließen. Im Folgenden diskutiere ich vier Streitpunkte zwischen liberalen und relationalen Ansätzen, die mir zentral erscheinen. Dabei rekapituliere ich jeweils kurz die Position, die das ursprüngliche Ziel der relationalen Kritik bildete sowie diese Kritik selber, um dann die liberalen Gegenargumente und schließlich die Aussichten für einen dezidiert relationalen Ansatz zu diskutieren, der von diesen Gegenargumenten nicht getroffen wird. Das gesellschaftlich konstituierte Selbst Die häufigste Angriffsfläche relationaler Kritiken an klassisch liberalen Positionen hat mit deren »maskulinistischen« und hypermodernistischen Annahmen über das Wesen des Selbst und der Identität zu tun. Es geht um die liberalindividualistische Auffassung, dass die größte Bedrohung autonomen Entscheidens außerhalb des Selbst zu suchen sei. Heteronomie, so das Argument, bestehe darin, nicht von den eigenen Überzeugungen, Präferenzen und Werten geleitet zu werden. Da die Quelle autonomen Entscheidens innerhalb des Selbst zu verorten sei, erfordere die Herausbildung von Autonomie in erster Linie, diese authentische Quelle in ihr Recht einzusetzen, was wiederum den Gewinn reflexiver Distanz von dem Einfluss anderer und von der Abhängigkeit von anderen voraussetze. Das ist das Modell der inneren Festung, des Bereichs individueller Freiheit und Souveränität, innerhalb dessen man entscheidet, was man wirklich will. Es gibt bekanntlich eine lange Geschichte kritischer Einwände gegen dieses individualistische Verständnis von Autonomie. Schließlich bildet diese Konzeption das Herzstück der Moderne und ihrer radikalen Ablehnung der tradierten Anerkennung von Autoritäten (Schneewind 1998). Ihr ist immer wieder vorgehalten worden, dass die Behauptung, das isolierte und atomistische Selbst sei der eigentliche Ort des Entscheidens und der personalen Autorität, schlicht die Belege dafür ignoriert, dass viele Menschen an einer solchen Distanzierung kein Interesse haben und dabei ein nicht weniger erfülltes, lohnendes oder abgerundetes Leben führen als jene, die sich an selbstgestalteten Lebensplänen orientieren. Während diese Kritik am Liberalismus in der Regel als eine einfache Ablehnung der Vorherrschaft des Autonomiegedankens in der modernen Kultur (und in der Bioethik) formuliert wurde, ging es dem spezifisch relationalen Ansatz, der sich in der philosophischen Literatur der 1980er Jahre herauszubilden begann, um eine Umgestaltung des Autonomiebegriffs selbst. An die Stelle einer Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Anderson: Relationale Autonomie 2.0

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Kritik der Kultur der Autonomie trat der Versuch ihrer Neuaneignung. Vor dem Hintergrund der plausiblen Annahme, dass Autonomie im Kern bedeutet, sich selbst im Einklang damit zu regieren, wer man in Wahrheit ist, zeigt sich, dass der Wert der Autonomie voraussetzungsreich ist: Er erfordert, dass man sich klarmacht, inwiefern »wer man in Wahrheit ist« nicht von den sozialen Beziehungen zu trennen ist, in denen man steht (Taylor 1989; Nedelsky 1989; Mackenzie, Stoljar 2000). Die ursprüngliche relationale These könnte also in aller Kürze so formuliert werden: da das Selbst oder die Identität autonomer Handlungssubjekte unvermeidbarer- und angemessenerweise durch deren Beziehungen zu anderen konstituiert wird, muss eine Theorie der Autonomie Formen der Lebensführung zulassen, in denen das, was man als Individuum will, untrennbar mit dem verbunden ist, was man etwa als Teil einer Gemeinschaft oder Partnerschaft will. Das hat wichtige praktische Implikationen. Vor allem wird aus dieser Perspektive deutlich, dass die reflexhafte Verdächtigung der persönlichen Autorität von Individuen, deren Entscheidungen von dem Gedanken an das Wohlergehen ihrer Gemeinschaft oder ihrer Beziehung geleitet sind, oft ein Vorurteil oder sogar eine Form der Diskriminierung darstellt. Zudem wird in gewissem Sinne die ärztliche Pflicht, das autonome Entscheiden von Patienten zu respektieren, um die weitere Pflicht ergänzt, Formen der Gemeinschaft zu schützen und zu fördern, in denen das gesellschaftlich konstituierte Selbst sich entfalten kann. Starke Beziehungen sind nicht nur Teil des eigenen Wohlergehens, sondern ein wesentlicher Bezugspunkt des Wissens davon, was man überhaupt genuin will. Die liberale Antwort lautet nun, dass eine wie auch immer geartete soziale Konzeption des Selbst immer noch von der einzelnen Person selbst bekräftigt werden muss, damit von Autonomie und von personaler Autorität seitens dieser Person die Rede sein kann. Der individualistische Liberalismus insistiert darauf, dass es Personen stets freistehen muss, sich aus ihren Beziehungen zu lösen, wenn es dafür gute Gründe gibt. Nach John Christman ist es zwar nicht erforderlich, dass man seine eigenen Festlegungen einer ständigen Neubewertung unterzieht – zumindest aber sollte man nicht von ihnen entfremdet sein (Christman 2004; Christman 2009). Ähnlich argumentiert Alfred Mele, dass Autonomie zwar mit »unaufgebbaren« Festlegungen vereinbar sein könne, dies allerdings nur dann, wenn die Person den Einfluss dieser Festlegungen auch individuell bekräftigen kann (Mele 1995). Und Will Kymlicka hat kommunitaristischen und multikulturalistischen Kritikern entgegengehalten, dass das Recht auf den Schutz der eigenen Kultur darauf zurückgeführt werden kann, dass dieses Recht eine Ressource für Individuen darstellt (Kymlicka 1989). Auf diese Weise haben verschiedene Verteidiger des liberalen Individualismus argumentiert, dass unser grundsätzliches Interesse immer noch dem Individuum gilt, das sich selbst auf die eine oder andere Weise zu den sozialen oder relationalen Aspekten seines oder ihres Selbst positioniert. Soweit diese Aspekte als bedeutsam empfunden werden, können sie eine legitime Rolle spielen. Aber solange wir auf die enge Verbindung zwischen Autonomie und personaler Autorität nicht ganz verzichten wollen, muss die Identität, die die Quelle des autoClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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nomen Entscheidens einer Person ist, von dieser Person selbst bekräftigt werden (Christman 2009). Wir haben es hier mit wichtigen Einwänden zu tun, auf die aber seitens der Relationisten verschiedene Antworten gegeben werden können. Zum einen kann es vorkommen, dass bestimmte Festlegungen so grundlegend für die evaluative Perspektive einer Person sind, dass es ihr nicht möglich ist, sich autonom von ihnen zu distanzieren. Wenn diese Festlegungen zudem ihrerseits in einer mit anderen geteilten Perspektive fundiert sind, dann erscheint es zumindest vorstellbar, dass »unaufgebbare« relationale Festlegungen die genuine Grundlage der Autonomie der betreffenden Person ausmachen, selbst wenn sich der Status dieser Festlegungen nicht weiter rechtfertigen lässt. Dahingehend lassen sich etwa die jüngeren Arbeiten Harry Frankfurts verstehen, in denen er die Liebe – insbesondere die Liebe zu den eigenen Kindern – als eine »volitionale Notwendigkeit« beschreibt, der Individuen unterworfen sind, ohne dass dadurch ihre Autonomie gemindert würde. Schließlich ist das, was in solchen Fällen den Willen einer Person regiert, nicht etwas, das der Person äußerlich wäre und sie zu einer heteronom bestimmten machte (Frankfurt 2004). In gewissem Sinne verbleibt diese Antwort aber weiterhin im Rahmen einer individualistischen Logik, derzufolge jede evaluative Perspektive in etwas begründet ist, dessen Aufgabe für die Person selbst undenkbar ist. Eine konsequenter relationale Antwort betont dagegen, dass bestimmte Formen der Intersubjektivität notwendige Bedingungen der Möglichkeit bestimmter Formen der Wertung darstellen. So gesehen ähnelt etwa der Fall einer Entscheidung, ob man dem Ehemann oder der Ehefrau eine Niere spendet, der Frage, wie man einen Tango tanzen soll: Es geht um etwas, das man gemeinsam tut, ein radikal gemeinsames Unterfangen, das beiderseitige Teilnahme erfordert. Die Frage könnte dann lauten: »Was machen wir mit meiner ›verfügbaren‹ Niere?« Es kann sogar ein ganz zentrales Element der Identität und des Wohlergehens beider Ehepartner sein, dass sie einander genau diese Frage stellen, anstatt einen Aushandlungsprozess zu absolvieren, bei dem der Reihe nach ihre jeweils individuellen Interessen in Betracht gezogen werden. Nun ist es natürlich so, dass es durchaus Fälle gibt – zutiefst problematische Fälle –, in denen der Verweis auf die Verflochtenheit der Interessen verschiedener Personen einer Rechtfertigung von Unterdrückung oder Selbstauslöschung dient. Eine überzeugende relationale Position müsste angeben können, was als Beleg für ein authentisch gemeinsames Unterfangen gilt. Das scheint mir die Richtung zu sein, in die sich weitere Untersuchungen und auch die Ausarbeitung klinischer Ablaufprotokolle entwickeln sollten. Andere Elemente des relationale Ansatzes, auf die nun zu kommen sein wird, bieten dafür zusätzliche Ressourcen. Kritische Reflexion als dialogisches Selbsterkennen Während der erste Strang der Debatte zwischen Liberalen und Relationalisten die (Sozial-)Ontologie der Identität als Grundlage autonomer Wertungen betonen, richtet sich ein zweiter Strang auf die davon unterschiedene, wenngleich Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Anderson: Relationale Autonomie 2.0

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verwandte Frage, auf welchem Wege man eigentlich herausfindet, woran einem wirklich liegt. Der gängige liberale Ansatz verweist hier auf einen kritischen Reflexionsprozess, den eine Person alleine und ohne Hilfe ausführt. Dieser Sichtweise zufolge ist man autonomer, je mehr man in der Lage ist, die Dinge alleine zu entscheiden. Dem liegt ein kulturelles Modell solitärer Individuen zugrunde, die sich von der Gesellschaft zurückziehen, um herauszufinden, was ihnen tatsächlich wichtig ist. Der Abstand zu anderen verringert in diesem Bild die verzerrende Wirkung des Drucks, der von diesen anderen ausgeht. Dagegen haben relationale Kritiker eingewandt, dass die Isolierung von anderen ihrerseits verzerrende Auswirkungen auf den Prozess der Selbsterkenntnis haben kann. Häufig befördert gerade der interpersonale Dialog das autonome Überlegen und den Prozess der Selbsterkenntnis. Diana T. Meyers hat argumentiert, dass die anspruchsvollen Aufgaben von Selbstentdeckung, Selbstdefinition und Selbstführung oftmals und vielleicht sogar in der Regel erfolgreicher bewältigt werden, wenn ein Dialog geführt wird: »Anstatt so zu tun, als sei Selbstkenntnis ausschließlich durch den privilegierten Zugang zu einem streng privaten Bereich mentaler Zustände zu gewinnen, sollten Personen sich um die Eindrücke und Vorschläge anderer bemühen und diesen Beachtung schenken« (Meyers 1979, 183). Es gibt eine schwache und eine starke Version dieser relationale Kritik. Die schwache Version behauptet, dass man im Dialog häufig ein besseres Verständnis davon gewinnt, woran einem wirklich liegt; die starke Version behauptet, dass die Entwicklung der Fähigkeit zur dialogischen Selbstprüfung und deren gemeinsame Ausübung mit anderen notwendige Voraussetzungen autonomer Selbstbestimmung bilden. Die naheliegende Antwort seitens der Liberalen lautet hier, dass eine vernünftige liberale Theorie die schwache Version der Kritik ohne größere Schwierigkeiten akzeptieren kann, dass die stärkere Version hingegen unplausibel ist. Schließlich gibt es für Liberale keinen Grund zu leugnen, dass interpersonaler Dialog Personen dabei behilflich sein kann, herauszufinden, was ihnen wirklich wichtig ist. Manchmal ist ein solcher Dialog förderlich, manchmal nicht. Aus liberaler Sicht muss über diese Frage jeder Einzelne selber entscheiden. Wenn daher zum Beispiel in einem klinischen Kontext ein Patient sich gerne mit einer Vielzahl anderer Personen beraten möchte, dann können Liberale ohne weiteres dafür sein, das zu gestatten und sogar zu fördern. Anders verhält es sich mit der These, dass Individuen ohne einen solchen Dialog nicht autonom sein können. An dieser Stelle ziehen Liberale die Grenze. Vor allem bestehen sie darauf, dass Patienten, denen an solchen dialogischen Zugewinnen nicht liegt, der Dialog nicht verordnet werden kann. Das liefe aus liberaler Sicht auf eine Form von paternalistischer Manipulation hinaus, auf einen Versuch, Personen autonomer zu machen, als sie es selber sein wollen. Gegen die starke relationale Dialogthese wird hier eingewandt, sie belaufe sich auf eine partikulare und substantielle Auffassung davon, wie Menschen ihre Entscheidungen treffen und ihr Leben leben sollten, und mache auf diese Weise den relationalen Ansatz zu einem illiberalen (vgl. wiederum Christman 2009). Relationalisten steht es an dieser Stelle offen, auf ihrer Position zu beharren und für eine substantielle Theorie zu argumentieren, derzufolge dialogiClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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sche Entscheidungsfindung ein konstitutiver Bestandteil wahrer Autonomie ist. Die damit anvisierte Revision des Autonomiebegriffs wäre aber so tiefgreifend, dass nicht evident ist, wie sie sich noch von einer schlichten Zurückweisung der Bedeutung der Autonomie unterscheiden würde. Relationalen Ansätzen stehen aber auch noch andere Optionen zur Verfügung. Insbesondere können Relationalisten sich darauf konzentrieren, ihre Argumentation auf empirischen Belegen dafür aufzubauen, dass ein gut strukturierter Dialog Verzerrungen oder Fehler im Prozess der kritischen Reflexion verhindern kann. Wenn sich empirisch herausstellen sollte, dass bestimmte Formen dialogisch vermittelter Selbstreflexion Verzerrungen entgegenwirken, dann gäbe es formale, prozedurale Gründe dafür, solche Formen einzubeziehen. Mit anderen Worten: Da Autonomie kritische Reflexion insgesamt nur zu dem Zweck erfordert, konfuse oder kapriziöse Launen und Triebe von genuinen Wünschen und Werten zu unterscheiden, können Relationalisten darauf verweisen, dass ihre Betonung des Dialogs einfach auf ein vollständigeres und nuancierteres Verständnis davon abzielt, was kritische Reflexion ausmacht. Nicht alle Personen können sich die Möglichkeiten dialogischer Selbstreflexion zunutze machen. Manchen fehlen die »Kompetenzen der Autonomie« (Meyers 1989), die für eine erfolgreiche Interaktion erforderlich sind; andere befinden sich in Situationen, die ihnen Anlass geben, dem dialogischen Prozess zu misstrauen. Auf zusätzliche Implikationen solcher Fälle komme ich weiter unten im Zusammenhang mit der Bedeutung unterstützender Kontexte zu sprechen. An dieser Stelle möchte ich nur erwähnen, dass die Chance zu fruchtbarer dialogischer Selbstreflexion die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten voraussetzt, die durch Ausübung gelernt, erhalten und verbessert werden. Ein erweitertes Verständnis kritischer Reflexion verlangt von uns daher auch eine Bereitschaft, Kontexte genuin dialogischer Selbstreflexion zu fördern. Eine Welt ohne dialogischen Austausch wäre eine Welt, die allenfalls eine dürftige Form der Autonomie zuließe. In klinischen Kontexten wird es immer umstrittene Fälle geben. Häufig werden eingeschränkte Autonomiekompetenzen oder das Fehlen dialogischer Selbstreflexion – genau wie etwa unvollständige Informiertheit oder der Einfluss starker Emotionen – nicht dazu hinreichen, der betreffenden Person ihre personale Autorität abzusprechen. Die Frage, wo hier die relevante Schwelle anzusetzen ist und warum, verweist auf wichtige pragmatische und politische Probleme (vgl. Anderson im Erscheinen). Aber zumindest lenkt die relationalen Antwort unsere Aufmerksamkeit auf die Frage, wie sich Chancen auf dialogische Selbstreflexion schaffen lassen und insbesondere auch auf die Frage, inwieweit das Fehlen dialogischer Kompetenz oder das Fehlen der Gelegenheit zum Dialog – im Vergleich zu anderen Faktoren, die die Entscheidungsfähigkeit von Individuen reduzieren – personale Autorität einschränkt. Allgemeiner bedarf es einer Untersuchung der Frage, wann eine Befolgung des Prinzips, »Menschen ihre eigenen Fehler machen zu lassen«, in Fahrlässigkeit und die Vorenthaltung von Ressourcen umschlägt. Eine wichtige Anforderung an relationale Theorien besteht zudem darin, auf die mehr oder weniger subtilen Formen von Manipulation und Machtausübung Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Anderson: Relationale Autonomie 2.0

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zu achten, die dazu führen können, dass die Beteiligung anderer an individuellen Entscheidungsprozessen keine genuin dialogische ist. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Ansätzen, die sich zwar als dialogisch darstellen, stattdessen aber entschieden asymmetrisch sind, wie zum Beispiel das vieldiskutierte »deliberative« Modell der Arzt-Patient-Interaktion, das Linda und Ezekiel Emanuel (1992) entwickelt haben. Dieses Modell ist im Wesentlichen eine Lizenz für Ärzte, Patienten aktiv zur Berücksichtigung von Faktoren anzuhalten, die die Ärzte für wichtig halten und von den Patienten vernachlässigt sehen. Jede plausible relationale Theorie von Entscheidungsprozessen sollte die Bedeutung genuinen Dialogs in den Vordergrund rücken und muss damit Zurückhaltung seitens der Ärzte fordern (vgl. Kukla 2007), und zwar nicht nur aus liberalen Überlegungen heraus, sondern auch aufgrund des intersubjektiven Wesens der Normativität. Auch hier schließen sich wieder wichtige weitere Fragen an. Die Debatte zwischen Liberalen und Relationalisten ist damit nicht abgeschlossen, aber sie ist ein Stück weiter gekommen. Mit sich selbst und anderen rechnen Eine weitere Dimension des Autonomiegedankens, die relationalen Ansätzen besondere Schwierigkeiten bereitet hat, kristallisiert sich in der Überzeugung, dass autonom Handelnde nicht beliebig mit sich umspringen lassen. Sie verfügen über eine Würde und ein Selbstwertgefühl, kraft deren sie einfordern können, ernstgenommen zu werden. Selbst wenn sie sich den Bemühungen anderer, sie zum Schweigen zu bringen oder zu marginalisieren, nicht effektiv widersetzen können, erkennen sie sich selber doch ein Anrecht auf ihren eigenen Standpunkt zu. Die neuere Literatur beschreibt das häufig dahingehend, dass Autonomie eine »Selbstautorisierung« beinhalte (Benson 2005; Mackenzie im Ersch.; vgl. Habermas 1988, der von »Selbstvergewisserung« spricht). Im äußersten Fall läuft fehlende Selbstautorisierung auf Selbstauslöschung und Rückgratlosigkeit hinaus, allerdings gibt es hier durchaus Abstufungen. Relationale Ansätze müssen die Frage beantworten, welche Rolle unsere Beziehungen zu anderen für die Aufrechterhaltung und Absicherung einer angemessenen Form von Selbstautorisierung spielen. Die klassisch liberale Position betont hier die letztgültige und gewissermaßen automatisch gegebene Autorität des Individuums hinsichtlich der Frage, was es aus seinem Leben machen möchte. Im Bereich persönlicher Entscheidungen (und auch im Hinblick darauf, wie man sich positioniert, wenn andere mit betroffen sind) erfordert »sich selbst treu zu sein«, niemandem als sich selbst Rechenschaft ablegen zu müssen. Mit dieser Vorstellung verbindet sich häufig eine Betonung von Entschiedenheit, »ungeteiltem Willen«, Autarkie und Selbstvertrauen als Merkmalen davon, »selbst seinen Mann zu stehen«. Das autonome Individuum wird nicht von Zweifeln zernagt und ist nicht auf die Zustimmung anderer angewiesen, um seine eigene Route erkennen zu können. Relationalisten wenden dagegen ein, dass diese Betonung von Entschiedenheit, ungeteiltem Willen und Zutrauen in die eigenen Entscheidungen Autonomie mit erkenntnistheoretischem Machismo verwechselt. Die Komplexität von Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Prozessen des Selbstverstehens verlange vielmehr nach einer gewissen Bescheidenheit hinsichtlich der Überzeugung, wir wüssten, was wir wirklich wollen. Charles Taylor hat dargelegt, dass kritische Reflexion zu einer höchst schwierigen Aufgabe wird, sobald wir uns über den Bereich bloßer Präferenzen hinausbegeben (so z. B. Taylor 1989). Schwierig ist diese Aufgabe deshalb, weil man dabei in die Irre gehen kann, weil man sie also besser oder schlechter bewältigen kann. Damit gewinnt das Verständnis von Autonomie eine »relationale« Dimension, zumindest in dem Sinne, dass das Bemühen, sich selbst zu verstehen, einen an intersubjektive Bewertungsmaßstäbe bindet, deren Autorität man nicht ohne weiteres zurückweisen kann. Selbstautorisierung besteht daher aus Sicht der Relationalisten nicht in einer dezisionistischen Behauptung personaler Autorität, sondern vielmehr in der Fähigkeit, anderen gegenüber für sich selbst einstehen zu können (Anderson 2003; Brandom 2009, Kap. 2; Westlund 2003). Liberale sind geneigt, auf diese Thesen mit zwei verwandten Arten von Überlegungen zu antworten: Zum einen stehen sie der Möglichkeit intersubjektiver Übereinstimmung im Bereich persönlicher Entscheidungen skeptisch gegenüber, und zum anderen misstrauen sie der Vorstellung, dass irgendjemand für solche Entscheidungen solle einstehen müssen. Der erste dieser beiden Gedanken ist für Liberale fundamental: Es ist die von naturalistisch-empiristischen Annahmen geprägte Idee, dass die persönlichen Entscheidungen, die im Zentrum personaler Autonomie stehen, letztlich Geschmacksfragen und damit jeder Debatte enthoben sind. So gesehen gibt es weniges, woran sich die »Richtigkeit« kritischer Reflexionsprozesse bemessen ließe. Infolgedessen – und das ist der zweite Gedanke – wäre es unangebracht und politisch gefährlich, zu meinen, personale Autorität sei auf intersubjektive Zustimmung angewiesen. Sicherlich gibt es Fälle, in denen Individuen gewissen Minimalanforderungen von Rationalität oder Verständlichkeit nicht genügen, aber abgesehen von solchen klinischen Fällen besteht keine Verpflichtung, anderen Rede und Antwort zu stehen, außer insoweit man eine solche Verpflichtung als Bestandteil seiner freiwilligen Beziehungen mit konkreten anderen Individuen in Kauf nimmt. Wie ich bereits eingangs bemerkt habe, ergeben sich in diesem Bereich besonders komplexe Fragen an relationale Theorien, insbesondere solche (wie zum Beispiel feministische), deren Gegnerschaft zum liberalen Individualismus zum Teil aus einer Besorgnis über Fälle herrührt, in denen Individuen personale Autonomie abgesprochen wird. Viele Feministinnen und Feministen, die ansonsten mit relationalen Ansätzen sympathisieren, haben ernsthafte Schwierigkeiten mit dem Gedanken, dass personale Autorität von der Fähigkeit abhängig sein könnte, Anerkennung zu gewinnen. In dieser Hinsicht befürworten sie dementsprechend einen liberalen Ansatz (so z. B. Friedman 2003). Für Relationalisten bieten sich hier allerdings diverse Antwortstrategien, von denen ich drei nennen möchte. Erstens gibt es relationale Ansätze, die wie folgt argumentieren: Wenn es stimmt, dass Orientierung durch kritische Reflexion für Autonomie wesentlich ist, dann ist Autonomie nicht mit der Weigerung vereinbar, die eigenen Überzeugungen kritischen Nachfragen auszusetzen, woher auch immer diese stamClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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men mögen. So verstanden liefe eine Abschottung gegenüber Kritik auf die Zerstörung der eigenen Autonomie hinaus. Man könnte auch sagen, dass Autonomie bedeutet, sich selbst als rechtfertigungs- oder erklärungspflichtig gegenüber anderen und als solcher Rechtfertigung prinzipiell fähig zu begreifen (Anderson 1994; Anderson 1996; Benson 1991; Westlund 2003; Westlund 2009). Zweitens vertreten Liberale häufig die Auffassung, die Forderung nach Rechtfertigung gegenüber anderen öffne solch paternalistischen Eingriffen Tür und Tor (Ach, Schöne-Seifert 2013). Aber der Gedanke einer Rechtfertigungspflicht gegenüber anderen muss keineswegs so verstanden werden, als solle man die eigenen Entscheidungen jeder anderen Person und zu jedem Zeitpunkt erklären können. Vielmehr kann man sich diesen Gedanken zu eigen machen und dennoch darauf bestehen, dass Forderungen nach Rechtfertigung nur innerhalb starker rechtlicher, institutioneller und kultureller Grenzen angebracht sind. An anderer Stelle habe ich das als eine »Ethik der Rechtfertigungspraktiken« beschrieben (Anderson 1996). Worum es hier geht, ist eher, dass ein Mangel an prinzipieller Bereitschaft zur Selbstrechtfertigung mit Autonomie unvereinbar ist, insofern er auf eine Zurückweisung jeder Rechtfertigungspflicht hinausläuft. Drittens spricht vieles dafür, dass Selbstautorisierung nur dann ein wirkliches Gut bedeutet, wenn sie eine risikobehaftete Leistung darstellt, anstatt dass ihr Erfolg von selbst garantiert wäre. Schließlich empfindet eine sich selbst autorisierende Person – eine Person, die sich selbst einen Anspruch darauf zuerkennt, ernstgenommen zu werden und nicht beliebig mit sich umspringen zu lassen – diesen Status als einen, den sie performativ behauptet und der sich überhaupt nur in einem relationalen oder intersubjektiven Sinne verstehen lässt. So gesehen ist Selbstautorisierung ein Modus der Selbstvergewisserung, in dem wir gegenüber anderen für uns selbst bürgen (Habermas 1988; Benson 2005). Liberale neigen dazu, den Moment der Auslieferung an die kritischen Nachfragen anderer als einen Moment der Unterwerfung und des Machtverlustes anzusehen. Damit übersehen sie aber die Tatsache, dass Selbstautorisierung wesentlich in einer performativen Behauptung besteht. Indem wir handeln und entscheiden, behaupten wir uns selbst und verbürgen uns für die Angemessenheit und Verständlichkeit unseres Handelns. Indem ich für mich selbst bürge – indem ich für mich selbst die Autorität reklamiere, sprechen zu dürfen – appelliere ich an andere, diesen Status anzuerkennen. Das geht über die bloße Präferenz hinaus, an meinem Handeln nicht gehindert zu werden. Selbstautorisierung in dem hier relevanten Sinne ist etwas, das ich nicht alleine leisten kann. Autonomes Angewiesensein auf eine unterstützende Welt Das liberale Standardverständnis von Autonomie behandelt die Frage, ob eine Person autonom ist, als eine, die sich unter Absehung von der gesellschaftlichen Umwelt dieser Person beantworten lässt. Aus dieser Sicht ist Autonomie eine Tatsache, die ausschließlich auf das Individuum verweist, nicht auf die Gesellschaft, durch die es geformt wird. Gesellschaftlicher Zwang, ein Mangel an Chancen oder soziale Missachtung können demzufolge Einschränkungen des Wohlbefindens oder der Freiheit zur Folge haben, aber sie wirken sich nicht Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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notwendigerweise auf die Autonomie einer Person aus. Vielmehr ist Autonomie gerade in Fällen von Unterdrückung und Marginalisierung von besonderer Bedeutung und tritt umso eindrucksvoller zutage, nämlich an vorbildhaften Personen, denen es gelingt, ihre individuelle Würde und ihre grundlegenden Überzeugungen zu bewahren. Dieser Sichtweise zufolge wäre es ein gravierender Fehler, zu meinen, dass Menschen, die unter widrigen Bedingungen leben, deshalb nicht autonom seien. Aus der Perspektive eines relationalen Ansatzes übersieht ein solcher individualistischer Zugang die vielfältige Verflochtenheit der eigenen Autonomie mit den Umständen, in denen man sich befindet. Mehr noch als die anderen Stränge relationaler Theorien nimmt dieser Einwand ganz unterschiedliche Formen an. Ich werde mich hier auf zwei Argumente konzentrieren. Dem einen geht es um die unterstützende Rolle der Umwelt für die psychologischen Mittel, die die Ausübung von Autonomie ermöglichen; das andere richtet sich auf die Beeinträchtigung der Chance, ein eigenes Leben zu führen (im Unterschied zu dem Leben, das man am liebsten führen würde), wenn die eigenen Bestrebungen von anderen nicht anerkannt werden. Das erste Argument lautet, dass alle bislang angesprochenen Dimensionen der Autonomie – die Fähigkeit zum Dialog, die Fähigkeit, sich in soziale Beziehungen einzufinden und die Fähigkeit, sich gegenüber anderen zu rechtfertigen – die Entwicklung bestimmter mentaler Kompetenzen und praktischer Selbstverhältnisse voraussetzen. Relationalisten haben immer wieder betont, dass unser Nachdenken über Autonomie von Anfang an in die Irre geht, wenn wir uns das von Hobbes geschilderte Bild zu eigen machen, wir seien »gerade eben erst aus der Erde geschossen und plötzlich, wie Pilze, zu voller Reife gelangt, ohne jegliche Art von Beziehung zueinander« (vgl. die Diskussion dieses Zitats aus De Cive bei Benhabib 1992, 156). Wir werden weder mit der Fähigkeit zur kritischen Reflexion geboren, noch mit der Fähigkeit, unsere eigenen Bedürfnisse und Gefühle adäquat zu interpretieren oder uns unsere Überzeugungen im vollen Sinne anzueignen. Diese Fähigkeiten können sich nur auf dem Wege der Sozialisierung entwickeln. Autonomie ist daher nur unter gesellschaftlichen Bedingungen möglich, die die erforderlichen Formen der Sozialisierung stützen. Hier verweisen Relationalisten darauf, dass die liberale Besorgnis hinsichtlich der Bedrohungen, die von Sozialisierungsprozessen für die Autonomie ausgehen, in den breiteren Kontext der grundsätzlichen Notwendigkeit von Sozialisierung gerückt werden muss (Benson 1991; Meyers 1987; Meyers 1989). Eine ähnlich Stoßrichtung verfolgen weitere Argumente, die der Anerkennungstheorie entstammen und denen zufolge »die Handlungskompetenzen, die zur Autonomie gehören, erfordern, dass man dazu fähig ist, bestimmte Einstellungen gegenüber sich selbst (insbesondere Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung) aufrechtzuerhalten und dass diese affektgeladenen Selbstkonzeptionen – oder, um es hegelianisch auszudrücken, diese »praktischen Selbstbezüge« – ihrerseits von den Einstellungen anderer gestützt werden.« (Anderson, Honneth 2005, 130–131; vgl. auch Honneth 1992).

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Die Misshandlung, Missachtung oder Erniedrigung von Menschen schädigt diese dann nicht nur in ihrem Wohlergehen, sondern auch hinsichtlich der psychologischen Ressourcen, mithilfe deren sie ein autonomes Leben führen können. Der zweite der beiden genannten Argumentationswege behauptet, dass interne, psychologische Merkmale für Autonomie nicht hinreichend sind und dass die eigene gesellschaftliche Situation sich darauf auswirkt, in welchem Maße man als autonom gelten kann. Einer prominenter Fürsprecher dieses Gedankens ist Joseph Raz, der es für eine notwendige Bedingung von Autonomie hält, dass die gesellschaftliche Umgebung einer Person unterschiedliche Optionen im Hinblick auf ihre Lebensführung bietet und dass diese Optionen sowohl genuin wertvoll als auch für die Person effektiv verfügbar sind (Raz 1986, Kap. 14–15). In jüngerer Zeit ist insbesondere Marina Oshanas »sozial-relationaler« Ansatz breit diskutiert worden, insofern er sich ausdrücklich von den »internalistischen« Annahmen liberaler Theorien distanziert (Oshana 2006). Oshana verweist auf Fälle, in denen Individuen zwar gängige liberale Maßstäbe individueller Autonomie erfüllen, dabei aber Formen der Herrschaft und der Entmächtigung unterworfen sind, die sie daran hindern, effektive Kontrolle über ihre Lebensumstände auszuüben. Wenn die gesellschaftlichen Bedingungen die Möglichkeit vereiteln, ein eigenes Leben zu führen, dann ist Oshana zufolge Autonomie nur in einem reduzierten Sinne gegeben – selbst wenn die interne psychologische Verfassung der Person keinen Anlass gibt, ihre Autonomie zu bezweifeln. Die liberale Reaktion auf beide Argumente lautet, dass die Bedeutung solcher unterstützenden Umstände entweder von liberalen Ansätzen berücksichtigt werden kann oder aber aufgrund ihrer »perfektionistischen« Implikationen zurückgewiesen werden sollte. So argumentiert etwa Christman im Hinblick auf die These, die Entwicklung und Ausübung von Autonomie bedürfe unterstützender gesellschaftlicher Umstände, dass solche Umstände als »Hintergrundbedingungen« individueller Autonomie zu betrachten und insofern – empirisch gesehen – tatsächlich in vielen Fällen für Autonomie erforderlich seien. Zugleich hält er aber an der »begrifflichen« These fest, dass gesellschaftliche und relationale Bedingungen keine irgendwie geartete konstitutive Rolle für individuelle Autonomie spielen. Zudem gestehen Christman und andere Liberale zu, dass bestimmte Anerkennungsbeziehungen für bestimmte Formen der Autonomiekompetenz förderlich und vielleicht sogar entwicklungspsychologisch notwendig sein mögen. Aber auch damit sei noch nicht von konstitutiven Bedingungen von Autonomie die Rede – und gerade auf diese stärkere These legten sich Relationalisten fest. Schließlich scheint es so zu sein, dass bei manchen Menschen auch unter besonders widrigen Umständen die einmal entwickelte Selbstachtung und Selbstwertschätzung erhalten bleiben. Wichtiger noch ist der liberale Einwand, dass die relationale These eine Form des Perfektionismus impliziert und dazu führt, dass Individuen eine substantielle Konzeption davon aufgedrängt wird, welche Art von Persönlichkeit sie als autonom Handelnde haben müssten. So argumentiert zum Beispiel Christman im Zuge seiner Kritik an Oshana wie folgt: Wenn Relationalisten darüber hinausgehen, auf den Nutzen unterstützender gesellschaftlicher oder psychologischer Bedingungen hinzuweisen und letztere als mit konstitutiv für AutoClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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nomie betrachten, dann verpflichten sie sich zugleich darauf, Individuen personale Autonomie abzusprechen, sobald die relevanten Bedingungen nicht gegeben sind – ganz gleich, ob diese Individuen selber die Bedingungen für wichtig halten oder nicht. Hier gelangt die Debatte zwischen liberalen Individualisten und Relationalisten an einen besonders interessanten Punkt, von dem aus sich mehrere Richtungen eröffnen. Ich möchte hier nur zwei Argumentationslinien erwähnen; fraglos sind in diesem Bereich weitere Untersuchungen erforderlich. Erstens können Relationalisten Zweifel an der liberalen Annahme anmelden, dass sich eine trennscharfe Unterscheidung zwischen zuträglichen Hintergrundbedingungen (oder psychologischen Ressourcen) und den strengen, angeblich wertneutralen Erfordernissen der Autonomie treffen lässt. Das liberale Anliegen ist hier natürlich, im Interesse des Pluralismus die Eigenschaft des »Autonom-Seins« so lose wie möglich zu bestimmen und dann breite Variationen hinsichtlich der Realisierung dieser Eigenschaft durch einzelne Personen zuzulassen (vielleicht analog zu Thesen in der Philosophie des Geistes in Bezug auf die multiple Realisierbarkeit funktionaler Eigenschaften). Wenn es sich als empirisch unmöglich herausstellen sollte, bestimmte für Autonomie erforderliche Fähigkeiten – wie zum Beispiel die Fähigkeit zu kritischer Reflexion oder auch zur Selbstinterpretation – dort aufrechtzuerhalten, wo bestimmte Arten sozialer Bedingungen (wie etwa stabile Beziehungen zu anderen) fehlen, dann würde das eine starke Widerlegung dieses liberalen Arguments darstellen. Eher sind aber Schwierigkeiten epistemologischer Art zu erwarten: Es wird sich als sehr problematisch erweisen, zu ermitteln, ob eine Person über die nötigen autonomierelevanten Fähigkeiten verfügt, außer auf dem Wege einer Triangulation zwischen den Selbstauskünften der Individuen, den Einzelheiten ihrer sozialen Situation und schließlich der Evidenz dafür, dass bestimmte gesellschaftliche Bedingungen die Aufrechterhaltung und Ausübung der relevanten Fähigkeiten zu untergraben neigen. Ein zweites relationales Argument zielt darauf ab, ganz grundsätzlich zu überdenken, auf welche Art und Weise soziale Bedingungen auf der Ebene semantischer Ressourcen Autonomie ermöglichen oder »verschaffen«. So hat etwa Nancy Fraser darauf hingewiesen, dass unsere Einstellungen zu dem, was wir für wertvoll erachten, ablehnen, benötigen und so weiter wesentlich auf bestimmten »materiellen und kulturellen Mitteln der Interpretation und der Kommunikation« beruhen (Fraser 1989). Ähnliche Beobachtungen finden sich bei Michel Foucault, Charles Taylor, Jürgen Habermas und Axel Honneth (vgl. insbesondere Anderson, Honneth 2005): Was eine Person überhaupt als eine sinnvolle Art zu leben in Betracht ziehen kann, ist zutiefst von den kulturellen Skripts, den Werthorizonten und den sonstigen semantischen Ressourcen geprägt, die ihr zu Gebote stehen. Schon lange, bevor überhaupt die Frage aufkommt, ob die eigenen Handlungen von anderen bestimmt oder kontrolliert werden, ist man bereits Einschränkungen darin unterworfen, was man überhaupt als wertvolle Optionen wahrnimmt (Honneth 2011). Um ein Beispiel zu nennen: Die Autonomie schwuler und lesbischer Menschen hängt nicht allein davon ab, dass sie etwa nicht ins Gefängnis gesperrt werden, sondern auch von der kulClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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turellen Verfügbarkeit der Chance, sich zum Beispiel ein Leben in einer gleichgeschlechtlichen Ehe auszumalen – also von der Möglichkeit, diese und andere Optionen in die kritische Reflexion darüber einzubeziehen, wie man das eigene Leben führen möchte. Abschließende Bemerkungen Neuere Arbeiten über persönliche Autonomie sind sich zutiefst uneins über die Erfolgsaussichten relationaler Ansätze. Häufig werden die betreffenden Diskussionen aber am jeweiligen Gegner vorbei geführt, weil die unterschiedlichen Stränge der diversen Argumente nicht hinreichend voneinander getrennt werden. Alle Teilnehmer der Autonomiedebatte haben auf die eine oder andere Weise zu der Verwirrung beigetragen. Zugleich haben sie aber eine Reihe wichtiger Überlegungen zur Frage vorgelegt, wie das Verhältnis zwischen Autonomie, Individualität, personaler Autorität, intersubjektiver Rechtfertigung und interpersonalen Beziehungen angemessen zu verstehen ist. Meine Hoffnung ist es, dass die vorangehende Diskussion eine Hilfestellung für die Strukturierung und Neufassung einiger dieser Debatten darstellt und auf diese Weise einen Beitrag zu den fortgesetzten Anstrengungen leisten kann, eine angemessen nuancierte und ausgewogene Theorie der relationalen Dimensionen personaler Autonomie zu entwickeln. 3 Literatur Ach J, Schöne-Seifert B (2013) »Relationale Autonomie« – Eine kritische Analyse. In diesem Band Anderson J (im Ersch.) Regimes of Autonomy. In: Ethical Theory and Moral Practice (im Erscheinen) Anderson J (1994) Starke Wertungen, Wünsche zweiter Ordnung und intersubjektive Kritik: Überlegungen zum Begriff ethischer Autonomie. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42: 97–119 Anderson J (1996) A Social Conception of Personal Autonomy: Volitional Identity, Strong Evaluation, and Intersubjective Accountability. Unveröffentlichte Dissertation. Northwestern University, Evanston /Illinois Anderson J (2003) Autonomy and the Authority of Personal Commitments: From Internal Coherence to Social Normativity. In: Philosophical Explorations 6: 90–108 Anderson J, Honneth A (2005) Autonomy, Vulnerability, Recognition, and Justice. In: Christman J, Anderson J (Hrsg.) Autonomy and the Challenges to Liberalism. Cambridge University Press, Cambridge 127–149

3

Während der Fertigstellung dieses Essays war ich Fellow der Kollegforschergruppe »Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Für die Unterstützung und für die anregende Umgebung, die ich dort vorfand, bin ich äußerst dankbar. Für Diskussionen und Kommentare zu früheren Versionen dieses Aufsatzes danke ich insbesondere Johann Ach, Bettina Schöne-Seifert, Thomas Gutmann, Michael Quante, Annette Dufner, Michael Kühler, Thomas Schramme und Catriona Mackenzie. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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TEIL 2 PATIENTENAUTONOMIE UND RECHT Herausgegeben von G. Duttge, V. Lipp

Gunnar Duttge

Patientenautonomie und Einwilligungsfähigkeit Grundsatz des informed consent Die Arzt-Patienten-Beziehung ist strukturell durch eine signifikante Asymmetrie der Machtverhältnisse geprägt: Auf das ärztliche Behandlungsteam als exklusivem Inhaber des Expertenwissens und Beherrscher der organisatorischen Abläufe richten sich die Hoffnungen des leidenden und bedürftigen Patienten, der sich zudem als »Handlungsobjekt« selbst der ärztlichen Fürsorge überantworten muss. 1 In Abkehr vom hippokratischen Modell einer paternalistisch geprägten Arzt-Patienten-Beziehung 2 betonen deshalb Medizinrecht und -ethik liberalstaatlich verfasster Gesellschaften die Berechtigung jedes einzelnen Patienten auf »Selbstherrschaft« (autos nomos = sich selbst Gesetze gebend) und Mitbestimmung über das »Ob« und »Wie« einer ärztlichen Intervention: »Niemand darf sich zum Richter in der Frage aufwerfen, unter welchen Umständen ein anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine körperliche Unversehrtheit zu opfern, um dadurch wieder gesund zu werden. Diese Richtlinie ist auch für den Arzt verbindlich. Zwar ist es sein vornehmstes Recht und seine wesentlichste Pflicht, den kranken Menschen nach Möglichkeit von seinem Leiden zu heilen. Dieses Recht und diese Pflicht finden aber in dem (. . .) freien Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper ihre Grenze«. 3

Dieses Recht bildet den Kern der würdebegründenden Subjektstellung eines jeden Menschen (»Person«) einschließlich des hieraus resultierenden Achtungsanspruchs, der auch nicht dadurch verloren geht, dass der Patient zur Ausübung 1 2

3

Woopen 2009. Zu den Formen des ärztlichen Paternalismus vgl. Maio (2012, 156 ff.); zu den verschiedenen Modellen der Arzt-Patienten-Beziehung vgl. Ezekiel, Ezekiel (1992). BGHSt 11, 111, 114. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 2: Patientenautonomie und Recht

seines Selbstbestimmungsrechts ggf. nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr imstande ist. Denn das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG »schützt die körperliche Unversehrtheit des Menschen nicht lediglich nach Maßgabe seines jeweiligen konkreten Gesundheits- oder Krankheitszustands; es gewährleistet zuvörderst Freiheitsschutz im Bereich der leiblich-seelischen Integrität des Menschen (. . .) Auch der Kranke oder Versehrte hat das volle Selbstbestimmungsrecht über seine leiblich-seelische Integrität« 4,

so dass jeder therapeutische, aber auch diagnostische wie vorbeugende Heileingriff einer wirksamen Einwilligung bedarf. Die hierin liegende Disposition des Patienten über seine körperliche Unversehrtheit setzt ein ausreichendes Maß an äußerer und innerer Verfügungsfreiheit voraus, was neben der Freiwilligkeit des Entscheidens (d. h. frei von äußerem Zwang) auch die nötige »Kompetenz« auf der Basis umfassenden Verstehens der Situation und aller möglichen Folgen der jeweiligen Entscheidungsoptionen bedingt. 5 Die nötige Einsichts- und Urteilsfähigkeit impliziert ein hinlängliches Aufnahme- und Reflexionsvermögen des individuellen Patienten hinsichtlich der je Eingriff relevanten Informationen, über die er durch den behandelnden Arzt rechtzeitig und laienverständlich aufgeklärt werden muss. Soweit der Patient aufgrund einer unzulänglichen Informationslage, substantieller Mängel bei der Urteilsbildung oder infolge einer eingeschränkten Kontrollfähigkeit nicht mehr imstande ist, die entscheidungserheblichen Optionen zu erkennen bzw. entsprechend seiner »ureigensten Wertmaßstäbe« 6 sachgerecht zu beurteilen, ist er ohne juristische Handlungskompetenz (»Einwilligungsfähigkeit«) und kann sein Selbstbestimmungsrecht somit nicht (mehr) höchstpersönlich ausüben. Für diesen Fall weist das deutsche Recht die Entscheidungsbefugnis einem Stellvertreter (Gesundheitsbevollmächtigten oder Betreuer 7) zu, hilfsweise – in unaufschiebbaren Notfällen – dem behandelnden Arzt, der gleichsam überbrückungshalber gemäß dem »mutmaßlichen Willen« des individuellen Patienten 8 zu entscheiden hat. 9 Materieller Beurteilungsmaßstab Die Einwilligung des Patienten in den ärztlichen Heileingriff ist keine rechtsgeschäftliche Willenserklärung, so dass die für die bürgerlich-rechtliche »Geschäftsfähigkeit« geltenden Altersgrenzen der §§ 104ff. BGB (unbeschränkte Geschäftsfähigkeit erst mit Volljährigkeit) hierfür irrelevant sind. Anstelle dessen bedarf es im jeweils konkreten Einzelfall der Prüfung und Feststellung, ob der individuelle Patient hinreichend einsichts-, urteils- und selbststeuerungsfähig ist. Dazu muss er – so die Grundformel – mit vollem Verständnis der Sachlage 4 5 6 7 8 9

BVerfGE 52, 171, 173 f. Beauchamp, Childress 2009. BVerfGE 52, 171, 178. Vgl. §§ 1896 ff. BGB. Vgl. § 1901a Abs. 2 BGB. BGHZ 154, 205, 211. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Duttge: Patientenautonomie und Einwilligungsfähigkeit

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»Wesen, Bedeutung und Tragweite« 10 bzw. »Art, Bedeutung und Folgen« des konkret bevorstehenden Eingriffs erfassen und damit das Für und Wider seiner Entscheidung (insbesondere im Vergleich zu evtl. Alternativen) gegeneinander abwägen können. 11 Da Bezugsgegenstand stets der jeweils konkret in Rede stehende Heileingriff ist, bildet die Einwilligungsfähigkeit keine starre, sondern eine je nach Komplexität der Sachlage und Reichweite möglicher Folgen variable Größe: Generell sind dabei die Anforderungen bei folgenschweren, mit erheblichen Substanzverlusten verbundenen Interventionen deutlich strenger als bei Bagatellmaßnahmen. 12 Weicht das Votum des Patienten von der »ärztlichen Vernunft« ab, so ist dies für sich kein Indiz für fehlende Einwilligungsfähigkeit, denn »ein selbst lebensgefährlich Kranker kann triftige und sowohl menschlich wie sittlich achtenswerte Gründe haben, eine Operation abzulehnen, auch wenn er durch sie und nur durch sie von seinem Leiden befreit werden könnte«. 13

Entscheidend sind allein die höchstpersönlichen Wertmaßstäbe des jeweiligen Patienten, nicht dasjenige, was andere in einer bestimmten Situation für »richtig« halten. Dementsprechend bedarf es auch in Konstellationen, in denen eine (aus ärztlicher Sicht) »grob unvernünftige« Entscheidung getroffen wird, stets der Ermittlung konkreter Fakten, um von einer mängelbehafteten Entscheidungskompetenz des Patienten ausgehen zu können: Während dies für die Ablehnung von Bluttransfusionen für Angehörige der »Zeugen Jehovas« inzwischen anerkannt ist, 14 hat der Bundesgerichtshof in Strafsachen diese Eigenwertigkeit der Patientenautonomie im »Zahnextraktionsfall« missachtet. 15 In der klinischen Praxis wird schon der Individualität der Willensbildung wegen eine »vollkommene Autonomie« stets unerreichbares Ideal bleiben; deshalb muss eine Entscheidung des Patienten bereits dann respektiert werden, wenn sie unter den obwaltenden Umständen »so autonom wie möglich« getroffen wird und »keine offensichtlichen Mängel« der Einsichts-, Urteils- oder Steuerungsfähigkeit erkennbar sind. 16 Während bei volljährigen Patienten damit grundsätzlich – vorbehaltlich konkreter Verdachtsmomente (z. B. hohes Alter, Medikamenteneinfluss, Anhaltspunkte für Demenz, Depression) – vom Vorhandensein der nötigen »Mündigkeit« ausgegangen werden kann, bildet die Minderjährigkeit des Patienten einen triftigen Anlass für eine sorgfältige Einzelfall10 11

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BGH NStZ 1981, 351. BGHZ 29, 33, 36; 176, 180; BGHSt 12, 379, 382 f.; NStZ 2000, 87; siehe jetzt auch § 630e Abs. 1 S. 2 BGB i.d.F. des Patientenrechtegesetzes 2012: »Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten«. Ulsenheimer 2010, § 139 Rn. 43. BGHSt 11, 111, 114. Vgl. OLG München MedR 2003, 174 ff.; LG Frankfurt a. M. FamRZ 2003, 632 f.; zur grundrechtsverstärkenden Wirkung der Glaubensfreiheit – Art. 4 GG, Art. 9 EMRK – vgl. BVerfGE 32, 96 ff. und EGMR NJOZ 2011, 1502 ff.; siehe auch Hillenkamp (2007). Vgl. BGH NJW 1978, 1206; zuletzt abl. Duttge 2005. Harris 1995, 277 f. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 2: Patientenautonomie und Recht

prüfung. Maßgeblich ist dabei die jeweilige »geistige Reife« des Jugendlichen, d. h. seine »intellektuell-emotive Basis« 17 für eine »freiverantwortliche« Entscheidung, für die es wegen der Variationsbreite und Prozesshaftigkeit der Reifeentwicklung keine starren (generellen) Altersgrenzen geben kann. Dennoch hat sich in der Praxis im Sinne einer ersten Orientierung – vorbehaltlich der unverzichtbaren Einzelfallprüfung – eine altersentsprechende Stufung herausgebildet: Danach wird es vor Vollendung des 14. Lebensjahres (bei »Kindern«) in der Regel an der nötigen Einwilligungsfähigkeit fehlen, 18 während nach Vollendung des 16. Lebensjahres meist von einer bereits vorhandenen Einwilligungsfähigkeit ausgegangen werden darf; 19 für die Altersspanne zwischen dem 14. und 16. Lebensjahr besteht dagegen keine Regelvermutung (und ist die Beurteilung primär von der Komplexität und Gefährlichkeit des Eingriffs wie von seiner Dringlichkeit abhängig). 20 Je mehr es sich um eine reine Routinebehandlung oder um einen dringlichen lebensrettenden Eingriff handelt und das Alter des Jugendlichen sich der Volljährigkeitsgrenze nähert, desto eher kann diesem die nötige Verstehens- und Entscheidungskompetenz zugeschrieben werden. 21 Die generelle Tendenz der bisherigen Judikatur ist allerdings eher restriktiv, so dass die Einwilligungsfähigkeit eines Minderjährigen mit besonderer Sorgfalt festgestellt und dokumentiert werden sollte. Umstritten sind bislang die Rechtsfolgen bei festgestellter Einwilligungsfähigkeit des Minderjährigen im Hinblick auf das Erziehungsrecht der Personensorgeberechtigten (i. d. R. der Eltern) 22: Konsequent wäre die Annahme eines Alleinentscheidungsrechts des Minderjährigen, dem doch die nötige Befähigung zur Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts zugeschrieben worden ist; 23 denn das Elternrecht als pflichtgebundene, stets auf das Kindeswohl bezogene Berechtigung wird »in dem Maße, in dem das Kind in die Mündigkeit hineinwächst, überflüssig und gegenstandslos«. 24 Dem Minderjährigen einerseits eine ausreichende Kapazität an Urteilskraft zuzugestehen und ihn andererseits gleichwohl in der Abhängigkeit von der Fürsorge seiner Eltern zu belassen (und sei es auch nur in Form eines Vetorechts der Eltern), kommt einem Wertungswiderspruch nahe, zumal die Präferenzen der Eltern aus der Perspektive des Urteilsfähigen letztlich denselben Stellenwert besitzen wie die eines beliebigen Dritten: Es sind eben nicht die eigenen. 25 Die wohl noch vorherrschende Rechtsansicht

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Paeffgen 2010, § 228 StGB Rn. 19. Vgl. Geilen (2009, Rn. 430), allerdings für den »Bagatellbereich« Ausnahmefälle anerkennend; Odenwald (2003, 124 ff); Spickhoff (2000, 2299 f.); für einen 9-Jährigen klar ablehnend: LG Frankenthal MedR (2005, 243, 244 f.). AG Schlüchtern NJW 1998, 832 f. Vgl. BGH NJW (1970, 511, 512); BayObLG NJW (1999, 372); LG München NJW (1980, 646); Ulsenheimer (2010, § 139 Rn. 45). BGHZ 12, 379, 283. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, §§ 1626 ff. BGB. So z. B. Ulsenheimer 2010, § 139 Rn. 48. BVerfGE 59, 360, 387. Treffend Harris 1995, 297. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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geht hingegen von einer kumulativen Entscheidungsbefugnis von Minderjährigem und Personensorgeberechtigten aus, weil das Erziehungsrecht erst mit Eintritt der Volljährigkeit gänzlich entfalle. 26 Die damit angestrebte Gleichrangigkeit des Minderjährigen gegenüber seinen Personensorgeberechtigten ist aber in Wahrheit nur eine scheinbare, weil seine Entscheidungen trotz höchstpersönlicher Betroffenheit nach wie vor keine vollumfängliche Anerkennung finden; im Übrigen lässt sich rechtsdogmatisch kaum begründen, warum hinsichtlich ein und derselben Entscheidungssituation die Wahl der einer Option (Einwilligung) unter erschwerteren Bedingungen durchsetzbar sein soll als die Wahl der gegenteiligen (Ablehnung), ebenso wie sich die bei Ablehnung des Heileingriffs ggf. ergebende Verschlechterung des Gesundheitszustands mit der treuhänderischen Fürsorge der – angeblich fortgeltenden – elterlichen (Mit-)Verantwortung vereinbaren lässt. Diese Einwände beanspruchen erst recht Geltung mit Blick auf jene Auffassung, die – noch restriktiver – das Entscheidungsrecht grundsätzlich bei den Sorgeberechtigten belassen und dem Minderjährigen lediglich ein Vetorecht zugestehen will. 27 Fehlt dem Minderjährigen hingegen das erforderliche Mindestmaß an »geistiger Reife«, so muss das Einverständnis der Sorgeberechtigten eingeholt werden; sofern das Sorgerecht nicht einem Elternteil allein übertragen ist, kann die Entscheidung nur gemeinschaftlich getroffen werden. 28 Welche Anstrengungen dem behandelnden Arzt abverlangt sind, um sich hierüber Gewissheit zu verschaffen, ist nach der vom Bundesgerichtshof in Zivilsachen entwickelten »Dreistufentheorie« von der Schwere und Risikoträchtigkeit der geplanten Intervention abhängig: 29 In alltäglichen »Routinefällen« (z. B. einfache Untersuchung, Blutabnahme) darf sich der Arzt, solange ihm nicht Gegenteiliges bekannt ist, »ungefragt auf die Ermächtigung des erschienenen Elternteils zum Handeln für den anderen verlassen«; bei »Eingriffen schwererer Art mit nicht unbedeutenden Risiken« müsse er sich hingegen durch Rückfrage beim erschienenen Elternteil »vergewissern, ob dieser die Ermächtigung des anderen hat und wie weit diese reicht«; handelt es sich jedoch um eine »große Operation mit schwierigen, weit reichenden Entscheidungen und erheblichen Risiken«, bedarf es der ausdrücklichen Zustimmung beider (sorgeberechtigten) Elternteile, was der behandelnde Arzt ggf. durch Rücksprache mit dem nicht erschienenen Elternteil sicherstellen muss. Besteht zwischen den Sorgeberechtigten ein nicht auflösbarer Dissens oder wird die Zustimmung trotz dringlicher Indikation verweigert (z. B. die lebensrettende Bluttransfusion wegen Mitgliedschaft der Eltern in der Gemeinschaft 26

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Dazu Deutsch, Spickhoff (2008, Rn. 686); Kohte (1985, 143 ff.); jedenfalls »in besonders gravierenden, für das weitere Leben des Minderjährigen folgenschweren Entscheidungen« ebenso Coester-Waltjen (2012); i.S. einer kumulativen Zustimmungsbedürftigkeit auch § 40 Abs. 4 Nr. 3 S. 4 AMG für die Teilnahme an klinischen Arzneimittelprüfungen. So zuletzt BGH MedR (2008, 289 ff.) für den Fall eines nur relativ indizierten Eingriffs; weiterhin OLG Stuttgart NJW-RR (2011, 747 ff.); Geiß, Greiner (2009, C Rn. 115); vertiefend Paeffgen (2010, § 228 StGB Rn. 16: »Veto-Kompetenz«). §§ 1626, 1629 BGB. BGH NJW 1988, 2946 ff.; GesR 2010, 479, 480 f. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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»Zeugen Jehovas«), so ist das Familiengericht nach Maßgabe des Kindeswohls zur Entscheidung berufen. 30 Wenn nach herkömmlicher Auffassung Adressat der ärztlichen Aufklärung grundsätzlich nur derjenige ist, dem die Gesundheitsfürsorge für den Minderjährigen obliegt, dann beschränkt sich diese bei dessen Einwilligungsunfähigkeit allein auf eine solche gegenüber den Personensorgeberechtigten. 31 Eine kinderfreundlichere Auffassung verlangt demgegenüber eine – laienverständliche und adressatengerechte – Veranschaulichung des Bevorstehenden auch dem kindlichen Patienten gegenüber, dem gleichermaßen Respekt und Ernstnahme seiner Befindlichkeiten geschuldet ist. 32 Ob bei Vorliegen eines gewissen Grundverständnisses auch »unterhalb« der Einwilligungsfähigkeit – jenseits von dringend indizierten Heileingriffen – eine sog. »Vetofähigkeit« kraft »natürlichen Willens« anerkannt werden kann, wie sie im arzneimittelrechtlichen Kontext ihren gesetzlichen Niederschlag gefunden hat, 33 ist bislang nicht geklärt (siehe u. »aktuelle Tendenzen«). Sonderkonstellationen Von erheblicher praktischer Bedeutung ist die hier verhandelte Thematik für das Verschreiben von Kontrazeptiva, was nach den älteren Leitsätzen der Bundesärztekammer (BÄK) von 1975 bei Mädchen unter 16 Jahren überhaupt nicht und bei solchen in der Altersgruppe von 16–18 Jahren nur mit Zustimmung der Eltern für akzeptabel gehalten wurde. 34 In der überarbeiteten Fassung aus dem Jahr 1984 wird hingegen die Auffassung vertreten, dass bei 16-Jährigen – vorbehaltlich der aus dem Aufklärungsgespräch zutage tretenden Erkenntnisse – von der nötigen Einwilligungsfähigkeit regelmäßig ausgegangen werden dürfe. 35 Die im November 2011 aktualisierte Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) geht noch wesentlich weiter und sieht – »nach sorgfältiger Prüfung« – schon 14–16-Jährige u.U. als hinreichend einsichtsfähig an, »in Ausnahmefällen« selbst Patientinnen unter 14 Jahre. 36 Die dabei leitende Erwägung, wonach die Alternative nicht »Geschlechtsverkehr ja oder nein«, sondern »Geschlechtsverkehr mit oder ohne Verhütungsmittel« laute, 37 ist im Sinne einer pragmatischen Folgenabschätzung verständlich, vermag für sich jedoch das Verordnen hochwirksamer Hormone nicht zu legi30

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§ 1666 BGB, §§ 151 ff. FamFG; vgl. auch OLG Celle NJW (1995, 792 f.); OLG Hamm NJW (1968, 212, 213); Diederichsen (1995, 102 f.); allein die Mitgliedschaft bei den »Zeugen Jehovas« steht aber der Übertragung der elterlichen Sorge noch nicht entgegen: OLG Düsseldorf NJW-RR (1996, 390 ff.); OLG Hamm NJWE-FER (1997, 54); OLG Karlsruhe FamRZ (2002, 1728 f.). BGH MedR 2008, 289 f.; Lipp 2008. Näher Rothärmel, Wolfslast, Fegert 1999. Vgl. § 40 Abs. 4 S. 3 AMG: »ist zu beachten«; in diesem Sinne Ulsenheimer (2010, § 139 Rn. 47). DÄBl. 1975, A-2521 ff. DÄBl. 1984, A-3170 ff. Stellungnahme der DGGG zu Rechtsfragen bei der Behandlung Minderjähriger, Nov. 2011, Ziff. 2.2. Ebd.: »kleineres Übel« gegenüber Schwangerschaftsabbruch. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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timieren: 38 Denn sie verfehlt die eigentliche Aufgabenstellung (konkret-individuelle Feststellung der Einwilligungsfähigkeit) und verleitet Ärzte tendenziell zur wirkmächtigen Gehilfenschaft beim Bestreben der Minderjährigen, sich der elterliche Fürsorge heimlich zu entziehen. Das (straf-)rechtliche Risiko mag somit im Hinblick auf den Vorwurf einer Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Kindern 39 bzw. einer Förderung sexueller Handlungen Jugendlicher 40 de facto (ungeachtet der juristischen Begründungsschwierigkeiten: »erlaubtes Risiko«, soweit medizinisch indiziert?, kein Beihilfevorsatz?, rechtfertigende Pflichtenkollision?) gering sein: 41 Es liegt jedoch offen zutage, wenn ärztlicherseits ein hinreichendes Erfassen der aus der Gabe des Kontrazeptivums resultierenden (Neben-)Wirkungen sowie die Fähigkeit zur Abwägung über das Für und Wider der sich bietenden Alternativen im konkreten Einzelfall nicht zweifelsfrei festgestellt wird. Selbst im Falle der Einwilligungsunfähigkeit darf das Mädchen jedoch die Einnahme verweigern und kann auch von ihren Sorgeberechtigten nicht dazu gezwungen werden, weil ihre »Vetomündigkeit« weiter reicht. 42 Während die Sterilisierung wegen ihrer Eingriffstiefe und sehr wahrscheinlichen Irreversibilität bei Minderjährigen von Gesetzes wegen verboten ist, 43 wird in Bezug auf Schönheitsoperationen ein entsprechendes Verbot bislang kontrovers diskutiert. 44 Viele halten es für ein begrüßenswertes rechtspolitisches Anliegen, derart »unvernünftige Modetorheiten« durch gesetzliche Beschränkung der Patientenautonomie nach Möglichkeit zu verhindern oder jedenfalls unter den Vorbehalt einer Zustimmung der Eltern zu stellen. 45 Die verfassungsrechtliche Legitimationsproblematik einer generalisierenden Verbotsregelung liegt freilich auf der Hand, weil sich dadurch auch jene »entmündigt« sähen, die »eigentlich« als einwilligungsfähig gelten: Wohlverstandene Patientenautonomie begünstigt zwar durch Aufklärung und Beratung(sangebote) eine reflektierte Entscheidung, die aber in letzter Konsequenz stets von der betroffenen Person selbst gefällt wird – und es ist kein legitimes Anliegen, durch ein apodiktisches Verbot möglichen Zweifeln bei der Zubilligung der nötigen Einwilligungsfähigkeit abzuhelfen. Diese steht zudem in keinerlei Zusammenhang mit einem evtl. Indikationsmangel. 46 Kosmetische Eingriffe gegen den Willen des Minderjährigen sind allerdings stets unzulässig; bei nichteinwilligungsfähigen Kindern dürften sich die grundlegenden (verfassungs- und menschenrechtlichen) Bedenken gegen eine medizinisch nicht indizierte (mithin fremdnützige) Beschneidung (sog. Zirkumzision von Knaben) allein aus Gründen der Religionsausübungsfreiheit der 38 39 40 41 42 43 44 45

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Ebenso Laufs 2009, Kap. VII, Rn. 75. §§ 176, 176a, 27 StGB. § 180 Abs. 1 StGB. Laufs 1992, 123 f.; Ulsenheimer 2008, Rn 109h. Laufs 2009, Kap. VII, Rn. 79; dazu auch u. »aktuelle Tendenzen«. § 1631c BGB. becklink 1019788. Dazu Spickhoff (2012a, 16; 2012b, 1774); dagegen Kern (1994, 756): Eltern dürfen nicht in nicht-indizierte Maßnahmen einwilligen. zutr. Joost 2010, 417. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Eltern 47 auch durch die inzwischen verabschiedete gesetzliche Regelung 48 nicht ohne weiteres ausräumen lassen. 49 Auch für die Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs wird – sei es nach Pflichtberatung innerhalb der ersten zwölf Wochen p.c. 50 oder im Rahmen der medizinisch-sozialen Indikation 51 – zum Teil stets die Zustimmung der Sorgeberechtigten verlangt. 52 Diese restriktive Haltung findet sich jedoch in neuerer Zeit zunehmend dahin relativiert, dass der elterliche »Fürsorgevorbehalt« nur noch dann Geltung beanspruche, wenn das Austragen des ungeborenen Kindes mit dem Risiko eines schweren Gesundheitsschadens verbunden sei. 53 Konsequenterweise sollte jedoch auch hier allein die Einwilligungsfähigkeit der Schwangeren maßgeblich sein; 54 ihre Feststellung erfordert allerdings mit Blick auf das Lebensrecht des Ungeborenen 55 sowie der besonderen Tragweite der Entscheidung größte Sorgfalt und ein deutlich erhöhtes Maß an persönlicher »Reife«. 56 Ist die Schwangere einwilligungsunfähig, kann die Entscheidung der Sorgeberechtigten nur bei Verdacht eines Missbrauchs des Erziehungsrechts (d. h. bei manifester Kindeswohlgefährdung) durch das Familiengericht korrigiert werden. 57 Vorstellen lässt sich dies vor allem für den Fall eines beharrlichen Abbruchsverlangens gegen den »natürlichen« Willen der Minderjährigen, 58 jedenfalls soweit nicht der medizinischen Indikation herausragendes Gewicht zukommt, u.U. aber auch bei Verweigerung der Zustimmung, sofern die Schwangere dadurch ihrem ungewissen Schicksal überlassen wird. 59 In Fällen einer (versuchten) Selbsttötung besteht schon von rechtsethischer Warte aus Dissens, ob das Leben für den Einzelnen insoweit überhaupt disponibel ist. 60 Sofern man dies heute auf dem Boden einer freiheitlich verfassten Gesellschaftsordnung nicht mehr kategorisch bestreiten 61 und daher annehmen will, dass das Selbstbestimmungsrecht (des Patienten) auch die »Selbstbe-

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Für eine Strafbarkeit LG Köln NJW (2012, 2128 ff.); Bernat (2012); Herzberg (2009; 2012a); Putzke (2008); dagegen Beulke, Dießner (2012); Schwarz (2008); Zähle (2009). § 1631d BGB i.d.F. des Regierungsentwurfes v. 5. 11. 2012, BT-Drucks. 17/11295. Eingehend Czerner 2012; Herzberg 2012b. § 218a Abs. 1 StGB: »Verlangen«. § 218a Abs. 2 StGB: »Einwilligung«. OLG Hamm NJW 1998, 3424 f.; AG Celle NJW 1987, 2307 ff. Fischer 2011, § 218a Rn. 16a. So auch LG München I NJW (1980, 646); Deutsch, Spickhoff (2008, Rn. 741) unter Hinweis auf die internationale Entwicklung. BVerfGE 39, 1 ff.; 88, 203 ff. So auch die Stellungnahme der DGGG zu Rechtsfragen bei der Behandlung Minderjähriger (Nov. 2011, Ziff. 2.5); Duttge (2011a, §§ 218, 218a StGB Rn. 21). § 1666 BGB, §§ 151 ff., 157 FamFG. Kern 1994, 754: »in ihren Körper darf kein Zwangseingriff vorgenommen werden«. Eser, Koch 1987, 28 f. Dazu im Überblick Duttge 2004. So aber BGHSt 6, 147, 153 unter Verweis auf »das Sittengesetz«; BGHSt 46, 279, 285: »Werteordnung des Grundgesetzes«. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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stimmung zum Tode« einschließt, 62 bleibt noch immer klärungsbedürftig, ob eine Suizidabsicht jemals von einem »freien Willen« getragen sein kann. Hier begnügt sich das Recht nicht mit einem groben Negativbefund (keine jugendliche Unreife, manifeste seelische Erkrankung /Störung oder gravierende Notstandslage 63), sondern verlangt positiv den Nachweis hinreichender »Ernstlichkeit« in Bezug auf die Irreversibilität des Tatvollzugs (sog. »Einwilligungslehre« im Gegensatz zur »Exkulpationslehre«). Nach den Erkenntnissen der fachlich berufenen Psychiatrie und empirisch-psychologischen Suizidforschung ist der Anteil von Suizidenten mit massiven psychosozialen Beeinträchtigungen zwar sehr hoch; in einem wenigstens auf 5% der Fälle geschätzten Umfang soll freilich durchaus die Möglichkeit eines nicht pathologischen, »reiflich überlegten« (sog. Bilanz-)Suizids bestehen, 64 insbesondere dort, »wo unheilbare körperliche Erkrankung, Mangel aller Mittel und völlige Isolierung in der Welt zusammenkommen«. 65 Ohne eine zuverlässige, detaillierte Faktenlage muss aber vom statistischen Normalfall der mangelnden »Freiverantwortlichkeit« ausgegangen und damit »in dubio pro vita« gehandelt werden. 66 Geriatrische Patienten gelten dagegen in der klinischen Praxis bis zur Evidenz des Gegenteils offenbar generaliter als einwilligungsfähig, obgleich ihre »Mündigkeit« aufgrund von Altersschwäche, evtl. degenerativen Erkrankungen, Depressionen und Medikamenteneinwirkung keineswegs selbstverständlich ist. 67 Auf diese Weise geraten sie ungeachtet des ihnen normativ verbürgten Schutzes vor Diskriminierung 68 tendenziell in Gefahr, sich einem instrumentalisierenden Zugriff (etwa beim Tolerieren ärztlicher Fürsorge) nicht mehr effektiv zur Wehr setzen zu können. 69 Dabei wird verkannt, dass der Kategorie der Einwilligungsfähigkeit nicht nur eine begrenzende, sondern zugleich schützende Wirkung zukommt, indem eine ggf. erteilte Zustimmung etwa wegen hochgradiger Verwirrtheit rechtlich unwirksam ist und dadurch u.U. riskante Interventionen grundsätzlich (vorbehaltlich der Zustimmung eines Vertreters) unterbleiben müssen: 70 Eine gewissenhafte Prüfung der Einwilligungsfähigkeit und die evtl. Feststellung ihres Nichtvorliegens sind somit ein »Akt der Fürsorge«. 71

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Dazu OLG München NJW (1987, 2940, 2943: »Hackethal«); zuletzt auch EGMR NJW (2011, 3773, 3774: »Haas«); VG Hamburg MedR (2009, 550, 555: »Kusch); LG Gießen NStZ (2013, 43). §§ 19, 20, 35 StGB, § 3 JGG analog. Z. B. Kutzer 2005; Reimer 2005; ebenso BGHSt 32, 367, 373. Jaspers 1932. Koch 1996; Schöch 2006. Duttge 2012. Vgl. Art. 21, 25 EU-Grundrechte-Charta, Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, § 1 Allgemeines Gleichstellungsgesetz. Dazu Fallbeispiel bei Duttge, Schander (2010, 341 f., 345 f.). Lipp 2000, 44 ff. Amelung 2002, 28. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Verfahrensrechtliche Aspekte Die Beantwortung der Frage, ob der Patient einwilligungsfähig ist, fällt in den Aufgaben- und Verantwortungsbereich des behandelnden Arztes: Dieser hat dabei unvoreingenommen sämtliche Umstände der lebensweltlichen Situation des Patienten in seine Beurteilung einzubeziehen, also insbesondere Alter, physische und psychische Verfassung des Patienten, der Einfluss von Medikamenten, soziobiographische und kulturelle Prägungen des Patienten (Bildungsgrad, Vorkenntnisse, Traditionen) usw. Ergibt sich in keiner Richtung ein hinreichend klares Bild und verbleiben mehr als nur theoretische Zweifel, so bedarf es fachkundiger Unterstützung durch Konsultation eines Psychiaters oder eines psychiatrischen Konsils. Die Verwendung standardisierter Testverfahren (Mac Arthur Competence Test, Hopkins Competency Assessment Test u. a.) wird allgemein eher zurückhaltend beurteilt und darf jedenfalls die persönliche Begutachtung durch einen erfahrenen Arzt nicht ersetzen. 72 Aktuelle Tendenzen Da einer nicht höchstpersönlichen Entscheidung schon wegen der jedwedem Fremdverstehen anhaftenden Schwierigkeiten unweigerlich ein Moment der Fremdbestimmung immanent ist, 73 kommt der Kategorie der Einwilligungsfähigkeit nach tradiertem Verständnis für die lebensweltliche Substanz selbstbestimmten Entscheidens eine fundamentale »gate-keeper-Funktion« zu: 74 Nur Willensbekundungen einwilligungsfähiger Patienten gelten als »autonom«, und nur ihnen gegenüber gilt das Achtungsgebot, während gegenüber »nicht-autonomen« Patienten eine paternalistische Haltung gerechtfertigt sei. Von der mangelnden Adäquatheit einer solch scharfen Grenzziehung für die soziale Wirklichkeit abgesehen, liegt diesem simplifizierenden Schema eine doppelte Fehlannahme zugrunde: 75 Einerseits verpflichtet die naturgegebene Begrenztheit menschlichen Vermögens nicht nur bei Einwilligungsunfähigen, sondern bei jedem Patienten zur Fürsorge; die ärztliche Aufklärungspflicht ist nur singulärer Ausdruck und Bestätigung dieses Gedankens: dass Autonomie notwendig Fürsorge impliziert, und der Achtungsanspruch des Patienten nicht minder verletzt wird als im Falle der paternalistischen Entmündigung, wenn er in seiner Handlungs- und Entscheidungsfreiheit ganz auf sich allein gestellt bleibt (»autonomistischer Fehlschluss«). Andererseits ist die Achtung gegenüber dem Personsein des Patienten auch und gerade dem einwilligungsunfähigen Patienten geschuldet und darf deshalb sein höchstpersönlicher Wille nicht kraft externer Deutung seines »Wohls« einfach gebeugt werden (»paternalistischer Fehlschluss«). Die Aner-

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Näher Rothärmel 2004, 155 ff. Dazu Schwab (2008, 496 f.): Risiko der Fremdbestimmung »als Preis dafür, als rechtlich Handelnder existent zu bleiben«. Beauchamp, Childress 2009, 111 f. Zum Folgenden Rehbock, 312 ff.; zuletzt Duttge 2011b. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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kennung sog. »Vetorechte« 76 zeigt dies deutlich an, auch wenn ihr begründendes Fundament und ihre sachliche Reichweite noch nicht abschließend geklärt sind. Zuletzt hat diese Perspektive eines wechselseitig inkludierenden, nicht zueinander hermetisch abgeschlossenen Verständnisses von »Autonomie« und »Fürsorge« jedoch nachhaltige Bestätigung gefunden durch zwei aktuelle Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts: 77 Danach ändert auch die krankheitsbedingte Einsichtsunfähigkeit von im Maßregelvollzug Untergebrachten nichts daran, dass eine gegen ihren »natürlichen Willen« vorgenommene Zwangsbehandlung nicht nur in ihre körperliche Unversehrtheit, sondern zugleich in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (körperbezogenes Selbstbestimmungsrecht) eingreift. Ein solcher Eingriff könne von dem jeweils Betroffenen aufgrund der fehlenden Einsichtsfähigkeit sogar als besonders bedrohlich erlebt werden, da sich dieser dem Geschehen hilflos und ohnmächtig ausgeliefert sehe, wodurch sich die Schwere des Eingriffs u.U. sogar erhöhe. Auch die vertretungsweise erfolgende Entscheidung eines bestellten Betreuers nimmt der medizinischen Maßnahme nicht ihren Eingriffscharakter, der sich daraus ergebe, dass die Maßnahme gegen den »natürlichen Willen« des Betroffenen durchgeführt werde. Infolgedessen lässt sich eine solche Zwangsbehandlung nur noch ausnahmsweise aufgrund eines (hinreichend klar und bestimmt gefassten) Gesetzes legitimieren, sofern dieses das Ziel verfolgt, auch dem einsichtsunfähigen Untergebrachten die Chance auf Heilung zukommen zu lassen. 78 Die weiteren Mindestbedingungen, die es erlauben, die Willensbekundung des Untergebrachten zu übergehen, sind: Es muss die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs gewahrt bleiben, was insbesondere dadurch zu gewährleisten ist, dass »der Zwangsbehandlung, soweit der Betroffene gesprächsfähig ist, der ernsthafte, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks unternommene Versuch vorausgegangen sein« muss, »seine auf Vertrauen gegründete Zustimmung zu erreichen«. 79 Die Devise lautet daher: »Kommunikation vor Zwang«! Denn obgleich aufgrund der Einsichtsunfähigkeit keine wirksame Einwilligung hinsichtlich der medizinischen Maßnahmen zu erlangen ist, darf der Betroffene nicht im Unklaren über das »Ob« und »Wie« der Behandlung gelassen werden. Von Fällen einer akuten Eilbedürftigkeit abgesehen bedarf es grundsätzlich auch einer Ankündigung der geplanten Maßnahme, so dass dem Betroffenen die Möglichkeit verbleibt, hiergegen Rechtsschutz zu ersuchen. Diese Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts betreffen zwar unmittelbar allein Personen in psychiatrischer Unterbringung; sie sind jedoch aufgrund ihres menschenrechtlichen Fundaments ihrem Sinngehalt nach auf medizinische Maßnahmen an einwilligungsunfähigen Minderjährigen übertragbar. Denn auch diese befinden sich, wenngleich nicht infolge einer staatlich angeordneten freiheits76 77

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Dazu Amelung 1995; Rothärmel 2004, 165 ff. BVerfG v. 23. 3. 2011–2 BvR 882/09 – NJW 2011, 2113 ff.; v. 12. 10. 2011 – BvR 633/11 – NJW 2011, 3571 ff. Zum gesetzgeberischen Handlungsbedarf aufgrund aktuell unzureichender Regelungen Duttge (2013). BVerfG ebd. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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beschränkenden Umgebung, in einer Lebenssituation besonderer Abhängigkeit und Vulnerabilität. 80 Ihr Anspruch auf Information und Partizipation verdient somit verstärkte Beachtung; die Einwilligung ihrer Sorgeberechtigten kann einer Zwangsbehandlung, die also gegen ihren »natürlichen Willen« vollzogen wird, den Eingriffscharakter nicht nehmen. Inwieweit sich Minderjährige künftig mit ihrem »Veto« u.U. sogar durchsetzen können, bedarf in diesem Licht einer dringlichen Klärung. Literatur Amelung K (1995) Vetorechte beschränkt Einwilligungsfähiger in Grenzbereichen medizinischer Intervention. Walter de Gruyter, Berlin /New York Amelung K (2002) Die Einwilligungsfähigkeit in Deutschland. In: Kopetzki C (Hrsg.) Einwilligung und Einwilligungsfähigkeit. Manz, Wien, 24–37 Beauchamp TL, Childress JF (2009) Principles of Biomedical Ethics, 6. Aufl., Oxford University Press, New York /Oxford Bernat E (2012) Die rituelle Beschneidung nichteinwilligungsfähiger Knaben. In: Familien- und Erbrecht 7:196–199 Beulke W, Dießner A (2012) »(. . .) ein kleiner Schnitt für einen Menschen, aber ein großes Thema für die Menschheit«. In: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 7:338–346 Birnbacher D (2012) Vulnerabilität und Patientenautonomie – Anmerkungen aus medizinethischer Sicht. In: Medizinrecht 30:560–565 Coester-Waltjen, D (2012) Reichweite und Grenzen der Patientenautonomie von Jungen und Alten – Ein Vergleich. In: Medizinrecht 30:553–560 Czerner F (2012) Staatlich legalisierte Kindeswohlgefährdung durch Zulassung ritueller Beschneidung zugunsten elterlicher Glaubensfreiheit? In: Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe 7:374–384, 433–436 Deutsch E, Spickhoff A (2008) Medizinrecht. 6. Aufl., Springer, Berlin /Heidelberg Diederichsen U (1995) Zustimmungsersetzung bei der Behandlung bösartiger Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen. In: Dierks C, Graf-Baumann T, Lenard HG (Hrsg.) Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen. Springer, Berlin /Heidelberg, 97–118 Duttge G (2004) Lebensschutz und Selbstbestimmung am Lebensende. In: Zeitschrift für Lebensrecht 13:30–38 Duttge G (2005) Zum Unrechtsgehalt des kontraindizierten ärztlichen »Heileingriffs«. In: Medizinrecht 23:706–711 Duttge G (2011a) Kommentierung der §§ 218, 218a StGB. In: Prütting D (Hrsg.) Fachanwaltskommentar Medizinrecht. 2. Aufl., Luchterhand, Köln Duttge G (2011b) Die Kategorie der Einwilligungsfähigkeit im Arztrecht: Grundund Zweifelsfragen aus der Perspektive des deutschen Rechts. In: Biomedical Law & Ethics 5:23–44 Duttge G (2012) Die Funktion von Altersgrenzen: Medizinrechtliche Probleme. In: Schicktanz S, Schweda M (Hrsg.) Pro-Age oder Anti-Aging? Campus Verlag, Frankfurt /New York, 87–105 Duttge G, Schander M (2010) Mutmaßlicher Widerruf einer Patientenverfügung? In: Ethik in der Medizin 22:345–346 80

Zum Begriff näher Birnbacher 2012. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Christian Katzenmeier

Ärztliche Aufklärung Über Epochen haben Ärzte medizinische Entscheidungen im Interesse ihrer Patienten getroffen, um deren Wohl oder Gesundheit zu steigern, ohne jedoch ihre volle Zustimmung eingeholt zu haben. Dieser benevolente Paternalismus lässt sich in Zeiten gewachsener Wertschätzung der Autonomie des Einzelnen nicht länger billigen. Der Arzt ist nicht allein dem Wohl des Patienten (salus aegroti) verpflichtet, vielmehr hat er stets den Willen des Kranken zu achten (voluntas aegroti suprema lex). Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten wird durch die Pflicht des Arztes zur Aufklärung gewährleistet. Diese hat durch die Rechtsprechung der Gerichte eine enorme Aufwertung erfahren und damit auch zunehmend forensische Bedeutung erlangt. Mit dem Patientenrechtegesetz wurden Information, Einwilligung und Aufklärung gesetzlich geregelt. 1 Historie Ausgangspunkt der Rechtsprechungsentwicklung ist die berühmte Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahre 1894, welche den ärztlichen Heileingriff erstmalig als tatbestandsmäßige Körperverletzung qualifizierte. 2 Damals ging es noch ausschließlich darum, eigenmächtige Heilbehandlungen zu unterbinden. Das Reichsgericht wies die unter Ärzten weit verbreitete und auch von Juristen vertretene Auffassung zurück, die Rechtmäßigkeit ärztlichen Handelns ergebe sich bereits aus der Indikation der Maßnahme. Die ärztliche »Heilgewalt« wurde von nun an streng an die Einwilligung des Patienten geknüpft, welcher darüber entschied, ob und wie lange welcher Arzt zur Vornahme einer Heilbehandlung berechtigt war. 3 Fragen ärztlicher Aufklärung fanden jedoch noch kaum Aufmerksamkeit. Die Einzelheiten des Behandlungsgeschehens blieben dem ärztlichen Sachverstand überlassen. Das Reichsgericht ging insoweit von der Vermutung eines dem Arzt »aktuell zur Seite stehenden Konsenses« der Beteiligten aus, legte damit faktisch ein weitgehendes therapeutisches Privileg des Arztes zugrunde. 4 Aufklärungspflichten gerieten nur zögerlich in unmittelbaren juristischen Zusammenhang mit der Rechtswirksamkeit der Einwilligung, gewannen im Laufe der Zeit aber immer mehr an Gewicht und rückten mit der Zunahme der invasiven, vielfach anonymen klinischen Verfahren und dem sich entfaltenden Persönlichkeitsschutz schließlich in den Mittelpunkt der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes. 5 Vom Reichsgericht noch als vertragliche oder quasivertragliche Beratungspflicht verstanden, erkannte der BGH die Aufklärung des 1 2 3 4 5

§§ 630c–630e BGB. RG, Urt. v. 31. 05. 1894-1406/94 = RGSt 25, 375. Ohly 2002, 238 ff., 374 ff. Brüggemeier 2006, 488. Ebd. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Patienten endgültig als eine vertragsunabhängige ärztliche Berufspflicht an. Sehr spät erst fand das Thema Eingang in die Berufsordnungen der Kammern. 6 Erfordernis eines informed consent Heute gelten folgende Grundsätze: Damit ein ärztlicher Eingriff vor dem Recht Bestand haben kann, muss die Einwilligung des Patienten in die jeweilige konkrete Behandlungsmaßnahme eingeholt werden. Eine sinnvolle Entscheidung kann der Patient aber nur treffen, wenn der Arzt ihn angemessen aufgeklärt hat. Fehlt es an einem informed consent, so ist die Behandlung grundsätzlich rechtswidrig, und zwar auch dann, wenn der Eingriff selbst medizinisch indiziert und lege artis durchgeführt worden ist. Seine normative Wurzel hat das Erfordernis der Einwilligung in Heileingriffe wie auch in diagnostische und präventive ärztliche Maßnahmen in den Verfassungsprinzipien, die zu Achtung und Schutz der Würde des Menschen, seiner Freiheit sowie seines Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit verpflichten. 7 Das Einwilligungserfordernis ist Ausdruck der grundlegenden Rechtsvorstellung, dass die rechtliche Beziehung zu anderen sich prinzipiell nicht auf Macht oder Zwang, sondern auf Konsens und auf die Achtung vor der Entschließungsfreiheit gründet. Diese Prinzipien vermitteln dem Patienten auch ein »Recht auf Krankheit«, so dass er jedwede Behandlung ablehnen kann. 8 Eine ärztliche Behandlung ohne Einwilligung ist rechtswidrig, der Arzt haftet bei einem Verschulden grundsätzlich für alle Schadensfolgen. 9 Oberster Zweck der Aufklärungspflicht ist es, dem Patienten eine sinnvolle Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechts zu ermöglichen. Dabei dient der Begriff »Selbstbestimmung« – ein deutscher Begriff, welcher erstmals für die Weimarer Klassik nachgewiesen ist – dazu, die Prägung der individuellen Persönlichkeit als Vernunftwesen zu beschreiben. Selbstbestimmung zielt auf Emanzipation aus Bindungen und Bedingungen, die von außen kommen. Sie »umfasst [. . .] ein deutlich aktiv-positives, dazu determinativ-dezisives und damit voluntatives Moment. [. . .] Selbstbestimmung aktiviert Freiheit, vollzieht, ja vollstreckt sie gewissermaßen«. 10 Jeder Einzelne kann im Rahmen grundgesetzlicher und anderer fundamentaler Wertvorgaben der Rechtsordnung über seinen Körper und das, was mit ihm geschieht, selbst frei bestimmen. Das BVerfG betont in seinem grundlegenden Beschluss zu Fragen des Arzthaftungsprozesses: »Verfehlt wäre es, dem Kranken oder Gebrechlichen, weil seine Gesundheit oder sein Körper bereits versehrt seien, nur ein gemindertes Maß an Selbstbestimmungsrecht zuzusprechen und deshalb Eingriffe zum Zwecke der Diagnose, Vor6 7

8 9

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Aktuell § 8 MBO-Ä, neu geregelt durch die Beschlüsse des 114. Deutschen Ärztetages 2011. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG; s. BVerfG, NJW (1979, 1925, 1930 f.); BVerfG, NJW (2005, 1103); BGHZ 29, 46, 176; Laufs (2010, § 57 Rn. 15). S. BGHZ 163, 195, 197 f.; BGHZ 166, 141, 146; Wagner (2009, § 823, Rn. 729). Vgl. BGHZ 106, 391, 398; BGH, NJW (1998, 1784); BGH, NJW (2001, 2798); BGH, NJW (2003, 1862). Hollerbach 1996, 6, 15 ff., 18. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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beugung, Linderung, Besserung oder Behebung eines Leidens dem Erfordernis der Einwilligung zu entziehen oder nur geringere Anforderungen an die Einwilligung und das in ihrem Rahmen gebotene Maß an Aufklärung zu stellen«. 11

Da es bei der Einwilligung nicht um eine rechtsgeschäftliche Willenserklärung, vielmehr um die Disposition über ein höchstpersönliches Rechtsgut geht, hängt die Befugnis dazu nicht von der Geschäftsfähigkeit ab, sondern entscheidend von der natürlichen Einsichts- und Entschlussfähigkeit. 12 Bei der Behandlung eines Minderjährigen kommt es darauf an, ob der Betreffende nach seiner geistigen und sittlichen Reife die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und seiner Gestattung zu ermessen vermag. Auch dem volljährigen Kranken kann die Willensfreiheit fehlen, womit das Erfordernis einer Einwilligung keinesfalls entfällt. 13 Willensbekundungen vor Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit können als Akte antizipierter Selbstbestimmung maßgeblich sein (Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht), im Übrigen sind die Behandlungswünsche oder der mutmaßliche Wille des Patienten zu ermitteln. 14 Die Aufklärungspflicht bezieht sich nicht nur auf das »Ob«, sondern auch auf die Art und Weise des Eingriffs. Dem Kranken muss es letztlich überlassen bleiben, ob er sich behandeln lassen will und für welche Risiken und Chancen alternativ zur Verfügung stehender Therapien er sich entscheidet. Der Arzt als Spezialist hat ihm die wesentlichen Entscheidungsprämissen zu vermitteln. Dies wahrt Freiheit und Würde der Person. Darüber hinaus kann das mit der Aufklärungspflicht verbundene Gebot zur Darstellung, Rechtfertigung und Diskussion möglicher ärztlicher Maßnahmen den Entscheidungsprozess des behandelnden Arztes verbessern. 15 Nicht zuletzt darin liegt die besondere Bedeutung des persönlichen Gesprächs, dessen verantwortungsvolle Führung der BGH dem Arzt in die Hand gibt. 16 Formulare können das Aufklärungsgespräch zwar vorbereiten aber nicht ersetzen. 17 Gegenstand der Aufklärung Selbstbestimmungsaufklärung Als Fallgruppen der Selbstbestimmungsaufklärung 18 werden üblicherweise die Risiko-, die Diagnose- und die Verlaufsaufklärung unterschieden. 19 Das Hauptfeld gehört der Risikoaufklärung. Sie vermittelt dem Patienten Informationen 11 12 13 14

15 16 17 18 19

BVerfG, NJW 1979, 1925, 1931. S. BGHZ 29, 33, 36; Spickhoff (2005, § 823 Anh I, Rn. 106); näher Duttge (in diesem Band). §§ 630d Abs. 1 S. 2, 630e Abs. 5 BGB. Dazu Lipp (in diesem Band); zur Neuregelung in §§ 1901a ff. BGB durch das Patientenverfügungsgesetz v. 29. 07. 2009, BGBl I 2286, s BT-Drs 16/8442, 12 ff.; umfassend Lipp (2009). Maio 2012, 143 ff. BGH, NJW 2003, 2012. § 630 e Abs. 2 Nr. 1 BGB; BGHZ 90, 103, 110; BGHZ 144, 1, 13. § 630 e Abs. 1 BGB. Vgl. Laufs (2010, § 59, Rn. 11 ff.); Francke, Hart (1999, 120 f.). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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über die Gefahren eines ärztlichen Eingriffs, nämlich über mögliche dauernde oder vorübergehende Nebenfolgen, die sich auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt, bei fehlerfreier Durchführung des Eingriffs nicht mit Gewissheit ausschließen lassen. Diagnoseaufklärung bedeutet Information des Patienten über den medizinischen Befund. Dieser muss erfahren, dass er krank ist und an welcher Krankheit er leidet. Die Verlaufsaufklärung erstreckt sich auf Art, Umfang und Durchführung des Eingriffs. Sie umfasst zum einen Informationen über die nach dem jeweiligen Stand des ärztlichen Wissens prognostizierbare weitere Gesundheitsentwicklung ohne medizinische Behandlung, beinhaltet zum anderen den prognostischen Gesundheitsverlauf im Falle eines Eingriffs. Die verschiedenen Arten der Aufklärung können fließend ineinander übergehen, so etwa Verlaufs- und Risikoaufklärung bei Informationen über alternative Behandlungsmethoden mit ihren jeweiligen Erfolgschancen und Misserfolgsaussichten. Auf eine Kurzformel gebracht, ist der Patient vom Arzt im Rahmen der Selbstbestimmungsaufklärung zu unterrichten über den ärztlichen Befund, über Art, Tragweite, Dringlichkeit, voraussichtlichen Verlauf und Folgen des geplanten Eingriffs, über Art und konkrete Wahrscheinlichkeit der verschiedenen Risiken im Verhältnis zu den entsprechenden Heilungschancen, über mögliche andere Behandlungsweisen und über die ohne den Eingriff zu erwartenden Risiken einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes. 20 Sicherungsaufklärung Von der aus Gründen der Selbstbestimmung des Patienten erforderlichen Aufklärung, die prinzipiell eine Voraussetzung für die Wirksamkeit seiner Einwilligung darstellt, sind die unter therapeutischen Gesichtspunkten gebotenen Informationen zu unterscheiden. 21 Darunter versteht man die zur Sicherstellung des Behandlungserfolges notwendige Erteilung von Schutz- und Warnhinweisen zwecks Befolgung ärztlicher Ratschläge (compliance), Mitwirkung des Kranken am Heilungsprozess und Vermeidung möglicher Selbstgefährdung. Die Sicherungsaufklärung dient ganz dem gesundheitlichen Wohl (salus aegroti). Es geht insbesondere darum, den Patienten – auch nach Abschluss einer Behandlung – zu einer seinem Zustand angepassten Lebensweise zu veranlassen, für die richtige Einnahme verordneter Medikamente zu sorgen und über mögliche Nebenwirkungen aufzuklären, den Patienten über mögliche Folgen einer Behandlung zu unterrichten, ihn zu den gebotenen Selbstschutzmaßnahmen zu veranlassen, und ihm durch Information über Ernst und Entwicklung seines Leidens die Dringlichkeit einer gebotenen Behandlung klarzumachen. Die therapeutische Aufklärung ist notwendiger Bestandteil der kunstgerechten ärztlichen Behandlung und damit eine vertragliche Nebenpflicht, ihre nicht gehörige Erfüllung stellt deshalb einen – vom Patienten zu beweisenden – Behandlungsfehler dar. 22 20 21

22

§ 630e Abs. 1 BGB; BGHZ 29, 46; 90, 103; Wagner 2009, § 823 Rn. 771, 774–786, 799. § 630c Abs. 2 S. 1 BGB (sog. Sicherungsaufklärung, vgl. Laufs 2010, § 58 mit Nachweisen zur Rechtsprechung). Giesen 1995, Rn. 140; Wagner 2009, § 823, Rn. 753 u. 772. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Über unterlaufene Fehler muss der Arzt den Patienten informieren, wenn dieser danach fragt oder aus dem fehlerhaften Handeln weiterer Schaden droht. 23 Wirtschaftliche Aufklärung Der Arzt muss seinen Patienten auf mögliche wirtschaftliche Folgen einer Behandlung hinweisen, namentlich darauf, dass die Kosten von dem Krankenversicherer nicht übernommen oder erstattet werden. 24 Diese »wirtschaftliche Aufklärung« 25 ist grundsätzlich von der medizinischen Aufklärung strikt zu trennen, auch wenn beide dem Patienten eigenverantwortliche Entscheidungen ermöglichen sollen. Eine vornehmlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten erfolgende Aufklärung kann aber zugleich auch Elemente der Selbstbestimmungsaufklärung enthalten, nämlich dann, wenn die von der Krankenversicherung nicht umfasste Behandlungsmethode einen weniger massiven, also schonenderen Weg zur Heilung bietet als die im Leistungsumfang enthaltene Maßnahme. Die Pflicht, Kostenfragen mit dem Patienten zu erörtern, gewinnt in dem Maße an Bedeutung, in dem sozialpolitische Entscheidungen zu Einschnitten in das Leistungssystem der Krankenkassen führen. Damit wird es auch wichtiger, die Grenzen wirtschaftlicher Aufklärung aufzuzeigen, um zu verhindern, dass der Arzt immer mehr in die ihm wesensfremde Rolle des Verwalters fremder Vermögensangelegenheiten gedrängt wird. 26 Eine Hinweispflicht wird man nur dann annehmen können, wenn es für den Arzt aufgrund seiner Abrechnungspraxis leicht erkennbar ist, dass dem Patienten wirtschaftliche Nachteile drohen, nicht aber trifft den Arzt eine allgemeine Nachforschungsobliegenheit. 27 § 630c Abs. 3 BGB normiert eine Pflicht des Arztes zur Information in Textform, 28 wenn sich nach den Umständen »hinreichende Anhaltspunkte« für die nicht gesicherte Kostenübernahme ergeben. Gelangt der Arzt zu der Überzeugung, zwecks Erreichung des bestmöglichen Therapieergebnisses eine Behandlungsmethode anwenden zu müssen, die vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung nicht umfasst ist oder deren Kosten von der privaten Krankenversicherung nicht erstattet werden, so hat er dem Patienten den Weg zu der bevorzugten Therapie durch einen Hinweis auf die Möglichkeit der Eigenfinanzierung zu eröffnen. 29 Leistungen, die der Arzt ohne Unterrichtung über die fehlende Kostendeckung oder Übernahme durch die Kassen erbringt, kann er wegen Verletzung der Pflicht zur Aufklärung über wirtschaftliche Bewandtnisse nicht gegenüber dem Patienten liquidieren.

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24 25 26 27 28 29

§ 630c Abs. 2 S. 2 u. 3 BGB; dazu krit. Wagner (2012, 789, 795 ff.); zur Rechtslage vor Inkrafttreten des PatRG s. Taupitz (1989, 13 f., 66 ff., 78 ff.); Prütting (2006, 1009 ff.). § 630c Abs. 3 BGB. OLG Stuttgart, VersR 2003, S 462 u. 992; OLG Köln, VersR 2005, S 1589. Dazu Laufs (2010, § 61 Rn. 17); instruktiv Francke, Hart (1999, 189 ff.). So auch Spickhoff (2005, § 823, Anh. I, Rn. 131). § 126b BGB. Dazu Laufs (2010, § 3 Rn. 22; § 61 Rn. 17); zurückhaltend Steffen (2000, 487, 502). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Nach der Rechtsprechung führt die Pflichtverletzung des Arztes zu einem Schadensersatzanspruch des Patienten, mit dem dieser aufrechnen kann. 30 Umfang der Aufklärung Der Umfang der erforderlichen Aufklärung lässt sich nicht pauschal festlegen, sondern hängt weithin von den Umständen des konkreten Falles ab. Als Richtschnur gilt, dass der Patient Wesen, Bedeutung und Tragweite der Behandlung erfassen und das Für und Wider in den Grundzügen so verstehen können muss, dass ihm eine verständige Abwägung und damit Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts überhaupt möglich ist. Der Patient muss »im Großen und Ganzen« wissen, worin er einwilligt. 31 Dazu brauchen ihm die Risiken nicht medizinisch exakt und nicht in allen denkbaren Erscheinungsformen dargestellt zu werden, vielmehr genügt ein allgemeines Bild von der Schwere und Richtung des konkreten Risikospektrums. Die Aufklärung soll dem Kranken kein medizinisches Entscheidungswissen vermitteln, sondern ihm aufzeigen, was der Eingriff für seine persönliche Situation bedeuten kann. Über drohende gesundheitsschädliche Nebenwirkungen ärztlicher Heilmaßnahmen ist er prinzipiell ebenso ins Bild zu setzen wie über mögliche Gesundheitseinbußen im Zuge der Behandlung. Indessen kommt es maßgeblich auf die Art der möglicherweise eintretenden Folgen an, die Größe der Gefahr ihres Eintritts im gegebenen Fall und auf das Gewicht des Risikos im Verhältnis zu den Folgen, die für den Patienten im weiteren Verlauf seiner Erkrankung zu erwarten wären, wenn die vorgesehene Behandlung unterbliebe. 32 Auch die berufliche und private Lebensführung des Patienten sowie seine erkennbaren Entscheidungspräferenzen sind zu berücksichtigen. Es gilt das Prinzip der patientenbezogenen Information. 33 Bewertung der Rechtsprechung zur ärztlichen Aufklärungspflicht Eine Gesamtschau der – auch nach der Kodifikation der ärztlichen Aufklärungspflicht im BGB maßgeblichen – Rechtsprechung erweist eine hoch entwickelte, strenge, oftmals komplizierte Judikatur, die bis in die jüngste Zeit Urteile erlässt, welche das System der Arzthaftung noch mehr ausdifferenzieren und die Anforderungen an die Ärzteschaft weiter verschärfen. Dabei trägt das Leitbild des »mündigen Patienten« dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit Rechnung, entspricht letztlich aber einem formalistischen Autonomiekonzept. Keine Berücksichtigung findet, dass die Fähigkeit eines Patienten zu freien Entscheidungen in der Praxis je nach Gesundheitszustand und institutionellem Umfeld variieren kann. Autonomie im Rechtssinn ist nicht an Autonomie im Fähigkeitssinn 30 31

32

33

BGH, NJW 2000, 3429, 3431. Dazu BGHZ 90, 103, 105 f.; BGHZ 102, 17, 23; BGHZ 144, 1, 7; BGHZ 166, 336, 339; Laufs (2010, § 59 Rn. 5); Spickhoff (2005, § 823, Anh. I Rn. 95 u. 119); Hager (2010, § 823 Rn. I 83). Dazu Laufs (2010, § 59 Rn. 5); Schieman (2011, § 823 Rn. 138): »Die Elemente der Beurteilung stehen in einer komparativen Wechselbeziehung zueinander«. Wagner 2009, § 823 Rn. 774. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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gebunden. 34 Die »imperfekte Autonomie« 35 aber macht eine Rückbesinnung auf eine »Ethik der Fürsorge« unabdingbar, ohne überkommene Modelle von ärztlichem Paternalismus wiederzubeleben. 36 Auf der großen Linie gebührt der Justiz durchaus Respekt. Sie hat das Verdienst, die Autonomie des kranken Menschen auf festen juristischen Grund gestellt zu haben. 37 Doch droht heute aus der facettenreichen Spruchpraxis der Spezialkammern und -senate eine unüberschaubare Kasuistik zu werden mit immer weniger abzusehenden Haftungsrisiken für den Aufklärungspflichtigen. 38 Der BGH hat sich zwar um die Klärung zahlreicher offener Fragen und um eine weitere Präzisierung seiner Rechtsprechung bemüht. Dabei ist dem Gericht aber nicht in allen Punkten eine zufriedenstellende, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und den ärztlichen Heilauftrag in Einklang bringende Lösung gelungen. Manche Entscheidungen haben die Anforderungen an den Arzt überzogen. Besonders problematisch ist die Statuierung einer Pflicht zur Aufklärung über »eingriffsspezifische, wenn auch äußerst unwahrscheinliche Risiken«, die Engherzigkeit bei der Anerkennung einer medizinischen Kontraindikation und die strengen Maßgaben zum Zeitpunkt der Patienteninformation. 39 Solche Entwicklungen werden begünstigt durch die Transformation des Arzt-Patient-Konflikts auf verfassungsrechtliche Ebene. Sie birgt die Gefahr einer Apotheose und einer Kommerzialisierung von Grundrechten. Die Gefahr ihrer Abnutzung liegt in der trügerischen Hoffnung, Grundrechte böten in sich schon einen brauchbaren Bewertungsmaßstab für die zu beurteilenden Interessen. Das Problem der ärztlichen Aufklärung aber stellt und löst sich im Zivilrecht gleichermaßen, ob man auf Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art 2 Abs. 1 GG rekurriert oder nicht. 40 Es gilt, überzogene Verhaltensanforderungen, Auswüchse und unkontrollierte Wucherungen der Leitsatzjurisprudenz zu erkennen und tunlichst zu korrigieren, 41 soll die Spruchpraxis der Gerichte glaubwürdig, ihre verhaltensleitende, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten effektiv schützende Funktion erhalten bleiben und die Aufklärungspflicht des Arztes nicht zu einem Instrument ganz im Dienste der Haftungsbegründung, letztlich der Schadensdistribution, degenerieren. Nur wenn Berufspflichten prinzipiell erfüllbar sind, können sie die Bereitschaft zu aktiver Verantwortungsübernahme stärken. 42 Angezeigt

34 35 36 37 38

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41 42

Birnbacher 2012, 560, 563. Damm 2002, 375 ff.; Damm 2010, 451 ff. So Höfling 2006, 390, 393. Laufs, 2010, § 57 Rn. 13: »Bollwerk des Patientenschutzes«. Dazu Büttner (2000, 353, 359); Giebel, Wienke, Sauerborn, Edelmann, Mennigen, Dievenich (2001, 863, 864). Rechtsprechungsgrundsätze bei Katzenmeier (2009a, Kap. V, Rn. 22 ff., 35 f., 47 ff., Kritik in Rn. 74 ff). So schon Wiethölter (1962, 71, 76 ff.); s. auch Lepa (1995, 261, 264 ff.); Schmidt-Jortzig (2009, 87 ff.). Kern 1997, 313, 319. Katzenmeier 2002, 190 ff. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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erscheint zwar keine Umkehr der Aufklärungspflichtrechtsprechung, aber doch eine Moderation. Kodifikation der Patientenaufklärung (Patientenrechtegesetz) Sind die Patientenrechte durch die Rechtsprechung hoch entwickelt und gut abgesichert, so ist doch die Informationslage nicht zufriedenstellend, oftmals wissen Patienten nicht um ihre Rechte. Um dieses Defizit zu beheben, wurde im Jahr 2003 eine Patientenrechtecharta verabschiedet, 43 deren Ziel die Stärkung der Verantwortungsbereitschaft ist. Die Charta sollte ein kooperatives Gespräch zwischen Arzt und Patient ermöglichen und damit einen Beitrag zu einer partnerschaftlichen Beziehung leisten. Das Dokument ist gut verständlich verfasst, bewirkt hat es gleichwohl wenig, die Charta hat insbesondere nicht das erhoffte Rechtsbewusstsein geschaffen. Obwohl sich die Ministerien seinerzeit bewusst gegen eine Kodifikation entschieden haben, brach sich im Jahre 2012 das Patientenrechtegesetz Bahn. Das Gesetz 44 zielt auf mehr Transparenz und Rechtssicherheit hinsichtlich der bestehenden Rechte sowie auf eine bessere Rechtsdurchsetzung und Patientenschutz im Sinne einer verbesserten Gesundheitsversorgung. Leitbild ist der mündige Patient. Verlässliche Informationen sollen Orientierung im Gesundheitswesen verschaffen und Patienten in die Lage versetzen, im Rahmen der Behandlung eigenverantwortlich und selbstbestimmt zu entscheiden, gesetzliche Regelungen sollen sie mit den Behandelnden »auf Augenhöhe bringen«. Wichtigster Punkt ist die Kodifikation des medizinischen Behandlungsvertrages. Dieser wird als besonderer Vertragstyp in das Bürgerliche Gesetzbuch implementiert (»Behandlungsvertrag« 45), er erfasst dabei nicht nur die Tätigkeit von Ärzten, sondern auch die von Angehörigen anderer Heilberufe wie Heilpraktikern, Hebammen, Psycho- und Physiotherapeuten. Besonders betont wird die gesetzliche Regelung von Informations-, Aufklärungs- und Dokumentationspflichten sowie die Kodifizierung der judiziellen Beweiserleichterungen und Beweislastumkehrungen. Zweites zentrales Anliegen ist die Förderung der Fehlervermeidungskultur. Risikomanagement- und Fehlermeldesysteme sollen im Sinne einer effektiven Qualitätssicherung gestärkt und das Beschwerdemanagement in Krankenhäusern gefördert werden. Weitere Punkte sind die Stärkung der Verfahrensrechte bei Behandlungsfehlern, der Patienteninformation und -beratung sowie der Patientenbeteiligung. Schließlich sollen die Rechte gegenüber Leistungsträgern gestärkt werden.

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»Patientenrechte in Deutschland – Leitfaden für Patienten und Ärzte«, hrsg. von BMG und BMJ (Feb. 2003), abrufbar unter http: // www.bmj.de / media / archive / 226.pdf.; wichtige Vorarbeit leisteten Francke, Hart (1999). Regierungsentwurf in BT-Dr. 17/10488 v. 15. 8. 2012, Beschlussempfehlung und Bericht in BT-Dr. 17/11710 v. 28. 11. 2012. §§ 630a bis 630h BGB. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Bewertung der Kodifikation Den mit dem Gesetzesvorhaben verfolgten Zielen lässt sich auf den ersten Blick kaum etwas entgegensetzen. Bemühungen um Verbesserungen der Patientensicherheit sind nachgerade geboten, 46 die angekündigten Maßnahmen zur Steigerung der Versorgungsqualität erscheinen sinnvoll. Andere Vorschläge aber erweisen sich bei genauerer Betrachtung mehr politisch motiviert als sachlich begründet. Klarzustellen gilt es, dass sich ein Gesetz nicht als Maßnahme eignet, um der Verkürzung von Patientenrechten infolge einer – von der Politik stets geleugneten, faktisch im Behandlungsalltag von Kliniken und Arztpraxen aber längst stattfindenden – Rationierung medizinischer Leistungen im Gesundheitssystem zu begegnen. Die Ressourcenknappheit ist ein Problem, das sich nicht mehr länger durch eine gesteigerte Inpflichtnahme der Leistungserbringer auf diese abwälzen lässt. Vor dem Hintergrund weiterer wirtschaftlicher Beschränkungen kann die Sicherstellung der standardgemäßen Versorgung nicht mehr allein Aufgabe der Leistungserbringer sein, sondern bedeutet immer mehr eine Herausforderung an die Entscheidungsträger im Gesundheitswesen und in der Gesundheitspolitik. 47 Gefahren einer Überregulierung Sorge bereitet die immer weitergehende Verrechtlichung der Arzt-Patient-Beziehung. Hinter manchem Ruf nach dem Gesetzgeber steckt der Glaube, ein Problem lasse sich eher lösen, wenn es eine gesetzliche Regelung dafür gibt. Diese Vorstellung ist ebenso verbreitet wie irrig. Ein Blick ins Ausland erweist, dass strenge Gesetze meist kein Beleg für hochentwickelte Patientenrechte sind, dass vielmehr gerade in diesen Ländern Normativität und Normalität weit auseinanderklaffen. Der Ruf nach dem Gesetzgeber verträgt sich im Übrigen nicht mit der Kritik an der »Gesetzesflut« im modernen Rechtsstaat. Juristen wissen, dass bisweilen mit dem Erlass eines Gesetzes die Probleme erst beginnen, nicht selten werden bei der Anwendung und Umsetzung eines Regelwerkes mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Dass das BGB bislang keine speziellen Regelungen für die Begegnung zwischen Arzt und Patient traf, stellte durchaus kein Defizit dar, im Gegenteil: Die allgemeinen Normen des Vertrags- und Deliktsrechts erwiesen sich als valide und flexibel zugleich. Sie ermöglichten der Rechtsprechung eine einzelfallgerechte Anwendung wie eine Fortschreibung des Rechts entsprechend den Entwicklungen der Medizin und den Anschauungen der Gesellschaft. Dabei kann an der grundsätzlichen Notwendigkeit einer staatlich-rechtlichen Regelung ärztlicher Tätigkeit kein Zweifel bestehen. Recht erfüllt eine wichtige Schutz- und Missbrauchsabwehrfunktion, überdies eine Richtlinienfunk-

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Dazu Hart (2012a, 1 ff.); Katzenmeier (2011, 201, 212 f.). Vgl. nur Huster (2011); Katzenmeier (2009a, Kap. X, Rn. 21 ff.) mit weiteren Nachweisen. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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tion, schließlich kann es das Verhältnis von Arzt und Patient stabilisieren. 48 Doch gerade bei der rechtlichen Regulierung der Begegnung von Arzt und Patient ist Fingerspitzengefühl erforderlich. Der Alltag in Arztpraxis und Krankenhaus ist bereits juristisch durchnormiert, reguliert und bemessen, jeder weitere Verrechtlichungsschub bedeutet eine Gefahr für die Vertrauensbeziehung. Bei einer übermäßigen Verrechtlichung droht ein Rückzug des Arztes auf den Rechtsstandpunkt. Der Arzt leistet dann nur noch, was rechtlich garantiert und eingeklagt werden kann, ärztliches Ethos wird auf diese Weise deformiert und verkümmert. Rechtsregeln können die gewissenhafte Entscheidung des Arztes nicht ersetzen. 49 Ziel darf nicht die Maximierung von Rechtspositionen der Patienten sein, sondern es muss um eine Optimierung gehen. Dies verlangt eine sorgfältige Abstimmung mit den Belangen der Behandlungsseite. Patientenrechte lassen sich nicht gegen Arztinteressen ausspielen, vielmehr können sie sich nur durch die Ärzte entfalten. Ambivalenz einer gesetzlichen Fixierung Für die Kodifikation des medizinischen Behandlungsvertrags im Bürgerlichen Gesetzbuch ließe sich neben der gepriesenen größeren Transparenz und Rechtssicherheit auch anführen, dass damit die Bedeutung der Arzt-Patient-Beziehung hervorgehoben und ihr Privatrechtscharakter klargestellt wird, welcher das Selbstbestimmungsrecht des Patienten einerseits, die Therapiefreiheit des Arztes andererseits, am besten verbürgt. 50 Doch wirft die Abbildung geltender Rechtsgrundsätze zum medizinischen Behandlungsgeschehen im BGB zahlreiche Auslegungsfragen auf. Bei jeder Regelungslücke wird sich die Frage nach einem Analogie- oder aber Umkehrschluss stellen. Eine ganz fragmentarische Regelung hilft niemandem. Soll das Gesetz Aussagekraft haben und als Richtschnur dienen, ist eine detailliertere Regelung geboten. Je umfangreicher und genauer ein Gesetz aber ist, umso mehr erhebt es den Anspruch auf eine abschließende Regelung. Die Kodifizierung kann so einer Rechtsfortbildung, etwa der judiziellen Anerkennung neuer Rechte und Pflichten oder der Herausbildung neuer Beweisregeln, im Wege stehen, denn Gesetze sind starr, weit weniger flexibel als Richterrecht. 51 Damit droht eine Festschreibung auf den Status quo. Das aber gilt es gerade auf dem Gesundheitssektor möglichst zu vermeiden. Die Fortschritte in der Medizin sind rasant, das

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Katzenmeier 2009b, 45, 47 f. Woopen 2011, 232, 233 f.; Katzenmeier 2009b, 45, 49 f. Nach der im Sozialrecht bislang vertretenen »Versorgungskonzeption« kommt zwischen Arzt und Kassenpatient gar kein Vertrag zustande, vgl. etwa BSGE 33, 158, 160 f.; BSGE 59, 172, 177; anders die herrschende Meinung im Zivilrecht, vgl. etwa BGHZ 76, 259, 261; BGHZ 97, 273, 276; näher zum Meinungsstand Katzenmeier (2002, 94 ff.) mit weiteren Nachweisen. Siehe nur etwa Raiser (1985, 111 ff.). Wank (1977, 119 ff., 153): »mangelnde Vorhersehbarkeit der Fälle, fehlende Anpassung der Gesetze, die Unmöglichkeit sprachlicher Fixierung, der Bezug auf Pflichtengesamtheiten, Billigkeit und Programmsätze (können) Gründe sein [. . .], die für eine Aufgabenwahrnehmung durch die Gerichte sprechen«. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Recht kann ohnedies kaum mithalten, es »hinkt stets hintendrein«. 52 Dies zeigt sich jüngst etwa bei der Entwicklung der Gendiagnostik 53 oder der individualisierten Medizin. 54 Ein Gesetz, welches die Rechte des Patienten festschreibt, kann so letztlich das Gegenteil dessen bewirken, was es eigentlich bezweckt. Es wird rasch veralten und läuft Gefahr, sich eher als Hemmschuh denn als ein Zeugnis modernen Patientenschutzrechts zu erweisen. Regelungstechnische Schwierigkeiten Davon abgesehen bereitet ein Patientenrechtegesetz beträchtliche regelungstechnische Schwierigkeiten. Ein rechtsgebietsübergreifendes, einheitliches Gesetz 55 mit dem Anspruch auf umfassende Regelung aller wesentlichen Sachfragen ist schwerlich realisierbar. Zivil-, sozial-, berufs- und verfassungsrechtliche Bestimmungen sowie darüber hinaus unter Umständen auch noch straf-, verfahrens- und sicherheitsrechtliche Regelungen müssten in einem Gesetzeswerk zusammengeführt werden. Mit dem verabschiedeten Artikelgesetz wurden diese Schwierigkeiten vermieden, doch lässt sich so der immer wieder betonte Bündelungseffekt kaum erreichen, bleiben die unterschiedliche Materien regelnden Normen doch über verschiedene Gesetze verstreut. Ob das Patientenrechtegesetz einen wesentlichen Zugewinn an Transparenz herbeiführen wird, ist zweifelhaft. Nicht ohne Grund wurden ergänzende Regelungen durch den Gesetzgeber in Fachkreisen bislang überwiegend für nicht angezeigt erachtet, die Vielschichtigkeit der Gesamtproblematik ließ valide Normierungen illusorisch erscheinen. 56 Sind die §§ 630a ff. BGB im Ganzen maßvoll, so werfen sie bei näherer Betrachtung doch zahlreiche Fragen auf. Mehrere Bestimmungen des PatRG sind regelungstechnisch erstaunlich schlecht. Der Begriff der »medizinischen Behandlung« in § 630a Abs. 1 BGB wird nicht definiert, die Festlegung des Behandelnden auf die »zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards« in § 630a Abs. 2 BGB ist problematisch. Die getrennte Regelung von Informationspflichten in § 630c BGB und Aufklärungspflichten in § 630e BGB bedeutet eine unglückliche Doppelung von zumindest teilweise identischen Pflichten. 57 Die ärztliche Schweigepflicht oder auch die bei der Behandlung Minderjähriger geltenden Besonderheiten finden keine

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Viel zitiert die Feststellung von Bauer (1968, 23): »Je größer ein Fortschritt technisch, umso unheimlicher wird er in menschlicher Hinsicht, vor allem hinken Moral, Ethik und Recht stets hintendrein«. Dazu Eberbach (2010, 155 ff.); Hübner, Pühler (2010, 676 ff.); Kersten (2011, 161 ff.); Duttge, Engel, Zoll (2011). Dazu Damm (2011, 7 ff.); Eberbach (2011, 757 ff.). Dafür Hart (2009, Nr. 4015, Rn. 13); zu den verschiedenen Regelungsmöglichkeiten Kubella (2011, 31 ff.). Vgl. etwa 52. DJT (1978, Sitzungsberichte I 204, Beschluss V. 2.); Taupitz (1986, 2851, 2860 f.); zu Möglichkeiten einer Normbildung für medizinisches Beratungshandeln Damm (2006, 1 ff.). Vgl. Katzenmeier (2012, 576, 580); Spickhoff (2012, 65, 67). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Erwähnung. Der fragmentarische Charakter der Vorschriften über den Behandlungsvertrag wird dadurch verstärkt, dass die zu erwartende Normierung der Pflichten des Patienten als Vertragspartner weitestgehend fehlt. Regelungen wie die zur Patientenautonomie am Lebensende (Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht) können nicht in das Vertragsrecht einbezogen werden. Abzuwarten bleibt, ob die Vorschriften des Vertragsrechts neben dem weiterhin anwendbaren Deliktsrecht in der Praxis überhaupt maßgebliche Bedeutung gewinnen werden. Fazit Auf lange Sicht ist eine immer weiter gehende Juridifizierung nur dadurch zu vermeiden, dass Arzt und Patient ihre beiderseitige Aufgabe ernst nehmen, zu einer gedeihlichen Ausgestaltung des Gesprächs beizutragen. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass in der ärztlichen Praxis trotz heute weitgehender Anerkennung des grundsätzlichen Erfordernisses eines informed consent der Stellenwert des Aufklärungsgesprächs häufig noch immer nicht richtig eingeschätzt wird. Gefordert ist mehr Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Dieses Ziel lässt sich jedoch nicht durch noch strengere rechtliche Maßgaben erreichen. Solche können das Anliegen bestmöglichen Autonomieschutz konterkarieren, denn auch hier gilt, dass nur realistische, prinzipiell erfüllbare Verhaltensanforderungen als wirksame Handlungsanleitung dienen. Stattdessen sind Anstrengungen des Berufsstandes der Mediziner geboten, dem einzelnen Berufsangehörigen zu verdeutlichen, dass es sich bei der Aufklärung des Kranken auch und vor allem um ein medizinisch-ethisch begründetes Gebot handelt, und dass er gegen sein eigenes Interesse verstößt, wenn er das Gespräch nicht ernst nimmt. Richtig verstanden bietet es ihm Gelegenheit, die Lebenssituation des Patienten, seine Hoffnungen und Ängste zu erfahren, das notwendige Vertrauen in ihm zu wecken, ihn aber auch vor übermäßigen Erwartungen und späteren Enttäuschungen zu bewahren sowie Verantwortung mit ihm zu teilen. Als eine Art Risiko- und Vorsorgediskurs geführt, hat das Gespräch eine wichtige Legitimierungs- und Entlastungsfunktion. Zur Begründung einer partnerschaftlichen Beziehung reicht die Bereitschaft des Arztes, den Kranken an den Entscheidungsprozessen zu beteiligen, allerdings noch nicht aus. Erforderlich ist, dass Patienten die ihnen zustehenden Rechte auch wahrnehmen. Geboten erscheint eine Mobilisierung der Selbstbestimmung in der Behandlung, nicht erst ihre Hervorkehrung in einem späteren Haftpflichtprozess. Gelingt der beiderseitig verantwortlich geführte Dialog, dann stehen sich die beiden Alternativen »voluntas aut salus aegroti suprema lex« nicht derart unversöhnlich gegenüber, wie es zuweilen den Anschein hat. Der Heilauftrag des Arztes mit dem Ziel, das Wohl des Kranken zu fördern, und die Selbstbestimmung des Patienten mit dem Anspruch, selbst über den eigenen Körper zu entscheiden, verbinden sich in einer als Behandlungs- und Entscheidungspartnerschaft verstandenen Beziehung. 58

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Katzenmeier 2002, 57 ff.; Maio 2012, 143 ff., 165 ff. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Katzenmeier: Ärztliche Aufklärung

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Volker Lipp, Daniel Brauer

Patientenvertreter und Patientenvorsorge Einleitung Während ärztliches Handeln traditionell dem Wohlergehen der Kranken dienen soll (»salus aegroti suprema lex«), ist heute als zweiter Grundsatz die Autonomie des Patienten zu berücksichtigen. Es hat insofern ein Paradigmenwechsel vom Paternalismus hin zur Partnerschaft stattgefunden. 1 So klar und unbestritten dies ist, so unklar ist, was sich hinter dem Schlagwort der Patientenautonomie verbirgt. Die Suche nach einem tragfähigen Autonomiekonzept verkompliziert sich weiter, wenn die Gruppe der geschäfts- und einwilligungsunfähigen Erwachsenen mit in den Blick genommen wird. Die demografische Entwicklung und die Fortschritte in der Medizin führen dazu, dass die Zahl von Personen wächst, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung nicht über die erforderliche Geschäfts- und Einwilligungsfähigkeit verfügen. Diese Entwicklung macht eine Auseinandersetzung mit der Frage nach der Patientenautonomie dieser Personengruppen, der Rolle von Patientenvertretern sowie der Bedeutung der Patientenvorsorge erforderlich. Einführend werden zunächst die Grundlagen der rechtlichen Patientenautonomie und der ärztlichen Behandlung sowie die Besonderheiten der Behandlung am Lebensende dargestellt. Auf dieser Grundlage können dann die Rolle der Patientenvertreter, die Möglichkeit der Patientenvorsorge und die subsidiären Institute der Geschäftsführung ohne Auftrag und der mutmaßlichen Einwilligung behandelt werden. Patientenautonomie Die freiheitliche Rechtsordnung des Grundgesetzes basiert auf der Vorstellung vom Menschen als einem auf Selbstbestimmung angelegten Individuum, das grundsätzlich die Möglichkeit hat, seine Lebensverhältnisse frei und verantwortlich selbst zu gestalten, sich Ziele zu setzen und selbst Schranken aufzuerlegen. 2 Mit der Volljährigkeit wird jeder Mensch vom Recht in vollem Umfang als selbstbestimmte Person angesehen. Er kann deshalb alle rechtlichen Handlungen vornehmen und ist für diese rechtlich verantwortlich. In bestimmten Fällen kann einem Menschen jedoch die Fähigkeit fehlen, selbstbestimmt zu entscheiden und zu handeln, etwa aufgrund einer Krankheit oder einer Behinderung. Er kann dann seine Rechte praktisch nicht wirksam ausüben und kann sich, falls er es tut, schädigen, ohne dass dies Ausdruck seiner freien Entscheidung ist.

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Eibach, Schaefer (2001, 21); Damm (2010, 452). von Sachsen Gessaphe (1999, 56); von Hippel (1936, 79). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Lipp, Brauer: Patientenvertreter und Patientenvorsorge

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Ein solcher Zustand ist verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar. Der Kern der Menschenwürde ist die Autonomie des Menschen. 3 Menschenwürde und damit Autonomie kommen jedem Menschen zu und zwar unabhängig von seinen körperlichen, geistigen oder seelischen Fähigkeiten. 4 Es ist folglich zwischen dem Recht auf Autonomie und der Fähigkeit zur Autonomie zu unterscheiden. Während die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Autonomie aufgrund körperlicher, geistiger oder seelischer Defizite verloren gehen kann, besteht das Recht auf Autonomie bei allen Personen, unabhängig von körperlichen, geistigen oder seelischen Fähigkeiten, fort. Das Recht auf Autonomie steht folglich auch geschäftsund einwilligungsunfähigen Personen zu. Dieses Recht auf Autonomie hat der Staat gem. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG zu schützen. Der Gesetzgeber muss daher von Verfassungs wegen sicherstellen, dass das Recht auf Autonomie auch bei Personen verwirklicht wird, die ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung ganz oder teilweise verloren haben. Diesem Schutzauftrag genügt der Gesetzgeber, indem er die fehlende Fähigkeit zur Wahrnehmung der Autonomie insoweit wiederherstellt, als sie im Vergleich zu einem Mündigen gemindert ist. 5 Das deutsche Recht hält dazu die Rechtsinstitute der Vorsorgevollmacht, der rechtlichen Betreuung, der Patientenverfügung, der Geschäftsführung ohne Auftrag und der mutmaßlichen Einwilligung bereit. Grundlagen und Grenzen der medizinischen Behandlung Bevor diese Rechtsinstitute dargestellt werden, gilt es, die damit in Zusammenhang stehenden Grundlagen der ärztlichen Behandlung in den Blick zu nehmen. Fragt man nach den Grundlagen der ärztlichen Behandlung, sind in rechtsgeschäftlicher Hinsicht der Behandlungsvertrag und in Hinsicht auf den Eingriff in die körperliche Integrität des Patienten die medizinische Indikation und die Einwilligung zu betrachten. Grundlage jeder ärztlichen Behandlung ist der zwischen dem Arzt und Patienten geschlossene Behandlungsvertrag. 6 Der Behandlungsvertrag allein berechtigt den Arzt jedoch nicht dazu, alles Notwendige zu tun. Auch die einzelnen medizinischen Maßnahmen im Rahmen der Behandlung müssen jeweils durch ihre medizinische Indikation und die informierte Einwilligung des Patienten legitimiert werden. Aus der fachlichen Kompetenz des Arztes folgt die rechtliche Abgrenzung der Verantwortungsbereiche zwischen Arzt und Patient. Der Arzt trägt die Verantwortung für die fachgerechte Untersuchung, Diagnose und Indikation für oder gegen bestimmte Maßnahmen und hat den Patienten hierüber jeweils aufzuklären. Die medizinische Indikation ist hierbei der Grund für die Durchführung einer Behandlung und mittels einer Nut-

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Siehe BVerfGE 5, 85 (204 ff.); Enders (1997, 377 ff., 502 ff.); Lipp (2010, 384). Dazu BVerfGE 39, 1 (41); 87, 209 (228); Lipp (2002, 47); Sachsen Gessaphe v (1999, 57); Vitzthum (1985, 202). Lipp (2000, 51); Lipp (1999, 80); Windel (1997, 717). Lipp (2009a, Kap. III Rn. 1 ff.). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 2: Patientenautonomie und Recht

zen-Risiko-Abwägung zu ermitteln. 7 Fällt die Nutzen-Risiko-Abwägung positiv aus, hat der Arzt eine Behandlung anzubieten. 8 Ist die Maßnahme hingegen nicht indiziert, kann der Arzt eine Behandlung verweigern. 9 Ist die Maßnahme gar kontraindiziert, muss der Arzt die Behandlung verweigern. 10 Bietet der Arzt eine Behandlung an, obliegt es allein dem Patienten zu entscheiden, ob er in die ärztliche Maßnahme einwilligt oder diese ablehnt. 11 Dies ist Ausprägung seines Selbstbestimmungsrechts. Von einer selbstbestimmten Entscheidung kann aber nur dann gesprochen werden, wenn der Patient einwilligungsfähig ist und vom Arzt entsprechend aufgeklärt wurde. Vor dem Hintergrund dieser Legitimationsvoraussetzungen einer ärztlichen Behandlung kann der Verzicht auf eine ärztliche Maßnahme oder die Beendigung einer bereits begonnenen Maßnahme aus zwei Gründen rechtlich zulässig und geboten sein: Entweder fehlt die medizinische Indikation für die Aufnahme oder weitere Durchführung der ärztlichen Maßnahme oder der Patient verweigert seine Einwilligung bzw. widerruft seine bereits erteilte Einwilligung. Behandlung am Lebensende Geht es um die Behandlung am Lebensende, ist die Debatte um die ärztliche »Sterbehilfe« berührt. Überblick Bei der »Sterbehilfe« ist aus tatsächlicher wie rechtlicher Sicht danach zu unterscheiden, ob es um Maßnahmen und Entscheidungen im Rahmen einer ärztlichen Behandlung geht oder ob der Tod durch Maßnahmen und Entscheidungen außerhalb einer ärztlichen Behandlung herbeigeführt wird. 12 Behandlungsentscheidungen betreffen die so genannte »indirekte Sterbehilfe« und die Behandlungsbegrenzung (die bisher so genannte »passive Sterbehilfe«). Sie können daher im Rahmen der allgemeinen Legitimationsvoraussetzungen ärztlichen Handelns rechtmäßig sein. Demgegenüber ist die so genannte »aktive Sterbehilfe« keine Maßnahme im Rahmen der ärztlichen Behandlung, sondern die Tötung eines Menschen.

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Kern (2010, § 49 Rn. 1); Wassem (2010, 63). Burchardt (2010, 21). Dazu Lipp (2009a, Kap. VI Rn. 95); Spickhoff (2000, 2298); Burchardt (2010, 21). Dazu OLG Köln VersR (2000, 492); OLG Düsseldorf VersR (2002, 611); OLG Karlsruhe MedR 2003, 104 (106); Lipp (2009a, Kap. VI Rn. 95). Siehe BT-Drucks. 16/8442, 7; BGHZ 154, 205 (225); Lipp (2004, 318); Deutsch, Spickhoff (2008, Rn. 18, 243); Kern (2010, § 50 Rn. 7). Dazu BGHSt 55, 191; Lipp (2009a, Kap. VI Rn. 98); Verrel (2006, C 64). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Tötung auf Verlangen (»aktive Sterbehilfe«) Die Tötung auf Verlangen bezeichnet die Herbeiführung des Todes durch ein Handeln aufgrund eines tatsächlichen oder mutmaßlichen Wunsches einer Person, wobei der Tod durch diese Handlung und nicht durch die Krankheit eintritt. 13 Sie ist nach § 216 StGB stets verboten, auch wenn sie durch einen Arzt erfolgt. Indirekte Sterbehilfe Die indirekte Sterbehilfe hingegen stellt eine Maßnahme im Rahmen der medizinischen Behandlungen dar. Dem Patienten werden im Rahmen der Behandlung Medikamente verabreicht, welche das Leben des Patienten verkürzen (können). Nach dem oben Gesagten, ist eine solche Behandlung rechtlich zulässig, wenn sie medizinisch indiziert ist, der Patient über Chancen und Risiken angemessen aufgeklärt wird und dieser darin einwilligt. 14 Behandlungsbegrenzung (»passive Sterbehilfe«) Unter einer »Behandlungsbegrenzung« ist der Verzicht auf eine lebenserhaltende oder lebensrettende ärztliche Maßnahme zu verstehen, genauer: eine Änderung des Behandlungsziels, wonach an die Stelle von Lebensverlängerung und Lebenserhaltung palliativmedizinische Versorgung einschließlich pflegerischer Maßnahmen treten. 15 Liegt ein Patient im Sterben, hat also der Sterbeprozess bereits begonnen, ist eine lebensverlängernde Behandlung (z. B. mit den Mitteln der Intensivmedizin) nicht mehr indiziert. 16 Ihr Unterlassen bedeutet keine Tötung des Patienten durch den Arzt. Seine Behandlungspflicht erstreckt sich nicht (mehr) auf die lebenserhaltende Maßnahme, sondern auf die ärztliche Hilfe und Begleitung des sterbenden Patienten. Hält der Arzt dagegen eine lebenserhaltende Maßnahme aus medizinischer Sicht für indiziert, obliegt es dem Patienten zu bestimmen, ob, wie lange und in welcher Weise er behandelt und versorgt werden möchte. Lehnt der Patient eine angebotene lebenserhaltende Maßnahme ab oder widerruft er seine früher erteilte Einwilligung, darf der Arzt diese Maßnahme nicht durchführen. Stirbt deshalb der Patient, liegt darin keine Tötung durch den Arzt, weil der Arzt den Patienten gar nicht mehr behandeln darf. 17

13 14 15 16

17

S. Zuck (2008, § 68 Rn. 173); Lipp (2009b, § 17 Rn. 94); Lipp, Brauer (2011a, 31). Dazu Lipp (2009a, Kap. VI Rn. 100); ders. (2009b, § 17 Rn. 93). Dazu Bundesärztekammer (2011, Ziff. II); Lipp (2009a, Kap. VI Rn. 101). Vgl. Bundesärztekammer (2011, Ziff. I); Opderbecke, Weißauer (1998, 397); Schreiber (1999, 773 ff.). BGHSt 55, 191. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 2: Patientenautonomie und Recht

Patientenvertreter und Patientenvorsorge Ist ein Patient geschäfts- und einwilligungsunfähig, kann dieser keinen Behandlungsvertrag schließen und nicht wirksam in die Behandlung einwilligen. Dem Patienten fehlt insoweit die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, nicht aber das Recht zur Selbstbestimmung. Daher muss das Recht Institute bereitstellen, welche die fehlende Fähigkeit kompensieren und die Rechte des Patienten wahren. Das deutsche Recht hält dazu die Rechtsinstitute der Vorsorgevollmacht, der rechtlichen Betreuung, der Patientenverfügung, der Geschäftsführung ohne Auftrag und der mutmaßlichen Einwilligung bereit. Wie und unter welchen Voraussetzungen diese Institute das Recht des Betroffenen auf Autonomie umsetzen, soll im Folgenden dargestellt werden. Vorsorgevollmacht Ältere Menschen ernennen in gesunden Tagen häufig eine Vertrauensperson zum Vorsorgebevollmächtigten, die sie bei der Erledigung ihrer Angelegenheiten beraten und unterstützen soll. Der dem zugrunde liegende Vorsorgeauftrag kann entweder in Form eines unentgeltlichen Auftrags oder eines entgeltlichen Geschäftsbesorgungs- bzw. Dienstvertrags erteilt werden. 18 Dieser Vertrag versetzt die Vertrauensperson noch nicht in die Lage, wirksam für den Patienten handeln zu können. Wenn die Vertrauensperson einen Behandlungsvertrag abschließen oder anstelle des Patienten in Behandlungsmaßnahmen einwilligen soll, benötigt sie dazu eine Vollmacht. 19 Diese Vollmacht wird wegen ihres Zwecks auch als Vorsorgevollmacht bezeichnet. Der Umfang der Vertretungsbefugnis richtet sich dabei nach dem Inhalt der Vollmacht. Besondere Anforderungen an die Form der Vollmacht bestehen grundsätzlich nicht. 20 Etwas anderes gilt allerdings für die Vorsorgevollmacht, die eine Einwilligung in medizinische Maßnahmen erfassen soll. Eine solche Vollmacht muss gem. § 1904 Abs. 5 S. 2 BGB schriftlich erteilt werden und medizinische Maßnahmen ausdrücklich nennen. Dabei kommt es allerdings nicht auf die genaue Bezeichnung an. Es muss nur deutlich werden, dass medizinische Maßnahmen gemeint sind. Die Vollmacht begründet freilich nur die Kompetenz des Bevollmächtigten, stellvertretend für den Vollmachtgeber zu handeln; mit anderen Worten: Die Vollmacht regelt sein rechtliches Können. Sein rechtliches Dürfen, das heißt, das was der Bevollmächtigte im Einzelnen tun darf und muss, richtet sich nach dem Vorsorgeverhältnis, in der Regel also nach dem Auftrag. 21 Daraus ergibt sich unter anderem, dass der Vorsorgebevollmächtigte seine Handlungen am Willen des Patienten auszurichten hat. Gemäß § 665 BGB hat der Beauftragte den Weisungen des Auftraggebers zu folgen. Ist der Patient einwilligungs- und geschäfts18 19 20

21

Dazu Bühler (2001, 1593); Langenfeld (1994, 117 f.); Walter (1997, 112). §§ 164 ff. BGB. Dazu Schramm (2012, § 168 BGB Rn. 15); Ellenberger (2012, § 167 BGB Rn. 2); Renner (2011, Rn. 704). Spalckhaver (2009, § 15 Rn. 7 ff.). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Lipp, Brauer: Patientenvertreter und Patientenvorsorge

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unfähig, kann er aktuell keine wirksamen Weisungen erteilen. In diesem Fall hat sich der Beauftragte an dem früher erklärten bzw. an dem mutmaßlichen Willen des Patienten zu orientieren. 22 Die Feststellung des Patientenwillens ist damit die vornehmste, wichtigste und wohl auch schwierigste Aufgabe des Patientenvertreters. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die mit der Wahrnehmung dieser Aufgabe verbunden ist, enthält das Gesetz hierfür bestimmte rechtliche Vorgaben. Grundlage für die Feststellung des Willens des Patienten sind seine vorsorglichen Willensbekundungen. Jede vorsorgliche Willensbekundung bedarf der Auslegung, 23 das heißt, es ist stets danach zu fragen, was der Patient, bezogen auf die aktuelle Behandlungssituation, wirklich erklären wollte. Dabei sind alle erreichbaren Informationen über den Patienten zu berücksichtigen. Erst am Ende dieses Prozesses steht fest, um welche Form der vorsorglichen Willensbekundung es sich handelt und welchen Inhalt diese hat. Das Gesetz unterscheidet in § 1901a BGB drei Formen vorsorglicher Willensbekundungen: die Patientenverfügung, den Behandlungswunsch und die Mitteilung von allgemeinen Wünschen und Wertvorstellungen. Diese Regelung des Entscheidungsmaßstabs wird durch die Verfahrensregelung in § 1901b BGB ergänzt. Mit ihr stellt das Gesetz das sich aus den allgemeinen Grundsätzen ergebende Zusammenspiel von Arzt und Patientenvertreter klar. Die Feststellung des Patientenwillens muss im Dialog mit dem Arzt erfolgen. 24 Dabei sind nahe Angehörige und sonstige Vertrauenspersonen mit einzubeziehen. Der Dialog mit dem Arzt und die Einbeziehung naher Angehöriger sind damit Hilfsmittel zur Feststellung des Patientenwillens, wie amtliche Überschrift und Wortlaut dieser Vorschriften deutlich machen. Sie sind deshalb gerade auch dann nötig und geboten, wenn der Patient eine vorsorgliche Willensbekundung verfasst hat. Denn auch in diesem Fall geht es allein darum, was der Patient in der aktuellen Situation wirklich will. Bei dieser Feststellung kommt es maßgeblich auf die vorsorgliche Willensbekundung des Patienten an. Es geht aber nicht um den Schutz derjenigen, die auf eine schriftliche Willensbekundung des Patienten vertrauen. Bei der Einwilligung in ärztliche Maßnahmen kennt das Recht – anders als bei Willenserklärungen im Vermögensrecht – gerade keinen Verkehrsschutz, auch nicht zugunsten des behandelnden Arztes. Das Betreuungsgericht muss die Einwilligung bzw. Ablehnung der medizinischen Maßnahme durch den Patientenvertreter nur dann genehmigen, wenn ein Konflikt über den Patientenwillen zwischen Arzt und Patientenvertreter besteht und zusätzlich die begründete Gefahr besteht, dass der Patient aufgrund der Behandlung /Nichtbehandlung stirbt oder einen länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. 25

22 23 24 25

§ 1901a Abs. 1 und 2 BGB. Dazu Lipp, Brauer (2011a, 28); Lipp (2009b, § 17 Rn. 145); Zimmermann (2010, Rn. 407). § 1901b Abs. 1 BGB. § 1901 Abs. 1, 2 und 5 BGB. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 2: Patientenautonomie und Recht

Betreuung Hat ein Patient keine Vertrauensperson bevollmächtigt, bestellt das Betreuungsgericht einen Betreuer, wenn ein Erwachsener auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung nicht mehr in der Lage ist seine eigenen rechtlichen Angelegenheiten zu besorgen. 26 Voraussetzung für die Betreuerbestellung ist das Vorliegen eines medizinischen Befundes (psychische Krankheit oder körperliche, geistige oder seelische Behinderung) und einer darauf beruhenden, das heißt kausalen, 27 Unfähigkeit, die eigenen Angelegenheiten zu bewältigen. Ist festgestellt, dass der Betroffene betreuungsbedürftig ist, 28 muss in einem zweiten Schritt untersucht werden, inwiefern ein Betreuungsbedarf besteht, das heißt, ob eine Betreuung überhaupt erforderlich und nicht subsidiär ist. 29 Gemäß § 1896 Abs. 2 S. 1 BGB darf ein Betreuer nur für diejenigen Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die Betreuung erforderlich ist. Darüber hinaus bestimmt § 1896 Abs. 2 S. 2 BGB den Grundsatz der Subsidiarität der Betreuung gegenüber der Vorsorgevollmacht und anderweitigen tatsächlichen Hilfen, soweit diese »ebenso gut« geeignet sind, die Aufgaben wahrzunehmen. Deshalb ist eine Betreuung in der Regel entbehrlich, wenn ein Vorsorgebevollmächtigter oder andere Hilfen existieren und tatsächlich verfügbar sind. Ist ein Betreuer bestellt, ist dieser in dem durch das Betreuungsgericht zugewiesenen Aufgabenkreis der gesetzliche Vertreter des Betreuten. 30 Wie der Betreuer diese Vertretungsmacht wahrzunehmen hat, bestimmt sich nach den §§ 1901, 1901a BGB. Dementsprechend hat der Betreuer seine Handlungen am Willen, den Wünschen und ggf. an dem mutmaßlichen Willen des Betreuten auszurichten. Entscheidende Bedeutung kommt hierbei abermals den vorsorglichen Willensbekundungen 31 zu. Es gilt insoweit das beim Vorsorgebevollmächtigten zur Feststellung des Willens ausgeführte. Darüber hinaus kann der Betreute auf die Betreuung mittels der die Betreuung gestaltenden Betreuungsverfügung Einfluss nehmen. Eine Betreuungsverfügung bezeichnet dabei Wünsche des Betreuten, die dieser vor Einleitung des Betreuungsverfahrens geäußert hat. Das Gesetz nennt explizit zwei Regelungskontexte, auf welche der Betreute mit Hilfe der Betreuungsverfügung Einfluss nehmen kann: die Auswahl des Betreuers 32 und die Führung der Betreuung. 33 Solche Wünsche sind beachtlich, soweit es keine vorrangig aktuell zu beachtenden Wünsche gibt. 26 27

28 29 30 31 32 33

§§ 1896 Abs. 1 und Abs. 2, 1902 BGB. Dazu BT-Drucks. 11/4528, S. 117; Schwab (2012, § 1896 BGB Rn. 21); Müller (2011, Rn. 34); Spickhoff (2011, § 1896 BGB Rn. 9). § 1896 Abs. 1 S. 1 BGB. Bauer 2011, § 1896 BGB Rn. 17. Vgl. § 1902 BGB. § 1901a BGB. § 1897 Abs. 4 S. 3 BGB. § 1901 Abs. 3 S. 2 BGB. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Lipp, Brauer: Patientenvertreter und Patientenvorsorge

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Ebenso wie der Vorsorgebevollmächtigte bedarf der Betreuer der Genehmigung des Betreuungsgerichts zur Einwilligung /Nichteinwilligung in eine medizinische Maßnahme nur, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Patient stirbt oder einen länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet und ein Konflikt zwischen Arzt und Betreuten darüber besteht, ob die Einwilligung, Nichteinwilligung oder der Widerruf der Einwilligung dem Willen des Patienten entspricht. 34 Vorsorgliche Willensbekundungen Als vorsorgliche Willensbekundungen werden Erklärungen bezeichnet, die unabhängig von einer konkreten Behandlungssituation getroffen werden. Sie richten sich deshalb meist auch nicht an einen bestimmten Arzt, den der Patient bereits kennt, sondern ganz generell an alle Ärzte, Pflegekräfte und so weiter, die den Patienten künftig einmal behandeln werden. Das 3. BtÄndG hat im Jahre 2009 die Patientenverfügung erstmals ausdrücklich geregelt. Damit kennt das Gesetz drei Formen vorsorglicher Willensbekundungen: Patientenverfügungen, Behandlungswünsche und allgemeine Wünsche bzw. Wertvorstellungen. 35 Unter einer Patientenverfügung versteht das Gesetz eine antizipierte Erklärung eines einwilligungsfähigen Volljährigen, der für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit, schriftlich festlegt, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt. 36 Neben Patientenverfügungen kann eine vorsorgliche Willensbekundung auch konkrete behandlungsbezogene Wünsche enthalten, die dann in der konkreten Behandlungssituation erst umgesetzt werden müssen. 37 Darüber hinaus kann eine vorsorgliche Willensbekundung auch allgemeine Wünsche und Wertvorstellungen enthalten. Mitteilungen über die allgemeinen Wünsche und Wertvorstellungen des Patienten geben als Indizien darüber Auskunft, wie er in der aktuellen Situation entschieden hätte, d. h. über seinen mutmaßlichen Willen bzw. über sein subjektives Wohl. 38 Bei einer Patientenverfügung ist zwischen ihrer Wirksamkeit und ihrer Anwendung zu unterscheiden. Während die Wirksamkeitsvoraussetzungen sich auf die Frage beziehen, ob die Patientenverfügung den gesetzlichen Vorgaben genügt, treffen die Anwendungsvoraussetzungen eine Aussage darüber, ob die Patientenverfügung in der eingetretenen Situation anwendbar ist. Voraussetzungen für die rechtliche Wirksamkeit, wie z. B. ärztliche Aufklärung, Schriftform, Einwilligungsfähigkeit, Freiheit von Irrtum oder Zwang, können nur für Erklärungen gelten, die unmittelbar rechtliche Wirkungen entfalten

34 35 36 37 38

§ 1904 BGB. § 1901a Abs. 1 und 2 BGB. § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB. § 1901a Abs. 2 S. 1 Alt. 1 BGB. § 1901 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 BGB. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 2: Patientenautonomie und Recht

sollen, also für die antizipierte Einwilligung oder Ablehnung, d. h. für die Patientenverfügung. 39 Eine Patientenverfügung unterliegt als antizipierte Erklärung den allgemeinen, für die Einwilligung in eine ärztliche Maßnahme geltenden, Grundsätzen. 40 Im Einzelnen gilt Folgendes: Ausweislich der Legaldefinition des § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB können nur Volljährige 41 eine Patientenverfügung im Sinne dieses Gesetzes erstellen. Die Beschränkung auf Volljährige erklärt sich aus der Verankerung der Regelungen über die Patientenverfügung im Betreuungsrecht, welches ausschließlich Volljährige betrifft. Zudem verlangt § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB die Einwilligungsfähigkeit des Verfassers zum Zeitpunkt der Erstellung. Da ein Volljähriger grundsätzlich einwilligungsfähig ist, ist die Einwilligungsfähigkeit bei Volljährigen keine positiv zu prüfende Wirksamkeitsvoraussetzung. Ob die Einwilligungsfähigkeit im Ausnahmefall fehlt, ist daran zu messen, ob der Betroffene aufgrund eines psychischen Zustands nicht in der Lage ist, Bedeutung, Wesen und Tragweite der Patientenverfügung zu erkennen. Zum Schutz des Betroffenen vor übereilten und unüberlegten Entscheidungen und zur Klarstellung des Gewollten verlangt § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB die Schriftform. Das bedeutet, dass die Patientenverfügung eigenhändig durch Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnet sein muss. 42 Eine Aufklärung verlangt das Gesetz nicht. Es ist anerkannt, dass eine Patientenverfügung auch ohne Aufklärung durch einen Arzt wirksam ist. 43 Sowohl das Veto des Patienten gegen bestimmte medizinische Maßnahmen als auch seine Einwilligung sind deshalb wirksam, wenn er sie in einer Patientenverfügung erklärt hat. Liegt nach dem eben Gesagten eine wirksame Patientenverfügung vor, kann diese ihre Wirkung nur entfalten, wenn sie auf die nun eingetretene, aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft. 44 Ob dies der Fall ist, hat der Patientenvertreter zu prüfen. Liegt eine wirksame und anwendbare Patientenverfügung vor, so hat der Patient selbst die Einwilligung oder Nichteinwilligung in die medizinische Behandlung erklärt. 45 Einer Entscheidung des Patientenvertreters bedarf es folglich

39 40 41 42 43 44 45

§ 1901a Abs. 1 S. 1 BGB. Spickhoff (2008, 404). § 2 BGB. § 126 BGB. Dazu BT-Drucks. 16/8442, 14; Lipp (2009b, § 17 Rn. 138); Taupitz (2000, A 28 ff). § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB a.E. Dazu BT-Drucks. 16/8442, 14; Lipp, Brauer (2011a, 31); Müller (2009, 293). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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nicht. 46 Der Patientenvertreter hat jedoch die Aufgabe, der Patientenverfügung »Ausdruck und Geltung zu verschaffen« 47. Da der Patientenvertreter keine eigene Entscheidung trifft, bedarf es auch keiner betreuungsrechtlichen Genehmigung gem. § 1904 Abs. 1 und 2 BGB. Die wirksame und anwendbare Patientenverfügung ist auch für den behandelnden Arzt verbindlich. 48 Ist kein Patientenvertreter vorhanden oder erreichbar, hat der Arzt die Behandlung auf der Grundlage der Patientenverfügung durchzuführen oder auf bestimmte Maßnahmen zu verzichten, wenn er keine Zweifel an der Wirksamkeit oder Anwendbarkeit der Patientenverfügung hat. Erfüllt eine »Patientenverfügung« nicht die Wirksamkeits- oder Anwendungsvoraussetzungen, ist diese nicht unbeachtlich, sondern als Behandlungswunsch, allgemeiner Wunsch oder Wertvorstellung zu berücksichtigen. Anders als eine Patientenverfügung sind Behandlungswünsche von vornherein auf die Umsetzung durch einen Dritten, insbesondere durch einen Patientenvertreter, ausgerichtet und daher nicht von rechtlichen Wirksamkeitsvoraussetzungen abhängig. Sie müssen also weder schriftlich sein, noch setzen sie die Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen voraus. Solche Behandlungswünsche sind für den Betreuer verbindlich; die »Wohlschranke« des § 1901 Abs. 3 S. 1 BGB greift bei dem von einem Einwilligungsfähigen geäußerten Behandlungswunsch nicht ein. Die Bindung entfällt erst dann, wenn der Behandlungswunsch bzw. die Behandlungsverweigerung krankheitsbedingt und für den Patienten schädlich ist. Für den Bevollmächtigten gilt nach Maßgabe des Vorsorgeverhältnisses dasselbe. Entsprechendes gilt für die Mitteilung von allgemeinen Wünschen und Wertvorstellungen. Sie sind als Mitteilung des Patienten über sich selbst und seine Vorstellungen gedacht und als solche bei der Auslegung der Patientenverfügung oder bei der stellvertretenden Entscheidung über die Einwilligung in die medizinische Behandlung zu beachten, und zwar ebenfalls unabhängig von der Einhaltung bestimmter Wirksamkeitsvoraussetzungen. § 1901a Abs. 2 S. 1 Alt. 2 BGB knüpft hieran an und ergänzt die allgemeine Vorschrift des § 1901 Abs. 2 BGB durch einige in der Rechtsprechung anerkannte Kriterien für die Feststellung des mutmaßlichen Willens. Ist die Patientenverfügung auf die aktuelle Behandlungssituation nicht anwendbar oder hat der Patient eine »narrative Patientenverfügung« verfasst, mit der er seine allgemeinen Wünsche und Wertvorstellungen mitteilt, muss der Betreuer und der Bevollmächtigte diese bei der Entscheidung über die ärztliche Maßnahme als Indiz für den mutmaßlichen Willen des Patienten berücksichtigen.

46

47 48

Dazu Diederichsen (2012, § 1901a BGB Rn. 22); Lipp (2009b, § 17 Rn. 97); Lipp, Brauer (2011b, 26). § 1901a Abs. 1 S. 2 BGB. Dazu Lipp, Brauer (2011a, 43); Diederichsen (2012, § 1901a BGB Rn. 24); Coeppicus (2011, 2086). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 2: Patientenautonomie und Recht

Geschäftsführung ohne Auftrag und mutmaßliche Einwilligung Hat eine einwilligungs- und geschäftsunfähige Person keinen Patientenvertreter oder ist dieser nicht erreichbar, kann dieser nicht über die Einwilligung bzw. Nichteinwilligung in die medizinische Behandlung entscheiden. Liegt auch keine wirksame und anwendbare Patientenverfügung vor, stellt sich die Frage, ob und auf welcher Grundlage der Arzt den Patienten behandeln darf. Vorrangig hat der Arzt in einer solchen Situation zu versuchen, den Patientenvertreter zu benachrichtigten und, falls ein solcher nicht existiert, die Bestellung eines Betreuers beim Betreuungsgericht anzuregen. Da ein solches Vorgehen mit einem gewissen Zeitaufwand verbunden ist, bleibt in Notfällen dafür jedoch keine Zeit. Im Ergebnis ist anerkannt, dass der Arzt in Notfällen die aus ärztlicher Sicht erforderlichen Maßnahmen einleiten und durchführen darf, bis der Patient entweder selbst wieder ansprechbar ist oder ein Patientenvertreter hinzugezogen werden kann. Die ärztliche Behandlung beruht dann anstelle des Behandlungsvertrags auf der Geschäftsführung ohne Auftrag, die einzelnen medizinischen Maßnahmen sind regelmäßig aufgrund einer mutmaßlichen Einwilligung gerechtfertigt. Gemäß § 683 S. 1 BGB liegt eine berechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag vor, mit der Folge, dass der Arzt seine Aufwendungen vom Patienten ersetzt bekommt, wenn die »Übernahme der Geschäftsführung dem Interesse und dem wirklichen oder dem mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn« entspricht. Hierbei ist die Norm insofern missverständlich, 49 als primär der wirkliche Wille entscheidend ist. Nur wenn dieser nicht feststellbar ist, ist auf den mutmaßlichen Willen abzustellen. 50 Die Übernahme entspricht dem mutmaßlichen Willen, wenn der Patient der Behandlung zum Zeitpunkt der Übernahme zugestimmt hätte. 51 Auch im Rahmen der mutmaßlichen Einwilligung ist danach zu fragen, wie die betroffene Person in der nun eingetretenen Situation entschieden hätte, wäre sie zu einer Entscheidung aktuell noch fähig. 52 Es kommt also weder auf die Sicht des Arztes, 53 noch auf die Sicht eines »vernünftigen Patienten« an. 54 Entscheidend ist allein, ob der Patient den geplanten medizinischen Maßnahmen zugestimmt hätte. Hiervon darf der Arzt bei medizinisch notwendigen Maßnahmen regelmäßig ausgehen, falls er keine gegenteiligen Anhaltspunkte hat.

49 50

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53 54

Bergmann (2006, § 683 BGB Rn. 30). Sprau (2012, § 683 BGB Rn. 5); Seiler (2009, § 683 BGB Rn. 10); Fehrenbacher (2011, § 683 BGB Rn. 4); Burchardt (2010, 53). OLG München NJW-RR (1988, 1013 (1015)); Seiler (2009, § 683 BGB Rn. 11); Fehrenbacher (2011, § 683 BGB Rn. 6). Wagner (2009, § 823 BGB Rn. 739); Knauer, Brose (2011, § 223 StGB Rn. 55, 58); Lipp (2009b, § 2 Rn. 29); Verrel, Simon (2010, 50). Ulsenheimer, § 139 Rn. 65; ders. (2008, Rn. 113). Ulsenheimer (2008, Rn. 113). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Allerdings sind beide Institute nur subsidiär anwendbar, d. h. nur dann und solange ein Behandlungsvertrag nicht vorliegt und eine aktuelle Einwilligung des Patienten oder Patientenvertreters nicht vorhanden oder nicht zeitnah einholbar ist. Deshalb hat auch eine Patientenverfügung Vorrang vor der Anwendung dieser auf den Notfall zugeschnittenen Rechtsinstitute. Hat der Patient eine wirksame und auf die aktuelle Situation anwendbare Patientenverfügung verfasst, muss der Arzt die Behandlung auf Grundlage der Patientenverfügung durchführen oder auf bestimmte Maßnahmen verzichten, wenn er keine Zweifel an der Wirksamkeit oder Anwendbarkeit der Patientenverfügung hat. 55 Schlussbemerkung Die vorangestellten Ausführungen zeigen, dass auch geschäfts- und einwilligungsunfähige Patienten entsprechend ihren Vorstellungen behandelt werden müssen. Der Wille des Patienten ist Richtschnur für das »Ob« und »Wie« der Behandlung. Einer handlungsunfähigen Person fehlt die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, ihr Recht auf Selbstbestimmung behält sie aber. Das Gesetz schafft durch die »fähigkeitssubstituierenden Institute« der Vorsorgevollmacht, der rechtlichen Betreuung, der Geschäftsführung ohne Auftrag und der mutmaßlichen Einwilligung die Voraussetzungen dafür, dass das Recht auf Autonomie auch bei geschäfts- und einwilligungsunfähigen Personen verwirklicht wird. Dabei hat der Entscheidungsträger bei allen substituierenden Entscheidungen sein Handeln an dem Willen bzw. mutmaßlichen Willen des Patienten auszurichten. Dieser Entscheidungsmaßstab gilt für alle Entscheidungsträger, unabhängig davon, ob es der durch den Patienten gewählte Vorsorgebevollmächtigte, der gerichtlich bestellte Betreuer oder ausnahmsweise der Arzt ist. Dem Betreuungsgericht kommt die Aufgabe zu, die Ausübung der Entscheidungskompetenz des Bevollmächtigten, Betreuers und Arztes zu kontrollieren. Es kann dazu den Betreuten entlassen, 56 die Vollmacht widerrufen, 57 einen Kontrollbetreuer 58 bestellen oder erstmals einen Betreuer zur Überwachung des Arztes bestellen. 59 Bei Streit zwischen Arzt und Patientenvertreter über den Patientenwillen muss der Patientenvertreter die Genehmigung des Betreuungsgerichts einholen, wenn mit der medizinischen Behandlung erhebliche Risiken für den Patienten verbunden sind. Das Genehmigungserfordernis räumt dem Betreuungsgericht eine präventive Kontrollmöglichkeit ein.

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Bundesärztekammer, Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer 2010, Ziff. 2. § 1908b Abs. 1 BGB. § 168 S. 2 BGB. § 1896 Abs. 3 BGB. § 1896 Abs. 1 BGB. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 2: Patientenautonomie und Recht

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Lipp, Brauer: Patientenvertreter und Patientenvorsorge

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Marion Albers

Patientenautonomie und Patientenvertrauen im Gesundheitsdatenschutz Einleitung Patientenautonomie ist ein Leitbild auch im Schutz der Gesundheitsdaten. In den verfassungsrechtlichen, europarechtlichen und gesetzlichen Vorgaben sind dieses Leitbild und die besonderen Schutzerfordernisse bei personenbezogenen Gesundheitsdaten verankert. Die rechtlichen Bausteine beschränken sich nicht allein auf Einwilligungserfordernisse auf Seiten des Patienten. Vielmehr soll ein – künftig weiter ausarbeitungsbedürftiges – Zusammenspiel unterschiedlicher Komponenten, zu denen etwa auch Informations- und Wissensrechte der Patienten, Anonymisierungspflichten oder organisatorische und institutionelle Maßgaben zählen, den notwendigen Schutz von Gesundheitsdaten sicherstellen. Bei näherer Analyse spiegelt sich darin auch das Zusammenspiel von Patientenautonomie und Patientenvertrauen wider. Im folgenden Beitrag werden zunächst die grundlegenden Leitlinien im Normengeflecht des Gesundheitsdatenschutzes herausgearbeitet. Auf verfassungsrechtlicher Ebene hat das Recht auf informationelle Selbstbestimmung maßgeblichen Einfluss. Über Inhalt und Gestaltung dieses Rechts gibt es gegenwärtig in Rechtsprechung und Literatur breitgefächerte Diskussionen. Die Fortentwicklung hin zu einem Bündel komplexer Schutzvorgaben erweist sich als sinnvoll. Die verfassungsrechtliche Dimension wird dadurch ergänzt und teilweise überlagert, dass von europäischer Seite her ein Europäisierungsschub zu erwarten ist. Im einfachen Recht wird der Gesundheitsdatenschutz durch die allgemeinen Datenschutzgesetze, ergänzt um die ärztliche Schweigepflicht, insbesondere aber auch durch bereichsspezifische Vorschriften realisiert. Hierzu werden einige der aktuellen Probleme im Bereich des Gesundheitsdatenschutzes diskutiert. Das betrifft den Gesundheitsdatenschutz im Versicherungssystem, Fragen des Umgangs mit personenbezogenen genetischen Daten und den Komplex der Biobanken. Grundlagen: Leitlinien im Normengeflecht des Gesundheitsdatenschutzes Verfassungsrechtliche Vorgaben: Informationelle Selbstbestimmung Ausgangspunkt: Anspruch auf Achtung der Privatsphäre Lange Zeit ist der Schutz personenbezogener Daten, die Informationen über den gesundheitlichen Zustand von Patienten und Patientinnen vermitteln, unter dem bis heute noch bekannten und populären Topos »Privatsphäre« abgehandelt und im Recht auf Achtung der Privatsphäre verankert worden. 1 »Privatsphäre« wird 1

Vgl. für das Arzt-Patienten-Verhältnis BVerfGE 32, 373; für eine Suchtkrankenberatungsstelle BVerfGE 44, 353. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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dabei verstanden als ein abgeschotteter Bereich, in dem Daten geheim gehalten werden. Allerdings wurde mit Blick auf das arbeitsteilige Gesundheitssystem oder die in Verbünden und Netzwerken operierende medizinische Forschung und auf die entsprechenden Erfordernisse der Weitergabe und Verarbeitung patientenbezogener Daten immer deutlicher, dass diese sich nicht länger ausschließlich oder primär im Arzt-Patienten-Verhältnis bewegen. Rechtlich benötigt man daher komplexere Muster als dasjenige der Privatsphäre. Institutionalisierung und Folgen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung Als Weiterentwicklung des Rechts auf Achtung der Privatsphäre hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Ende 1983 entschiedenen Volkszählungsurteil das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet. Dieses Recht schützt die Befugnis der Grundrechtsträger, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung der sich auf sie beziehenden Daten zu bestimmen. 2 Zum Schutzgegenstand zählen sämtliche personenbezogene Daten, 3 und das Entscheidungsrecht erstreckt sich von der Preisgabe über die Speicherung und Verarbeitung bis hin zur Verwendung oder Übermittlung von Daten. Die Kombination eines umfassenden Schutzgegenstandes mit einer individuellen Bestimmungsbefugnis führt zu einem eigentumsanalogen Verfügungsrecht der jeweiligen Personen über die eigenen Daten. 4 Zentrale Folge der Institutionalisierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist eine weit reichende Vergesetzlichung. 5 Denn der so gestaltete grundrechtliche Schutz macht für den Umgang mit personenbezogenen Informationen und Daten verfassungsmäßige gesetzliche Regelungen erforderlich, die hinreichend präzise gestaltet sind und in denen unter anderem die Zwecke festgelegt werden, für die personenbezogene Daten verwendet werden dürfen. Das gilt mit Blick auf öffentlichrechtlich organisierte Institutionen (ggf. Krankenversicherungen, Krankenhäuser oder Universitäten) ebenso wie für Private (Ärzte, privatrechtlich organisierte Versicherungen oder Krankenhäuser). Grundrechte binden Private zwar nicht unmittelbar, entfalten hier aber mittelbare, nämlich über die Grundrechtsbindung der Gesetzgebung und der Gerichte vermittelte, Wirkungen. Die Folge der Vergesetzlichung ist heute in den einschlägigen allgemeinen und bereichsspezifischen Datenschutzgesetzen beobachtbar. Weiterentwicklungen von Zielen, Realisierung und Inhalten des Schutzes Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hat in der ursprünglich entwickelten Form zwar immer noch prägenden Einfluss. Es ist aber mittlerweile in Rechtsprechung und Literatur auch weiterentwickelt worden. Das BVerfG 2 3 4 5

BVerfGE 65, 1, 43; st. Rspr. Statt vieler vgl. Di Fabio (2013, Rn. 175). Dazu ausführlich und kritisch Trute (2003, Rn. 19 ff.); Albers (2005, 157 ff.). Dazu frühzeitig kritisch Duttge (1997, 281 ff.). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Albers: Patientenautonomie und Patientenvertrauen

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hat in seinen Entscheidungen erstens deutlich gemacht, dass sich der Schutz nicht um Daten als solche, sondern um Informationen und Wissen sowie um die damit verbundenen Folgen dreht. Auf der einen Seite stehen die Interessen des Grundrechtsträgers, dass staatliche Stellen oder Dritte etwas nicht als Information erfahren und nutzen können, und auf der anderen Seite deren Wissens- und Verwertungsinteressen bzw. -erfordernisse. 6 Das verweist darauf, dass es auch von der Ausgestaltung des institutionellen Kontexts oder der Ablauforganisation abhängt (Beispiele wären organisatorisch abgeschottete Datenverarbeitungsabläufe, abgestimmte Zugriffsberechtigungen, Pseudonymisierungen), inwieweit die grundrechtlichen Schutzpositionen der Patienten und Patientinnen betroffen sind. Insofern hat das BVerfG im Laufe seiner Rechtsprechung zweitens insbesondere auch organisations-, verfahrens- und technikbezogene Schutzvorkehrungen zur Realisierung des Datenschutzes verlangt. 7 Auf diese für den Schutz bedeutsame Steuerung und Gestaltung des Kontexts, in dem sich Daten und Informationen bewegen, zielt das Stichwort des Systemdatenschutzes. 8 Drittens sind die Transparenz von Datenverarbeitungen und die individuellen Kenntnisund Einflussmöglichkeiten der Betroffenen, die sich etwa in Auskunfts-, Einsichts-, Berichtigungs- oder Stellungnahmeansprüchen niederschlagen, zu einer eigenständigen Komponente des grundrechtlichen Schutzes aufgewertet worden. 9 Zu dieser Weiterentwicklung von einem eigentumsanalogen Verfügungsrecht hin zu einem Bündel unterschiedlicher Schutzpositionen passt, dass das BVerfG in der Entscheidung zur Online-Durchsuchung das Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme als neue Facette des Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art 1 Abs. 1 GG hergeleitet hat. 10 Hinsichtlich der Gestaltung des Schutzbereichs ist zwar unter anderem unklar, was genau ein »informationstechnisches System« ist, was »Vertraulichkeit« und »Integrität« im Näheren bedeuten oder wie sich die Fassung als ein Recht auf »Gewährleistung« auf den Schutzinhalt auswirkt. 11 Die Herleitung dieses »neuen« Rechts erhellt jedoch, dass ein auf Entscheidungsbefugnisse des Einzelnen fokussiertes Schutzkonzept zu kurz greift. Das ist etwa für die elektronische Gesundheitskarte bereits näher ausgearbeitet worden, die eine Telematikinfrastruktur und eine auch in systemischer Perspektive datenschutzgerechte gesetzliche Ausgestaltung erfordert. 12

6 7

8 9 10 11 12

Etwa BVerfGE 77, 1, 46 ff.; 84, 192, 195 ff.; 118, 168, 196 ff.; 120, 378, 400, 403 ff.. Etwa BVerfGE 115, 320, 359 ff.; 118, 168, 186 ff.; 120, 351, 366 ff.; 120, 378, 407 ff.; 125, 260, 325 ff.. Albers (2012, Rn. 102 ff.). BVerfG, Kammerentscheidung, NJW 2006, 1116, 1117 ff.; BVerfGE 120, 351, 360 f. BVerfGE 120, 274, 314 f. Diskussion bei Eifert (2008, 521 ff.); Hoffmann-Riem (2008, 1010 ff.); Bäcker (2010, 5 ff.). Pitschas (2009, 177 ff.). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Informationelle Selbstbestimmung als komplexe Schutzvorgabe Im Ergebnis erweist sich informationelle Selbstbestimmung als eine komplexe Schutzvorgabe, die in Gestalt einer individuellen Entscheidungsbefugnis über persönliche Daten unzureichend beschrieben ist. Stattdessen müssen mehrdimensionale und kontextual konzipierte Maßgaben und Rechtspositionen entwickelt werden, die sich auf eine rechtliche Regulierung und Gestaltung des Kontexts des Umgangs mit personenbezogenen Informationen und Daten, des Zugangs zu oder der Verteilung von Informationen und Wissen mit Blick auf die damit verbundenen, gegebenenfalls nachteiligen Folgen richten. 13 Die daraus resultierenden Regulierungspflichten sind zunächst an die Gesetzgebung gerichtet; aber auch anderweitige normsetzende Instanzen haben einen adäquaten normativen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen die verarbeitenden Stellen ihrerseits angemessenen Datenschutz sicherstellen müssen. Und dieser realisiert sich eben nicht nur in Entscheidungs- oder Einwilligungsmöglichkeiten betroffener Patienten und Patientinnen, sondern auch in dem berechtigten und begründeten Vertrauen darauf, dass datenverarbeitende Stellen mit den patientenbezogenen Gesundheitsdaten und Informationen grundrechtsgerecht umgehen. Eine wichtige Komponente informationeller Selbstbestimmung stellen im Übrigen die Rechte der Patienten und Patientinnen dar, die deren eigenes Wissen gewährleisten. 14 Beispielsweise haben Patienten einen grundsätzlichen Anspruch auf Einsicht in die auf sie bezogenen Krankenunterlagen. 15 Die Begründung solcher Wissensrechte verweist auf Paradigmen wie diejenigen der Autonomie, der Orientierungssicherheit, des Selbstvertrauens oder der Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebensentwurfs. Unter diesen Umständen keineswegs konträr, sondern vielmehr komplementär sind »Rechte auf Nichtwissen«, wie sie gerade im Bereich genetischer und gesundheitsbezogener Informationen und Daten in teilweise differenzierter Form herausgearbeitet werden. 16 Informationelle Selbstbestimmung hat insofern eine doppelte Stoßrichtung, nämlich einerseits gegen die Vorenthaltung von Informationen und andererseits als Schutz vor aufgedrängten Informationen. 17 Insbesondere in der prädiktiven Gendiagnostik werden sowohl Rechte auf Wissen als auch Rechte auf Nichtwissen hinsichtlich der eigenen genetischen Konstitution herausgestellt. 18 Ergänzt werden diese Rechte um Diskriminierungsverbote.

13 14 15

16 17 18

Dazu ausführlich Albers (2005, 353 ff.). Dazu allg. Albers (2005, 469 ff.). Siehe BVerfG, Kammerentscheidungen, NJW 2005, 1103 ff. und NJW 2006, 1116 ff.; vgl. auch § 630 g BGB in der Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten – Patientenrechtegesetz. Vgl. Allen (1997, 33 ff.); Taupitz (1998, 583 ff.); Damm (1999, 446 ff.); Trute (2002, 290 ff.). So zutr. Damm (2011a, 7, 14 f.). Zur – überflüssigen – speziellen Konstruktion von Rechten auf »bioethische Selbstbestimmung« oder »geninformationelle Selbstbestimmung« Koppernock (1997); Maitra (2006, 411 ff., 425 ff.). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Für die an den grundrechtlichen Bindungen orientierte gesetzliche Ebene wird also deutlich, dass Datenschutz, also auch Gesundheitsdatenschutz, sich nicht auf gesetzliche Verarbeitungsermächtigungen und Einwilligungserfordernisse beschränken kann. Eine grundrechtsgerechte Regulierung des Umgangs mit Gesundheitsdaten schließt Bausteine des Systemdatenschutzes oder Anforderungen an den Einsatz und Ausgestaltung von Techniken ebenso ein wie Vorgaben für die Verarbeitungsphasen, die etwa die Zwecke der Datenverarbeitung, den Zugang zu Daten sowie Verknüpfungs- oder Übermittlungsmöglichkeiten regeln. Darüber hinaus sind in verschiedenen Hinsichten Wissens- und Partizipationsrechte betroffener Patienten und Patientinnen zu verankern. Europarechtliche Vorgaben: Besonderer Schutz sensitiver Daten Zu den verfassungsrechtlichen kommen die europarechtlichen Vorgaben hinzu. Wesentliche Maßstäbe für den Umgang mit Patientendaten im Gesundheitswesen ergeben sich bislang aus der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.10.1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (EU-DSRL). Die Vorgaben europäischer Richtlinien müssen von den Gesetzgebern der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in das nationale Recht umgesetzt werden. Im Januar 2012 hat die EU-Kommission im Kontext der Diskussion um die Reform der europäischen Datenschutzvorgaben den Entwurf einer Datenschutz-Grundverordnung vorgelegt. Deren Regelungen würden im Falle einer Realisierung des Vorschlags unmittelbar gelten und nationales Recht verdrängen, soweit es mit den Vorgaben der Verordnung nicht vereinbar ist. Über den Kommissionsentwurf, seine für den Gesundheitsdatenschutz relevanten Regelungen und den etwaigen weiteren Regelungsbedarf wird gegenwärtig viel diskutiert. 19 Der Umgang mit personenbezogenen Gesundheitsdaten ist außerdem ein zentrales Element der aktuellen Bestrebungen zum Aufbau eines Gesundheitstelematiknetzes (eHealth-Netzwerk), das zur Verbesserung der innereuropäischen und grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung beitragen soll. 20 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass der Datenschutzrichtlinie der Europäischen Union und auch den Entwürfen künftiger Vorgaben das Konzept eines besonderen Schutzes sog. »sensitiver« Daten zu Grunde liegt: Für die Verarbeitung besonderer Kategorien von Daten werden verschärfte rechtliche Anforderungen formuliert, weil man aus dem Aussagegehalt dieser Daten in typisierender Betrachtung besondere Risiken einer Schutzgutverletzung folgert. Art. 8 EU-DSRL sieht u. a. für personenbezogene Daten über die Gesundheit oder das Sexualleben ein grundsätzliches Verarbeitungsverbot vor, das dann wiederum durch Ausnahmen, z. B. aufgrund der ausdrücklichen Einwilligung der betroffenen Person oder mit Blick auf Erfordernisse des Schutzes lebens19

20

Zur aktuellen Reformdiskussion und zum Entwurf einer Datenschutz-Grundverordnung s. Albers (2012, Rn. 46a); Hornung (2012); Taupitz (2012). Vgl. dazu den Bericht der eHealth Task Force (2012). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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wichtiger Interessen, der Gesundheitsvorsorge, der medizinischen Diagnostik oder der Gesundheitsversorgung relativiert wird. Das Konzept typisiert »sensitiver«, d. h. besonders schutzbedürftiger, Daten unterscheidet sich von der im deutschen Recht präferierten Beurteilung der Risiken einer Verarbeitung personenbezogener Daten mit Blick auf den jeweiligen Verwendungskontext. 21 Die Anpassung der Datenschutzgesetze von Bund und Ländern an die Vorgaben der EU-Datenschutzrichtlinie hat wegen der unterschiedlichen Regelungskonzeptionen zu gewissen konzeptionellen Brüchen in den gesetzlichen Normkomplexen geführt. Sie spiegelt sich in einer Auflistung besonderer Kategorien von Daten in § 3 Ziff. 9 BDSG, zu denen auch Gesundheitsdaten zählen, und in verschärften Einwilligungserfordernissen oder restriktiveren Verarbeitungsvoraussetzungen für diese Daten wider. Gesetzliche Vorgaben: Allgemeine und bereichsspezifische Regelungen Auf gesetzlicher Ebene ist kennzeichnend für das Datenschutzrecht, dass sich die Regelungen manchmal schwer erschließen, heterogen und unübersichtlich sind. Dafür gibt es bereits rechtlich mehrere Erklärungen. Der Querschnittscharakter und die Erfordernisse einer Kontextbezogenheit der Regulierung des Umgangs mit personenbezogenen Informationen und Daten verhindern, dass der Datenschutz in einem einheitlichen Normenkomplex geregelt wird. Daher gibt es ein Zusammenspiel allgemeiner und bereichsspezifischer Vorschriften. Als Denkansatz immer noch prägend wirkt dabei das in den 1980er Jahren etablierte Paradigma der Verfügungsbefugnis über die »eigenen« Daten. Allerdings sind die daran orientierten datenschutzrechtlichen Regelungen nur begrenzt mit den hergebrachten Informationsregelungen, etwa den traditionellen Schweige- oder Geheimhaltungspflichten, abgestimmt worden. Die Datenschutzgesetze selbst haben im Laufe der Zeit eine Reihe moderner, partiell komplexer und voraussetzungsvoller Datenschutzkomponenten aufgenommen, zum Beispiel Komponenten des Systemdatenschutzes. Hinzu kommt der Einfluss der europäischen Ebene mit ihren teilweise eigenständigen Regelungsansätzen. Aus interdisziplinärer Sicht erklären sich viele Probleme damit, dass die begrifflich-konzeptionelle Erfassung und Beschreibung von Daten, Informationen und Wissen und mehr noch die Ausarbeitung der Schutzerfordernisse sowie angemessener Regulierungskonzeptionen anforderungsreich sind und Schwierigkeiten bereiten. Gerade im Bereich des Schutzes von Gesundheitsdaten oder genetischer Daten wird darüber aktuell viel diskutiert. 22 Die folgenden Ausführungen geben einen kurzen Überblick über Regelungssystematik und -ansätze auf gesetzlicher Ebene, bevor aktuelle Problemfelder thematisiert werden.

21

22

Kritisch zum Ansatz des Art. 8 EU-DSRL s. Simitis (1990, 470 ff.); Dammann (1997, Art. 8 Rn. 3). Siehe etwa die Beiträge in Widdows, Mullen (2012). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Bundes- und Landesdatenschutzgesetze Bundes- und Landesdatenschutzgesetze sind allgemeine Regelungen, die immer dann greifen, wenn es kein Spezialgesetz gibt, das einen Sachverhalt abschließend und erschöpfend regelt. Dabei erfassen die Landesdatenschutzgesetze die öffentlichen Stellen des jeweiligen Bundeslandes. Das Bundesdatenschutzgesetz bezieht sich im Wesentlichen auf Stellen des Bundes und erfasst die Datenverarbeitungen Privater, soweit Daten in oder aus automatisierten Dateien verarbeitet werden. Den datenschutzrechtlichen Grundansatz, der dem Paradigma der Verfügungsbefugnis des Betroffenen Rechnung tragen soll, hält im Bundesdatenschutzgesetz § 4 Abs. 1 BDSG fest: Danach ist die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten nur zulässig, soweit eine Rechtsvorschrift dies erlaubt oder der Betroffene eingewilligt hat. Eine wirksame Einwilligung setzt nach § 4 a Abs. 1 BDSG eine freie Willensentscheidung des Betroffenen voraus, der zuvor über den vorgesehenen Zweck der Datenerhebung, -verarbeitung oder -nutzung sowie gegebenenfalls auf die Folgen der Verweigerung der Einwilligung hinzuweisen ist. Angaben über die Gesundheit des Patienten stellen nach § 3 Abs. 9 BDSG »besondere Arten von personenbezogenen Daten« dar, denen ein besonders hohes Schutzniveau zukommt. 23 Die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung dieser Daten unterliegt speziellen Restriktionen; an eine die Verarbeitung legitimierende Einwilligung werden zusätzliche Anforderungen gestellt, etwa die ausdrückliche Bezugnahme auf diese Daten, die regelmäßig die Schriftform und die Nennung der Daten im Einwilligungstext erfordert. 24 Die Datenschutzgesetze enthalten darüber hinaus Elemente des Systemdatenschutzes, der im Vorfeld der Datenverarbeitung auf institutionelle, organisatorische, verfahrensmäßige und technische Vorkehrungen zielt. 25 So sind nach § 3 a BDSG Gestaltung und Auswahl von Datenverarbeitungssystemen an dem Ziel auszurichten, keine oder so wenig personenbezogene Daten wie möglich zu erheben, zu verarbeiten oder zu nutzen. Insbesondere ist, was etwa für Biobanken besonders relevant ist (vgl. noch Abschn. Biobanken), von den Möglichkeiten der Anonymisierung und Pseudonymisierung Gebrauch zu machen, soweit dies möglich ist und der Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Schutzzweck steht. § 9 BDSG und die Anlage zu § 9 verlangen je nach Art der zu schützenden personenbezogenen Daten oder Datenkategorien die Sicherstellung von Zutrittskontrollen, Zugangskontrollen, Zugriffskontrollen oder Weitergabekontrollen sowie die organisatorische Gewährleistung von Zweckbindungen. Daneben vermitteln die Datenschutzgesetze den betroffenen Personen Auskunfts- und Einsichtsrechte sowie etwa Berichtigungs- und Löschungsansprüche.

23 24 25

Mand (2005, 569 f.); Jandt, Roßnagel (2011, 141). Gola, Schomerus (2010, § 3, Rn. 56 f.). Dazu ausführlich Albers (2012, Rn. 102 ff.). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Bereichsspezifische Regelungen Gesundheitsdatenschutz ist darüber hinaus in bereichsspezifischen Spezialgesetzen verankert. Einschlägige Vorschriften finden sich etwa im Sozialgesetzbuch (SGB), soweit Gesundheitsdaten Sozialdaten sind, in den Regelungen des Versicherungsrechts oder im Gendiagnostikgesetz (GenDG). Des Weiteren haben die Länder mit Ausnahme von Niedersachsen, Schleswig-Holstein und SachsenAnhalt spezialgesetzliche Vorschriften zum Schutz von Patientendaten in den Landeskrankenhausgesetzen, einem Gesundheitsdatenschutzgesetz (NordrheinWestfalen), einem Krankenhausdatenschutzgesetz (Bremen) oder einer Krankendatenschutzverordnung (Brandenburg) erlassen. Primär gelten die Vorschriften für alle Krankenhäuser in öffentlicher Trägerschaft. Regelmäßig sind sie allerdings auch auf private Krankenhäuser anwendbar. Sie beschränken sich im Übrigen weitgehend auf wenige ergänzende Spezialregelungen, die der besonderen Schutzbedürftigkeit des Umgangs mit Patientendaten im Krankenhaus geschuldet sind. 26 Mit dem am 26.2.2013 in Kraft getretenen Patientenrechtegesetz sind nach jahrzehntelanger Kodifizierungsdiskussion 27 bestimmte Rechte der Patienten im Rahmen des Behandlungsvertrages 28 im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert worden. 29 Die neue Regelungen in §§ 630aff. BGB schließen Informations-, Aufklärungs- und Dokumentationspflichten der Behandelnden ebenso ein wie Einwilligungserfordernisse auf Seiten der Patienten und deren Recht, auf Wunsch grundsätzlich Einsicht in die vollständige, sie betreffende Patientenakte zu erhalten. Im Rahmen des Behandlungsvertrages prägen auch diese Regelungen den Umgang mit Gesundheitsdaten. Berufsregelungen, insbesondere: Ärztliche Schweigepflicht Die ärztliche Schweigepflicht, deren historischer Ursprung im Eid des Hippokrates gesehen wird, bildet die Grundlage für das zwischen Arzt und Patienten erforderliche Vertrauensverhältnis. 30 Ihre Ausprägung findet sich in § 9 Abs. 1 Musterberufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä), wonach ein Arzt verpflichtet ist, über die ihm anvertrauten oder bekannt gewordenen Tatsachen Stillschweigen zu bewahren. Die Schweigepflicht umfasst die Gesamtheit der Angaben des Patienten über seine persönliche, familiäre, wirtschaftliche, berufliche, finanzielle, kulturelle und sonstige soziale Situation sowie seine darüber preisgegebenen Ansichten und Reflexionen. 31 Ihre Missachtung in Form einer »unbefugten« Offenbarung der Daten ist nach § 203 Abs. 1 26

27 28 29 30 31

Insgesamt zum Datenschutz im Krankenhaus näher und ausführlicher Jandt, Roßnagel (2011, 140 ff.). S. dazu Kubella (2011, 15 ff.). Näheres bei Katzenmaier (2013). Zur kritischen Diskussion Katzenmaier (2012); Preis, Schneider (2013); Spickhoff (2013). Dazu Schlund in: Laufs, Kern (2010, § 65 Rn. 11). Katzenmeier in: Laufs, Katzenmeier, Lipp (2009, IX. A. Rn. 12). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Nr. 1 StGB strafbar. 32 Eine gegebenenfalls modifizierte oder gestufte Offenbarung ist allerdings vielfältig vorgesehen. Die Vorschriften des BDSG lassen die ärztliche Schweigepflicht zwar unberührt. 33 Bereichsspezifische Spezialgesetze regeln jedoch etwa Schweigepflichtentbindungen gegenüber Versicherungen, Auskunftspflichten gegenüber Behörden oder Verarbeitungs- und Übermittlungstatbestände im Kontext des arbeitsteiligen Gesundheitswesens. Hier ist ein gut abgestimmtes und transparentes System von Schweigepflicht und Offenbarungstatbeständen erforderlich, damit das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten nicht gefährdet wird. Immer wieder diskutiert werden etwa die Organisation und die Form der Übermittlung von Daten zu Abrechnungszwecken oder die Möglichkeiten sicherheitsbehördlicher Zugriffe auf Daten. 34 Aktuelle Problemfelder Gesundheitsdatenschutz im arbeitsteiligen Gesundheitssystem Gesundheitsdatenschutz im Versicherungsrecht Im Versicherungsrecht realisiert sich der Gesundheitsdatenschutz insbesondere im Falle von Datenerhebungen durch ein Versicherungsunternehmen wie eine private Krankenversicherung oder bei einer Übermittlung von Patientendaten durch Ärzte oder Krankenhäuser an einen Sozialversicherungsträger wie die gesetzliche Krankenversicherung. Erhebung von Gesundheitsdaten durch Versicherungen Bei neu abzuschließenden Personenversicherungen oder in Schadensfällen besteht ein berechtigtes Informationsinteresse des Versicherungsunternehmens, Gesundheitsdaten des Versicherten bei Ärzten zu erfragen. Den Konflikt zwischen diesem Interesse und dem Geheimhaltungswunsch des Versicherungsnehmers regelt § 213 VVG in Reaktion auf eine Entscheidung des BVerfG, die eine staatliche Schutzpflicht zu Gunsten der informationellen Selbstbestimmung des Versicherungsnehmers wegen der strukturellen Überlegenheit des Versicherungsunternehmens als Vertragspartner konstatiert hat. 35 Eine Ermächtigung an Versicherungen, die in pauschaler Fassung darauf zielt, dass sämtliche Ärzte und weitere Stellen von ihrer Schweigepflicht entbunden und alle Gesundheitsdaten zugänglich werden, ist rechtlich unzulässig. § 213 VVG begrenzt zum einen den Umfang personenbezogener Gesundheitsdaten auf diejenigen, deren Kenntnis für die Beurteilung des zu versichernden Risikos oder der Leistungspflicht erforderlich ist, zum anderen die Stellen, bei denen Daten nachgefragt werden dür32 33 34

35

Näher Jandt, Roßnagel (2011, 141). Vgl. § 1 Abs. 3 BDSG; Schlund in: Laufs, Kern (2010, § 72 Rn. 24). Zur Beschlagnahme von Patientenakten; zur Unzulässigkeit einer an eine der Führungsaufsicht unterstellten Person gerichtete Weisung, einen Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden s. BVerfG, Kammerentscheidung, MedR 2006, 586 ff. BVerfG, Kammerentscheidung, JZ 2007, 576 ff. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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fen. 36 Darüber hinaus wird die erforderliche informierte Einwilligung der Patienten detailliert und differenziert geregelt. 37 Übermittlung von Gesundheitsdaten an Sozialversicherungen Auch Sozialversicherungsträger sind bei der Prüfung der Gewährung einer Leistung oftmals auf die Kenntnis medizinischer Daten angewiesen. Der hier einschlägige Sozialdatenschutz schließt Gesundheitsdaten ein. 38 Die bereichsspezifischen Vorgaben zielen darauf, dass der Betroffene in besonderer Weise auf eine Geheimhaltung und auf transparente Datenverarbeitungen vertrauen kann. Grundlegend hat nach § 35 Abs. 1 S. 1 SGB I jeder Anspruch darauf, dass die ihn betreffenden Daten von den Leistungsträgern nicht unbefugt erhoben, verarbeitet, genutzt oder übermittelt werden (Sozialgeheimnis). Dabei sind die im SGB X zur Erhebung, Datenverarbeitung und Nutzung von Sozialdaten getroffenen Regeln abschließend. 39 § 35 Abs. 3 SGB I stellt klar, dass für die Übermittlung von Sozialdaten keine Auskunftspflicht, keine Zeugnispflicht und keine Pflicht zur Vorlegung oder Auslieferung von Schriftstücken, Akten und Dateien besteht, soweit eine Übermittlung nicht zulässig ist (Korrespondenzprinzip 40). § 76 Abs. 1 SGB X legt den Grundsatz für den Umfang der zulässigerweise zu übermittelnden medizinischen Daten fest. Dabei ist die Übermittlung von Sozialdaten, die einer in § 35 SGB I genannten Stelle von einem Arzt oder einer anderen in § 203 Abs. 1 und Abs. 3 StGB genannten Person zugänglich gemacht worden sind, nur unter den Voraussetzungen zulässig, unter denen diese Person selbst übermittlungsbefugt wäre. Durch § 67 Abs. 1 SGB X wird folglich gewährleistet, dass das Arztgeheimnis und die sonstigen Berufsgeheimnisse des § 203 Abs. 1 und 3 StGB auch dann gewahrt werden, wenn der Arzt oder eine andere zur Geheimhaltung verpflichtete Person Sozialdaten an einen Träger der gesetzlichen Krankenversicherung oder eine andere in § 35 SGB I genannte Stelle weiterleitet. Eine Übermittlung medizinischer Daten gemäß § 76 Abs. 1 SGB X aufgrund einer ausdrücklichen Einwilligung durch den Betroffenen setzt die Erfüllung der im Sozialdatenschutz niedergelegten hohen Anforderungen an vorherige Informationen und Hinweise, an die Schriftlichkeit und an die Erkennbarkeit der Einwilligungserklärung voraus. 41

36

37 38 39 40 41

Etwa Ärzte, Krankenhäuser, Pflegeheime, gesetzliche Krankenkassen oder Berufsgenossenschaften; vgl. auch zur Verwertbarkeit von ohne Schweigepflichtentbindung erhobenen Gesundheitsdaten OLG Saarbrücken VersR 2009, 1479 ff. Dazu ausführlich Neuhaus, Kloth (2009, 1707 ff.). Zur Legaldefinition s. § 67 Abs. 1 S. 1 SGB X. Vgl. Enumerationsprinzip § 35 Abs. 2 SGB I, § 67 d Abs. 1 SGB X; Rasmussen (1998, 68). Rasmussen (1998, 68). §§ 67, 67 b Abs. 2 SGB X; Rasmussen (1998, 70). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Outsourcing der Verarbeitung von Patientendaten Die Bedeutung der Einwilligung betroffener Patienten ist von der Rechtsprechung auch für das Outsourcing der Verarbeitung von Patientendaten hervorgehoben worden. Seit Einführung der elektronischen Datenverarbeitung haben sich im Gesundheitsbereich zwei wesentliche Formen etabliert, die Verarbeitung von Patientendaten auszulagern. Hierbei handelt es sich zum einen um die Erstellung von Abrechnungen für privatärztliche Leistungen durch privatärztliche Verrechnungsstellen. Die Zivilgerichte beurteilen die Abtretung einer ärztlichen Honorarforderung an eine gewerbliche oder an eine berufsständische privatärztliche Verrechnungsstelle und die damit verbundene Übergabe der Patientendaten als einen Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht, wenn der Patient ihr nicht ausdrücklich zugestimmt hat. 42 Weitergehend hat das Bundessozialgericht im Bereich des SGB V spezialgesetzliche Grundlagen verlangt. 43 Zum anderen lagern Gesundheitskonzerne häufig die komplette Patientendatenverarbeitung an ein selbstständiges Tochter- oder das Mutterunternehmen aus. Dafür müssen im Falle einer Auftragsdatenverarbeitung deren gesetzliche Voraussetzungen, im Falle einer Funktionsübertragung eine wirksame datenschutzrechtliche Einwilligung und zusätzlich eine Erklärung des betroffenen Patienten über die Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht vorliegen. 44 Elektronische Gesundheitskarte Im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung ist § 291 a SGB V ein Beispiel für den zunehmenden Datenschutz durch System- und Technikgestaltung: Er stellt für die elektronische Gesundheitskarte technische Anforderungen an die Datenverarbeitungs-, Authentifizierungs-, oder Verschlüsselungsmöglichkeiten und erfordert damit eine Telematik-Architektur. 45 Genetische Daten Im Hinblick auf die Gendiagnostik ist die Notwendigkeit eines besonderen Schutzes der Personen, über die genetische Daten Informationen vermitteln, von Anbeginn an herausgestellt und immer auch öffentlich diskutiert worden. Im Mittelpunkt steht nicht nur der Schutz vor Diskriminierungen aufgrund genetisch bedingter Risiken, sondern zugleich der Schutz der individuellen Auto42

43 44

45

Siehe BGH NJW 1991, 2955; OLG Oldenburg NJW 1992, 758; Körner-Dammann (1992, 729 ff.); Jandt, Roßnagel, Wilke (2011, 645). Kritisch Giesen (2012). BSG, NJOZ 2009, 2959 ff. Dazu ausführlich Jandt, Roßnagel, Wilke (2011, 641 ff.). Zur Auslagerung in eine Cloud Ulmer (2012). Zum Factoring bei Forderungen aus medizinischen Behandlungen Jandt, Roßnagel (2013). Ausführlicher dazu, auch zu den Anforderungen und zur Akzeptanz Hornung (2004, 226 ff.); Hornung (2005, bes. 41 ff., 58 ff., 207 ff., 246 ff., 362 ff.); Weichert (2005, 151 ff.); Borchers (2008, S. 79 ff.); Pitschas (2009, 177 ff.); Bales, von Schwanenflügel (2012). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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nomie, der Identität und der Integrität. Dieser Schutz wird gerade auch durch Regelungen gewährleistet, die auf das (Nicht-)Entstehen und die Verteilung von Informationen und Wissen ausgerichtet sind. »Rechte auf Wissen und Rechte auf Nichtwissen sind nicht zufällig zu zentralen Elementen der gendiagnostischen Normbildung geworden und bilden auch Schwerpunkte gesetzgeberischer Bemühungen«. 46 Genetische Daten unterliegen seit dem Jahre 2010 den besonderen bereichsspezifischen Regelungen im Gendiagnostikgesetz (GenDG). Ob ein solcher »genetischer Exzeptionalismus«, d. h. eine Sonderregelung zu genetischen im Unterschied zu anderweitigen medizinischen Daten, sinnvoll ist, wird außerordentlich kontrovers diskutiert. 47 Der Gesetzgeber hat die Besonderheit genetischer Daten u. a. mit dem unter Umständen hohen prädiktiven Potenzial, der fehlenden Beeinflussbarkeit genetischer Dispositionen, der besonderen Diskriminierungsrisiken und der Notwendigkeit begründet, zur Sicherstellung informationeller Selbstbestimmung eigenständige Aufklärungs-, Beratungs- und Einwilligungsregelungen zu schaffen. 48 Einen besonderen Status genetischer Daten kann man jedenfalls nicht auf gleichsam intrinsische Merkmale dieser Daten, sondern nur auf eine besondere Regulierungsbedürftigkeit wegen sozialer Interessen- und Konfliktlagen stützen. Das Gesetz gilt nach § 2 Abs. 1 GenDG für genetische Untersuchungen und im Rahmen genetischer Untersuchungen durchgeführte genetische Analysen bei geborenen Menschen sowie bei Embryonen und Föten während der Schwangerschaft, soweit es sich um Untersuchungen zu medizinischen Zwecken handelt. Geregelt werden auch die Konfliktlagen bei Untersuchungen zur Klärung der Abstammung sowie im Versicherungsbereich und im Arbeitsleben. 49 Der Bereich der Forschung ist aus dem Anwendungsbereich ausgenommen. Das Gesetz erstreckt sich auf den Umgang mit den gewonnenen genetischen Proben und genetischen Daten. Zu den Eckpunkten der Regelungen gehört, neben dem Benachteiligungsverbot nach § 4 GenDG, ein inhaltlich angereichertes Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Person, mittels dessen deren Schutz gewährleistet werden soll. Dieses Selbstbestimmungsrecht spiegelt sich vor allem in einem besonders konkretisierten Erfordernis informierter Einwilligung wider und wird von Indikations-, Arzt-, Aufklärungs- und Beratungsvorbehalten begleitet. § 7 GenDG enthält einen für diagnostische und prädiktive Untersuchungen noch differenzierten Arztvorbehalt, der »qualitative Rahmenbedingungen« (Damm 2011, 256) des Selbstbestimmungsrechts sicherstellen soll. § 8 GenDG sieht eine ausdrückliche und schriftliche Einwilligung sowie ein Widerrufsrecht der betroffenen Person vor. Entscheidende Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung ist, vorbehaltlich eines Verzichts, die im Detail geregelte Aufklärung über Wesen, Bedeutung 46 47

48 49

Damm (2011, 246). Dazu Murray (1997, bes. 64 ff.); Damm, König (2008, 62 ff.); Kiehntopf, Pagel (2008, 344 ff.); Heyers (2009, 508). Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BTDrucks. 16/10532, 16. Hierzu vgl. auch die Stellungnahmen des Nationalen Ethikrats 2005 und 2007. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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und Tragweite der genetischen Untersuchung. 50 Ergänzt wird dies um gleichermaßen detaillierte Regelungen zur genetischen Beratung, die zugleich der potenziellen Betroffenheit von Verwandten und deren Informationsinteressen Rechnung tragen soll. Die nähere Regelung der Mitteilung der Ergebnisse genetischer Untersuchungen und Analysen in § 11 GenDG zielt vor allem auf den Schutz der Autonomie der betroffenen Person. Im Grundsatz nicht weniger wichtig als diese Vorgaben sind die anschließenden Bestimmungen in §§ 12 und 13 GenDG über die Aufbewahrung und Vernichtung der Ergebnisse genetischer Untersuchungen und Analysen sowie über die Verwendung und Vernichtung genetischer Proben. Hier finden sich grundsätzliche Zweckbindungen, Vernichtungspflichten oder auch die Pflicht, die erforderlichen technischen und organisatorischen Maßnahmen zu treffen, damit eine unzulässige Verwendung genetischer Proben ausgeschlossen ist. Solche Regelungen dienen dem Vertrauen der betroffenen Person darauf, dass mit den erlangten Proben und den gewonnenen genetischen Daten angemessen umgegangen wird und kein zweckwidriger Missbrauch zu befürchten ist. Eine institutionelle Gewährleistung des Schutzstandards im Bereich der Gendiagnostik stellt außerdem die Einrichtung einer interdisziplinär zusammengesetzten, unabhängigen Gendiagnostik-Kommission dar, die in den verschiedenen Problembereichen Richtlinien nach Maßgabe des allgemein anerkannten Standes der Wissenschaft und Technik zu erarbeiten hat. 51 Biobanken Für Biobanken, die nicht als gezielt entstandene Materialsammlungen vorhanden sind oder als Projekte existieren oder aufgebaut werden, gibt es bislang keine spezialgesetzlichen Grundlagen. Trotz der Empfehlungen des Deutschen Ethikrates und einiger Gesetzesinitiativen hat die Bundesregierung erklärt, sie sehe im Moment keinen Regelungsbedarf, jedenfalls keine Notwendigkeit für ein spezifisches Humanbiobankengesetz. 52 Die gesetzlichen Anforderungen muss man daher aus unterschiedlichen Regelwerken zusammenstellen, die nicht auf die charakteristischen Probleme von Biobanken zugeschnitten sind. Nicht zuletzt deswegen sind in der Praxis eine Reihe selbstregulatorischer Normenkomplexe entstanden. Im Zentrum der aktuellen Diskussion um passende Regulierungen, die allerdings hinsichtlich der zu erfassenden Projekte mit erheblichen Abgrenzungsproblemen kämpft, 53 stehen die Biobanken, die seit einigen Jahren übergreifend, teilweise in Form von Netzwerken und teilweise transnational namentlich zu Forschungszwecken aufgebaut werden. Sie führen in variierenden Kombinationen Proben von Körpermaterialien – Gewebe, Zellen, Seren, Blut oder DNA – 50 51 52

53

§ 9 GenDG. § 23 GenDG. Vgl. die Beschlussempfehlung und den Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (BTDrucks. 17/8873, 6). Deutscher Ethikrat 2010. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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mit medizinischen oder genetischen Daten und Informationen und allgemeinen Angaben zum Gesundheitszustand oder zum Lebensstil der betroffenen Personen zusammen. Sie können zudem mit anderweitigen allgemeinen oder gesundheitsbezogenen Registern verknüpft werden. 54 Als Probenbanken sind Biobanken Sachgesamtheiten, als Datensammlungen Datenbanken; hinzu kommen die notwendigen Lager- und Speichervorrichtungen. 55 Insgesamt erweisen sie sich als »Aktivitätskomplexe«. 56 Ihr kennzeichnender Kern liegt in ihrer Funktion der Verknüpfung von Proben als Datenträgern, Analyseergebnissen und weiteren Angaben über die Probenspender und dem daraus resultierenden Potenzial für die Gewinnung von Informationen und Wissen, 57 das wiederum ein Netz von Beteiligten und Interessen konstituiert. Nicht zuletzt da man für die Herleitung der rechtlichen Anforderungen nur die allgemeinen und keine spezifisch zugeschnittenen Regelungen zur Verfügung hat, wird auch im Bereich der Biobanken dem Konzept der »informierten Einwilligung« eine zentrale Rolle zur Gewährleistung der Autonomie der Betroffenen, also der spendenden Personen, zugewiesen. Rechtlich folgert man dies sowohl aus deren Grundrechten auf körperliche Unversehrtheit, Eigentum und informationelle Selbstbestimmung als auch aus den Vorgaben auf einfachrechtlicher Ebene, etwa aus §§ 223, 228 StGB, dem Arztvertragsrecht, 58 dem Deliktsrecht und dem ärztlichen Standesrecht. In der Praxis werden ausgefeilte Einwilligungserklärungen eingesetzt. Gerade bei Biobanken wird jedoch immer deutlicher, dass die informierte Einwilligung zwar eine zentrale Rolle einnimmt, aber dennoch nur ein Baustein in einem Komplex von Regelungen sein kann. So wird man das auch international diskutierte Problem des »broad consent« oder des »blanket consent« 59 nicht mit isoliertem Blick auf das Paradigma der informierten Einwilligung lösen können. Eine breit oder offen gestaltete Einwilligung kann nur rechtmäßig sein, wenn ihre Risiken Gegenstand der Aufklärung sind, institutionelle und organisatorische Sicherungen Nachteile auffangen und verfahrensrechtliche Vorkehrungen eine erneute Beteiligung zumindest im Falle neu auftretender Schutzerfordernisse sicherstellen. Das Konzept informierter Einwilligung muss somit in einen stimmigen Gesamtzusammenhang mehrdimensionaler Schutz- und Gewährleistungsmechanismen eingebettet werden. Biobanken sind somit ein gutes Beispiel für das Zusammenspiel von Patientenautonomie und Patientenvertrauen im Gesundheitsdatenschutz.

54 55 56 57 58

59

Ursin (2008, 268). Dazu Simon, Paslack, Robienski, Goebel, Krawczak (2006, 46). So treffend Engels (2003, 15 f.). Schneider (2003, 65 ff.). S. dazu auch die Regelung des Behandlungsvertrages in §§ 630a ff. des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten – Patientenrechtegesetz. Dazu Burger (2009, 60 ff., 70 ff.); Hansson (2009, 9 f.); Ursin (2009, 17 ff.). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Ausblick Die bisherigen Ausführungen haben die Bedeutung des Gesundheitsdatenschutzes aufgezeigt, der verfassungs- und europarechtlich unterfüttert und auf gesetzlicher Ebene vielfältig gesichert ist. Die informierte Einwilligung der betroffenen Personen stellt dabei einen zentralen Schutzmechanismus dar. Sie ist aber keineswegs der einzige Baustein des Gesundheitsdatenschutzes. Gerade im Gesundheitsbereich, vor allem in den Feldern der Gendiagnostik und der Biobanken, drehen sich viele aktuelle Diskussionen um die Angemessenheit des individualistischen Ansatzes, der das deutsche Recht, namentlich die deutsche Grundrechtsdogmatik, kennzeichnet. Für eine sachgerechte Beurteilung muss man differenzieren: Zum einen wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass die auf die betroffene Person fokussierte Betrachtung durch eine Berücksichtigung der Interessen anderer oder der Gesellschaft relativiert werden muss. Diese Kritik trifft das rechtsdogmatische Herangehen jedoch nicht. Nur im ersten Schritt konzentriert man sich auf die Ausarbeitung der individuellen Interessen. Im zweiten Schritt werden die anderweitigen Interessen einbezogen. Im dritten Schritt werden divergierende Interessen in einer Abwägung ausgeglichen. Dieses schrittweise Vorgehen zielt auf und erreicht nicht selten tatsächlich eine Rationalisierung und Schärfung der Argumentation. Zum anderen wird des Öfteren herausgestellt, dass der individualistische Denkansatz als solcher den sozialen Bezügen des Menschen nicht hinreichend gerecht werde und bereits die Schutzgüter anders zu denken sind. Diese Kritik führt in Tiefenschichten und wirft außerordentlich schwierige Fragen auf. Jedenfalls ist der Begriff der (Patienten-)Autonomie hinreichend offen, um auch diese Diskussion aufzugreifen, und der Begriff des (Patienten-)Vertrauens ist bereits ein Begriff, der sozialen Bezügen Rechnung trägt. Literatur Albers M (2005) Informationelle Selbstbestimmung. Nomos, Baden-Baden Albers M (2012) Umgang mit personenbezogenen Informationen und Daten. In: Hoffmann-Riem W, Schmidt-Aßmann E, Voßkuhle A (Hrsg.) Grundlagen des Verwaltungsrechts. Bd. 2, 2. Aufl., Beck, München, 107–234 Allen A (1997) Genetic Privacy: Emerging Concepts and Values. In: Rothstein M (Hrsg.) Genetic Secrets: Protecting Privacy and Confidentiality in the Genetic Era. Yale University Press, New Haven /London, 31–59 Bäcker M (2010) Das IT-Grundrecht – Bestandsaufnahme und Entwicklungsperspektiven, in: Lepper U (Hrsg.) Privatsphäre mit System. Datenschutz in einer vernetzten Welt. Düsseldorf, 4–21 Bales S, von Schwanenflügel M (2012) Die elektronische Gesundheitskarte. In: Neue Juristische Wochenschrift: 2475–2480 Borchers CM (2008) Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte in das deutsche Gesundheitswesen. Logos Verlag, Berlin Britz G (2010) Informationelle Selbstbestimmung zwischen rechtswissenschaftlicher Grundsatzkritik und Beharren des Bundesverfassungsgerichts. In: HoffmannRiem W, Offene Rechtswissenschaft. Mohr Siebeck, Tübingen, 562–596 Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 2: Patientenautonomie und Recht

Trute HH (2003) Verfassungsrechtliche Grundlagen. In: Roßnagel A (Hrsg.) Handbuch Datenschutzrecht. Beck, München, 156–187 Ulmer C–D (2012) Datenverarbeitung und Datenschutz im Gesundheitswesen – technische Möglichkeiten und rechtliche Grundlagen. In: Rechtsdepesche für das Gesundheitswesen: 272–277 Ursin L (2009) Personal autonomy and informed consent. In: Medicine Health Care and Philosophy 12:17–24 Weichert T (2005) Vertrauen in die Vertraulichkeit bei der elektronischen Gesundheitskarte. In: Gesundheitsrecht: 151–155 Widdows H, Mullen C (2012) The Governance of Genetic Information. Cambridge University Press, Cambridge et al.

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TEIL 3 PATIENTENAUTONOMIE AUS THEOLOGISCHER PERSPEKTIVE Herausgegeben von R. Anselm, M. Zimmermann-Acklin

Hille Haker

Patientenautonomie aus katholisch-theologischer Perspektive Der medizinethische Begriff der Autonomie im historischen Kontext Dass die Autonomie von Patient/-innen einen zentralen Stellenwert in der medizinethischen Reflexion der letzten fünfzig Jahre gewonnen hat, ist kaum zu bestreiten. Strittig ist vielmehr die Interpretation des Begriffs der Autonomie in der Medizinethik. Dabei stehen bis heute die liberale und die kantische Interpretation von Autonomie in Spannung zueinander. 1 Diese beiden philosophischen Traditionen sind der Rahmen, in dem auch die theologische Auseinandersetzung zur Patientenautonomie steht. Auf drei Kontexte der ethischen Diskussion will ich kurz verweisen, die wichtig sind, um den medizinethischen Begriff der Autonomie von Patient/-innen zu verstehen: Erstens ist die historische Erfahrung staatlicher Menschenrechtsverletzungen in der Medizin für die Betonung der Autonomie als Patientenrecht relevant. Die Verletzung von Patientenrechten betrifft dabei nicht nur die Humanexperimente der Nationalsozialisten, auch wenn diese eine tiefe Erschütterung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auslösten, sondern auch die gleichzeitig durchgeführten Medizinexperimente in Japan oder in den USA. In der Folge werden in internationalen Kodizes wie dem Nürnberger Kodex oder der Helsinki-Deklaration Patientenrechte festgehalten, die verhindern sollen, dass Patient/-innen Opfer medizinischer Versuche werden, die ihre Integrität und Würde verletzen, in die

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Auf die Geschichte und die andauernde Debatte gehe ich nicht ein, weil mich in diesem Beitrag vor allem die theologische Perspektive interessiert. Einen guten Einblick zur Spannung zwischen dem Millschen und Kantischen Autonomiebegriff gibt Onora O’Neill (2002). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 3: Patientenautonomie aus theologischer Perspektive

sie nicht eingewilligt haben oder von denen sie nicht selbst profitieren. 2 Bis heute ist die Formulierung der Patientenrechte im Kontext der medizinischen und klinischen Forschung die wichtigste Errungenschaft der jüngeren Medizinethik; im Kontext der medizinischen Forschung in Entwicklungsländern wird die menschenrechtsorientierte Medizinethik dabei zu einem wichtigen Bestandteil der globalen Menschenrechtspolitik. Können Patientenrechte im Zusammenhang mit medizinischer Forschung als Grundrechte gefasst werden, die auf den Schutz des Lebens, ihrer Würde und ihrer Freiheit abzielen, so zeigt der zweite Kontext, den ich in Erinnerung rufen will, dass in der Bioethik zunehmend die Freiheit bzw. der Patientenwille als oberstes Prinzip moralischen Handelns fungiert. Für den bioethischen Autonomiebegriff ist der philosophiehistorische Freiheitsbegriff der angloamerikanischen politischen Philosophie zentral; seit der frühen Moderne (Locke, Mill) wird im Zusammenhang mit den politisch-philosophischen Überlegungen, wie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bzw. Staat auf eine Weise gestaltet werden kann, die die Willensbildung aller repräsentiert, darum gerungen, den Bürgern die Freiheit zu garantieren, die es ihnen ermöglicht, ihr Leben selbst, d. h. autonom, zu bestimmen. Die so gefasste Autonomie ist zunächst und vor allem ein (negatives) Freiheitsrecht, das den Einzelnen vor solchen staatlichen Übergriffen bewahren soll, die eine selbstbestimmte Lebensführung ver- oder behindern würden. 3 Negative Freiheit bedeutet entsprechend die Freiheit von (staatlichem) Zwang – die zuerst in die politische und erst dann in die moralische Emanzipationsgeschichte der Moderne eingebettet ist. Dieses Modell wird seit den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts auf die Medizin übertragen. Der Siegeszug des politisch-ethischen Freiheitsbegriffs zeigt sich darüber hinaus in der Entstehungsphase der Bioethik: Fast immer geht es um rechtliche Regulierungen bzw. Gerichtsentscheidungen, die medizinische Konflikte entscheiden – damit wird aber der hermeneutische Rahmen des Prinzips der Autonomie weiter gefestigt. So steht zum Beispiel der Fall der im Wachkoma liegenden Karen Ann Quinlan in den 1970er Jahren symbolisch für die viel größere Frage, wie medizinische Institutionen mit Rechten von Patient/-innen verfahren sollen; wie damit verfahren werden soll, wenn diese Rechte stellvertretend für sie beansprucht werden; welche Pflichten Ärzte gegenüber ihren Patient/-innen haben; und welche Rolle dem Staat, vertreten durch seine Rechtsinstitutionen, in der konkreten Bestimmung der Rechte und Pflichten aller von einer Handlung Betroffenen zukommt. Das Quinlan-Urteil sucht den Ausgleich zwischen dem »Lebensrecht« (und den entsprechenden Behandlungspflichten) und dem 2

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Wie notwendig nicht nur die Formulierung dieser Patientenrechte, sondern auch die historische Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen in der medizinischen Praxis sind, zeigte sich zuletzt in der 2011 von der amerikanischen Bioethik-Kommission vorgenommenen Aufarbeitung US-amerikanischer Medizinexperimente, die in Guatemala von 1946–48 stattfanden (vgl. Presidential Commission of the Study of Bioethical Questions 2011). Axel Honneth (2011) hat in seiner Studie zum modernen Freiheitsbegriff die konkurrierenden Interpretationen von Freiheit überzeugend rekonstruiert und dabei unter anderem die Grenzen der negativen Freiheit aufgezeigt. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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»Freiheitsrecht«, während nur wenige Jahrzehnte später, in der Diskussion des Falls der ebenfalls im Wachkoma liegenden Terri Schiavo, das Autonomieprinzip die am Lebensrecht orientierte Abwägung fast vollständig verdrängt zu haben scheint. Die Äußerungen von Papst Johannes Paul II., dass die Nahrungszufuhr in jedem Fall zu den »gewöhnlichen« Maßnahmen gehört, die einem Menschen – als Grundrecht – zukommen, wurde in dieser Debatte von vielen wohl auch deshalb mit Unverständnis aufgenommen, weil inzwischen im Grenzfall medizinischer Entscheidungen dem mutmaßlichen Willen einer Patientin grundsätzlich Vorrang vor der aus ihrer Würde und dem Lebensrecht entspringenden Behandlungspflicht gegeben wird. 4 Der dritte historische Kontext des bioethischen Autonomiebegriffs ist die Ökonomie: denn insbesondere die Freiheitskonzeption des politischen Liberalismus ist nicht zu denken ohne den Zusammenhang zur politischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts und zur Entstehung der modernen Märkte. Zweifellos ist die moderne Medizin ohne ihre verschiedenen Bezüge zur Forschung, Entwicklung und Vertreibung von Medikamenten, medizinischen Geräten, Labormethoden etc. undenkbar. Aber sie ist auch in ihrem Bezug zur gesellschaftlichen bzw. individuellen Finanzierung der verschiedenen Dienstleistungen ökonomisch strukturiert – moderne Medizin ist pharmazeutische Medizin, sie ist Biomedizin, und sie ist eine technisierte Medizin, die mit einem ungeheuer hohen finanziellen, technischen und personellen Aufwand den menschlichen Körper (einschließlich seiner psychischen Verfasstheit) diagnostiziert und therapiert. Wird nun die Patientenautonomie in diesem komplexen System im Sinne des politischen Liberalismus als Freiheitsrecht gefasst, so treten die Schutzrechte und die »positiven« bzw. sozialen Rechte leicht in den Hintergrund; staatliche Institutionen sollen den Patienten ja in erster Linie in seiner »privaten« Freiheit schützen. Der hermeneutische Interpretationsrahmen der Patientenautonomie, die dem politischen Liberalismus verpflichtet ist, ist dann nicht nur der öffentlich agierender Bürger, sondern ebenso ein öffentlich agierender Marktteilnehmer, der sich unter den Bedingungen der Gerechtigkeit als Fairness (für die die rechtlichen Regulierungen einstehen) medizinische Dienstleistungen erwirbt. Die Beziehung von Patienten zu medizinischen Dienstleistern entspricht in diesem Verständnis weitgehend anderen Vertragsbeziehungen, die den Warentausch absichern und 4

Die Unterscheidung von »gewöhnlichen« und »außergewöhnlichen« Maßnahmen führte Papst Pius XII. in einer seitdem berühmt gewordenen Ansprache im November 1957 an, um die Grenzen der Behandlungspflicht darzulegen. Zusammen mit dem sogenannten Prinzip der Doppelwirkung hat diese Unterscheidung eine große Wirkung auf die bioethischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte gehabt (Pius XII. 1957). 2005 verschärfte Johannes Paul II. anlässlich der Debatte um den Behandlungsabbruch der Wachkoma-Patientin Terri Schiavo die kirchliche Interpretation der Behandlungspflicht (Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre 2005). Mir geht es hier nicht um die Beurteilung der päpstlichen Stellungnahme – in der Tat halte ich die Verengung der Beurteilung auf die Nahrungszufuhr für falsch, weil die Pflicht zur Versorgung eines Menschen sich gerade nicht am Objekt der Versorgung (hier: Nahrungszufuhr) zu orientieren hat, sondern vielmehr am Zustand des Menschen bzw. dem Kontext, in dem die Nahrungszufuhr erfolgt. Dies soll hier nicht weiterverfolgt werden, weil es mir nur um den Wandel des Stellenwerts der Autonomie in der Abwägung des Lebensrechts geht. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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die Fairness gewährleisten: Gerechtigkeit ist nach diesem Verständnis vor allem Tauschgerechtigkeit, die durch eine staatlich abgesicherte Verteilungsgerechtigkeit ergänzt wird. Die »Objekte« des Tausches sind dann jedoch verhandelbar – dies ist mit der »wunscherfüllenden Medizin« gemeint, die ihren Gegenstand nicht mehr notwendig in der Krankheitsbehandlung findet, sondern in einer vom »Konsumenten« bestimmten medizinischen Behandlung. In der Konsequenz bedeutet dies nun Folgendes: So sehr auch die politische Philosophie des Liberalismus ihrem Ideal nach indifferent gegenüber den Selbstentwürfen bzw. Werturteilen ist, die eine Person über ihr eigenes Leben fällt – ihnen begegnet sie zumindest normativ mit Respekt und Toleranz – so sehr ist sie doch zugleich mit der politischen Ökonomie verwoben, die in der freien (Markt)-Kooperation das Idealbild des öffentlichen Handelns autonomer Bürger sieht. Nur so kann der Patient zu einem »Partner« des Arztes werden, dessen Interpretation des Wohlergehens grundsätzlich durch die »autonome« Interpretation des Patienten begrenzt wird. Die Neubestimmung der Autonomie führt daher zu einer radikalen Neuausrichtung der traditionellen Medizinethik. Die Neuausrichtung traditioneller Medizinethik Traditionell wird das medizinische Handeln auf den Wert der Gesundheit bezogen, von dem angenommen wird, dass er ein gemeinsam geteilter, anthropologischer Wert ist; wenn es unstrittig ist, dass Menschen nach (ihrem) Glück streben, Krankheit aber als Leid oder »Unglück« erfahren wird, dann steht Krankheit dem Glück im Wege, unabhängig davon, ob Menschen mit einer (zum Beispiel chronischen) Krankheit oder mit einer Behinderung »trotzdem« glücklich sein können. Insofern Ärzte sich an der Wiederherstellung eines Gleichgewichts orientieren, das letztlich vom Patienten subjektiv als Gesundheit erfahren wird, ist zwar der Arzt der Handelnde und der Patient derjenige, an dem gehandelt wird, aber beide setzen voraus, dass sie den Wert der Gesundheit teilen und ihrem gemeinsamen Handeln als vorrangig betrachten. 5 Diese, wenn man so will, »realistische« Moralkonzeption vertritt auch die katholisch-theologische Ethik. Der Maßstab des Gelingens ärztlichen Handeln ist das Wohlergehen des Patienten (»salus aegroti suprema lex«), dessen Definition zunehmend von wissenschaftlichen Analysen flankiert wird. Das heißt: Das Handeln des Arztes zugunsten des Patienten basiert auf einer (impliziten oder expliziten) Beauftragung durch den Patienten, welcher der Hilfe bedarf, sich aber nicht selbst helfen kann, und der darauf vertraut, dass ein Arzt ihm soweit wie möglich helfen wird. Es wäre daher falsch, die traditionelle Arztethik einfach als »paternalistisch« zu bezeich5

Hans-Georg Gadamer hat dafür einen m. E. glücklichen Begriff gewählt: Er beschreibt den Zustand der Gesundheit als Gleichgewicht, das aber so lange »verborgen« bleibt, wie es besteht. Krankheit bedeutet für den Patienten dann die Erfahrung des Ungleichgewichts, das Leiden und u. U. Schmerzen auslöst und erst dann wieder aufgelöst ist, wenn entweder das Gleichgewicht wiederherstellt ist oder aber, etwa in Bezug auf chronische Krankheiten oder die Verarbeitung von schweren Krankheiten, ein Gleichgewicht auf einer neuen Ebene hergestellt ist (Gadamer 1993). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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nen – vielmehr basiert sie auf einem »Pakt« zwischen Arzt und Patient, d. h. der Annahme, dass der Zweck des ärztlichen Handelns dem unterstellten Willen des Patienten entspricht, das Gleichgewicht der Gesundheit so weit wie möglich (wieder-)herzustellen, weil Krankheit von beiden als Übel betrachtet wird. Der zentrale Unterschied der neueren medizinischen Ethik zur traditionellen Arztethik besteht darin, dass beide Partner nicht mehr ein geteiltes moralisches Verständnis von Krankheit und Gesundheit voraussetzen können und der Arzt daher zu einem Dienstleister der selbstbestimmten Interessen des Patienten wird. Das heißt, dass die Asymmetrie, die durch die Hilfsbedürftigkeit, Abhängigkeit und Verletzlichkeit des Patienten ausgelöst wird und die durch die spezifische Handlungsfähigkeit des Arztes noch verstärkt wird, in moralischer Hinsicht aufgehoben ist: Patientenautonomie ist weit mehr als negative Autonomie; sie ist »positive« Autonomie, die eine selbstreflexive Handlungs- und Moralkompetenz voraussetzt. Diese ist notwendig, um die mit einer Handlung angestrebten Ziele im Licht der eigenen Werte zu beurteilen. Die Beauftragung des Arztes durch einen Patienten, seine »freie und informierte Einwilligung«, erfolgt daher nicht nur auf der Grundlage der Zwanglosigkeit und Aufklärung (dies ist eine Minimalbedingung), sondern vielmehr in Korrelation zu den Werten und Überzeugungen eines Patienten. Das Modell der negativen Autonomie erfasst nun weder die komplexe Kommunikationsstruktur der Arzt-Patienten-Beziehung, noch ist es für die anspruchsvolle moralische Reflexion geeignet, die dem Patienten zugemutet wird. Unter den Bedingungen von Krankheit greift das Modell der auf den Freiheitsrechten gründenden Autonomie als einziges Modell nicht. Indem die liberale Autonomiekonstruktion auch in der Medizinethik von einem souveränen, selbstbestimmten und atomistisch agierenden Kooperationspartner des Arztes ausgeht, übersieht sie die spezifischen Bedingungen der medizinischen Handlungssituation: Sie übergeht die durch Krankheit ausgelöste gesteigerte Verletzlichkeit eines Patienten, der sich unter Umständen in einer tiefgreifenden Lebenskrise befindet oder mit einem dramatischen Bruch seiner Biographie konfrontiert ist. 6 Sie übersieht die Notwendigkeit der Inanspruchnahme »positiver« Leistungen, die nicht in der Marktkooperation gründen, sondern im Recht auf Hilfe in Situationen der Hilfsbedürftigkeit. Und sie hat keinen Ort für die spezifische moralische Reflexion des Patienten in Entscheidungssituationen, die kaum je unabhängig von den Menschen gefällt wird, die das »Umfeld« des Patienten bilden. Der Autonomiebegriff des politischen Liberalismus verharrt in der Betonung des Respekts vor der Selbstbestimmung als Entscheidung des einzelnen über die von ihm /ihr vertretenen Werthierarchien. In der medizinethischen Praxis wird demgegenüber aber oft gerade miteinander gerungen, wie mit konkurrierenden Wertauffassungen – auch jenseits der rechtlichen Regulierung – umzugehen ist. 6

Ein berührendes »Protokoll« einer solchen Krankheitserfahrung hat Christoph Schlingensief hinterlassen. Ich habe dies andernorts ausführlicher interpretiert und dabei auch die Kategorie der Verletzlichkeit in den Mittelpunkt medizinethischer Reflexion gerückt (Schlingensief 2009). Vgl. auch Haker (2013). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 3: Patientenautonomie aus theologischer Perspektive

Kants Autonomiebegriff bezieht sich auf die moralisch-ethische Reflexion eines Handlungssubjekts, das genötigt ist, sein Handeln vor sich selbst und anderen zu rechtfertigen. Diese Fassung der moralischen Autonomie steht dem theologischen Autonomiebegriff näher als die Tradition des politischen Liberalismus, weil sie auf die Bedingungen für die Realisierung der Moralfähigkeit rekurriert. Beide Traditionen sagen aber relativ wenig über die Freiheit als Authentizität und über die sozial vermittelte Freiheit als weitere Dimensionen des Freiheitsbegriffs. Beide Dimensionen sind jedoch für die theologische Ethik wichtig: Die Authentizität verweist auf die Selbstverwirklichung, die auch Gegenstand der theologischen Tugendethik als einer Haltungsethik der stetigen Einübung der Vermittlung von Erfahrungen, Überzeugungen und Handeln ist, und die soziale Freiheit verweist auf die Notwendigkeit, den Ausgangspukt der ethischen Reflexion in der Intersubjektivität bzw. sozialen Identität in ihrer Vermittlung mit gesellschaftlichen Werten und Normen zu suchen. 7 Zusammengefasst ergibt sich ein komplexes Gefüge verschiedener, zum Teil konkurrierender Interpretationen von Autonomie: – Autonomie als die Freiheit von Zwang; – Autonomie als die Souveränität des selbstbestimmten Handelns im Kontext medizinischer Praxis; – Autonomie als Moralfähigkeit, das eigene Handeln im Licht der eigenen Werte und der eigenen Rechte sowie der Rechte anderer zu verantworten; – Autonomie als Authentizität im Sinne der kontinuierlichen Reflexion und Lernprozesse moralischer Haltungen und Überzeugungen; – Autonomie als soziale Freiheit, die die intersubjektiven Vermittlungen der individuellen Freiheit reflektiert. Die katholisch-theologische Ethik beharrt nun darauf, dass die Patientenautonomie nicht auf die atomistische Wertekonstitution zu reduzieren ist, sondern versucht, die Freiheit als Moralfähigkeit mit der Authentizität als Lern- und Gestaltungsprozess der individuellen Biographie sowie der relationalen Autonomie zu verbinden. Sie setzt der ökonomisch ausgerichteten Tauschgerechtigkeit ein Gerechtigkeitskonzept entgegen, das sowohl an der gleichen Würde und den Grundrechten aller Menschen orientiert ist wie an den Freiheitsrechten und den sozialen Rechten. Dadurch ist die Reflexion auf die Autonomie notwendig Bestandteil der sozialethisch ausgerichteten Menschenrechtsreflexion und in diesem Zusammenhang zu diskutieren. Die Interpretation der moralischen Autonomie ist die Grundlage der theologisch-ethischen Reflexion. Sie beharrt auf der Moralfähigkeit als einer Nötigung des Handlungssubjekts, den moralischen Standpunkt einzunehmen. Als theologische Ethik leistet sie diese Reflexion im Kontext und im Bezug auf ihre eigene Tradition, die sie im Vollzug der medizinischen Praxis je neu aktualisiert. Aus der Standpunktgebundenheit und der Parteilichkeit für die Würde und Rechte aller 7

Vgl. zu beiden Bedeutungsebenen ausführlich Mieth (1998; 1999) sowie zur sozialen Freiheit in der hegelianischen Tradition Honneth (2011). Zur intersubjektiven, sozialen Identität im Verhältnis zur moralischen Identität vgl. Haker (1999). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Haker: Patientenautonomie aus katholisch-theologischer Perspektive

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Menschen mag – aus Sicht eines enggeführten Liberalismus – eine Verletzung der Neutralität erwachsen. Aber eine solche Neutralität beansprucht die theologische Ethik nicht, erhebt sie doch genauso aufgrund ihrer eigenen Tradition wie auch aufgrund der philosophischen Tradition einen Wahrheitsanspruch in Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte. 8 Auch wenn die Aufnahme des Autonomiegedankens in der theologischen Ethik in diesem Sinne unproblematisch ist, kann und soll nicht der Konflikt verschwiegen werden, der zwischen dem Katholischen Lehramt und der Katholisch-theologischen Ethik seit Jahrzehnten besteht. Um die Widersprüche der katholischen Rezeption der »Autonomie« verstehen zu können, ist es notwendig, diese Auseinandersetzung kurz zu skizzieren. Autonomie in der katholisch-theologischen Ethik Das Verständnis der Autonomie und das Verhältnis von Autonomie und Theologie sind durch viele Missverständnisse, durch Ablehnung der modernen Wissenschaften und Philosophie und nicht zuletzt durch Angst vor dem Verlust von Macht geprägt. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein liest sich daher die theologische Auseinandersetzung um die Autonomie als Abwehrkampf gegenüber der »Moderne«. Spätestens mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wird jedoch die Eigengesetzlichkeit (Autonomie) der Wissenschaften anerkannt; dies hat nicht nur, wie es heute scheinen mag, Auswirkungen auf das Verhältnis von Naturwissenschaften und Theologie, sondern auch auf das Verhältnis von Hermeneutik und Theologie. Diese theologische Verortung soll uns hier nicht weiter beschäftigen, nur ist sie der theologische Horizont für die Auseinandersetzungen um die Autonomie der Moral in der theologischen Ethik. Denn es geht in der theologische Ethik seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer auch um die Frage, ob die wissenschaftliche Reflexion der Moral – die theologische Ethik – in vergleichbarer Weise »autonom« ist wie die wissenschaftliche Erforschung der Natur und Geschichte. Die Beantwortung dieser Frage ist weit mehr als »nur« eine Methodenfrage; vielmehr erweist sich an ihr, worum es in der Theologischen Ethik überhaupt geht. In der Katholischen Theologie gibt es heute einen tiefgreifenden Konflikt über die Grundlagen der Moral – und einer der zentralen Orte, an denen er ausgetragen wird, ist die Bioethik. Sehr grob gesagt geht es im lehramtlichen Verständnis der Theologischen Ethik einzig um die konkreten Formulierung von Handlungsnormen und die Vermittlung moralischer Urteile in bestimmten Anwendungskontexten – und zwar auf der Grundlage einer unveränderlichen sittlichen Ordnung, deren normative Implikationen vom Lehramt in den Grundlinien vorgegeben werden. Wissenschaftliche Erkenntnisse, die für die Eruierung von moralischen Urteilen herangezogen werden, sind nur insofern wahrheitsfähig, als sie der sittlichen Ordnung nicht zuwiderlaufen. Kern der sittlichen Ordnung ist die natürliche Ausrichtung des Menschen auf das 8

Das heißt natürlich nicht, dass ihre Urteile nicht korrekturfähig und korrekturbedürftig sind, aber eine Überbetonung des Wissens um die historische Vernunft kann nicht dazu führen, dass überhaupt keine normativen Urteile mehr gefällt werden. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Gute, die für den gläubigen Menschen in Gott gründet. Durch die anthropologisch fundierte »natürliche Vernunft« sowie durch die geschichtliche Offenbarung Gottes sind die Kriterien der Unterscheidung von »gut« und »böse« bzw. der »richtigen« und »falschen« Handlungen der menschlichen Vernunft prinzipiell zugänglich. Sie finden ihren komprimierten Ausdruck in den Äußerungen des Katholischen Lehramts bzw. den päpstlichen Stellungnahmen, in denen insbesondere das Lebensrecht und die Würde des Menschen als normative Grenzen der menschlichen Freiheit begriffen werden. 9 Als Glaubenswissenschaft ist Theologische Ethik nicht nur den Erkenntnissen der anderen Wissenschaften und ihren rationalen Erkenntnisweisen verpflichtet, sondern auch der Theologie bzw. Kirche, enggeführt im Lehramt als Instanz der Interpretation einer letztlich in Gott gründenden und von ihm offenbarten sittlichen Ordnung. 10 Theologische Ethik hat demnach in unserem Kontext zwei Funktionen: einerseits wird sie die theologisch-ethischen Urteile zu den medizinischen Praxen vermitteln, die die Akteure, sofern sie sich als Katholiken verstehen, sich zu eigen machen sollen, andererseits wird sie Wege aufzeigen, wie der einzelne im Einklang mit den theologischen Werten und Normen handeln und leben kann. Eine solche Funktion ist leicht an der Vermittlung der lehramtlichen Stellungnahmen etwa zum Lebensbeginn oder zum Lebensende abzulesen. Über diese individualethische Funktion hinaus werden aber auch institutionelle Vermittlungen notwendig: So werden katholische Einrichtungen entsprechend der normativen Implikationen nur solche medizinischen Leistungen anbieten, die im Einklang mit den moralischen Urteilen stehen. Dass es dabei zu pastoralen Verweigerungen der Hilfestellung kommt, nimmt »die« Kirche in Kauf. Das Zweite Vatikanische Konzil hatte nun die Ethik aufgefordert, an einer Erneuerung der Morallehre im Lichte des Konzils zu arbeiten – und in der Folge hatten sich die Disziplinen der Moraltheologie und Sozialethik in der Tat dieser Aufgabe gewidmet. Dabei war unter anderem die Ausrichtung einer »Autonomen Moral« bzw. interdisziplinär arbeitenden »Theologischen Ethik« entstanden, die sich von der neuscholastischen Morallehre distanziert und in ihren Grundlegungen der historisch vermittelten Menschenrechtstradition folgt, die sie zuweilen mit einer Re-Interpretation des Naturrechts verbindet, wie dies ja auch in der politischen Philosophie der Moderne geschehen war. Diese Reformulierung der Theologischen Ethik geht davon aus, dass Theologische Ethik als eine spezifische Form praktischer Vernunft zu fassen ist, die einerseits als her-

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Anders als die oben anvisierte Integration moralischer Urteile in die Tradition der Menschenrechte, die im Rahmen der historischen Vernunft begründet und »unhintergehbar« ist, rekurriert das Lehramt auf eine übergeschichtliche Moralordnung, die in ihren materialen Gehalten jedoch mit den Gehalten der Menschenrechtstradition übereinstimmen kann. Während die Menschenrechtstradition auf die rationale Überzeugungskraft auf der Grundlage historischer Erfahrungen und ihrer Reflexion setzt, behauptet das Lehramt, dass die Verletzung der sittlichen Ordnung eine Verkehrung der (menschlichen) Natur bedeutet. Vgl. dazu die dafür zentralen Ausführungen der so genannten Moralenzyklika »Veritatis Splendor« von 1993 (Johannes Paul II 1993, 29). Zur kritischen Auseinandersetzung mit Veritatis Splendor vgl. Mieth (Mieth 1994). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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meneutische Ethik bzw., im Kontext der Wissenschaftsethik, als interdisziplinär verfahrende induktive Ethik zu fassen ist, andererseits aber als normative Ethik die die aus den Erkenntnissen zu extrapolierenden normativen Urteile vor dem Forum der Vernunft zu rechtfertigen hat. Die Aufgabe der Theologischen Ethik nach diesem Verständnis ist nicht nur die Formulierung und Vermittlung andernorts gefundener Normen, sondern vielmehr die »autonome«, d. h. wissenschaftlich vermittelte Urteilsfindung unter Einbeziehung der Erkenntnisquellen des christlichen Glaubens. 11 Da die Ethik anders als der Staat mit seinem Rechtssystem über kein anderes »Instrument« als die Überzeugung verfügt und da auch für die Theologie die einzelne Person in ihrer (Gewissens-)Freiheit eine zu respektierende Grenze darstellt, 12 ist die Verortung der theologischen Reflexion in der Interpretation ihrer Tradition, in den menschlichen Erfahrungswirklichkeiten in je unterschiedlichen Kontexten und in der rationalen Urteilsfindung im Kontext dieser »loci theologici« 13 keine Einschränkung, sondern ein wichtiger Vermittlungsschritt zwischen der Einsicht und der Umsetzung im Handeln. Dieser Prozess des ethischen Urteilens ist wechselseitig »informativ«, korrelativ und korrektiv. So sind etwa die biblischen Quellen »Referenzpunkte« der Erkenntnis, die die Gestaltung der moralischen Identität jenseits der Begründung begleiten bzw. als korrelatives Korrektiv zu normativen Begründungen herangezogen werden. Sie sind aber nicht selbst und nicht unmittelbar als Handlungsnormen zu verstehen – für die Erstellung von Normen bedarf es wie gesagt der kritischen, gleichwohl aber kontextuellen Analyse der in Frage stehenden Handlungssituationen in der Perspektive der Menschenrechte. Wird Theologische Ethik in diesem Sinn als »autonome« Wissenschaft aufgefasst, die die Erkenntnisse anderer Wissenschaften mit den Erkenntnisquellen der Theologie vermittelt, dann ist sie zu einem Teil praktisch-normative Philo11

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Dies ist mit A. Auers Formel der autonomen Moral im christlichen Kontext gemeint (Auer 1969; 1971), die zum Beispiel sein Schüler Dietmar Mieth insbesondere in Bezug auf die Bioethik in eine interdisziplinär ausgerichtete Theologische Ethik weiterentwickelt hat (Mieth 2002). Die »autonome Moral« ist der heute mehrheitlich von deutschen Ethikerinnen und Ethikern vertretene Ansatz innerhalb der katholisch-theologischen Ethik; freilich gab und gibt es auch in der Ethik unterschiedliche Ansätze, auf deren Binnendifferenzierung ich hier aber nicht weiter eingehen kann. J. Ratzinger bestätigt in seinem Kommentar zum Konzil den Primat der individuellen (moralischen) Autonomie prägnant: »Über dem Papst als Ausdruck für den bindenden Anspruch der kirchlichen Autorität steht noch das eigene Gewissen, dem zuallererst zu gehorchen ist, notfalls auch gegen die Forderung der kirchlichen Autorität« (Ratzinger 1966, 52 f.). Loci theologici sind Referenzpunkte der (theologischen) bzw. theologisch-ethischen Erkenntnislehre – zu ihnen gehören zum Beispiel: die biblischen Zeugnisse, die kirchliche Tradition, die historischen Erfahrung, die Theologie, das Lehramt, die Kirche als ganze – und nicht zuletzt die Vernunft. Wenn diese Referenzpunkte in Bezug auf die Sittlichkeit dahingehend hierarchisiert werden, dass »das« Lehramt oder »der« Papst über den Wahrheitsgehalt ethischer Aussagen entscheidet, so spiegelt dies eine autoritäre und potentiell repressive Auffassung wider, die zwar viele Vorbilder in der Geschichte der Kirche hat, keineswegs aber in oder mit der christlichen Tradition begründet werden kann. Die loci theologici Lehre geht auf Melchior Cano zurück und wurde vor allem vom Fundamentaltheologen Max Seckler weiter ausgearbeitet. Vgl. zuletzt Seckler (2007). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 3: Patientenautonomie aus theologischer Perspektive

sophie, zu einem anderen Teil aber theologisch-hermeneutische Ethik. Auf der Grundlage dieser ethischen Verortung sind zum Beispiel Geschichten des Leidens oder Heilungsgeschichten des Neuen Testaments ebenso selbstverständliche Erkenntnisorte bzw. Quellen theologisch-ethischer Analysen wie etwa Psalmen, die die subjektive Erfahrung des Leidens in eine rituelle und poetische, und das heißt unter anderem auch gemeinschaftlich geteilte Sprache fassen. Die Auseinandersetzung mit der in der körperlichen und leiblichen Verletzlichkeit gründenden menschlichen Existenz und die Erfahrung von Gewalt und Tod sind Gegenstand unzähliger Interpretationen und Re-Interpretationen, die in der biblischen Interpretation nicht so sehr in den Horizont der anthropologisch und theologisch begründeten Freiheit gestellt werden, sondern vielmehr in den Horizont der geschichtlichen Befreiung. 14 Sowohl die theoretische als auch die praktische Medizinethik findet in der theologischen Tradition daher hermeneutische »Modelle«, die den Autonomiebegriff »dynamisieren« und eher als Prozess der Auseinandersetzung mit vielfältigen »Heteronomien« beschreiben denn als vorauszusetzende Handlungskompetenz. Sie sind der Grund für die kritische Rezeption des impliziten Menschenbildes der Medizin von Seiten der Theologie, das in der liberalen Tradition der Patientenautonomie fortlebt. Die theologischethische Hermeneutik verweist dabei etwa auf die Schwierigkeiten des moralischen Handelns bzw. Lebens angesichts der Erfahrungen des Leidens, durch Krankheit genauso wie durch die Verletzung der der Rechte angesichts ungerechter Strukturen. Trotz des vom Zweiten Vatikanischen Konzil explizit bestätigten Primats der Notwendigkeit der subjektiven Einsicht des Einzelnen in die Richtigkeit seines Handelns (Primat der Gewissensfreiheit) ist das kirchliche Lehramt der Neuausrichtung der Katholisch-theologischen Ethik nicht gefolgt. Im Zuge des »restaurativen« Wandels unter Papst Johannes Paul II antwortete der Papst 1993 in einer zum Teil ausgesprochen polemischen Attacke mit der Moralenzyklika »Veritatis Splendor« auf diese Erneuerungen der theologischen Ethik. Bis heute beharrt das Lehramt darauf, dass die von ihr naturrechtlich begründete »sittliche Ordnung« das einzig mögliche Paradigma ist, innerhalb dessen das menschliche Handeln moralisch beurteilt werden kann. Damit entzieht sie sich jedoch dem Anspruch der rationalen (das heißt: transparenten und in ihren Argumentationen vernünftig nachvollziehbaren) Rechtfertigung – und verwickelt sich insofern in Widersprüche, als sie die Vernunftnatur des Menschen in Anspruch nimmt, der sie gleichzeitig jedoch die Realisierungsmöglichkeit, die doch darin besteht, alle Urteile einer kritischen Analyse zu unterstellen, verweigert. An dem wohl umstrittensten Konfliktfeld der Katholisch-Theologischen Ethik will ich kurz deutlich machen, wie sich das Lehramt unter Inkaufnahme des Kommunikationsabbruchs gegenüber der Theologischen Ethik sowie 14

Neben die philosophisch-theologisch notwendige transzendentale Begründung der Freiheit des Menschen stellt die biblisch-narrative Tradition – und wohl auch die menschliche Erfahrung und Geschichte – die Unfreiheit, der der jüdisch-christliche Gott mit der Verheißung der Befreiung und der Forderung der Gerechtigkeit antwortet. Beide Erkenntnisformen sind notwendig Bestandteil der theologisch-ethischen Reflexion. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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der Kirche als Gemeinschaft gegen die Infragestellung des Paradigmas der naturrechtlichen »sittlichen Ordnung« immunisiert: Die lehramtliche Sexualethik enthält bekanntlich die Interpretation einer teleologischen Ausrichtung des Sexualakts auf die Fortpflanzung. Diese Interpretation ist in der Tat nicht biologistisch, sondern durchaus ethisch gemeint. 15 Diese Interpretation wird nun aber ohne weitere Vermittlung normativ interpretiert. 16 Katholische Paare, die zum Beispiel reproduktionsmedizinische Behandlungen in Anspruch nehmen wollen, sind daher kontinuierlich mit den moralischen Verurteilungen des Lehramts konfrontiert, während die Theologie der solidarischen Anteilnahme kaum je Erwähnung findet. 17 Ihr Leiden etwa an einem unerfüllten Kinderwunsch spielt keine Rolle für die normativen Urteile, die ihre Quelle in einer bio-moralischen Naturteleologie finden. Aber auch die theologischen und philosophischen Reflexionen der Ethik spielen keine Rolle für die ethische Urteilsfindung. Und das heißt, dass die Erkenntnisorte (loci theologici) eigentlich keine Rolle bei der Beurteilung der in Frage stehenden Praxen spielen. Mir geht es hier nun nicht um eine Kritik der Sexualethik, 18 sondern vielmehr geht es mir darum zu zeigen, dass eine bestimmte hermeneutisch-ethische Interpretation der Sexualität unmittelbar normativ interpretiert wird und dann gegenüber anderen Interpretationen den Primat beansprucht, ohne sie dem Prozess der kommunikativen Deliberation in der Kirche auszusetzen. 19 Ein legalistisches Verständnis der Moral, dass diese in der Weise des (staatlichen) Rechts fasst, führt aber zur Verkehrung dessen, was das Lehramt moralisch gerade fordert: der eigenen Natur entsprechend zu handeln, die ja naturrechtlich als Vernunftnatur gefasst wird. Eine Alternative zur Autonomie als Grundlage der Moral gibt es für die Theologische Ethik deshalb nicht. Die »autonome« Ethik der Theologie verliert damit ihre kritische Funktion gegenüber moralischen Praktiken gerade nicht, sondern kann sie überhaupt erst als moralische Kritik geltend machen: Indem sie entweder kritisch den Finger auf die Wunde (der Ungerechtigkeit und Missachtung von Rechten) legt oder aber die Augen für Interpretationen öffnet, die das mensch15

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Zur theologischen Interpretation der Sexualität als Ausdruck der sich im gegenseitigen Respekt selbst schenkenden Ehepartner, dessen sozialer Ausdruck das von ihnen gezeugte Kind ist, vgl. zum Beispiel die bioethische Enzyklika »Dignitas Personae« (Kongregation für die Glaubenslehre 2008). Dies liegt u. a. natürlich auch daran, dass die Moraltheologie sich aus der Beichtpraxis entwickelt hat, in der es um die Beurteilung von Handlungen im Hinblick auf Schuld bzw. Sünde geht. Vgl. demgegenüber zu einer Theologie der »Compassion« Metz (2011). Eine solche Kritik habe ich andernorts dargelegt (Haker 2011). Ich habe exemplarisch aufgezeigt, wie eine sozialethische Ethik der Verantwortung die Erfahrungen von Betroffenen aufgreifen kann, ohne sie nun umgekehrt unmittelbar normativ zu deuten – dies ist meines Erachtens der Fehler, der in der vorschnellen Gleichsetzung von Autonomie und richtigem Handeln gemacht wird (vgl. auch Haker 2002). Auch wenn es in der Kirche nicht um eine »demokratische Deliberation« geht, so doch um die kommunikative Deliberation, das heißt, die Vermittlung der unterschiedlichen Erkenntnisorte (loci theologici) in der Gemeinschaft der Gläubigen, was das Ringen um richtige Urteile nicht aus-, sondern gerade einschließt. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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liche Handeln in der Tat in einem »neuen Licht« erscheinen lassen. Theologisch wird sie nicht nur plausibel zu machen versuchen, dass die für die Moralfähigkeit notwendige Annahme der menschlichen Freiheit die gleiche Freiheit ist, in die die symbolische Sprache der biblischen Texte den Menschen ruft, sondern sie wird darüber hinaus die Verheißung der Befreiung als Kontrapunkt zum statischen Freiheitsbegriff in Erinnerung rufen. Anders als die defensive Fassung der negativen Autonomie von Patient/-innen bezieht die Theologie daher die Autonomie von vorneherein auf das Zusammenspiel von Fragen der moralischen Autonomie mit Fragen der Authentizität, des existentiellen Selbstverständnisses angesichts potentiell radikal verstörender Erfahrungen. Nimmt man diese Doppelfigur ernst, dann ergeben sich aus der theologischen Reflexion Sinngehalte, die für die »positive« Bestimmung auch der moralischen Autonomie relevant sind. Dies bedeutet für einen Patienten, die moralische Reflexion auf ein anspruchsvolles Konzept der Selbstsorge zu richten, die auf der Sorge um und für das eigene Leben und Wohlergehen aufruht und die – theologisch – als Antwort auf die Bejahung der eigenen Existenz durch Gott verstanden werden kann. Dies scheint mir ein sehr wichtiger Ansatzpunkt für den Umgang mit Krankheitserfahrungen sein. Die Interpretation der Autonomie als relationaler Autonomie bedeutet demgegenüber, dass diejenigen, die in einer (temporär) asymmetrischen Beziehung den größeren Handlungsspielraum haben, ihre Selbstsorge zugunsten der Sorge um und für andere zurückstellen müssen. Paul Ricœur hat dabei allerdings überzeugend dargelegt, dass das Zusammenspiel von Selbstsorge und Sorge für und um andere keineswegs in erster Linie eine normativ-moralische Forderung ist, sondern vielmehr zuallererst auf der Appellstruktur des »Optativs« bzw. der impliziten Bitte um Aufmerksamkeit und Sorge aufruht. Es ist Sache der Ethik, die notwendige Vermittlung von strebensethischen Sorge und normativ verstandener Sorgepflicht zu leisten (Ricœur 1996). 20 Schlussbemerkung Zum Schluss möchte ich thesenhaft einige Implikationen für die theologischethische Fassung der Patientenautonomie benennen: Erstens: Der Autonomie von Patienten im Sinne der negativen Freiheit und der Ermächtigung zur freien Selbstbestimmung des Lebens wird in der theologisch-ethischen Reflexion nichts »genommen«; sie wird vielmehr bestätigt, weil der Einzelne in seiner Würde und in seinen Rechten, zu denen seine Freiheitsrechte gehören, zu schützen ist. Zweitens: Die katholisch-theologische Ethik geht von der gleichzeitigen Konstitution von Freiheit und Moralfähigkeit aus – und lehnt daher die Interpretation der Freiheit als Willkürfreiheit ab. Damit folgt sie eher der philosophischen Tradition Kants als des politischen Liberalismus, auch wenn beide Traditionen durch ihre unterschiedliche Stoßrichtung durchaus in einem komplexen Autonomiebegriff zu integrieren sind. 20

Vgl. zu einer an Ricœur angelehnten Ethik der Elternschaft im Kontext der Reproduktionsmedizin und Gendiagnostik Haker (2011). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Drittens: In der katholisch-theologischen Reflexion gebührt dem Einzelnen grundsätzlich Vorrang vor den Interessen des Gemeinwesens. Katholisch-theologische Ethik muss sich daher zum Anwalt der Patientenrechte machen und zum Beispiel in der globalen medizinischen Forschung die Patientenrechte als Menschenrechte gegenüber utilitaristischen Nutzenerwägungen verteidigen. Viertens: Die katholisch-theologische Ethik fasst »positive« Freiheit als eine Frage der Gestaltung moralischer Identität im Sinne einer zu verantwortenden Biographie. Für Christen erfolgt die Reflexion auf die moralische Identität nicht ausschließlich, aber auch in kritischer Auseinandersetzung mit den Erkenntnisquellen des Glaubens, zu denen die rationale Durchdringung notwendig gehört. Deren Re-Interpretation im Lichte der eigenen Biographie ist ein Prozess, der den Einzelnen mit die Gemeinschaft der Kirche »in Geschichte und Gegenwart« verbindet. Fünftens: Sowohl die negative als auch die positive Freiheit spiegeln sich in der medizinischen Praxis. In der Medizin ist jedoch die besondere Verletzlichkeit von Patienten eigens zu berücksichtigen, die das Autonomiekonzept des politischen Liberalismus (freie Selbstbestimmung) als unzulänglich erweist. Die katholische Theologie geht demgegenüber von der relationalen Autonomie aus, die die menschliche Existenz als Leben in gleichzeitiger Abhängigkeit und Unabhängigkeit fasst. Dadurch ergeben sich insbesondere mit Blick auf asymmetrische Beziehungen temporäre Ungleichzeitigkeiten der Reziprozität in Beziehungen und temporäre Asymmetrien zwischen Selbst- und Fürsorge, ohne dass dadurch die »soziale Freiheit« eingeschränkt werden muss. Freilich ist der Fluchtpunkt sozialer Beziehungen und Strukturen die Freiheit und Würde des Menschen, so dass Theologische Ethik sowohl persönliche als auch institutionelle Asymmetrien immer einer »Kritik der Gewalt« unterzieht. Sechstens: Die katholische Theologie sieht in der Transformation des der Medizinethik zugrundeliegenden Leitbildes vom Patienten als verletzlichem Menschen in einen Bürger mit Freiheitsrechten und /oder in einen Konsumenten eine ideologische Verzerrung der Handlungs- und Kommunikationskonstellation in der medizinischen Praxis – selbstverständlich sind Patienten auch Bürger und Konsumenten, aber weder die politische noch die ökonomische Autonomie bilden die Krankheitserfahrung angemessen ab. 21 Theologische Ethik wird diese Leitbilder vor dem Hintergrund kritischer Gesellschaftsanalysen und ihrer eigenen Erkenntnisquellen kritisch hinterfragen. Die katholisch-theologische Bioethik wird sich daher auch dafür einsetzen, dass gehaltvollere Modelle der Autonomie in der Theoriebildung verwendet werden – dabei sind in hermeneutisch-ethischer Perspektive die Sinngehalte sozialer Praktiken, in normativer Perspektive aber die Menschenrechte in ihren unterschiedlichen Dimensionen der Grundrechte, Freiheitsrechte und sozialen Rechte Gegenstand ihrer Reflexion. Nur wenn die Patientenautonomie als Teils dieses 21

In Bezug auf die präventiven Maßnahmen, die Einwilligung in medizinische Forschung etc., mag dies wiederum anders sein – aber die historische Erfahrung lehrt, dass die Abstraktion von sozialen Vermittlungen gerade in asymmetrischen Beziehungen schnell dazu führt, dass Verletzungen von Rechten übersehen werden. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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komplexen ethischen Gefüges, der »sittliche Ordnung«, die sich ständig für Korrekturen offen halten muss, verstanden wird, erhält sie meines Erachtens den Stellenwert in der Medizinethik, der ihr zukommen sollte. Literatur Auer A (1969) Nach dem Erscheinen der Enzyklika »Humanae Vitae«. Zehn Thesen über die Findung sittlicher Weisungen. In: Theologische Quartalschrift 149: 75–85 Auer A (1971) Autonome Moral und christlicher Glaube. Patmos, Düsseldorf Gadamer H-G (1993) Von der Verborgenheit der Gesundheit. Suhrkamp, Frankfurt/M Haker H (1999) Moralische Identität. Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer Reflexion. Mit einer Interpretation der »Jahrestage« von Uwe Johnson. Francke, Tübingen Haker H (2002) Ethik der genetischen Frühdiagnostik. Sozialethische Reflexionen zur Verantwortung am menschlichen Lebensbeginn. Mentis, Paderborn Haker H (2011) Hauptsache gesund? Ethische Fragen der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik. Kösel, München Haker H (2011) Katholische Sexualethik – eine nötige Kurskorrektur. Theologische Antworten auf den Missbrauchsskandal. In: Cahill LS, Haker H, Messi Metogo E (Hrsg.) Der Handel mit Menschen. Grünewald, Mainz, 324–333 Haker H (2013/ im Erscheinen) Verletzlichkeit als Kategorie der Ethik. In: Bobbert M (Hrsg.) Zwischen Parteilichkeit und Gerechtigkeit. Schnittstellen von Klinikseelsorge und Medizinethik. Lit, Berlin /Münster Honneth A (2011) Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit. suhrkamp, Frankfurt Johannes Paul II (1993) Veritatis Splendor. http: // www.vatican.va / holy_father / john_paul_ii / encyclicals / documents / hf_jp-ii_enc_06081993_veritatis-splendor_ ge.html. (Zugegriffen 10. Sept. 2012) Kongregation für die Glaubenslehre (2005) Antworten auf Fragen der Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten bezüglich der künstlichen Ernährung und Wasserversorgung. http: // www.imabe.org /index.php?id =827. (Zugegriffen 10. Sept 2012) Kongregation für die Glaubenslehre (2008) Instruktion Dignitas personae. Über einige Fragen der Bioethik. http: // www.vatican.va / roman_curia / congregations / cfaith / documents / rc_con_cfaith_doc_20081208_dignitas-personae_ge.html. (Zugegriffen 10. Sept 2012) Metz JB, Reikerstorfer J (2011) Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft. 4. korr. Aufl., Herder, Freiburg Mieth D (1994) Moraltheologie im Abseits? Antwort auf die Enzyklika »Veritatis Splendor«. Herder, Freiburg Mieth D (1998) Moral und Erfahrung II. Universitätsverlag Fribourg /Herder, Freiburg Mieth D (1999) Moral und Erfahrung I. Grundlagen einer theologisch-ethischen Hermeneutik. Universitätsverlag Fribourg /Herder, Freiburg Mieth D (2002) Was wollen wir können? Ethik im Zeitalter der Biotechnik. Herder, Freiburg O’Neill O (2002) Autonomy and trust in bioethics. Cambridge University Press, Cambridge /New York Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Haker: Patientenautonomie aus katholisch-theologischer Perspektive

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Papst Pius XII (1961) Rechtliche und sittliche Fragen der Wiederbelebung. Ansprache vom 24.11. 1957. In: Utz A-F, Groner J-F (Hrsg.) Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius XII. Herder, Freiburg Presidential Commission of the Study of Bioethical Questions (2011) Ethically Impossible: STD Research in Guatemala from 1946–1948 http: // www.bioethics. gov /cms/sites /default /files /Ethically_Impossible %20 %28 with %20 linked %20 historical %20 documents %29 _0.pdf. (Zugegriffen 10. Sept 2012) Ratzinger J (1966) Die letzte Sitzungsperiode des Konzils. Köln Ricœur P (1996) Das Selbst als ein Anderer. Finck, München Schlingensief C (2009) So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein. Tagebuch einer Krebserkrankung. Kiepenheuer & Witsch, Köln Seckler M (2007) Die Communio-Ekklesiologie, die theologische Methode und die Loci-theologici-Lehre Melchior Canos. In: Theologische Quartalschrift 187(1): 1–20

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Michael Coors

Selbstbestimmung: relational – responsiv – hermeneutisch Evangelisch-theologische Perspektiven »Denn was ist der freie Wille, solange er bloße Richtung, aber noch keinen Inhalt hat?« (Rosenzweig 1976, 72)

Auch wenn »Selbstbestimmung« kein genuin theologischer Begriff ist, 1 so birgt doch gerade das evangelisch-theologische Freiheitsverständnis Einsichten, die auch in den gegenwärtigen theologischen Positionierungen zum medizinethischen Prinzip des Respekts vor der Selbstbestimmung eine Rolle spielen. Dabei setze ich zweierlei voraus: 1. Das Prinzip des Respekts vor der Selbstbestimmung im Kontext der Medizinethik begreife ich im Folgenden als ein sehr viel enger begrenztes Konzept als den theologischen Freiheitsbegriff. Ich fasse es vorläufig als ein normatives Prinzip auf, das in der Praxis der Entscheidungsfindung über eine medizinische Behandlung sicherstellen soll, dass die ethische Bewertung einer Situation durch den Patienten Vorrang hat vor der ethischen Bewertung z. B. des Arztes oder der Pflegenden. D. h. Selbstbestimmung ist nicht eine ethische Bewertung der Situation, sondern eine Anleitung dazu, wie mit unterschiedlichen ethischen Bewertungen einer Situation umzugehen ist. Selbstbestimmung regelt den Umgang mit ethischen Konflikten, in denen unterschiedliche Vorstellungen guten Lebens aufeinander treffen. Dieser pragmatische Begriff von Selbstbestimmung unterscheidet sich auch deutlich vom kantischen Autonomiebegriff (Brunn, Rolf 2012; Härle 2005, 218–234). 2. Es gibt nicht das evangelische Verständnis von Selbstbestimmung. Theologische Ethik ist im evangelischen Verständnis irreduzibel plural, aber dennoch nicht beliebig. Die Pluralität wird im Folgenden daran deutlich werden, dass ich drei unterschiedliche Typen gegenwärtiger theologischer Reflexionen auf den Begriff der Selbstbestimmung darstellen und diskutieren werde. Alle drei Positionen, nämlich die von Härle, Dabrock und Fischer, verbindet jedoch, dass sie eine gewisse Relativierung der Selbstbestimmung vornehmen, die allerdings jeweils charakteristisch unterschiedlich durchgeführt wird. Darin zeigt sich, dass es bei aller Pluralität evangelischer Ethik auch verbindende strukturelle Momente gibt, denen im Vergleich der Positionen nachzugehen sein wird.

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Deswegen gibt es nur wenige explizite theologische Auseinandersetzungen mit dem Begriff wie z. B. Brunn, Rolf (2011) und aus katholischer Perspektive Mieth (2008). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Coors: Selbstbestimmung: relational – responsiv – hermeneutisch

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Relationale Selbstbestimmung und Menschenwürde Die Relativierung des Selbstbestimmungsbegriffs wird in der theologischen Ethik Wilfried Härles schon am Umgang mit den Begriffen »Selbstbestimmung« und »Autonomie« deutlich, die er klar unterscheidet. 2 Im strikten Wortsinn ist Autonomie nämlich »Selbstgesetzgebung« (Härle 2008, 155; Härle 2005, 214– 220). Als solche ist sie aber »ein zuviel versprechender Begriff« (Härle 2005, 229), der sich in seiner uneingeschränkten Geltung auf kein irdisches Wesen anwenden lässt. Hier trifft also zu, was Luther schon über den Freiheitsbegriff schrieb: Freiheit kommt als absolute Freiheit allein Gott zu, sie ist ein »plane divinum nomen« (Luther 1908, 636, Z. 27–29). Selbstbestimmung von Menschen hingegen ist immer »relationale Autonomie«, bezogen auf den sozialen Kontext des Menschen (Härle 2005, 231; Härle 2008, 62f). Darin unterscheidet sich Selbstbestimmung von einem Begriff absoluter Autonomie als Selbstgesetzgebung. Diese soziale Dimension der Selbstbestimmung wird im medizinethischen Kontext an der Komplementarität von Selbstbestimmung und Fürsorge expliziert (Härle 2008). Eine recht verstandene Selbstbestimmung steht nicht im Widerspruch zu Fürsorgepflichten, sondern Selbstbestimmung und Fürsorge müssen beide aufeinander bezogen werden. So setzt Selbstbestimmung Fürsorge voraus, d. h. dass sich Fürsorge darauf ausrichtet, Selbstbestimmung zu ermöglichen. Das geschieht, indem – durch angemessene Information dem Patienten eine Entscheidung ermöglicht wird (informierende Fürsorge), – dem Patienten geholfen wird, die Auswirkungen seiner Entscheidungen auf seine Lebenssituation zu verstehen (hermeneutische Fürsorge), – auf nichtsprachliche, leibliche Ausdrucksformen des Willens geachtet wird (wahrnehmungssensible Fürsorge), – und indem Patienten geholfen wird, mit der belastenden Situation emotional umzugehen (stabilisierende Fürsorge) (Härle 2008, 58–60). 3 Auf der anderen Seite betont Härle aber auch, dass Fürsorge, gerade weil sie auf die Ermöglichung von Selbstbestimmung zielt, in der selbstbestimmten Ablehnung einer Therapie oder von Fürsorge überhaupt ihre Grenze findet (Härle 2008, 62–65; vgl. EKD 2005, 17). Wenn aber Selbstbestimmung Fürsorge voraussetzt und es ohne konkrete Fürsorge keine Selbstbestimmung gibt, dann kann Selbstbestimmung nicht die höchste ethische Norm sein. Dieser Status kommt für Härle allein der Menschenwürde zu, die auch verlangt, Selbstbestimmung und Fürsorge in Balance zu halten (Härle 2005, 249). Selbstbestimmung ist bei Härle also der Menschenwürde untergeordnet (Härle 2011, 275) und ist darum an den sozialen Kontext gebunden, so dass sie zur Fürsorge in Beziehung gesetzt werden muss. Um nun aber den Begriff der Menschenwürde zu entfalten, muss Härle auf Fragen des Menschenbildes eingehen, denn die Würde des Menschen hängt unmittelbar an 2 3

Vgl. in diesem Sinne auch Brunn, Rolf (2012). Ähnlich Fischer (2005; 2006). Vgl. auch EKD (2005, 14–17). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 3: Patientenautonomie aus theologischer Perspektive

der bloßen Tatsache des Menschseins (Härle 2011, 234). 4 Dabei wurzeln Fragen des Menschenbildes für Härle immer in weltanschaulichen Grundentscheidungen, so dass es für Härle keine weltanschaulich neutrale Ethik gibt (Härle 2011, 262). 5 Das zeigt sich dann auch daran, wie die Menschenwürde von Härle begründet wird: Inhaltlich ist sie das »Anrecht auf Achtung des Menschseins« (Härle 2011, 242; Härle 2005, 389). Begründet ist diese besondere Achtung für Härle aber darin, dass »die Bestimmung zur weltanschaulich-religiösen Kommunikation zu den essentiellen Charakteristika der ›Spezies‹ Mensch« (Härle 2005, 400) gehört (vgl. Härle 2005, 341f). Damit kommt Menschenwürde jedem Menschen aufgrund seines Seins als Mensch zu und nicht aufgrund seiner Tätigkeit oder seiner Potentiale (Härle 2011, 101). Diese Achtung gebührt also auch Menschen, die nicht selbstbestimmungsfähig sind. Darin liegt für Härle der entscheidende Unterschied zum Prinzip der Selbstbestimmung, das darum nicht mit dem Prinzip der Menschenwürde identifiziert werden kann, weil es sich nur auf die Menschen bezieht, die selbstbestimmungsfähig sind oder waren (Härle 2011, 238f). Damit unterscheidet Härle allerdings nicht zwischen Selbstbestimmungsrecht bzw. -anspruch und Selbstbestimmungsfähigkeit. Begreift man Selbstbestimmung als normative Kategorie, wie ich es eingangs vorschlug, so bleibt der Anspruch auf Selbstbestimmung auch dort erhalten, wo Selbstbestimmungsfähigkeit nicht (mehr) gegeben ist (Rüegger 2009, 54–56). Allerdings wird man für die Frage, für wen dieser Anspruch Geltung hat, wiederum auf ein Kriterium zurückgreifen müssen, das man mit Härle im Begriff der Menschenwürde bzw. des Menschseins finden kann: Anspruch auf den Respekt vor Selbstbestimmung hat jedes Wesen, das ein Mensch ist, auch wenn es aktuell nicht selbstbestimmungsfähig ist. Weil nun aber der Mensch als dasjenige Wesen, dem alleine diese Form der Achtung gebührt, für Härle immer ein Mensch in Beziehungen ist, 6 ist auch unmittelbar evident, dass Selbstbestimmung nie absolute Selbstsetzung oder Selbstgesetzgebung im Sinne von absoluter Autonomie sein kann, sondern immer nur relationale Selbstbestimmung, die sich unter der Voraussetzung sozialer Beziehungen realisiert. Letztlich ergibt sich Härles Konzept von Selbstbestimmung im medizinethischen Kontext also aus einer dezidiert weltanschaulichen, nämlich christlichen Anthropologie, die Menschsein immer in den Relationen von Selbst-, Umwelt- 7 und Ursprungs- bzw. Gottesverhältnis (Härle 2011, 398) begreift, wobei das Spezifikum des Menschseins im Gottesverhältnis besteht. Selbstbestimmung gilt so als eine bestimmte Form der Beziehung, nämlich als die Beziehung des Selbst zu sich selbst, also als die aktive Seite des Selbst-

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Zur fundamentalen Relevanz des Menschenbildes für die Ethik: Härle (2011, 91 f). So auch Herms (2008, 35 f, 326). Härle (2005, 218): »Menschsein und Dasein heißt konstitutiv In-Beziehungen-Sein«. Im Hintergrund des relationalen Menschenbildes steht dabei ein umfassendes Konzept relationaler Ontologie (vgl. Härle 2007, 205 f). Dieses kann noch mal nach dem Verhältnis zur Welt und dem Verhältnis zu den Mitmenschen unterschieden werden (Härle 2011, 141). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Coors: Selbstbestimmung: relational – responsiv – hermeneutisch

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bewusstseins. Im Akt der Selbstbestimmung wählt das Subjekt zielgerichtet, wer es sein und werden will (Härle 2005, 229). Nun betont Härle aber auch, und zwar durchaus in Spannung zu den eben dargestellten ontologischen Überlegungen, dass Selbstbestimmung gerade keinen Zustand beschreibt, sondern »das zum Ausdruck bringt, was wir für uns erstreben, wie wir sein und leben möchten« (Härle 2005, 231). Damit begreift Härle das Konzept der Selbstbestimmung in einem strebens- und güterethischen Kontext: Selbstbestimmung ist ein erstrebenswertes Gut für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Damit wird deutlich, dass Härles Ethik stark von einem güterethischen Ansatz geprägt ist. Programmatisch fordert Härle, »Pflichten-, Güter-, Verantwortungs- und Tugendethik als Einheit« zu fassen »und dabei der (theonomen) Bestimmung des Menschen die Rolle der Leitperspektive« zuzuerkennen (Härle 2005, 205). Den Ausweg aus der Alternative von Autonomie und Heteronomie, von Selbst- und Fremdbestimmung, soll hier der Begriff der Theonomie ebnen (Härle 2011, 103f): Theonome autoritative Instanzen haben in Gott bzw. einer Gottheit ihr Zentrum und sind weder autonom noch heteronom, weil für »alle diese Größen, d. h. für die Gottheit und ihre Offenbarung, [. . .] der Dual ›innerhalb /außerhalb‹ nicht [passt]« (Härle 2011, 104). Wenn es dann aber heißt, dass »eine an der Bestimmung des Menschen orientierte Leitbildethik [. . .] damit an den Gedanken an[knüpft], dass Ethik vom Gedanken des höchsten Gutes (summum bonum) aus zu entwerfen ist« (Härle 2011, 206), so zeigt sich, dass die Theonomie darin besteht, sich auf die theologische Bestimmung des Menschen als höchstes Gut zu beziehen. Dominant ist also letztlich eine Güterethik, in deren Horizont Gottes Bestimmung für den Menschen das höchste Gut ist, so dass Selbstbestimmung nur ein dem unterzuordnendes Gut darstellen kann. Solch eine güterethische Einordnung von Selbstbestimmung liegt aber in deutlicher Spannung zu dem normativen Anspruch des Selbstbestimmungsprinzips in der Medizinethik, in der der Respekt vor der Selbstbestimmung dazu dient, unterschiedliche Vorstellungen des guten Lebens, die jeweils von Individuen erstrebt werden, zu schützen. Interessanterweise gibt es bei Härle durchaus Passagen, die deutlich machen, dass er um diese Problematik ethischer Entscheidungsfindung im weltanschaulich pluralistischen Kontext weiß (z. B. Härle 2011, 211, 289), aber er bringt dieses Phänomen nicht mit dem Begriff der Selbstbestimmung in Verbindung. Dabei ist gerade dies der Ort, an dem die Rede von Selbstbestimmung in der Medizinethik vermitteln soll. Härle aber entwirft den Begriff der Selbstbestimmung aus dem Horizont einer einheitlichen christlichen Weltanschauung, die in der Wirklichkeit unserer Gesellschaft nur eine unter vielen Weltanschauungen ist. Selbstbestimmung als Antwort Oswald Bayers Vorschlag, Freiheit als »kritischen Vermittlungsbegriff« zu begreifen (Bayer 1995, 9f), lokalisiert die Rede von Freiheit am Ort des Konfliktes zwischen den Weltanschauungen, aber mit dem Ziel der Vermittlung zwischen ihnen. Dabei begreift er theologische Ethik dezidiert als »Konfliktwissenschaft« Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 3: Patientenautonomie aus theologischer Perspektive

(Bayer 1995, 9, 184), d. h. sie zielt gerade nicht auf eine Vermittlung, die alle weltanschaulichen Konflikte in eine Einheit hinein aufhebt, sondern sie markiert Stellen des unausweichlichen Konfliktes, indem sie das ihre aus der Perspektive christlichen Glaubens sagt. An der Stelle dieses Konfliktes aber vermittelt der Begriff der Freiheit, der dazu anleitet, die anderen in ihrer Freiheit zu respektieren. In Anlehnung an die Phänomenologie von Bernhard Waldenfels charakterisiert Peter Dabrock, ähnlich wie Bayer, diesen Raum des Konfliktes als Schwelle der Verantwortung zwischen dem Eigenen und dem Fremden (Dabrock 2000, 17, 207, 232). Diese Schwelle ist, so Dabrock, ein Zwischenraum zwischen unterschiedlichen partikularen Vernunftordnungen, der sich nicht in einer übergreifenden Vernunftordnung erfassen lässt (Dabrock 2000, 201), sondern der einen irreduziblen Überschuss gegenüber jeglicher ontologischer oder transzendentaler Ordnung darstellt: Der Zwischenraum der Schwelle kann nicht in einen übergreifenden weltanschaulichen Zusammenhang integriert werden, sondern markiert immer gerade das, was sich der Inklusion als Fremdes verweigert: »[J]ede menschliche Ordnung hat aufgrund ihrer Regionalität und Kontingenz auf der Schwelle zu anderen Ordnungen ihren konstitutiven Mangel, der unbehebbar bleibt« (Dabrock 2000, 207).

Damit avisiert Dabrock im Anschluss an Waldenfels ein Denken, das gerade nicht auf die Einheit einer umfassenden Weltanschauung zielt, sondern er geht von einer fundamentalen Differenz aus (Dabrock 2000, 213), die das Denken nicht überbrücken kann. Was bleibt, sind partikulare Rationalitäten, die an ihre konkreten lebensweltlichen Orte gebunden bleiben. Damit ist aber keine Beliebigkeit postuliert, sondern die unterschiedlichen rationalen Weltanschauungen sind faktisch immer schon aufeinander bezogen und begegnen einander an der Schwelle von Eigenem und Fremden (Dabrock 2000, 230), auch weil im Eigenen immer auch schon Fremdes gegeben ist (Dabrock 2004, 38). Das Fremde aber verunsichert im Blick auf das Eigene (Dabrock 2000, 223) und wird so für das Eigene, dem es begegnet, zu einem Anspruch, auf den aus der Perspektive des Eigenen nicht nicht geantwortet werden kann (Dabrock 2000, 228, 231). Darum verbindet sich die Phänomenologie des Fremden bei Waldenfels mit einer Phänomenologie der Antwort (Waldenfels 1994). Will man das Verhältnis von Eigenem und Fremden näher bestimmen und kann nicht von einer umfassenden rationalen Gesamtordnung ausgehen, dann kann nur vom Akt der Antwort (response) ausgegangen werden, der von Waldenfels nicht als Antwort auf eine Frage, sondern als Antwort auf den Anspruch, den das Fremde an das Eigene stellt, begriffen wird (Dabrock 2000, 250f). In diesem Sinne sind weder Anspruch noch Antwort der Ausgangspunkt, sondern die bleibende Differenz zwischen diesen, die sich aber nur in der Antwort als Spur des fremden Anspruchs zeigt (Dabrock 2000, 243f, 253). Einen Antwortakt (response) vollziehen wir dabei auch dann, wenn wir nicht mit einem Satz antworten (answer). Das zeigt sich in der gängigen Floskel: »Keine Antwort ist auch eine Antwort«, die auf der Differenz von response und answer aufbaut (Waldenfels 1994, 190f; Dabrock 2000, 250f). Das Fremde, das uns an der Schwelle begegnet, wird zu Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Coors: Selbstbestimmung: relational – responsiv – hermeneutisch

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einer Herausforderung, auf die wir nicht nicht antworten können, wenn auch nicht unbedingt in Sätzen. In dieser Antwort auf das Fremde verantworten wir das Eigene gegenüber dem Fremden. Darum ist die Schwelle zwischen Eigenem und Fremdem eine Schwelle der Verantwortung (Dabrock 2000, 293; Dabrock 2009, 155). Da die Schwelle zwischen den rationalen Weltanschauungen nicht in einer Metaperspektive begrifflich besetzt werden kann, muss sie aus der Perspektive partikularer Rationalität behandelt werden. Das gilt auch für ethische Normen: »Normen [entstehen] [. . .] nur aus konkreten lebensweltlichen Traditionen« (Dabrock 2000, 288). Auch Normen, die über die partikulare Lebenswelt hinaus Geltung erlangt haben, sind aus partikularen Lebenswelten heraus entstanden und haben in der immer wieder sich vollziehenden Verflechtung mit anderen Traditionen, denen sie zu einem fremden Anspruch wurden, und die sie dadurch transformiert haben, eine transpartikulare Geltung erlangt (Dabrock 2000, 288; Dabrock 2004, 42f). 8 Der Versuch, theologische Rede von Freiheit und Selbstbestimmung mit Hilfe der Phänomenologie von Waldenfels zu reformulieren, lässt sich darum in dieser Perspektive als eine mögliche Transpartikularisierung theologischer Rede deuten. Man könnte allerdings auch die theologische Rede von Selbstbestimmung ihrerseits als Antwort auf Ansprüche begreifen, die sich der Theologie aus unserer Gesellschaft heraus stellen. Vor diesem Hintergrund sind Dabrocks medizinethische Ausführungen zum Selbstbestimmungsbegriff zu verstehen, die sich v. a. in seinen Texten zum Umgang mit Patientenverfügungen finden (Dabrock 2007; 2008). Die Antwort auf den Anspruch des Fremden, das uns an der Schwelle begegnet, ist immer selbstbestimmte Antwort, denn sie ist immer Antwort des Eigenen und darin des Selbst, das sich (spätestens) in der Antwort konstituiert (Dabrock 2000, 257, 297). Zum anderen aber antwortet das Selbst immer schon auf vorausliegende Ansprüche und kann darum von Dabrock im Anschluss an Waldenfels pointiert als heteronom bezeichnet werden (Dabrock 2000, 284f). Selbstbestimmung als Antwort auf an mich ergehende Ansprüche ist nie der Anfang, sondern immer schon Reaktion auf mich Ansprechendes: Sie ist immer »von außen ermöglicht« (Dabrock 2007, 134). Das hat auf ähnliche Art und Weise auch schon Bayer formuliert: »Menschliche Freiheit ist Antwort: Sie fängt nicht mit sich selbst an und hört nicht mit sich selbst auf; ich bin nicht mein eigener Schöpfer und Richter« (Bayer 1995, 74, vgl. 105).

Diese theologische Deutung von Selbstbestimmung führt Dabrock im Anschluss an Waldenfels aus, indem er Selbstbestimmung responsiv interpretiert: Sie ist Antwort auf den Zuspruch des Evangeliums, das uns als radikal fremde Anrede von Gott her begegnet und darin uns zum Anspruch wird, der eine Antwort von uns fordert: Auf den Zuspruch des Evangeliums können wir nicht nicht antworten – insofern begegnet er uns als Anspruch, sich zu ihm zu verhalten, in Glauben oder Unglauben (Dabrock 2000, 303). Als dieser Anspruch ist die Zusage des 8

Vgl. die ganz ähnliche soziologische Argumentation bei Joas (1999). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Evangeliums allerdings nie an sich da, sondern immer nur in den unterschiedlichen Formen der Antwort zu rekonstruieren (Dabrock 2000, 306). Denn nur so bleibt im denkenden Nachvollzug der Antwort die Differenz zum Anspruch gewahrt, der sie herausfordert (Dabrock 2009, 139f). Theologische Ethik stellt nicht selber den Anspruch, auf den der Glaube antwortet, sondern sie muss eine responsive Differenz zum Anspruch des Wortes Gottes wahren: Sie bewegt sich, wie Dabrock mit Bonhoeffer formuliert, immer im Vorletzten (Dabrock 2009, 143). Ihr Anfang ist die Zusage der Vergebung durch Gott, die ihr immer als fremder Anspruch vorausgeht, der zur Antwort herausfordert (Dabrock 2004, 40). Im Bezug auf diese responsive Differenz verwendet Dabrock den Terminus Theonomie: Theonome Vernunft bezieht sich auf die unabweisbare Verantwortung der Theologie gegenüber dem Anspruch, der ihr ganzes Diskursfeld prägt (Dabrock 2000, 316). In diesem Sinne gilt: »Selbstbestimmung heißt im christlichen Kontext also, als Person, so wie man ist, ein Leben lang Antwort auf das Von-Gott-Angesprochen-Sein sein zu dürfen« (Dabrock 2008, 92). Selbstbestimmung ist damit nicht der Anfang und auch nicht oberstes Prinzip einer Ethik, sondern der Begriff der Selbstbestimmung verweist darauf, dass wir in eigener Verantwortung auf Zuspruch und Anspruch des Evangeliums antworten. So sehr Dabrock also betonen kann, dass jeder sein eigenes Leben zu führen hat, so sehr betont er andererseits, dass solche Selbstbestimmung Voraussetzungen hat, die von dem selbstbestimmenden Subjekt nicht gesetzt werden, sondern die im Akt der responsiven Selbstbestimmung immer schon vorausgesetzt sind: in Form von Ansprüchen, auf die wir in unserer Selbstbestimmung antworten. Das zeichnet in jeden Akt der Selbstbestimmung einen Aspekt der Passivität ein (Dabrock 2007, 135). Das Fremde, das uns in dieser Perspektive an der Schwelle von Eigenem und Fremden begegnet, ist die Anrede Gottes. Das, worum es aber im medizinethischen Kontext geht, ist die Begegnung zwischen meinen mir eigenen Wertvorstellungen und den mir fremden Wertvorstellungen anderer, die zum Anspruch an mich selbst werden. Theologisch gilt in dieser Situation nach Dabrock, dass Selbstbestimmung immer zuerst meine Antwort auf die Zusage des Evangeliums ist, die mir darum auch eine selbstbestimmte Antwort auf die Ansprüche anderer in einem medizinethischen Konflikt ermöglicht. Schwierig wird es dann aber mit der Selbstbestimmung dort, wo das Gewissen auf sich selbst als letzter Instanz der Urteilsbildung zurückgeworfen wird und sich nicht mehr an Gott ausrichtet, weil es zum »forum internum« wird, vor dem wir uns zu verantworten haben (Picht 1969; 1980). Damit ist abschließend, über die Ausführungen von Dabrock hinausgehend, eine Aporie des modernen Selbstbestimmungsverständnisses angedeutet: Sie entsteht dort, wo man Selbstbestimmung auf der einen Seite nicht als absolut begreift, auf der anderen Seite aber nicht angeben kann, worauf Selbstbestimmung antwortet, wenn sie nicht auf Gottes Wort antwortet. Dann bleibt als Alternative nur, sie entweder im Horizont der Selbstgesetzgebung der Vernunft zu konzipieren (Kant 1996[EA 1785]) oder sie als Antwort auf die Ansprüche der Anderen zu begreifen. Damit aber bewegt sich Selbstbestimmung dann im steten Konfliktfeld zwischen dem Selbst und den Anderen, zwischen IndividuaClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Coors: Selbstbestimmung: relational – responsiv – hermeneutisch

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lität und Sozialität. Freiheit und Selbstbestimmung werden, wie Bayer treffend erkannt hat, selber zu einem Anspruch, auf den wir antworten müssen: »Wird die Freiheit aber nicht zugesprochen und mitgeteilt, [. . .] dann bin ich als individuelle und kollektive Subjektivität mit der Erfüllung des mir gegebenen Versprechens belastet – nicht zur Freiheit befreit, sondern zugleich ›zu ihr verdammt‹ (Sartre)« (Bayer 1995, 7).

Selbstbestimmung im Wahrnehmen und Verstehen einer Situation Dabrocks Ausführungen haben bei aller theologischen Tiefenschärfe ein Problem: Es wird nicht deutlich, wie sich Selbstbestimmung als Antwort auf Gottes Anrede zur Selbstbestimmung als Antwort auf eine uns zur Entscheidung herausfordernde medizinische Situation verhält. Im Blick auf diese Fragestellung sind die Arbeiten von Johannes Fischer weiterführend. Er geht ähnlich wie Dabrock von der Beobachtung aus, dass Wirklichkeit nicht einfach gegeben ist, sondern immer schon gedeutete Wirklichkeit ist (Dabrock 2009, 157). Anders als Dabrock aber betont Fischer, dass die Deutung der Wirklichkeit einer uns treffenden Situation nicht erst auf der Ebene rationaler Urteile, sondern bereits mit dem Akt der Wahrnehmung beginnt. 9 Das Paradigma für die ethische Entscheidung ist bei Fischer die spontane Handlung, die nicht auf einen Prozess der Reflexion zurückblickt, sondern intuitiv geschieht, aufgrund der Wahrnehmung, die wir von einer Situation haben (Fischer 2002, 107ff). Wir handeln intuitiv in einer bestimmten Weise – z. B. wenn wir jemanden sehen, der verwundet ist und schwere Schmerzen leidet. In Anlehnung an Dabrocks Begrifflichkeit könnte man formulieren, dass die Situation in der Wahrnehmung zu einem Anspruch wird, auf den der zur Entscheidung herausgeforderte nicht nicht antworten kann. Die intuitive Ausrichtung unseres spontanen sittlichen Handelns wiederum beruht darauf, wie wir eine Situation wahrnehmen und in sie hineingezogen werden. Solche Situationen, die uns unmittelbar zum Handeln herausfordern, bezeichnet Fischer als Szenen: »Für das szenische Erleben ist es [. . .] entscheidend, daß wir erfaßt und in die Szene hineingezogen werden« (Fischer 2000, 251). Im Moment des Hineintretens in eine Szene – ich sehe einen Menschen am Wegesrand liegen, der Schmerzen leidet – setzt nicht ein reflexiver Denkprozess ein, in dem ich erörtere, wie ich nun zu handeln habe. Dennoch ist unser Verhalten in solchen Situationen nicht beliebig, sondern hat eine bestimmte Gerichtetheit, die es dann später erlaubt, auf die Gründe, Motive und Ursachen einer Handlung hin zu reflektieren. Schon unsere Wahrnehmung der Situation hat eine Struktur, ist durch Wahrnehmungsmuster geprägt: Ich nehme eine Situation als etwas wahr, z. B. als eine Situation, die mich moralisch herausfordert (Fischer u. a. 2007, 50). Mit dieser Wahrnehmung verbunden ist die intuitive Handlung, diesem Menschen zu helfen oder

9

Vgl. zum Folgenden Coors (2012, 104–108). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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wenigstens Hilfe zu rufen. Solches Handeln geschieht in einer Situation spontan, beruht aber auf der Prägung unserer Spontaneität in eine bestimmte Richtung (Fischer 2002, 118). Diese vollzieht sich nach Fischer zum einen in Form der frühkindlichen Prägung, insbesondere in sog. Schlüsselszenen (Fischer 2000, 254 f; Fischer 2002, 130f), zum anderen aber auch durch Erzählungen, die analog zu solchen Schlüsselszenen Wahrnehmungsmuster für ethische Konfliktsituationen anbieten (Fischer 2000, 254f; Fischer 2002, 107, 112, 120; Fischer u. a. 2007, 48–51). Über das hinaus, was sich an menschlicher Gewöhnung in unser intuitives Verhalten einschreibt, spricht Fischer auch noch vom Geist als etwas, »das jenseits menschlichen Vermögens dem Lebensvollzug in seiner Spontaneität beziehungsfähige Gerichtetheit gibt« (Fischer 2006, 119; Fischer 2000). Durch rationale Argumentation werden unsere Wahrnehmung und unser intuitives Verhalten in einer Situation nur äußerst begrenzt, wenn überhaupt, verändert. Die rationale Reflexion hat aber dennoch ihren Ort, nämlich dort, wo es um die rückblickende Rechtfertigung des eigenen Handelns geht (Fischer 2002, 115). In der theologischen Ethik geht es bei Fischer nicht primär um Fragen der Begründung des Handelns, sondern um die Frage, wie unsere Wahrnehmungen und Intuitionen im christlichen Ethos geprägt werden, nämlich im Geist der Liebe (Fischer 2002, 131ff; Fischer 2000). Biblische Texte spielen für Fischer darum nicht auf der Ebene der Begründung der Moral ihre Rolle, sondern auf der Ebene der Prägung unserer Wahrnehmungen und Intuitionen (Fischer 2011). Vor dem Hintergrund dieser fundamentalethischen Überlegungen gewinnen Fischers Ausführungen zum Begriff der Selbstbestimmung im Kontext der Medizinethik an Prägnanz. Fischer ordnet die Frage nach der Selbstbestimmung in den Horizont des theologischen Verständnisses von Zeit und Menschsein ein: Weil die Zeit des Menschen in der Hand Gottes liegt, kann es z. B. nicht darum gehen, über das eigene Lebensende zu verfügen. Wohl aber geht es um die Frage, »ob der Mensch dessen gewürdigt ist, zu erkennen und zu wissen, wann was an der Zeit ist, um sich in seinem Lebensvollzug und Handeln auf diese Zeit einzustellen« (Fischer 2005, 356).

Fischer liest die biblischen Texte so, dass der Mensch seiner Zeit nicht einfach passiv ausgeliefert ist, sondern sich zu seiner Zeit verhalten kann. Es geht hier also wesentlich um das Erkennen und Wahrnehmen dessen, wozu es an der Zeit ist, d. h. am Lebensende dann insbesondere, ob es an der Zeit ist, das Sterben zuzulassen oder nicht. »Diese Erkenntnis kann niemand stellvertretend für einen Anderen haben« (Fischer 2005, 357). Das heißt, in dieser Erkenntnis dessen, wozu es an der Zeit ist, in der Wahrnehmung der Situation und in der Deutung der Situation, die mir begegnet, ist der Mensch unvertretbar. Diese Unvertretbarkeit in der eigenen Wahrnehmung und Deutung ist der Kern der Selbstbestimmung. Selbstbestimmung vollzieht sich in der Wahrnehmung und Deutung und damit im Verstehen einer Situation, zu der ich mich verhalten muss. Insofern sich Selbstbestimmung also im Verstehen der Situation vollzieht – wobei Verstehen hier mit der Wahrnehmung der Situation beginnt –, kann man von einer hermeneutischen Selbstbestimmung reden. So ist Selbstbestimmung auch hier als Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Antwort begriffen, aber anders als bei Dabrock liegt der Fokus hier darauf, wie sich dieses Antworten vollzieht. Das Prinzip der Selbstbestimmung soll hier, so interpretiere ich Fischer, den Raum des individuellen Urteilens schützen. 10 Die ethisch wertende Beurteilung der Situation, die von der medizinischen Diagnose und Indikationsstellung zu unterscheiden ist (Fischer 2005, 359f.), ist das alleinige Vorrecht des Patienten. Um dieses Urteil fällen zu können, ist er aber auf Hilfe angewiesen. So ist er für die Wahrnehmung und das Verstehen der Situation darauf angewiesen, – dass er angemessen über die medizinische und pflegerische Situation informiert wird, – dass es ihm ermöglicht wird, die therapeutischen Optionen zu seinem Leben in ein Verhältnis zu setzen, – dass mit ihm die unterschiedlichen Optionen erörtert werden, – dass er psychisch dazu in der Lage ist, seine Situation zu beurteilen (Fischer 2005, 358 f.). All dies zu ermöglichen, ist Aufgabe ärztlicher und pflegerischer Fürsorge. Daher ist für Fischer der Respekt vor der Selbstbestimmung ein Implikat der Fürsorge (Fischer 2005, 359). Insofern Selbstbestimmung hier also die Unvertretbarkeit des eigenen Urteilens markiert, das mit der Wahrnehmung der Situation und der intuitiven Reaktion auf die Situation anhebt, ist sie selber voraussetzungsreich: Das selbstbestimmte ethische Urteil des Patienten setzt voraus, dass eine angemessene Wahrnehmung und ein Verstehen der Situation ermöglicht wird. Damit eignet auch hier der Selbstbestimmung ein konstitutiv passiver Zug. Fazit und Perspektiven So unterschiedlich die theologischen Begründungszusammenhänge der vorgestellten Positionen sind, so sehr fallen bestimmte Gemeinsamkeiten ins Auge. Bei allen wird deutlich, dass das Prinzip des Respekts vor der Selbstbestimmung in einen weiteren Kontext eingeordnet werden muss, der dazu führt, dass in theologischer Perspektive Selbstbestimmung niemals absolute Selbstbestimmung ist, so dass ihr immer auch ein Moment der Passivität zu eigen ist: Selbstbestimmung beruht immer auf Voraussetzungen. Insofern ist Selbstbestimmung immer auch etwas, das erst einmal ermöglicht werden muss. Diese strukturelle Gemeinsamkeit, die sich hier in der Pluralität der Positionen zeigt, ließe sich nun ihrerseits in der Perspektive unterschiedlicher Konzeptionen theologischer Ethik interpretieren. Dabrocks Ansatz, nicht nur die Selbstbestimmung, sondern die ganze theologische Ethik aus dem Geschehen der Antwort auf Gottes Verheißung zu verstehen (Dabrock 2004, 40), bietet m. E. den 10

Anders als Fischer gehe ich nicht davon aus, dass Urteile »der Sphäre des Wissens zu[gehören]« (Fischer 2011, 263), sondern verorte sie in Anlehnung an Arendts Kantinterpretation an der Schnittstelle von Wissen und Tun, Denken und Wollen und komme darum in der Bewertung der Relevanz des Urteilsbegriffs zu einem anderen Ergebnis als Fischer (2011). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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besten Ansatz, um der Spannung von Pluralität und struktureller Gemeinsamkeit Rechnung zu tragen: Insofern die ethische Reflexion Antwort ist, fallen die Antworten unterschiedlich aus, aber sie stimmen strukturell darin überein, dass sie auf einen der Antwort vorausliegenden Anspruch verweisen, auf den man nicht nicht antworten kann. Für die theologische Ethik verweist dieser ihr vorausliegende Anspruch auf Gottes Handeln. Das zeigt sich dann im medizinethischen Kontext exemplarisch am Begriff der Selbstbestimmung. Wie dieser Anspruch Gottes, auf den auch die theologischen Ethiken antworten, nun aber gedeutet wird, unterscheidet sich und hängt eng mit dem jeweiligen Verständnis theologischer Ethik zusammen. Entsprechend unterschiedlich fallen die Ausdeutungen des Selbstbestimmungsbegriffs aus. Weil Härle vom schöpferischen Handeln Gottes aus denkt, wird Selbstbestimmung im Horizont der Geschöpflichkeit des Menschen verstanden und darum dem Prinzip der (schöpfungstheologisch interpretierten) Menschenwürde untergeordnet. So gewinnt Selbstbestimmung ihre relationale Struktur aus einer relationalen Anthropologie. Das ist im Blick auf die medizinethische Diskussion in einer pluralistischen säkularen Gesellschaft aber insofern problematisch, als der Begriff der Selbstbestimmung dort zunächst einmal die ganz pragmatische Funktion hat, an der Schnittstelle zwischen verschiedenen Menschenbildern und Weltanschauungen zu vermitteln. Bei Dabrock hingegen steht am Anfang der Gedanke der Differenz zwischen Antwort und Anspruch: Selbstbestimmung ist hier Antwort auf vorausgehende Ansprüche und ist darum immer auf diese Ansprüche verwiesen. Dabrock expliziert diese responsive Selbstbestimmung als Antwort des Menschen auf Gottes befreiendes Wort, also vom Heilshandeln Gottes in Christus her. Offen bleibt hier aber, wie sich Selbstbestimmung als Antwort in konkreten medizinethischen Konfliktsituationen realisiert. Für Fischer realisiert sie sich als hermeneutische Selbstbestimmung in der Unvertretbarkeit der eigenen Wahrnehmung und Intuition, durch die wir eine Situation als Aufforderung zur Handlung verstehen. Auch wenn dies zunächst nach einer individualethischen Engführung aussieht, geht es Fischer dabei auch darum zu zeigen, dass die individuelle Wahrnehmung ihrerseits auf sozialen Voraussetzungen beruht, nämlich auf sozial vermittelten Wahrnehmungsmustern und auf Erzählungen, die unsere Wahrnehmung prägen. Selbstbestimmt ist hier das individuelle ethische Urteil über eine Situation, wenn man den Begriff des ethischen Urteils nicht kognitiv eng führt. Das, was hier der Selbstbestimmung vorausliegt, ist die jeweilige Situation, die in der Wahrnehmung und Deutung dessen, der selbstbestimmt über diese Situation urteilt, einer theologischen Deutung offen steht. Die entscheidende Schwierigkeit, mit der alle theologisch-ethischen Konzeptionen auf unterschiedliche Art und Weise ringen, liegt darin, dass der medizinethische Begriff der Selbstbestimmung den Anspruch hat, auf der Schwelle zwischen unterschiedlichen Weltanschauungen zu vermitteln, die Theologie aber immer – zumindest auch – für eine spezifische weltanschauliche Deutung eintritt. Der Blick auf die Theorie ethischen Urteilens, der sich am Ende anhand der Arbeiten von Fischer eröffnet, könnte im Blick auf diese Problemstellung insoClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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fern weiterführend sein, als es im Urteilen immer darum geht, das Allgemeine und das Besondere aufeinander zu beziehen, aber eben am Ort des Individuums und im Horizont seiner weltanschaulichen Überzeugungen. Soll der Respekt vor der Selbstbestimmung den Raum ethischen Urteilens schützen, so wäre es eine theologische Aufgabe, diesen Raum selbstbestimmten ethischen Urteilens näher zu untersuchen. 11 Literatur Bayer O (1995) Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik. Mohr /Siebeck, Tübingen Brunn F M, Rolf S (2011) Selbstbestimmung in theologischer Perspektive. Impulse aus der Theologie Martin Luthers. In: Brunn FM, Dietz A (Hrsg.) Selbstbestimmung in der Perspektive theologischer Ethik, Ev. Verlagsanstalt, Leipzig Coors M (2012) »Was würdest Du wollen?« Patientenverfügung und vermuteter Patientenwille – Zu den praktisch-hermeneutischen Problemen von Patientenverfügungen. In: Zeitschrift für evangelische Ethik 56: 103–115 Dabrock P (2000) Antwortender Glaube und Vernunft. Zum Ansatz evangelischer Fundamentaltheologie, Kohlhammer, Stuttgart Dabrock P (2004) Menschenwürde und Lebensschutz. Herausforderungen theologischer Bioethik, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh Dabrock P (2007) Formen der Selbstbestimmung. Theologisch-ethische Perspektiven zu Patientenverfügung und Demenzerkrankung. In: Zeitschrift für medizinische Ethik 53: 127–144 Dabrock P (2008) Patientenverfügung und Demenz. Theologisch-ethische Reflexionen zwischen Menschenbildern und Rechtsgattung. In: Kirchenamt der EKD (Hrsg.) Leben mit Demenz. Beiträge aus medizinisch-pflegerischer, theologischer und lebenspraktischer Sicht, EKD, Hannover Dabrock P (2009) Wirklichkeit verantworten. Der responsive Ansatz theologischer Ethik bei Dietrich Bonhoeffer. In: Nethöfel W, Dabrock P, Keil S (Hrsg.) Verantwortungsethik als Theologie des Wirklichen, Vandenhœck & Ruprecht, Göttingen EKD (2005) Sterben hat seine Zeit. Überlegungen zum Umgang mit Patientenverfügungen aus evangelischer Sicht. Kirchenamt der EKD, Hannover Fischer J (2000) Sittliche Intuition und reflektives Gleichgewicht. In: Zeitschrift für evangelische Ethik 44: 247–268 Fischer J (2000) Gefühl der Liebe und Geist der Liebe. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 97: 88–109 Fischer J (2002) Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung. Kohlhammer, Stuttgart Fischer J (2005) Sterben hat seine Zeit. Zur deutschen Debatte über die Reichweite von Patientenverfügungen. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 102: 352–370 Fischer J (2006) Bedingungen und Grenzen der Selbstbestimmung – Fürsorge als Befähigung zur Selbstbestimmung. In: Nationaler Ethikrat (Hrsg.) Wie wir sterben. Selbstbestimmung am Lebensende. Tagungsdokumentation, Nationaler Ethikrat, Berlin Fischer J (2011) Die Bedeutung der Bibel für die Theologische Ethik. In: Zeitschrift für evangelische Ethik 55: 262–273 11

Erste Perspektiven dazu z. B. in Tödt (1988) und Tanner (2012). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Fischer J, Gruden St, Imhof E, Strub J-D (2007) Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik. 2. Aufl., Stuttgart, Kohlhammer Härle W (2005) Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie. Mohr /Siebeck, Tübingen Härle W (2007) Dogmatik, 3. Aufl., de Gruyter, Berlin /New York Härle W (2008) Selbstbestimmung und Fürsorge – ein unlösbarer Widerspruch? In: Anderheiden M, Bardenheuer HJ, Eckart WU (Hrsg.) Ambulante Palliativmedizin als Bedingung einer ars moriendi, Mohr /Siebeck, Tübingen Härle W (2011) Ethik. de Gruyter, Berlin /New York Herms E (2008) Politik und Recht im Pluralismus, Mohr /Siebeck, Tübingen Joas H (1999) Die Entstehung der Werte, Suhrkamp, Frankfurt/M Kant I (1785/1996) Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.In: Weischedel W (Hrsg.) Werkausgabe Bd. VII. Suhrkamp, Frankfurt/M Luther M (1908) De servo arbitrio (1525). In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe Bd. 18, Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar Mieth D (2008) Grenzenlose Selbstbestimmung? Der Wille und die Würde Sterbender, Patmos, Düsseldorf Picht G (1969) Der Begriff der Verantwortung. In: Picht G, Wahrheit Vernunft Verantwortung. Philosophische Studien, Ernst Klett Verlag, Stuttgart Picht G (1980) Rechtfertigung und Gerechtigkeit. Zum Begriff der Verantwortung. In: Picht G, Hier und Jetzt. Philosophie nach Auschwitz und Hiroschima, Ernst Klett Verlag, Stuttgart Rosenzweig F (1976) Der Stern der Erlösung, Suhrkamp, Frankfurt/M Rüegger H (2009) Alter(n) als Herausforderung. Gerontologisch-ethische Perspektiven, TVZ, Zürich Tanner K (2012) »Ein verstehendes Herz«. Über Ethik und Urteilskraft. In: Zeitschrift für evangelische Ethik 56: 6–23 Tödt HE (1988) Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung. In: Tödt HE, Perspektiven theologischer Ethik, Chr. Kaiser Verlag, München Waldenfels B (1994) Antwortregister, Suhrkamp, Frankfurt/M.

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TEIL 4 PATIENTENAUTONOMIE UND KLINISCHE PRAXIS Herausgegeben von F. Nauck, A. Simon

Alfred Simon, Friedemann Nauck

Patientenautonomie in der klinischen Praxis Einleitung Ärztliches und pflegerisches Handeln orientierte sich über viele Jahrhunderte hinweg vorrangig am Prinzip der Fürsorge und damit an dem von Ärzten und Pflegenden bestimmten Wohl des Patienten. Respekt vor der Autonomie des Patienten spielte dem gegenüber eine deutlich untergeordnete Rolle. In traditionellen ärztlichen und pflegerischen Kodizes wie dem Hippokratischen Eid, dem Eid von Florence Nightingale oder dem Genfer Gelöbnis des Weltärztebundes, das die Präambel der (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärzte bildet, fehlt jeder Hinweis auf den Willen des Patienten. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war die Beziehung zwischen Patient und Arzt von der paternalistischen Vorstellung geprägt, dass der Arzt aufgrund seines medizinischen Wissens besser als der Patient selbst entscheiden kann, was gut für den Patienten ist. Die »barmherzige Lüge«, d. h. das Vorenthalten einer schlechten Diagnose oder Prognose in der gut gemeinten Absicht, dem Patienten »die Hoffnung nicht zu nehmen«, galt als ethisch akzeptabel und geboten. Aufklärung und das Bemühen um Einwilligung dienten weniger der Ermöglichung einer selbstbestimmten Patientenentscheidung, sondern dem Ziel, den Patienten von der Notwendigkeit der vom Arzt vorgeschlagenen Therapie zu überzeugen, um ihn zur Mitwirkung zu bewegen und so den Erfolg der Therapie zu sichern (Katz 1984; Faden, Beauchamp 1986). Dieses Bild hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert: Eng verbunden mit dem gesellschaftlichen Wertewandel hin zu mehr Individualität und Eigenverantwortlichkeit hat das Selbstbestimmungsrecht des Patienten deutlich an Bedeutung gewonnen. Es gilt heutzutage als Selbstverständlichkeit, dass Patienten nicht nur über ihre Erkrankung aufgeklärt, sondern aktiv mit in Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 4: Patientenautonomie und klinische Praxis

die Therapieentscheidungen eingebunden werden. Richterliche Entscheidungen (vgl. Bundesgerichtshof 1957, 1995, 2010) und Stellungnahmen der Ärzteschaft (vgl. Bundesärztekammer 2010, 2011) betonen den Vorrang des Patientenwillens gegenüber dem, was Ärzte und Pflegende als das Wohl des Patienten ansehen. Rechtsinstrumente wie die Patientenverfügung ermöglichen es dem (künftigen) Patienten, sein Selbstbestimmungsrecht auch in Situationen wahrzunehmen, in denen er selbst nicht mehr kommunikations- und entscheidungsfähig ist. Die wachsende Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts stellt Ärzte und Pflegende vor neue Herausforderungen: Sie müssen lernen, dem Patienten richtig zuzuhören und ihm in seinem Sinne das Optimale anstatt des Maximalen an Diagnostik und Therapie zukommen zu lassen. Dies kann in der Praxis zu schwierigen Situationen und ethischen Konflikten führen, etwa dann, wenn ein Patient eine ärztlich indizierte Behandlung ablehnt, oder sich Ärzte, Pflegende, Patientenvertreter und Angehörige über die Bedeutung bestimmter Aussagen in einer Patientenverfügung für die weitere Behandlung des Patienten uneins sind. Die Lösung solcher Konflikte verlangt ein sorgfältiges Abwägen von Autonomie und Fürsorge in der konkreten Situation sowie ein hohes Maß an ethischer und kommunikativer Kompetenz. Autonomie und Selbstbestimmung Autonomie ist ein Schlüsselbegriff der neueren (Medizin-)Ethik. Wie viele Begriffe der Ethik ist er mehrdeutig (vgl. Feinberg 1986). Als deskriptiver Begriff bezeichnet er die Fähigkeit zur sittlichen Selbstbestimmung, d. h. das Vermögen, auf der Grundlage eigener moralischer Werte und Überzeugungen zu entscheiden und zu handeln. Dieses Vermögen stellt ein Wesensmerkmal des Menschen dar und verdient Respekt, auch wenn die faktische Fähigkeit zur Selbstbestimmung in bestimmten Situationen eingeschränkt oder gar aufgehoben sein kann. Damit ist eine zweite, normative Bedeutung von Autonomie angesprochen, nämlich der Anspruch eines jeden Menschen, als ein zur sittlichen Selbstbestimmung fähiges Wesen anerkannt zu werden. Dieser Respekt, den wir uns als Menschen gegenseitig schulden, beinhaltet zum einen das Verbot, selbstbestimmte Entscheidungen und Handlungen anderer zu behindern oder zu übergehen, zum anderen das Gebot, solche Entscheidungen z. B. durch angemessene Aufklärung zu fördern. In der Literatur werden unterschiedliche Bedingungen genannt, die erfüllt sein müssen, damit eine Entscheidung als selbstbestimmt angesehen werden kann und als solche respektiert werden muss. Drei weithin anerkannte Bedingungen sind Intentionalität, Verständnis und Abwesenheit von steuernden Einflüssen (Faden, Beauchamp 1986). Intendiert sind geplante Handlungen, unabhängig davon, ob sie vom Handelnden um ihrer selbst willen oder als Mittel gewünscht oder nur in Kauf genommen werden. Dies setzt voraus, das der Handelnde die Bedeutung seines Tuns, dessen wesentliche Folgen, Chancen und Risiken überschaut und versteht. Verständnis wiederum setzt ausreichende Einsichtsfähigkeit und Informiertheit des Handelnden voraus. Steuernde Einflüsse können durch Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Simon, Nauck: Patientenautonomie in der klinischen Praxis

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psychische Krankheit, aber auch durch äußere Einflüsse wie Manipulation oder Zwang gegeben sein. Umstritten ist, inwiefern selbstbestimmte Entscheidungen auch authentisch sein müssen. Authentisch handelt eine Person, wenn sie bei kritischer Reflexion mit den Motiven ihres Handelns einverstanden ist (Dworkin 1970; Frankfurt 1971). Die Frage der Authentizität stellt sich in der Medizin z. B. dann, wenn der Arzt mit Patientenentscheidungen konfrontiert wird, die gemessen am subjektiven Wertmaßstab oder verglichen mit früheren Entscheidungen des Patienten deutlich aus dem Rahmen fallen. Solche inkohärenten Entscheidungen können ein Hinweis auf eingeschränkte oder fehlende Selbstbestimmung sein. Andererseits können Menschen ihre Werte und Einstellungen auch ändern. Ein zu striktes Festhalten an der Authentizitätsforderung birgt folglich die Gefahr, dass unkonventionelle Entscheidungen vorschnell als nicht selbstbestimmt zurückgewiesen werden. Ein möglicher Ausweg könnte darin bestehen, inkohärent erscheinende Entscheidungen mit dem Patienten erneut zu besprechen, sie also kritisch reflektieren zu lassen, dann aber unabhängig vom Ergebnis dieser Reflexion als selbstbestimmt zu akzeptieren. Autonomie in der klinischen Praxis: die informierte Zustimmung In der klinischen Praxis findet die Autonomie des Patienten vor allem im Konzept der informierten Zustimmung (informed consent) ihren Ausdruck. Diese wurde als rechtliche Forderung zunächst im Bereich der Forschung am Menschen – u. a. im Nürnberger Kodex von 1947 – erhoben, und hat sich dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert in der gesamten Medizin als Standard etabliert (Faden, Beauchamp 1986). Von der Medizinethik wurde die Forderung nach informierter Einwilligung als Ergänzung und Korrektiv zum traditionellen ärztlichen und pflegerischen Ethos, das sich vor allem an dem von Ärzten und Pflegenden definierten Patientenwohl orientierte, aufgegriffen und beworben (Vollmann 2008). Informierte Zustimmung bedeutet, dass medizinische Eingriffe außerhalb von Notfallsituationen nur mit Zustimmung des angemessen aufgeklärten Patienten oder dessen Stellvertreter zulässig sind. Auch der lege artis durchgeführte ärztliche Eingriff stellt nach deutschem Recht eine Körperverletzung dar, wenn er nicht durch die Einwilligung des Patienten oder seines Stellvertreters gerechtfertigt ist (Lipp 2005). Ziel der Aufklärung ist es, den Patienten in die Lage zu versetzen, eine selbstbestimmte Entscheidung für oder gegen die Behandlung zu treffen. Aufklärung ist mehr als bloße Informationsweitergabe, sie soll die Entscheidungskompetenz des Patienten verbessern. Der Arzt muss sich deshalb im Rahmen des Aufklärungsgesprächs z. B. durch entsprechende Rückfragen vergewissern, dass der Patienten die gegebenen Informationen verstanden hat. Auch muss der Patient die Möglichkeit haben, eigene Fragen zu stellen, bzw. vom Arzt dazu ermutigt werden. Gegenstand, Umfang und Form der Aufklärung sind in Deutschland rechtlich durch die Rechtsprechung und jetzt auch durch das Patientenrechtegesetz vorgeClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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geben (vgl. Beitrag Katzenmeier in diesem Band). Demnach ist der Patient über alles aufzuklären, was für seine Entscheidung für oder gegen die Behandlung von Bedeutung sein könnte. Dies beinhaltet vor allem die Diagnose, den Verlauf und das Risiko der Behandlung, mögliche Behandlungsalternativen sowie die Folgen einer Nichtbehandlung. Die Aufklärung hat in einem individuellen, dem Auffassungsvermögen des Patienten entsprechenden Aufklärungsgespräch zu erfolgen. Verantwortlich für die Aufklärung ist der Arzt, der den Eingriff vornimmt. Fehler in der Aufklärung können straf- und haftungsrechtliche Konsequenzen für den behandelnden Arzt zur Folge haben. Zu ethischen Konflikten im Zusammenhang mit der informierten Zustimmung kann es kommen, wenn z. B. ein Patient seine Situation verdrängt und im Rahmen der Aufklärung Behandlungen einfordert, die jedoch medizinisch nicht indiziert sind, oder aber auch Behandlungen ablehnt, obwohl durch eine Behandlung Schaden vom Patienten abgewendet werden könnte. Ebenso kommt es vor, dass Angehörige die behandelnden Ärzte dazu auffordern, ihren betroffenen Angehörigen nicht über eine bösartige oder nicht kurativ behandelbare Erkrankung aufzuklären, da er die Wahrheit sicher nicht vertragen könne. Hier muss den Angehörigen deutlich gemacht werden, dass es das Recht des Patienten ist, über seinen Zustand informiert zu werden, damit die verbleibende Zeit des Lebens in größtmöglicher Autonomie und Würde erlebt werden kann. Aufklärung ist nicht ein einziges Gespräch mit dem Patienten, sondern ein Prozess, der auch eine Patienten-Arzt-Beziehung voraussetzt. Für eine Aufklärung spielen die Faktoren Zeit, Vertrauen, fachliche, ethische, kommunikative, soziale und emotionale Kompetenz sowie die Haltung von Ärzten bzw. anderen professionell Involvierten eine bedeutsame Rolle. Dabei lässt sich der Arzt vom Patienten in die Verantwortung nehmen. Das Selbstverständnis, Antwortender auf das Hilfeersuchen eines anderen zu sein, ermöglicht es, den Fallstricken eines überkommenen paternalistischen, eines rein autonomiebasierten und auch eines reinen Dienstleister-Kunden-Verständnisses zugunsten eines Beziehungsmodells zu entgehen (Nauck, Jaspers 2012). Substantielle Voraussetzung für die informierte Einwilligung ist die Einwilligungsfähigkeit. Diese ist rechtlich definiert als die Fähigkeit des Patienten, Wesen, Bedeutung und Tragweite der Behandlung in Grundzügen zu verstehen. Einwilligungsfähigkeit ist also mit Einsichtsfähigkeit gleichzusetzen (vgl. Beitrag Duttge in diesem Band). Bei der Feststellung der Einwilligungsfähigkeit stellt sich in der Praxis mitunter das Problem, dass die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit eine Ja /Nein-Entscheidung erfordert, wobei die Voraussetzungen für diese Fähigkeit beim Patienten graduell vorliegen. Es geht also um eine Schwellenentscheidung, die von unterschiedlichen Ärzten unterschiedlich beurteilt werden kann. Auch kann es sein, dass ein Patienten, der in seiner Einsichtsfähigkeit eingeschränkt ist, einfachere medizinische Maßnahmen überblicken und daher in diese einwilligen kann, während er komplexere Maßnahmen nicht mehr versteht und daher für diese nicht mehr einwilligungsfähig ist. Einwilligungsfähigkeit muss daher für die konkrete Maßnahme bestehen bzw. im Hinblick auf diese geprüft werden.

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Für die Feststellung der Einwilligungsfähigkeit wurde von amerikanischen Psychiatern der MacArthur Treatment Competence Test (MACT) entwickelt. Dieser prüft die Einwilligungsfähigkeit anhand der Kriterien Informationsverständnis, schlussfolgerndes Denken, Fähigkeit zum Treffen und Kommunizieren von Entscheidungen sowie Krankheitseinsicht. Untersuchungen mit dem MACT zeigten einen hohen Anteil nicht einwilligungsfähiger Personen – und zwar sowohl bei psychiatrischen und internistischen Patienten als auch bei gesunden Probanden (Grisso, Appelbaum 1998). Daraus kann man schlussfolgern, dass die Kriterien für die Einwilligungsfähigkeit beim MACT zu hoch angesetzt sind, so dass viele der mit ihm getesteten und als einwilligungsunfähig eingestuften Patienten möglicherweise doch einwilligungsfähig waren, was der ursprünglichen medizinethischen Zielsetzung, die Autonomie des Patienten zu schützen, widerspricht. Ferner ist aus medizinethischer Sicht anzumerken, dass es sich bei der Feststellung der fehlenden Einwilligungsfähigkeit nicht nur um ein empirisches Ergebnis auf der Grundlage eines statistischen Verfahrens (mehr als zwei Standardabweichungen), sondern immer auch um eine Wertentscheidung handelt (Vollmann 2008). Auch erscheinen Tests zur Erfassung der Einwilligungsfähigkeit im normalen klinischen Alltag wenig praktikabel. Die Autoren dieses Beitrags schlagen deshalb nachfolgende, in Anlehnung an Helmchen et al. (1989) formulierte Fragen vor, mit deren Hilfe der Arzt im Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung die Einwilligungsfähigkeit des Patienten einschätzen kann: – Hat der Patient die im Aufklärungsgespräch vermittelten Informationen verstanden? Kann er die wichtigsten Informationen mit eigenen Worten wiedergeben? – Kann der Patient die verstandenen Informationen für eine realitätsbezogene, vernünftige und angemessene Entscheidung nutzen? – Hat der Patient eine Einsicht in die Natur seiner Situation und seiner Erkrankung? Versteht er, dass er krank und behandlungsbedürftig ist? Ist er sich der Schwere seiner Erkrankung und des Ausmaßes seiner Behandlungsbedürftigkeit bewusst? – Handelt der Patient authentisch, d. h. in Übereinstimmung mit seinen bisherigen Werten, Zielen und Haltungen? Wenn nicht: Ist er sich der mangelnden Übereinstimmung bewusst? Kann er seinen Einstellungswandel nachvollziehbar begründen? Muss der Arzt eine dieser Fragen mit Nein beantworten, so scheinen Zweifel an der Einwilligungsfähigkeit des Patienten begründet, und es sollte eine weitere Abklärung z. B. im Rahmen eines psychiatrischen Konsils erfolgen. Der nicht einwilligungsfähige Patient Grundsätzlich gilt, dass das Selbstbestimmungsrecht über den Zeitpunkt des Verlusts der Einwilligungsfähigkeit hinaus fortwirkt. Hat sich der Patient in einem einwilligungsfähigen Zustand für oder gegen eine Maßnahme entschieden, so

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behält die Entscheidung folglich auch dann ihre Gültigkeit, wenn der Patient aktuell nicht entscheidungsfähig ist. Beispiele hierfür sind die Einwilligung eines Patienten in einen operativen Eingriff unter Narkose oder die Ablehnung der weiteren Dialyse durch einen nierenkranken Patienten. In beiden Fällen ändert der Verlust der (aktuellen) Selbstbestimmungsfähigkeit aufgrund der Narkose oder des urämischen Komas nichts an der Verbindlichkeit der vom Patienten getroffenen Entscheidung. Das Rechtsinstrument der Patientenverfügung bietet darüber hinaus die Möglichkeit, auch in noch nicht unmittelbar bevorstehende ärztliche Maßnahmen einzuwilligen oder diese abzulehnen. Die Verbindlichkeit einer solchen Verfügung hängt nicht davon ab, ob der Verfasser bereits krank ist. Auch Gesunde können in einer Patientenverfügung ihre Behandlungswünsche für mögliche Situationen fehlender Einwilligungsfähigkeit (z. B. bei irreversibler Bewusstlosigkeit oder fortgeschrittener Demenzerkrankung) dokumentieren. Eine Patientenverfügung muss schriftlich verfasst sein und gilt bis sie vom Verfasser widerrufen wird. Ein Widerruf ist jederzeit formlos, d. h. auch mündlich oder durch eine Geste, möglich. Umstritten ist, inwiefern auch natürliche Willensäußerungen wie z. B. Anzeichen von Lebensfreude bei einem Patienten mit fortgeschrittener Demenz einen Widerruf der Patientenverfügung darstellen. Während die einen den leiblichen Ausdrucksgesten als Anzeichen von Lebenswillen den Vorrang vor vormals vorausverfügten Willensäußerungen einräumen, sprechen sich die anderen für die Beachtung des früher bewusst erklärten Willens aus – insbesondere dann, wenn in der Patientenverfügung auf die Anzeichen von Lebenswillen Bezug genommen und deren Entscheidungserheblichkeit ausgeschlossen wurde (vgl. Nationaler Ethikrat 2006). Eine Untersuchung von Jaspers et al. (2010) konnte zeigen, dass unterschiedliche Motivationen bei den Verfassern einer Patientenverfügung vorliegen und dass Anlässe und Gründe eine Patientenverfügung zu erstellen, bereits zu einer Fokussierung des Denkens führen können, sodass möglicherweise wichtige persönliche Aspekte beim Verfassen einer Patientenverfügung unberücksichtigt bleiben. Dies zeigte sich vor allem bei Probanden, die die Umstände, Behandlungsentscheidungen und -situationen in der letzten Lebensphase Nahestehender als negativ erlebt hatten und deren Vorsorgeüberlegungen daher hauptsächlich reaktiv auf dieses Miterleben niedergelegt wurden, ohne das Vorliegen eigener, anderer Grunderkrankungen und damit anderer erwartbarer Szenarien zu berücksichtigen (Jaspers et al. 2010). Gleichzeitig konnte in der Untersuchung gezeigt werden, dass Patientenverfügungen nicht immer die Wünsche und Vorstellungen ihrer Verfasser direkt abbilden. Liegt keine eindeutige Willenserklärung des entscheidungsunfähigen Patienten vor, so muss ein Vertreter des Patienten auf der Grundlage des mutmaßlichen Willens über die ärztliche Maßnahme entscheiden. Vertreter eines volljährigen Patienten können nach deutschem Recht der vom Patienten selbst ernannte Bevollmächtigte oder der vom Gericht bestellte Betreuer sein. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte – insbesondere früherer mündlicher oder schriftlicher Äußerungen, ethischer oder religiöser Überzeugungen und sonstiger Wertvorstellungen des Patienten – zu ermitteln. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Ein praktisches Problem im Zusammenhang mit Stellvertreterentscheidungen ist, dass auch Bevollmächtigte den Willen der Patienten nicht immer genau kennen. So ergab eine Studie, bei der Patienten und deren Stellvertreter zu fiktiven Behandlungsszenarien befragt wurden, dass bei fast einem Drittel aller Entscheidungen Patienten und ihre Bevollmächtigten nicht übereinstimmten (Shalowitz et al. 2006). Studien zur Kommunikation von Patienten mit ihren Vollmachtnehmern über Behandlungswünsche ergaben zudem Hinweise darauf, dass häufig nicht ausreichend bzw. gar keine Gespräche über dieses Thema stattgefunden hatten und Begriffe wie etwa »dahinvegetieren« sehr unterschiedlich interpretiert wurden (Clements 2009, Porensky, Carpenter 2008). Autonomie in Notfallsituationen Eine besondere Herausforderung stellen ärztliche Entscheidungen in Notfallsituationen dar. Da der Patient in solchen Situationen häufig nicht entscheidungsfähig ist und die Dringlichkeit einer notfallmedizinischen Maßnahme es in der Regel nicht erlaubt, die Aktualität und Situationsbezogenheit einer vorliegenden Patientenverfügung zu prüfen oder eine stellvertretende Einwilligung durch den Betreuer oder Bevollmächtigten einzuholen, ist der Arzt verpflichtet, in solchen Situationen zunächst die ärztlich indizierte Maßnahme zu ergreifen in der Annahme, dass der Patient von dieser profitiert und dieser auch zustimmen würde. Stellt sich zu einem späteren Zeitpunkt heraus, dass die ergriffene Maßnahme dem Patienten nicht nutzt, weil sie z. B. nur seinen begonnen Sterbeprozess verlängert, oder die Maßnahme nicht dem in seiner Patientenverfügung festgelegten Willen entspricht, so muss sie beendet werden. Auch wenn es für viele Ärzte schwierig und belastend sein mag, eine begonnene Maßnahme zu beenden und den Patienten sterben zu lassen, so besteht doch aus ethischer und rechtlicher Sicht kein Unterschied zwischen der Nichteinleitung und dem Abbruch einer lebensverlängernden Maßnahme: Fehlt die ärztliche Indikation oder verweigert der Patient seine Einwilligung, ist sowohl die Einleitung als auch die Fortführung einer Maßnahme unzulässig (Bundesgerichtshof 2010). Kann der behandelnde Arzt jedoch eine Therapiezieländerung mit einer Beendigung der Therapie z. B. Beendigung invasiver Maßnahmen aus persönlichen und ethischen Gründen nicht mittragen, so ist er außerhalb einer Notfallsituation nicht zur Weiterbehandlung des Patienten verpflichtet. Er muss den Patienten jedoch an einen anderen Arzt, der die Behandlung übernimmt, weiterleiten. Von der Notfallsituation im engeren Sinne zu unterscheiden sind vorhersehbare lebensbedrohliche Komplikationen im Rahmen einer bestehenden Erkrankung. Sind solche absehbar, so sollte mit dem Patienten oder – falls dieser nicht mehr entscheidungsfähig ist – mit dessen Betreuer /Bevollmächtigtem besprochen werden, welche ärztlichen Maßnahmen bei Eintreten dieser Komplikation durchgeführt und welche unterlassen werden sollen (Nauck, Alt-Epping 2008). Die entsprechenden Absprachen sollten zum Zwecke der späteren Nachweisbarkeit in den Patientenakten dokumentiert und regelmäßig überprüft werden. Dies trifft auch und in besonderer Weise auf Anordnungen eines Verzichts auf Wiederbelebung zu. Diese sollten alle 24 Stunden vom verantwortlichen Fach- oder Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Oberarzt reevaluiert und erneut dokumentiert werden, um sicherzustellen, dass sie noch mit dem Willen und dem Gesundheitszustand des Patienten übereinstimmen (Oswald 2008). Bei Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung, die zuhause oder in einem Pflegeheim versorgt werden, empfiehlt es sich, Behandlungsabsprachen in Form eines Notfallbogens zu dokumentieren. Dieser stellt die Anpassung einer Patientenverfügung für den Fall schwerer Krankheit dar. Gemeinsam mit dem behandelnden Arzt legt der Patient seine Behandlungswünsche (einschließlich der Notfallmedikation) für absehbare Krankheits- bzw. Notfallsituationen fest. Der Notfallbogen sollte kurz und übersichtlich gestaltet sein und von Patient und behandelndem Arzt gemeinsam unterschrieben werden. Ein solches mit allen (potentiell) involvierten Akteuren kommuniziertes Prozedere kann dazu beitragen, dass die zwischen Patient und Arzt getroffenen Absprachen auch dann berücksichtigt werden, wenn die Notfallversorgung durch einen anderen Arzt, z. B. den Notarzt, erfolgt (Wiese et al. 2008). Autonomie und medizinischer Paternalismus Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass Autonomie in der klinischen Praxis nicht ohne Fürsorge, d. h. dem Bemühen von Ärzten und Pflegenden, das Wohl des Patienten zu fördern und ihn vor Schaden zu bewahren, denkbar ist. Insbesondere Patienten, die in ihrer Selbstbestimmungsfähigkeit eingeschränkt sind, sind auf fürsorgliche Unterstützung angewiesen, um ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen zu können. Das Verhältnis von Autonomie und Fürsorge erscheint deshalb unproblematisch, solange fürsorgliches Handeln auf die Stärkung, den Erhalt oder die Wiederherstellung von Autonomie zielt. Die entscheidende Frage ist jedoch, inwiefern mit Berufung auf die Fürsorge auch Eingriffe in autonome Patientenentscheidungen zu rechtfertigen sind. Diese Frage ist Gegenstand der Paternalismus-Debatte in der Medizinethik (vgl. Childress 1982; Schöne-Seifert 1996; Simon 2010). Unter Paternalismus versteht man Maßnahmen, die dazu bestimmt sind, das (mutmaßliche) Wohl von Personen auch gegen deren gegenwärtige Wünsche und Präferenzen zu schützen. In der ethischen Debatte werden unterschiedliche Formen paternalistischen Handelns unterschieden: So kann bezogen auf die Personen, die die Adressaten solcher Handlungen sind, zwischen einem »starken« und einem »schwachen« Paternalismus differenziert werden: Sind diese Personen fähig, über ihre Angelegenheiten selbstständig zu entscheiden (einwilligungsfähige Personen), handelt es sich um einen starken, in allen anderen Fällen (bei nicht einwilligungsfähigen Personen) um einen schwachen Paternalismus (Feinberg 1971). Ergänzend dazu kann im Hinblick auf die Maßnahmen, die erwogen werden, zwischen einem »milden« und einem »harten« Paternalismus unterschieden werden: Harter Paternalismus bezeichnet Maßnahmen wie gesetzliche Verbote oder physischen Zwang, durch die jemand gehindert wird, etwas zu tun, das man als für ihn schädlich betrachtet. Milder Paternalismus hingegen beschreibt Maßnahmen, die auf indirekte Weise auf die Präferenzen und das Verhalten von Personen Einfluss zu nehmen versuchen, sei es durch AufkläClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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rung über die Risiken oder durch Veränderung der Rahmenbedingungen (z. B. Erhöhung der Unkosten) (Patzig 1989). Beispiele für schwachen Paternalismus sind Versprechungen, mit denen Eltern ihr Kind dazu bringen, eine notwendige, aber vom Kind verweigerte Zahnbehandlung durchzuführen (milde Form), oder die Zwangsbehandlung eines urteilsunfähigen Patienten (harte Form). In beiden Fällen liegt die Begründung für das paternalistische Handeln darin, dass die von diesem Handeln betroffene Person (das Kind bzw. der psychisch Kranke) aktuell nicht in der Lage ist, seine langfristigen Interessen zu erkennen oder nach ihnen zu handeln. Unter der Voraussetzung, dass die angewandten Maßnahmen angemessen sind, d. h., dass das mit ihnen angestrebte Ziel nicht auch mit milderen Maßnahmen erreicht werden kann, wird der schwache Paternalismus von den meisten Autoren als moralisch relativ unproblematisch angesehen (vgl. Feinberg 1971; Patzig 1989; Schöne-Seifert 1996). Der starke Paternalismus stellt demgegenüber einen Eingriff in die Autonomie des Patienten dar und ist daher wesentlich schwieriger zu rechtfertigen (Patzig 1989; Schöne-Seifert 1996). Bei der Bewertung entsprechender Eingriffe kommt es auch darauf an, ob durch sie nur das Wohl des Betroffenen selbst (»reine« Form), oder auch das anderer Personen geschützt bzw. befördert werden soll (»gemischte« Form) (vgl. Dworkin 1972). Beispiele für gemischte Formen sind Werbeverbote für Zigaretten oder Rauchverbote, mit denen nicht nur die Gesundheit von Rauchern, sondern auch die von Nichtrauchern geschützt werden soll. Nach klassisch liberalistischer Position sind nur gemischte Formen des starken Paternalismus zu rechtfertigen. Andere Autoren halten hingegen auch reine Formen für zulässig, wenn die hierdurch zu erreichende Minderung des Risikos bzw. die Förderung des Patientenwohls groß, das Ausmaß der Autonomieverletzung jedoch relativ dazu gering ist (Patzig 1989). Dies trifft vor allem auf milde Formen des starken Paternalismus zu. Ein Beispiel hierfür wären Bonusprogramme für Versicherte, mit denen diese dazu motiviert werden sollen, ungesunde Lebensweisen wie z. B. mangelnde Bewegung zu ändern. Autonomie und Fürsorge in der Arzt-Patient-Beziehung Die stärkere Gewichtung der Patientenautonomie im Verhältnis zur ärztlichen und pflegerischen Fürsorge geht einher mit einem Wandel im Verständnis der Rolle von Patienten, Ärzten und Pflegenden sowie deren Beziehung zueinander. In der medizinethischen Literatur wurden verschiedene idealtypische Modelle der Arzt-Patient-Beziehung beschrieben (Emanuel, Emanuel 1992; Krones, Richter 2006), die in drei Kernmodellen zusammengefasst werden können (Simon 2003). Das paternalistische Modell betont die Asymmetrie der therapeutischen Beziehung, die sich aus der Situation ergibt, dass sich Patient und Arzt in der Rolle als Hilfesuchender und (potentieller) Helfer begegnen. Im paternalistischen Modell kommt dem Arzt als medizinischem Experten der aktive Part zu, während sich der Patient als im ursprünglichen Wortsinne erduldender, unmündiger und passiv leidender Kranker den ärztlichen Anweisungen zu fügen hat. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Diese Form einer stark asymmetrischen Beziehung stellt sich zumeist dann ein, wenn der Patient existentiell bedroht ist, so z. B. in akuten Notsituationen, wie bei der Unfallversorgung, auf der Intensivstation, bei dringenden Operationen oder schweren Infektionen. Außerdem entspricht sie dem Bedürfnis vieler Kranker nach einer fürsorglichen, allwissenden, väterlichen oder mütterlichen Gestalt, der in schwierigen existentiellen Situationen wichtige und folgenschwere Entscheidungen übertragen werden können. Im partnerschaftlichen Modell wird das Bild vom passiven Kranken durch das Leitbild vom Patienten als Partner abgelöst. Es gründet in der Erfahrung, dass zur Verhütung, Begrenzung oder Besserung von Krankheit und Leiden, Leistungen nicht nur vom Arzt, sondern auch vom Patienten selbst erbracht werden müssen. Der Patient nimmt als »beteiligter Experte« aktiv am Behandlungsgeschehen teil und übernimmt damit Mitverantwortung für dessen Ergebnis. Das partnerschaftliche Modell leugnet die Asymmetrie der Beziehung zwischen Patient und Arzt nicht, würdigt jedoch das Wissen des Patienten um und dessen Verantwortung für seine Krankheit und macht sich beides zunutze. Im Idealfall ergänzen sich so die Autonomie des Patienten und die Fürsorgepflicht des Arztes in einem Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung. Dieser erschöpft sich nicht in der informierten Zustimmung, sondern erstreckt sich über die gesamte Dauer der therapeutischen Beziehung von der Festlegung des Therapieziel, der Anamnese, Diagnose und Prognose, der Entscheidung für eine bestimmte Behandlungsoption, bis hin zur Durchführung und Evaluation der Therapie, wobei es bei Nichterreichen des Therapieziels oder bereits davor – z. B. bei Auftreten belastender Nebenwirkungen – zu einer Änderung der Therapie oder des Therapieziels kommen kann. Im Kundenmodell kommt dem Patienten die Rolle des Kunden zu, der mit individuellen Gesundheitsleistungen und verbesserten Hotelleistungen umworben wird. Im Verhältnis zwischen Kunde und Gesundheitsdienstleister ist die ursprüngliche Asymmetrie der Arzt-Patient-Beziehung aufgehoben bzw. negiert, weshalb das Kundenmodell auch nur für einen begrenzten Bereich von Gesundheitsdienstleistungen Gültigkeit haben kann, wie z. B. reisemedizinische Beratung und Vorsorge, die Behebung oder Linderung von Befindlichkeitsstörungen oder verbessernde Eingriffe ohne Krankheitsbezug. Die drei genannten Modelle der Arzt-Patient-Beziehung schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig und beziehen ihre Legitimität aus der jeweiligen Situation. So tritt eine Schwangere auf der Suche nach einer geeigneten Geburtsklinik zunächst als Kundin auf; sie vergleicht die verschiedenen Angebote und entscheidet sich für die Klinik, deren Angebot ihren Vorstellungen und Wünschen am meisten entspricht. Im Geburtsvorbereitungsgespräch und während der Geburt tritt das Kundenmodell zugunsten des Partnerschaftsmodells in den Hintergrund; die beteiligten Partner (Frau, Hebamme, Ärztin) bringen sich und ihre jeweilige Expertise ein, und unterstützen sich so in ihrer jeweiligen Aufgabe und Verantwortung. Kommt es während der Geburt zu Komplikationen – ist z. B. eine Notsectio erforderlich –, so wird die Gebärende in eine mehr passive Rolle gedrängt, in der sie auf die fachliche Kompetenz des sie behandelnden Teams angewiesen ist. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Fazit für die Praxis In den letzten Jahrzehnten hat ein Wandel im Verhältnis zwischen Patient, Arzt und Pflegenden stattgefunden, der als Übergang von einem eher fürsorglichbevormundenden zu einem stärker partnerschaftlich orientierten Beziehungsmodell beschrieben werden kann. Mit diesem Wandel einher ging eine stärkere Gewichtung der Autonomie und des Selbstbestimmungsrechts des Patienten. Eine einseitige Betonung der Autonomie birgt jedoch die Gefahr der Überforderung des Patienten bei schwierigen Entscheidungen. Insbesondere schwerkranke, alte und behinderte Patienten sind auf die Fürsorge und die Hilfe von Ärzten und Pflegenden, Angehörigen und Freunden angewiesen. Autonomie und Fürsorge sind so verstanden keine entgegengesetzten, sondern einander ergänzende und begrenzende Prinzipien. Die Frage ist daher nicht, ob die Autonomie des Patienten zu respektieren ist, sondern wie dies in angemessener Weise erfolgen kann (Marckmann 2011). Bei der Suche nach einem angemessenen Verhältnis von Autonomie und Fürsorge in den verschiedenen Phasen der therapeutischen Beziehung kann das Nachdenken über nachfolgende Fragen als Orientierung dienen: Festlegung des Behandlungsziels: – Welches Therapieziel strebt der Patient an? – Ist dieses aus medizinischer und pflegerischer Sicht realistisch? Indikationsstellung: – Welche ärztlichen und pflegerischen Maßnahmen sind erforderlich, um dieses Ziel zu erreichen? – Wie schätzen die beteiligten Ärzte und Pflegenden den potentiellen Nutzen und das Schadensrisiko dieser Maßnahmen ein? – Was sind mögliche Alternativen? Wie werden deren Nutzen und Schadensrisiko eingeschätzt? Entscheidung des einwilligungsfähigen Patienten: – Welche Informationen benötigt der Patient für seine Entscheidung? – Hat er die vermittelten Informationen verstanden? Kann er sie für seine Entscheidung angemessen nutzen? – Ist sich der Patient der Bedeutung und Tragweite seiner Entscheidung bewusst? – Sollen dem Patienten ggf. weitere Gesprächs- und Informationsangebote gemacht werden? Stellvertretende Entscheidung bei einem nicht einwilligungsfähigen Patienten: – Gibt es eine gültige Patientenverfügung? Wie konkret sind deren Aussagen bezogen auf die aktuelle Behandlungssituation? – Hat der Patient einen Stellvertreter (Bevollmächtigten oder Betreuer)? Erlaubt die Dringlichkeit der Maßnahme, die Entscheidung des Stellvertreters abzuwarten? Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 4: Patientenautonomie und klinische Praxis

– Gibt es Hinweise auf den mutmaßlichen Willen? Wie konkret und situationsbezogen sind diese? – Besteht Einigkeit über den verfügten oder mutmaßlichen Willen? Wenn nicht: Kann diese in einem erneuten Gespräch mit dem Stellvertreter hergestellt werden oder muss das Betreuungsgericht eingeschaltet werden?

Literatur Beauchamp TL, Childress JF (2009) Principles of Biomedical Ethics, 6. Aufl., Oxford University Press, Oxford Bundesärztekammer (BÄK) (2010) Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung. In: Deutsches Ärzteblatt 107:A877–888 Bundesärztekammer (BÄK) (2011) Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. In: Deutsches Ärzteblatt 108:A346–348 Bundesgerichtshof (BGH) (1957) Neue Juristische Wochenschrift, 268 Bundesgerichtshof (BGH) (1995) Neue Juristische Wochenschrift, 204 Bundesgerichtshof (BGH) (2010) Neue Juristische Wochenschrift, 2963 Childress JF (1982) Who should decide? Paternalism in health care. Oxford University Press, Oxford, New York Clements JM (2009) Patient perceptions on the use of advance directives and lifeprolonging technology. In: American Journal of Hospice and Palliative Medicine 26: 270–276 Dworkin G (1970) Acting freely. In: Noûs 4: 367–383 Dworkin G (1972) Paternalism. In: The Monist 56: 64–84 Emanuel EJ, Emanuel LL (1992) Four models of the physician-patient relationship. In: Journal of the American Medical Association 267: 2221–2226 Faden RR, Beauchamp TL (1986) A history and theory of informed consent. Oxford University Press, New York /Oxford Feinberg J (1971) Legal paternalism. In: Canadian Journal of Philosophy 1: 105–124 Feinberg J (1986) Harm to self. Oxford University Press, Oxford Frankfurt HG (1971) Freedom of the will and the concept of a person. In: The Journal of Philosophy 68: 5–20 Grisso T, Appelbaum PS (1998) Assessing competence to consent to treatment. A guide for physicians and other health professionals. Oxford University Press, New York / Oxford Helmchen H, Kanowski S, Koch HG (1989) Forschung mit dementen Kranken: Forschungsbedarf und Einwilligungsproblematik. In: Ethik in der Medizin 1: 83–98 Jaspers B, Becker M, King C et al. (2010) Ich will nicht so sterben wie mein Vater! Eine qualitative Untersuchung zum Einfluss von Motivationen auf die Konzeption einer Patientenverfügung. In: Zeitschrift für Palliativmedizin 11(05): 218–226 Katz J (1984) The silent world of doctor and patient. Free Press, New York Krones T, Richter G (2006) Die Arzt-Patient-Beziehung. In: Schulz S, Steigleder K, Fangerau H, Paul NW (Hrsg.) Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Eine Einführung. Suhrkamp, Frankfurt/M, 94–116 Lipp V (2005) Patientenautonomie und Lebensschutz. Zur Diskussion um eine gesetzliche Regelung der »Sterbehilfe«. Universitätsverlag, Göttingen Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Andrea Dörries

Zustimmung und Veto Aspekte der Selbstbestimmung im Kindesalter Einleitung In den letzten Jahrzehnten wurde der bisher übliche praktizierte Umgang mit Kindern bei der medizinischen Versorgung zunehmend in Frage gestellt. Mehrere Arbeiten u. a. aus der Kinderheilkunde, der Sozialpädiatrie, der Kinderpsychologie und der Rechtsprechung plädierten für eine verstärkte Ausweitung des Informed-Consent-Konzepts auch auf Kinder. 1 Die meisten Arbeiten und Stellungnahmen bevorzugten dabei das Konzept der kindlichen Zustimmung (assent) bzw. des Vetos (dissent). Hinter der gegenwärtigen Entwicklung steht die Vorstellung, dass Kinder – wie auch Erwachsene – das Recht auf Information über ihre Erkrankung haben und dass sie geplanten medizinischen Maßnahmen zustimmen bzw. diese ablehnen können. Das bei Erwachsenen mittlerweile in der klinischen Praxis standardmäßig angewendete Informed-Consent-Konzept sieht vor, dass nach einer umfassenden Aufklärung eines urteilsfähigen Patienten eine freiwillige und von außen unbeeinflusste verbindliche Zustimmung (bzw. Ablehnung) des Patienten erfolgt. Begründet wird dieses Vorgehen mit dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und daraus folgend dem Respekt vor der Entscheidung des Patienten. Voraussetzung für ärztliches Handeln ist dabei die medizinische Indikation und die Einwilligung des Patienten. Einwilligungsfähige Personen können medizinisch indizierte Eingriffe ablehnen und Ärzte können nicht-indizierte Eingriffe verweigern. Bei Kindern ergeben sich mit diesen Vorannahmen Probleme, weil Verständnis- und Urteilsfähigkeit altersabhängig sind und damit den Anforderungen an Erwachsene im Allgemeinen nicht entsprechen. Da aber der gesellschaftliche Anspruch besteht, auch Kindern einen Beurteilungsspielraum zu geben und ihre Zustimmung zu erlangen, kamen seit den 1980er Jahren Begriffe wie »Zustimmung« und »Veto« verstärkt auf. Sie fanden Niederschlag in der deutschen Rechtsprechung, wenn auch mit deutlich widersprüchlichen Ergebnissen. Der gegenwärtige Zustand ist folglich in Deutschland gekennzeichnet durch eine erhebliche Rechtsunsicherheit aller am Entscheidungsprozess Beteiligten (Duttge 2011). Ein weiterer bedeutsamer politischer Schritt war die Ratifizierung der UNKinderrechtskonvention im Jahr 1990 (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2007). Zur Berücksichtigung des Kindeswillens heißt es in Artikel 12, dass dem Kind, »das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden«, das Recht zusteht, diese Meinung »in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern« und dass die Meinung des Kindes »angemessen und entspre1

Vgl. Kenny et al. (2008); Kuther TL (2003); Lee et al. (2006); Miller et al. (2004). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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chend seinem Alter und seiner Reife« berücksichtigt werden muss. Dies ist auch auf medizinische Sachverhalte übertragbar. Trotz der vielschichtigen und auch vielversprechenden Ansätze, Kinder in ihre Behandlungsentscheidungen einzubeziehen, bleiben aber offene Fragen über die Ausgestaltung des Einwilligungskonzepts und über die praktische Umsetzung im Behandlungsablauf. Hierbei geht es einerseits um den Stellenwert von Autonomie im Verhältnis zum Kindeswohl sowie um die Festlegung einer allgemeinen fixen Altersgrenze oder alternativ um die Bestimmung der individuellen kindlichen Urteilsfähigkeit. Andererseits existieren unterschiedliche Vorstellungen über die entscheidende Person (nur Kind, Kind und Eltern, nur Eltern, Eltern /Kind mit Arzt) und grundsätzliche Festlegungen, ob Kompetenztests verbessert werden sollten oder ob es primär um einen konsensualen Gesprächsprozess (ohne operationalisierte Tests) geht. Diesen Aspekten möchte der folgende Beitrag nachgehen. Es wird dabei schwerpunktmäßig um die allgemeine medizinische Versorgung des Kindes gehen. Ethische Fragen bei Forschungsstudien mit Kindern sind bereits vielfältig anderweitig abgehandelt worden. 2 Das Konzept der kindlichen Zustimmung Ein grundlegender Beitrag zur kindlichen Zustimmung geht von den – mittlerweile teilweise erheblich widersprochenen (s. Alderson 1993, 62–66; s. a. Kuther 2003) – Piaget’schen kognitiven und moralischen Entwicklungsstufen aus und baut darauf ein Zustimmungskonzept auf, das Verständnis- und Urteilsfähigkeit sowie Freiwilligkeit beinhaltet (Leikin 1983). Die Ablehnung (dissent) bei Kindern wird als gleichermaßen bindend angesehen wie die Zustimmung, wenn zuvor Ursachen für ablehnendes oder ängstliches Verhalten erkannt und behoben wurden. Eltern kommt die Aufgabe zu, ein Kommunikationsklima zu schaffen, in dem das Kind verstehen bzw. wahrnehmen kann, dass Eltern und Ärzte gemeinsam für sein Wohl sorgen. Das Committee on Bioethics der American Academy of Pediatrics verglich 1995 die Konzepte informed consent, consent by proxy, parental permission und assent (Committee on Bioethics 1995; s. a. Task Force 1976). Während informed consent wie auch die stellvertretende Entscheidung (by proxy) für die Pädiatrie als wenig hilfreich angesehen wurden, wurde die elterliche Zustimmung nach Aufklärung (informed parental permission) mit Vertretung des Kindeswohls (Best-interest-Standard) als Standardvorgehen vorgeschlagen. Zusätzlich wurde die kindliche Zustimmung (assent) »to the greatest extent feasable« eingefordert. Assent sollte eine altersgerechte Information über die Erkrankung und über die geplanten Maßnahmen umfassen, eine Einschätzung des kindlichen Verstehens einschließlich eventueller Anzeichen für Ablehnung oder Widerstand sowie eine Zustimmung beinhalten. Begründet wird dieses Vorgehen mit der kindlichen Entwicklung (»development of the child as person«). Betroffen sind die Bereiche 2

Vgl. u. a. Berg (2007); de Vries et al. (2011); Koelch et al. (2009); Wendler DS (2006); Lenk et al. (2009); Wolthers OD (2006). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Diagnostik, Therapie und Forschung. Einer kindlichen Ablehnung wird mehr Gewicht beigemessen, wenn die Maßnahme nicht lebensnotwendig ist oder ohne Nachteile verschoben werden kann. Bei Konflikten mit den Eltern wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass im Vordergrund der Kommunikationsprozess und die konsensuale Entscheidung stehen sollten. Eine Altersgrenze wird nicht festgelegt. Die Ethik-Arbeitsgruppe der Confederation of European Specialists in Paediatrics (CESP) plädierte ebenfalls für das Zustimmungskonzept (informed assent). Informed assent wird hierbei als Zustimmung (oder Ablehnung) nach altersentsprechender Information (qualitativ und quantitativ) verstanden und erfordert eine freie Entscheidungssituation (de Lourdes Levy et al. 2003). Betont werden partnerschaftliches Verhalten, gegenseitiges Verständnis, Respekt und Vertrauen sowie ein kontinuierlicher Aufklärungsprozess. Als Begründung werden Respekt vor der Autonomie, die »Goldene Regel«, das Nicht-SchadensPrinzip und Partizipationsrechte angegeben. Der kindlichen Ablehnung einer medizinisch indizierten Maßnahme soll nicht nachgekommen werden, wenn der Zustand lebensbedrohlich oder schwerwiegend ist. Begründet wird dies mit dem Kindeswohl (Best Interest Standard) (Dörries 2003). Informed assent wird für alle Versorgungsbereiche als wichtig erachtet (Prävention, Diagnostik, Therapie, Forschung). Konflikte mit Eltern sollen in wiederholten Gesprächen und nur im Ausnahmefall vor Gericht geklärt werden. Zu Altersgrenzen wird auf die unterschiedlichen nationalen Regelungen hingewiesen und angeführt, dass die Krankheitserfahrung eines Kindes eine wesentliche Rolle spielen kann. Seitens der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin wurde das kindliche Zustimmungskonzept bisher nicht ausführlich thematisiert. Innerhalb einer Stellungnahme zur Therapiebegrenzung wird assent als »Billigung vorgeschlagenen Vorgehens« wiedergegeben, das sowohl bei Kindern als auch bei Eltern, die eine Entscheidung nicht treffen wollen, angewendet werden soll (Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin 2009). Die Bundesärztekammer führt in ihren »Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung« aus, dass Kinder »wahrheits- und altersgemäß« aufzuklären und »regelmäßig und ihrem Entwicklungsstand entsprechend« in sie betreffende Entscheidungen einzubeziehen sind, »soweit dies von ihnen gewünscht wird« (Bundesärztekammer 2011). Es wird auf die potentiell frühe Urteilsfähigkeit schwerstkranker Kinder hingewiesen, was bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden müsse. Urteilsfähigen Jugendlichen wird ein Vetorecht zugestanden, das Zustimmungskonzept aber nicht weiter ausgeführt. Ein anderer Ansatz vermeidet den assent-Begriff und verwendet ausschließlich den consent-Begriff (Alderson 1993; Alderson 2003). Rechtebasierte Entscheidungskonzepte werden einerseits als hilfreich für die Durchsetzung des kindlichen Selbstbestimmungsrechts betrachtet, aber wegen des individualistischem Ansatzes und des »take-it-or-leave-it pattern of relation« auch als kritisch angesehen; diese müssten durch relationale, vertrauensbildende Konzepte ergänzt werden (Alderson 1993, 35). Für die Entscheidungsfindung bei kindlichen Behandlungsmaßnahmen wird ein Vier-Stufen-Modell vorgeschlagen: 1. Aufklärung des Kindes, 2. kindliche Meinungsäußerung, 3. kindliche Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Entscheidungsbeeinflussung und 4. Kind als entscheidende Person (Alderson 2003, 36). Insgesamt vertritt Alderson, belegt durch eigene empirische Studien, die Meinung, dass sich Kompetenz und Selbstbestimmungsfähigkeit im Behandlungsprozess bei Kindern hauptsächlich durch Vorerfahrungen und nicht primär durch Alter und intellektuelle Fähigkeiten entwickeln und dass die Urteilsfähigkeit – wie auch bei Erwachsenen – schwanken kann und kontextabhängig ist. Kinder seien daher auf die »Sorgfalt und Fürsorge der Ärzte angewiesen, mit der diese ihre aufklärenden und unterstützenden Aufgaben wahrnehmen« (Alderson 2003, 46). Zudem wird auf sich kommunikativ negativ auswirkende Einflüsse von operationalisierten Kompetenztests verwiesen und für eine unterstützende, fürsorgliche und damit vertrauensbildende Haltung gegenüber dem Kind im Entscheidungsprozess plädiert. Dabei gälte es, das Kind weder zu über- noch zu unterschätzen. Zwangsmaßnahmen werden als ein Versagen der Erwachsenen abgelehnt. Einige Beiträge bevorzugen anstelle einer kindlichen Zustimmungsregelung, welche Einwilligungsfähigkeitsprüfungen erfordert, einen familienorientierten Entscheidungsprozess, bei dem Kind und Eltern gemeinsam einwilligen und die Unterschiede zwischen Zustimmung und Einwilligung weitgehend irrelevant werden (Foreman 1999; Gibson et al. 2011). Teilweise knüpfen sie dies an bestimmte Vorsichtsmaßnahmen wie Wachsamkeit gegenüber elterlichem Druck auf das Kind, Achtsamkeit auf kindliche Ablehnungszeichen, ausdrückliche Hinweise der Eltern auf die Bedeutung des Kindes im Entscheidungsprozess und eine bewusste Einbeziehung des Kindes in den Entscheidungsprozess (Gibson et al. 2011). Familienmitglieder haben in diesem Modell nicht unterschiedliche Einzelziele, sondern gemeinsame Ziele, weshalb Entscheidungen für ein Mitglied (hier das Kind) auch die Familie als Ganzes und als Beziehungsgefüge betreffen (Nelson, Nelson 1995, 31–53). Als Begründungen werden die Achtung der kindlichen Selbstbestimmung, Respekt vor familiären Bedürfnisse und das NichtSchadens-Prinzip für das Kind angeführt (Gibson et al. 2011). Ein noch weiter relational ausgerichtetes Konzept fordert anstelle einer geförderten Unterstützung der kindlichen Autonomie den Respekt vor der Autonomie der Familie (Ross 1998). Constrained parental autonomy wird hierbei als elterliche Autonomie verstanden, die beschränkt wird durch den Respekt vor der Person (d. h. dem Kind) (Ross 1998, 50–52). Hierdurch werden innerfamiliäre Abwägungen möglich, die auch die Familie als Ganzes oder Teile davon berücksichtigen und nicht ausschließlich das Wohl des betroffenen Kindes (dieses aber trotzdem weiterhin schützen). Eltern wären verpflichtet, Kindern ein Umfeld zu schaffen, das sie zu selbstbestimmten Erwachsenen aufwachsen lässt. Der Staat kann elterliche Autonomie durch gesetzliche Regelungen, z. B. durch Partizipationsrechte des Kindes, einschränken und muss Vernachlässigung, Misshandlung und Ausbeutung sanktionieren. Interventionen in Familien wären aber auf Situationen beschränkt, in denen das Leben des Kindes bedroht wäre, ein hohes Risiko für schwerwiegende Krankheitsfolgen bei einer nachgewiesen effizienten Therapie bestände oder Eltern eine nicht-indizierte Therapie forderten (Ross 1998, 145). Der Schutz der basic medical needs Minderjähriger wird bei effektiven Therapiemaßnahmen sogar ausdrücklich über andere Interessen gestellt, Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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d. h. sowohl Jugendliche (major minor) als auch Familien hätten aus moralischen Gründen kein Recht, diese abzulehnen (Ross 2009). Das Zustimmungskonzept in der Patientenversorgung Es gibt bisher nur wenige empirische Hinweise, wie die unterschiedlichen Partizipationskonzepte in der Patientenversorgung wahrgenommen, verstanden und eingesetzt werden. Die meisten klinischen Studien beschäftigen sich primär mit Entscheidungen zur Therapiebegrenzung (häufig auf Neugeborenenstationen), in denen aber eine explizite Analyse des Zustimmungskonzepts ausgespart bleibt (Übersicht bei Dörries 2006; Gillam, Sullivan 2011). In diesen Studien werden hauptsächlich der gemeinsame Entscheidungsprozess und die elterliche Partizipation untersucht. Eine amerikanische Studie zeigte einerseits fehlende Kenntnisse über die den Begriffen (assent, consent) unterlegten Definitionen, andererseits unzureichende Kenntnisse der relevanten Stellungnahmen der pädiatrischen Fachgesellschaft (Lee et al. 2006). Während der altersentsprechenden Information des Kindes (neben der der Eltern) immer eine große Bedeutung beigemessen wurde, wurde die Zustimmung des Kindes nur in wenigen Fällen explizit gesucht. Altersangaben zur Einbeziehung von Kindern waren uneinheitlich und breit gefächert von der Geburt bis zum Erwachsenenalter. Interessanterweise waren es die erfahreneren älteren Ärzte, die die Wünsche der Kinder am häufigsten erfragten. Die Autoren plädierten dafür, das Zustimmungskonzept (assent) der Alltagspraxis anzupassen und lehnten eine verstärkte Durchsetzung des Zustimmungskonzepts ab. Als angemessen erachteten sie ein familienzentriertes Modell (Ross 1998). In einer kanadischen Studie konnte gezeigt werden, dass Entscheidungen üblicherweise familienorientiert stattfinden (Gibson et al. 2011). Es wurde darauf hingewiesen, dass individualisierte Kompetenzermittlungen (Prüfung der kindlichen Einwilligungsfähigkeit) und konsensual ausgerichtete Informationsvermittlungen und Einwilligungen im Widerspruch zueinander stehen. Zumindest bei Forschungsvorhaben wurden Kinder und Eltern üblicherweise gleichzeitig informiert. Die unterschiedlichen Zustimmungskonzepte (assent, consent) schienen dabei keine große Relevanz zu haben. In einer umfangreichen kinder- und jugendpsychiatrischen Studie fanden sich erhebliche altersabhängige Informationsdefizite sowohl über Behandlungsmaßnahmen und -verläufe wie auch über Aufklärungsrechte (Rothärmel et al. 2006, 123–275) Kinder und Jugendliche wünschten eher eine Beteiligung an Gesprächen über Behandlungsmaßnahmen als ausschließlich selbst- oder fremdbestimmte Entscheidungen. Es zeigte sich aber auch, dass – insbesondere jüngere – Kinder und Jugendliche zu Nachfragen explizit aufgefordert werden müssen. Die Autoren weisen auf die rechtliche ärztliche Aufklärungspflicht über Behandlungsmaßnahmen hin und plädieren für eine altersangemessene Teilhabe.

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Fazit Aus dem Anspruch, Kinder verstärkt am Entscheidungsprozess ihrer medizinischen Versorgung partizipieren zu lassen, leiten sich verschiedene konzeptionelle Ansätze ab. Diese reichen von der Vorstellung, dass Kindern immer einer hohe Urteilsfähigkeit zukommt und diese nur auf geeignete Art und Weise ermittelt werden muss (Alderson 2003), über die verschiedenen Zustimmungskonzepte einschließlich des Einwilligungskonzepts (informed consent) bis zu weitgehend familienorientierten Ansätzen, in denen innerfamiliär unter Einbeziehung des Respekts vor dem Kind entschieden wird (constraint parental autonomy) (Ross 1998) oder einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber einer verbindlichen kindlichen Einwilligung angesichts physischer, emotionaler und finanzieller Abhängigkeiten und relativer Unerfahrenheit mit komplexen medizinischen Entscheidungsprozessen (Kuther 2003). Verbunden sind alle diese Ansätze immer auch mit einer impliziten gesellschaftlichen Sicht auf die Familien und einem bestimmten Bild vom Kind, was dann zu mehr oder weniger befürworteten Eingriffsrechten von außen (Arzt, Gerichte) führt (besonders deutlich bei Alderson im Gegensatz zu Ross). Individualisierte Selbstbestimmungsrechte stehen hier mehr relational ausgerichteten Ansätzen gegenüber. Unter Zustimmung (assent) wiederum werden die altergerechte Aufklärung einschließlich kindlicher Zustimmung (Committee on Bioethics 1995; Kuther 2003) oder lediglich die altersgerechte Informationsweitergabe (Lee et al. 2006) oder gar einfach die »Billigung« einer Maßnahme (Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin 2009) verstanden. Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie das Kind in seiner Eigenständigkeit wahrnehmen und seine Wünsche und Vorstellungen in irgendeiner Art einbeziehen. Vollkommen uneinheitlich sind die Altersvorstellungen für eine Zustimmungsregelung, die vom Neugeborenenalter (Lee et al. 2006), über das Schulkind (ab etwa 7 Jahren) (American Academy of Pediatrics 2010; Foreman 1999) bis zu Angaben von 8–14 Jahren schwanken (American Academy of Pediatrics 2010) und teilweise noch für Zustimmung und Ablehnung bzw. Diagnostik und Therapie unterschiedliche Angaben machen (Foreman 1999). Für die praktische Umsetzung wird auf die konsensuale Entscheidung und den hohen Verständigungsbedarf hingewiesen. Hierfür werden neben ausführlichen und wiederholten Gesprächen auch andere Unterstützungsmaßnamen angedacht (moderierte ethische Fallbesprechungen, psychologische oder seelsorgerliche Begleitung) (Committee on Bioethics 1995). Kommt es nicht zu einem gemeinsamen Entscheidungsergebnis, gehen die Beurteilungen von einer zwingenden Klärung vor Gericht zur rechtlichen Absicherung bis zur Ansicht, dass dies ein Versagen der Erwachsenen (Arzt, Eltern) sei. Wichtig erscheint der Hinweis, dass in Situationen, in denen die Behandlung auch gegen den Willen des Kindes stattfinden wird, das Kind nicht darüber im Unklaren gelassen werden sollte: »[. . .] the patient should be told that fact and should not be deceived« (Committee on Bioethics 1995). Es ist offensichtlich, dass sich eine offene Kommunikation mit Kindern als positiv auf den Behandlungsprozess und die Compliance auswirkt (Kurz et al. 2006; Kuther 2003). Deshalb sollten Ärzte, die KinClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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der behandeln, ihre kommunikativen Erfahrungen reflektieren und gegebenenfalls ihre Kenntnisse und Fertigkeiten vertiefen (Levetown et al. 2008). In der Praxis werden sich vermutlich nur Konzepte bewähren, die auch im Konfliktfall zwischen Arzt und Kind und /oder Eltern tragfähig sind. Wenn ein Kind einer Maßnahme zustimmen kann, dann ist nicht überzeugend, wenn es diese nicht auch ablehnen kann. Erfahrungsgemäß tritt eine kindliche Ablehnung jedoch nur in sehr wenigen Situationen auf (Alderson 1999). Hier könnte man Situationen unterscheiden, in denen dies möglich, zeitweilig möglich oder aus übergeordneten Gesichtspunkten nicht möglich ist. Während es durchaus vertretbar wäre, dass das Kind einige therapeutische Situationen (z. B. Einnahme eines Hustensafts) verweigern kann oder eine Maßnahme wegen kindlicher Zustände (Angst, Schmerzen) und Bedürfnisse (Schlaf) verschoben werden kann (z. B. eine Impfung im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen, Kontrolluntersuchung einer Röntgenaufnahme), erscheint dies bei akuten schwerwiegenden und lebensbedrohlichen Erkrankungen (akuter Leukämie, Appendizitisverdacht) aufgrund der Schutzpflichten für das Kindeswohl nicht vertretbar. Dies mag anders aussehen, wenn die bereits erwähnte Krankheitserfahrung des Kindes hinzutritt. So ist es durchaus bereits Praxis und auch weiterhin vertretbar, dass Kinder mit einer chronischen Erkrankung und entsprechender Therapieerfahrung auch medizinisch indizierte Therapien ablehnen können (z. B. PEG-Sonden bei Mukoviszidose, Behandlung eines zweiten Rezidivs eines Osteosarkoms). Es ist schwer vorstellbar und praktisch nicht durchführbar, dass langfristig eine Behandlung gegen den Willen eines Kindes durchgeführt werden könnte. Ein Entscheidungsfindungsprozess für diese Situationen sollte an eine intensive Kommunikation und nicht an einen wie auch immer gearteten Kompetenzstandard gebunden werden. Wenn man ein risikosensibles Modell mit dem bereits angeführten Vier-Stufen-Modell kombinieren würde, könnte daraus eine Matrix entstehen, die situations- und kindgerecht (auch im Sinne von familiengerecht) in der Praxis umsetzbar wäre. Sollten Eltern und Kind eine vorgeschlagene Behandlung ablehnen, würde dies eine Diskussion über das zu schützende langfristige Patientenwohl erfordern. Während bei einer akuten Erkrankung (z. B. eine akute Leukämie, eine transfusionsbedürftige Operation bei Zeugen Jehovas) in Einzelfällen eine gerichtliche Klärung zur Absicherung notwendig werden könnte, kann langfristig auch gegen den Willen der Eltern eine Therapie nicht durchgeführt werden. Dies würde in Ausnahmen gegebenenfalls die Trennung des Kindes von der Familie bzw. den Sorgerechtsentzug der Eltern bedeuten. Aber auch in diesen schwierigen Situationen ist zu beachten, dass möglicherweise die hohe psychische Belastung der Eltern ihnen eine abgewogene Sicht des Kindeswohls zeitweilig unmöglich macht und dass Zeit und Geduld hier primär angebracht sind (Kenny et al. 2008). Zu klären wäre weiterhin das Verhältnis zwischen der innerfamiliären Entscheidungsfindung und der Entscheidungsfindung im Eltern-Kind-Arzt-Verhältnis. Auch hier existieren unterschiedliche Vorschläge: u. a. eine im Wesentlichen innerfamiliäre Entscheidung, in die die Eltern rechtlich bindend einwilligen; eine Zustimmung /Einwilligung bzw. Unterschrift von Kind und Eltern(Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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teil); eine Entscheidung, die das Kind nach Beratung als Hauptentscheider trifft. Vorstellbar wäre ein Konzept, bei dem primär ein innerfamiliärer Entscheidungsprozess erfolgt und seitens des Arztes Informations- und Partizipationspflichten gegenüber dem Kind und Eltern bestehen, die dann im weiteren gemeinsam zu einer Entscheidung führen. Gleichzeitig müsste eine rechtlich bindende Unterschriftsregel (Eltern bzw. Eltern und Kind) vorgesehen werden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der gesellschaftliche Anspruch auf eine verstärkte Selbstbestimmung des Kindes und die Alltagspraxis derzeit auseinander klaffen. Dies ist einerseits bedingt durch fehlende Kenntnisse und Unklarheiten des Zustimmungskonzepts, aber auch durch den im allgemeinen bewährten Umgang zwischen Kind, Eltern und Arzt, der ein konsenssuchendes Verhalten in den Mittelpunkt der Versorgung stellt und nicht rechtebasiert oder konfrontativ arbeitet. Das Zustimmungskonzept erweist sich bisher als wenig hilfreich und verdeckt, dass das Kind bei wesentlichen seine Zukunft betreffenden Entscheidungen im Sinne des langfristigen Kindeswohls bei seinen Wünschen potentiell übergangen wird. Es besteht derzeit ethisch wie rechtlich die Aufgabe, passende Konzepte zu entwickeln, die ein schlüssiges Zustimmungskonzept und Rechtsklarheit für alle Beteiligten bringen. Kinder sollten immer als eigenständige Personen mit ihren eigenen verbalen und nonverbalen Ausdruckmöglichkeiten respektiert und einbezogen werden. Ein risikosensibles Entscheidungsmodell könnte situations-, kind- und familiengerecht in der Praxis umgesetzt werden. Im Mittelpunkt sollte dabei immer das auf Konsens zielende gemeinsame Gespräch zwischen Kind, Eltern und Arzt stehen (American Academy of Pediatrics 2012). Ein Ansatz, der ausschließlich auf eine besser operationalisierte Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit oder entsprechende Altersgrenzen setzt, verfehlt eine gute Entscheidungsfindung bei der medizinischen Versorgung von Kindern.

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Dörries: Zustimmung und Veto

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Raoul Borbé

Patientenautonomie in der Psychiatrie Einführung In der Psychiatrie ist Patientenautonomie nicht ohne den Begriff der Heteronomie zu denken. Auch muss die Diskussion dieses Begriffes im psychiatrischen Kontext sehr viel breiter geführt werden als in der Somatik. Dies wird bereits durch die zwei grundlegenden Aufgaben der Psychiatrie illustriert: Einerseits die Krankenversorgung von Menschen mit psychischen Störungen analog derer mit somatischen Erkrankungen, andererseits besteht ein ordnungspolitischer Auftrag: der Schutz der Gesellschaft vor der Gefährdung – konkreter vor Straftaten – durch psychisch Kranke. Betrachtet man die historische Entwicklung, hat sich der erste Auftrag in den letzten zwei Jahrhunderten gewandelt und ging – wie auch in den somatischen Fächern – mit einer immer stärkeren Betonung der Autonomie des psychisch Kranken einher. 1977 hat die World Psychiatric Association in der Declaration of Hawaii als erste medizinische Fachgesellschaft faktisch das Selbstbestimmungsrecht über das eigene Leben als zentralen Grundsatz der Behandlung psychisch Kranker festgeschrieben und dem Behandlungsrecht des Arztes übergeordnet (Helmchen, Okasha 2000). Die ordnungspolitische Funktion gibt es schon länger, aber auch diese hat über die Jahrhunderte eine Konkretisierung vor allem im Sinne einer Einengung auf eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung erfahren. Die Verwahrung psychisch Kranker war über viele Jahrhunderte allerdings die »maßgebliche« Therapie und das vermeintliche Mittel zum Zweck der Erfüllung beider Aufgaben. Vielfach resultierte daraus unbeschreibliches Leid, unzählige Patienten verloren ihr Leben (Schott, Tölle 2006). Die Psychiatrie befindet sich daher zu Recht dauerhaft »unter kritischer Beobachtung«, auch noch nach den Psychiatrie-Reformen, wie sie z. B. durch den Abschlussbericht der Enquete-Kommission des deutschen Bundestages, der 1975 vorgelegt wurde, mit eingeleitet wurden. Diese haben zu einer nachhaltigen Änderung der psychiatrischen Versorgung geführt (Ernst 2001). Grundsätzlich unverändert bleibt aber bis heute der zweigeteilte Versorgungsauftrag psychiatrischer Einrichtungen. Dies wird u. a. dadurch illustriert, dass es derzeit ein Aufleben der Diskussion über die Autonomie von Patienten mit psychischen Störungen gibt und eine sehr kontrovers verlaufende politische Diskussion über eine Erweiterung ordnungspolitischer Aufgaben für die Psychiatrie durch den Vorschlag, Straftäter mit Sicherungsverwahrung in Psychiatrische Kliniken zu überführen (Der Tagesspiegel 2011). Die in diesen Diskussionen verwendeten Patientenbilder reichen dementsprechend vom »gefährlichen Geisteskranken« bis zum »selbstbestimmten Patienten«.

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Borbé: Patientenautonomie in der Psychiatrie

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Exkurs: Das Patientenbild in der Psychiatrie Der Begriff des Patientenbildes findet in der wissenschaftlichen Literatur kaum Verwendung, ganz im Gegensatz zum Arztbild, das z. B. auch von den ärztlichen Standesorganisationen selbst beschrieben wird (Hess 2009). Dies unterstreicht die auch weiterhin grundsätzlich paternalistische Haltung von Ärzten ihren Patienten gegenüber. De facto existieren aber mannigfaltige Patientenbilder: u. a. der Patient als Leidender, Bedürftiger, der Patient als Fall, d. h. reduziert auf seine (Organ-)Pathologie, der Patient als Kunde und nicht zuletzt der Patient als selbstverantwortlich Mitwirkender (Widmer 2005). Aus dieser Aufzählung ist ersichtlich, dass das Patientenbild durch verschiedenste Einflüsse geprägt wird und daher auch nicht immer ein medizinisches ist. In keinem anderen Fachgebiet existieren so viel verschiedene Patientenbilder, als in der Psychiatrie. In keinem anderen Fachgebiet ist zudem der äußere Einfluss der Gesellschaft, der Politik, der Philosophie, der Soziologie, der Psychologie aber auch der Ökonomie und der Justiz auf das Patientenbild größer. Wird der Patient auf ein Bild, eine Rolle festgelegt, so hat dies Folgen für den Umgang mit ihm, denen sich auch der Arzt nur schwer entziehen kann. Gerade ökonomische Abhängigkeiten, die durch die betriebswirtschaftliche Leitung eines Krankenhauses betont werden, können einen erheblichen Einfluss auf das Patientenbild und die ArztPatienten-Beziehung haben (Pöppel 2008). Schließlich wird auch das Selbstbild eines psychiatrisch tätigen Arztes durch diese Einflüsse geprägt, da es zweifelsfrei einen Unterschied macht, ob man einen bedürftigen, leidenden Menschen therapieren will oder das »lebenslange Wegsperren« psychisch kranker Straftäter ärztlich begleitet. Diese immer wieder medienwirksam von Politikern vorgebrachte Forderung ist in ihrer scheinbaren Alternativlosigkeit derart diskriminierend gegenüber psychischen Erkrankungen, psychisch Kranken und den Therapeuten, dass entstigmatisierende Projekte über Jahre zurückgeworfen werden. In der heutigen Versorgungsrealität kann mit Blick auf personenzentrierte Ansätze, individualisierte Behandlung und nicht zuletzt auf die dramatisch gesunkenen Liegezeiten in der stationären Behandlung davon ausgegangen werden, dass der selbstverantwortlich mitwirkende Patient (Widmer 2005) das vorherrschende Patientenbild in der Psychiatrie ist. Besonderer Beachtung bedürfen daher jene Patienten, die nur bedingt oder zumindest kurzzeitig gar nicht selbstverantwortlich handeln können, deren Autonomie durch die psychische Erkrankung eingeschränkt oder aufgehoben ist.

Der Verlust der Autonomie durch psychische Störungen Die Autonomie kann bei Patienten mit psychischen Störungen krankheitsbedingt vermindert oder aufgehoben sein. Dies kann bei einer Vielzahl von Störungen der Fall sein, insbesondere bei dementiellen Erkrankungen, Abhängigkeitserkrankungen, schizophrenen Störungen und manischen Episoden. Aber auch andere Störungen können damit einhergehen. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 4: Patientenautonomie und klinische Praxis

Der Autonomieverlust kann dabei durch unterschiedliche einzelne Symptome, z. B. imperative Stimmen, Wahnvorstellungen oder Bewusstseinsstörungen, hervorgerufen werden, resultiert aber meist aus einem Symptomenkomplex, einem Syndrom. Der Verlust der Autonomie ist dabei immer dimensional. Das heißt, dass der Autonomieverlust häufig partiell ist. Beispielsweise könnte man sich einen Patienten mit einer Schizophrenie vorstellen, der auf Grund eines Vergiftungswahns die Einnahme von Medikamenten ablehnt, der also in dieser Frage nicht mehr frei entscheiden kann, einer Magenspiegelung aber zustimmt, da er auf Grund seiner Bauchschmerzen die Notwendigkeit einer solchen diagnostischen Maßnahme einsieht. Auch stimmt er der Zuführung seines Hundes in ein Tierheim während des stationären Aufenthaltes zu. Demgegenüber gibt es Patienten, die im Rahmen einer Wahndynamik die Umgebung in ihren Wahn mit einbeziehen, also auch das Personal eines psychiatrischen Krankenhauses, und jegliche therapeutischen oder diagnostischen Maßnahmen aus dem Wahngeschehen heraus ablehnen. Die zeitliche Entwicklung des Autonomieverlustes kann sehr rasch verlaufen, z. B. bei Konsum von halluzinogenen Substanzen, und innerhalb weniger Minuten einsetzen oder über Jahre hinweg, z. B. bei einer dementiellen Erkrankung. Der Autonomieverlust kann reversibel sein oder anhaltend. Der Autonomiebegriff ist dabei immer eng mit einer autonomen, d. h. freien Willensbildung verknüpft. Als Voraussetzungen für eine autonome Willensbildung werden Einwilligungsfähigkeit, Intentionalität, Freiwilligkeit, d. h. Abwesenheit von äußerem Zwang, Verstehen und Authentizität genannt (Maio 2005). Dies bildet sich auch im Strafgesetzbuch ab, da dort, entsprechend der Einwilligungsfähigkeit und der Intentionalität, die Einsichtsfähigkeit und die Steuerungsfähigkeit als Ausdruck autonomen Handelns, bzw. deren Einschränkung bis Aufhebung maßgeblich zur Beantwortung der Frage nach der Schuldfähigkeit herangezogen werden (Schreiber, Rosenau 2004). Viele Straftaten von psychisch Kranken sind Folgen von deren Erkrankung. Dabei besteht keine höhere Rate an Straftaten bei psychisch Kranken im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, bestimmte Erkrankungen führen aber zu höheren Raten an Delikten, so liegt die Tötungsrate bei Patienten mit schizophrener Störung deutlich höher (Fazel et al. 2009). Dies ist z. B. bedingt durch imperative Stimmen, die zum Töten einer anderen Person auffordern, durch eine wahnhafte Verkennung von Personen, die nun als feindlich verkannt werden, und gegen die der Kranke sich wehrt. Für diese Fälle besteht zu recht keine Gleichstellung psychisch Kranker mit körperlich Erkrankten. So macht es einen Unterschied, ob durch eine Schilddrüsenerkrankung die Hormonbildung gestört ist oder durch eine Gehirnerkrankung ggf. die Willensbildung, die Einsichtsfähigkeit und die Steuerungsfähigkeit. Ein ansonsten gesunder Patient mit einer Schilddrüsenerkrankung, der einen Mord begeht, wird zu einer Haftstrafe verurteilt. Ein Patient mit wahnhafter Störung, der zum Zeitpunkt der Tat auf Grund der Erkrankung keinen freien Willen bilden konnte, bzw. nicht einsichtsfähig bezüglich der Folgen seines Handelns war, wird nach § 20 StGB schuldunfähig gesprochen und kommt nach § 63 Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Borbé: Patientenautonomie in der Psychiatrie

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StGB in den Maßregelvollzug. Der Spezifität psychischer Störungen und ihrer Folgen für die Willensbildung wird hier Rechnung getragen. Eine erweiterte Sichtweise – jenseits von Schuldfähigkeit und Gefahrenpotential – ergibt sich durch die oben bereits erwähnte anhaltende, z.T auch fortschreitende Einschränkung der Autonomie durch die Chronifizierung einer Erkrankung, z. B. durch den Abbau kognitiver Fähigkeiten. Beispielhaft sind hier Demenzen aber auch Folgezustände von chronischem Alkoholkonsum und chronisch-progredient verlaufende schizophrene Störungen zu nennen. Gerade auch das Verstehen als Voraussetzung für eine autonome Willensbildung ist hier häufig nicht mehr gegeben. Der Verlust der Autonomie durch psychiatrische Behandlung 1 Die im letzten Absatz beschriebenen Zustände sind typische Gründe für die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung nach § 1906 BGB bei Patienten mit psychischer Störung. Dabei erfahren die Betroffenen im Alltag, so sie ihn alleine meistern können, meist keine Einschränkung ihrer Autonomie. Sollte sich aber die Notwendigkeit einer stationären Behandlung ergeben, kann der Betreuer, der über die Gesundheitsfürsorge und die Aufenthaltsbestimmung verfügt, den Betroffenen auch gegen seinen Willen in einer psychiatrischen Klinik unterbringen lassen (wobei dies natürlich auch für somatische Erkrankungen gilt). Die Einschränkung der Patientenautonomie hat hier einen sehr stark fürsorglichen Aspekt, während die Unterbringung gegen den Willen eines Patienten in einer psychiatrischen Klinik nach den Unterbringungsgesetzen der Länder der Vermeidung akuter Gefahren, also unmittelbarer Eigen- oder Fremdgefährdung dient. Dabei muss festgehalten werden, dass ein Großteil aller Patienten, die stationär psychiatrisch behandelt werden, keine Einschränkung der Autonomie erfährt. Bei einem sehr viel kleineren Anteil kann die Einschränkung der Autonomie therapeutisch geboten sein, muss zum Schutz des Patienten bzw. Dritter erfolgen oder kann Folge der medikamentösen Therapie sein. Eine therapeutisch gebotene Einschränkung der Autonomie erfolgt in der Praxis meist durch eine Einschränkung der Handlungsfreiheit und in Absprache mit dem Patienten, nimmt dem Patienten damit im eigentlichen Sinne nicht seine Autonomie und dient z. B. der Reizabschirmung. Fallbeispiel: 37-jährige manische Patientin mit exzessivem Kaffekonsum, die nicht zur Ruhe kommt, kaum schläft und körperlich zunehmend erschöpft ist. Mit ihr wird besprochen, dass der Kaffeekonsum auf drei Tassen täglich beschränkt und die letzte Tasse nicht nach 16:00 Uhr getrunken wird.

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Vorangestellt muss darauf hingewiesen werden, dass es sich in den meisten Fällen um eine Einschränkung der Handlungsfreiheit handelt und nicht um eine Einschränkung der Autonomie im Sinne einer autonomen Willensbildung. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 4: Patientenautonomie und klinische Praxis

Die Einschränkung der Autonomie zum Schutz des Patienten erfolgt meist bei Selbstschädigung, Suizidgedanken, schwer verlaufenden psychischen Störungen, die u. a. mit einer Desorientierung einhergehen; aber auch krankheitsbedingt irrationale Handlungen, die schwere soziale Schäden nach sich ziehen können, werden als Grund gesehen, um die Autonomie eines Patienten einzuschränken (s. o.). Fallbeispiele: 38-jähriger Patient mit depressiver Erkrankung hat nach Suizidversuch durch Erhängen weiterhin einen drängenden Sterbewunsch und ist nicht absprachefähig. Der Ausgang von Station wird zurückgenommen, der Patient erhält eine 1:1-Betreuung durch eine Pflegekraft. 56-jähriger Patient im Alkoholentzugsdelir, vollständig desorientiert, beharrt auf der Entlassung, tritt die Tür ein und muss schließlich fixiert werden. 43-jährige Patientin mit episodisch verlaufender Manie, die in den manischen Phasen regelhaft in wenigen Tagen fünfstellige Summen ausgibt, die sie auf Grund ihres Gehaltes als Sekretärin nicht aufbringen kann. Es wird eine gesetzliche Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt eingerichtet. Die Einschränkung der Autonomie kann auch zum Schutz Dritter notwendig werden. Fallbeispiele: 33-jähriger Patient mit schizophrener Störung, der sich durch den Verfassungsschutz beobachtet wähnt, verkennt bald nach stationärer Aufnahme das Pflegepersonal als Geheimdienstmitarbeiter, attackiert unvermittelt einen Pfleger und bricht ihm das Nasenbein. Der Patient wird fixiert und medikamentös behandelt. 28-jährige Mutter eines einen Monat alten Säuglings wird vom Ehemann beobachtet, wie sie das Kind ersticken will. Es wird eine postpartale Depression mit wahnhafter Entwicklung diagnostiziert, die Mutter wird gegen ihren Willen in einer Psychiatrie untergebracht, das Kind kommt übergangsweise in eine Pflegefamilie.

Die besondere Stellung der Psychiatrie zwischen (Patienten-)Autonomie und Gesellschaft (Heteronomie) Fallbeispiel: 48-jähriger Patient mit episodisch verlaufender paranoider Schizophrenie. Ersterkrankung mit 21 Jahren, symptomatisch im Vordergrund imperative Stimmen und ein ausgeprägter Verfolgungswahn. Gutes Ansprechen der psychotischen Symptomatik auf Haloperidol, im Verlauf aber schwere extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen mit Schlundkrampf und starkem Rigor der Extremitätenmuskulatur. Unter anderer Medikation Stabilisierung und Entlassung. Immer wieder psychotische Episoden sowohl nach Absetzen der Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Borbé: Patientenautonomie in der Psychiatrie

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Medikation, als auch unter medikamentöser Therapie. Im Alter von 32 Jahren Tötung einer Mitarbeiterin der Werkstätte, in der der Patient arbeitete, unter der wahnhaften Vorstellung, dass diese des Teufels sei und ihn vergifte. Unter Clozapin im Maßregelvollzug langfristige Stabilisierung, schließlich Lockerung und Entlassung unter Führungsaufsicht, nach Ablauf dieser Betreuung durch einen niedergelassenen Psychiater. Umstellung der Medikation wegen Gewichtszunahme von 75kg auf 125kg bis zum 43. Lebensjahr von Clozapin auf ein anderes Neuroleptikum. Darunter Rezidiv mit Übergriff auf einen Mitarbeiter des betreuten Wohnens. Erneut forensische Unterbringung, Clozapin wurde wieder eindosiert. Unter dem hohen Gewicht mittlerweile Diabetes mellitus, zudem Fettstoffwechselstörung und Bluthochdruck. Mit 48 Jahren Koronarangiographie wegen schwerer Angina Pectoris bei Koronararteriensklerose. Die vorangehende Fallvignette schildert einen typischen, wenngleich nicht häufigen Verlauf eines Patienten mit paranoider Schizophrenie. Sie illustriert die nachvollziehbare heteronome Einschränkung der Handlungsfreiheit und der Patientenautonomie, durch zwangsweise Unterbringung und Medikation, die einerseits die Handlungsfreiheit begrenzt, andererseits schwere Nebenwirkungen mit sich bringt. Beides mit dem längerfristigen Ziel, dass der Betroffene, so weit wie möglich frei von psychischer Erkrankung, wieder an der Gesellschaft teilhaben kann. Bekannt werden diese Fälle vor allem dann, wenn die Presse darüber ausführlich berichtet und es sich um prominente Opfer handelt. Der Mord an der damaligen schwedischen Außenministerin Anna Lindh im Jahre 2003 führte zu einer sehr kontrovers und heftig geführten Debatte über die Psychiatrie-Reformen in Schweden (Gatermann 2004). Wenngleich der Täter später schuldig gesprochen wurde, hatte er sich doch früher in psychiatrischer Behandlung befunden und angegeben, er sei bei der Tat von der Stimme Jesu gelenkt worden. Weitere Straftaten psychisch kranker Menschen, die teilweise auch vor der Tat in Behandlung waren, bzw. eine solche gesucht hatten und abgewiesen worden waren, warfen die Frage auf, ob die schwedische Psychiatrie im Rahmen der Reformen zu viele Betten abgebaut hatte. Der in dieser Kritik geforderte Sicherungsauftrag der Psychiatrie wurde jüngst im Rahmen des Prozesses gegen den norwegischen Massenmörder Anders Breivik wieder diskutiert. Solche Diskussionen sind dabei nie frei von Polemik, im Gegenteil. Altbundeskanzler Schröder äußerte sich 2001 nach eine Häufung von Sexualstraftaten folgendermaßen: »Deswegen kann es da nur eine Lösung geben: wegschließen – und zwar für immer« (Berliner Zeitung 2001). Auch im Zusammenhang mit Straftaten psychisch Kranker – wobei dies auch für einen Teil der Sexualstraftäter zutrifft – wird diese Extremvariante des Umgangs mit fremdgefährlichen Menschen immer wieder diskutiert. Aber auch jenseits drastischer Szenarien ist die Zustimmung in der Bevölkerung, Patienten auch bei moderat eingeschätzter Gefährdung gegen ihren Willen in der Psychiatrie zu behandeln, hoch (Steinert et al. 2005).

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Teil 4: Patientenautonomie und klinische Praxis

Das Autonomie-Dilemma Wie sehr respektiert man die Autonomie eines Patienten mit psychischer Störung? Wie viel Zwang darf man in der Therapie psychischer Störungen anwenden? Die banale Antwortformel »So wenig wie möglich, so viel wie nötig« scheint hier zuzutreffen und hat in den letzten Jahrzehnten wahrscheinlich den Alltag der meisten Psychiater bestimmt. Dass es dabei einen grundsätzlich ungebrochenen Trend dazu, den Willensbekundungen des Patienten zu folgen und zu weniger Zwang gab, erklärt sich aus den oben genannten historischen Vorbedingungen einer sehr paternalistischen Grundhaltung, die dem Patientenwillen wenig Raum gab. In den letzten Jahren hat diese Entwicklung nochmals an Dynamik gewonnen, wobei drei politische bzw. juristische Entscheidungen hervorzuheben sind: 1. Das sog. Patientenverfügungsgesetz, das am 1.9.2009 in Kraft trat, ermöglicht jedem volljährigen, geschäftsfähigen Bundesbürger eine Vorausverfügung für den Fall des Eintretens einer späteren Einwilligungsunfähigkeit schriftlich zu verfassen (Bundesgesetzblatt 2009). In dieser können diagnostische oder therapeutische Maßnahmen abgelehnt werden. Durch die fehlende Reichweitenbeschränkung, im Umkehrschluss die Gültigkeit für alle Patienten- bzw. Diagnosegruppen, betrifft diese Regelung auch Menschen mit psychischen Störungen (Olzen 2009). 2. Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wurde im März 2009 von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert (UN-Behindertenrechtskonvention 2009). Sie kann jetzt schon als weiterer Markstein einer langjährigen Entwicklung, gerade auch im psychiatrischen Fachgebiet, hin zu einer patientenorientierten, die subjektiven Bedürfnisse der Patienten beachtenden Grundhaltung gesehen werden (Borbé 2011). Die UN-BRK fordert die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, deren soziale Inklusion und definiert das Verständnis von Behinderung neu, da diese dann eintritt, wenn eine Wechselwirkung zwischen einer Beeinträchtigung und einer gesellschaftlichen Barriere dazu führt, dass Menschen mit Behinderungen an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft gehindert werden (Art. 1, Abs. 2 UN-BRK). Behinderung wird als strukturell bedingt verstanden und umfasst damit auch Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen, mit seelischen Schwierigkeiten oder psychischen Erkrankungen (Aichele 2010). Im Kontext dieser Arbeit sind vor allem die Artikel 12 (Gleiche Anerkennung vor dem Recht), Artikel 14 (Freiheit und Sicherheit der Person) und Artikel 17 (Schutz und Unversehrtheit der Person) von Bedeutung. Diese stehen z. T. im Widerspruch mit deutschen Gesetzen, die die Freiheitsentziehung und Behandlung gegen den Willen bei psychischer Erkrankung regeln, so dass eine konventionskonforme Gestaltung des deutschen Rechts nicht ohne Rechtsänderungen herzustellen sein wird (Baufeld 2009).

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Borbé: Patientenautonomie in der Psychiatrie

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3. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Beschluss vom 23.03.2011 die Zwangsbehandlung mit Neuroleptika bei behandlungsunwilligen, krankheitsuneinsichtigen Patienten im Maßregelvollzug als schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht aus Art.2 Abs. 2 Satz 1 GG bewertet und im Einzelfall an strengste Anforderungen geknüpft (BVerfG 2011a). Auch die passive Duldung einer Maßnahme wird als Zwangsbehandlung interpretiert. Der Schutz Dritter vor Straftaten sei durch die Unterbringung gewährleistet. In der Folge dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Beschluss vom 12.10.2011 den § 8 Abs. 2 Satz 2 Unterbringungsgesetz Baden-Württemberg (UBG) für verfassungswidrig erklärt (BVerfG 2011b). Die bisherige rechtliche Grundlage für die Zwangsmedikation von Patienten, die nach dem UBG in einer anerkannten Einrichtung untergebracht sind, ist damit nichtig. Eine Neufassung des § 8 UBG ist seitens der Politik beabsichtigt, bis dahin ist eine Zwangsmedikation des Patienten gegen seinen Willen in BadenWürttemberg nur zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Klinik bzw. zum Schutz des Patienten vor sich selbst zulässig, ist also beschränkt auf unmittelbare Gefahrensituationen. Etwas weiter hat dies noch das Amtsgericht Nürtingen interpretiert, das festgestellt hat, psychisch Kranke, die krankheitsbedingt für sich und andere gefährlich sind, dürfen nach UBG Baden-Württemberg nur untergebracht, aber nicht gegen ihren Willen behandelt werden (AG Nürtingen 2011). Im Juni 2012 hatte der Bundesgerichtshof festgestellt, dass es gegenwärtig auch an einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden gesetzlichen Grundlage für eine betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung fehle (BGH 2012). Damit galt der Gesetzesvorbehalt für eine Zwangsbehandlung unabhängig davon, ob der Betroffene im Maßregelvollzug, öffentlich-rechtlich nach UBG bzw. PsychKG oder nach dem Betreuungsgesetz untergebracht ist. Diese, auch aus Sicht des Grundgesetzes, konsequente Gleichstellung aller richterlich in einer Psychiatrie untergebrachten Personen, wurde durch die Neuregelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme (Deutscher Bundestag 2013) bereits wieder revidiert. D. h. es wird über die nächsten Jahre zumindest in einigen Bundesländern noch eine erhebliche Rechtsunsicherheit geben, da die Unterbringung nach UBG, bzw. PsychKG Ländersache ist und die Neufassung der Landespsychiatriegesetze Zeit in Anspruch nehmen wird. All diese Entscheidungen stärken die Patientenautonomie und hinterfragen eine Vielzahl auch weiterhin aktueller Praktiken im Umgang mit Menschen mit psychischen Störungen. Problematisch sind die Entscheidungen dort, wo ein Konflikt zwischen Patientenautonomie und heteronom gefassten Entscheidungen ungelöst bleibt. Konkret: Wie zuvor bereits ausgeführt, kann ein Patient durch die Abfassung einer Patientenverfügung jegliche diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen ablehnen. Das oben genannte Fallbeispiel hätte unter diesen Voraussetzungen auch folgenden Verlauf nehmen können:

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Teil 4: Patientenautonomie und klinische Praxis

Variation Fallbeispiel: Nach Ersterkrankung mit 21 Jahren, mehreren Klinikaufenthalten und teils schweren Nebenwirkungen der neuroleptischen Medikation Abfassung einer Patientenverfügung in einer symptomfreien Phase. Darin wird im Falle einer erneuten Krankheitsphase die Untersagung jeglicher Therapie in einer psychiatrischen Einrichtung verfügt. Im Rahmen mehrerer erneuter Episoden Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik wechselnd wegen Eigen- oder Fremdgefährdung. Entlassung jeweils in nur wenig gebessertem Zustand, da Medikamente nicht verabreicht wurden. Schließlich, als der Patient 25 Jahre alt ist, schwere Körperverletzung einer Passantin, die wahnhaft von dem Patienten verkannt wurde und Unterbringung in einer forensischen Klinik. Ohne medikamentöse Behandlung resultiert eine zunehmende Chronifizierung des Wahns, so dass bei weiterhin bestehender Fremdgefährdung eine Lockerung nicht erfolgen kann und der Patient seit nunmehr 23 Jahren forensisch untergebracht ist. Unberührt bleibt von der aktuellen Rechtsprechung und Gesetzeslage die alleinige Unterbringung eines Patienten mit einer schwerwiegenden psychischen Störung, die auch weiterhin gegen den Willen des Patienten möglich ist, sowohl zum Eigenschutz als auch zum Schutz Dritter (Grözinger et al. 2011). Wenn nun wie in der Variation des Fallbeispiels jegliche therapeutischen Maßnahmen abgelehnt werden, resultiert daraus eine Situation der örtlichen Verwahrung eines Patienten, ggf. mit mechanischen Mitteln, sollte der Patient z. B. durch Schlagen des Kopfes gegen die Wand oder durch Übergriffe auf das Personal sich oder andere gefährden. Dies ist insofern ein Dilemma, als der Gesetzgeber und die Justiz der Patientenautonomie in Bezug auf Diagnostik und Therapie zwar die höchste Priorität einräumen, dies in Bezug auf den Umgang mit dem eigenen Körper aber nicht tun. Schwere Selbstverletzungen oder gar Suizid gelten als verhinderungswürdig. Dies trifft noch viel eindeutiger auf die Gefährdung Dritter zu. Psychisch Kranke dürfen natürlich andere Menschen nicht verletzen oder gar töten. Für sie ist in unserem Rechtssystem allerdings auf Grund der Tatsache, dass die Tat mit hoher Wahrscheinlichkeit Ausdruck der psychischen Erkrankung war und der Patient zum Zeitpunkt der Tat seinen Willen krankheitsbedingt nicht frei bilden konnte, bisher die Therapie in einer forensischen Psychiatrie vorgesehen. Unter der aktuellen Rechtslage, mit der Möglichkeit einer vollständigen Verweigerung der Therapie, könnte allerdings die Frage aufkommen, ob überhaupt noch ein psychiatrisches Krankenhaus zuständig ist, in dem der Betroffene nur verwahrt werden würde, oder nicht vielmehr eine Justizvollzugsanstalt (Doyal, Sheater 2005). Zwei weitere Punkte sollten bei dieser Diskussion noch bedacht werden: Einerseits wird seit vielen Jahren, v. a. auch in den USA (Baillargeon et al. 2009) von Psychiatern und Betroffenenorganisationen gleichermaßen beklagt, dass viele psychisch kranke Straftäter anstatt einer qualifizierten Behandlung im Rahmen eines Maßregelvollzugs der Verbüßung einer Haftstrafe in einem Gefängnis zugeführt werden. Andererseits bestehen im Maßregelvollzug nach § 63 StGB Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Borbé: Patientenautonomie in der Psychiatrie

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keine Höchstgrenzen der Unterbringung, anders als z. B. für Haftstrafen. Entscheidend ist die Einschätzung der Prognose und der Gefährlichkeit, so dass bei unveränderter Psychopathologie durch Therapieverweigerung die Situation einer lebenslänglichen Unterbringung deutlich häufiger resultieren könnte, als dies vorher noch der Fall war. Partizipative Behandlungsgestaltung Angesichts der oben angesprochenen Entwicklungen wäre es dennoch kontraproduktiv auf therapeutischer Seite in einen moralischen Defätismus zu verfallen. Dass das Behandlungsrecht, wie oben bereits erwähnt, 1977 bei dem Kongress der World Psychiatric Association dem Persönlichkeitsrecht des Patienten untergeordnet wurde, war bereits ein klares Bekenntnis zum selbstverantwortlich mitwirkenden Patienten. Es ist mittlerweile unstrittig, dass ein einwilligungsfähiger Patient selbst entscheidet, welche Therapie er in Anspruch nehmen will. Dazu sollte er über das Für und Wider verschiedener Therapieoptionen umfassend aufgeklärt sein, was u. a. ein Element des Shared-Decision-Making ist (Hamann et al. 2006), wenngleich ein solches Labeling angesichts der Selbstverständlichkeit des Vorhergesagten nicht notwendig wäre. Der Begriff der partizipativen Behandlungsgestaltung ist demgegenüber umfassender, steht nicht für eine spezifische therapeutische Intervention, sondern für eine grundsätzliche Haltung dem Patienten gegenüber. Die uneingeschränkte, selbstbestimmte Entscheidungsfindung ist bei Patienten, die krankheitsbedingt nicht einwilligungsfähig sind, erschwert, bei entsprechend schwerer Symptomatik teilweise nicht möglich, wie bereits in den Fallbeispielen illustriert wurde. Für diese Patienten, die auch häufiger Zwangsmaßnahmen ausgesetzt sind, sind spezifische Instrumente notwendig, um bereits im Vorfeld einer akuten krisenhaften Situation Festlegungen zu treffen, wie in einer solchen Situation, dem Patientenwillen entsprechend, gehandelt werden soll. Die gebräuchlichsten Vorausverfügungen dieser Art sind die oben bereits genannten Patientenverfügungen und Behandlungsvereinbarungen. Während Patientenverfügungen einseitige Willenserklärungen seitens des Patienten sind, beruhen Behandlungsvereinbarungen auf einem Verhandlungsprozess zwischen dem Patienten und der versorgenden Klinik. Dieses Instrument wurde vor rund zwanzig Jahren in Deutschland eingeführt und geht in seinen Festlegungen über rein therapeutische Maßnahmen hinaus. So können u. a. Besuchsregelungen, aber auch Vertrauenspersonen festgelegt werden, die im Falle einer stationären Aufnahme sich um häusliche Dinge (z. B. Haustiere, Müllentsorgung, etc.) kümmern (Borbé et al. 2009). Bei beiden Instrumenten werden die Festlegungen formuliert, wenn sich der Patient in einer Phase befindet, in der er seinen Willen frei bestimmen kann. Behandlungsvereinbarungen sind per se konsensorientiert, aber auch die Formulierung einer Patientenverfügung kann ärztlich-therapeutisch unterstützt werden und damit die therapeutische Beziehung stärken (Vollmann 2012). Durch das Patientenverfügungsgesetz ist auch die Verbindlichkeit für Behandlungsvereinbarungen, letztlich jeglicher Äußerung des freien Patientenwillens, auch im Sinne Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 4: Patientenautonomie und klinische Praxis

einer formlosen Vorausverfügung, unterstrichen worden (Borbé et al. 2012). Psychiatrische Kliniken sollten daher den Umgang mit solchen Instrumenten in ihre Behandlungspraxis etablieren und entsprechende Beratungsangebote vorhalten (Heinz, Borbé 2010). Schlussfolgerungen Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes einwilligungsfähiger Patienten mit psychischer Störung ist in einer modernen Psychiatrie alternativlos. Allenfalls ein weicher Paternalismus (vgl. Simon, Nauck in diesem Band), z. B. der Hinweis auf die schädigende Wirkung einschlägiger Suchtstoffe, scheint vertretbar zu sein. Viel schwieriger stellt sich die Situation bei Patienten dar, die ihren Willen nicht frei bestimmen können. Über die Diskussion des Umgangs mit Gefährdungen und dem Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft hinausgehend besteht der ethische Hierarchisierungskonflikt dabei in folgender Frage: Ist es menschenwürdiger die Autonomie eines Patienten allumfassend zu beachten, auch wenn dieser sich in einem Zustand befindet, in dem er seinen Willen nicht mehr frei bestimmen kann (und für diesen Fall z. B. eine Patientenverfügung verfasst hat)? Oder ist es menschenwürdiger den Patienten ggf. auch gegen seinen Willen wieder in einen Zustand zu bringen, in dem er den Willen frei bestimmen, in dem er autonom handeln kann? Kürzer gefasst besteht ein Konflikt zwischen Autonomie und Fürsorge. Im Gegensatz zur – üblicherweise bei somatisch Kranken getroffenen – Entscheidung, lebensverlängernde Maßnahmen (auch im weiteren Sinne) abzulehnen, führt die Therapieverweigerung bei psychischen Erkrankungen aber meist nicht kurz- bis mittelfristig zum Tod (u. a. schwere katatone, delirante oder suizidale Syndrome ausgenommen), sondern nicht selten zu einem chronifizierten Verlauf mit zunehmender Einschränkung kognitiver Fähigkeiten und mit einer Verschlechterung des psychosozialen Funktionsniveaus. Spätestens dann wird der Patient de facto zum Fürsorgefall, da die Autonomie in vielen lebenspraktischen Bereichen durch das verschlechterte psychosoziale Funktionsniveau eingeschränkt ist. Ein Teil dieser Einschränkungen sind aber gesellschaftliche Barrieren, die änderbar sind, wie es auch u. a. in der UN-Behindertenrechtskonvention gefordert wird. Eine moderne Psychiatrie muss daher immer einen Ausgleich in dem oben genannten Konflikt schaffen. Dazu ist zunächst zu prüfen, ob noch eine freie Willensäußerung vorliegt, denn »die Autonomie eines psychisch Kranken zu respektieren bedeutet eben nicht, seiner unfreien Willensäußerung Folge zu leisten« (Maio 2005). Auch Patientenverfügungen, die im Zustand der autonomen Willensbildung verfasst wurden, sind dabei nicht unproblematisch, da der Patient – nun akut psychotisch – möglicherweise in dieser Episode eine Behandlung wünscht, dies jedoch nicht adäquat äußern kann. Es muss verhindert werden, dass der Patient zum Sklaven seiner eigenen Vorausverfügung wird. Denn auch das wäre eine subtile Art der Fremdbestimmung. Daher ist zu Recht ein Bevollmächtigter einzusetzen, der neben der Prüfung, ob die Patientenverfügung auf die aktuelle Situation zutrifft, auch die bisherigen Lebensumstände, Überzeugungen u. a. in seine Beurteilung einzubeziehen hat. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Gerade mit Blick auf chronische Verläufe mit zunehmenden kognitiven Einbußen und hohem psychosozialen Hilfebedarf sollten dabei neben der Autonomie auch weitere gleichrangige medizinethische Prinzipien Beachtung finden: Schadensvermeidung, bzw. das Vermeiden von Schmerz und Leid, (nonmaleficence) das Befördern des Wohlbefindens, bzw. der Fürsorge und Hilfeleistung (beneficence) und die Gerechtigkeit (justice) (Beauchamp, Childress 2009). Damit wäre eine Basis für ein ethisches Bezugssystem in der Psychiatrie gegeben, dessen Ausgestaltung auch weiterhin aussteht (Bloch, Green 2006). Literatur AG Nürtingen (2011) Beschluß vom 10. 11. 2011, 11 XIV 80/11. http://lrbw.juris.de/ cgi-bin/laender_rechtsprechung/document.py?Gericht=bw&nr=14977 (Zugegriffen 14. Feb. 2013) Aichele V (2010) Die unabhängige Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland: Hintergrund, Ausrichtung, Wirkungszusammenhang. In: Zeitschrift für Inklusion Nr.2/2010 Baillargeon J, Binswanger IA, Penn JV, Williams BA, Murray OJ (2009) Psychiatric Disorders and Repeat Incarcerations: The Revolving Prison Door. In: American Journal of Psychiatry 166: 103–109 Baufeld S (2009) Zur Vereinbarkeit von Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung psychisch Kranker mit der UN-Behindertenrechtskonvention. In: Recht & Psychiatrie 27: 167–173 Beauchamp TL, Childress JF (2009) Principles of Biomedical Ethics. 6. Aufl., Oxford University Press, New York Berliner Zeitung (2001) Schröder: »Kinderschänder für immer wegschließen« http: // www.bz-berlin.de /archiv /schroeder-kinderschaender-fuer-immer-wegschließenarticle57970.html (Zugegriffen 14. Feb. 2013) BGH (2012) http: // juris.bundesgerichtshof.de / cgi-bin / rechtsprechung / document. py?Gericht=bgh&Art=en&nr=60970&pos=0&anz=1 (Zugegriffen 14. Feb. 2013) Bloch S, Green SA (2006) An ethical framework for psychiatry. In: British Journal of Psychiatry 188: 7–12 Borbé R, Jaeger S, Steinert T (2009) Behandlungsvereinbarungen in der Psychiatrie. In: Psychiatrische Praxis 36: 7–15 Borbé R (2011) Die UN-Behindertenrechtskonvention – feste Größe in einem psychiatriepolitischen Schlingerkurs? In: Psychiatrische Praxis 38: 215–217 Borbé R, Jaeger S, Borbé S, Steinert T (2012) Anwendung psychiatrischer Behandlungsvereinbarungen in Deutschland. In: Nervenarzt 83: 638–643 Bundesgesetzblatt Jahrgang 2009 Teil I Nr.48, ausgegeben zu Bonn am 31. Juli 2009, 2286–2287 BVerfG (2011a) 2 BvR 882/09 vom 23. 3. 2011, Absatz-Nr. (1 – 83), http: // www. bverfg.de / entscheidungen / rs20110323_2bvr088209.html (Zugegriffen 14. Feb. 2013) BVerfG (2011b) 2 BvR 633/11 vom 12. 10. 2011, Absatz-Nr. (1 – 47), http: // www. bverfg.de / entscheidungen / rs20111012_2bvr063311.html (Zugegriffen 14. Feb. 2013) Deutscher Bundestag (2013) Drucksache 17/12086. Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme. Verabschiedet vom Dt. Bundestag am 17. 01. 2013 und vom Bundesrat am Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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TEIL 5 REPRODUKTIVE AUTONOMIE Herausgegeben von K. Beier, C. Wiesemann

Katharina Beier, Claudia Wiesemann

Reproduktive Autonomie in der liberalen Demokratie Eine ethische Analyse Herleitung Die menschliche Fortpflanzung gehört zu jenem hochpersönlichen Bereich, der vor staatlicher Einmischung weitgehend geschützt ist. Dieser Auffassung verdankt sich die normative Relevanz, die dem Prinzip reproduktiver Autonomie in modernen liberalen Demokratien zukommt. Sie wurde insbesondere in der Auseinandersetzung mit der an einer Rassenideologie ausgerichteten Fortpflanzungspolitik des NS-Regimes erworben. Doch nicht nur totalitäre Regime laufen Gefahr, individuelle Fortpflanzungsfreiheit zu ignorieren; dies zeigt sich unter anderem daran, dass Zwangssterilisationen selbst im Kontext demokratischer Rechtsstaaten (z. B. in Schweden) noch bis in die 1970er Jahre hinein praktiziert wurden. Während dieser historische Bedeutungshintergrund reproduktiver Autonomie im Rahmen liberaler Gesellschaften grundsätzlich anerkannt ist und verschiedene Grundrechte (z. B. Recht auf freie Partnerwahl, Gründung einer Familie) motiviert hat, ist der konkrete Bedeutungsgehalt dieses Konzepts alles andere als klar umrissen. Diese Unschärfe ist sowohl gesellschaftlichen Entwicklungen als auch dem medizinisch-technischen Fortschritt geschuldet. Aktuell sind es insbesondere die Möglichkeiten der modernen Reprogenetik 1 (Kettner 2001, 35), die die Konturen reproduktiver Autonomie weiter verschwimmen lassen. Ausgehend von der Prämisse, dass sich im Konzept der reproduktiven Autonomie ein grundlegender moralischer Wert kondensiert, der Schutz verdient, ist es das Ziel dieses Artikels, die aktuellen Herausforderungen dieses Konzepts herauszuarbeiten und damit einen Beitrag zu seiner Schärfung, aber 1

Der Begriff bezeichnet das Zusammenwachsen von Humangenetik und Fortpflanzungsmedizin. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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auch Weiterentwicklung zu leisten. Zu diesem Zweck gilt es zunächst die normativen Teilaspekte reproduktiver Autonomie zu beleuchten, bevor im Anschluss daran konkrete Anwendungskontexte und aktuelle Probleme diskutiert werden können. Selbstbestimmungsrecht Eine wichtige Quelle für die moralische Bedeutung reproduktiver Freiheit stellt das in liberalen Demokratien weithin anerkannte Recht auf individuelle Selbstbestimmung dar. Dieses basiert auf dem liberalen Grundsatz, dass jeder in für ihn relevanten Lebensbereichen das Recht haben sollte, entsprechend seiner individuellen Vorstellungen vom guten Leben, ohne Einmischung des Staates oder Dritter Entscheidungen zu treffen. Dahinter steht zum einen die Erkenntnis, dass Selbstbestimmung ein zentraler Aspekt für die Ausbildung und Formung einer eigenen Identität darstellt; zum anderen gehen liberale Gesellschaften von der Annahme aus, dass Personen in den ihr Leben betreffenden Belangen am besten wissen, was für sie gut und richtig ist. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn es um für das persönliche Leben derart gewichtige Fragen wie die der Fortpflanzung geht. Die Entscheidung für oder gegen Kinder ist für Frauen und Männer gleichermaßen wichtig; es waren jedoch zumeist Frauen, die wegen ihres bedeutsameren körperlichen Einsatzes und der ihnen zugedachten Rolle für das Aufziehen von Kindern reproduktive Rechte auf Zugang zu Verhütungsmitteln und auf Schwangerschaftsabbruch erstritten haben. Dies prägt die Wahrnehmung des Rechts auf reproduktive Selbstbestimmung als ein vorwiegend Frauen betreffendes individuelles Abwehrrecht bis heute. Doch Selbstbestimmung kann gleichermaßen von einzelnen Männern, von Paaren und ggf. auch von größeren Gruppen im Rahmen von »Fortpflanzungsarrangements« eingefordert werden, sie kann sowohl auf Verhinderung wie auf Ermöglichung von Fortpflanzung abzielen (Robertson 1994). Körperliche Unversehrtheit Eine weitere normative Begründung für die moralische Relevanz reproduktiver Autonomie bietet das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Als geschütztes Rechtsgut umfasst es in liberalen Demokratien den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit des Menschen vor staatlichen Eingriffen; in moralischer Hinsicht ergänzt es das Recht, über den eigenen Körper betreffende Dinge selbst entscheiden zu können. Mit dem Verweis auf dieses Individualrecht werden vor allem der Schutz vor staatlichen Eingriffen in die Integrität des menschlichen Körpers – wie z. B. bei der Zwangssterilisation – sowie vor gravierenden Folgen unerwünschter Fortpflanzung begründet.

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Privatheit von Familie und Fortpflanzung Der besondere Wert reproduktiver Autonomie erklärt sich drittens mit Blick auf die Familie als einem weitgehend staatlicher Einmischung entzogenem Raum. Der Schutz der Privatsphäre leitet sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ab. Insofern die Verwirklichung von Fortpflanzungswünschen und die damit verbundene Gründung einer Familie als ein »elementarer Ausdruck menschlicher Persönlichkeit« gilt (Hieb 2005, 22), sind Eingriffe in diesen privaten Bereich in liberalen Demokratien ebenfalls geschützt. Damit ist zum einen die Privatheit des Individuums, zum anderen aber auch der durch Nahbeziehungen zwischen mehreren Personen begründete Schutzraum gemeint. Letzterer besitzt für das hier verhandelte Thema eine besondere Bedeutung. So betrifft Fortpflanzung mehr als nur eine Person, da sie ist sowohl auf ein zu zeugendes Kind hin ausgerichtet ist, als auch die Mitwirkung einer weiteren zeugenden Person – bzw. im Kontext moderner reprogenetischer Praktiken sogar mehrerer Personen – impliziert. Die Rechte auf Selbstbestimmung, körperliche Integrität und Schutz der Privatheit adressieren teils ausschließlich Individuen, teils Individuen und Personengruppen gleichermaßen. Im Folgenden wird ein Überblick über verschiedene Anwendungsbereiche gegeben, der deutlich macht, dass jene Schwierigkeiten, die Reichweite und den Gegenstandsbereich von reproduktiver Autonomie konkret zu bestimmen, mit dieser Ambivalenz infolge der »überindividuellen« Dimension von Fortpflanzung eng verknüpft sind. Anwendungsbereiche In der Literatur wird häufig zwischen negativer und positiver Fortpflanzungsfreiheit unterschieden. Insofern diese Begrifflichkeit nicht selten mit der rechtstheoretischen Unterscheidung zwischen Abwehr- und Anspruchsrechten assoziiert wird, führt sie im Kontext von Fortpflanzung jedoch unter Umständen zu Missverständnissen. Als Einteilung für die folgende Darstellung verschiedener reproduktiver Praktiken mit Blick auf das Konzept reproduktiver Autonomie halten wir es daher für sinnvoller, diese nach der dahinterstehenden Handlungsintention zu differenzieren. Demnach unterscheiden wir zwischen dem Wunsch, kein Kind zu haben, dem Wunsch, ein Kind zu haben und dem Wunsch, ein bestimmtes Kind zu haben. Inwieweit diese Wünsche gleichermaßen durch das Prinzip reproduktiver Autonomie gedeckt sind, wird dabei zu diskutieren sein. Der Wunsch, kein Kind zu haben Einen Meilenstein in der Durchsetzung reproduktiver Selbstbestimmung stellt die Entwicklung moderner empfängnisverhütender Methoden und deren Legalisierung dar. Auf diese Weise wurde Frauen und Männern ein wirksames Mittel zur selbstbestimmten Kontrolle über ihre Fortpflanzung in die Hand gegeben. Für Frauen ist Verhütung zudem ein Mittel zur Verwirklichung von GeschlechClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 5: Reproduktive Autonomie

tergleichheit. Dass moderne Verhütungsmethoden in liberalen Gesellschaften weithin anerkannt sind, basiert auf der Überzeugung, dass Frauen das Recht haben sollen, über ihren Körper und Ereignisse ihres Lebens, die derart einschneidend sind wie die Geburt eines Kindes, selbst zu entscheiden. Diese Begründungslogik erstreckt sich in den meisten liberalen Demokratien auch auf die wesentlich umstrittenere Praxis der Abtreibung. In Abwägung mit dem Schutz des zukünftigen Lebens und in Rücksichtnahme auf plurale Wertvorstellungen gelten für diese zwar häufig gewisse rechtliche Auflagen (in Deutschland z. B. Fristenregelung, Beratungspflicht, keine ärztliche Mitwirkungspflicht); grundsätzlich stellt die Möglichkeit, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, jedoch einen wesentlichen Aspekt weiblicher reproduktiver Selbstbestimmung dar. Dies kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass Frauen in liberalen Gesellschaften für die Vornahme einer Abtreibung weder auf die Zustimmung ihres Partners angewiesen sind, noch zu einer Abtreibung gezwungen werden dürfen. Auf diese Weise wird der besonderen physischen und psychischen Dimension, die sowohl Schwangerschaft als auch Abtreibung für Frauen haben, mithin dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, Rechnung getragen. Der Wunsch, ein Kind zu haben Während sich Entscheidungen gegen ein Kind nahezu reibungslos in die Logik individueller Selbstbestimmung einfügen, trifft dies nicht gleichermaßen auf jene reproduktiven Entscheidungen zu, die die Geburt eines Kindes zum Ziel haben. Dies liegt zum einen daran, dass mit der Zeugung eines Kindes eine Reihe von Verantwortlichkeiten entstehen, die den Bereich individueller Fortpflanzungsfreiheit übersteigen; zum anderen ist es in diesem Kontext nicht unerheblich, dass – und dies nicht nur im Falle moderner assistierter Fortpflanzungsmethoden – zwei oder mehr Personen an der Zeugung und Geburt eines Kindes beteiligt sind, womit einerseits der Gemeinsamkeit reproduktiver Entscheidungen Rechnung getragen werden muss, sowie andererseits gegebenenfalls eine Abwägung unterschiedlicher reproduktiver Interessen erforderlich wird. Die Umsetzung des Wunsches nach einem Kind umfasst eine ganze Bandbreite von Entscheidungen und Praktiken, deren ethische bzw. rechtliche Akzeptanz jedoch zum Teil umstritten ist. Am wenigsten kontrovers scheint in diesem Zusammenhang die in liberalen Demokratien rechtlich verbürgte freie Partnerwahl zu sein. Es gibt demnach keinen Zwang, sich mit einer bestimmten Person fortzupflanzen. Vielmehr gilt die Entscheidung, ob und mit wem die Zeugung eines Kindes erfolgt, als Teil der elementaren, die individuelle Persönlichkeitsentfaltung überhaupt erst ermöglichenden Privatsphäre. Mit Blick auf das aus einer Verbindung von verschiedenen Personen hervorgehende Kind ist damit auch impliziert, dass sein Aussehen bzw. seine konkreten Eigenschaften als Folge dieser freien Partnerwahl in liberalen Gesellschaften akzeptiert werden. Dies wird zurzeit auch im Falle der Fortpflanzung von Behinderten eingeklagt. Laut der UN-Behindertenrechtskonvention haben Menschen mit Behinderungen das Recht Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Beier, Wiesemann: Reproduktive Autonomie in der liberalen Demokratie 209 »auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über die Anzahl ihrer Kinder und die Geburtenabstände sowie auf Zugang zu altersgemäßer Information sowie Aufklärung über Fortpflanzung und Familienplanung«.

Dieses Recht umfasse auch, dass »ihnen die notwendigen Mittel zur Ausübung dieser Rechte zur Verfügung gestellt werden« (Art. 23b). Ferner müsse im Sinne des Rechts körperlicher Unversehrtheit gewährleistet sein, dass »Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kindern, gleichberechtigt mit anderen ihre Fruchtbarkeit behalten« (Art. 23c). Fortpflanzungsfreiheit für Minderjährige ist ein international umstrittenes Recht. Während in vielen Ländern – so auch Deutschland – Jugendlichen das Recht eingeräumt wird, über die Anwendung von Verhütungsmitteln allein zu entscheiden, wird ein Recht, sich im Fall von Schwangerschaft für oder gegen eine Abtreibung zu entscheiden, oft nicht unumwunden konzediert. In Einzelfällen wurde hier sowohl für als auch gegen das Recht der schwangeren Jugendlichen auf Selbstbestimmung entschieden (Raack 1994, 108; Hafen 1996, 465f.). Allerdings ist angesichts der Tatsache, dass Kindern und Jugendlichen mehr und mehr Anerkennung als selbständigen Rechtssubjekten gezollt wird, ein derart folgenreicher Eingriff in die Persönlichkeitsrechte selbstbestimmungsfähiger Minderjähriger mit Verweis auf das elterliche Erziehungsrecht kaum zu rechtfertigen. Einen heute kaum noch strittigen Aspekt reproduktiver Autonomie stellt hingegen die Technik der In-vitro-Fertilisation (IVF) als Methode der Infertilitätsbehandlung dar. Je nach Land unterliegt diese jedoch verschiedenen Auflagen, die den Zugang direkt oder indirekt beschränken. Zu nennen sind hier unter anderem Altersgrenzen (zumeist der Frau), die Bindung an eine eheliche oder zumindest feste Partnerschaft und unterschiedliche Regeln der Kostenerstattung (z. B. seitens der Krankenversicherung). Die Rechtfertigung von IVF mit dem Verweis auf reproduktive Autonomie erscheint solange plausibel, wie der Wunsch, ein Kind zu zeugen, von beiden Partnern geteilt wird und keine weiteren Personen, z. B. Keimzellspender, involviert sind. Problematisch wird der Rekurs auf dieses Prinzip erwiesenermaßen jedoch dann, wenn dieser gemeinsame Wunsch aus verschiedenen Gründen nicht mehr (fort)besteht. Umstrittene Szenarien betreffen die Einpflanzung von befruchteten Eizellen bei Frauen, deren Partner bereits verstorben ist, oder den Fall einer der Einpflanzung vorausgehenden Trennung des Paares, in deren Folge der männliche Partner seine Einwilligung zurückzieht. 2 Was diese Konflikte deutlich machen, ist die Tatsache, dass Fortpflanzung unweigerlich eine den individuellen Freiheitsbereich übersteigende Dimension besitzt, welcher im Umgang mit dem Wunsch nach einem Kind Rechnung getragen werden muss. Um in solchen Streitfällen zu einer 2

So geschehen im international vieldiskutierten Fall Evans vs. Amicus Healthcare Ltd. In dem Fall ging es um die Frage, ob Eizellen, die der Britin Natalie Evans vor einer Krebsbehandlung entnommen und mit dem Spermium ihres Mannes befruchtet worden waren, ihr auch noch nach der Trennung von ihrem Mann eingepflanzt werden dürfen. Evans’ Mann hatte seine Einwilligung dazu widerrufen, während Evans auf der Fortführung der begonnenen Kinderwunschbehandlung bestand. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Lösung zu gelangen, reicht der Verweis auf reproduktive Autonomie daher nicht aus, und es bedarf entsprechender zusätzlicher Kriterien. Eine weitere, aus der Perspektive reproduktiver Autonomie zu betrachtende Praxis stellt die donogene Insemination dar. Dabei handelt es sich um das direkte Einbringen von Samenzellen eines Samenspenders in die Gebärmutter der Frau, um eine Schwangerschaft zu erzielen. Diese Methode findet vor allem Anwendung im Falle männlicher Unfruchtbarkeit oder bei lesbischen Frauen, die sich auf diesem Wege ihren Kinderwunsch erfüllen wollen. Reproduktive Autonomie spielt in diesem Kontext insofern eine Rolle als es sowohl aus Sicht des Samenspenders als auch aus Sicht der Empfängerin als Teil ihrer reproduktiven Selbstbestimmung angesehen werden kann, sich für die Bereitstellung bzw. Annahme von Spendersamen zur Zeugung eines Kindes zu entschließen. Mit dem Verweis auf reproduktive Autonomie allein bleiben jedoch zugleich zentrale ethische Aspekte der Samenspende im Dunkeln. Dies betrifft insbesondere die Perspektive des Kindes, das zumindest bei einer anonymen Spende über wesentliche Aspekte seiner Herkunft und Identität im Ungewissen bleibt. Insofern es mittlerweile als erwiesen gilt, dass die Kenntnis der eigenen Wurzeln eine entscheidende Rolle in der Persönlichkeitsentwicklung spielt, muss die reproduktive Autonomie fortpflanzungswilliger Erwachsener somit sorgfältig mit den Interessen der auf diese Weise gezeugten Kinder abgewogen werden. Beleg für eine ethische und rechtliche Sensibilisierung in dieser Frage ist die Tatsache, dass viele Länder bereits eine Offenlegung der Identität des Samenspenders auf Wunsch des Kindes hin ermöglichen. Während auch die Samenspende als ein Aspekt reproduktiver Autonomie weitgehend anerkannt ist, gilt dies nicht in gleichem Maße für die Eizellspende. Tatsächlich ist letztere in vielen Ländern, z. B. in Deutschland, verboten. Während diese Ungleichbehandlung von Samen- und Eizellspende wiederholter Kritik ausgesetzt ist, werden als Gegenargumente von den Befürwortern dieser Trennung unter anderem die Vermeidung »gespaltener Mutterschaft«, die für die Spenderinnen mit erheblichen gesundheitlichen Risiken verbundene Entnahme von Eizellen nach entsprechender Stimulation und die Gefahr ihrer Ausbeutung angeführt. Letzteren beiden Argumenten liegt die Logik des liberalen Schadensprinzips zugrunde. Sollten sich diese Gefahren allerdings als beherrschbar herausstellen (z. B. wenn als Spenderinnen nur solche Frauen in Frage kommen, die sich selbst einer Kinderwunschbehandlung unterziehen), wäre aus der Perspektive reproduktiver Autonomie die Ungleichbehandlung von Samen- und Eizellspende zu überdenken. Das Argument der »gespaltenen Mutterschaft« speist sich hingegen aus bestimmten sozio-kulturellen Überzeugungen darüber, was eine Familie konstituiert. Dabei handelt es sich um einen Einwand, auf den wir an späterer Stelle noch zurückkommen werden. Insofern die Möglichkeit zur Verwirklichung von Fortpflanzungswünschen einen grundlegenden Aspekt des Persönlichkeitsrechts darstellt, räumen liberale Demokratien in zunehmendem Maße auch schwulen und lesbischen Paaren reproduktive Autonomie ein. Im angelsächsischen Raum hat sich dabei zur Vermeidung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare der Begriff der »sozialen Unfruchtbarkeit« etabliert, der eine Analogie zur weithin akzeptierClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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ten Unfruchtbarkeitsbehandlung heterosexueller Paare herstellt. Mittlerweile liegen soziologische Langzeituntersuchungen zu in sogenannten Regenbogenfamilien aufwachsenden Kindern vor (Golombok 2010; Golombok et al. 2006), die keine signifikanten Entwicklungsunterschiede zu Kindern aus heterosexuellen Familien aufzeigen. Es sind also allenfalls noch die Implikationen der jeweiligen Praktiken, auf die gleichgeschlechtliche Paare zur Erfüllung ihres Kinderwunsches angewiesen sind, die als Gegengewicht zur reproduktiven Autonomie in die Waagschale geworfen werden können. Während die Samenspende für lesbische Paare in den meisten Ländern toleriert wird 3, gilt dies nicht gleichermaßen für die Eizellspende. Erst recht umstritten ist die Praxis der Ersatzmutterschaft, auf die homosexuelle Paare notwendigerweise zurückgreifen müssen, um ein Kind zu bekommen. Bei der Ersatzmutterschaft, nach der aus verschiedenen Gründen auch heterosexuelle Paare verlangen, wird in der Regel entweder ein Embryo, der das genetische Material der Wunscheltern hat, einer »Ersatzmutter« 4 zur Austragung eingepflanzt, oder eine ihrer Eizellen wird mit dem Sperma des Mannes des Wunschelternpaares befruchtet. 5 Im ersten Fall hat die Ersatzmutter allein eine gestationale Beziehung zum Kind, während im letzteren Fall auch eine biologisch-genetische Verbindung zu ihm besteht. Während es aus einer rein liberalen Perspektive, vorausgesetzt die Beteiligten willigen ein, naheliegt, Ersatzmutterschaft mit dem Verweis auf reproduktive Selbstbestimmung zu rechtfertigen, ist die ethische Dimension dieser Praxis jedoch auch hier weitaus komplexer. Zu berücksichtigen ist nicht nur die Situation der Ersatzmutter, die in der Zeit der Schwangerschaft unweigerlich eine Bindung zu dem Kind entwickelt, sondern auch die Perspektive des Kindes, das seine Existenz einem mehrere Personen umfassenden reproduktiven Arrangement verdankt. Keiner dieser beiden Aspekte lässt sich im Konzept reproduktiver Autonomie hinreichend abbilden. Betrachtet man Ersatzmutterschaft hingegen als Teil der reproduktiven Autonomie der Wunscheltern, sind deren Verwirklichung zumindest durch die potentielle Schädigung Dritter (z. B. besteht die Gefahr der Ausbeutung von Ersatzmüttern für ihre reproduktiven Dienste) Grenzen gesetzt. Der Wunsch, ein bestimmtes Kind zu haben In diesen Bereich der Fortpflanzung fallen all jene Praktiken, die aus verschiedenen Gründen (familiär bedingte genetische Erkrankung, sozial und kulturell geprägte Vorlieben etc.) darauf zielen, ein Kind mit einer ganz bestimmten Ausstattung zu zeugen. Somit geht es in diesem Bereich nicht nur um die rein 3

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In Deutschland allerdings oft mit der Folge, dass so gezeugte Kinder bei anonymer Samenspende keine Kenntnis über die Vaterschaft erlangen können. Auf den Begriff »Leihmutterschaft« wird hier durchgängig verzichtet, da er, indem er Mutterschaft wie eine zu verleihende Sache betrachtet, mit strittigen normativen Konnotationen verbunden ist. Nicht zuletzt besteht die Möglichkeit, dass die Ersatzmutter einen gespendeten Embryo, der nicht von den Wunscheltern stammt, für diese austrägt. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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private Frage, mit wem man sich wann fortpflanzt, sondern vielmehr welches Kind entstehen soll. Praktisch ist dies derzeit allerdings allein auf dem Weg der Selektion möglich. Im Rahmen der pränatalen Diagnostik impliziert dies eine negative Auswahl in dem Sinne, dass ein Embryo unter bestimmten Bedingungen abgetrieben werden kann. Bei der Präimplantationsdiagnostik findet diese Selektion hingegen außerhalb des Mutterleibes, also vor Einpflanzung eines in vitro gezeugten Embryos, statt, indem nach Durchführung zellbiologischer bzw. molekulargenetischer Diagnostik die Wahl für einen oder mehrere bestimmte Embryonen getroffen wird. In diesem Kontext ist nicht mehr nur eine negative Selektion (Ausschluss von Embryonen mit bestimmten Krankheiten oder Krankheitsanlagen) möglich, sondern auch eine positive Selektion denkbar, d. h. die gezielte Auswahl von Embryonen mit bestimmten erwünschten Merkmalen (z. B. einem erwünschten Geschlecht, bestimmten genetischen Anlagen oder gar einer bestimmten Behinderung, von der die Eltern selbst betroffen sind 6) und damit die »Abwahl« anderer Embryonen, die diesen Vorstellungen nicht entsprechen. Das heißt, mittels Präimplantationsdiagnostik werden bestimmte Wahlentscheidungen mit Blick auf das entstehende Kind getroffen, die über einen durch die freie Wahl des Fortpflanzungspartners ermöglichten Einfluss auf phäno- und genotypische Eigenschaften hinausgehen. Die negative Selektion, d. h. Abtreibung wird als rechtfertigbar betrachtet bei gravierenden Auswirkungen auf die psychische und körperliche Integrität der Schwangeren. Fraglich wird die Relevanz des Prinzips reproduktiver Autonomie jedoch, wenn es z. B. lediglich um die Selektion des Geschlechts (bei Nicht-Vorliegen einer familiär bedingten genetischen Erkrankung) geht. Ähnliche Zweifel ergeben sich auch mit Blick auf die positive Merkmalsselektion qua Präimplantationsdiagnostik, z. B. wenn es in Zukunft möglich sein sollte, auch solche Eigenschaften wie Intelligenz, attraktives Aussehen oder bestimmte Begabungen an Embryonen vor ihrer Einpflanzung zu testen, oder aber wenn, wie bereits geschehen, Eltern mit einer bestimmten Behinderung (z. B. Gehörlosigkeit) gezielt einen Embryo auswählen, der die Anlage für genau diese Behinderung trägt. Diese Wahlentscheidungen betreffen dabei nicht nur die zukünftigen Lebensoptionen des Kindes, sondern haben zugleich auch – in Hinsicht auf moralische Prinzipien wie Gleichheit oder Gerechtigkeit – eine gesellschaftliche Dimension, die die Reichweite individueller reproduktiver Autonomie zu beschränken in der Lage ist. Ähnliche Problemstellungen ergeben sich mit Blick auf die bislang noch utopischen Praktiken der genetischen Optimierung (des sogenannten Enhancements) und des reproduktiven Klonens. Ersteres bezieht sich auf die Erwartung, dass es eines Tages technisch möglich sein wird, bestimmte Anlagen bereits vorgeburtlich gezielt zu verbessern, letzteres meint die ebenfalls noch fiktive Möglichkeit, jemanden zu zeugen, dessen Erbgut identisch istmit dem einer bereits

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So gefordert von Eltern mit anlagebedingtem Kleinwuchs, die in größeren Gemeinschaften von kleinwüchsigen Menschen leben und ihrem Kind ein normales Aufwachsen in diesen Gemeinschaften ermöglichen wollen. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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lebenden Person. Ob diese Praktiken, sofern sie denn möglich würden, vom Prinzip reproduktiver Autonomie in liberalen Gesellschaften gedeckt wären, erscheint zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch fraglich. Verfechter dieser reprogenetischen Techniken argumentieren indessen nicht nur mit der reproduktiven Autonomie, sondern gehen sogar so weit, ein Konzept der procreative beneficence (Savulescu 2001) als positive Spielart des liberalen Nicht-Schadensprinzip im Fortpflanzungsbereich zu konstatieren. Auf der anderen Seite gilt es allerdings die ethischen Konsequenzen für die als Ergebnis dieser Fortpflanzungspraktiken gezeugten Kinder mitzubedenken, insbesondere die Auswirkungen einerseits auf die Identität des zu zeugenden Kindes und andererseits auf die Veränderungen im Eltern-Kind-Verhältnis, die mit dem Hinweis auf reproduktive Autonomie allein nicht erfasst werden können. Gründe für die Verweigerung oder Beschränkung reproduktiver Autonomie Wie der vorangegangene Überblick zeigt, wird das Prinzip reproduktiver Autonomie nicht für alle Anwendungsbereiche gleichermaßen anerkannt. In Abgrenzung zu John Robertsons bekanntem Plädoyer, dass »procreative liberty be given presumptive priority in all conflicts, with the burden on opponents of any particular technique to show that harmful effects from its use justify limiting procreative choice« (Robertson 1994, 16)

scheint daher eine differenziertere Betrachtungsweise angebracht. Konkrete Beschränkungen, die sich praktisch in verschiedenen Regelungen und Gesetzen niederschlagen, betreffen insbesondere Verfahren zur Verwirklichung des Wunsches nach einem Kind. Auch für den Wunsch nach einem bestimmten Kind hält die bisherige Debatte zumindest theoretische Argumente zur Einschränkung oder gar Verweigerung reproduktiver Autonomie mit Blick auf bestimmte reprogenetische Verfahren bereit. Im Folgenden wollen wir die fünf wesentlichsten Beschränkungsgründe reproduktiver Autonomie näher betrachten. Ein eher traditionelles, im Zuge der zunehmenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Formen des Zusammenlebens jedoch immer stärker hinterfragtes Kriterium stellt der Schutz der Ehe dar. Dahinter steht eine auch in vielen rechtlichen Regelungen zum Vorschein kommende Privilegierung der Partnerschaft von Mann und Frau als einer prinzipiell auf Dauer gestellten Form des Zusammenlebens, die auch als bevorzugte Fortpflanzungseinheit betrachtet wird. Wenngleich uneheliche Fortpflanzung in der Gegenwart kaum noch gesellschaftlichen Anstoß erregt, ist der Zugang zu assistierten Reproduktionsverfahren in vielen Ländern noch an den Status der Ehe bzw. an eine zumindest stabile und zudem heterosexuelle Partnerschaft gebunden. Dieser Umstand ist eng verknüpft mit einem zweiten Beschränkungsgrund, nämlich der Privilegierung von bestimmten Elternschaftskonzepten. Auch hier besteht zum Teil eine Differenz zwischen den in der Praxis gelebten, vielfältigen Familienformen (Alleinerziehende, Patchwork-Familien, Adoptivfamilien, Stiefelternschaft) und den im Kontext der modernen Reproduktionsmedizin begünstigten Familienkonstellationen. Während die Samenspende in Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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den meisten liberalen Demokratien zulässig ist und damit eine »Spaltung« 7 in biologische und soziale Vaterschaft akzeptiert wird, gilt dies, wie bereits erwähnt, nicht gleichermaßen für die »gespaltene Mutterschaft«. In normativer Hinsicht galt bisher die Frau, die das Kind austrägt und gebiert, als Mutter; und das unabhängig davon, ob sie genetisch mit dem Kind verbunden ist oder nicht. Ein weiteres in der Debatte häufig benutztes Argument zur Begrenzung reproduktiver Autonomie stellt die Sorge vor einer Kommodifizierung von Fortpflanzung dar. Dieses Argument ist vor allem in der Debatte um Eizellspende und Ersatzmutterschaft virulent. Mit Blick auf die Eizellspende wird befürchtet, dass das mit erheblichem medizinischen Aufwand verbundene und Risiken bergende Verfahren der hormonellen Stimulation und anschließenden operativen Entnahme von Eizellen zu einer Ausbeutung insbesondere ökonomisch schlecht gestellter Frauen führen könnte, die sich für eine Eizellspende aus Gründen der Armut zur Verfügung stellen und damit in ihrer autonomen Entscheidung durch äußeren Zwang eingeschränkt sein können. Tatsächlich gibt es in einigen Ländern, z. B. Spanien, bereits Ansätze zu einem kommerziellen Umgang mit Eizellen, wobei insbesondere die Höhe des gezahlten Preises eine sensible Frage darstellt. Bei einer eher niedrig angesetzten Summe besteht die Gefahr der Ausbeutung aufgrund einer unangemessenen Entlohnung des damit verbundenen körperlichen Aufwandes; bei einem sehr hohen Entgelt liegt andererseits der Vorwurf eines moralisch fragwürdigen Anreizes nicht fern. Ein weiteres, wenn nicht sogar das zentrale Argument, das gegen die reproduktive Autonomie Erwachsener in die Waagschale geworfen werden muss, stellt das Interesse des Kindes dar. Dieses Interesse wird einerseits allgemein als Aspekt seiner Menschenwürde gefasst, zum anderen wird konkret mit der Individualität bzw. Identität von Kindern in bestimmten Fortpflanzungskontexten argumentiert. In der um genetische vorgeburtliche Manipulationen geführten Debatte schlägt sich dies zum Beispiel in der Forderung nach einem Recht auf eine »offene Zukunft« 8 (Feinberg 1980), für das Kind nieder. Auch zur Beschränkung der Fortpflanzung gleichgeschlechtlicher Paare, der Ersatzmutterschaft oder der Präimplantationsdiagnostik wird nicht selten auf das Wohlergehen des zukünftigen Kindes verwiesen. Dahinter verbirgt sich sowohl ein normatives Problem (Was ist Wohlergehen?) als auch ein empirisches Problem (Wird das Wohlergehen tatsächlich gefährdet?). Während zu letzterem mittlerweile einige soziologische Untersuchungen vorliegen, die Anlass zur Entspannung geben, ist die Debatte um ersteres voll entbrannt. Hierhin gehört auch die Auseinandersetzung darüber, welche Formen und Variationen von Elternschaft im Interesse des Kindes sind (Wiesemann 2011).

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Der in der Debatte üblicherweise verwendete Begriff der »Spaltung« unterstellt ein gewaltförmiges Ereignis, bei dem ein Ganzes unwiederbringlich zerteilt wird. Ein aus unserer Sicht besser geeigneter Begriff mit weniger normativen Vorannahmen wäre »Teilung«. Feinbergs Argument, eigentlich auf die Situation schon geborener Kinder gemünzt, wird hier auf das noch nicht geborene Kind bzw. noch nicht einmal gezeugte Kind übertragen, was allerdings einige philosophische Probleme hervorruft. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Ein letztes, primär theoretisches Argument, das in der Debatte nicht selten gegen die unbeschränkte Ausübung individueller Fortpflanzungsfreiheit in Anschlag gebracht wird, ist der Verweis auf eine sogenannte »Gattungsethik«. Dahinter steht zum einen die Annahme, dass mit der Vornahme vorgeburtlicher genetischer Manipulationen ein irreversibles »Urteil« gefällt würde, zu dem sich die betreffende Person in ihrem späteren Leben nicht in einer kritisch-distanzierenden Weise verhalten könne. Zum anderen argumentiert Jürgen Habermas als prominentester Vertreter dieses Argumentes, dass derartige genetischen Eingriffe »unser Selbstverständnis als Gattungswesen so verändern, dass mit dem Angriff auf moderne Rechts- und Moralvorstellungen zugleich nicht hintergehbare normative Grundlagen der gesellschaftlichen Integration getroffen würden« (Habermas 2001, 51).

Inwieweit der Hinweis auf gattungsethische Grundlagen ein berechtigtes Argument zur Beschränkung des Wunsches nach einem bestimmten Kind gelten können, ist nach wie vor umstritten (Beier, Wiesemann 2010). Insbesondere laufen gattungsethische Argumente Gefahr, die in pluralistischen Gesellschaften verbrieften individuellen Freiheiten mit Blick auf reprogenetische Techniken systematisch auszuhebeln (Gutmann 2005, 259). Im Folgenden sollen die praktischen Konsequenzen, die eine weitreichende Reproduktionsfreiheit z. B. für das Verständnis von Elternschaft und Familie bzw. für das Zusammenleben in liberalen Gesellschaften hat, im Mittelpunkt stehen.

Folgen von Reproduktionsfreiheit Für Elternschafts- und Familienkonzeptionen Als offensichtlichste Folge der neuen fortpflanzungsmedizinischen Verfahren lässt sich eine Ausdifferenzierung möglicher Eltern- und Familienkonzeptionen beobachten (Macklin 1991; Kettner 2001). Möglich, wenn auch nicht überall bzw. für alle Personengruppen gleichermaßen erlaubt, ist zum Beispiel die Trennung zwischen biologischer und sozialer Elternschaft und damit eine aus der Perspektive des Kindes resultierende Verdopplung bestimmter Elternrollen. Ferner wird es durch Samen- und Eizellspende oder auch Ersatzmutterschaft denkbar, dass mehr als nur zwei Personen an einem Fortpflanzungsarrangement beteiligt sind. Dies wirft zum einen Fragen nach der rechtlichen Anerkennung von Elternschaft auf; aus ethischer Perspektive steht hier vor allem zu fragen, auf welchen Aspekten legitime Elternschaft begründet werden kann bzw. ob und welche Funktionen von Elternschaft mehr als zwei Personen zugestanden werden können. Elternschaft kann einerseits kausal mit Bezug auf die Art und Weise der Verursachung – z. B. intentional oder biologisch-genetisch – hergeleitet werden; sie kann aber auch im Hinblick auf ihre Funktion begründet werden, wobei dann jene Beziehungen privilegiert würden, die auf Dauer, Stabilität und Verantwortungsübernahme hin angelegt sind. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Eine Vielzahl alternativer oder assistierter Reproduktionsverfahren dient dazu, eine biologische Verbindung zu den die Elternrolle übernehmenden Personen herzustellen, während gesellschaftlich zugleich eine Aufwertung sozialer Aspekte als Basis von Elternschaft zu beobachten ist. Mit Blick auf das Verständnis der Familie offenbart die moderne Fortpflanzungsmedizin damit, laut Matthias Kettner, einen gleichsam dialektischen Charakter: »In der assistierten Fortpflanzung und vorgeburtlichen Gesundheitserhaltung bestätigt die Reprogenetik zunächst positiv die europäisch-moderne Ausprägung der Kernfamilie. Im Fortgang ihres Fortschritts ermöglicht die Reprogenetik dann eine immer stärkere Individualisierung des Kinderwunsches. Die Individualisierung des Kinderwunsches aber kehrt sich tendenziell gegen die gängige Ausprägung der Kernfamilie.« (Kettner 2001, 42)

Für liberale Gesellschaften Die gesellschaftlichen Konsequenzen einer weitgehend individuellen Präferenzen überlassenen Nutzung moderner fortpflanzungsmedizinischer Methoden lassen sich derzeit eher mittels Spekulation als auf Basis gesicherter Erkenntnisse ermessen. Dies gilt vor allem für jene Praktiken, deren praktische Verwirklichung noch keine reale Option darstellt. Im Falle einer rechtlichen Freigabe der Ersatzmutterschaft stünden liberale Gesellschaften jedoch vor der Herausforderung, neue Konzepte zur Erfassung der daraus entstehenden sozialen Beziehungsgefüge zu entwickeln 9 und diese auch in entsprechende rechtliche Begriffe zu fassen. Eine weitere Folge betrifft das Selbstverständnis liberaler Gesellschaften. Abgesehen von dem bereits erwähnten Argument der Gattungsethik stellt sich zum Beispiel die Frage, inwieweit eine unbeschränkte Nutzung der Präimplantationsdiagnostik zu einer umfassenden Selektion von Nachwuchs nach den spezifischen Präferenzen der an der Fortpflanzung beteiligten Erwachsenen führen und damit die bislang nicht an bestimmte Bedingungen geknüpfte Übernahme der Elternrolle auf Vorbehalt stellen würde. Eine andere, zumindest nicht ohne weiteres auszuschließende Konsequenz einer vollständigen Liberalisierung der Fortpflanzungsmedizin bestünde in der Kommerzialisierung bestimmter Praktiken. Während Kommerzialisierung nicht per se etwas Negatives ist, bestehen indessen aufgrund der hohen Intimität von Fortpflanzung, der damit entstehenden langfristigen Beziehungen, aber auch im Hinblick auf die Tatsache, dass Fortpflanzung niemals nur eine Person betrifft, sondern weitreichende Folgen für das Leben der daran Beteiligten sowie der Kinder hat, gewisse Bedenken, kommerziellen Motiven in diesem Bereich Raum zu geben. Die Privatheit solcher Arrangements wäre jedenfalls spätestens dann aufgehoben, wenn dabei vertragsartige, ggf. sogar gewerbliche Verhältnisse entstehen. Einwände werden allerdings nicht nur gegen eine radikal liberale Auslegung reproduktiver Autonomie, sondern – wie im Folgenden gezeigt werden soll – auch gegen das Konzept an sich erhoben. 9

Für ein auf dem moralischen Konzept des Vertrauens basierendes Verständnis von Ersatzmutterschaft vgl. Beier (2013). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Konzeptuelle Probleme Probleme normativer Begrifflichkeit Kritik am Konzept der reproduktiven Autonomie entzündet sich erstens an der Verwischung des normativ bedeutsamen Unterschieds zwischen dem Wunsch, kein Kind zu haben, und dem Wunsch, ein Kind zu haben. Während im Zuge der sexuellen Befreiung der selbstbestimmte Zugang zu Verhütungsmitteln und das Recht auf Abtreibung erstritten und damit reproduktive Autonomie in erster Linie im Sinne eines liberalen Abwehrrechts (reproductive freedom) propagiert wurde, wird dieses Abwehrrecht im Kontext moderner Fortpflanzungstechniken allzu leichtfertig in ein Anspruchsrecht übersetzt, das es nicht nur erlaubt, sich frei für oder gegen Kinder zu entscheiden, sondern in unterschiedlichen Maße auch als Recht ausgelegt wird, über die Art und Weise ihrer Entstehung und zukünftigen genetischen Ausstattung zu verfügen (procreative autonomy/procreative choice) (Robertson 1994; Harris 1998; vgl. kritisch dazu O’Neill 2002; Murray 2002). Mit dem Begriff der prokreativen (Wahl-)Freiheit wird dabei ein wesentlich größerer Geltungsbereich für individuelle Wahlfreiheit in Fortpflanzungsfragen reklamiert, der sich unter Umständen sogar auf die Anwendung von Praktiken zur Zeugung bestimmter Kinder erstreckt. Die Identifikation von reproduktiver Autonomie mit individueller Wahlfreiheit und Kontrolle über das eigene Leben wirft jedoch mit Blick auf das besondere Wesen von Fortpflanzung als eine die individuelle Perspektive überschreitende Praxis grundsätzliche Probleme auf. Probleme individualethischer Ansätze Eine rein individualethische Betrachtung reproduktiver Autonomie erscheint vor allem fragwürdig mit Blick auf die Perspektive der Eltern bzw. der Familie als Ganzes. Grundsätzlich begründen Familien besondere Sphären von Gemeinschaft, »die den Prinzipien des Zusammenlebens freier, unabhängiger, rationaler und gleicher Individuen nicht entsprechen« (Wiesemann 2007, 76). In der Praxis der Fortpflanzung wird diese Besonderheit sinnfällig, insofern damit intime menschliche Beziehungen, die prinzipiell auf langfristige Bindungen und Verantwortung für Abhängige angelegt sind, entstehen. Die Übernahme der Elternrolle fügt sich demnach nicht der Logik einer lediglich auf Individualinteressen bezogenen Entscheidung, sondern ist vielmehr eine Rolle, die nur aus einer Beziehungsperspektive angemessen erfasst werden kann. Aus diesem Blickwinkel fallen einerseits die an den familiären Beziehungen orientierten Interessen des Partners bzw. der an einem konkreten Fortpflanzungsarrangement beteiligten Personen, der bereits vorhandenen Kinder und des zukünftigen Erdenbürgers, andererseits aber auch die kollektiven Bedürfnisse der Familie per se als einem gemeinsamen Interessen gewidmeten Netzwerk von Personen ins Gewicht. Eine Ethik der Elternschaft bzw. der Familie erscheint somit als notwendige Ergänzung zu einer rein individualethischen Betrachtungsweise der modernen Fortpflanzungsmedizin (Wiesemann 2006). Damit wird Letztere zwar nicht obsolet, Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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allerdings bedarf es je nach der infrage stehenden Praxis einer Abwägung, welcher Perspektive der Vorrang zu geben ist. Differenzen der Perspektive von Frau und Mann? Ein auch in politischer Hinsicht brisantes Problem, das im Zusammenhang mit reproduktiver Autonomie diskutiert wird, betrifft den Umgang mit spezifischen Differenzen zwischen weiblicher und männlicher Fortpflanzungsperspektive. Während liberale Demokratien einerseits danach streben, Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen Männern gleichzustellen, stößt dieses Bemühen bei der Fortpflanzung offensichtlich an gewisse biologisch gesetzte Grenzen, die auch für die Technik bislang noch unüberwindbar scheinen. Hält man nichtsdestotrotz daran fest, dass reproduktive Autonomie für Männer und Frauen ohne Unterschied gilt, bleibt der Verweis auf reproduktive Autonomie im Konfliktfall, wenn also die Zeugungspartner im Hinblick auf das zu zeugende Kind Unterschiedliches beabsichtigen, aussagelos (Priaulx 2008). Tatsächlich erscheint es angemessener, einzuräumen, dass die Praxis der Fortpflanzung Männer und Frauen in unterschiedlichem Maße betrifft. Das gilt bereits für den Fall nicht technisch-assistierter Schwangerschaft und Geburt, jedoch erst recht bei donogener Insemination oder Ersatzmutterschaft. Der ethisch relevante Unterschied betrifft dabei sowohl die besondere körperliche als auch psychische Dimension des Anteils der Frau am Fortpflanzungsgeschehen. Ein Konflikt zwischen männlichen und weiblichen reproduktiven Interessen macht es demnach erforderlich, diese Unterschiede im Rahmen einer gender-sensitiven Betrachtung von Fortpflanzungspraktiken zu berücksichtigen, indem der besonderen weiblichen »Investition in die reproduktive Arbeit« Rechnung getragen wird (Donchin 2009; Sheldon 2004). Rhetorische oder polemische Kritik reproduktiver Autonomie Probleme ergeben sich schließlich auch im Zusammenhang mit spezifischen Ausdeutungen reproduktiver Autonomie. So finden sich unter anderem Lesarten, die das Konzept reproduktiver Autonomie mit einem »Recht auf ein Kind« bzw. einem Anspruch auf ein »gesundes Kind« gleichsetzen. Es ist jedoch ohne weiteres ersichtlich, dass ein Recht zu freier Fortpflanzung keinen Anspruch auf die praktische Realisierung dieses Wunsches begründen kann. Das hat zum einen den pragmatischen Grund, dass es trotz moderner Fortpflanzungsmedizin nach wie vor keine Garantie für die Geburt eines Kindes gibt. Zum anderen blendet die Rede von einem Recht auf Kinder die Tatsache aus, dass es bei Fortpflanzung grundsätzlich um Beziehungen zwischen Fortpflanzungspartnern und den daraus entstehenden Kindern geht und damit eine komplexere moralische Dimension umfasst, die aus dieser Perspektive jedoch vollständig übergangen wird. Geradezu polemische Züge trägt schließlich eine Gleichsetzung reproduktiver Autonomie mit dem Recht auf ein gesundes Kind. Nicht nur, dass auch hier der Realisierung eines solchen Anspruchs technische Grenzen gesetzt sind und allenfalls die Verhinderung der Geburt eines kranken Kindes denkbar ist; Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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entscheidender ist der Subtext dieser Forderung, durch den der Wunsch nach einem Kind aufseiten der Erwachsenen an bestimmte, womöglich sogar einklagbare Bedingungen geknüpft wird. Wie Kettner betont, handelte es sich dabei um die Befriedigung eines »adultozentrischen Wunsches«, zu dem der Hinweis auf das Kindeswohl instrumentalisierend benutzt wird (Kettner 2001, 39). Allerdings wird das Argument eines »Rechts auf ein gesundes Kind« zumeist den Befürwortern weitergehender Reproduktionsfreiheiten rein rhetorisch und in polemischer Absicht unterstellt, um auf diese Weise ihre Argumente pauschal zu entwerten. Ein weiteres, vorwiegend rhetorisches Argument zielt auf die vermeintliche Natürlichkeit biologischer Prozesse. So wurde schon die Einführung der Invitro-Fertilisation mit dem Argument kritisiert, sie verletze »die fundamentale Gleichheit der Menschen, die darin ihren Ausdruck findet, dass jeder Mensch – ebenso wie seine Eltern – sich der Natur verdankt. Die Zeugung ist die natürliche Folge eines Aktes, den wir als Eltern nicht erfunden haben.« (Spaemann 1987, 93)

Manche, bisher noch utopische Techniken wie der künstliche Uterus mögen tatsächlich die letztlich in vieler Hinsicht immer noch spontanen Vorgänge der Fortpflanzung in den Bereich technischer, gar industrieller Produktion rücken und damit Intuitionen von Natürlichkeit fundamental widersprechen; die Wertigkeit dieses Arguments bleibt jedoch stets ambivalent, sehen wir uns doch gerade aus ethischen Gründen genötigt, den Abläufen der Natur dort entgegenzutreten, wo sie den Menschen in seiner freien Entfaltung behindern und schaden (Birnbacher 2006). Schluss Der Überblick über die verschiedenen Anwendungsbereiche reproduktiver Autonomie, aber auch die Diskussion der mit diesem Konzept verknüpften Probleme machen einmal mehr deutlich, dass sowohl der Bedeutungsgehalt als auch der Geltungsbereich reproduktiver Autonomie umstritten sind. Zurückzuführen ist diese Unschärfe vor allem auf die Tatsache, dass mit dem Begriff der reproduktiven Autonomie kategorial verschiedene Phänomene – das Ziel der Vermeidung von Nachwuchs auf der einen mit dem Wunsch, sich fortzupflanzen auf der anderen Seite – in einen Zusammenhang gebracht werden. Aufgrund der beschriebenen konzeptuellen Probleme plädieren einige Autoren indessen dafür, auf den Begriff der reproduktiven Autonomie gänzlich zu verzichten (Düwell 2008, 145) oder auf alternative Konzepte wie das der Fürsorge auszuweichen (Kuhlmann 1998, 931). Es besteht jedoch die Gefahr, dass auf diese Weise wichtige Teilaspekte reproduktiver Autonomie aus dem Blickfeld geraten. Dazu zählt z. B. der Schutz der freien Entscheidung über Belange des eigenen Körpers. Es erscheint uns daher aussichtsreicher, den normativen Aussagewert dieses Konzepts durch eine nach Anwendungsbereichen und Intentionen differenzierte Betrachtung zu schärfen. Abhängig davon, ob nur eine einzelne Person betroffen ist, wie bei der Empfängnisverhütung, oder mehrere, wie bei der In-vitro-Fertilisation, muss reproduktive Autonomie ggf. gegen andere moralische PrinziClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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pien abgewogen werden. Werte, die sich aus der besonderen Beziehungsstruktur menschlicher Fortpflanzung ergeben, können den Geltungsbereich dieses Prinzips einschränken. In vielen Fällen bleibt das Recht auf individuelle Entscheidungsfreiheit bedeutsam, doch kann diese Freiheit ausschließlich im Kollektiv sinnvoll beansprucht werden. Die Idee reproduktiver Autonomie gilt dann für Gruppen von Individuen, z. B. die potentiellen Eltern, die gemeinsam als Träger liberaler Rechte adressiert werden. Zu einer differenzierten Verwendung reproduktiver Autonomie gehört es aus unserer Sicht auch, den Geltungsbereich des Konzepts nicht über Gebühr auszuweiten. Dies gilt zum Beispiel für ein Verständnis von reproduktiver Autonomie als freier Wahl des »Endprodukts«, eine Bedeutung, die im Begriff »reproductive choice« anklingt. Kritisch ist auch die Einführung eines Konzepts »postnataler reproduktiver Autonomie« (Goering 2009) zu bewerten, das sich auf die Selbstbestimmung von Eltern nach der Geburt eines Kindes bezieht. Da sich Selbstbestimmung in der Fortpflanzung auf Vorstellungen von leiblicher Integrität bzw. leiblicher Verbundenheit stützt, sollte die normative Reichweite des Konzepts auf den Bereich vorgeburtlicher Entscheidungen beschränkt werden. Als zentrale Herausforderung für das Konzept reproduktiver Autonomie bleibt somit die Frage bestehen, wie die Interessen des noch nicht geborenen Kindes, verschiedener Fortpflanzungspartner sowie der Familie als Ganze in angemessener Weise Berücksichtigung finden können. Der Umstand, dass sich allein der Wunsch nach Vermeidung eines Kindes als strikt individualethische Frage behandeln lässt, legt es nahe, über ein Konzept kollektiver reproduktiver Autonomie nachzudenken, in dem die komplexen menschlichen Beziehungen, die sich aus der Verwirklichung eines Kinderwunsches ergeben, womöglich besser zur Geltung kommen. Die ethischen Konsequenzen eines solchen Perspektivenwechsels zu untersuchen wäre dann eine wichtige Aufgabe zukünftiger Forschung. Literatur Bayne T, Kolers A (2006) Parenthood and Procreation. In: Stanford Ecyclopedia of Philosophy. http: // plato.stanford.edu / entries / parenthood / (Zugegriffen 24. Juni 2009) Beier K (2013) Surrogacy – a trust-based approach. In: The Journal of Medicine and Philosophy (im Erscheinen) Beier K, Wiesemann C (2010) Zur Dialektik der Elternschaft im Zeitalter der Reprogenetik. Ein ethischer Dialog. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 8(6): 855– 871 Birnbacher D (2006) Natürlichkeit. De Gruyter, Berlin Donchin A (2009) Toward a Gender-Sensitive Assisted Reproduction Policy. In: Bioethics 23(1): 28–38 Düwell M (2008) Bioethik: Methoden, Theorien, Bereiche. Metzler, Stuttgart Feinberg J (1980) The child’s right to an open future. In: Aiken W, La Follette H (Hrsg) Whose Child? Littlefield and Adams, Totowa, NJ Goering S (2009) Postnatal Reproductive Autonomy: Promoting Relational Autonomy and Self-Trust in New Parents. In: Bioethics 23(1): 9–19 Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Beier, Wiesemann: Reproduktive Autonomie in der liberalen Demokratie 221 Golombok S, Badger S (2010) Children raised in fatherless families from infancy: A follow-up of children of lesbian and single heterosexual mothers in early adulthood. In: Human Reproduction 25(1): 150–157 Golombok S, Murray C, Jadva V, Lycett E, MacCallum F, Rust J (2006) Non-genetic and non-gestational parenthood: Consequences for parent-child relationships and the psychological well-being of mothers, fathers and children at age 3. In: Human Reproduction 21(7): 1918–1924 Gutmann T (2005) »Gattungsethik« als Grenze der Verfügung des Menschen über sich selbst? Leviathan. In: Leviathan: Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Sonderheft 23: 235–264 Habermas J (2001) Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik. Suhrkamp, Frankfurt/M Hafen BC, Hafen JO (1996) Abandoning Children to Their Autonomy: The United Nations Convention on the Rights of the Child. In: Harvard International Law Journal 37: 449–491 Harris J (1998) The Future of Human Reproduction. Ethics, Choice and Regulation. Oxford University Press, Oxford Hieb A (2005) Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts. Logos, Berlin Murray T (2002) What are Families for? Getting to an Ethics of Reproductive Technology. In: Hastings Center Report 32(3): 41–45 O’Neill O (2002) Autonomy and Trust in Bioethics. Cambridge University Press, Cambridge Kettner M (2001) Neue Formen gespaltener Elternschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B27: 34–43 Kuhlmann A (1998) Reproduktive Autonomie? Zur Denaturierung der menschlichen Fortpflanzung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46(6): 917–933 Macklin R (1991) Artificial Means of Reproduction and Our Understanding of the Family. In: Hastings Center Report 21(1): 5–11 Priaulx N (2008) Rethinking Progenetive Conflict: Why Reproductive Autonomy Matters. In: Medical Law Review 16: 169–200 Raack W (1994) Können Abtreibungen durch das geltende oder ein geändertes Adoptionsrecht verhindert werden? Erfahrungen eines Vormundschaftsrichters. In: Bechinger W, Wacker B (Hrsg.) Adoption und Schwangerschaftskonflikt: wider die einfachen Lösungen, Schulz-Kirchner, Idstein Robertson J (1994) Children of Choice. Freedom and the New Reproductive Technologies. Princeton University Press, Princeton, New Jersey Savulescu J (2001) Procreative Beneficence: Why we should select the best children. In: Bioethics 15(5/6): 413–426 Sheldon S (2004) Gender Equality and Reproductive Decision-Making. In: Feminist Legal Studies 12: 303–316 Spaemann R (1987) »Kommentar«. In: Ratzinger JC, Bovone A (Hrsg.) Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. Zu ethischen Fragen der Biomedizin. Herder, Freiburg Wiesemann C (2006) Von der Verantwortung, ein Kind zu bekommen. Eine Ethik der Elternschaft. C. H. Beck, München Wiesemann C (2007) Grenzfälle der Bioethik oder: Was haben Jürgen Habermas und Shulamith Firestone gemeinsam? In: Annual Review of Law and Ethics 15: 67–80 Wiesemann C (2011) Eltern und Kinder. In: Stoecker R, Neuhäuser C, Raters ML (Hrsg.) Handbuch Angewandte Ethik, J. B. Metzler, Stuttgart, 242–247

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Dagmar Coester-Waltjen

Reproduktive Autonomie aus rechtlicher Sicht Die Fragestellungen Die Trennung von Recht, Moral und Ethik Über das Verhältnis von Ethik, Moral und Recht ist viel geschrieben worden (grundlegend Dreier 1981, 180f.; Schreiber 1982, 633f.), worauf hier nicht näher einzugehen ist. Zur Klarstellung soll nur kurz hervorgehoben werden, dass die Aufgabe des Rechts in der Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens gesehen wird, in der individuelle Freiheitsräume des Einzelnen zu sichern sind (vgl. dazu u. a. K. Seelmann 2010, S. 66ff. § 3 Rn. 11ff.). Es ist daher notwendig, dass die zu treffenden Wertentscheidungen in sich konsistent sind und nicht mehr als das für die Interaktion von Menschen notwendige ethische Minimum von den Rechtsgenossen verlangen. Insofern kann das Recht stets nur die Minimalstandards der Sozialethik verkörpern. Die Beachtung darüberhinausgehender Werte der Ethik oder Moral sind dem Einzelnen überlassen (Behrends 1994, 1–4). Hierüber entscheidet er autonom, wobei sich diese Entscheidungen einer Rationalitätsprüfung entziehen. 1 Die verschiedenen Ebenen der Reproduktionsentscheidungen Die Entscheidung eines Menschen, ob er sich fortpflanzen will oder nicht, betrifft traditionell und auch heute noch zahlenmäßig überwiegend die natürliche Fortpflanzung. Dabei geht es um die Frage der Entscheidungsfreiheit und der Grenzen des Einzelnen ebenso wie um die des anderen für die Entstehung menschlichen Lebens notwendigen Partners. Die Antworten hierauf sind Ausgangspunkt, möglicherweise sogar Leitlinie für die rechtliche Beurteilung der reproduktiven Autonomie bei medizinisch-assistierter Zeugung. Auf diesen Grundlagen gewinnt die Diskussion um Freiheit und Grenzen gentechnischer Eingriffe im Rahmen von Fortpflanzungsentscheidungen eine weitere Dimension. Die verschiedenen Ebenen der rechtlichen Rahmenbedingungen Angesichts der Wichtigkeit und Bedeutung der bei Fortpflanzungsentscheidungen berührten Rechtsgüter wird der rechtliche Rahmen in erster Linie durch die verfassungsmäßigen Vorgaben gesteckt, an denen sich der Gesetzgeber des einfachen Rechts (Privatrecht, Strafrecht, Medizinrecht etc.) zu orientieren hat. Zwischen diese beiden Regelungsebenen schieben sich völkerrechtliche Verträge und internationale Vorgaben, auf deren Stellung im Einzelnen an dieser Stelle nicht 1

Zu den verschiedenen philosophischen Autonomiekonzepten im medizinischen Bereich: Beauchamp, Childress (2009, 57 ff.); Birnbacher (1997, 105 ff.). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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einzugehen ist. Die für den hier angesprochenen Bereich relevante europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die die Konventionsstaaten zur Achtung des Privat- und Familienlebens verpflichtet (Art. 8), hat in Deutschland (anders als in anderen Vertragsstaaten wie bspw. Österreich) auf Grund des Transformationsgesetzes nach herrschender Meinung grundsätzlich nur den Rang »einfachen« Rechts. 2 Darüber hinausgehende mittelbare Bedeutung hat sie gleichwohl für die Auslegung sowohl des (weiteren) einfachen Rechts als auch für das Verständnis der verfassungsrechtlichen Freiheits- und Menschenrechte des Grundgesetzes (völkerrechtskonforme Interpretation). 3 Bedeutsam ist sie des Weiteren dadurch, dass die Europäische Union der Konvention nach Art. 6 Abs. 3 EUV beigetreten ist und daher die Menschenrechte und Grundfreiheiten der EMRK als Grundsätze des Unionsrechts anzusehen sind. Die Auslegung der Europäischen Grundrechtecharta (EuGRCh) wird vor diesem Hintergrund zu sehen sein (Jarass 2012, 1181), die in ihrem Art. 7 die Union zur Achtung des Familienlebens, in Art. 9 zur Achtung des Rechts, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, verpflichtet. Hinzutritt für den hier interessierenden Bereich das Verbot eugenischer Praktiken und des reproduktiven Klonens nach Art. 3 EuGRCh. Als weiteres internationales Rechtsinstrument ist darüber hinaus die UNKinderrechte-Konvention auf ihren Aussagegehalt für die hier behandelte Problematik zu untersuchen, die aber nach Meinung der Mehrheit der Vertragsstaaten nicht unmittelbar anwendbar ist und auch keine durchsetzbaren subjektiven Ansprüche einräumt (hierzu Verschraegen 1996, 74; Dorsch 1992, 312f.). Die Bioethikkonvention des Europarates und ihre Zusatzprotokolle sind von Deutschland nicht ratifiziert worden. Schließlich ist ein Blick auf die den deutschen Vorschriften vergleichbaren Regelungen in anderen Rechtsordnungen nicht nur aus rechtsvergleichendem Interesse aufschlussreich. Vielmehr ergeben sich in einer globalisierten mobilen Gesellschaft durch die Möglichkeiten eines »Reproduktionstourismus« besondere Herausforderungen, denen effektiv i. d. R. nur durch zwischenstaatliche Regelungen und Steuerungen begegnet werden kann. Der rechtliche Rahmen für Reproduktionsentscheidungen bei natürlicher Fortpflanzung Das Recht auf Fortpflanzungsfreiheit sowohl in der negativen (kein Zwang, Kinder zu zeugen) als auch in der positiven (kein Verbot, Kinder zu zeugen) Erscheinungsform wird im deutschen Recht als ein aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 4 fließendes Grundrecht eingestuft. 4 Dabei sind der Konsens der Eltern – 2 3

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BVerfG v. 14. 10. 2004-2 BvR 1481/04, FamRZ 2004, 1857, 1859. Dazu Kirchhof (2011, 3681, 3683); kritisch zu einem faktischen Vorrang der EMRK vor dem Grundgesetz und einer »faktischen« Bindung an die EuGHMR-Entscheidungen: Löhnig, Preisner (2012, 489, 493). Epping, Hillgruber, Uhle, GG-Kommentar, 2009, Art. 6 Rn. 26; Maunz /Dürig /Badura, Grundgesetz, Lfg. 2/2005, Art. 6 Rn. 29; von Mangoldt /Klein /Starck /Robbers, GG, 5. Aufl., 2010, Art. 6 Rn. 92; Dreier /Gröschner, GG, 2. Aufl., 2004, Art. 6 Rn. 72; von Münch /Kunig / Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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gleichgültig, ob sie miteinander verheiratet sind oder nicht – von Art. 6 Abs. 1, die individuelle Entscheidung des Einzelnen jedenfalls durch Art. 2 GG, nach verschiedentlich vertretener Meinung ebenfalls nach Art. 6 Abs. 1 und Abs. 4 GG geschützt. Der Sinneswandel nach einer konsentierten Entscheidung muss dem Partner zwar mitgeteilt werden, kann aber keine Sanktionen, wie beispielsweise den Verlust von Unterhaltsansprüchen auslösen (Gernhuber, CoesterWaltjen 2010, § 18 Rn. 54ff.). Die Persönlichkeitsrechte der aktuell oder potentiell schwangeren Frau wirken ebenfalls über Art. 2 Abs. 1 GG in die Fragen der Entscheidungskompetenz hinein. Beschränkungen der negativen oder positiven Fortpflanzungsfreiheit sind nur zum Schutze anderer höherrangiger Grundwerte verfassungsgemäß. Dazu kann bspw. der Schutz werdenden Lebens gehören, wenn man die Fortpflanzungsfreiheit auch auf die Austragung eines bereits gezeugten Kindes bezieht und es um eine Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch, also um eine Einschränkung der weitgefassten negativen Fortpflanzungsfreiheit geht. 5 Das geltende einfache Recht entspricht dem etwa mit dezidierten Regelungen über einen Schwangerschaftsabbruch und – in Bezug auf die positive Fortpflanzungsfreiheit – mit der Unzulässigkeit der Sterilisation Minderjähriger (§ 1631 c BGB) und widersprechender Volljähriger (§ 1905 BGB). 6 Das Bundesverfassungsgericht hält allerdings das strafrechtlich sanktionierte Inzestverbot (§ 173 Abs. 2 StGB) – ungeachtet der Kritik in Teilen des strafrechtlichen Schrifttums 7 – für eine legitime (auf Art. 6 Abs. 1 GG gestützte) 8 indirekte Beschränkung der Fortpflanzungsfreiheit, versagt also der inzestösen Familiengründung letztlich den Schutz. Ob die EMRK in ihrem Art. 8, soweit dieser das Recht auf Achtung des Familienlebens schützt, auch die Fortpflanzungsfreiheit umfasst, war nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EuGHMR) zunächst offen. 9 Allerdings war die Fortpflanzungsfreiheit über die Achtung

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Coester-Waltjen, GG, 6. Aufl., 2012, Art. 6 Rn. 49, 67, 109; Sodan, GG, 2. Aufl., 2011, Art. 6 Rn. 5; Sachs /Schmitt-Kammler /von Coeln, GG, 5. Aufl., 2009, Art. 6 Rn. 26; Jarass /Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 6 Rn. 3; zur ethischen Dimension verantworteter Elternschaft: Beier / Wiesemann (2010), 855, 869. Vgl. BVerfGE 88, 203, 257, 273; einschränkend das abweichende Votum 338. Zur Unzulässigkeit von Zwangssterilisationen vgl. von Münch /Kunig, Art. 2 Rn. 72; zur Frage der Verlagerung des Bestimmungsrechts bei fehlenden Wahrnehmungsmöglichkeiten des Selbstbestimmungsrechts durch die Betroffenen: von Münch /Kunig /Coester-Waltjen, Art. 6 Rn. 109; Coester-Waltjen (2012), 553, 555; im Einzelnen: MünchKomm /Schwab, BGB, 6. Aufl., 2012, § 1905 Rn. 17 ff. Vgl. Hörnle 2005, 454; Tröndle /Fischer /Tröndle, StGB, 54. Aufl., 2007, § 173 Rn. 2; Jung, Festschrift Leferenz, 1983, 311, 317. So auch Leipziger Kommentar /Dippel, StGB, 11. Aufl., 2003, § 173 Rn. 10; Sturm, JZ 1974, 1, 3; siehe zur nur indirekten Beschränkung unten Nr. 27. Vgl. EuGHMR v. 29. 10. 1992, Nr. 64/1991/316/387 bis 388, Open Door and Dublin Well Women /Irland, NJW 1993, 773 Rn. 83; s. auch EuGHMR v. 26. 2. 2002, Nr. 36515/97, Fretté / Frankreich, FamRZ 2003, 149 Rn. 32; EuGHMR v. 22. 1. 208, Nr. 43546/02, E. B. /Frankreich, NJW 2009, 3637 Rn. 41 mit der Begründung, der Schutz des Familienlebens setze Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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des Privatlebens (Art. 8 EMRK, Art. 7 EuGRCh) auch in der früheren Rechtsprechung als Schutzobjekt anerkannt. 10 In der neueren Rechtsprechung des EuGHMR unterscheidet das Gericht in Fragen der Fortpflanzungsfreiheit nicht mehr zwischen der Achtung des Privatlebens und der des Familienlebens (Wollenschläger 2011, 21, 25), sondern hält Art. 8 EMRK auch bei noch nicht bestehender Familie für anwendbar. 11 Allerdings haben die Konventionsstaaten nach Art. 8 Abs. 2 EMRK einen Ermessensspielraum, vorausgesetzt dass Einschränkungen gesetzlich vorgesehen, in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind und legitime Zwecke verfolgen. Grundsätzlich gehören zu den legitimen Einschränkungen u. a. der Schutz des werdenden Lebens 12 und die Entscheidung des anderen potentiellen Elternteils. 13 Art. 8 EMRK steht daher nicht notwendig Einschränkungen des Schwangerschaftsabbruchs, aber auch nicht einer Rücknahme der Zustimmung zur Austragung einer Schwangerschaft entgegen. Die Einstellung des EuGHMR wird sich möglicherweise auch auf die entsprechende Auslegung des Rechts auf ein Familienleben und eine Familiengründung nach der EuGRCh auswirken (Jarass 2012, 1181–1183). Das in Art. 3 EuGRCh vorgesehene Verbot von Sterilisationskampagnen, erzwungenen Schwangerschaften und zwingenden Partnerwahlvorschriften schützt ebenfalls die autonome Entscheidung des Einzelnen in Fragen der Fortpflanzung. Ein die negative Fortpflanzungsfreiheit einschränkendes absolutes Recht auf Schutz des ungeborenen Lebens kann aus der UN-Kinderrechte-Konvention nicht hergeleitet werden; Abs. 9 der Präambel 14 hebt lediglich die Absichtserklärung der verschiedenen Vertragsstaaten hervor, ungeborenes Leben mit angemessenen Mitteln zu schützen. 15 Dieser kurze Überblick mag verdeutlichen, dass die Fortpflanzungsfreiheit in ihrer positiven wie in ihrer negativen Erscheinungsform nicht nur durch die Vorgaben der deutschen Verfassung, sondern auch durch internationale Rechtsinstrumente abgesichert ist und nur durch den Schutz höherrangiger Rechtsgüter eingeschränkt werden darf, wobei auf internationaler Ebene den nationalen Gesetzgebern grundsätzlich ein gewisser Ermessenspielraum eingeräumt ist. Die

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das Bestehen einer Familie voraus; auch aus Art. 12 EMRK können nach der Rechtsprechung des EuGHMR unverheiratete Paare kein Familiengründungsrecht herleiten, EuGHMR v. 13. 12. 2007, Nr. 39051/03, Emonet u. a./Schweiz, FamRZ 2008, 377 (verkürzte Wiedergabe ohne die diesbezüglich relevante Aussage in Rn. 92). EuGHMR v. 7. 3. 2006, Nr. 6339/05, Evans /Großbritannien, FamRZ 2006, 533 Rn. 71 (Versagung der Zustimmung zum Embryotransfer); EuGHMR v. 16. 12. 2010, Nr. 25579/10, A,B und C/Irland, NJW 2011, 2107 Rn. 212 (Schwangerschaftsabbruch). EuGHMR v. 3. 11. 2011, Nr. 57813/00, S. H. u. a./Österreich, FamRZ 2012, 23 Rn. 82. EuGHMR v. 16. 12. 2010, Nr. 25579/05, A, B und C/Irland, NJW 2011, 2107 Rn. 212. EuGHMR v. 7. 3. 2006, Nr. 6339/05, Evans /Großbritannien, FamRZ 2006, 533 Rn. 71. Abs. 9 hat folgenden Wortlaut: »[Bearing in mind that, as indicated in the rights of the child,. . .] the child by reason of his physical and mental immaturity, needs special safeguards and care, including appropriate legal protection, before as well as after birth [. . .]«. S. dazu Verschraegen (1996, 77); zum Recht des Kindes auf Kenntnis der Eltern und Teilhabe an ihrer elterlichen Sorge s. Art. 7 UN-Kinderrechte-Konvention, zum Recht des Kindes auf Identität, Art. 8 UN-Kinderrechte-Konvention, dazu im Einzelnen Dorsch (1992, 152 ff.). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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positive Entscheidung für ein Kind kann von den Eltern autonom getroffen werden. Es gibt weder ein Recht des Kindes, nicht von diesen Eltern geboren zu werden, noch Rechte Dritter (bspw. bereits vorhandener Kinder, anderer Verwandter, Partner oder der Gesellschaft insgesamt) eine konsentierte natürliche Zeugung zu hindern. 16 Die reproduktive Autonomie ist insofern bei natürlicher Zeugung rechtlich nicht begrenzt. Besonderheiten bei medizinisch-assistierter Zeugung In der deutschen Diskussion wird verschiedentlich eine unterschiedliche Betrachtung der Entscheidungsfreiheit bei natürlicher Fortpflanzung und bei Inanspruchnahme medizinscher Unterstützung in Erwägung gezogen. 17 Richtigerweise wird man davon ausgehen müssen, dass aus Art. 6 Abs. 2 GG kein Recht auf medizinisch unterstützte Fortpflanzung hergeleitet werden kann, es folgt jedoch zumindest aus Art. 2 Abs. 1 GG ein grundsätzliches Recht auf Nichteinschränkung bestehender Fortpflanzungsmöglichkeiten (Coester-Waltjen 2001, 158–159), wenn man nicht sogar Art. 6 Abs. 1 und Abs. 4 GG als Schutznormen auch bei medizinisch-assistierter Zeugung heranziehen will. 18 Diese Ansicht ist aber umstritten. Der deutsche Gesetzgeber hat mit dem Embryonenschutzgesetz (ESchG) eine Reihe von (einfach gesetzlichen) Einschränkungen der reproduktiven Autonomie vorgesehen. So ist zwar die In-vitro-Fertilisation grundsätzlich erlaubt, auch die Samenspende in-vivo wie in-vitro ist zulässig. Eispende, Ersatzund Tragemutterschaft (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 ESchG) wie auch eine Embryonenspende (§ 1 Abs. 1 Nr. 6 ESchG) – soweit es sich nicht um unbeabsichtigt übriggebliebene Embryonen handelt – werden hingegen in Straftatbeständen erfasst. 19 Ob diese den verfassungsrechtlichen und menschenrechtlichen Vorgaben standhalten, ist unsicher und mag zumindest bezweifelt werden. 20 Der EuGHMR hat jedenfalls in seinen Entscheidungen zu Art. 8 EMRK keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Schutz der Entscheidungsfreiheit zur Fortpflanzung mit oder ohne medizinische Assistenz gemacht. Vielmehr betrafen gerade die Fälle, in denen er grundsätzlich die Fortpflanzungsfreiheit als ein Recht auf ungestörtes Privat- und Familienleben eingeordnet hat, Situationen, in denen nicht eine »natürliche« Zeugung, sondern eine medizinische Unterstützung zur Debatte stand. So ging es in Evans /Großbritannien 21 16

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Die Strafbarkeit des Inzestverbots richtet sich gegen den sexuellen Verkehr, nicht direkt gegen die Zeugung, wenngleich man die strafrechtliche Bewährung durchaus kritisch beurteilt kann, s. oben. So Epping /Hillgruber /Uhle, Art. 6 Rn. 26. So z. B. Zumstein 2001, S. 134 – 136; Heun 2008, 49, 51; Lehmann 2007, 95 ff.; Reinke 2008, 341 ff. (eine Ableitung aus Art. 2 Abs. 1 GG ablehnend auf S. 193 ff.); Hieb 2005, 12 ff.; Dreier / Gröschner, Art. 6 Rn. 72; von Münch /Kunig /Coester-Waltjen, Art. 6 Rn. 49. Zu den familienrechtlichen Fragen der medizinisch-assistierten Zeugung s.: Wanitzek 2002, passim; Coester-Waltjen 1986, Bd. 1, B 1–127; Coester-Waltjen 1992, 369 ff. Jedenfalls gegen eine strafrechtliche Sanktion Taupitz, in: Kaiser, Günther, Taupitz 2008, § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 7. EuGHMR v. 7. 3. 2006, Nr. 6339/05, FamRZ 2006, 533. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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um die Frage, ob die nach englischem Recht mögliche Verweigerung der Zustimmung zum Embryotransfer nach einer konsentierten medizinisch-assistierten Befruchtung die Fortpflanzungsfreiheit des anderen potentiellen Elternteils konventionswidrig verletze. 22 Der EuGH setzte sich ausführlich mit den in diesem Fall gegenläufigen Fortpflanzungsinteressen der Beteiligten auseinander und hielt – auch angesichts der sehr unterschiedlichen Ansichten der Konventionsstaaten »in diesen schwierigen Fragen der Moral und Ethik« (Rn. 78) – die vom englischen Gesetzgeber getroffene Abwägung der gegenläufigen Interessen nicht für konventionswidrig, weil der nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zustehende Ermessensspielraum nicht überschritten sei (Rn. 91). Mit einem eventuellen Lebensrecht des bereits gezeugten Embryos hat er sich in diesem Zusammenhang nicht auseinandergesetzt. Entscheidend für die vorliegende Betrachtung ist, dass der EuGHMR aus Art. 8 Abs. 1 EMRK das Recht auf eine Respektierung der Entscheidung für oder gegen ein Kind auch bei medizinisch-assistierter Zeugung bejaht. Auch in Dickson /Großbritannien 23 hat die Große Kammer des EuGHMR die Frage der Ermöglichung einer künstlichen Insemination der Ehefrau mit dem Sperma ihres eine lebenslängliche Freiheitsstrafe verbüßenden Ehemannes als einen Aspekt des Art. 8 Abs. 1 EMRK angesehen, weil dieser »das Recht auf Achtung ihrer Entscheidung, Eltern eines von ihnen stammenden Kindes zu werden«, einschließt (Rn. 66). Der englischen Verwaltung wurde vorgeworfen, bei der Versagung der Inseminationsmöglichkeit jedenfalls keine ausreichende Abwägung der möglicherweise gegenläufigen Interessen, insbesondere im Hinblick auf die erhebliche Bedeutung der Interessen der Beschwerdeführer vorgenommen und damit Art. 8 EMRK verletzt zu haben. In seinen beiden Entscheidungen in den Fällen S. H. u. a./Österreich, 24 in denen das österreichische Fortpflanzungsgesetz auf den Prüfstand gestellt wurde, hat der EuGHMR ausdrücklich anerkannt, dass eine medizinisch-assistierte Zeugung – selbst unter Einsatz von Eizellen- und Samenspenden – in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK fällt (Wollenschläger 2011, 21, 26; CoesterWaltjen 2010, 957, 985). Dies bedeutet freilich nicht, dass dieses Recht keine Einschränkungen erfahren darf. Die Vorschriften der EMRK (wie auch die weiteren diesbezüglichen internationalen Rechtsinstrumente) lassen den nationalen Gesetzgebern auch insoweit einen gewissen Ermessensspielraum. Dieser 22

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Entsprechendes hatte der israelische Große Senat des Obersten Gerichtshofs in einem ähnlich gelagerten Fall bejaht: Nachmani v. Nachmani, 50 (4) P. D. 661 (Israel). Der BGH hat (in BGHZ 146, 391, 396, LM BGB § 1353 Nr. 36 mit kritischer Anm. Coester-Waltjen) diese Problematik nicht in der angezeigten Tiefe behandelt. EuGHMR v. 4. 12. 2007, Nr. 44362/04, NJW 2009, 971. Die Entscheidung der Kammer v. 1. 4. 2010, Nr. 57813/00, RdM 2010, 85 mit Anm. Bernat; FamRZ 2010, 957 mit Anm. Coester-Waltjen; Piskernigg 2010, S. 143; Entscheidung der Großen Kammer v. 3. 11. 2011, FamRZ 2012, 23; die vorangegangene Entscheidung des öVerfGH v. 14. 11. 1999, MedR 2000, 389 mit Anm. Bernat, FamRZ 2000, 598 mit Anm. Coester-Waltjen; siehe auch EuGHMR v.28. 8. 2012, Nr. 54270/10 – Costa und Pavan /Italien zur Frage der Verweigerung einer medizinisch assistierten Zeugung bei Personen, die unter einer Erbkrankheit leiden. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Ermessensspielraum verengt sich, je fundamentaler das eingeschränkte Freiheitsoder Menschenrecht ist. 25 Erforderlich sind aber in jedem Fall zum einen in sich konsistente Entscheidungen, d. h. Regelungen, die auf einer rationalen und widerspruchsfreien Argumentation beruhen. 26 Eine derartige konsistente Entscheidung des Gesetzgebers wurde bei einem italienischen Gesetz verneint, das eine In-Vitro-Fertilisation nur sterilen und zeugungsunfähigen Paaren sowie bei Gefahr der Übertragung viraler Krankheiten durch sexuellen Kontakt (z. B. H. I. V.) erlaubte, eine PID generell versagte, aber dennoch eine Abtreibung bei Vorhandensein der (von den Klägern befürchteten) Erbkrankheit erlaubte. 27 Zum anderen sind Beschränkungen – wie bereits oben zur grundsätzlichen Bedeutung des Art. 8 EMRK ausgeführt – nur dann legitim, wenn sie gesetzlich festgeschrieben sind, ein »legitimes Ziel« verfolgen und notwendig sind, um dieses Ziel in einer demokratischen Gesellschaft zu erreichen. 28 Dass dabei verwaltungstechnische Schwierigkeiten oder das Fehlen von rechtlichen Regelungen für die Folgen einer medizinisch assistierten Zeugung – wie beispielsweise die doppelte Mutterschaft – keine Legitimation sein können, hat der EuGHMR in Dickson /Großbritannien 29 und in seiner ersten S. H. u. a./Österreich-Entscheidung 30 betont. Sobald es jedoch um »schwierige Fragen der Moral und Ethik« geht, hat sich der EuGHMR bisher einer eigenen Stellungnahme enthalten und auf das Vorhandensein eines Konsenses in diesen Wertungen innerhalb der Vertragsstaaten abgestellt. Ist ein derartiger Konsens über die Gewichtung der möglicherweise gegenläufig tangierten Interessen und der verfolgten Ziele nicht erkennbar, so wird die Wertentscheidung des nationalen Gesetzgebers, selbst wenn sie fundamentale Rechte des Einzelnen einschränkt, jedenfalls dann vom Gerichtshof akzeptiert, wenn sie auf moralischen Bedenken des Gesetzgebers und deren sozialer Verwurzelung in der jeweiligen Gesellschaft beruht. 31 In diesem Zusammenhang hat der EuGHMR den nach österreichischem Recht bestehenden Ausschluss einer Eispende im Hinblick auf die Bedenken gegen eine »gespaltene« Mutterschaft (jedenfalls für die Rechtssituation im Jahre 1999) für nicht konventionswidrig gehalten. 32 Das österreichische Verbot einer In-vitro-Fertilisation mit Spendersamen wurde vom Gerichtshof ebenfalls nicht beanstandet, weil damit den in der Bevölkerung vorhandenen Bedenken gegen die In-vitro-Fertilisation Rechnung getragen werde, während derartige Vorbehalte gegen eine Invivo-Insemination mit Spendersamen nicht bestünden. 25 26

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EuGHMR v. 7. 3. 2006, Nr. 6339/05, Evans /Großbritannien, FamRZ 2006, 533 Rn. 77. So die von der Großen Kammer nicht beanstandete Aussage der Kammerentscheidung v. 1. 4. 2010, Nr. 57813/00, RdM 2010, 85 Rn. 74; vgl. auch EuGHMR v. 16. 12. 2010, Nr. 25579/10, A, B und C/Irland, NJW 2011, 2107 Rn. 249; ebenfalls so die Begründung in EuGHMR v.28. 8. 2012, Nr. 54270/10 – Costa und Pavan /Italien. EuGHMR v. v.28. 8.2012, Nr. 54270/10 – Costa und Pavan /Italien. EuGHMR v. 3. 11. 2011, FamRZ 2012, 23 Rn. 74, 89. EuGHMR v. 4. 12. 2007, Nr. 44362/04, NJW 2009, 971. EuGHMR v. 1. 4. 2010, Nr. 57813/00, FamRZ 2010, 957, RdM 2010, 85. EuGHMR v. 3. 11. 2011, Nr. 57813/00, FamRZ 2012, 23 Rn. 97, 100. EuGHMR v. 3. 11. 2011, FamRZ 2012, 23 Rn. 106. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Gewiss hat ein supranationales Gericht den Eigenheiten und Wertungen der nationalen Rechtsordnungen in begrenztem Rahmen Respekt zu zollen, 33 dennoch befriedigt die Argumentation nicht völlig. Vor allem gibt sie keine Hilfestellung für eine rationale Begründung von Einschränkungen individueller reproduktiver Autonomie. Der Trend in den meisten Rechtsordnungen geht hier zur Einräumung einer größeren Freiheit des Einzelnen, zur Akzeptanz verschiedener Variationen der medizinisch-assistierten Zeugung und zu einer die möglichen psychologischen und gesellschaftlichen Folgeprobleme reduzierenden rechtlichen Regelung. 34 Versucht man die Argumente für und gegen eine Einschränkung der reproduktiven Autonomie im medizinisch-assistierten Bereich auf ihre Validität innerhalb des deutschen verfassungsrechtlichen Rahmens zu prüfen, so ist zunächst zwischen den homologen und heterologen Vorgängen zu unterscheiden. Für die medizinisch-assistierte Zeugung im homologen System gibt es im deutschen Recht außer einigen – zum Teil nicht mehr dem Forschungsstand angemessenen 35 – Restriktionen für die Durchführung im Einzelnen keine Beschränkungen. Weder die Beteiligung von Klinikpersonal noch die Tatsache, dass die Befruchtung außerhalb eines sexuellen Aktes der potentiellen Eltern stattfindet, wird als ein Verstoß gegen die Menschenwürde gewertet. 36 Die bestehenden Vorschriften des ESchG versuchen, die Entstehung überzähliger Embryonen zu verhindern, sodass das (v. a. in der Entwicklungsphase dieser Methode vorgebrachte) Argument, mit der In-vitro-Fertilisation werde gleichzeitig menschliches Leben zerstört, nicht mehr überzeugt, zumal für planwidrig übriggebliebene Embryonen (ausnahmsweise) die Möglichkeit der Embryonenspende konsentiert ist. 37 Vielschichtiger ist die Argumentationslage im heterologen System, wobei zwischen Zulässigkeit und Folgeregelungen zu unterscheiden ist. Ein valides Argument gegen die Zulässigkeit einer Drittbeteiligung bei der Zeugung kann sicherlich nicht das Wohl des Kindes als höherrangiges Schutzgut sein, denn dieses Argument ist in sich unschlüssig: Sieht man menschliches Leben als Wert an, dann kann man die Verhinderung der Zeugung eines Kindes logisch nicht mit 33

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EuGHMR v. 16. 12. 2010, Nr. 25579/10, A, B und C/Irland, NJW 2012, 2107 Rn. 226; der EuGHMR ist aber keineswegs durchgehend so zurückhaltend, sondern fordert mit seiner dynamisch-evolutiven Auslegung der EMRK von den Vertragsstaaten durchaus eine Offenheit gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen, die in einigen Gesellschaften auf traditionelle Vorbehalte treffen (wie z. B. die homosexuellen Verbindungen), vgl. EuGHMR v. 24. 6. 2010, Nr. 30141/04, Schalk und Kopf /Österreich, Rn. 52; s. auch die geänderte, nunmehr offenere Haltung gegenüber der Eheschließung Transsexueller: EuGHMR v. 11. 7. 2002, Nr. 28957/95, Goodwin /Großbritannien, RJD 2002 IV Rn. 71, gegenüber EuGHMR v. 17. 10. 1986, Ser. A 160 Nr. 37, Rees /Großbritannien. Vgl. hierzu den Überblick in EuGHMR v. 3. 11. 2011, Nr. 57813/00, FamRZ 2012, 23 Rn. 35 ff. Dazu Günther, in: Kaiser, Günther, Taupitz 2008, § 1 Abs. 1 Nr. 5 Rn. 6 ff. Vgl. zu dieser Diskussion Wallau 2010, S. 264 m.w.N.; zu den Bedenken aus der Sicht der traditionellen chinesischen Gesellschaft s. Liao, Dessein, Pennings 2010 S. 895–897. Taupitz, in: Kaiser, Günther, Taupitz 2008, § 1 Abs. 1 Nr. 6 Rn. 21; zur grundsätzlichen Kritik an dem Verbot der Embryonenspende a. a. O. Rn. 1 ff. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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dem Wohl des Kindes begründen. Ohne die Zeugung gäbe es das Kind nicht; dies kann also nicht zu seinem Wohle sein. 38 Auch das Anliegen, gespaltene Elternschaften zu verhindern, kann keinen Eingriff in die autonome Entscheidung der Beteiligten legitimieren: Zum einen ist die »gespaltene« Elternschaft kein allein auf die medizinisch-assistierte Zeugung im heterologen System beschränktes Phänomen, sondern ergibt sich bei der Adoption ebenso wie möglicherweise in Scheidungsfamilien und bei Ehebruchskindern. Hinzukommt, dass die deutsche Rechtsordnung die gespaltene Vaterschaft – nämlich die Samenspende in den Varianten der medizinisch-assistierten Zeugung – akzeptiert. Für das Verbot gespaltener Mutterschaft sind daher besondere, die verschiedene Behandlung von Vater- und Mutterschaft rechtfertigende Gründe erforderlich, die aber nicht ersichtlich sind. Die vorgebrachten Argumente beziehen sich im Wesentlichen (neben dem für nicht überzeugend gehaltenen Kindeswohl-Argument) 39 auf die Würde der Frau, die als Eizellenspenderin, Ersatz- oder Tragemutter »fungiere« und sich damit »zum Objekt mache« sowie auf die Schwierigkeiten der Regelung von Folgeproblemen. Bei einer autonomen Entscheidung der betroffenen Frau fällt es jedoch schwer, ihren Entschluss als ihre Würde verletzend und sie selbst als »bloßes Mittel fremder Zwecke« einzustufen. 40 Auch dieses Argument kann daher eine Einschränkung der von allen Beteiligten autonom getroffenen Entscheidung nicht überzeugend begründen. 41 Es bleiben damit letztlich nur die in der Tat bestehenden Probleme der Regelung von Folgefragen der heterologen Zeugung. 42 Hierzu gehört die Schwierigkeit, das verfassungsmäßig geschützte Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung 43 mit dem häufigen Wunsch der Keimzellenspender (auch der Samenspender) oder der Trage-/Ersatzmutter auf Anonymität 44 zu vereinbaren. Auch die Fragen, ob es eine »Freistellung« genetischer 38

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Vgl. u. a. Kersten 2004, S. 308; Herdegen, in: Maunz /Dürig, Art. 1 Abs. 1 Rn. 105; Wallau 2010, S. 267; s. auch die bei Akzeptanz dieses Arguments zweifelhafte Schlussfolgerung des Hamburger Philosophen und Strafrechtlers Merkel: »Ein Wesen zu töten, dass schlechthin kein subjektives Interesse an seiner eigenen Existenz haben kann, kann dieses Wesen nicht schädigen und daher ihm gegenüber kein Unrecht sein« – zitiert nach Höfling 2010, S. 411. Taupitz (in: Kaiser,Günther,Taupitz 2008, § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 7, § 1 Abs. 1 Nr. 6 Rn. 4) hält zwar diese Argumentation nicht für zwingend, bezeichnet aber das Kindeswohl-Argument als zu vage, wenn es um so hochrangige Schutzgüter geht. BT-Drucks. 11/5460, S. 9; Spickhoff /Müller-Terpitz, Medizinrecht, § 2 ESchG Rn. 20. Vgl. die Diskussion und die Nachweise bei Taupitz, in: Kaiser, Günther, Taupitz 2008, § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 15. Von Mangold /Klein /Starck, Art. 1 Abs. 1 Rn. 98; Wallau 2010, S. 265. Der EuGHMR hatte in der ersten S. H. u. a. /Österreich-Entscheidung v. 1. 4. 2010, Nr. 57813/00, RdM 2010, 85 darauf hingewiesen, dass für derartige Probleme Lösungen zu finden seien, die Schwierigkeiten jedoch ein Verbot nicht rechtfertigen könnten. Hergeleitet aus Art. 2 Abs. 1 GG, vgl. BVerfGE 79, 256; BVerfG, JZ 1997, 777; von Mangold / Klein /Starck, Art. 1 Abs. 1 Rn. 98; s. auch Art. 7 UN-Kinderrechte-Konvention, die allerdings dieses Recht nur »so weit wie möglich« einräumt, vgl. Verschraegen 1996, S. 76. Zu der für EMRK-kompatibel gehaltenen Einschränkung auf einen (späteren) Auskunftsanspruch bei der anonymen Geburt im französischen Recht: EuGHMR v. 13. 2. 2003, Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Elternteile von allen Verpflichtungen gegenüber dem Kind (z. B. Unterhaltsund Erbrechte) geben solle, wie die originären oder korrigierbaren rechtlichen Zuordnungen erfolgen sollen, 45 sind zu lösen. Dafür gibt es in verschiedenen Rechtsordnungen sehr unterschiedliche Regelungen, 46 die als Vorbilder diskutiert und mit rationalen und nachvollziehbaren Argumenten für das eigene Recht abgelehnt oder unverändert bzw. modifiziert übernommen werden sollten. Hier ist noch viel Arbeit zu leisten. Die Problematik gentechnischer Eingriffe Fragen der reproduktiven Autonomie stellen sich auch bei den Möglichkeiten der gentechnischen Eingriffe. In diesem Zusammenhang werden verschiedentlich die Argumente für und gegen eine autonome Entscheidungsmöglichkeit werdender Eltern für eine Präimplantationsdiagnostik (PID) diskutiert (Beier, Wiesemann 2010, 855, 860). Diese Thematik gehört in den Bereich der negativen Fortpflanzungsfreiheit und ist als solche zumindest parallel zu den Möglichkeiten eines (straffreien) Schwangerschaftsabbruchs zu diskutieren (Schroth 2001, 251, 257; die Unterschiedlichkeit der Situationen betont hingegen Höfling 2003, 99, 112; Spickhoff /Müller-Terpitz, Einl. Embryonenschutzgesetz Rn. 5). Der deutsche Gesetzgeber hat sich für eine begrenzte Möglichkeit der Präimplantationsdiagnostik von pluripotenten Trophoblastzellen beim Risiko einer schweren Erbkrankheit und dem Verdacht einer möglichen Fehl- oder Totgeburt entschieden (§ 3 a ESchG). Trotz gewisser Mängel in der Formulierung dürfte er damit eine akzeptable Abwägung zwischen Lebensschutz einerseits und Persönlichkeitsrechtsschutz und Fortpflanzungsfreiheit andererseits getroffen haben (Firster, Lehmann 2012, 659ff.). Eine andere und viel schwieriger zu beantwortende Frage ist es, wie weit Eltern autonom die genetische Konstitution ihrer Nachkommenschaft festlegen dürfen, Stichwort: »Designerbaby«.

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Nr. 42326/98, Odièvre /Frankreich, NJW 2003, 2145; vgl. auch die Stellungnahme der European Society of Human Reproduction and Embryology, Human Reproduction (2002) Vol. 17 No. 5, S. 1407. Zur Frage eines Anfechtungs- oder Vaterschaftsfeststellungsrecht des genetischen Vaters bei natürlicher Zeugung eines rechtlich bereits anderweitig zugeordneten Kindes vgl. EuGHMR v. 27. 10. 1994, Nr. 29/1993/424/503, Kroon /Niederlande, FamRZ 2003, 813; EuGHMR v. 22. 3. 2012, Nr. 23338/09, Kautzor /Deutschland und Nr. 45071/09, Ahrens /Deutschland; zum Umgangsrecht des genetisch /nicht rechtlichen Vaters: EuGHMR v. 21. 12. 2010, Nr. 20578/07, Anayo /Deutschland, FamRZ 2011, 269; EuGHMR v. 15. 9. 2011, Nr. 17080/07, Schneider / Deutschland, FamRZ 2011, 1715 mit Anm. Helms; dazu auch Wellenhofer 2012, 828. Vgl. z. B. zur sehr offenen Regelung des englischen Rechts: Scherpe 2010, 1513; in Österreich steht zurzeit die Frage der Beschränkungen medizinisch-assistierter Zeugung auf verschiedengeschlechtliche Paare auf dem Prüfstand (vgl. Beschluss des öOGH vom 22. 3. 2011–3 Ob 147/10 d) auf Vorlage dieser Frage an den österreichischen Verfassungsgerichtshof (RdM 2011, 96 mit Anm. Bernat), die hier nicht näher zu diskutieren sind, aber eine Reihe von Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Die Europäische Grundrechtecharta verbietet in Art. 3 Abs. 2, 2. und 4. Spiegelstrich die eugenische Selektion und das reproduktive Klonen (Kersten 2004, 120 ff.). Das deutsche ESchG stellt die Selektion von Spermata vor der Befruchtung nach den in ihr enthaltenen Geschlechtschromosomen (§ 3) 47, die künstliche Veränderung menschlicher Keimbahnzellen 48 zu reproduktiven 49 Zwecken (§ 5), das reproduktive Klonen (§ 6) 50 und die Chimären- und Hybridbildung (§ 7) unter Strafe. Schutzgut ist in dem letzten Fall (§7) die Menschenwürde. 51 Menschliches Leben und körperliche Unversehrtheit sollen vor unverantwortlichen Humanexperimenten geschützt werden (Günther, in: Kaiser, Günther, Taupitz 2008, § 7 Rn. 1ff.). Die Ablehnung dieser Experimente ist einhellig, sobald es um reproduktive Zwecke geht. 52 In den Fragen des reproduktiven Klonens und gentechnischer Eingriffe in Keimzellen und Keimbahnzellen (§§ 5, 6) hat der Gesetzgeber ebenfalls vor allem das unverantwortliche Humanexperiment vermeiden wollen (Kaiser, Günther, Taupitz 2008. §5 Rn. 4ff.; Trotnow, Coester-Waltjen 1990, 19; Bernat 1989, 270 ff.), die tatsächliche Verwirklichung eines Designerbabys wurde als außerhalb des Realen liegend betrachtet. In der juristischen Diskussion wird hingegen auch auf diese (utopische?) Vorstellung eingegangen (Köbl 1986, 161; van den Daele 1985, 185 ff.; Eibach 1986, 166). Das Menschenwürdeargument wird hier ebenfalls für ein Verbot angeführt (Giesen 1989, 55; Wallau 2010, 267). Dabei geht es allerdings nicht um die oben abgelehnte Argumentation, dass die Entstehung eines Menschen unter Berufung auf seinen Schutz verhindert werden soll, sondern um den Würdeschutz der Menschheit insgesamt, insbesondere den Würdeschutz künftiger Menschen. Wie in der philosophischen Diskussion (Habermas 2002, 283–285) wird auch hier diskutiert, dass derart gezeugte Menschen ihre Existenz nicht auf die eigene menschliche Natur, sondern auf den zielgerichteten Willen eines Dritten zurückführen müssten und daher das individuelle Selbstverständnis des Menschen gestört werde (Wallau 2010, 267ff.). Es ist bereits verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass auch diese Argumentation ihre Schwächen hat (Birnbacher 2002, 121–123; Beier, Wiesemann 2010, 855, 860). Denn Einfluss auf die Persönlichkeit des künftigen Kindes nehmen Eltern nicht nur durch Erziehung etc., 53 sondern auch bereits bei der natürlichen Reproduktion durch Partnerwahl (Beier, Wiesemann 2010, 855, 860; Birnbacher 2002, 121, 125). Die Argumentation kann daher schon allein aus diesem Grund 47 48 49 50

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Vgl. dazu auch Art. 14 Bioethikkonvention des Europarates. Definition in § 8 ESchG. Vgl. auch Art. 13 Bioethikkonvention des Europarates. Vgl. auch Art. 1 Zusatzprotokoll zu Bioethikkonvention über das Verbot des Klonens von menschlichen Lebewesen. Von Mangold, Klein, Starck, Art. 1 Abs. 1 Rn. 99. S. Kersten (2004, 208); für therapeutische Zwecke werden verschiedentlich die Forschungsfreiheit, die Gesundheitsinteressen der Allgemeinheit und der Heilungsanspruch Kranker als gegenläufige Rechtsgüter angeführt, soweit es sich um einen Embryo in-vitro in der Frühphase handelt – s. Günther in (Kaiser, Günther, Taupitz 2008, § 7 Rn. 7, § 6 Rn. 7). Zur Verschiedenheit von Erziehung und genetischer Ausstattung: Habermas (2002, 283, 288 ff.). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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nicht überzeugen. Vor allem aber können es – wie bereits oben hervorgehoben – nicht die subjektiven Rechte dessen sein, dessen Erzeugung verhindert werden soll (Kersten 2004, 310). Überzeugend kann das Menschenwürdeargument vielmehr nur dann eingesetzt werden, wenn die Menschenwürde als objektiv-rechtliche Schutzdimension zur Sicherung der Würde, Integrität und Gleichheit auch künftiger Menschen verstanden wird (Kersten 2004, 311ff.; Höfling 2003, 144; Herdegen in: Maunz, Dürig, Art. 1 Abs. 1 Rn. 93). Ob dieses Argumentationsmuster gleichermaßen gegen einen gentherapeutischen Eingriff in den Entstehungsprozess eines Menschen (z. B. zur Vermeidung einer Erbkrankheit oder Behinderung) durch Behandlung – sei es der Keimzelle, sei es des frühen Embryos – eingesetzt werden kann, ist allerdings fraglich. 54 Zurzeit sind derartige Eingriffe allerdings ohnehin nur Zukunftsmusik, mögen sie dem einen als Sirenengesang, dem anderen als himmlische Sphärenmusik erscheinen. Reproduktionsentscheidungen in einer globalisierten Gesellschaft Jede Gesellschaft, jede Rechtskultur mag für sich – innerhalb des Rahmens, zu dem sie sich durch Beitritt zu internationalen Verträgen (wie bspw. der EMRK) bekannt hat – die Minimalstandards der Sozialethik festlegen und dabei mögen unterschiedliche Sichtweisen durchaus legitim sein, insbesondere, wenn es um die Grenzbereiche der Wertvorstellungen geht. 55 Insofern gibt es in vielen juristischen Fragen nicht nur eine richtige Antwort. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass die Mobilität der modernen Gesellschaft die Grenzen der jeweiligen Rechtsordnungen leicht überschreitbar macht. In einer globalisierten Gesellschaft sind die Tore für einen »Reproduktionstourismus« weit geöffnet. 56 Das Beharren auf den eigenen Wertvorstellungen kann dabei sehr leicht zu Lasten der »schwächsten Glieder« der Gesellschaft, insbesondere zu Lasten der Kinder gehen. 57 Insofern scheint es dringend erforderlich, auf internationaler und zwischenstaatlicher Ebene zu einer Verständigung zu kommen, bei der man sich auf Schutzmechanismen für die Beteiligten und auf Grundsätze verständigt, die Vorhersehbarkeit und Transparenz verbürgen und auf eine möglichst breite Akzeptanz treffen. Erste Bestrebungen in dieser Hinsicht sind angelau-

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Habermas fordert, eventuelle Eingriffe »von einem mindestens kontrafaktisch zu unterstellenden Konsens der möglicherweise Betroffenen selbst abhängig« zu machen (Habermas 2012, 283, 292). Vgl. zur konfuzianischen Ahnenverehrung und dem sich daraus ergebenden besonderen Schutzbedürfnis der genetischen Verbindung: Liao, Dessein, Pennings (2010, 895, 898). Vgl. dazu die Daten bei Todorova 2010 und die Zusammenstellung bei Hague Conference, Permanent Bureau, Private international law issues surrounding the status of children, including issues arising from international surrogacy arrangements, Prel. Doc. No. 11 of March 2011 for the attention of the Council of April 2011 on General Affairs and Policy of the Conference. Vgl. z. B. den in der Entscheidung des öVerfGH zu Grunde liegenden Sachverhalt und die Entscheidung der österreichischen Behörden vor dem Urteil des öVerfGH v. 14. 12. 2011 – B 13/11-10, RdM 2012, 104 mit Anm. Bernat. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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fen. 58 Naturgemäß werden sie die in vielen Punkten auch hier offengebliebenen Diskussionen über die rechtlichen Grenzen der reproduktiven Autonomie entscheidend beeinflussen. Literatur Beauchamp TL, Childress JF (2009) Principles of Biomedical Ethics, 6. Aufl. Oxford University Press, New York Behrends O (1994) Die rechtsethischen Grundlagen des Privatrechts In: Bydlinski F, Mayer-Maly T (Hrsg.) Die ethischen Grundlagen des Privatrechts. Springer Verlag, Wien /New York Beier K, Wiesemann C (2010) Die Dialektik der Elternschaft im Zeitalter der Reprogenetik. Ein ethischer Dialog. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58(2010)6:885-871 Bernat E (1985) Lebensbeginn durch Menschenhand. Probleme künstlicher Befruchtungstechnologien aus medizinischer, ethischer und juristischer Sicht. Leykam, Graz Birnbacher D (1997) Patientenautonomie und ärztliche Ethik am Beispiel der prädiktiven Diagnostik. In: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2, 105–119 Birnbacher D (2002) Habermas’ ehrgeiziges Beweisziel – Erreicht oder verfehlt? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50(1): 121–126 Coester-Waltjen D (2012) Reichweite und Grenzen der Patientenautonomie von Jungen und Alten – Ein Vergleich. In: Medizinrecht 30(9): 553–560 Coester-Waltjen D (2001) Elternschaft außerhalb der Ehe – Sechs juristische Prämissen und Folgerungen für die künstliche Befruchtung. In: Arndt D, Obe G (Hrsg.) Fortpflanzungsmedizin in Deutschland. Wissenschaftliches Symposium des Bundesministeriums für Gesundheit in Zusammenarbeit mit dem Robert Koch-Institut vom 24. bis 26. Mai 2000 in Berlin. Nomos, Baden-Baden Coester-Waltjen D (1986) Die künstliche Befruchtung beim Menschen – Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen, Gutachten B für den 56. Deutschen Juristentag. CH Beck, München Coester-Waltjen D (1992) Künstliche Fortpflanzung und Zivilrecht. In: FamRZ 1992: 369–374 Daele W van den (1985) Mensch nach Maß. CH Beck, München Deutscher Bundestag (1989) Drucksache 11/5460, Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz – ESchG) Dreier R (1981) Recht und Moral. In: Dreier R (Hrsg.) Recht-Moral-Ideologie. Frankfurt/M Dorsch A (1992) Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes European Society of Human Reproduction and Embryology. Stellungnahme. In: Human Reproduction (2002) 17(5):1407 Eibach U (1986) Gentechnik – Der Griff nach dem Leben. Brockhaus, Witten Firster H, Lehmann MC (2012) Die gesetzliche Regelung der Präimplantationsdiagnostik. In: JZ 67(13): 659–667(9) Gernhuber J, Coester-Waltjen D (2010) Familienrecht. 6. Aufl. C. H. Beck, München

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Hague Conference, Prel. Doc. No. 10 of March 2012 for the attention of the Council of April 2012 on General Affairs and Policy of the Conference. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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TEIL 6 PATIENTENAUTONOMIE UND BIOPOLITIK Herausgegeben von S. Schicktanz, C. Wiesemann

Urban Wiesing

Die Autonomie des Patienten im Licht jüngster politischer Entscheidungen Einleitung Die Patientenautonomie ist ein thematischer »Klassiker« in der medizinethischen Diskussion der letzten Jahrzehnte. Die moderne Bioethik darf sich – grob gesprochen – auch als eine Bewegung verstehen, die zu einem erhöhten Respekt der Selbstbestimmung des Patienten beitragen wollte und dabei durchaus erfolgreich war. Die Patientenautonomie erweist sich damit jedoch keineswegs als thematisch abgeschlossen, sondern als ein äußerst komplexes Phänomen, das sich auf verschiedenen Ebenen anhand ganz unterschiedlicher Perspektiven und mit ebensolchen Methoden beleuchten lässt und durchaus weiterhin der kritischen Bearbeitung bedarf. Dies gilt insbesondere für die praktische Umsetzung dieser ethischen Norm. Hier sei das Thema mit Bezug auf wichtige, jüngere politische Entscheidungen in der Bundesrepublik untersucht, als da sind: das Dritte Betreuungsrechtsänderungsgesetz zu Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten vom 1. September 2009, das Gendiagnostikgesetz vom 1. Februar 2010, das Gesetz zur Präimplantationsdiagnostik vom 23. November 2011 und die Änderung der (Muster-)Berufsordnung im Hinblick auf den ärztlich assistierten Suizid auf dem Deutschen Ärztetag vom 31.5. bis 3.6.2011 in Kiel. Auch wenn es sich um unterschiedliche Themenbereiche und Verantwortliche handelt, so verbindet alle Normgebungen ein enger Bezug zur Selbstbestimmung des Patienten. Zudem lässt sich eine Tendenz zum vermehrten Respekt der Autonomie eines Patienten feststellen, dies jedoch mit Abweichungen und unterschiedlichen Akzenten. Eingangs sei noch einmal an die bekannte Unterscheidung erinnert, dass die Autonomie zu achten in der Medizin stets zwei Aspekte beinhaltet: einerseits Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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ein Abwehrrecht des Patienten gegen Einflussnahmen von anderen Menschen oder Institutionen, andererseits ein Anspruchsrecht des Patienten auf Unterstützung, um in die Situation versetzt zu werden, eine autonome Entscheidung fällen zu können. In der Medizin sind die zu treffenden Entscheidungen nicht selten höchst komplex, sachlich schwierig und zugleich von erheblicher, zuweilen existentieller Tragweite für den Patienten. Aus diesem Grund sind zur Patientenautonomie Information und Unterstützung von Seiten der Experten notwendig, um den Patienten zu befähigen, eine autonome Entscheidung für sich treffen zu können. Man spricht nicht umsonst vom informierten Einverständnis und nicht nur vom Einverständnis, das es zu respektieren gilt. Änderung im Betreuungsrecht Das Dritte Betreuungsrechtsänderungsgesetz (»Patientenverfügungsgesetz«) vom 1. September 2009 stellt ohne Zweifel eine Regelung dar, die für die Patientenautonomie von besonderer Bedeutung ist, und zwar für den Fall, dass sich der Patient selbst nicht mehr äußern kann. Es ist letztlich von dem Bestreben geprägt, dass der individuelle Wille des Patienten auch in dieser Situation zur Geltung kommt. Das Gesetz schreibt einen Respekt der Selbstbestimmung des Patienten bei fehlender Äußerungsfähigkeit vor, führt Differenzierungen zum Patientenwillen und prozedurale Vorgaben ein und erhöht die Rechtssicherheit im Umgang mit dem erklärten, vormals geäußerten oder mutmaßlichen Patientenwillen. Es schreibt den Ärzten, Betreuern und Bevollmächtigen klare Verhaltensweisen vor. Das Gesetz verbietet medizinischen und pflegerischen Einrichtungen, die Abfassung einer Patientenverfügung zu verlangen. Es entbindet damit von Zwang − jeder Bürger darf, keiner muss. Auch wenn vieles, was das Gesetz vorschreibt, schon zuvor von zahlreichen Ärzten auf diese oder ähnliche Weise praktiziert wurde, so darf man doch nicht unterschätzen, dass eine bestimmte ärztliche Praxis nun von Gesetz wegen vorgeschrieben ist. Zudem reagiert das Gesetz auf eine Gefahr, die bei der Betonung der Patientenautonomie stets gegeben ist: Bekanntermaßen können sich Menschen, aus welchen Gründen auch immer, zu einer Form der Selbstbestimmung entscheiden, die nicht ihrem eigentlichen Willen entspricht und insofern nicht authentisch ist. Der Mensch ist nun mal irrtumsanfällig, auch in Bezug auf seinen eigentlichen Willen. Das neue Gesetz versucht durch mehrere Bestimmungen, nicht authentische Selbstbestimmung zu vermeiden. Die gesetzliche Vorschrift, dass ein Patient eine Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht zwar schriftlich anfertigen muss, sie aber jederzeit formlos widerrufen kann, versucht voreilige Verfügungen zu verhindern und aktuellen, geänderten Wünschen des Patienten möglichst umgehend Geltung zu verschaffen. Das dialogische Prinzip Die gleiche Intention verfolgt ein höchst interessanter Aspekt des Gesetzes, der auf eine bekannte Schwierigkeit bei der Umsetzung von Patientenverfügungen eingeht. Das Gesetz schreibt in prozeduraler Hinsicht ein dialogisches Verfahren Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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zwischen den Ärzten, Vorsorgebevollmächtigten bzw. Betreuer und den Angehörigen vor; es versucht, mit der Aufwertung des Vorsorgeberechtigten eine situativ angemessene Anwendung des Patientenwillens – und damit eine situativ angemessene Selbstbestimmung des Patienten – zu ermöglichen. Es will Automatismen verhindern, die dazu führen, den situationsbezogenen Willen des Patienten zu missachten. Man darf das dialogische Prinzip als eine geschickte Antwort auf unvermeidliche strukturelle Schwierigkeiten werten: Denn eine Patientenverfügung kann naturgemäß die Komplexität und die Kontingenzen der Situation, in der sie Wirkung entfalten soll, nicht vollständig einbeziehen. Und die Frage, ob eine Patientenverfügung auf eine bestimmte Situation zutrifft, kann eine Patientenverfügung niemals selbst beantworten. Selbst klare Vorgaben einer Patientenverfügung bedürfen einer Interpretation, um auf den einzelnen Fall angewandt zu werden. Stets ist die Frage zu stellen, inwieweit die konkrete Situation des Patienten unter die von ihm aufgestellte Regel fällt oder nicht. Es bedarf immer der Urteilskraft, genauer: der subsumierenden Urteilskraft. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Einzelereignisse, situative Entscheidungen oder einzelne Taten einem allgemeinen Prinzip oder Gesetz unterzuordnen. Das ist unweigerlich so, nicht nur bei schlechten Patientenverfügungen – bei denen ist es nur komplizierter, wenn nicht gar unmöglich. Es handelt sich um eine der Aporien praktischer Vernunft, die Applikationsaporie, wie Wolfgang Wieland sie genannt hat (Wieland 1989). Wenn es strukturbedingt der Urteilskraft bedarf, dann wird diese durch das dialogische Prinzip des neuen Gesetzes auf mehrere Schultern verteilt. Idealerweise ist darunter eine Person, die mit dem Willen des Patienten so vertraut ist, dass sie ihn situationsgerecht artikulieren und zur Geltung bringen kann. Damit soll die Irrtumswahrscheinlichkeit bezüglich des authentischen, situationsbezogenen Patientenwillens gesenkt werden. Für den Patienten ergibt sich die Konsequenz, die Patientenverfügung vorab möglichst mit einer Person des Vertrauens zu besprechen, die im Sinne des dann nicht mehr äußerungsfähigen Patienten entscheiden soll. Fehlende Beratung Einen Aspekt hat das Gesetz, ganz anders als das Gendiagnostikgesetz (das Nähere sogleich), außer Acht gelassen: die Beratung. Das Gesetz zu den Patientenverfügungen respektiert zwar im Sinne eines negativen Abwehrrechtes die Selbstbestimmung des Patienten, schweigt jedoch dazu, was zu tun ist, um den Patienten in die Lage zu versetzen, seine Selbstbestimmung zu entwickeln und auszuüben. Es schützt zwar die Selbstbestimmung, es trägt aber nicht dazu bei, diese Fähigkeit zu stärken. Dabei ist es doch sinnvoll und klug, sich über die jeweiligen medizinischen Aspekte vorab vor einer Patientenverfügung vom Arzt beraten zu lassen. Eine Pflicht zur Beratung ließe sich schwerlich begründen, aber ein verpflichtendes Beratungsangebot hätte den Vorteil, dass sich eine Beratung über die gesetzlichen Krankenkassen abrechnen ließe und damit häufiger in Anspruch genommen werden dürfte. Ein Gespräch mit dem Arzt über eine PatientenverClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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fügung sollte nämlich nicht »zwischen Tür und Angel« geschehen; es braucht Zeit, und es ist nur verständlich, dass Ärzte diese Leistung entlohnt wissen wollen. Hier hat der Gesetzgeber unverständlicherweise und ganz anders als beim Gendiagnostikgesetz die einforderungsrechtlichen Aspekte außer Acht gelassen. Kurzum: Das neue Gesetz zu den Patientenverfügungen schützt die Selbstbestimmung des Patienten in der Zeit, in der er sich nicht mehr äußern kann. Es hat mehrere Vorkehrungen getroffen, um unbedachte und wenig authentische »Selbstbestimmung« zu verhindern und um Änderungen der eigenen Wünsche Geltung zu verschaffen. Bedauerlicherweise äußert sich das Gesetz nicht zu einer Beratung, die ein weiteres Element gewesen wäre, um gut informierte Selbstbestimmung zu ermöglichen. Es stärkt die Abwehrrechte des Patienten gegen Entscheidungen von anderen, unterlässt es jedoch, die Selbstbestimmungsfähigkeit zu fördern. Das Gendiagnostikgesetz Ganz anders verfährt das Gendiagnostikgesetz (GenDG) vom 1. Februar 2010. Es setzt in beiderlei Hinsicht hohe Maßstäbe. Es räumt dem Patienten ein uneingeschränktes Verweigerungsrecht zur Vornahme von gendiagnostischen Untersuchungen ein – ausgenommen sind lediglich gendiagnostische Untersuchungen in Strafverfahren oder zum Infektionsschutz. Es stärkt das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Patienten und begrenzt die Nutzung der Ergebnisse bereits durchgeführter Gentests durch Versicherungen und Arbeitgeber. Das Gendiagnostikgesetz legt einen Arztvorbehalt fest, fordert eine umfangreiche Aufklärung des Patienten, ohne die eine genetische Untersuchung nicht vorgenommen werden darf, und stets eine schriftliche Einwilligung. Der Anspruch des Patienten auf Aufklärung und Beratung ist detailliert im Gesetz verankert (§§ 9–10) und zudem so umfangreich, dass das Gesetz bereits kurz nach seiner Inkraftsetzung kritisiert wurde. Es reguliere zu viel, sei zu bürokratisch und verhindere dadurch sinnvolle Untersuchungen (Richter-Kuhlmann, SiegmundSchulze 2011). Die Kapazitäten zu solch umfangreichen Beratungen seien in der BRD gar nicht vorhanden (Henn 2011). Vor allem die Anforderungen an die Aufklärung eines Patienten seien nicht selten überzogen. So werde das Neugeborenenscreening angesichts der hohen Ansprüche an die Aufklärung nicht mehr so durchgeführt, wie vor der Verabschiedung. Deshalb fordert die nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in einer Stellungnahme: »Im Gendiagnostikgesetz sollte das Neugeborenenscreening jedoch gesondert und unter Berücksichtigung der besonderen Untersuchungssituation geregelt werden.« (Leopoldina 2010, 6) Das Gesetz sei überdies zu formalistisch, wenn es eine Frist zur Lagerung der gendiagnostischen Ergebnisse von nur zehn Jahren vorschreibe, da eine längere Frist »im Interesse der Ratsuchenden selbst und der Familienangehörigen« in manchen Fällen hilfreich sein könne (Leopoldina 2010, 6). Das Gesetz hat in der Praxis zudem mit dem bereits im Vorfeld häufig erhobenen Vorwurf der Methodendiskriminierung zu kämpfen – mit Konsequenzen für die Selbstbestimmung eines Patienten: Sollte eine genetische Untersuchung eine Krankheitsprädiktion erlauben, unterliegt das Verfahren den umfangreichen Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anforderungen des Gendiagnostikgesetzes. Wenn eine vergleichbare Vorhersage aber auf ›traditionelle‹ medizinische Weise ermittelt wird (z. B. durch körperliche Untersuchung, Ultraschall, nicht-genetische Blutuntersuchung), dann sind die Anforderungen an Aufklärung und Einwilligung deutlich geringer. Die Unterscheidung zwischen genetischer und nicht-genetischer Untersuchung – so der Vorwurf – sei zuweilen sachlich unangemessen, es gehe doch im Prinzip um die Bedeutung der Prädiktion für den Patienten (Henn 2011). Diese Ungleichbehandlung hat zur Folge, dass sich die einforderungsrechtlichen Aspekte der Aufklärung nicht an der Bedeutung der Prädiktion für den Patienten, sondern an der Methode orientieren. Zudem vertritt das Gendiagnostikgesetz in einer anderen Hinsicht bei der Selbstbestimmung von Bürgern eine Extremposition. Generell gilt es bei der Achtung der Autonomie des Patienten zu berücksichtigen, dass dessen Entscheidung das Wohl anderer Menschen beeinflussen oder anderweitige Rechtsgüter betreffen kann. Einerseits berücksichtigt das GenDG die Autonomie eines zukünftig Betroffenen: Bei vorgeburtlicher genetischer Diagnostik darf nicht nach Krankheiten gesucht werden, die nach dem 18. Lebensjahr auftreten (GenDG §15 Abs. 2). Die Entscheidung zu einem Gentest in dieser Frage dürfen die Eltern nicht stellvertretend vornehmen, sondern allenfalls der Erwachsene selbst. Andererseits hat das GenDG den Nutzen möglicher Betroffener nicht berücksichtigt: Wenn ein Arzt durch eine genetische Untersuchung seines Patienten weiß, dass ein Angehöriger des Patienten mit einer hohen Wahrscheinlichkeit ebenfalls an einer bestimmten genetischen Erkrankung leiden wird, die man mit Aussicht auf Erfolg behandeln kann, so hat der Arzt nicht das Recht, den Angehörigen darüber zu informieren, wenn es der Patient nicht erlaubt. Das Gesetz sieht lediglich eine Empfehlung innerhalb der Beratung vor: »Ist anzunehmen, dass genetisch Verwandte der betroffenen Person Träger der zu untersuchenden genetischen Eigenschaften mit Bedeutung für eine vermeidbare oder behandelbare Erkrankung oder gesundheitliche Störung sind, umfasst die genetische Beratung auch die Empfehlung, diesen Verwandten eine genetische Beratung zu empfehlen« (GenDG §10 Abs. 3 S. 4).

Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese Empfehlung stets befolgt wird, widerspricht das GenDG anderen Regelungen, so der Berufsordnung, derzufolge ein Arzt befugt ist, die Schweigepflicht zu brechen, »soweit die Offenbarung zum Schutze eines höherwertigen Rechtsgutes erforderlich ist« ((Muster-)Berufsordnung § 9.2). Deshalb fordert z. B. die Stellungnahme der Leopoldina: »Bei einer behandelbaren erblichen Krankheit sollte die Fürsorgepflicht des Arztes nicht grundsätzlich nachrangig gegenüber der Schweigepflicht rangieren. Der Arzt sollte im Einzelfall abwägen, welches Rechtsgut höher einzustufen ist.« (Leopoldina 2011, 60)

Diese Abwägung der Autonomie eines Patienten gegen andere Güter ist im GenDG nicht vorgesehen (siehe auch Duttge 2011, 7–9). Insofern schützt das Gendiagnostikgesetz die Selbstbestimmung des Patienten sehr deutlich, stellt hohe Anforderungen an Aufklärung und Beratung, die Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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zumindest in einigen Fällen als bürokratisch, wenn nicht gar als überzogen gelten, sieht jedoch keinerlei Abwägung zwischen der Selbstbestimmung eines Patienten und anderen höherwertigen Rechtsgütern vor. Das Resultat aus Sicht der Leopoldina: »Wesentliche Teile des Gesetzes sind dringend novellierungsbedürftig« (Leopoldina 2011, 60), oder, wie Wolfram Henn es ausdrückt: Es gibt »eine ganze Menge ›Baustellen‹« (Henn 2011, 25). Gesetz zur Präimplantationsdiagnostik Das Gesetz zur Präimplantationsdiagnostik vom 21.11.2011 regelt eine Problematik, die sich von den anderen hier besprochenen insofern grundlegend unterscheidet, als es nicht nur um die Selbstbestimmung einer Frau oder eines Paares geht, sondern stets eine befruchtete Eizelle von den Handlungen insofern betroffen sein kann, als sie nicht implantiert und damit absterben wird. Allein deswegen hat das Gesetz hohe Hürden für die Entscheidung einer Frau vorgesehen. Nur wenn »auf Grund der genetischen Disposition der Frau, von der die Eizelle stammt, oder des Mannes, von dem die Samenzelle stammt, oder von beiden für deren Nachkommen das hohe Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit«

besteht oder die Untersuchung vorgenommen wird »zur Feststellung einer schwerwiegenden Schädigung des Embryos [. . .], die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Tot- oder Fehlgeburt führen wird« (ESchG § 3a (2), Bundesrat 2011), ist die PID nicht rechtswidrig. Eine Ethikkommission hat die Voraussetzungen vorab zu prüfen und muss ein positives Votum abgegeben haben. Diese Hürden kann man noch damit erklären, dass es bei der PID auch um eine befruchtete Eizelle geht, die bei allem Dissens über ihren moralischen Status zumindest eine gewisse moralische Schutzwürdigkeit besitzt – jedenfalls nach der Ansicht vieler ethischer Theorien und den Interpreten des Grundgesetzes. Das Gesetz widerspricht damit der bisher überwiegenden Lesart des Embryonenschutzgesetzes, der zufolge bei der Präimplantationsdiagnostik die Selbstbestimmung der Frau geringer zu werten sei als das Lebensrecht der befruchteten Eizelle. Insofern ist für diese Situation in Bezug auf die Selbstbestimmung der Frau bzw. des Paares ein Wandel vollzogen worden. Interessant ist jedoch in diesem Zusammenhang die selektive Nutzung des Autonomieprinzips in der politischen Debatte. Sowohl die Selbstbestimmung der Frau als auch das Lebensrecht des Kindes wurden – wie erwartet – als zentrale Argumente thematisiert und in den jeweiligen Gesetzesentwürfen unterschiedlich gewichtet. Für den Gesetzentwurf, der sich gegen die Zulassung der PID aussprach, war die Selbstbestimmung der Frau geringer zu werten als das Lebensrecht des Föten. Darin heißt es: »Demgegenüber steht kein höherrangiges Recht, das eine solche Verletzung rechtfertigen könnte.« (Bundestag 2011a, 8) Die Gesetzentwürfe für eine begrenzte Zulassung der PID sahen dies anders. Interessanterweise erwähnten die Gegner einer Zulassung der PID das Argument, die »selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft« von Menschen mit Behinderung sei durch eine Erlaubnis der PID gefährdet (Deutscher BundesClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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tag 2011a, 8–9). Hier wird dem Selbstbestimmungsrecht der Frau die selbstbestimmte Teilhabe anderer Menschen an der Gesellschaft gegenübergestellt, die durch die Praxis einer PID als gefährdet eingestuft wird. Die Gesetzentwürfe, die sich für eine begrenzte Zulassung der PID aussprachen, gingen darauf nicht ein. Unterschiedliche Wertungen in Vergleich zu dem bereits besprochenen Gendiagnostikgesetz werden hier sichtbar: Während das GenDG das konkrete Wohl eines anderen Bürgers, zumeist eines Verwandten, selbst bei gut zu behandelnder Krankheit nicht als Argument berücksichtigt, um die ärztliche Schweigepflicht zu brechen, wird bei der PID bereits die indirekte Auswirkung für Menschen mit Behinderung für die »selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft« als Argument gegen die PID angeführt, wenngleich auch nicht in der Begründung des erfolgreichen Gesetzentwurfs. Doch dieses Argument scheint sich in der praktischen Ausgestaltung des Verfahrens niedergeschlagen zu haben: Wie bereits erwähnt muss eine Ethikkommission in jedem einzelnen Fall prüfen, ob die Voraussetzungen für eine PID nach § 3a (2) ESchG gegeben sind: Liegt das hohe Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit vor oder einer schwerwiegende Schädigung des Embryos, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Tot- oder Fehlgeburt führen wird? Diese Kommissionen bestehen – so der Entwurf einer Verordnung über die rechtmäßige Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik (Stand 1.8.2012) – aus vier Sachverständigen der Fachrichtung Medizin, jeweils einer oder einem Sachverständigen der Fachrichtung Ethik und Recht sowie zwei Vertretern »der für die Wahrnehmung der Interessen der Patientinnen und Patienten und der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen auf Bundesebene maßgeblichen Organisationen« (Bundesministerium der Gesundheit 2012, 6). Das ist eine ungewöhnliche Konstruktion: Warum sollen Vertreter von bestimmten Organisationen prüfen, ob die Voraussetzungen nach § 3a (2) ESchG gegeben sind? Dient es der Qualität dieses Urteils, Mitglied einer bestimmten Organisation sein? Bei Gerichten wird in der Regel anders verfahren: Ob eine Handlung dem Gesetz entspricht oder nicht, wird von einer Person beurteilt, bei der eine Mitgliedschaft in »maßgeblichen« Organisationen nicht vorausgesetzt wird und die vor allem zur Unparteilichkeit verpflichtet ist – von einem Richter. In einer Hinsicht waren sich aber die Vertreter der verschiedenen Gesetzesentwürfe einig: Keine Frau darf zur PID gezwungen werden. Insofern fand eine PID gegen den Willen der Frau in der politischen Diskussion gar nicht erst Erwähnung. Interessant ist auch der Grund, der zur Selbstbestimmung der Frau bei der PID berechtigt: Während der § 218 eine Erkrankung des ungeborenen menschlichen Lebens ganz bewusst nicht als Argument für eine Abtreibung erwähnt, nennt das Gesetz zur PID die Erkrankung eines Kindes als ein Argument, den betroffenen Embryo nicht zu transferieren. Damit hat der Gesetzgeber die Inkonsistenz der Gesetzgebung um das ungeborene Leben ein weiteres Mal vorangetrieben.

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Die Entscheidung des Deutschen Ärztetages zum ärztlich assistierten Suizid Abschließend sei eine gesundheitspolitische Entscheidung untersucht, die nicht in der Verantwortung des Gesetzgebers, sondern der verfassten Ärzteschaft liegt: das auf dem Deutschen Ärztetag in Kiel 2011 ausgesprochene berufsrechtliche Verbot des ärztlich assistierten Suizids. Die Konstellation unterscheidet sich von den vorher besprochenen gesetzlichen Änderungen, denn der Deutsche Ärztetag hat kein Gesetz verabschiedet (dafür fehlt ihm das Mandat), sondern die (Muster-)Berufsordnung (MBO) geändert. Der neue § 16 lautet: »Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.« (Bundesärztekammer 2012)

Durch den letzten Satz ist der ärztlich assistierte Suizid erstmals berufsrechtlich untersagt, sofern die einzelnen Landesärztekammern diesen Satz in die jeweilige Berufsordnung übernehmen. Zwar äußert sich der § 16 nicht zur Ethik des Suizids und zur Ethik der Beihilfe beim Suizid im Allgemeinen, verbietet jedoch den Angehörigen des ärztlichen Berufsstandes, eine Selbsttötung ihrer Patienten zu unterstützen. Einzig aufgrund der Zugehörigkeit zum Berufsstand der Ärzte sind deren Mitgliedern entsprechende Handlungen verwehrt. Damit geht die (Muster-)Berufsordnung über das Strafrecht hinaus; sie verbietet dem Arzt, was dem Bürger erlaubt ist. Denn die Bundesrepublik Deutschland stellt den Suizid nicht unter Strafe und konsequenterweise auch nicht die Beihilfe beim Suizid. Die derzeitigen politischen Überlegungen beschäftigen sich nur mit einem Verbot der gewerbsmäßigen Beihilfe zum Suizid. Auch wenn die (Muster-)Berufsordnung das berufliche Verhalten von Ärzten regelt und nicht das von Patienten, so sind letztlich die Patienten betroffen. Sie sind in ihrer Gestaltung des Sterbens eingeschränkt, weil sie aufgrund des neuen § 16 MBO keine Hilfe von Ärzten bei einem Suizid erwarten dürfen. Man muss in diesem Zusammenhang erwähnen, dass der Berufsstand der Ärzte – unbesehen der moralischen Aspekte – fachlich für eine Hilfe bei der Selbsttötung am besten geeignet ist, und zwar in zweifacher Hinsicht: 1. Wie bei der Abfassung von Patientenverfügungen gilt auch für den Suizid, dass Menschen sich zu einer Form der Selbstbestimmung entscheiden können, die nicht authentisch ist und nicht ihrem eigentlichen Willen entspricht. Es ist bekannt, dass Wünsche nach Selbsttötung vielfach überlagert sind von Depressionen oder bedingt sind durch schmerzvolle Zustände, die erfolgreich behandelt werden könnten. Ärzte verfügen über das Wissen, um behandelbare Depressionen oder affektive Überlagerungen bei einem Wunsch nach Suizid feststellen zu können; sie können beurteilen, ob der Patient lege artis behandelt wird oder ob der Wunsch nach Selbsttötung einer unzureichenden Schmerztherapie zuzuschreiben ist. Insofern könnten sie Formen der Selbstbestimmung feststellen, die Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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nicht dem eigentlichen Willen des Patienten entspringen, sondern der Verzweiflung aufgrund von veränderbaren Umständen. 2. Ärzte verfügen zudem über das Wissen, eine Selbsttötung mit Blick auf die dabei zu verwendenden Mittel so human wie möglich zu gestalten. Insofern verhindert das Verbot der (Muster-)Berufsordnung keineswegs jedwede Hilfe bei der Unterstützung zur Selbsttötung. Bürger dürfen weiterhin andere Bürger bei der Selbsttötung unterstützen. Jedoch versagt das berufsrechtliche Verbot dem Patienten die fachlich kompetenteste Hilfe. Mit welchen Argumenten dürfte die verfasste Ärzteschaft den Patienten die fachlich beste Hilfe vorenthalten? Nur mit Argumenten, die vom Mandat der Ärztekammern gedeckt sind, und das sind ausschließlich berufsbezogene Argumente. Demnach darf ein Ärztetag nicht entscheiden, welche Formen der Gestaltung des Sterbens ethisch akzeptabel sind oder nicht. Ob die Bürger ärztliche Hilfe beim Suizid unter bestimmten Umständen für ethisch geboten halten, bedarf keiner Bewertung durch den Ärztetag. Er hat zur Kenntnis zu nehmen, dass die Bürger in dieser Frage unterschiedlicher Meinung sind und sich eines Urteils über die jeweiligen ethischen Vorstellungen der Bürger über ihr eigenes Sterben zu enthalten, zumal der Gesetzgeber der Bundesrepublik – wie erwähnt – weder den Suizid noch die Beihilfe dazu unter Strafe stellt. Ein Ärztetag darf in dieser Frage auch nicht über die ethische Einstellung eines Teils ihrer Mitglieder entscheiden. Denn auch Ärzte besitzen unterschiedliche Überzeugungen zu diesem Thema. Nach einer von der Bundesärztekammer beauftragten Studie können sich etwa ein Drittel der Ärzte vorstellen, Hilfe bei einem Suizid zu leisten (Institut für Demoskopie Allensbach 2010). Dem Ärztetag obliegt es nicht, bestimmte ethische Einstellungen der Berufsmitglieder an sich zu beurteilen, sondern allenfalls unter der Professionsperspektive. Zwar darf sich ein Ärztetag in einer offenen Gesellschaft zu vielen Themen äußern. Wenn er jedoch berufsrechtlich die Freiheit seiner Mitglieder eingrenzt – und damit indirekt die Möglichkeiten der Patienten –, dann nur im Rahmen seines Auftrags: Der Ärztetag hat als ein Organ der verfassten Ärzteschaft den Berufsstand so zu organisieren, dass er seine genuine Aufgabe erfüllen kann. Er darf Normen in die Berufsordnung nur aufnehmen, um Vertrauen und Funktionalität der Ärzteschaft zu gewährleisten, wie es die Berufsordnung selbst betont: »Mit der Festlegung von Berufspflichten der Ärztinnen und Ärzte dient die Berufsordnung zugleich dem Ziel, – das Vertrauen zwischen Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen und Patienten zu erhalten und zu fördern [. . .]« (MBO, Präambel).

Doch ist das Vertrauen in die Ärzte und den Ärztestand gefährdet, sofern der ärztlich assistierte Suizid unter strengen Bedingungen erlaubt ist? Anders gefragt: Kann man Vertrauen gewährleisten, wenn man den Patienten in ihrer Selbstgestaltung des Sterbens Hilfe vorenthält? Weder empirische Erkenntnisse noch theoretische Überlegungen liefern Argumente, denen zufolge das Vertrauen in die Ärzte und die Ärzteschaft bei ärztlich assistiertem Suizid zwingend gefährdet ist. Es liegen keine wissenschaftlichen Untersuchungen vor (Jox 2011, 178), die Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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dort einen Vertrauensverlust belegen, wo der ärztlich assistierte Suizid erlaubt ist. Zudem sind in diesen Ländern keine Klagen über schwerwiegende Beeinträchtigungen des Arzt-Patient-Verhältnisses zu hören (Jox 2011, 179). In dem Urteil Carter vs. Canada hat der Supreme Court von British Columbia unlängst eine 395seitige Begründung geschrieben und dabei gründlich wie kaum je zuvor die empirischen Erkenntnisse zur Arzt-Patient-Beziehung und dem ärztlich assistierten Suizid untersucht. Das Ergebnis ist eindeutig. Es bestehen Risiken, aber die sind beherrschbar: »Research findings show differing levels of compliance with the safeguards and protocols in permissive jurisdictions. No evidence of inordinate impact on vulnerable populations appears in the research. Finally, the research does not clearly show either a negative or a positive impact in permissive jurisdictions on the availability of palliative care or on the physician-patient relationship. [. . .] The defendants identify a number of areas of risk for patients if physicianassisted death is permitted, for example relating to the patients’ ability to make well-informed decisions and their freedom from coercion or undue influence, and to physicians’ ability to assess patients’ capacity and voluntariness. The evidence shows that risks exist, but that they can be very largely avoided through carefullydesigned, well-monitored safeguards.« (Supreme Court of British Columbia 2012)

Auch die theoretischen Argumente für einen Vertrauensverlust sind nicht überzeugend. Warum sollte das individuelle Eingehen auf die Überzeugungen der Patienten zur Gestaltung des Sterbens unter Wahrung von strengen Vorsichtsmaßnahmen zu einem Vertrauensverlust führen? Vertrauen entsteht ja auch dadurch, dass der Patient erwarten kann, dass der Arzt mit ihm über seine Vorstellungen spricht, sie ernst nimmt und seinen wohlerwogenen Wünschen zur Lebens- und Sterbensgestaltung folgt. Die Wahrung der Selbstbestimmung des Patienten in der Frage, wie er sterben möchte, dürfte das Vertrauen in die ärztliche Profession nicht gefährden. Wenn diese Selbstbestimmung des Patienten aber durch ärztliches Handeln nicht gewährleistet ist, dann droht ein Vertrauensverlust. Wenn es nicht gelingen sollte, dass die Ärzte angemessen auf die unterschiedlichen ethischen Überzeugungen der Bürger reagieren, dann könnten sich Bürger brüskiert und in ihrer Lebens- bzw. Sterbensgestaltung von Ärzten gehindert sehen. Wenn Vorsichtsmaßnahmen unterblieben und Patienten zu einem Suizid gedrängt würden, dann wäre das Vertrauen gefährdet. Wenn Qualitätsstandards, z. B. bei Schmerz- oder Depressionsbehandlungen, nicht eingehalten würden, dann wäre das Vertrauen gefährdet. Wenn Ärzte das Angebot eines assistierten Suizids an Patienten herantragen, die dies aufgrund ihrer ethischen Überzeugungen niemals wollten, dann wäre das Vertrauen in die Ärzte gefährdet. Die Patienten hätten Anlass zur Vermutung, dass der Arzt nicht ihr Wohl und ihren Willen in den Mittelpunkt der Entscheidungen stellt. Anstatt den ärztlich assistierten Suizid kategorisch abzulehnen, hätte der Ärztetag die Bedingungen ausgestalten sollen, um die Selbstbestimmung der Bürger bei höchst unterschiedlichen individuellen Vorstellungen zur Geltung kommen zu lassen. Er hätte Vorsichtsmaßnahmen und Regelungen beschließen sollen, die Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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verhindern, dass Bürger gegen ihren eigentlichen Willen zum Suizid gedrängt werden. Doch dies hat er unterlassen (Bundesärztekammer 2011) Kurzum: Der Beschluss des Deutschen Ärztetages von 2011 hat über sein Mandat hinaus die Unterstützung bei der Selbstbestimmung der Patienten (und zahlreicher Ärzte) beschränkt. Damit nicht genug: Die Situation beim ärztlich assistierten Suizid wird aufgrund des bundesdeutschen Föderalismus noch einmal komplizierter. Wegen der Zuständigkeit der Bundesländer müssen die Landesärztekammern die (Muster-)Berufsordnung jeweils in ihre Berufsordnung übernehmen. Doch die Entscheidung des Deutschen Ärztetages zum ärztlich assistierten Suizid ist offensichtlich selbst innerhalb der Ärzteschaft höchst umstritten. Einzelne Landesärztekammern haben die Formulierung des neuen § 16 nicht in ihre Berufsordnung übernommen oder eine abgeschwächte Formulierung gewählt. Sie weichen damit von der Gepflogenheit ab, die (Muster-)Berufsordnung ohne substantielle Änderung in der jeweiligen Berufsordnung einer Landesärztekammer zu übernehmen. Es droht ein deutscher Flickenteppich an innerärztlichen Regulierungen zu diesem Thema, der dem Bürger schwerlich zu vermitteln sein dürfte, und ein innerdeutscher Suizid-Tourismus. Patientenautonomie in den politischen Entscheidungen der letzten Jahre Die letzten Jahre haben für den Respekt der Patientenautonomie hochinteressante und gewichtige politische Entscheidungen gebracht. Man kann darin eine Tendenz, aber eben keine einheitliche Linie erkennen. Der Gesetzgeber ist offensichtlich eher gewillt, die Autonomie der Patienten zu stärken und zu achten als die Bundesärztekammer. Dies steht im Einklang mit der historischen Erkenntnis, dass nicht die Ärztekammern den zunehmenden Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten gefördert haben, sondern der Gesetzgeber sowie Gerichte mit einschlägigen Urteilen. Die Regulierungen zeigen die ganze Komplexität der Problematik. Unterschiedliche Aspekte der Selbstbestimmung des Patienten wurden verschieden gewichtet. Sowohl in Bezug auf den Einforderungsaspekt als auch bei Konflikten zwischen Selbstbestimmung und dem Wohl Dritter haben die in letzter Zeit verabschiedeten Gesetze ungleiche Gewichtungen vorgenommen. Die Beratung bei gendiagnostischen Untersuchungen ist Pflicht, ebenso bei der PID, bei Patientenverfügungen jedoch wird sie nicht einmal erwähnt. Die gesellschaftliche Auswirkung von Präimplantationsdiagnostik auf die »selbstbestimmte Teilhabe« an der Gesellschaft von Menschen mit Behinderung wurde politisch angeführt, während gleichzeitig hilfreiche Maßnahmen für Angehörige bei einer gendiagnostischen Untersuchung nicht verwirklicht werden können, wenn der Patient den Arzt nicht von der Schweigepflicht entbindet. Auch wenn die Tendenz hin zu mehr Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten erkennbar ist, so erscheinen die Regelungen in der Gesamtschau inkohärent. Freilich, die historische Erfahrung lehrt, dass man auch nichts anderes erwarten durfte. Selten ist die Normgebung vollständig kohärent gewesen; aber zumindest die Forderung, einigermaßen kohärente Normen zu beschließen, sollte man deswegen nicht aufgeben. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Wiesing: Die Autonomie im Licht politischer Entscheidungen

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Günter Feuerstein

Biopolitische Paradoxien der Patientenautonomie Die Rede von der Biopolitik. Eine Vorbemerkung Biopolitik äußert sich in vielen Varianten und begrifflichen Lesarten: als Bevölkerungspolitik, Rassenpolitik, Eugenik, und damit als Handlungsfeld oder Teilgebiet einer Politik, die menschliches Leben als gesellschaftliche Ressource in den Blick nimmt und zum Objekt einer produktivitätsorientierten Regulierung und Steuerung macht (Lemke 2007). Letzteres würde auch auf Public Health Programmatiken zutreffen. Etabliert hat sich jedoch eine andere, auf Foucault zurückreichende Lesart von Biopolitik. Sie bezeichnet eine historisch neuartige Form der Macht, die sich »als Ermöglichungsbedingung von Sinnprozessen absichtslos« konstituiert hat, die keine Machthaber, allenfalls Profiteure, kennt und insofern nicht repressiv ausgeübt wird. Biomacht und Biopolitik siedelt in Wahrnehmungsformen und Kommunikationsprozessen, in diskursiven Konstruktionen, Subjektivierungsweisen und erfahrbaren Sinnzusammenhängen einer verbesserungsfähigen menschlichen Natur (Gehring 2006, 14f.; Wehling 2008, 251 f.). Foucaults Begriff der Biopolitik fasst Leben als kollektive Realität, als objektivierbaren Gesellschaftskörper, der von den »substanzhaften Trägern« des Lebens abstrahiert. Gegenstand von Biopolitik sind daher nicht »singuläre menschliche Existenzen, sondern deren biologische Eigenschaften« auf der Bevölkerungsebene (Lemke 2007, 14). Dabei folgt Biopolitik einer »LebensSteigerungslogik«, in der Ökonomien eines flexiblen und veränderbaren »Normalen« die zentrale Rolle spielen (Gehring 2006, 13). Die Mechanismen der Integration des Einzelnen sind über liberale Gesellschaftsstrukturen vermittelt: Sie beruhen auf Autonomie, Individualität und Selbststeuerung, aber auch auf handlungsorientierenden Unterscheidungen in geeignet /ungeeignet, passend /unpassend, normal /abweichend (Lemke 2007, 64). Problematisch wird dieser Orientierungsrahmen durch die schleichende Verschiebung der – auch medizinethisch relevanten – Grenzverläufe und das Ineinanderfallen von Sollen und Wollen. Niedergang und Wiedergeburt des Paternalismus? Inspiriert vom Mainstream des angelsächsischen Bioethik-Diskurses hat sich seit etwa vier Jahrzehnten auch in der deutschen Medizinethik eine zunehmend antipaternalistische Haltung entwickelt. Die Stärkung von Patientenrechten, die sich in Begriffen wie Patientenautonomie, Selbstbestimmung, Entscheidungsfreiheit und informed consent manifestiert haben, signalisierte das Ende einer langen Tradition ärztlicher Bevormundung. Diese Entwicklung korrespondierte mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen: der fortschreitenden Entwicklung liberaler Einstellungen und Rechtsauffassungen ebenso wie der zivilgesellschaftlichen Durchsetzung und Internalisierung von persönlichen Freiheits- und Selbstbestimmungsrechten. Die »Attitüde des Paternalismus« passte einfach nicht mehr in die Zeit und sah sich zunehmendem Misstrauen ausgesetzt. So wurden »patriClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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archale Strukturen nicht mehr als selbstverständliche Normen« hingenommen, sondern gerieten in Verdacht, »unter dem Deckmantel wohlwollender Fürsorglichkeit Machtinteressen« zu verbergen, »die in der Verfügungsgewalt über andere befriedigt werden« (Pieper 1998, 292). Die Idee des Paternalismus, der altruistischen Bindung des Arztes an das Wohl – und damit nicht den Willen – des Patienten, steht zwar in latentem – und teils auch manifestem – Kollisionskurs zu dessen Freiheitsrechten, hatte aber durchaus eine Reihe von ethischen Legitimationsressourcen. Auf der sachlichen Ebene werden das Fürsorgeprinzip und die professionelle Dominanz des Arztes in medizinischen Entscheidungssituationen mit der asymmetrischen Beziehung zwischen Arzt und Patient begründet. Diese besteht zum einen im fachlichen Kompetenzgefälle, das bei komplexen Problemlagen durch Informationsvermittlung oft nicht hinreichend zu überbrücken ist, zum anderen in der oftmals personen- oder krankheitsbedingt eingeschränkten Autonomie des Patienten. Flankiert wird dieses paternalistische Begründungsmuster durch die medizinethische Bindung des Arztes an die normativen Prinzipien des Wohltuns und des Nichtschadens, aber auch durch den Sonderstatus der Ärzteschaft als Profession. Dieser sichert ihr das Privileg einer relativen Autonomie und Selbstregulierung, also das Recht zur eigenständigen Entwicklung kollektiver Normen und, eng damit verbunden, die professionelle Autonomie des individuellen Arztes. Die der organisierten Ärzteschaft übertragenen Kompetenzen der Selbstregulierung (Berufsordnung, Leitlinien, Richtlinien) und Selbstverwaltung (z. B. Honorarverteilung) bieten der Profession einen gewissen Schutz vor staatlichen Eingriffen, zugleich sind sie jedoch an die Verpflichtung geknüpft, diese Privilegien zum Nutzen der Bevölkerung, vor allem aber zum Wohl des einzelnen Patienten auszuüben. Genau darauf beruht das Vertrauensverhältnis zum Patienten, das für die Arzt-Patient-Beziehung bis heute als konstitutiv gilt. Unabhängig davon, wie es mit der Gemeinwohl- oder Patientenwohl-Bindung auf unterschiedlichen Handlungsebenen und in unterschiedlichen Praxisfeldern der medizinischen Profession faktisch bestellt sein mag, markiert die ethisch wie rechtlich weitgehende Durchsetzung des Prinzips der Patientenautonomie einen grundlegenden Wandel des kollektiven und individuellen Selbstverständnisses der Ärzteschaft. Zwar hat die medizinische Profession ihre Normbildungskompetenzen bewahrt und teils sogar verstärkt, läuft aber Gefahr, Teil einer vielschichtigen Dienstleistungsindustrie zu werden – und der einzelne Arzt zum bloßen Serviceanbieter, zu einer Art »Gesundheitsingenieur« (vgl. Feuerstein 2011a). Nach Hartzband und Groopman (2011) äußert sich dieser Bedeutungswandel des medizinischen Systems in einer neuen Terminologie, die aus der Welt der kommerziellen Transaktion entnommenen ist. Gemeint ist damit die weit verbreitete Transformation von »Patienten« in »Customers« oder »Consumers« und die von Ärzten und Pflegekräften in bloße »Provider«. Die Medikalisierung von vor- oder nicht-medizinischer Problemlagen, seien es einfach nur individuell erhöhte Erkrankungsrisiken, bloße Befindlichkeitsstörungen, soziale Verhaltensauffälligkeiten, oder aber das Gefühl, eigenen oder gesellschaftlichen Normen von Leistungsfähigkeit und körperlicher Attraktivität nicht zu entsprechen, eröffnete der Medizin Handlungsfelder, in denen paterClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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nalistisches Verhalten nur noch schwer begründbar ist. Denn dafür gibt es im eigentlichen Sinne keine Indikation. Vielmehr verschwimmen im inzwischen weiten Feld der »wunscherfüllenden Medizin« (Kettner 2009) die traditionellen Grenzen (Viehöfer, Wehling 2011), die feste Bezugspunkte medizinethischer Normbildung waren: die Grenze zwischen gesund und krank, zwischen Therapie und Enhancement, zwischen Normalität und Abweichung. Die Medizin hat hier ein Angebotsspektrum eröffnet, das oft keinen therapeutischen Handlungszwang mehr erkennen lässt, aber auf Nachfrage trifft und diese Nachfrage auch aktiv generiert. Das Konzept und die Rhetorik der Patientenautonomie haben diese Entwicklung durchaus begünstigt. Sie war, verbunden mit der Erosion des ärztlichen Fürsorgeprinzips, auch ein Türöffner für das Eindringen fremder Interessen und sachfremder Motive in die therapeutische Beziehung. In dem Maße, wie andere gesellschaftliche Orientierungssysteme, sei es nun das Recht, die Politik oder die Ökonomie, Einfluss auf das medizinische System entfaltet haben, kann der Patient allerdings nicht mehr sicher sein, dass der Arzt ausschließlich als dessen Anwalt fungiert – und nicht zugleich als Anwalt biopolitischer Programmatiken, versicherungswirtschaftlicher Vorgaben, rechtlicher Absicherungsstrategien, professionspolitisch ausgehandelter Standards und Regeln, pharmaindustrieller Interessen oder praxis-, klinik- und gesundheitsökonomischer Motive auftritt und damit gewissermaßen als Anwalt in eigener Sache. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Patienten mit der bioethischen Verabschiedung des Paternalismus tatsächlich im Reich der Freiheit gelandet sind. Vielleicht wurden sie einfach nur sich selbst überlassen. Oder es wurden ihnen unter dem Label der Autonomie neue Verantwortungslasten übertragen, wobei die gewonnene Autonomie durch subtil wirksame Zwänge zur Unterwerfung unter gesellschaftliche Erwartungen unterlaufen wird. Vielleicht hat das Gefühl der Selbstbestimmung den Patienten aber auch nur darüber hinweg getäuscht, dass der Paternalismus aus der Medizin nie völlig verschwunden war, sondern oft nur einen Formwandel vollzogen hat und auf anderen Wegen und mit anderen Zielen wirksam geworden ist. Im Folgenden wird es also darum gehen, das bioethische Prinzip der Patientenautonomie in seiner Ambivalenz und seinem oft nur fiktiven Charakter zu thematisieren. Dabei wird auch zu zeigen sein, wie Patientenautonomie auf zwei Ebenen unterlaufen wird: zum einen durch einen Paternalismus, der insofern »neu« ist, als er seine unbedingte Orientierung am individuellen Patientenwohl zugunsten professioneller Kalküle und gesundheitspolitischer Optionen relativiert, zum anderen durch einen »biopolitischen« Paternalismus, den der Patient insofern selbst verinnerlicht hat, als gesellschaftliche Zwänge und soziale Erwartungen bereits die Form des eigenen Wunsches angenommen haben. Bioethik und die Rhetorik der Autonomie Das Aufkommen der Bioethik in den 1970er Jahren war stark von der Vorstellung getrieben, das medizinische Handlungsfeld mit den Wert- und Moralvorstellungen einer pluralistischen Gesellschaft und einem individualistisch orienClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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tierten, liberal geprägten Menschenbild in Einklang zu bringen. Das Recht auf Autonomie, auf Selbstbestimmung über Angelegenheiten der eigenen Person, hat im liberalen Denken einen intrinsischen Wert. Es markiert nicht nur ein Abwehrrecht gegen die institutionelle Bevormundung, sondern ist stark positiv besetzt durch die Freiheit der Person, ihre eigenen Ziele verfolgen und nach eigenen Präferenzen Entscheidungen treffen zu können. In letzter Konsequenz beinhaltet dies auch das Recht auf Entscheidungen, die sich offenkundig als falsch, für die eigene Person als katastrophal und ruinös erweisen. Dieser auf John Stuart Mill zurückgehende strikte Antipaternalismus verabsolutiert das Autonomieprinzip, hält jede Intervention durch Dritte für rechtfertigungsbedürftig und lässt dafür nur einen Grund gelten, den der Schädigung anderer (Steckmann 2002, 78). Im bioethischen Autonomieprinzip, das in hohem Maße von nordamerikanischen Konzepten wie der 1979 erstmals erschienenen Prinzipienethik von Beauchamp und Childress (1994) geprägt wurde, spiegelt sich vor allem auch legalistisches Denken – und ein enger Bezug zum politischen Bedarf an der rechtlichen Regelung medizinischer Konfliktfelder und Grenzsituationen (vgl. Evans 2005, 200 f.). Die Rhetorik der Patientenautonomie betont zwar sehr die Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit des Einzelnen, blendet die systematisch damit verbundene Umverteilung von Risiken und Verantwortungslasten aber weitgehend aus. Kern des Autonomieprinzips ist die Nichtbeeinflussung, Nichtbehinderung oder gar Negierung des Willens selbstbestimmungsfähiger Personen durch den Arzt. Der Respekt vor der Autonomie des Patienten beinhaltet nach diesem Konzept allerdings auch, dass der Patient durch angemessene Informationen dazu befähigt wird, eine Entscheidung zu treffen, die nicht nur selbstbestimmt, sondern auch mit seinen Lebenszielen und Wertvorstellungen kompatibel ist. Dies verlangt sowohl psychische als auch reflexive Kompetenzen. In der medizinischen Alltagspraxis reduziert sich das Autonomiekonzept jedoch meist auf eine »minimalistische Interpretation«, den verfahrenstechnisch in den Mittelpunkt gerückten informed consent, der Patienten oft lediglich das Recht einräumt, aus einem »verhältnismäßig ›minimalen‹ Menü von Handlungsoptionen auszuwählen« (Huber 2006, 137). Das Prinzip der Patientenautonomie erweist sich auf den ersten Blick als ein zwar höchst zustimmungsfähiges Ideal – beim genaueren Hinsehen offenbaren sich jedoch eine Reihe theoretischer und praktischer Mängel, die in vielen Fällen daran zweifeln lassen, ob das Prinzip tatsächlich einlöst, was es verspricht: Erstens ist das Prinzip bereits in seinen konzeptionellen Grundlagen sehr facettenreich und lässt eine Vielzahl von Deutungsmustern und Auslegungsvarianten zu (Hildt 2006, 49ff.). Die Realisierung von Autonomie ist zudem an zahlreiche Voraussetzungen gebunden, insbesondere an Handlungsfreiheit, Willensfreiheit, Entscheidungsfreiheit, aber auch an die Angemessenheit der Information. Unter Bezugnahme auf den amerikanischen Sozialphilosophen Joel Feinberg beschreibt Birnbacher (1997, 107ff.) die Verwendungsweisen des Begriffs der Autonomie als »vielfach mehrdeutig«. Autonomie, verstanden als »persönliche Fähigkeit« ließe »Abstufungen« zu. Autonomie als »Ideal« wäre zudem in verschiedenen philosophischen Varianten denkbar und unter »realistischen Bedingungen« kaum zu verwirklichen. So würde auch die Autonomie Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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als »Rechtsanspruch« die Frage aufwerfen, inwieweit der Patient nicht nur angemessen informiert, sondern der Arzt auch verpflichtet wäre, das Verstehen dieser Informationen zu sichern. Zweitens steht das Autonomieprinzip in einem latenten Spannungsverhältnis zu anderen bioethischen Grundprinzipien, speziell dem des Wohltuns und dem des Nichtschadens, wobei es gerade im weit verbreiteten Prinzipilismus von Beauchamp und Childress (1994) keine klaren Verfahrensregeln gibt, die damit verbundenen Entscheidungskonflikte zu lösen. Für Clouser und Gert (2005, 92f.) läuft dies »schlicht darauf hinaus, dass ein Fall nach verschiedenen und einander widersprechenden Perspektiven betrachtet wird.« Im Ergebnis relativieren sich die Prinzipien gegenseitig, was durchaus auch zu Einschränkungen des Autonomieprinzips führen kann. Dies wäre dann der Fall, wenn Informationen, die dem Patienten schädlich sind, zu seinem Wohl zurückgehalten werden (Birnbacher 1997, 113). Drittens ist es erklärungsbedürftig, warum in der Medizin weniger paternalistische Restriktionen gegen selbstschädigendes Verhalten gelten sollen, als dies in der Gesellschaft durch Verbraucherschutzgesetze oder Regelungen zur Helmpflicht bzw. Gurtpflicht im Straßenverkehr offensichtlich der Fall ist. So sieht Quante (2009, 74) die »liberale, oder vielleicht sogar ultra-liberale Annahme«, dass »paternalistisches Handeln stets und unter allen Umständen ethisch oder rechtlich inakzeptabel ist«, nicht nur »im Gegensatz zu einer langen Tradition der praktischen Philosophie«, sondern auch im Widerspruch zu »alltäglichen Intuitionen«, von denen in vielen Kontexten unsere »ethischen Urteile und Handlungen faktisch« geleitet seien. Sein Fazit: »Viele Bereiche unserer alltäglichen Praxis passen mit den lautstarken anti-paternalistischen Deklarationen nicht zusammen.« Viertens stößt das Prinzip der Patientenautonomie auf zahlreiche Probleme der praktischen Umsetzung. Exemplarisch dafür ist sowohl die sog. Informierte Zustimmung als auch das Ideal der nondirektiven Beratung in der Humangenetik. Die informierte Zustimmung setzt nicht nur umfassende, wahrheitsgemäße und angemessen vermittelte Informationen voraus, sondern ist immer auch mit dem Problem der Verstehenssicherung konfrontiert. Gerade bei komplexen Problemlagen kann oft nicht davon ausgegangen werden, dass die Informationen vom Patienten vollständig aufgenommen, korrekt eingeordnet und angemessen bewertet werden. So gehört es zu den Grundproblemen der nondirektiven genetischen Beratung, die Bedeutung von Wahrscheinlichkeitsaussagen »richtig« zu verarbeiten. Fünftens steht die Rhetorik der Patientenautonomie in Widerspruch zur empirischen Realität der Arzt-Patient-Beziehung. Zum einen »trägt das ärztliche Verhalten gegenüber Patienten vielfach paternalistische Züge« (Steckmann 2002, 73). Zum anderen trifft ein paternalistisches Setting auf die »gering ausgeprägte Bereitschaft« vieler Patienten, an komplexen medizinischen Entscheidungen aktiv mitzuwirken und in einer sie ohnehin belastenden Situation ihrem »Bedürfnis nach Entlastung« nachzukommen (vgl. Birnbacher 1997, 110). Unabhängig davon ist davon auszugehen, dass auch situative Aspekte der Patientenaufklärung und vor allem die Konfektionierung der Information selbst einen Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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erheblichen Einfluss auf das Entscheidungsverhalten ausüben. Exemplarisch dafür ist die relative versus absolute Darstellung der Reduktion des Mortalitätsrisikos, die durch eine Teilnahme am Mammogaphie-Screening 1 erreicht werden kann (Mühlhauser 2004; Jørgensen, Gøtzsche 2006). Ähnlich paternalistisch und zugleich zweifelhaft in der kommunizierten Nutzenbilanz sind die in ärztlichen Praxen teils massiv beworbenen Angebote an »Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL)«, also von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die gerade aufgrund ihres zweifelhaften Nutzens nicht in den Leistungskatalog der GKV übernommen wurden und daher zum Vorteil des behandelnden Arztes privat liquidiert werden (KV Bremen 2012). Sechstens befindet sich das Prinzip der Patientenautonomie in einem unlösbaren Spannungsverhältnis zu gesundheitspolitischen Programmatiken (Public Health Policy), die das medizinische System aus einer bevölkerungsbezogenen Perspektive mit paternalistischen Elementen konfundieren. Exemplarisch dafür sind bevölkerungsweit ausgelegte Screenings, deren gesundheitsökonomischer Nutzen sich nur durch eine hohe Annahme-Rate realisieren lässt, weshalb solche Maßnahmen mit einem hohen Aufforderungscharakter angeboten werden. Ähnlich gelagert sind auch die biopolitisch motivierten Vorstöße zur Etablierung einer »Public Health-Genetik« (Khoury et al. 2000; Brand et al. 2004). Das Interesse gilt hier vor allem der Akkumulation genetischen Wissens (Feuerstein 2011b), wobei aus dem zukünftig zu erwartenden Nutzen ein »hoher sozialethischer Verpflichtungsgrad« zur Teilnahme an genetischen Screening-Programmen abgeleitet wird. Dabei beklagen die Verfechter der Public Health-Genetik sogar offen die mit der genetischer Beratungspflicht und informed consent-Regelung verbundenen Teilnahmerestriktionen, aber auch die »Gesundheitsmüdigkeit des Bürgers«, der einfach lernen müsse, »mit der Gesellschaft solidarisch zu sein« und rechtfertigen müsse, »warum er ihr die Kosten für seine Risiken aufbürden kann« (Brand et al. 2004, 50f.). Neben konzeptionellen Unbestimmtheiten steht also vor allem die Realitätstauglichkeit des Prinzips der Patientenautonomie in Frage. In vieler Hinsicht ist sie nicht nur ein Ideal, sondern eben auch eine Fiktion. Zum einen sind es die gewollt oder ungewollt manipulativen Settings, die eine wirklich autonome Entscheidung torpedieren, zum anderen sind es aber auch unerwünschte Konsequenzen der Selbstbestimmung, die zum Störfaktor geworden sind. So hat die Kollision mit anderen medizinethischen Prinzipien und der oft unlösbare Kon-

1

Gewöhnlich wird der Nutzen des Mammographie-Screenings in relativen Zahlen kommuniziert. Demnach beträgt die Verringerung der Brustkrebssterblichkeit durch die Teilnahme an der Früherkennung etwa 25 bis 30 Prozent. Dieser Präventionserfolg ist in der Fachliteratur nicht nur umstritten, sondern in seiner Darstellung auch äußerst suggestiv. Wie Mühlhauser und Höldke (2000) unter Zugrundelegung einer positiven Nutzenvermutung sehr variantenreich zeigen, verliert der Erfolg der Früherkennung in absoluten Zahlen ausgedrückt deutlich von seinem Glanz: »Ohne Mammographie sterben in einem Zeitraum von 10 Jahren 4 von 1000 Frauen an Brustkrebs. [. . .] Mit Mammographie sterben über einen Zeitraum von 10 Jahren 3 von 1000 Frauen an Brustkrebs.« Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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flikt mit gesellschaftlichen Erwartungen und biopolitischen Programmatiken die Idee einer paternalistisch flankierten Autonomie aufleben lassen. Libertärer Paternalismus und neopaternalistische Medizin Tatsächlich kann man seit einigen Jahren im bioethischen Diskurs eine Wiederkehr paternalistischer Überlegungen beobachten. Die Unzufriedenheit mit der Dominanz des Autonomieprinzips hat mehrere Beweggründe. Einer davon liegt in der zum Teil limitierten Fähigkeit des Patienten, in einer schwierigen Situation rationale und mit seinen Zielen kompatible Entscheidungen treffen zu können. Im Kern geht es also um das Problem der Selbstgefährdung. Die international zur Diskussion gestellten Relativierungsversuche des Autonomieprinzips haben insgesamt die Form eines »schwachen Paternalismus«, sind ihrerseits aber durchaus vielschichtig. Mit Blick auf die »ausgeblendeten Seiten der Autonomie« brachte Illhardt (1998) bereits das Konzept des »shared decision making« ins Spiel. Als partizipative Entscheidungsfindung setzt dies die wechselseitige Anerkennung der Perspektiven voraus, um so eine Brücke zwischen den Zielen des Patienten und der Sorgfaltspflicht des Arztes zu schlagen. Biller-Andorno (2002) präferiert die Perspektive einer an Beziehungen und Verantwortlichkeit orientierten »FürsorgeEthik« (ethics of care), die sich weniger als eigenes Konzept empfiehlt, sondern bestehende Konzepte um eine »kontextsensitive Beurteilung problematischer Situationen« ergänzen soll. Schließlich relativierte auch Beauchamp (2009) die lange von ihm vertretene Dominanz der Autonomie, sieht paternalistisches Handeln allerdings auch jetzt nur mit starken Einschränkungen als gerechtfertigt – und zwar begrenzt auf jene Fälle, in denen das Risiko für das Wohlergehens eines Patienten besonders groß ist oder die Wahrscheinlichkeit eines irreversiblen Schadens wächst. Auch wenn sie sich nicht selbst so begreifen, so handelt es sich letztlich um Aussöhnungsversuche zwischen den bioethischen Prinzipien der Patientenautonomie, des Wohltuns und des Nichtschadens. Die Konturen der Grenzziehung und praktischen Umsetzung bleiben dabei meist vage. Anders der von Buyx (2010) aufgegriffene Ansatz eines »libertären Paternalismus«. Er setzt auf die schwach-paternalistische Harmonisierung von Gemeinwohlperspektiven (Public-Health-Politik), individuellem Wohlergehen und Selbstbestimmung. Zwar liegt auch hier die Betonung programmatisch auf der Bewahrung der Entscheidungsautonomie, allerdings unter Einsatz manipulativer Bedingungen. Durch eine verhaltenspsychologisch trickreich arrangierte »Entscheidungsarchitektur« sollen Menschen dazu gebracht werden, das für sie Richtige zu tun, ohne dass sie dabei ihre Entscheidungsfreiheit einbüßen. Der »attraktive Mittelweg« zwischen ignorantem Liberalismus und patriarchaler Bevormundung begrenze die problematischen Aspekte zweier normativer Extreme und eröffne sowohl die Möglichkeit einer Förderung des individuellen Wohlergehens als auch eine Harmonisierung mit Public Health-Maßnahmen. Verführung tritt hier programmatisch an die Stelle der Vergewaltigung. Genau dies, die manipulierte Autonomie, gehört allerdings schon seit längerer Zeit zum Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Feuerstein: Biopolitische Paradoxien der Patientenautonomie

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Standardrepertoire der modernen Medizin. Zu den zentralen Merkmalen dieses »Neopaternalismus« (Feuerstein, Kuhlmann 1999) zählt, dass er sich stillschweigend und oft auch hinter dem Rücken der Akteure vollzieht, dass er zwischen Patientenwohl, Gemeinwohl und den Interessen Dritter changiert und dass von den Patienten das sozial Gesollte oft als das selbst Gewollte empfunden wird. Die diversen Spielarten, in denen die neopaternalistische Medizin auftritt, machen deutlich, dass sie in vielen Fällen auch jenseits des individuellen Patientenwohls angesiedelt ist, insbesondere gesundheitsökonomischen Kalkülen und biopolischen Programmatiken unterliegt. Thaler und Sunstein (2011), die Begründer des libertären Paternalismus, veranschaulichen dies an manipulativen Entscheidungsarchitekturen zur Organspende und verhaltenswirksamen Tricks, die zur Erhöhung der Spenderzahl in diversen gesetzlichen Regelungen und Verfahrensweisen nordamerikanischer Bundesstaaten angelegt sind. Der Patientenkörper wird hier als gesellschaftliche Ressource begriffen, die es den Betroffenen abzuhandeln gilt, ohne durch allzu viel Information und Prozedur ihren Widerstand zu provozieren. Die deutschen Praktiken der Organbeschaffung unterscheiden sich von den nordamerikanischen Entscheidungsarchitekturen nur graduell. So werden Angehörigengespräche auch hier, wie der Vorsitzende der Deutschen Stiftung Organtransplantation Günter Kirste wiederholt öffentlich betont hat, »nicht ergebnisoffen« geführt. 2 Darüber hinaus weist die 2012 verabschiedete Neuregelung des Transplantationsgesetzes von 1997 mit der sogenannten »Entscheidungslösung« absichtsvoll in die von Thaler und Sunstein beschriebene Richtung. Zwar wird durch die Neuregelung niemand zu einer Entscheidung für oder gegen die Organspende gezwungen, es gibt auch die Möglichkeit der Nichterklärung, man wird aber durch die wiederholte Aufforderung dennoch zu einer Entscheidung gedrängt. Weyma Lübbe machte dazu zwei treffende Anmerkungen: »Niemand bekennt sich gerne (halb-) öffentlich zu einer Haltung, die im öffentlichen Diskurs als unmoralisch, unsolidarisch oder unaufgeklärt dargestellt wird« (Lübbe 2011, 2). Darüber hinaus sieht sie in der »Entscheidungslösung« eine leicht abgeschwächte Form der Äußerungspflicht, die Züge »einer massiven öffentlichen Nötigung« trägt (Deutscher Ethikrat 2010). Ein weiteres, sehr prominentes Beispiel für den Aufbau subtiler Einflüsse auf das individuelle Entscheidungsverhalten liefert das wachsende Angebot an genetischen Tests. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Tests ist von durchaus zweifelhaftem medizinischem Nutzen, weil wirksame präventive oder therapeutische Optionen fehlen. Auf der anderen Seite haben diese Tests das Potential, Schaden anzurichten, indem sie neue Risiken generieren. Im Fall des erblich assoziierten Brustkrebses liegen die Risiken des probabilistischen BRCATests nicht nur im medizinischen Bereich – in einer teils aggressiven Prävention (bis hin zur prophylaktischen beidseitigen Mastektomie), die zwangsläufig auch an einem bestimmten Prozentsatz von Frauen vorgenommen wird, die trotz BRCA-Mutation die Krankheit zeitlebens nicht entwickelt hätten. Weitere Testrisiken bestehen auf der Ebene psychischer Stabilität (Ängste, Depres2

http: // www.faz.net / aktuell / politik / inland / transplantationen-organ-stiftung-ignoriert-denwillen-des-gesetzgebers-11860244.html (Zugegriffen 3. Sept. 2012). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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sion), sozialer Existenzbedingungen (mögliche Diskriminierung durch Versicherungen) und in negativen Einflüssen auf Lebensgefühl, Lebensplanung und Reproduktionsverhalten (Feuerstein, Kollek 2001). Dennoch suggerieren prädiktive Gentests allein dadurch schon ein Nutzenversprechen, dass sie zum Repertoire des medizinischen Leistungsangebots gehören. Sie sind zudem ein »Wahrnehmungsprogramm« von Risiken und Defizienz, das einen »Zugewinn an Sicherheit« in Aussicht stellt (Lemke 2000). Insofern provozieren Gentests ein angebotsinduziertes Nachfrageverhalten, welches jedoch im Bereich prädiktiver Gentests abhängig vom jeweiligen Angebotssetting ganz erheblich variiert. Während geringe Aufklärung und sofortige Testangebote zu Aufnahmeraten von über 80 % führten, sank die Inanspruchnahme nach gründlicher Aufklärung und Bedenkzeit zum Teil auf weniger als 16% (Nippert 2000, 140; Damm 1999, 443). Die bereits erwähnte Public Health-Genetik spekuliert darauf, sich genau dies zunutze zu machen. Auch im Bereich der pränatalen Diagnostik ist die Entscheidungssituation hochgradig manipulativ: zum einen durch juristische Einflussfaktoren, die den Arzt zur drastischen Darstellung von Behinderungsrisiken zwingen, zum anderen aber durch subtil wirksame Zwänge, die sich vor allem aus der Antizipation sozialer und institutioneller Erwartungshaltungen ergeben. Das Konstrukt einer »genetischen Verantwortung« verweist zudem auf eine Gesellschaft, die vermeidbare Behinderungsrisiken nicht mehr fraglos zu übernehmen bereit ist und korrespondiert mit Ängsten vor sozialer Diskriminierung und erschwerten Lebensbedingungen. Subtile soziale Zwänge harmonieren in diesem Fall sehr intensiv mit dem individuellen Interesse an einem gesunden Kind (Beck-Gernsheim 2001). Frei nach Günther Anders könnte man daher sagen, dass im neopaternalistischen Alltag der Medizin gesellschaftlich verankerte Zwänge in der Form des eigenen Wunsches daherkommen. Besonders deutlich wird dies am sozialen Optimierungsdruck, den die biopolitische Vergesellschaftung des Subjekts ausübt. Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit verlieren in dem Maße an Substanz, wie sie von inneren Zwängen und manipulierten Wünschen beherrscht sind. Die Patientenautonomie trägt dadurch nicht nur Züge eines trügerischen Gefühls, in vielen Fällen wird sie auch zur Maskerade für eine breit angelegte Neuverteilung von Verantwortungslasten und Machverhältnissen. Biopolitik und das vergesellschaftete Selbst Petra Gehring (2002) illustrierte diese biopolitische Machtverlagerung am Beispiel der »informierten Einwilligung«. Unter dem Label der Patientenautonomie vollziehe sich de facto eine »freiwillige Risikoübernahme« durch den Patienten, ein »Verzicht auf Regress« und die »Abdingung von Rechten«. Denn dieser unterzeichnet eine »einseitige Verfügung, die niemand verpflichtet als den Verfügenden selbst«. Dies geschehe auf Grundlage einer »informierenden Expertenkultur«, die »präparierte Szenarien« liefert, auf deren Grundlage sich dann der Patientenwille formiert. Demzufolge ist es nicht die Autonomie im Sinne einer »freien, unbestimmten Selbstbestimmung«, die wirklich gefragt sei, sonClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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dern die rechtsverbindliche Festlegung auf Modalitäten, die Dritten Sicherheit im Umgang mit und im Zugriff auf den Körper einräumt. Gehring (2006, 226) zufolge etabliert sich Biomacht als »Profitlogik«, bei der sich jeder Einzelne »zum Nutzen seiner selbst (wie zum künftigen Nutzen aller) biologische ›Ressourcen‹ sichern, verlängern, qualitativ steigern und verschönern« soll. Insofern sei Biomacht »heute als Mitmach-Ökonomie organisiert«, die sich über biomedizinische Angebote realisiert. Wie Lemke (2000) am Beispiel der »genetischen Gouvernementalität« gezeigt hat, verläuft die Bemächtigung des Körpers über Selbsttechnologien individualisierter Akteure, in denen die Differenz von Wollen und Sollen erlischt und das gesellschaftlich Erwünschte als autonomer Willensakt erscheint. Dabei ginge es um mehr als um die »Konstitution eines ›rationalen‹ Gesundheitsbürgers«, es ginge um ein sich eigenverantwortlich selbstoptimierendes Subjekt, das als freier Marktteilnehmer seinen Körper und seine Gesundheit in Kosten-Nutzen-Analysen objektiviert, misst und bewertet (Lemke 2000, 252). Die treibenden Momente der genetischen Gouvernementalität, das Dispositiv des Risikos, der Verunsicherung auf der einen Seite und das der Sicherheit auf der anderen, können als Grundmuster biopolitischer Selbsttechnologien gesehen werden. So macht Wehling (Wehling 2008, 266f.) am Beispiel des Human Enhancement deutlich, dass die Technologie der Selbstoptimierung auf »diskursiven Rahmungen« beruht, die bestimmte Verhaltensweisen, körperliche Eigenschaften, psychische Merkmale oder kognitive Potenziale als defizitär beschreiben und in den Kontext medizinisch-technischer Verbesserungs-Optionen stellen: Die Aktivierung biopolitisch sanktionierten Verhaltens fußt demnach auf der »suggestiven Konstruktion und Evokation eines zugleich verbesserungsbedürftigen wie auch verbesserungsfähigen Adressaten«. Hintergrund dieser Entwicklung ist, wie an anderer Stelle beschrieben (Brüninghaus, Feuerstein 2012), ein grundlegender Wandel gesellschaftlicher Integrationsmodi. Alain Ehrenberg (2008) zufolge ist die Suche nach künstlichem Wohlbefinden Resultat eines permanenten Handlungsdrucks, des Zwangs zur Individuierung, Verantwortungsübernahme, Initiative und Selbsterfindung. Medizinische Versprechen und Lösungsangebote treffen auf ein »erschöpftes Selbst«, das in vermeintlicher Autonomie dankbar die Strohhalme ergreift, die ihm ein ausufernder Medizinbetrieb verfügbar macht. Die aktuelle Diskussion um Legitimität und Grenzen des Psycho- und Neuro-Enhancement liefert dafür zahlreiche Beispiele und reichhaltiges Anschauungsmaterial (Wulf et al. 2012). Schluss Die biopolitische Vergesellschaftung des Subjekts vollzieht sich als eine Art Koproduktion von Patientenautonomie und neopaternalistischen Strukturelementen des modernen Medizinbetriebs. Der selbstbestimmte Patient agiert dabei gewissermaßen als »aktives Objekt«, das heißt als lediglich »gefühltes« Subjekt, das sich selbstbestimmt und eigenverantwortlich »fremden« Erwartungshaltungen ausgesetzt sieht und willentlich unterwirft. Flankiert von liberalistischen Konzepten der Bioethik trägt das Eindringen externer Motive in die Arzt-PatiClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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ent-Beziehung dazu bei, die Distanz zur individualethischen Bindung ärztlichen Handelns an die traditionellen Prinzipien des Wohltuns und Nichtschadens weiter zu erhöhen. Biopolitische Steigerungs-Logiken und die Kalkülisierung des Körpers tun ein Übriges, den Medizinbetrieb in ein System zu transformieren, das sich der Risikoverringerung verschrieben hat und in zunehmendem Maße selbst Risiken generiert: für Patienten, für die Gesellschaft und letztlich auch für die Reputation der ärztlichen Profession. Literatur Beauchamp TL (2009) The Concept of Paternalism in Biomedical Ethics. In: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 14: 77–92 Beauchamp TL, Childress JF (1994) Principles of Biomedical Ethics. 4. Aufl., Oxford University Press, New York /Oxford Beck-Gernsheim E (2001) Die soziale Konstruktion des Risikos – am Beispiel Pränataldiagnostik. In: Geyer C (Hrsg.) Biopolitik. Suhrkamp, Frankfurt, 21–40 Biller-Andorno N (2002) »Fürsorge« in der Medizinethik: Prinzip oder Perspektive? In: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 7: 101–115 Birnbacher D (1997) Patientenautonomie und ärztliche Ethik am Beispiel der prädiktiven Diagnostik. In: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2: 105–118 Brand A, Dabrock P, Paul N, Schröder P (2004) Gesundheitssicherung im Zeitalter der Genomforschung. Gutachten im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin Brüninghaus A, Feuerstein G (2012) Bioethik im Wunderland der Fiktion. Über die Rolle eines antizipierenden Diskurses am Beispiel des Psycho- und Neuroenhancement. In: ethik und gesellschaft 2/2012. http://www.ethik-und-gesellschaft.de / mm /EuG-2-2012_Brueninghaus_Feuerstein.pdf (Zugegriffen am 16. Mai 2013) Buyx A (2010) Können, sollen, müssen? Public-Health-Politik und libertärer Paternalismus. In: Ethik in der Medizin 22: 221–234 Clouser KD, Gert B (2005) Eine Kritik der Prinzipienethik. In: Rauprich O, Steger F (Hrsg.) Prinzipienethik in der Biomedizin. Campus, Frankfurt /New York, 88–108 Damm R (1999) Prädiktive Medizin und Patientenautonomie. In: Medizinrecht 10: 437–448 Deutscher Ethikrat (2010) Äußerungspflicht zur Organspende? Infobrief 3 Ehrenberg A (2008) Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Suhrkamp, Frankfurt Evans JH (2005) Eine soziologische Sicht auf die Entwicklung der Prinzipienethik. In: Rauprich O, Steger F (Hrsg.) Prinzipienethik in der Biomedizin. Campus, Frankfurt /New York, 192–209 Feuerstein G (2011a) Der Arzt als Gesundheitsingenieur? In: Dickel S, Franzen M, Kehl C (Hrsg.) Herausforderungen der Biomedizin. Transcript, Bielefeld, 285–300 Feuerstein G (2011b) Der Wille zum Wissen – Der Drang zum Handeln. Zur Verschränkung von Genetik und Public Health, über den Wissensbeitrag der Gesundheitsökonomie und die Kosten einer missratenen Symbiose. In: Moos T, Niewöhner J, Tanner K (Hrsg.) Genetisches Wissen. Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert, 141–176 Feuerstein G, Kuhlmann E (1999) Neopaternalistische Medizin. Der Mythos der Selbstbestimmung im Arzt-Patient-Verhältnis. Huber Verlag, Bern Feuerstein G, Kollek R (2001) Vom genetischen Wissen zum sozialen Risiko: Gendiagnostik als Instrument der Biopolitik. In: Das Parlament B27: 26–33 Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Wulf M-A, Joksimovic A, Tress W (2012) Das Ringen um Sinn und Anerkennung – Eine psychodynamische Sicht auf das Phänomen Neuroenhancement (NE). In: Ethik in der Medizin 24: 29–42

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Christine Bratu, Julian Nida-Rümelin

Autonomie als politisch-ethisches Prinzip im Liberalismus Das kohärentistische Theorieverständnis in der Bioethik Immer schon mussten sich Menschen Gedanken über den richtigen Umgang mit dem Leben machen – also wie sie einerseits mit ihrer belebten Umwelt, andererseits mit ihrem eigenen Leben verfahren sollen. Doch die technischen Errungenschaften der Gegenwart werfen diese Fragen mit neuer Dringlichkeit auf. So muss im Kontext der Gentechnik diskutiert werden, ob der Mensch die Erbsubstanz von Pflanzen und Tieren verändern darf, um diese noch nutzbarer für sich zu machen. Und dürfen Tiere, deren sinnliche Erfahrung und Schmerzempfinden unseren zu gleichen scheinen, überhaupt als Nutz- und Versuchstiere verwendet werden? Die moderne Medizin rückt dagegen die Frage nach dem richtigen Umgang mit spezifisch menschlichem Leben in den Vordergrund. Hier stellt sich die Frage, ob Sterbehilfe unter bestimmten Bedingungen moralisch zulässig ist; ob man aktive Sterbehilfe akzeptieren muss, wenn man passive Sterbehilfe für erlaubt hält; ob ein Schwangerschaftsabbruch moralisch zu rechtfertigen ist und wenn ja, unter welchen Bedingungen etc. Die philosophische Klärung der Frage nach dem angemessenen Umgang mit dem Leben ist Aufgabe der Bioethik. Unterschiedliche Ansätze geben auf diese Frage unterschiedliche Antworten. Einige schlagen dabei Kriterien für den Umgang mit dem Leben im Allgemeinen vor, andere dagegen nur für den Umgang mit menschlichem Leben. Doch unabhängig davon, ob man Bioethik im weiten Sinne oder lediglich mit Blick auf menschliches Leben betreibt: In jedem Fall gibt es eine enge Verbindung zwischen Bioethik und Biopolitik. Unter »Biopolitik« wollen wir das Gesamt der Maßnahmen verstehen, durch welche politische Akteure, paradigmatisch der Gesetzgeber, den Umgang mit menschlichem Leben innerhalb einer Gesellschaft regeln. 1 Wie jeder Bereich politischen Handelns sollte auch die Biopolitik nicht bloß Interesse-geleitet sein, sondern sich an den besten Gründen orientieren – und welche diese sind, wird u. a. im bioethischen Diskurs verhandelt. Der bioethische Diskurs muss dabei bestimmte erkenntnistheoretische und methodologische Überlegungen berücksichtigen, die grundlegend sind für die Erörterung aller normativen Fragen. Im Bereich des Normativen dient die theoretische Analyse der Interpretation moralischer Überzeugungen und der Orientierung in Handlungssituationen, in denen es zweifelhaft erscheint, welche Entscheidung moralisch richtig ist. Die theoretische Analyse kann dabei unsere moralischen Überzeugungen nicht ab ovo neu konstruieren, sondern muss ihren 1

Der Begriff der Biopolitik geht auf Michel Foucault zurück (vgl. Foucault 1994 [EA 1976],166). Auch Foucault bezeichnet mit »Biopolitik« die Praktiken, die der Staat entwickelt, um das Leben seiner Bürger zu regulieren, verbindet damit zudem aber bestimmte Techniken. Zu dieser Frage, d. h. mittels welcher konkreten Maßnahmen Biopolitik ausgeübt wird, nehmen wir im Folgenden keine Stellung. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Ausgang nehmen von unseren wohlerwogenen moralischen Urteilen oder Intuitionen. Denn würden wir nicht zumindest an einem Teil unserer Intuitionen festhalten, so könnten wir nicht beurteilen, ob unsere theoretische Analyse überzeugend ist oder nicht. Würden wir nämlich all unsere wohlerwogenen moralischen Urteile im Vorfeld unserer praktischen Überlegungen über Bord werfen, so gäbe es nichts mehr, anhand dessen wir die Plausibilität unserer Überlegungen noch prüfen könnten. Gerade in der Diskussion um den richtigen Umgang mit Leben, die normativ zentral, zugleich aber komplex und von Emotionen belastet ist, bewährt sich ein solches kohärentistisches Theorieverständnis. Ob eine Antwort darauf, wie wir mit dem Leben umzugehen haben, andere Mitbürger überzeugen kann, hängt also davon ab, ob die Antwort unsere aufgeklärten moralischen Urteile in angemessener Art und Weise zum Ausdruck bringt und systematisiert. 2 Dabei zeigt unsere lebensweltliche Praxis, dass wir unser Handeln nicht an einem einzigen normativen Prinzip ausrichten, sondern eine Vielzahl von praktischen Gründen akzeptieren. So halten wir in manchen Kontexten konsequentialistische Abwägungen für berechtigt, etwa wenn wir nun in Deutschland alle erwachsenen Personen auffordern, Stellung dazu zu beziehen, wie nach ihrem Tod mit ihren Organen verfahren werden soll, um die Anzahl an Spenderorganen zu erhöhen. In anderen Fällen sind wir Deontologen, was daran zu erkennen ist, dass die Organentnahme an die Zustimmung des Einzelnen geknüpft bleibt. Daher sollte man es als Stärke eines normativen Ansatzes ansehen, wenn er nicht nur ein Bewertungskriterium kennt, sondern der Pluralität der lebensweltlich akzeptierten Gründe Rechnung trägt (vgl. Nida-Rümelin 2005a [EA 1996], 43– 46). Der Ansatz, für den wir im Folgenden argumentieren, führt mit Blick auf die bioethische Grundfrage und seine biopolitische Relevanz zu einem solchen Pluralismus der Bewertungskriterien. Denn wir plädieren dafür, dass im Umgang von Menschen miteinander Selbstbestimmung bzw. Autonomie das ausschlaggebende Prinzip ist: Menschen müssen sich wechselseitig in ihrer Autonomie respektieren und sich daher die Möglichkeit zu einem Leben nach ihren eigenen Gründen einräumen. Dieses Prinzip kann allerdings keine Antwort auf die Frage liefern, wie sich Menschen ihrer belebten nichtmenschlichen Umwelt gegenüber verhalten sollen. Auch bleibt die Frage nach dem Umgang mit menschlichem Leben im Allgemeinen durch dieses Prinzip unbeantwortet. Denn Autonomie erfordert – wie wir im Folgenden darlegen – verschiedene, teilweise komplexe mentale Fähigkeiten, so dass kleine Kinder, Menschen mit geistiger Behinderung oder komatöse Patienten ihrer zumindest aktual nicht fähig sind. Daher kann unser Umgang mit ihnen nicht vom Respekt vor ihrer Autonomie geleitet sein (vgl. Nida-Rümelin 2005, 150f.). Wir gehen also davon aus, dass unterschiedliche Bewertungskriterien entsprechend zum Tragen kommen müssen und wollen uns im Folgenden jedoch auf die Kontexte konzentrieren, die zur Autonomie fähige Individuen einschließen. 2

Für diese kohärentistische Auffassung vgl. Nida-Rümelin (2009, 25–53) sowie Rawls (1975 [EA 1971]), 38). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Bratu, Nida-Rümelin: Autonomie als politisch-ethisches Prinzip

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Der utilitaristische Entwurf und sein Scheitern Autonomie ist als Prinzip für den Umgang mit anderen Menschen nicht unumstritten. Als wichtigster Gegenentwurf darf der Utilitarismus gelten. 3 Seine klassische Variante, die sich auf die Bewertung einzelner Handlungen konzentriert, besteht aus drei konstitutiven Elementen: (1) Der Utilitarismus vertritt eine Werttheorie, wonach nur Wohlergehen intrinsisch gut ist. Dabei ist der Utilitarismus in seiner Werttheorie individualistisch, denn intrinsisch gut ist das Wohlergehen von einzelnen, konkreten Individuen. (2) Das zweite kennzeichnende Element ist das Prinzip der Aggregation: Will man zwei gesellschaftliche Zustände miteinander vergleichen, so gilt es die Summe der individuellen Wohlergehen zu bilden. Derjenige gesellschaftliche Zustand ist besser, in dem die Summe des individuellen Wohlergehens langfristig höher ist. Dabei darf es bei der Erstellung der Wohlergehenssumme nicht zur Ungleichbehandlung einzelner Individuen kommen, d. h. das Wohlergehen einer Person darf nicht mehrmals oder stärker gewichtet in die Rechnung eingehen als das der anderen. Wie sich das Wohlergehen auf die einzelnen Individuen der Gesellschaft verteilt, spielt für die Beurteilung der Güte eines gesellschaftlichen Zustands dagegen keine Rolle. (3) Schließlich kennzeichnet den Utilitarismus ein konsequentialistisches Kriterium richtigen Handelns. Nach diesem ist eine Handlung genau dann richtig, wenn ihre Folgen optimal sind, wenn sie also im Vergleich zu allen anderen offenstehenden Handlungen den besten gesellschaftlichen Zustand hervorbringt – wobei dieser anhand der genannten Werttheorie und des angeführten Aggregationsprinzips zu bestimmen ist. Der Utilitarismus bietet sich vor allem wegen seiner klaren Struktur als ethische Hintergrundtheorie für bioethische Fragen an. Zum einen sind alle empfindungsfähigen Wesen für die Beförderung der gesamtgesellschaftlichen Wohlergehenssumme relevant. Anders als der hier vertretene Ansatz kann der Utilitarismus daher die Frage, wie man mit autonomen Menschen und solchen, die der Autonomie aktual nicht fähig sind, und wie man mit Tieren umgehen sollte, anhand desselben Kriteriums beantworten. Zum anderen ist dieses Kriterium relativ einfach handzuhaben. Denn auch wenn man Handlungsfolgen häufig nicht zuverlässig vorhersagen kann, ist für einen Vertreter des Utilitarismus eindeutig klar, auf welche Merkmale einer Handlung man achten muss um zu beurteilen, ob sie geboten ist oder nicht. Ob etwa die Maßnahmen, die eine Person im Wachkoma am Leben erhalten, gerechtfertigt sind, entscheidet man gemäß dem Utilitarismus, indem man zu ermitteln sucht, welche der beiden Handlungsalternativen langfristig mehr aggregiertes Wohlergehen generiert. Neben der Einfachheit überzeugt schließlich auch das egalitäre Element des Utilitarismus, da jedes Individuums gleichermaßen berücksichtigt werden muss.

3

Ein Beispiel eines utilitaristischen Ansatzes, der in der Bioethik weit rezipiert wurde, ist Singer (1999 [EA 1979]). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 6: Patientenautonomie und Biopolitik

Dennoch widerspricht der Utilitarismus insgesamt dem, was die meisten Menschen lebensweltlich für richtig halten. 4 So ignoriert der Utilitarismus zum einen die Idee der Integrität der Person. Das Leben einer erwachsenen Person wird durch Projekte und Bindungen bestimmt, die sich über die Zeit halten und die das Besondere ihres eigenen Lebens ausmachen. Aber die konsequente Verfolgung solcher Projekte ist kaum möglich, wenn zu jedem Zeitpunkt erneut abgewogen werden muss, ob diese oder eine andere Handlung die gesamtgesellschaftliche Wohlergehenssumme optimiert. Verspricht man beispielsweise einem Angehörigen auf dem Sterbebett, seine Organe nicht zur Spende freizugeben, so sollte man durch den Akt des Versprechens von allen weiteren Rechtfertigungen gegenüber Ärzten oder der Gesellschaft entbunden sein. Zudem wird der Utilitarismus vielen unserer sozialen Pflichten gegenüber engvertrauten oder von uns abhängigen Personen nicht gerecht. Diese sind in der Regel durch ein spezifisches interpersonales Verhältnis bestimmt, etwa das zwischen Lehrern und ihren Schülern, zwischen Eltern und ihren Kindern, aber auch zwischen Bürgern der gleichen Stadt oder des gleichen Landes. Es mag durchaus sein, dass die gesellschaftliche Wohlergehenssumme optimiert würde, wenn etwa Ärzte und nicht Angehörige darüber entschieden, ob die Organe Verstorbener entnommen werden dürfen, also z. B. eine Notstandsregelung für die Organentnahme eingeführt würde. Doch intuitiv sollte der Respekt vor den sozialen Pflichten des Einzelnen schwerer wiegen als das Gebot, zum gesellschaftlichen Wohlergehen beizutragen. Schließlich gerät der Utilitarismus in Konflikt mit Rechten, die man u. a. als Schutzmechanismen verstehen kann für die Integrität der Person und für die sozialen Pflichten, die aus persönlichen Nahbeziehungen entstehen. So sind wir uns einig darin, dass z. B. ein gesunder Mensch nicht geopfert werden darf, damit durch seine Organe vier weitere Menschen am Leben gehalten werden. Eine solche Instrumentalisierung des Einzelnen verletzt ein fundamentales individuelles Recht dieser Person, wie auch immer dieses Recht genauer zu spezifizieren ist. Bestimmte Vertreter des Utilitarismus haben auf die genannten Einwände reagiert, indem sie das dritte konstitutive Element verändert haben (vgl. Harsanyi 1977; Hoerster 1977 [EA 1971]). Statt einen Handlungsutilitarismus zu befürworten, sprechen sie sich für einen Regelutilitarismus aus. Dieser macht die ethische Beurteilung einer konkreten Handlung nicht mehr von der Bewertung ihrer Folgen abhängig, sondern davon, ob die generelle Ausführung dieser Handlung die besten Folgen hätte. Das regelutilitaristische Kriterium lautet demnach: Handle so, dass dein Handeln in Einklang mit einem Regelsystem ist, das, wenn es von allen befolgt würde, die gesellschaftliche Wohlergehenssumme optimiert. Der Regelutilitarismus würde demnach die Instrumentalisierung eines potentiellen Organspenders wahrscheinlich verbieten, da es kaum der Beförderung des gesellschaftlichen Wohlergehens dient, wenn jeder Bürger aufgrund unfreiwilliger Organentnahmen ständig um sein Leben bangen muss. Doch diese Übereinstimmung mit unseren moralischen Intuitionen erkauft sich 4

Für eine ausführliche Darstellung der folgenden drei Kritikpunkte vgl. Nida-Rümelin (1995 [EA 1993]), Kapitel 9–11. Für eine ähnliche Kritik vgl. Smart, Williams (1986 [EA 1973]) sowie Williams (1981). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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der Regelutilitarismus um den Preis, mit dem konsequentialistischen Prinzip des utilitaristischen Paradigmas zu brechen. Denn in einigen Fällen wird er Handlungen gebieten, die – punktuell betrachtet – nicht der allgemeinen Wohlfahrt dienen. Dies hat dem Regelutilitarismus von handlungsutilitaristischer Seite den Vorwurf des Regelfetischismus eingebracht, da er Regeln den Status des intrinsisch Wertvollen zu verleihen scheint. Die Gegenüberstellung von Handlungsund Regelutilitarismus offenbart also: Will man unseren moralischen Intuitionen Rechnung tragen, muss man mit dem utilitaristisch-konsequentialistischen Paradigma brechen. Autonomie und deren Relevanz Wenn wir die Integrität der Person wahren, soziale Pflichten ernst nehmen und Personen durch individuelle Rechte schützen wollen, sollten wir den Utilitarismus in der Ethik und der Politik aufgeben und unseren Umgang miteinander stattdessen am Respekt vor der Autonomie des Einzelnen ausrichten. Bevor wir darlegen, inwiefern der Respekt vor der Autonomie des Einzelnen den genannten moralischen Intuitionen gerecht werden kann, muss zunächst genauer geklärt werden, was mit »Autonomie« gemeint ist: Eine Handlung x einer beliebigen Person A sei genau dann autonom, wenn (1) x im Lichte von As besten Gründen gerechtfertigt ist und (2) A x ausführt, weil (1) der Fall ist. 5 A selbst sei dagegen autonom, wenn hinreichend viele ihrer Handlungen selbstbestimmt sind. Dabei sollte Autonomie insgesamt als eine Eigenschaft verstanden werden, die Personen in unterschiedlichem Maße zugeschrieben werden kann – abhängig davon, wie regelmäßig sie autonome Handlungen ausführen. Doch ist Autonomie gemäß dieser Definition in der Praxis überhaupt möglich? Bedingung hierfür ist zum einen, dass eine Person über bestimmte intellektuelle Fähigkeiten verfügt und etwa in der Lage ist zu erkennen, was im Lichte dessen, was sie begründetermaßen für wertvoll hält, geboten ist, welche Ziele welche Mittel erfordern und welche Folgen ihre Handlungen haben (vgl. Raz 1988 [1986], 373). Denn ohne diese Fähigkeiten kann sie keine Deliberationen anstellen, das heißt keine Gründe abwägen, und also (1) nicht erfüllen. Zum anderen muss das Abwägen von Gründen kausale Wirksamkeit entfalten, so dass die Person im Lichte ihrer Gründe komplexe Handlungsintentionen ausbildet und Handlungen durchführt. Denn wenn sich die Einsicht in beste Gründe für eine bestimmte Handlung nicht auf die motivationale Lage des Überlegenden auswirkt und diese ihn also nicht dazu bewegt, das Ergebnis seines Deliberationsprozesses praktisch umzusetzen, so entspricht dieses Individuum nicht (2).

5

Allerdings sollte Bedingung (2) nicht so verstanden werden, dass habituelles Handeln nicht als selbstbestimmt angesehen werden kann. Damit eine Handlung x einer beliebigen Person A selbstbestimmt ist, müssen die Gründe, die x rechtfertigen, auch diejenigen sein, die A zu x motivieren – allerdings muss A dieser Umstand beim Ausführen von x nicht bewusst sein. Es reicht, wenn A ex post behaupten kann, dass sie x aufgrund ihrer besten Gründe ausgeführt hat. Vgl. Colburn (2010, 25). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Die Erfüllbarkeit von (2) wird bekanntermaßen angezweifelt. 6 Zeitgenössische Autoren versuchen daher, den Begriff der Autonomie so zu interpretieren, dass er diese nicht mehr voraussetzt. Nach Harry Frankfurt etwa handelt eine Person schon dann autonom, wenn sie aufgrund von Handlungswünschen tätig wird, die zwar nicht auf ihr Abwägen von Gründen, sondern rein kausal auf Umwelteinwirkungen zurückzuführen sind, die sie aber bejaht. Dies bedeutet, dass solange eine Person aufgrund von Wünschen handelt, die sie wiederum zu haben wünscht, es für die Frage ihrer Autonomie unerheblich ist, ob ihre Handlungswünsche erster Stufe oder ihre höherstufigen motivationalen Einstellungen von ihr selbst erzeugt wurden (vgl. Frankfurt 2009 [EA 1971]). Gegen diese Rekonstruktion von Autonomie spricht allerdings, dass ihr zufolge zum einen große Teile unserer lebensweltlichen Praxis unangemessen wären. Wenn wir nicht dazu in der Lage wären, unsere motivationalen Einstellungen durch das Abwägen von Gründen zu beeinflussen, so wären wir unseren Wünschen und Motiven, d. h. unseren konativen Einstellungen, vollständig ausgeliefert. Aber warum sollten etwa Konsumenten darauf bestehen, dass genetisch modifizierte Nahrung als solche gekennzeichnet wird, wenn nicht in der Annahme, dass diese Information die Kaufentscheidung anderer rational beeinflussen kann? Zum anderen widerspricht diese Rekonstruktion in fundamentaler Weise unseren moralischen Einstellungen und Empfindungen: Hätten wir keine alternativen Handlungsmöglichkeiten, so wären wir für die jeweils resultierende Handlung nicht verantwortlich. Denn Verantwortung setzt alternative Handlungsmöglichkeiten voraus. Dies zeigt sich etwa darin, dass wir einen Akteur von der Verantwortung für eine Handlung freisprechen, wenn er nachweisen kann, dass er die fragliche Handlung nicht vermeiden konnte (vgl. Nida-Rümelin 2005, 79–106). Aber nur wenn eine Person für ihr Handeln verantwortlich war, machen wir ihr Vorwürfe, erwarten von ihr Reue oder loben sie dafür. 7 Will man also an unserer etablierten Praxis der moralischen Empfindungen und Einstellungen wie Reue oder Lob festhalten, muss man annehmen, dass Menschen für ihr Handeln verantwortlich und damit nicht nur Objekte kausaler Umwelteinflüsse sind. Doch wie oben ausgeführt wurde, ist es wenig überzeugend, uns radikal von unseren lebensweltlichen Intuitionen und Praktiken zu distanzieren. Daher müssen wir davon ausgehen, dass wir uns durch das Abwägen von Gründen selbst zu den vernünftigen Handlungen motivieren können. Aber warum sollte man Handeln aus Gründen als autonom und nicht lediglich als vernünftig bezeichnen? Die klassische Antwort auf diese Frage findet sich bei Immanuel Kant. Für ihn ist ein Akteur, der sich nicht von seinen Gründen leiten lässt, lediglich Spielball der Natur. Diese erzeugt in ihm durch kausale Einwirkung konative Zustände (Kant spricht von »Neigungen«), und ein Akteur, der diesen nachkommt, führt nur einen Impuls aus, der nicht von ihm selbst in ihm selbst induziert wurde. Handelt eine Person dagegen auf der Grundlage ihrer Gründe, so ist der konative Zustand, der der resultierenden Handlung zugrunde 6 7

Der locus classicus für diesen Zweifel ist Hume (2005 [EA 1740]). Peter Strawson hat sich zuerst um die Analyse unserer »reactive attitudes« verdient gemacht, vgl. Strawson (2009 [EA 1963]). Für eine aktuelle Analyse vgl. Wallace (1994). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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liegt (bei Kant die sogenannte Achtung), ebenso wie die eigentliche Handlung selbstgewirkt (vgl. Kant 1999 [1785], 402, FN 2). Zudem kann sich eine Person, die sich in ihrem Handeln von ihren Gründen leiten lässt, mit ihren Handlungen identifizieren. Denn eine Handlung, die auf die konklusiven Gründe der Person zurückgeht, entspricht deren Blick darauf, was der Fall und was geboten ist. Die aus ihren Gründen resultierende Handlung passt also zu dem, was die Person über die Welt weiß, und damit auch zur Person selbst. 8 Insofern ist die Annahme, dass sich eine Person durch ihr Gründe geleitetes, vernünftiges Handeln selbst bestimmt, durchaus angemessen. Die Redeweise von den eigenen besten Gründen, denen eine selbstbestimmte Person folgt, soll nicht subjektivistisch gedeutet werden. Denn wofür ein Sachverhalt spricht oder nicht, kann vom Akteur nicht willentlich beeinflusst werden. Vielmehr ist es die Gesamtheit von Person As weiteren Gründen, welche als Maßstab dafür herangezogen werden muss, ob eine beliebige Person A einen beliebigen Sachverhalt T als konklusiven Grund für eine Handlung x ansehen sollte oder nicht. Nur wenn aus der Gesamtheit von As guten Gründen folgt, dass T konklusiv für x spricht, sollte A T als konklusiven Grund für x akzeptieren; tut A dies nicht, verhält sie sich irrational und nicht selbstbestimmt. Diese Auffassung von Rechtfertigung lässt einerseits zu, dass Akteuren nicht immer unmittelbar bewusst ist bzw. dass Akteure sich darin irren können, welche Handlung vor ihnen gerechtfertigt ist und damit selbstbestimmt wäre. Denn es kann vorkommen, dass eine Person nicht überblickt, worauf sie rationaliter festgelegt ist, etwa weil sie moralisch relevante Fakten vergessen hat oder einen Zusammenhang nicht erkennt. Insofern hat die Auffassung von Rechtfertigung, die wir dem Konzept der Autonomie zugrunde legen, kritisches Potential. 9 Andererseits lässt sich nach dieser Auffassung von Rechtfertigung nur ausgehend vom einzelnen Individuum ermitteln, worauf dieses rationaliter festgelegt ist und welche seiner Handlungen demnach selbstbestimmt sind. Denn es sind die Gründe, über die A bereits rationaliter verfügt, die festlegen, welche weiteren Gründe A akzeptieren sollte. Dass eine beliebige Person B rationaliter darauf festgelegt ist, die Tatsache T als konklusiven Grund für eine Handlung x anzusehen, impliziert also nicht notwendigerweise, dass T auch vor A für x spricht. Dies ist nur dann der Fall, wenn A die Gründe, in deren Licht T für B konklusiv für x spricht, begründetermaßen teilt. Insofern ist unsere Auffassung von Rechtfertigung nicht-monologisch. Dies ist auch für die Frage bioethischer Regelungen relevant. Denn wenn wir eine bestimmte Regelung vor allen Betrof-

8

9

Dass eine Person sich in mit ihren selbstgewirkten Handlungen identifizieren kann, betonen auch diejenigen Autoren, für die Autonomie nicht die Fähigkeit impliziert, sich selbst rational zu motivieren. Vgl. Dworkin (1989). Würden wir dem Konzept der Selbstbestimmung eine Auffassung von Rechtfertigung zugrunde legen, nach der sich der Einzelne niemals in der Beurteilung seiner Gründe irren kann, so würden wir für ein autarkistisches Verständnis von Selbstbestimmung plädieren. Dieses Verständnis ist aber wenig überzeugend, da wir lebensweltlich davon ausgehen, dass man das Gesamt der eigenen Gründe nicht immer vollständig überblickt. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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fenen rechtfertigen wollen, gilt es in einem öffentlichen Diskurs herauszufinden, welche Gründe die Betroffenen rationaliter teilen. Setzt man dieses Verständnis von Rechtfertigung voraus, so ist Autonomie inhaltlich schwach aufgeladen. D. h. es gibt nur wenige Handlungstypen, für die gilt, dass ihnen entsprechende Handlungsweisen in keinem Fall als autonom anzusehen sind. Denn in welcher Handlung sich die Autonomie einer Person manifestiert, lässt sich nur ausgehend von den Gründen erkennen, welche diese rationaliter hat: Ob eine beliebige Person A in einer beliebigen Handlung x selbstbestimmt war, hängt davon ab, ob x vor A konklusiv gerechtfertigt war und ob A x ausgeführt hat, weil ihre besten Gründe für x sprachen. Dass die Tatsache, dass Autonomie inhaltlich nur schwach aufgeladen ist, zur unterschiedlichen Bewertung verschiedener Instanzen derselben Art von Handlung führen kann, werden wir am Ende dieses Textes am Beispiel der Selbsttötung diskutieren. Geht man von einem Pluralismus der guten Gründe aus, können unterschiedliche Individuen Handlungen unterschiedlichen Typs vollziehen und dabei jeweils autonom agieren – einfach weil sie andere Gründe hatten, in deren Licht andere Handlungstypen geboten waren. Dass Autonomie aber nicht inhaltlich neutral ist, wird durch unsere gemeinsame Lebenswelt sichergestellt. Denn diese verbürgt, dass der Pluralismus der Gründe nicht allumfassend wird. So ist keine autonome Lebensweise denkbar, vor deren Hintergrund gute Gründe dafür sprechen, andere Menschen zu quälen oder zu erniedrigen. Sklavenhaltergesellschaften, die die systematische Erniedrigung anderer praktiziert haben, müssen aus dieser Sicht beispielsweise als irrational gelten. Denn die Gründe, die für die Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen angeführt wurden, waren gegeben die weiteren Überzeugungen der Sklavenhalter selbst nicht überzeugend: Weder gab es stichhaltige Evidenzen für die unter den Plantagenbesitzern verbreitete Ansicht, dass ihre Untergebenen über mindere intellektuelle Fähigkeiten verfügten, noch ließ sich eine solche pauschale Vorverurteilung mit den christlichen Überzeugungen vereinbaren, die viele der Sklavenhalter hatten. 10 Insbesondere wird sich der vernünftige Pluralismus der Gründe nicht auf die Frage erstrecken, ob Menschen in ihrer Selbstbestimmung respektiert werden sollten. Denn jeder Mensch sollte selbstbestimmt handeln, da jeder Mensch das tun sollte, wofür seine besten Gründe sprechen: Nicht nur dass man durch autonomes Handeln Autor seines eigenen Lebens wird, was zweifellos wertvoll ist – es ist eine begriffliche Wahrheit, dass menschliches Handeln auf Gründe ausgerichtet ist. Auf die Frage »Was soll ich tun?« ist die Antwort »Das Richtige, d. h. dass wofür deine besten Gründe sprechen« notwendigerweise korrekt. Doch wenn jeder Mensch vernünftig und damit selbstbestimmt handeln sollte, so sollte auch jeder Mensch die Möglichkeit zu selbstbestimmtem Handeln erhalten.

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K. Anthony Appiah stellt dies eindrücklich dar in Appiah (2010, Kapitel 3).

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Das liberale Prinzip zur Wahrung von Autonomie Räumt man dem Individuum die Möglichkeit zu autonomem Handeln ein, entspricht man den lebensweltlichen Intuitionen, an denen der Utilitarismus scheitert. Denn zwingt man den Einzelnen zu Handlungen gegen seine Überzeugungen, so wird er sich mit diesen Handlungen nicht identifizieren. Daher kann er sich mit Blick auf die aufgezwungene Handlung nicht als eigenständigen Akteur, sondern muss sich als bloßes Mittel zu ihrer Ausführung ansehen. Verhindert man solchen Zwang, verhindert man also die Instrumentalisierung von Personen. Und auch die personale Integrität und sozialen Verpflichtungen des Einzelnen werden durch den Schutz seiner Autonomie gewahrt. Denn wenn eine Person nicht daran gehindert wird, ihren besten Gründen zu folgen, hat sie die Möglichkeit, sowohl ihren persönlichen Projekten als auch den Aufgaben nachzukommen, die aus ihren sozialen Nahbeziehungen erwachsen. Will man aus den genannten Gründen die individuelle Möglichkeit zu selbstbestimmtem Handeln schützen, sollte für Menschen in ihrem sozialen und politischen Umgang miteinander das liberale Prinzip gelten: Einer beliebigen Person A darf eine Handlung x nur dann seitens des Staat oder der Gesellschaft verboten werden, wenn dieses Verbot vor A gerechtfertigt ist. Denn wenn ein Verbot vor A gerechtfertigt ist, obwohl sie dadurch ihrer Handlungsalternative x beraubt wird, so bedeutet das, dass in As eigenen Augen die besseren Gründe für die Verhinderung von x als für das Ausführen von x sprechen. Doch wenn nach A die besseren Gründe für die Verhinderung als für das Durchführen von x sprechen, so kann x nicht konklusiv vor A gerechtfertigt sein und A wäre im Ausführen von x auch nicht selbstbestimmt. Das liberale Prinzip stellt also sicher, dass Personen nur in solchen Handlungen eingeschränkt werden, die nicht konklusiv vor ihnen gerechtfertigt sind und in denen sie demnach nicht autonom sein können. Dadurch schützt das liberale Prinzip die Möglichkeit des Einzelnen zu selbstbestimmtem Handeln. Wie sein Name verrät, ist das liberale Prinzip Kerngedanke des Liberalismus. Allerdings versteht dieser das liberale Prinzip nicht nur als eine Regel für den Umgang von Individuen miteinander, sondern vor allem als Regel dafür, wie sich ein Staat gegenüber seinen Bürgern verhalten muss. Für den Liberalismus ist das liberale Prinzip also primär ein politisches. Zwei Gründe sprechen für diese Akzentverschiebung: Zum einen kann der Staat als Inhaber des Gewaltmonopols dem Individuum besonders viel verbieten, so dass eine Regelung seines Handelns besonders dringlich ist. Vor allem aber bestimmt der Staat das Verhältnis der Individuen untereinander mit. Denn ohne die Bedeutung individueller moralischer Abwägungen mindern zu wollen, sind es doch auch gesetzliche Vorgaben, die unser Verhalten unseren Mitbürgern gegenüber regeln. Stellt man also sicher, dass der Staat die Autonomie des Einzelnen achtet – indem er sie nicht selbst einschränkt und indem er mit seiner Gesetzgebung dafür sorgt, dass die Bürger dies nicht untereinander tun –, ist dies der effektivste Schutz für Autonomie. So argumentiert beispielsweise John Rawls dafür, dass die Grundstruktur eines Staates Prinzipien entsprechen sollte, die allgemein gerechtfertigt

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sind. 11 Durch diese Forderung wird sichergestellt, dass alle Vorschriften, die der Staat erlässt, selbst wieder allgemein und damit insbesondere auch vor den Bürgern gerechtfertigt sind. Doch nicht nur Rawls spricht sich für das liberale Prinzip aus, sondern alle liberalen Autoren der kontraktualistischen Tradition. Denn gleichgültig was Kontraktualisten konkret fordern, gelten diese Forderungen immer nur in der Annahme, dass die Bürger sie vertraglich beschließen würden. Aber als vernünftige Akteure würden die Bürger natürlich nur dasjenige vertraglich beschließen, wozu sie guten Grund haben, was also vor ihnen gerechtfertigt ist. Doch auch wenn das liberale Prinzip von vielen Autoren vertreten und Autonomie somit als wichtiger Maßstab im Umgang von Bürgern miteinander anerkannt ist: Die Orientierung an individueller Autonomie stellt eine Herausforderung dar. Der Grund hierfür ist zum einen, dass Autonomie (wie oben bereits dargelegt) inhaltlich nur schwach gefüllt ist. Man kann also nur von wenigen Handlungen ohne weitere Kenntnis der Gründe des Handelnden wissen, dass sie nicht autonom sein und daher verboten werden können. In der Praxis bedeutet das, dass man sich im Umgang miteinander um Kenntnis der Gründe des anderen bemühen muss – und dies gilt sowohl für die Interaktion von Personen untereinander als auch für den Umgang des Staates mit seinen Bürgern. Zum anderen zwingt Respekt vor der Autonomie des anderen – einen Pluralismus der Gründe vorausgesetzt – den Einzelnen zur Toleranz. Denn unter Umständen wird eine beliebige Person A eine andere Person B in einer Handlung x gewähren lassen müssen, die A begründeterweise als unvernünftig ablehnt, die aber für B vor dem Hintergrund ihrer eigenen Gründe rational ist. Dass uns das liberale Prinzip in der dargestellten Art herausfordert, möchten wir abschließend an einem Beispiel verdeutlichen: Muss man eine Person in ihrem Wunsch, ihr eigenes Leben zu beenden, gewähren lassen? 12 Legt man das liberale Prinzip zugrunde, ist gegen den Suizid einer Person nicht vorzugehen, sofern die Person konklusive Gründe für diese Handlung hat und also selbstbestimmt agiert. Prima facie könnte man bezweifeln, dass jemals gute Gründe dafür sprechen sein eigenes Leben abzukürzen. Aber betrachten wir den Fall einer moribunden Person, die ihren Tod herbeisehnt um unerträgliche Schmerzen zu vermeiden. Hier findet eine Abwägung zwischen Lebensdauer und Schmerzfreiheit bzw. Schmerzlinderung statt. Warum sollte man ex ante ausschließen, dass die Person begründetermaßen dazu kommt, einen schmerzfreien Tod dem schmerzvollen Weiterleben vorzuziehen? Damit hat man aber noch nicht akzeptiert, dass der Wunsch nach Selbsttötung immer respektiert werden sollte. Mindestens zwei Ausnahmen sind offen11

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Dies ist der Inhalt von Rawls’ Forderung, dass Grundsätze der politischen Gerechtigkeit Gegenstand einer Urzustandswahl sein müssen. Denn der Effekt des Urzustands, insbesondere des Schleiers des Nichtwissens, ist, eine egoistische Wahl unmöglich zu machen und stattdessen die Wahl von Grundsätzen zu erzwingen, die allgemein gerechtfertigt sind. Vgl. Rawls (1975 [EA 1971], Kap. 3). Für eine ausführliche Diskussion dieses Problems vgl. Nida-Rümelin (2005b [EA 1996]), 891– 896). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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sichtlich: Der erste Fall liegt vor, wenn die Wünsche einer Person ihren eigenen Gründen eklatant (und im Falle ihres Ablebens unwiderruflich) zuwiderlaufen. Eine Situation dieser Art wäre beispielsweise dann gegeben, wenn ein Jugendlicher sich aus Liebeskummer töten möchte. In vielen Fällen mag ein Wunsch dieser Art Appellcharakter haben (Appell an die Person, die den Liebeskummer ausgelöst hat, zurückzukommen; Appell an den Freundeskreis, zu helfen, etc.). Aber auch dann, wenn der Wunsch, sich selbst zu töten, im Stillen gereift ist und nicht bloßen Appellcharakter hat, wird man doch in den meisten Fällen davon ausgehen können, dass er von der Person rationaliter als unangemessen empfunden werden sollte. In Situationen dieser Art besteht offensichtlich eine Interventionspflicht Dritter im Interesse der betreffenden Person. Man kann hier guten Gewissens von unterlassener Hilfeleistung sprechen, wenn man nicht alles tut, um die Selbsttötung zu verhindern. Der zweite paradigmatische Fall einer Interventionspflicht liegt vor, wenn eine Person nicht (mehr) imstande ist, ihren eigenen Deliberationen entsprechend zu handeln oder überhaupt Deliberationen anzustellen. Die denkbaren Gründe für eine solche Unfähigkeit sind vielfältig. Sie können auf Defizite der Wahrnehmung, der Intelligenz oder des Verhaltens zurückgehen. Personen, die nicht imstande sind, sich die notwendige Medizin selbst zu verabreichen, muss geholfen werden. Personen, die nicht imstande sind, den Zusammenhang zwischen Mitteleinnahme und eigenem Überleben nachzuvollziehen, darf ein Mittel auch zwangsweise verabreicht werden. Gleiches gilt für Personen, die etwa wegen eines schizophrenen Schubes unter Wahrnehmungsstörungen leiden und sich töten möchten. Von diesen beiden paradigmatischen Falltypen abgesehen sollte man jedoch einen Vertrauensvorschuss leisten. Dies bedeutet, dass jeder erwachsenen Person unterstellt werden sollte, dass sie sich in ihrem eigenen Leben von ihren besten Gründen leiten lässt, selbst wenn dies – wie im Falle der Selbsttötung – tragische Konsequenzen hat. Doch der Respekt vor der Selbstbestimmung des Einzelnen rechtfertigt dieses weitgehende Interventionsverbot. Literatur Appiah KA (2010) The Honor Code. How Moral Revolutions Happen. W. W. Norton & Company, New York /London Colburn B (2010) Autonomy and Liberalism. Routledge, New York /London Dworkin G (1989) The Concept of Autonomy. In: Christman J (Hrsg.) The Inner Citadel. Essays on Individual Autonomy. Oxford University Press, New York, 54– 62 Foucault M (1994 [EA 1976]) Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Suhrkamp, Frankfurt/M Frankfurt H (2009 [EA 1971]) Freedom of the Will and the Concept of a Person. In: Watson G (Hrsg.) Free Will. Oxford University Press, Oxford et al., 322–336 Harsanyi JC (1977) Rule utilitarianism and decision theory. In: Erkenntnis 11(1): 25– 53 Hoerster N (1977 [1971]) Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung. Alber, Stuttgart /München Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Hume D (2005 [1740]) A Treatise of Human Nature. Norton DF, Norton MJ (Hrsg.), Oxford University Press, Oxford et al. Kant I (1999 [1785]) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Mit einer Einleitung herausgegeben von Bernd Kraft und Dieter Schönecker. Meiner, Hamburg Nida-Rümelin J (1995 [EA 1993]) Kritik des Konsequentialismus. Oldenbourg, München Nida-Rümelin J (2005) Über menschliche Freiheit. Reclam, Stuttgart Nida-Rümelin J (2005a [EA 1996]) Theoretische und angewandte Ethik: Paradigmen, Begründungen, Bereiche. In: Nida-Rümelin J (Hrsg.) Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Kröner, Stuttgart, 2–87 Nida-Rümelin J (2005b [EA 1996]) Wert des Lebens. In: Nida-Rümelin J (Hrsg.) Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Kröner, Stuttgart, 886–914 Nida-Rümelin J (2009) Philosophie und Lebensform. Suhrkamp, Frankfurt/M Rawls J (1975 [EA 1971]) Eine Theorie der Gerechtigkeit. Suhrkamp, Frankfurt/M Raz J (1988 [EA 1986]) The Morality of Freedom. Oxford University Press, Oxford et al. Singer P (1999 [EA 1979]) Practical Ethics. Cambridge University Press, Cambridge et al. Smart JJC, Williams B (1986 [EA 1973]) Utilitarianism for and against. Cambridge University Press, Cambridge et al. Strawson P (2009 [EA 1963]) Freedom and Resentment. In: Watson G (Hrsg.) Free Will. Oxford University Press, Oxford et al., 72–93 Wallace RJ (1994) Responsibility and the Moral Sentiments. Cambridge University Press, Cambridge et al. Williams B (1981) Persons, Character and Morality. In: Williams B (Hrsg.) Moral Luck. Philosophical Papers 1973–1980. Cambridge University Press, Cambridge, 1–19

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Vilhjálmur Árnason

Patientenautonomie, Humangenetik und Biopolitik Einleitung: eine liberale Position Nur allzu selten werden bioethische Positionen explizit aus dem Blickwinkel der politischen Philosophie behandelt. 1 Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet das Buch Bioethics in a Liberal Society des australischen Philosophen Max Charlesworth. Er hält uns dazu an, uns bei der Diskussion bioethischer Fragen ausdrücklich auf die gesellschaftlichen und politischen Kontexte zu beziehen, in denen diese Fragen zuallererst aufkommen. Die Stoßrichtung seiner Argumentation ist, dass wir in einer liberalen, demokratischen, multikulturellen Gesellschaft leben, in der im besten Falle die Werte persönlicher Freiheit und Autonomie Vorrang genießen. In einer solchen Gesellschaft ist es nicht Aufgabe des Staates, den Bürgern vorzugeben, wie sie ihr Leben führen sollten. »Der Gedanke der Autonomie ist ein überwältigend offensichtlicher«, schreibt Charlesworth; »er bedeutet schlicht, dass ich selber entscheiden muss, was ich tue, wenn meine Handlung eine ethische oder moralische sein soll« (Charlesworth 1993, 10). Er verknüpft diesen Gedanken mit dem Kernideal einer liberalen Gesellschaft, »dass es Menschen freistehen sollte, ihre Lebensentscheidungen selber zu treffen, und dass es daher nicht die Aufgabe des Staates oder des Rechtssystems ist, uns tugendhaft zu machen, eine bestimmte individuelle Moral durchzusetzen oder ein gemeinsame Moral zu etablieren« (Charlesworth 1993, 16).

In vieler Hinsicht ist das eine attraktive und »überwältigend offensichtliche« Position: Menschen sollte es freistehen, ihre eigenen Lebensentscheidungen zu treffen. In seinem Buch nennt Charlesworth einige Schlüsselbeispiele aus der bioethischen Debatte, um die Bedeutung des liberalen Ideals zu veranschaulichen. Ich werde diese spezifischen Themen hier nicht diskutieren, und ich gehe mit Charlesworth davon aus, dass es Individuen freistehen sollte, ihre eigenen Lebensentscheidungen zu treffen. Ich möchte aber unter Rekurs auf Beispiele aus dem Bereich der Humangenetik zeigen, dass die liberale Position wichtige Faktoren aus dem Auge verliert, die sich grundlegend auf die Bedingungen auswirken, unter denen eigene Lebensentscheidungen getroffen werden können. Der wesentliche Grund dafür ist, dass die liberale Position sich ausschließlich darauf konzentriert, wie mit rechtlichen Mitteln der Bereich der persönlichen Moral vor den Eingriffen staatlicher Autorität geschützt werden kann. Auch wenn damit eine notwendige Bedingung für die Ausübung persönlicher Autonomie angesprochen sein mag, ist sie bei weitem nicht hinreichend. Es wird zunehmend wichtiger, zu untersuchen, inwieweit die Bedingungen für ein freies Entscheiden der Bürger gegenwärtiger Gesellschaften auch von Kräften tangiert werden, die von anderen gesellschaftlichen Bereichen wie etwa der kulturellen und ökonomischen Sphäre ausgehen. 1

Übersetzung des Textes aus dem Englischen von Felix Koch. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Es gibt guten Grund zu glauben, dass die Humangenetik komplexe Fragen an die liberale Position aufwirft, wie wir sie bei Charlesworth dargestellt finden. Tatsächlich ergeben sich manche dieser Fragen gerade deshalb, weil zu viele Entscheidungen der persönlichen Sphäre überlassen werden und politisch unterreguliert bleiben, teils im Entgegenkommen an ökonomische Kräfte und kulturellen Druck. Ich werde einige Beispiele besprechen, an denen das deutlich wird und die zeigen, dass es einer reichhaltigeren und stärker kollektiven Perspektive auf die Bedingungen menschlicher Autonomie bedarf, als die liberale Position sie bietet. Es ist zu Recht argumentiert worden, dass eine individualistische Herangehensweise an Autonomie für Fragen der Humangenetik im Allgemeinen unzulänglich ist. Letztere führt uns nämlich deutlich vor Augen, dass wir »in einer Welt leben, die wir mit anderen teilen – in Netzwerken von Beziehungen, Familien und Gemeinschaften – und das bedeutet, dass ein autonomes Leben zu führen notwendigerweise heißt, sich mit den sozialen Dimensionen und Begrenzungen des eigenen Entscheidens und Handelns auseinanderzusetzen und diese ernst zu nehmen« (Parker 2000, 162).

Wie lässt sich die daraus resultierende Herausforderung bewältigen, ohne den Idealen einer liberalen Gesellschaft den Rücken zu kehren? Beispiel: Reproduktive Freiheit Reproduktive Freiheit ist in diesem Zusammenhang ein bezeichnender Fall. Sie bietet ein klares Beispiel für politische Entscheidungen, die in erster Linie unter Berufung auf die freie Wahl der Eltern gerechtfertigt werden. Charlesworth (1993, 102) schreibt dazu: »In einer liberalen Gesellschaft sollte das »Recht auf Fortpflanzungsfreiheit« mit allem, was es beinhaltet, anerkannt werden und rechtliche Einschränkungen sollten entfernt werden«. Einige der wichtigsten Fürsprecher reproduktiver Freiheit haben dieses Recht mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und mit dem Recht auf Religionsfreiheit verglichen, da die betreffenden Entscheidungen in einem besonders intimen Sinne persönliche seien (Dworkin 1996; Harris 1998). Aus Sicht der traditionellen liberalen Position sollte der individuelle Entscheidungsspielraum soweit maximiert werden, wie andere dadurch nicht geschädigt werden. In diesem Zusammenhang ist es, wie Onora O’Neill (2002) erläutert hat, von grundlegender Bedeutung, ob das behauptete Recht auf Fortpflanzungsfreiheit in negativer oder in positiver Hinsicht in Anspruch genommen wird. Ihr zufolge kann man unter Verweis auf individuelle Autonomie plausibel für eine liberale Position argumentieren, was den Einsatz von Mitteln zur Verhinderung von Fortpflanzung angeht – weitaus weniger plausibel dagegen für das »Ziel, eine dritte Partei – ein Kind – in die Welt zu bringen« (O’Neill 2002, 61). Dieser wichtigen Beobachtung schließe ich mich an. Ich möchte hier aber vor allem zeigen, dass es ganz unabhängig von der Frage der negativen oder positiven Ausübung der reproduktiven Freiheit zweifelhaft ist, ob die Entfernung rechtlicher Beschränkungen dazu hinreicht, Menschen zum Treffen ihrer eigenen Lebensentscheidungen zu befähigen. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Árnason: Patientenautonomie, Humangenetik und Biopolitik

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Im Jahr 2005 ließen 84,5% der isländischen Frauen in der Hauptstadtregion eine pränatale Untersuchung vornehmen, und jeder Fötus, bei dem das Gen für das Down-Syndrom festgestellt wurde, wurde abgetrieben (Gottfredsdóttir 2009, 18). Anders als bei der Eugenik alten Stils, die unter Verweis auf öffentliche Gesundheitsinteressen von Zwangsmaßnahmen Gebrauch machte, werden die heutigen Praktiken unter Rekurs auf das Prinzip der elterlichen Entscheidungsfreiheit gerechtfertigt. Diese Entscheidungsfreiheit soll dadurch realisiert werden, dass bei jedem Schritt die wohlinformierte Einwilligung der Frau oder des Paares eingeholt wird. Zwar ist es nicht geradezu falsch zu sagen, dass diese Praxis Personen beim Treffen ihrer Lebensentscheidungen hilft – es ist aber dennoch irreführend, weil diese Entscheidungen bereits in einem breiteren Kontext angesiedelt sind, der auf einen bestimmten Ausgang hinwirkt. Mit Foucault (1977) kann man sagen, dass diese Praxis eine normalisierende ist, und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens ist sie normalisierend in dem Sinne, dass sie auf den Umgang mit einer Anomalie abzielt, nämlich das Vorliegen des Down-Syndroms bei einem Fötus, und damit eine Definition des normalen menschlichen Organismus voraussetzt. Zweitens ist sie normalisierend auch in dem Sinne, dass der gesamte Prozess den Status einer sozialen Norm gewonnen hat und zu einem weitgehend unbefragten Bestandteil der Praxis pränataler Versorgung geworden ist (die im Isländischen »Mutterüberwachung« heißt, was der foucaultianischen Analyse entgegenkommt). Eine Interpretin (McNay 1994, 94) schreibt: »Die ›Richter der Normalität‹ in Gestalt des Sozialarbeiters, des Lehrers, der Ärztin, sind überall damit beschäftigt, jedes Individuum gemäß einem Kanon normalisierender Annahmen zu diagnostizieren, [. . .] die von einem Netzwerk scheinbar segensreicher und wissenschaftlicher Formen des Wissens in Gang gesetzt werden.«

Ein integraler Bestandteil dieser Auffassung des subtilen Wirkens horizontaler Macht ist, dass keine Autorität den Individuen vorgibt, was sie zu tun haben. So gesehen, trifft sich dieses Bild mit der liberalen Position. Zugleich deckt es aber konsequent die innere Begrenztheit dieser Position auf, insofern sie nämlich den ganzen gesellschaftlichen Bereich kultureller und ökonomischer Kräfte ignoriert, die auf die persönlichen Entscheidungen der Individuen einwirken. Der liberalen Position kann der Vorwurf gemacht werden, sie beruhe auf einem defizitären Begriff der Vernunft. Der vorherrschende liberale Begriff der Autonomie wird häufig als eine Form der instrumentellen Rationalität erläutert, eingeschränkt auf solche Ziele, deren Verfolgung anderen keinen Schaden zufügt (Häyry 2010; Árnason 2011). Diese Bestimmung hat mitunter durchaus zweifelhafte Konsequenzen, die in Fällen der positiven Ausübung reproduktiver Freiheit besonders deutlich zutage treten. Allerdings ist es keine leichte Aufgabe, dieser vorherrschenden Auffassung, die zudem sehr weitreichend in den gesellschaftlichen Diskurs verwoben ist, sinnvolle Alternativen entgegenzustellen. Eine mögliche Reaktion ist es, die Betonung persönlicher Autonomie in der Bioethik als ein fehlgeleitetes Ideal zurückzuweisen. In der bioethischen Literatur finden sich verschiedene Versionen dieses Ansatzes, die aber allesamt dahinClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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gehend charakterisiert werden können, dass sie, wie Charlesworth (1993, 16) es formuliert, persönliche Autonomie »›objektiven‹ moralischen Werten unterordnen«. Nach Charlesworth (1993, 23) gibt es in der liberalen Gesellschaft »kein substantielles gemeinsames Gutes, wohl aber eines, das auf den Werten der Freiheit, der Autonomie und des moralischen Pluralismus beruht«. Versuche, diese Werte substantiellen Gütern wie etwa den Zwecken und dem Berufsethos der Medizin (Callahan 1987), einer Idee der »Begabung« (Sandel 2008) oder dem Mysterium des Lebens unterzuordnen (Kass 2002), gehen aus dieser Sicht in die Irre. Zwar bezieht sich Charlesworth nicht auf die gerade genannten Autoren, jedoch sind ihm zufolge manche Einstellungen gegenüber der reproduktiven Freiheit »so autoritär und paternalistisch, dass man sich fragt, ob ihren Befürworter überhaupt bewusst ist, dass sie angeblich in einer liberal-demokratischen Gesellschaft leben« (Charlesworth 1993, 27). Angelehnt an Webers (2002/1922) Analyse unterschiedlicher Rationalitätstypen kann man die substantiellen Einwände gegen die instrumentelle Rationalität, wie sie dem vorherrschenden Verständnis persönlicher Autonomie zugrunde liegt, als wertrational charakterisieren. Im Gegensatz zur instrumentellen Rationalität, der zufolge der Wert eines bestimmten Ziels von den Präferenzen der handelnden Person abhängt, behaupten Vertreter der wertrationalen Auffassung, dass manche Ziele intrinsischen Wert haben und daher unabhängig von solchen Präferenzen respektiert werden müssen. Auch Charlesworths liberale Position impliziert allerdings nicht, dass es keine intrinsischen Werte gibt. Er argumentiert lediglich, dass solche Werte nicht als Grundlage eines rechtlich durchsetzbaren Gemeinwohls dienen können. Die Rechtfertigung politischer Maßnahmen unter Verweis auf einen Kanon »grundlegender Werte« (so Charlesworth 1993, 2) würde den Unterschied zwischen Moralität und Legalität, zwischen der Sphäre der persönlichen Moral und der des Rechts nivellieren. Die einzigen Werte, so können wir schließen, die im Namen des Gemeinwohls rechtlich durchgesetzt werden dürfen, sind die Werte der Freiheit, der Autonomie und des moralischen Pluralismus. Wie schon bemerkt, hat diese liberale Position etwas »überwältigend Offensichtliches«. Den Bürgern einer liberal-demokratischen Gesellschaft darf ihre Lebensführung nicht im Namen umstrittener moralischer Werte vorgeschrieben werden, ganz gleich wie sinnvoll diese Werte von der Warte des Moraltheoretikers aus erscheinen. Ein wesentliches Problem von Positionen, die die persönliche Autonomie objektiven Werten unterordnen wollen, liegt darin, dass die Begründung dieser wesentlich anfechtbaren Werte eine monologische ist. Sie können nicht als Eckpfeiler staatlichen Handelns dienen, solange sie nicht in einem freien und öffentlichen Gespräch geprüft worden sind und Zustimmung erfahren haben. Hier treffen wir erneut auf die Grenzen der liberalen Sichtweise, die eine zu scharfe Trennung zwischen dem Persönlichen und dem Politischen vornimmt, wenn sie letzteres auf die »Sphäre des Rechts« reduziert. Charlesworth (1993, 27) schreibt dazu: »So etwas wie einen ›Standpunkt der Gemeinschaft‹, der einen irgendwie privilegierten normativen Status hätte und als Grundlage einer öffentlichen Moral dienen könnte, gibt es nicht.« Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Ihm zufolge muss sich ein solcher gemeinschaftlicher Standpunkt stets auf die Autorität objektiver moralischer Werte stützen, die eigentlich nur im persönlichen Bereich Anwendung finden können. Die einzige realistische Alternative dazu ist dann die von ihm skizzierte liberale Position, die die Wahl politischer Entscheidungen dem Markt der individuellen Präferenzen überlässt. Trotz der offenkundigen Spannungen zwischen der liberalen und der kommunitaristischen Konzeption, wie ich sie hier beschrieben habe, ist es beiden gemeinsam, dass sie eine wichtige Alternative aus dem Auge verlieren. Ich denke dabei an Möglichkeiten kollektiver Autonomie, wie sie im Sinne der Idee einer kommunikativen Rationalität ausgearbeitet worden sind. Ein solcher Zugang beschränkt sich weder im Namen liberaler Autonomie auf individuelle Präferenzen im Kontext eines Marktes, noch verlangt er eine Begrenzung der Autonomie, um so den Schutz substantieller Werte zu gewährleisten. Vielmehr ist es aus dieser dritten Perspektive am wichtigsten, nach den Bedingungen menschlichen Handelns in einer Gesellschaft zu fragen, die es kollektiv zu gestalten gilt und die deshalb einer Konzeption demokratischer Bürgerschaft und demokratischer Institutionen bedarf. An diesem Punkt ist zu bemerken, dass der prominenteste Vertreter dieses Ansatzes, Jürgen Habermas (2001), das kontroverse Thema der prokreativen Freiheit behandelt, ohne seine Argumentation dabei direkt auf der Idee der kommunikativen Rationalität aufzubauen. Er argumentiert, dass die liberale Position genetische Entscheidungen individuellen Präferenzen im Kontext des Marktes ausliefert und damit dem ethischen Selbstverständnis unserer Spezies als einer von freien und verantwortlichen Wesen zuwiderläuft. Habermas wendet sich damit nicht gegen individuelle Autonomie, sondern versucht zu zeigen, auf welche Weise diese von der liberalen Position selber auf lange Sicht unterminiert zu werden droht. Aber anstatt dieser Gefahr auf der politischen Ebene zu begegnen, zieht Habermas sich auf ein ebenso obskures wie kontroverses anthropologisches Argument zurück, 2 das keine klare und überzeugende Alternative zur liberalen Position bietet. Im Gegenteil legt Habermas’ Argument zuviel Gewicht auf individuelle Zustimmung und individuelle Verantwortung für genetische Entscheidungen, anstatt sich der reichhaltigen Mittel zu bedienen, über die seine eigene Theorie der kollektiven Autonomie verfügt. Dennoch scheint es mir, dass Habermas mit seiner Kerndiagnose, die liberale Position untergrabe sich selbst, recht hat. Wir sollten die liberale individualistische Konzeption der Autonomie ebenso wie die sie tragenden Prozeduren ihrer Umsetzung zurückweisen, da beide bestimmte Grundbedingungen menschlichen Handelns vernachlässigen und letzteres damit beeinträchtigen. Diese Bedingungen sind sowohl persönliche als auch institutionelle und gesellschaftliche; sie betreffen individuelle Entscheidungsfähigkeit, institutionelle Strukturen und Praktiken sowie gesellschaftliche Handlungs- und Interaktionsräume. Die Bedingungen individuellen Handelns müssen an eine Kon2

Vgl. dazu die Beiträge des Sonderheftes der Cambridge Quarterly of Health Care Ethics zu Kant und Habermas (Cambridge Quarterly of Health Care Ethics 21(2), Special Section: Kant, Habermas, and Bioethics). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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zeption demokratischer Staatsbürgerschaft zurückgebunden werden und an eine Vorstellung davon, welche Institutionen und Prozesse eine gehaltvolle öffentliche Ausübung kollektiver Autonomie ermöglichen. Wenn die Idee der Autonomie aus dem individualistischen Korsett der liberalen Theorie befreit wird, verbindet sie sich zugleich mit Gerechtigkeitsfragen. Der Gedanke, dass es Menschen freistehen solle, ihre Lebensentscheidungen für sich selbst zu treffen, wird nicht zurückgewiesen, sondern vielmehr in einen gesellschaftlichen Kontext gerückt: faire Lebenschancen und der Zugang zu Dienstleistungen müssen Gegenstände eines öffentlichen Diskurses sein. Wenn wir uns im Lichte dieser Überlegungen wieder dem Beispiel reproduktiver Freiheit zuwenden, stehen wir der Herausforderung gegenüber, eine wohlinformierte und kritische Debatte über die relevanten politischen Maßnahmen zu führen. Eine solche Debatte kann auf zwei unterschiedlichen Ebenen stattfinden. Zum einen kann sie sich auf Strukturen der Verantwortlichkeit richten, indem sie eine kritische Analyse der Argumente, Normen und Gründe vornimmt, die zur Verteidigung bestimmter politischer Entscheidungen angeführt werden (Chambers 2003). Zum anderen kann es ihr um diskursive Praktiken gehen, um die Förderung deliberativer Foren, mithilfe deren gemeinwohlrelevante Perspektiven in die politische Entscheidungsfindung Eingang finden können (Fishkin 2009). Der Verweis auf individuelle Freiheit ist nur eines der Argumente, die eine solche kritische Analyse zu untersuchen hat. Es kann, anders als Charlesworth meint, nicht als Trumpf dienen. Desgleichen sollten wichtige substantielle Güter, die in unterschiedlichen Lebensmodellen verwurzelt sind, Berücksichtigung finden. Ihre Bedeutung für die politische Gestaltung hängt aber davon ab, inwieweit sie unserer gemeinsamen Existenz und Interaktion in einer pluralistischen Gesellschaft dienen können. Wie wir bereits gesehen haben, ist der liberale Ansatz unter anderem deshalb ein beschränkter, weil er sich ganz auf die politischen und rechtlichen Grenzen individueller Autonomie konzentriert und dabei die kulturellen und ökonomischen Faktoren vernachlässigt, die einen substantiellen Einfluss auf das Urteilen, Entscheiden und Handeln Einzelner haben können. Anders, wenn wir von der Idee der kollektiven Autonomie ausgehen: ein Vorteil dieser Herangehensweise ist, dass wir alle Faktoren untersuchen und einer kritischen Prüfung unterziehen müssen, die einer offenen und öffentlichen Debatte im Wege stehen. So stellt sich auf viel radikalere Weise als beim liberalen Ansatz die Frage nach den Realisierungsbedingungen der Idee, dass es Individuen freistehen sollte, ihre eigenen Lebensentscheidungen zu treffen. Dieser Eindruck wird durch ein weiteres und ganz anderes Beispiel aus dem Bereich der Genetik bestätigt, dem ich mich jetzt zuwende.

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Beispiel: personalisierte Medizin Auf der Website des isländischen Genforschungsunternehmens deCODE Genetics 3 heißt es über den an Einzelkunden gerichteten Online-Service deCODEme: »Wir helfen Ihnen, Ihre Ergebnisse zu interpretieren, und wir zeigen Ihnen, was die Ergebnisse mit Ihrer Gesundheit zu tun haben. Sehen Sie sich online Ihre Ergebnisse an und setzen Sie sich dann mit einem unserer Experten in Verbindung oder besprechen Sie die Ergebnisse mit Ihrem Arzt«.

Zugunsten dieses Projekts wird angeführt, es verschaffe Personen die Möglichkeit, mehr Verantwortung für ihre eigene Gesundheit zu übernehmen. Aus der Perspektive liberaler Autonomie wäre das ein wünschenswerter Umstand, wüchse damit doch die Fähigkeit der Inviduen, ihre eigenen Lebensentscheidungen zu treffen. Allerdings gibt es mindestens drei Gründe, zu bezweifeln, dass in diesem Zusammenhang tatsächlich Bedingungen der Autonomie geschaffen werden. Diese Gründe betreffen die Art der relevanten Informationen, die Verantwortung für die eigene Gesundheit und die möglichen Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheitsversorgung. Zu den Bedingungen freien Handelns gehört es, dass ein solches Handeln auf einem verlässlichen Wissen von den verfügbaren Optionen beruht. Ein gravierendes Problem an Endkunden gerichteter Dienstleistungen und vieler anderer Formen der sogenannten personalisierten Medizin ist es, dass die mitgeteilten Informationen im Regelfall die relative Anfälligkeit für gewöhnliche, aber auch für komplexe Erkrankungen betreffen, die »von verschiedenen Genvarianten, Interaktionen zwischen diesen Varianten sowie von Interaktionen zwischen den Varianten und Umweltfaktoren« ausgelöst werden (Hunter, Khoury, Drazen 2008). Aus diesem Grund werden immer wieder Zweifel an der analytischen wie auch der klinischen Zuverlässligkeit solcher genetischen Tests geäußert. Es besteht kein Grund zu glauben, dass die betreffenden Informationen Patienten ermächtigen, indem sie diesen etwa eine größere Kontrolle über die Wahl zwischen unterschiedlichen Behandlungen gestatten (Juengst, Flatt, Setterstein 2012). Der Jargon der personalisierten Medizin und der Ermächtigung von Patienten ist ein Stück Vermarktungsrhetorik, das den Zwecken einer »vielversprechenden Wissenschaft« entspricht (Hedgecoe 2004) und die Autonomie von Patienten nicht substantiell zu steigern scheint. Die oben zitierte Erklärung von deCODEme empfiehlt zweitens den Patienten, ihre Ergebnisse mit dem Arzt zu besprechen. Im Kontext eines öffentlich finanzierten Gesundheitssystems könnte das die Belastung der sozialmedizinischen Dienste erhöhen und sich auf deren Bereitstellung auswirken. Das ist ein Beispiel für die unbeabsichtigten Folgen des Projekts einer personalisierten Medizin, die ihre Dienstleistungsangebote an Endkunden richtet: »Ärzte könnten dadurch veranlasst werden, Patienten zu Untersuchungen zu schicken, die durch keine verlässlichen Befunde zu rechtfertigen sind. Das würde eine zusätzliche Belastung unserer öffentlichen Gesundheitsdienste bedeuten und 3

Siehe dazu http: // www.decodeme.com / about-decodeme (Zugegriffen 30. Okt. 2012). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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könnte dazu führen, dass deren begrenzte Mittel auf arbiträre Weise eingesetzt werden. Zudem würde es bewirken, dass Präventivmaßnahmen weniger fokussiert vorgenommen und damit weniger wirksam würden. Auf diese Weise wäre mit höheren Kosten für das öffentliche Gesundheitssystem zu rechnen, denen keine Ergebnisse im Sinne besserer individueller Gesundheitsversorgung entsprächen« (Stefánsdóttir 2010, 35).

Diesem Gedankengang folgend könnte man argumentieren, dass das Projekt einer Personalisierung der Medizin das öffentliche Gesundheitssystem beschädigt, dessen Aufgabe es ist, alle Bürger mit grundlegenden Primärgütern zu versorgen und es ihnen so zu ermöglichen, ihre Lebenspläne zu verwirklichen (Rawls 1979). Das öffentliche Gesundheitssystem basiert auf dem Prinzip der Solidarität und damit auf der Übernahme gemeinsamer Verantwortung sowohl für die Kosten der Gesundheitsversorgung als auch für das Risiko des Krankwerdens (Choices in Health Care 1992). Der gängige Jargon der personalisierten Medizin bringt diese solidaristische Perspektive in die Defensive, indem er für individuelle Gesundheitsplanung und die Übernahme persönlicher Verantwortung plädiert. Das trifft sich gut mit dem liberalen Gedanken, dass Individuen ihre eigenen Lebensentscheidungen treffen sollten und dass, wie Charlesworth (1993, 120) darlegt, Patienten »die primäre Verantwortung für ihre eigene Gesundheitsversorgung tragen«. Kritisch steht Charlesworth (1993, 5) einem Diskurs der öffentlichen Gesundheitsversorgung gegenüber, der Fragen sozialer Gerechtigkeit und sozialer Macht akzentuiert, wenngleich er zugesteht, dass »in einer liberalen Gesellschaft die Regierung verpflichtet ist, [. . .] sozio-ökonomische Bedingungen zu fördern, unter denen persönliche Freiheit und Autonomie sich entfalten können« (1993, 5).

Einige der hauptsächlichen Fürsprecher einer personalisierten Medizin kritisieren einen »Paternalismus der öffentlichen Gesundheitsversorgung« (Brand, Brand 2011) und fordern, einem solchen Paternalismus durch individuelle medizinische Alphabetisierung und Planung entgegenzuwirken. Diesen Vorschlag beziehen sie zugleich auf den Gedanken eines stärkeren individuellen Engagements und einer »Demokratisierung von Information« (Brand, Brand 2011): »Eine neue und noch größere Herausforderung ist der freie, direkte Zugang von Bürgern und Konsumenten zu Genominformationen bzw. genetischen Tests. Damit liegt die Initiative beim Bürger, nicht mehr bei den Forschern oder Ärzten. Jede Investition in individuelle Gesundheitsexpertise wird somit zu einer verantwortungsvollen Übergabe genombasierter medizinischer Daten und verwandter Technologien an die Bürger beitragen.«

Hier bietet sich ein verführerisches Bild, das mit stark konsensfähigen Ideen wie individueller Verantwortung, Expertise und der Ausübung von Bürgerrechten operiert. Ignoriert werden von diesem optimistischen Diskurs über die gesundheitsplanerische Initiative des Bürger-Konsumenten allerdings die unbeabsichtigten gesellschaftlichen Folgen eines solchen Projekts. Die »Genetisierung« der Gesundheitsversorgung, gepaart mit einer zunehmenden Betonung individueller Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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medizinischer Verantwortung, könnte uns von den gesellschaftlichen Einflussfaktoren der Gesundheit ablenken, für die wir gemeinsam Verantwortung tragen (Árnason 2012). Ein neuerer Bericht der Weltgesundheitsorganisation (2008) belegt, dass ein solidarisch verfasstes Gesundheitssystem ein wesentliches Gut für alle Bürger bedeutet und dass seine Abwicklung nicht nur die öffentliche Gesundheit und das allgemeine Wohlergehen gefährden würde, sondern auch die Autonomie der Individuen selbst. Der Grund dafür ist, dass gehaltvolle moralische Handlungsfähigkeit auf gesellschaftliche Institutionen angewiesen ist, die dem Schutz des »lebensnotwendigen Geflechts reziproker Anerkennungsverhältnisse« dienen, »in denen die Personen ihre zerbrechliche Identität nur wechselseitig stabilisieren können« (Habermas 1991, 16). Wir sollten daher sorgfältig beobachten, auf welche Weise die Gentechnologie, deren Vermarktung an persönliche Autonomie und Verantwortung appelliert, sich unversehens auf das gesellschaftliche Gewebe auswirken kann, das die Grundlage unserer gemeinsamen Existenz bildet. Wenngleich der Fall der personalisierten Medizin sich in vieler Hinsicht von dem der reproduktiven Freiheit unterscheidet, wirft er ähnliche Fragen im Hinblick auf Patientenautonomie und Humangenetik auf. Auf unterschiedliche Weise fördern beide Beispiele die Defizite der liberalen Konzeption individueller Autonomie zutage und zeigen, dass die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen menschlicher Autonomie ein wesentlicher Bezugspunkt der Debatte sein müssen. Abschließend möchte ich kurz auf die Herausforderungen eingehen, die sich daraus für den bioethischen Diskurs über Autonomie und Humangenetik ergeben. Ausblick: Zukünftige Herausforderungen Im Lichte der vorangehenden Diskussion spricht vieles dafür, dass Fragen der Patientenautonomie nicht sinnvoll von einem sie umgebenden gesellschaftlichen Kontext isoliert werden können. Es reicht nicht aus, die möglichen Auswirkungen des Einsatzes von Gentechnologie auf die Risikosituation privater Individuen zu betrachten. Vielmehr gilt es auch die unbeabsichtigten Folgen dieser Technologie für die Gesundheitspolitik und die medizinische Praxis zu untersuchen. Daraus ergeben sich bedeutende Herausforderungen für die Bioethik, die bislang dazu tendiert hat, Überlegungen zur Patientenautonomie auf spezifische Behandlungs- und Forschungsentscheidungen zu beschränken. Die Absicht des vorliegenden Aufsatzes ist es gewesen, die Bedeutung des Kontextes aufzuzeigen, der die Ausübung individueller Autonomie prägt und unsere persönlichen Projekte ermöglicht oder auch hemmt. Das Projekt einer Rechtfertigung bioethisch relevanter politischer Entscheidungen wird damit komplexer. Umgekehrt könnte eine auf Erwägungen individueller Autonomie beschränkte Herangehensweise die vorschnelle Akzeptanz biopolitischer Neuerungen zur Folge haben. Der liberale Ansatz betont den Schutz der individuellen Entscheidungssphäre, ohne dabei den Raum in Betracht zu ziehen, der den Bürgern die Möglichkeit kollektiver Deliberation und kollektiven Handelns eröffnet. Indem sie Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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von diesem Raum und insofern auch von der deliberativen Ausrichtung der Bürger auf gemeinsame Belange absieht, vernachlässigt diese Herangehensweise entscheidende Voraussetzungen menschlicher Handlungsfähigkeit. Es bedarf dringend eines Nachdenkens darüber, wie eine kritische Bioethik diesen vernachlässigten Aspekten Geltung verschaffen kann. Mir scheinen hier zwei Aspekte besonders relevant zu sein. Erstens geht es darum, die Frage im Blick zu behalten, welches Bild des Bürgers die fraglichen politischen Optionen jeweils implizieren (Árnason 2009). Beschränkt sich unser bioethisches Anliegen darauf, das Individuum in seiner Privatsphäre zu schützen und dabei zugleich einen individuellen oder kollektiven Nutzen sei es medizinischer, sei es ökonomischer Art zu erzeugen? Oder nehmen wir demgegenüber auch die Tatsache ernst, dass wir als demokratische Bürger Verantwortung für politische Entscheidungen und deren gesellschaftliche Implikationen tragen? Diese Alternative kann man sich etwa anhand »deliberativer Übungen« verdeutlichen, bei denen Teilnehmer einen öffentlichen Blickwinkel auf Themen einnehmen, die sie gewöhnlich nur als isolierte Individuen wahrnehmen würden (Fishkin 2009). Zugleich ist es wichtig, vor einem Mißbrauch solcher demokratischer Veranstaltungen auf der Hut zu sein, insbesondere im Falle politischer Innovationen und vorauseilender Versprechungen einer Wissenschaft, die – wie etwa der neuere Diskurs der Genetik – verkündet, sie werde die Gesundheitsversorgung auf beispiellose Weise »revolutionieren«. Soziologische Analysen haben auf die Gefahren und Schwierigkeiten deliberativer Übungen hingewiesen: das framing der Themen sowie verdeckte Agenden können dazu dienen, die Bürger fügsam zu machen, um damit politischen Entscheidungen eine scheinbare demokratische Legitimität zu verleihen (Árnason 2012a). Im Vordergrund sollte deshalb die sorgfältige Untersuchung der Praktiken demokratischer Legitimität und demokratischer Verantwortlichkeit stehen. Die Gründe, die für politische Maßnahmen und für die Umsetzung technologischer Möglichkeiten angeführt werden, sollten geprüft und zu einem gehaltvollen Begriff menschlichen Handelns in einer demokratischen Gesellschaft in Beziehung gesetzt werden. Die wesentliche Herausforderung für die Bioethik und für eine demokratische Biopolitik lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wie kann man verhindern, dass Bürger zu passiven Subjekten sozialplanerischer Gestaltung werden? Obwohl das Versprechen individueller Autonomie in dem vorherrschenden humangenetischen Diskurs eine entscheidende Rolle spielt, ist dieser Diskurs zugleich mit latenten Machtinstanzen verwoben, die den Bürger-Konsumenten manipulieren. Wo subtile Strategien der Unterwerfung eine Bedrohung für die »überwältigend offensichtliche« liberale Auffassung darstellen, dass Menschen so sollten leben können, wie sie es möchten, dort ist ein Modell der Marktpräferenzen nicht mehr ausreichend. Vielmehr führt es dazu, dass wir uns noch weiter in das Netz der bestehenden Machtstrukturen verstricken. Ohne die Anliegen der liberalen Position zurückzuweisen, sollten wir in kritischer Absicht fragen, wie sich in der gegenwärtigen Gesellschaft die Bedingungen gehaltvoller Selbstbestimmung herstellen lassen. Dabei kann es nicht darum gehen, den persönlichen Bereich individuellen Entscheidens ganz gegen politische Einflussnahme abzudichten. Eher muss es unser Ziel sein, die Frage zu beantworten, was eine Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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faire Begrenzung individueller Entscheidungen und privater Aktivitäten durch kollektiv und demokratisch getroffende Entscheidungen der Bürger darstellt. Die Antwort auf diese Frage wird umstritten bleiben. Die Suche nach einer solchen Antwort ist das Äußerste, was wir als Bürger demokratischer Gesellschaften leisten können. Literatur Árnason V (2009) Scientific Citizenship, Benefit, and Protection in Population Based Research. In: Solbakk JH, Holm S, Hoffman B (Hrsg.) Ethics of research biobanking. Springer Verlag, Dordrecht, 131–141 Árnason V (2011) Nonconfrontational Rationality or Critical Reasoning. In: Cambridge Quarterly of Health Care Ethics 20: 228–237 Árnason V (2012) The Personal is Political: Ethics and Personalized Medicine. In: Ethical Perspectives 19: 103–122 Árnason V (2012a) Scientific Citizenship in a Democratic Society. In: Public Understanding of Science. (Im Druck, Online-Publikation im Juli 2012; doi: 10.1177/ 0963662512449598) Brand A, Brand H (2011) Health Literacy and Public Health Genomics: Innovation Management by Citizens. In: Public Health Genomics 14(4–5): 193–194 Callahan D (1987): Setting Limits. Medical Goals in an Aging Society. Simon & Schuster, New York Chambers S (2003) Deliberative democratic theory. In: Annual Review of Political Science 6: 307–326 Charlesworth M (1993) Bioethics in a Liberal Society. Cambridge University Press, Cambridge Choices in Health Care (1992) A Report by the Government Committee on Choices in Health Care in The Netherlands. Ministry of Welfare, Health and Cultural Affairs, Zoetermeer Dworkin R (1996) Freedom’s Law. Oxford University Press, Oxford Fishkin J (2009) When the People Speak. Deliberative Democracy and Public Consultation. Oxford University Press, Oxford Foucault M (1977) Überwachen und Strafen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M Gottfredsdóttir H (2009) Fetal Screening. Prospective parents and decisions concerning nuchal translucency screening. Dissertation, Universität von Island, Reykjavík Habermas J (2001) Die Zukunft der menschlichen Natur: Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M Habermas J (1991) Erläuterungen zur Diskursethik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M Harris J (1998) Rights and Reproductive Choice. In: Harris J, Holm S (Hrsg.) The Future of Human Reproduction: Ethics, Choice and Regulation. Clarendon Press, Oxford Häyry M (2010) Rationality and the Genetic Challenge: Making People Better? Cambridge University Press, Cambridge Hedgecoe A (2004) The Politics of Personalized Medicine. Pharmacogenetics in the Clinic. Cambridge University Press, Cambridge Hunter DJ, Khoury MJ, Drazen JM (2008) Letting the genome out of the bottle; will we get our wish? In: New England Journal of Medicine 358: 105–107 Juengst ET, Flatt MA, Setterstein RA (2012) Personalized Genomic Medicine and the Rhetoric of Empowerment. In: Hastings Center Report 42: 34–40 Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Kass L (2002) Life, Liberty, and the Defence of Dignity: The Challenge for Bioethics. Encounter Books, San Fransisco McNay L (1994) Foucault. A Critical Introduction. Polity Press, Cambridge O’Neill O (2002) Autonomy and Trust in Bioethics. Cambridge University Press, Cambridge Parker M (2000) Public deliberation and private choices in human genetics. In: Journal of Medical Ethics 26: 160–165 Rawls J (1979) Eine Theorie der Gerechtigkeit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M Sandel M (2008) Plädoyer gegen die Perfektion. Berlin University Press, Berlin Stefánsdóttir Á (2010) The Sale of Genetic Information: Ethical Aspects of Genetic Analysis. In: Tupasela A (Hrsg.) Consumer Medicine. TemaNord, Nordic Council of Ministers, Copenhagen, 27–38 Weber M (2002) Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Aufl., Mohr-Siebeck, Tübingen

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TEIL 7 KOLLEKTIVE AUTONOMIE Herausgegeben von S. Schicktanz, I. Jordan

Silke Schicktanz, Isabella Jordan

Kollektive Patientenautonomie Theorie und Praxis eines neuen bioethischen Konzepts Einleitung Im ethischen und praktischen Diskurs über Patientenautonomie gibt es eine inhaltliche, bisher unzureichend thematisierte Leerstelle: die kollektive Dimension. Diese kollektive Dimension spielt in vielen Gesundheitssystemen eine wichtige, wenngleich häufig nur implizite Rolle. So rekurrieren wir im öffentlichen Diskurs regelmäßig auf Interessen und Meinungen von Patienten als einem Kollektiv. Beispielsweise spricht man davon, dass Alzheimer-Patienten eine bessere Betreuung durch Hausärzte fordern oder dass Familien mit Kindern mit seltenen genetischen Erkrankungen die Einführung der PID in Deutschland begrüßen. Eine kollektive Dimension haben auch Entwicklungen im Gesundheitsrecht. Hierbei handelt es sich etwa um politische wie rechtliche Forderungen nach Berücksichtigung von Patientenverbänden (vgl. Badura 2002). Die kollektive Dimension ist jedoch bioethisch unterbestimmt und dies führt, wie im Folgenden erörtert wird, zu zweierlei Problemen: Zum einen werden wichtige normative Vorgaben in der Gesundheits- und Biopolitik ausgeblendet, zum anderen fehlt es an einer intensiven Auseinandersetzung mit theoretischen, epistemischen und ethischen Implikationen. 1 Erst durch eine normative Analyse von kollektiver Patientenautonomie wird es z. B. möglich, die wachsende politische Bedeutung von Patientengruppierungen zu reflektieren und diese Entwicklung aus normativer Sicht kritisch-konstruktiv zu begleiten. 1

Unser Fokus liegt hier ausschließlich auf politisch aktiven Patientengruppen. Auf andere für die Bioethik ebenso relevante Kollektive wie Familie, Gesundheitsprofessionen oder Kirchen kann hier nicht weiter eingegangen werden. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 7: Kollektive Autonomie

Solche bioethischen Überlegungen können einerseits an aktuelle Debatten der Sozialphilosophie und politischen Ethik anknüpfen und andererseits neuere sozialwissenschaftliche Forschungen über Funktion und Struktur von Patientenorganisationen für sich nutzen. Beide Linien sollen im Folgenden zusammengefasst werden, zunächst in theoretischer Hinsicht, dann in praktischer Hinsicht. Im dritten, abschließenden Teil soll das ethisch-praktische Potential eines solchen Konzeptes für die Bearbeitung verschiedener medizin- und gesundheitsethischer Fragestellungen aufgezeigt werden. 2 Theoretische Überlegung zur kollektiven Patientenautonomie Ob nun libertär, handlungstheoretisch, kognitivistisch oder relational begründet und diskutiert: Patientenautonomie wird bislang vorrangig individualistisch konzipiert (vgl. Christman 1989). Dies meint, dass sie als ethisches Prinzip für praktische, individuelle Patientenrechte im Kontext konkreter interindividueller Arzt-Patienten-Interaktionen dient. Für Letzteres steht vor allem das Prinzip der Informierten Einwilligung. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass es dabei trotz unterschiedlicher Begründungen (und Deutungen) vorrangig um individuelle Abwehrrechte (z. B. als Reaktion auf ein seitens der Medizin gemachtes Behandlungsangebot) oder Anspruchsrechte (z. B. im Zuge einer fairen Zuteilung von Organen oder beim Zugang zu reproduktionsmedizinischer Behandlung) geht. Diese praktische Perspektive der Rechte ist (nach Feinberg 1989) eine von vier häufigen Bedeutungsfacetten in theoretischen Debatten über Autonomie. Die anderen drei sind: die grundsätzliche Fähigkeit zur Autonomie, ihre situativen Bedingungen sowie Autonomie als moralisches Persönlichkeitsideal. Diese grundsätzlich wichtigen Bedeutungen individueller Patientenautonomie sollen durch die stärkere Berücksichtigung der kollektiven Dimension nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr durch eine analoge Ausdifferenzierung entsprechender Facetten kollektiver Autonomie ergänzt werden. Kollektive Patientenautonomie steht für die prozeduralen, deliberativen und partizipativen Komponenten einer Patientenbeteiligung auf der politischen, also überindividuellen Entscheidungsebene. Sie kann als zentrales Bindeglied zwischen individuellen Interessen, politischen Entscheidungen und »publichealth«-Überlegungen dienen. Auch wenn die politische Dimension von Wissenschaft und Medizin häufig ausgeblendet wird (vgl. Pippin 1996), so ist eigentlich unstrittig, dass die moderne Medizinpraxis und das Gesundheitswesen insgesamt nicht nur aus einzelnen Arzt-Patienten-Interaktionen bestehen, sondern komplexe politische und soziale Organisationsstrukturen beinhalten. Entscheidende Bereiche sind beispielsweise die Forschungsförderung, die Verteilung von Gesundheitsleistungen und der gesetzliche Rahmen für Forschung und Therapie. Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass das Gesundheitswesen durch das vorherrschende Professionsrecht und korporatistische – d. h. sich am Prinzip der 2

Der Praxisteil bezieht Zwischenergebnisse einer eigenen, bisher noch nicht veröffentlichen Interviewstudie mit Vertretern verschiedener Patientenorganisationen ein (vgl. http: // www.autonomie-und-vertrauen.uni-goettingen.de / index.php?id = 15). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Schicktanz, Jordan: Kollektive Patientenautonomie

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Selbstverwaltung orientierende – Entscheidungsprozesse kaum demokratische, öffentlichkeitsnahe Diskurse entstehen lässt (Bandelow 1998). Im Alltag lässt sich der Begriff des kollektiven Akteurs auf viele soziale Gruppierungen im Gesundheitswesen anwenden: Patientengruppen, Ärzteschaft, Pflegende, Organisationen wie Krankenkassen und Pharmaunternehmen oder eher kleinere Einheiten wie einzelne Krankenhäuser. Daneben können auch Familien, Freundesgruppen oder ethnische bzw. lokale Gemeinschaften als »Gruppen« Entscheidungen treffen. Angesichts des breiten Spektrums dessen, was als ein Kollektiv verstanden werden kann, müssen Differenzierungen vorgenommen werden. Kriterien sind der jeweilige Organisationsgrad, die zeitliche und strukturelle Dauerhaftigkeit sowie die zugrunde liegenden Motivationen und Zielsetzungen (d. h.: Sind die fraglichen Kollektive spontan, freiwillig oder unfreiwillig, emotional oder eher politisch gezielt entstanden etc.?) (Copp 2006). Gemäß einem sich abzeichnenden Konsens in der sozialphilosophischen Handlungstheorie (vgl. French, Wettstein 2006) ist es sinnvoll, mit zunehmendem Ausmaß an Organisation, Verbindlichkeit, internen Kommunikations- und Meinungsbildungsstrukturen von einem normativ relevanten kollektiven Akteur zu sprechen. So definiert, hat eine Gruppe als kollektiver Akteur prozedurale und kommunikative Mechanismen entwickelt, um kollektives Nachdenken und damit kollektive Rationalität zu erzeugen (Pettit, Schweikard 2009). Diese Perspektive steht nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass Kollektive auch aus Individuen bestehen. Die Theorie kollektiver Akteure geht nur davon aus, dass durch die genannten Bedingungen ein »Gemeinschaftsgeist« entstehen kann, nachdem das Kollektiv eigenständig gegenüber seinen Mitgliedern werden kann (vgl. Schweikard in diesem Band). Ähnlich wie in der Debatte über individuelle Autonomie bedarf es jedoch auch der Klärung der jeweiligen rationalen, kognitiven und strukturellen Bedingungen, zu kollektiver Autonomie fähig zu sein. Diese müssen in konkreten Kontexten auf ihre Plausibilität hin geprüft werden können. Der Vielschichtigkeit kollektiver Patientenautonomie entsprechend, schlagen wir vor, dass analog zur Debatte über die individuelle Patientenautonomie (Feinberg 1989) mindestens vier Aspekte zu unterscheiden sind, 3 die im Folgenden ausführlicher erläutert werden. Es handelt sich dabei um: – – – –

die Fähigkeit, sich als Kollektiv zu steuern, die situativen Bedingungen dieser kollektiven Handlungsplanung, die kollektive Selbststeuerung als sozio-politisches Ideal einer Gruppe und Rechte (und Pflichten) gegenüber Individuen oder anderen Gruppen.

Die ersten beiden Aspekte beschäftigen sich mit verschiedenen Grundbedingungen und Voraussetzungen, die zwei letzteren Aspekte können als verschiedene ethische Inhalte verstanden werden. 3

Feinberg weist bereits darauf hin, dass die ursprüngliche Bedeutung von Autonomie vermutlich aus dem politischen Kontext von Staaten, also kollektiven Entitäten, entstammt und individuelle Autonomie eine politische Metapher ist. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 7: Kollektive Autonomie

Fähigkeiten von Patienten sich als Kollektiv zu steuern Der Begriff des Patienten umfasst Menschen mit akuten und chronischen Erkrankungen sowie Behinderungen oder – neuerdings – anderen Formen der direkten und indirekten Betroffenheit (d. h. bei präsymptomatischen Diagnosen oder Prädiktionen, so dass man von potentiellen Patienten aufgrund von genetischer Dispositionen sprechen kann). Daher ist es sinnvoll, hier eher von Betroffenen zu sprechen. Je nach Kontext kann der Begriff sehr erweitert werden. So wird gerade in Bezug auf politische Repräsentation die Abgrenzung von Patienten und Angehörigen nicht immer zu ziehen sein. Des Weiteren ist zu bedenken, dass die von der »Behindertenbewegung« kollektiv eingeforderten Rechte für Menschen mit Behinderung (vgl. Beitrag Graumann in diesem Band) gerade auf viele nicht-medizinische Bereiche wie das Arbeitsrecht, die Städteplanung oder die Sozialversorgung abzielen. 4 Dass Patienten sich unter bestimmten Bedingungen als ein Kollektiv verstehen, kann als ein soziales Faktum verstanden werden, das kaum sinnvoll zu leugnen ist (vgl. Gilbert 1992). Eine zentrale Voraussetzung besteht in der Bildung einer kollektiven, nichtessentialistischen Identität – einer »Wir«-Zuschreibung. Diese »Wir«-Bildung bei Patientenorganisationen erfolgt meist durch eine körperlich-emotionale (embodied health movement, siehe unten) und durch eine epistemisch-normative Selbstzuschreibung (zum Betroffensein, vgl. Schicktanz, et al. 2008). Diese Selbstzuordnung ist aber in der Regel, wie bei allen kollektiven Identitätszuschreibungen, immer auch von Fremdzuschreibung abhängig (Appiah 2005). Insofern bedarf es eines wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisses von internen Selbstverständigungsprozessen und sozialer, externer Anerkennung, damit es zu einer Gruppenbildung kommen kann. Eine politisch relevante soziale Bewegungsidentität bildet sich aus diesem Wechselspiel von Selbstund Fremdbildern, die sich bei anhaltender Interaktion sowohl innerhalb der Bewegung, als auch nach außen stabilisiert (vgl. Roth, Rucht 2008). Dieses Phänomen kann für alle Formen der Identifikation entlang des breiten Spektrums von Gruppenbildung angenommen werden, jedoch mit unterschiedlich starken Ausprägungen. So lässt sich am einen Ende des Spektrums eine eher unorganisierte, lose, spontane und kurzzeitige Verbrüderung beobachten (z. B. Patienten auf derselben Krankenstation teilen Wissen, Erfahrungen und Bewertungen über bestimmte ärztliche Behandlungen) und am anderen Ende feste und strukturell verankerte Organisationen (z. B. gemeinnützige Vereine und Verbände mit mehreren tausend Mitgliedern, die sich gemäß der gesetzlichen Vorgaben organisieren und auch rechtlich haftbar gemacht werden können).

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Zum Teil wendet sich diese Bewegung gerade gegen eine medizinische Klassifikation als Patient. Daher sollten rein externe Zuschreibungen vermieden und das Selbstverständnis der jeweiligen Gruppe mitberücksichtigt werden. Wenn im Folgenden von kollektiver Patientenautonomie gesprochen wird, so setzt das voraus, dass die Mitglieder des Kollektivs sich selbst als Patienten verstehen und mit ihren Forderungen das sozio-politische System von Medizin- und Gesundheitswesen adressieren. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Die Kollektivierung von Vorstellungen, Plänen und politischen Forderungen als autonome Fähigkeit setzt zudem voraus, dass die betroffenen Individuen sich untereinander über ihre geteilten Erfahrungen und Vorstellungen (z. B. politisch etwas bewirken zu wollen) verständigen müssen. Dieser gruppeninterne Prozess des wechselseitigen Austauschs und der Zusicherung kann als eine Grundbedingung gelten, um gezielte, strukturierte Gruppenidentität von spontaner, arbiträrer Gruppensozialität abzugrenzen. Ziel dieser Verständigung ist dann, gemeinsame Zielsetzungen oder konkrete Handlungsstrategien zu entwickeln, die das soziale Leben (und nicht nur das individuelle) betreffen. Welches Mindestmaß an kollektiver Verständigung und damit konkreter Deliberation im Einzelfall dabei zu erfüllen ist, muss normativ noch genauer bestimmt werden. Die Kompetenz einer Gruppe, sich kollektiv argumentativ zu verständigen, ist jedoch bereits mehr als eine »common-sense«-Meinung, weil sie Zustimmung, oder zumindest explizites Nicht-Widersprechen, durch die einzelnen Mitglieder verlangt (vgl. Bratman 2006; Rucht 1995). In gewisser Hinsicht setzen diese Überlegungen natürlich voraus, dass Patienten überhaupt etwas Sinnvolles zu sagen haben. Der Beitrag von Patienten kann dabei nach epistemischen und normativen Kategorien unterschieden werden. Patientengruppen haben in der Vergangenheit eindrucksvoll gezeigt, dass sie inhaltliche Laienexpertise (Epstein 1996) entwickeln können, welche wichtige Forschungs- und Behandlungsinputs angeben. In normativ-ethischer Hinsicht ist es offensichtlich, dass Patientengruppen oft sehr konkrete, wenngleich auch kontroverse Positionen vertreten, bei denen sie sich auf ihre Interessen und ihre Erfahrungen berufen (siehe unten). Patienten, deren kognitive und argumentative Möglichkeiten stark eingeschränkt sind, können sich entsprechend kaum selbst organisieren (z. B. kleine Kinder oder Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz). Hier findet sich stattdessen das Modell der Anwaltschaft (nicht im juristischen, sondern sozialpolitischen Sinne; vgl. Trojan, Lehmann 2011). Wenngleich dieses Modell in der gesundheitspolitischen Praxis weit verbreitet ist, kann gerade mittels eines ethisch-normativen Ideals der kollektiven Autonomie genauer ausgeleuchtet werden, wo mögliche Grenzen und Probleme liegen. Die grundlegende Fähigkeit einer Patientengruppe, politisch-kollektive Autonomie zu besitzen, besteht also in ihrer Kompetenz und Motivation, solche internen Verständigungsprozesse anzustoßen. Tut sie das nicht, weil es sich beispielsweise um ein loses, einmaliges Zusammentreffen von Patienten handelt, wäre diese Grundbedingung nicht erfüllt. Die situativen Bedingungen kollektiver Handlungsplanung Die situativen Bedingungen erweitern die Überlegungen zur grundlegenden Fähigkeit einer Patientengruppe, sich kollektiv zu steuern. Beide Bedingungskategorien können auch als Grundlage für eine kollektive Handlungskompetenz (i.S. von agency) einer Gruppe verstanden werden. Analog zu den situativen Bedingungen bei individueller Autonomie geht es um kontextabhängige mögliche Einschränkungen, z. B. durch äußeren Zwang zum Konformismus oder fehClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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lende Authentizität. Im positiven Sinne geht es darum, ob und wie sichergestellt werden kann, dass die gemeinsam entwickelten und nach außen vertretenen Ziele anderen Gruppen gegenüber als kohärent, authentisch und selbstbestimmt gelten können. Situative Bedingungen der kollektiven Autonomie können dann als eingeschränkt oder sogar nicht erfüllt gelten, wenn Kommunikation und Meinungsbildung innerhalb einer Gruppe manipuliert, von »außen« gelenkt oder von Einzelnen dominiert werden. Dass dies von zentraler Bedeutung sein kann, zeigt sich an der Diskussion um mögliche Interessenskonflikte bei Patientenverbänden, welche finanziell von Pharmakonzernen abhängen (Mintzes 2007). Es gilt also, genauer den Einfluss struktureller Bedingungen auf die Handlungskompetenz einer Gruppe zu analysieren. Hinzu kommen konkrete Überlegungen darüber, was eine Gruppendiskussion im Einzelfall demokratisch, transparent, fair, deliberativ und authentisch macht. Muss sich eine Gruppe beispielsweise persönlich treffen oder können soziale Medien ebenfalls eine authentische Diskussion ermöglichen? Inwiefern (und wenn, nach welchen demokratischen Prinzipien) müssen Entscheidungen gefällt werden? Die Klärung der Handlungskompetenz eines Kollektivs ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, um den Begriff der kollektiven Patientenautonomie sinnvoll einzusetzen. Als weitere Bedingungen müssen die normativen Zielsetzungen, moralischen Idealvorstellungen und damit konkreten Rechte genauer bestimmt werden.

Sozio-politisches Ideal Diese normative Dimension kollektiver Patientenautonomie beschreibt den Wunsch von Patientengruppen bzw. ihren einzelnen Mitgliedern, sich als Gruppe mit politischen Anliegen zu verstehen und dies als ein soziales Identitätsmerkmal darzustellen. Zugleich kann sie auch dazu dienen, mögliche überzogene Erwartungen oder Ansprüche an kollektive Autonomie zu hinterfragen. Nicht alle Patientengruppen verstehen sich als politische Gruppierung. Beispielsweise sind Selbsthilfegruppen, deren ausschließliches Ziel es ist, durch individuellen Erfahrungsaustausch zwischen Betroffenen Hilfe anzubieten und Leid zu mindern, abzugrenzen von Verbänden, deren Hauptanliegen die Einmischung in biopolitische Entscheidungen ist. Dabei ist aber nicht auszuschließen, dass erstere sich im Sinne letzterer professionalisieren (Hundertmark-Mayser, Möller 2004). Als wichtiges Beispiel für die sukzessive Professionalisierung und Politisierung des Patientenengagements von anfänglich spontanen Betroffenentreffen hin zur Realisierung eines sozio-politischen Ideals kann die HIV-Aktivisten-Bewegung der 1980–1990er Jahre gelten (Epstein 1996). Dass die Idee des kollektiven Akteurs in diesem Kontext untrennbar mit politischen Handlungszusammenhängen verbunden ist, lässt sich über die soziale Bewegungstheorie (vgl. Roth, Rucht 2008; Rucht 1995) begründen. Die Entstehung von Patientenverbänden über eine rein emotionale Selbsthilfe hinaus muss im Kontext der sozialen Gesundheitsbewegung seit den 1970er gesetzt werden (in anderen Ländern z. T. auch früher). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Unter solchen sozialen Bewegungen wird die politische Einflussnahme durch Bewegungen »von unten« entlang bestimmter demokratischer Grundideen verstanden. Per definitionem muss es sich um einen »mobilisierende[n] kollektive[n] Akteur [handeln], der mit einer gewissen Kontinuität auf der Grundlage hoher symbolischer Integration und geringer Rollenspezifikation mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegenden sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen« (Raschke 1987, 21).

Neben diesen politikwissenschaftlichen Kriterien bewirkt das moralische soziopolitische Ideal, dass die verfolgten Ziele durch einen »Gruppengeist« getragen, aber zugleich an die Meinungen und Ideale der einzelnen Mitglieder zurückgebunden werden (vgl. Pettit 2009). In dieser Hinsicht wäre es widersprüchlich, wenn sich die Mehrheit oder zumindest eine größere Zahl von Mitgliedern von den politischen Zielsetzungen ihres Verbandes distanzieren. Umgekehrt ist es für die Existenz des Gruppengeists nicht zwingend, dass jedes Mitglied eine Meinung mitträgt. So können einzelne Mitglieder abweichende Meinungen vertreten, jedoch die im Verband geltende Mehrheitsregel als demokratisch legitim anerkennen.

Rechte (und Pflichten) gegenüber anderen Individuen oder Gruppen Der vierte Aspekt der kollektiven Autonomie greift die sozio-politische Praxis auf, dass Personen bzw. Entitäten Rechte und Pflichten besitzen und sie konkret gegenüber anderen Individuen oder dem Staat in Anschlag bringen. Dabei müssen verschiedene Formen kollektiver Rechte unterschieden werden. Individuelle Rechte können als ethische Basisrechte (z. B. Menschenrecht auf Leben) oder als politische Rechte (z. B. Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art 1 GG) verstanden werden. Kollektive Rechte werden von Gruppen als politische Rechte in einem politischen Prozess durch Angehörige dieser Gruppe vertreten. Diese kollektiven Rechte sind von gruppenspezifischen Rechten abzugrenzen (vgl. Kymlicka 1996), z. B. wenn eine kulturelle Minderheit sich dafür engagiert, ihren Fortbestand als Gruppe zu sichern. 5 Für die Befürworter der Idee der Gruppenidentität und des kollektiven Akteurs ist entsprechend die Rede von kollektiven Rechten (und auch kollektiven Pflichten bzw. daraus resultierender kollektiver Verantwortung) sinnvoll und sogar notwendig, da Ausgrenzungen von oder Rechtsverletzungen gegenüber Personen nicht deshalb stattfinden, weil

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Dieses gruppenspezifische Existenzrecht ergibt u.E. im Kontext von Patientenrechten wenig Sinn, wohingegen es in Demedikalisierungsdiskursen spezifischer Gruppen (z. B. in der SelfAdvocacy-Bewegung der Autisten) genau um diese soziale Anerkennung solcher Gruppen als Gruppe geht. Entsprechend kritisieren manche dieser Gruppen bestimmte medizinische Ansätze (z. B. genetische Selektion), wenn sie ihrer Meinung nach die Existenzberechtigung solcher Gruppen bzw. der assoziierten Personen in Frage stellen könnten. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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sie bestimmte Individuen sind, sondern weil sie einer spezifischen Gruppe angehören. 6 Rechte einzufordern, die mit einer spezifischen Gruppenzugehörigkeit verbunden sind, kann als elementarer Bestandteil des Selbstverständnisses und der sozialen Praxis moderner demokratischer Staaten verstanden werden (auch wenn Rechtstheoretiker die rechtsphilosophische Begründung solcher Rechte immer wieder in Frage gestellt haben). Als bestes Beispiel hierfür kann die Einforderung von Frauenrechten seit Ende des 19. Jahrhunderts gelten. Dabei haben die Forderungen der Frauenrechtlerinnen immer zweierlei beinhaltet: individuelle Rechte für Frauen, z. B. auf Bildung, Zugang zu Wahlen oder zum Arbeitsmarkt, aber auch Repräsentationsrechte innerhalb des politischen Systems (siehe Williams 1998). Diese doppelte Bedeutung von kollektiven Rechten bietet wichtige Orientierungen für das hier verfolgte Konzept kollektiver Patientenrechte. Praktische Maxime für politische Kollektivrechte wäre daher das Prinzip der Repräsentation und Partizipation. Einem solchen Kollektivrecht entsprechend können Patientenverbände sich aktiv dafür einsetzen, in einschlägigen gesundheitspolitischen Gremien ein Beratungs- oder gar Mitsprache- bzw. Abstimmungsrecht zu haben (siehe unten). Während im Hinblick auf das Recht auf individuelle Patientenautonomie Dissens darüber besteht, ob hiermit auch Verpflichtungen oder Verantwortung des Patienten einhergehen, erscheint es sinnvoll, auf kollektiver Ebene Pflichten und Verantwortung nicht per se auszuschließen. Diese von Kant geprägte Vorstellung, moralische Autonomie an Verantwortung und damit Rechte auch an korrespondierende Pflichten zu binden, ist für die kollektiv-politische Dimension sehr wichtig (Feinberg 1989; Habermas 1996). In der Gesundheitspolitik wird der Vorschlag, Patientenautonomie auf individuelle Patienten zu reduzieren, meist mit der Annahme begründet, Patienten seien eine heterogene Gruppe mit asymmetrischer Handlungskompetenz. Die Reduktion von Patientenautonomie auf ein schwaches, individualistisches Recht (häufig nur als Veto-Recht), lässt sich gegebenenfalls mit starken Annahmen zu Asymmetrie, Fähigkeitsund Handlungsbegrenzungen der jeweiligen Patienten (und damit weiterhin zu bestimmten Formen ärztlichen Paternalismus’) rechtfertigen. Diese reduktionistische Vorstellung findet aber bereits auf individueller Ebene verschiedene Erweiterungen: z. B. als Anspruchsrecht auf Gesundheit oder Lebenserhaltungsschutz bei Kindern. Für die politische Dimension sind diese Annahmen jedoch

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Innerhalb einer liberalistischen Tradition wird die Begründung von kollektiven Rechten per se bestritten. In politisch-pragmatischer Sicht hingegen ist die Verwendung und Etablierung von kollektiven Rechten akzeptiert, wenngleich vor allem die Frage nach ihrer Über- bzw. Unterlegenheit gegenüber individuellen Rechten strittig bleibt. Vertreter von kollektiven Akteuren können in diesem Sinne von kollektiven Rechten ausgehen, wie sie auch von der Idee einer kollektiven Verantwortung ausgehen (French, Wettstein 2006). Sinn der Einführung eines ethischen Konzeptes der kollektiven Patientenautonomie ist es gerade, eine detaillierte Auseinandersetzung zu den Möglichkeiten und Grenzen von Patientenkollektiven im politischen Feld in Gang zu setzen. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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dann nicht mehr überzeugend, wenn Repräsentations- und Partizipationsrechte durchgesetzt werden sollen. Patientenorganisationen aus politisch-praktischer Perspektive In der Praxis spielen überregionale und internationale Patientenorganisationen als kollektive Akteure eine wichtige biopolitische Rolle. Im Folgenden werden solche Verbände untersucht, die gesundheitspolitische und sozialethische Ziele haben und diese umsetzen wollen. Ein seit etwa Ende der 1960er Jahre entstandener neuer Typus sozialer Bewegung hat eine emanzipatorische und zugleich modernisierungskritische Stoßrichtung (Roth, Rucht 2008). Seine Ziele sind nicht nur konkrete politische Veränderungen, sondern auch die Etablierung alternativer kultureller Werte und sozialer Interaktionsmodelle. Mit seiner netzwerkartigen Struktur und sozialpolitischen Zielsetzung unterscheidet sich dieser neue Typ sozialer Bewegung von Initiativen einzelner Akteure. Etwa seit den 1970er Jahren entstand beispielsweise die Gesundheits- und Behindertenbewegung (Buchholz 2010). In den 1980er Jahren gründeten sich vermehrt Selbsthilfeinitiativen und deckten in ihren Aktivitäten fast alle gesundheitlichen Fragestellungen und Erkrankungen ab. Nicht zuletzt mit einem Blick auf biopsychosoziale Probleme von Patienten forderten sie sozial- und gesundheitspolitische Veränderungen ein (Geene et al. 2009). Patientenverbände – wie im Übrigen auch die Bioethik als soziales Phänomen – entstanden als Teil einer vielfältigen sozialen Gesundheitsbewegung (engl. Social Health Movement) (vgl. Brown et al. 2004). Kategorien, Professionalisierungs- und Organisationsformen von Patientenorganisationen Das Spektrum an Patientenorganisationen ist sehr breit; man kann sie je nach inhaltlicher Zielsetzung und Organisationsgrad unterscheiden. In der öffentlichen Wahrnehmung dominieren häufig Zusammenschlüsse von Patienten und Angehörigen zum Zwecke der Selbsthilfe. Dies sind lokale oder regionale Verbände, die meist ehrenamtlich organisiert sind. Sie setzen sich aus den von einer bestimmten Erkrankung Betroffenen und deren Angehörigen zusammen und koordinieren auch ihre Interessenvertretung (Hundertmark-Mayser, Möller 2004). Die Übergänge von lokalen Selbsthilfegruppen zu größeren Patientenorganisationen sind oft fließend: Von Patientenorganisationen spricht man gemeinhin, wenn sich mehrere regionale Selbsthilfegruppen zu überregionalen oder bundesweiten Verbänden zusammenschließen. Im Vergleich zu Selbsthilfegruppen weisen Patientenorganisationen einen höheren Organisations- und Formalisierungsgrad auf. Sie arbeiten themenspezifisch zu einem medizinischen Indikationsgebiet, z. B. zu Demenz- oder Krebserkrankungen. Sie sind stark nach außen orientiert und bieten fachliche Beratung und Fortbildungsveranstaltungen über diagnostische, therapeutische und rehabilitative Möglichkeiten sowie spezielle Angebote für Angehörige an. Ihre Zielsetzung beinhaltet zudem eine Einflussnahme auf Politik und Verwaltungen zur Verbesserung von VerClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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sorgungsangeboten, der Qualifikation von Fachpersonal und zur Intensivierung der Forschung. Als »verfasste Selbsthilfe« nehmen Patientenorganisationen die Rolle von Repräsentanten von Patienteninteressen in Gremien des Gesundheitswesens ein (siehe unten). Dort bringen sie nutzenorientiert das spezielle Erfahrungswissen von Betroffenen ein. Sie liefern damit einen Beitrag zur Qualitätssicherung und -verbesserung. Mitglieder von Patientenorganisationen sind nicht nur Betroffene und deren Angehörige, sondern auch Ärzte, Forscher oder Interessierte. Im Rahmen ihrer Professionalisierung arbeiten sie in Geschäftsstellen mit hauptamtlichen Mitarbeitern und agieren in Form des eingetragenen Vereins oder der Stiftung. Dach- oder Bundesverbände, z. B. die Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfe e. V., bestehen aus mehreren thematisch, fachlich oder regional zusammengehörenden Unterorganisationen, die sich zum Zweck der gebündelten Verfolgung gemeinsamer Ziele organisieren, ggf. auch auf internationaler Ebene. Inhaltlich lassen sich im Sinne einer Typologie gesundheitspolitischer Bewegungen mindestens fünf Kategorien von Patientenverbänden gemäß ihrer politischen und praktischen Zielsetzungen idealtypisch unterscheiden, die in der Praxis auch als Mischformen auftreten können: Die Zugangsrecht-Bewegung (engl. »health access movement«), die einen bisher verweigerten Zugang zu oder eine andere Verteilung von Gesundheitsdienstleistungen fordert, wie die Deutsche Aidshilfe, die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke oder die Deutsche Huntington-Hilfe. Ihre vorrangigen Ziele sind es, einerseits eine Verbesserung der medizinischen und pflegerischen Versorgung, andererseits die Weiterentwicklung von Therapien und Forschung zu erreichen (vgl. Brown et al. 2004). Die Zielgruppen-orientierte Bewegung (engl. »constituency-based health movement«), die Ungleichheiten in Bezug auf Krankenversorgung anprangert, wenn jene auf Zugehörigkeitskriterien wie Nationalität, Geschlecht, Ethnizität, Klasse etc. basieren, z. B. der Bundesverband Frauenselbsthilfe nach Krebs oder auch Selbsthilfegruppen für Menschen mit Migrationshintergrund (vgl. Brown et al. 2004). Die Körpererfahrung-Gesundheits-Bewegung (engl. »embodied-health movement«; vgl. Brown et al. 2004), die den sozialen und medizinischen Umgang mit spezifischen Krankheiten oder Behinderungen verändern möchte. Hierzu kann man die Deutsche Alzheimer Gesellschaft zählen, die eine grundlegende gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen mit Alzheimer einfordert. Ähnlich agiert die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft, die neben der Förderung von Forschung und Therapiemöglichkeiten die Integration der Betroffenen in die Gesellschaft verbessern möchte. Inhaltlich vergleichbar definieren Callon und Rabeharisoa (2003) die so genannten Gegner-Organisation (engl. »opponent organization«). Die Partner-Organisation (engl. »partner organization«), die eine engere und direkte Kooperation mit Wissenschaft und Medizin anstrebt, um die Entwicklung von Therapien und Medikamenten zu beschleunigen, z. B. Typus der französischen Muskeldystrophie-Gruppen (Callon, Rabeharisoa 2003). Die Unterstützungsorganisation (engl. »auxiliary organization«, vgl. Callon, Rabeharisoa 2003), die eher auf konkrete gegenseitige Hilfe im Alltag von KranClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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ken oder behinderten Menschen abstellt, z. B. die Locked-In-Syndrom-Selbsthilfegruppe. Hierzu sind auch Sucht- und psycho-soziale Selbsthilfegruppen zu zählen. Im sozialphilosophischen Sinne haben einzelne Organisationen Motive und Zielsetzungen, deren Durchsetzung sie nur als Kollektiv gegenüber anderen Akteuren der Gesundheitspolitik (Staat /Krankenkassen /Ärzteschaft) erreichen. Als erfolgreiches deutsches Beispiel kann die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke dienen. Dieser große Verband mit ca. 7500 Mitgliedern kooperiert u. a. mit dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV), der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe für Behinderte (BAGS) sowie der Allianz chronischer seltener Erkrankungen (ACHSE). Er versucht hierdurch sicherzustellen, dass die Anliegen muskelkranker Menschen in allen relevanten Gremien vertreten werden und in die behindertenpolitischen Forderungen der verschiedenen Organisationen einfließen. Große Patientenverbände haben entsprechend eine ganz andere Zielsetzung als z. B. die mit etwa 150 Mitgliedern vergleichsweise kleine Locked-In-Syndrom-Selbsthilfegruppe. Politische Partizipation und Repräsentation Die soziale Gesundheitsbewegung wird mit ihrem selbstinitiierten politischen Engagement oft als eine Bewegung »von unten« und Ausdruck von authentischem und demokratischem Volkswillen verstanden (vgl. Engelhardt 2011). Allerdings werden gerade in den letzten zwei Dekaden auch andere Formen der politischen Partizipation initiiert. Diese organisieren die Integration von NichtRegierungsorganisationen, Stakeholdern oder Bürgern direkt »von oben« und betreffen gerade die politisch-rechtlichen Selbstvertretungsrechte von Betroffenen im Gesundheitswesen. Sie resultieren u. a. in finanzieller und struktureller Unterstützung durch öffentliche Einrichtungen (vgl. SGB V, § 45, § 140). Auch in Gesetzen und politischen Empfehlungen an den Bundestag wird neuerdings eine ausdrückliche Patientenbeteiligung und politische Repräsentation von Patienten betont. So hat die Enquete-Kommission Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements Selbsthilfegruppen als Triebkraft für ein neues bürgerschaftliches Engagement eingestuft, welche Solidarität, Zugehörigkeit und gegenseitiges Vertrauen schaffe (2002). Der Schlussbericht der Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin hebt die Einbeziehung kollektiver Standpunkte, z. B. von Verbänden und Selbsthilfegruppen, hervor (2002). Der 2011 in Umlauf gebrachte Entwurf eines neuen Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten fordert neben dem weiteren Ausbau von Patientenbeteiligung eine stärkere Einbeziehung von Patientenverbänden in gesundheitspolitische Belange (Deutscher Bundestag 2012). Dieser deutsche Entwurf folgt damit einer Idee, die in anderen europäischen Ländern, z. B. in Großbritannien, inzwischen umgesetzt wurde (vgl. Department of Health 2010). Schließlich hat bereits die Weltgesundheitsorganisation 1994 in ihrer Deklaration der Patientenrechte konstatiert, dass Patienten ein kollektives Recht auf Repräsentation und Partizipation auf allen Ebenen des Gesundheitssystems haben (§ 5.2). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Es kann festgehalten werden, dass auf nationaler und internationaler Ebene die Forderung nach einer politischen Beteiligung von Patientenvertretern in biound gesundheitspolitischen Gremien lauter wird. Eine derartige Vertretung ist in Deutschland z. B. im Gemeinsamen Bundesausschuss auch schon institutionalisiert. Allerdings besteht eine Kontroverse darüber, warum zwar Antrags- und Mitspracherechte für Patientenvertreter gewährt werden, aber kein Stimmrecht (vgl. Meinhardt et al. 2009). Beschränkungen sind auch beobachtbar, insofern im ersten Nationalen Ethikrat noch Vertreter von Patientenverbänden (z. B. der Huntington-Hilfe) unter den Mitgliedern waren, während in dem vom 2008 bis 2012 bestehenden Deutschen Ethikrat auf Patientenvertreter verzichtet wurde. Im seit 2012 amtierenden Deutschen Ethikrat ist mit einer Vertreterin der BukoPharma-Kampagne zwar eine Patienten- und Verbraucherschützerin Mitglied, jedoch kein Patientenvertreter einer Patientenorganisation.

Interne Prozesse der kollektiven Meinungsbildung Patientenverbände haben zu verschiedenen bioethischen Themen in der Vergangenheit öffentlich Stellung bezogen. Ähnlich wie in den USA hat inzwischen die Deutsche Aidshilfe um die Anerkennung von Menschen mit dieser Krankheit und damit gegen ihre Diskriminierung gekämpft. In der deutschen Hospizbewegung wurde vor allem das bioethische Leitbild der Selbstbestimmung im Sterben kritisch reflektiert. Dadurch haben Patientenverbände oft dazu beigetragen, eine sozial- und auch medizinkritische Auseinandersetzung in gesundheitspolitischen Debatten anzustoßen (Jordan 2007). Die sozialwissenschaftliche Forschung beginnt erst damit, die internen Abläufe bei Patientenverbänden zu erforschen. Eigene Untersuchungen haben heterogene Verfahren zur Entscheidungs- und Positionsfindung ergeben. Einige Verbände haben sehr strukturierte und differenzierte Verfahrensweisen, um zu gemeinsamen offiziellen Grundsatzpositionen zu gelangen. So gibt es z. B. in der Deutschen Alzheimer Gesellschaft aufeinander aufbauende und sich ergänzende Mechanismen der Entscheidungsfindung. Leitsätze und Empfehlungen an die Politik werden in Arbeitsausschüssen erarbeitet und in der Delegiertenversammlung beschlossen. Durch die Aufnahme von Minderheitenvoten werden auch Einzelmeinungen abgebildet. Politische Voten bauen eher auf Mehrheitsmeinungen auf, wenngleich der Verband sehr wohl um interne abweichende Minderheitsmeinungen weiß. Andere Organisationen halten solche expliziten Mechanismen zur Meinungsbildung nicht immer für notwendig, da gemeinsame Ziele und Positionen sich direkt durch den gleichen Betroffenheitshintergrund der Mitglieder ergeben würden.

Implikationen für die bioethische Debatte Mit Einführung der kollektiven Patientenautonomie als einem Reflexions- und Orientierungsprinzip ergeben sich zahlreiche Anschlussfragen für eine politisch ausgerichtete Bioethik, die es durch zukünftige Forschung zu klären gilt. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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An erster Stelle steht die Klärung der jeweils spezifischen Bedingungen von allgemeiner und aktualer Handlungskompetenz für verschiedene Patientengruppen und Betroffenheitsgrade. Dahinter verbirgt sich die normative Frage nach dem, was als echte »Vertretung« gelten darf. Abhängig von ihren kognitiven und mentalen Kapazitäten können Betroffene sich entweder selbst organisieren und vertreten oder bedürfen eines Stellvertreters, der ihre Interessen vertritt. Es ist davon auszugehen, dass in Fällen schwerer chronischer Erkrankungen nicht nur der Patient, sondern auch sein Umfeld oft schwer betroffen ist. Diese indirekte Betroffenheit weicht unter Umständen allerdings in Art und Ausmaß durchaus beträchtlich von der des eigentlichen Patienten ab (Schicktanz et al. 2008). Gerade bei Menschen mit Lernbehinderungen oder starken mental-kognitiven Schädigungen sind traditionell deren Angehörige als Betroffenenvertreter sehr aktiv. Dies wird aber nicht von allen direkt Betroffenen als selbstverständlich oder richtig akzeptiert. Manche Alzheimer-Patienten kritisieren z. B. die Bevormundung durch Angehörige: Für diese gehe es weniger um Entstigmatisierung oder Empowerment der Kranken als darum, das Problem medizinisch-technisch zu beheben (Fox, Beard 2008). Diese Strategien können von den Patienten als protektionistisch, paternalistisch oder ausgrenzend kritisiert werden. Sie sind aber aus Sicht der Angehörigen oft auch sinnvoll, notwendig und rational. Daher ist es in konkreten Kontexten nötig zu prüfen, welche Anliegen durch welche Gruppen abgedeckt werden. Es kann erforderlich sein, die verschiedenen Seiten des Betroffenseins angemessen abzubilden, statt nur einer bestimmten Seite Vorrang zu geben. Andererseits muss auch bedacht werden, dass die körperlichen, emotionalen und kognitiven Ressourcen von Patienten zu begrenzt sein können, um sich selbst zu vertreten. Daher sollte gerade für den politischen Kontext auch ein angemessenes Anwaltschaftsmodell weiterentwickelt werden. Ein weiterer biopolitisch relevanter Punkt betrifft die Frage nach den Legitimitätskriterien für Repräsentanten. Die oben beschriebene politische Entwicklung, Patientenvertretern Mitwirkungsrechte in politischen Gremien einzuräumen, lässt bislang die Auswahlkriterien offen, diese sind aber eindeutig ethischnormativer Natur. Entsprechend müssen sie genauer eruiert werden. Hierbei sind verschiedene Verfahren oder Kriterien denkbar, die miteinander unvereinbar sein können: Selbstvertretung, demokratisch-egalitäre Wahl, Vertrauen, Kompetenz oder Authentizität (vgl. Williams 1998). Die bisherige Praxis zeigt: Auch (nicht-gewählte) Experten, Patientenanwälte und professionelle Patientenvertreter werden als »Vertreter der Patientenperspektive« eingeladen. Die genauen Voraussetzungen und Transparenzkriterien, für die dies akzeptabel ist, müssen geklärt werden. Zugleich sollen Entscheidungs- und Deliberationsprozesse in der Praxis von Patientenorganisationen (z. B. Mitgliederbefragungen, Arbeitsgruppenvoten, Wahlen, Rolle von sozialen Medien) erforscht werden, um sie als Modelle für die Weiterentwicklung von Repräsentation nutzen zu können. Ein dritter bioethisch relevanter Aspekt ist die genauere Ausleuchtung des Verhältnisses von individueller und kollektiver Patientenautonomie in öffentlichen und entscheidungsrelevanten Diskursen. Auch wenn kollektive Patientenautonomie nicht identisch ist mit individueller Autonomie und sich nicht aus der Summe individueller Autonomien ergibt, sind beide nicht per se widersprüchlich Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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und konfligierend. Denkbar ist, dass sich eine Patientenorganisation öffentlichpolitisch für eine bestimmte Forschungsrichtung einsetzt (z. B. für embryonale Stammzellforschung), einzelne Patienten aber aufgrund moralischer oder religiöser Sichtweisen diese ablehnen. Besteht hier deshalb die Gefahr, dass die kollektive Meinung die individuelle dominiert? Hierfür sind zwei Ebenen zu unterscheiden: erstens, ob der Patientenverband statistisch repräsentativ für die Patientengruppe ist, z. B. aufgrund von Mitgliederanzahl oder Organisationsgröße. Der faire und gerechte Zugang verschiedener Patientenverbände zu bestimmten politischen Gremien muss sichergestellt werden, insbesondere, wenn mehrere Gruppen zu einer Krankheit existieren. Gemäß dem zu verhandelnden Anwendungskontext wären die Zugangs- und Betroffenheitskriterien genauer zu erörtern (z. B. geht es um Verteilung von Kosten, Zugang zu Medikamenten, bioethische Fragen wie Sterbehilfe oder Embryonenforschung). Zweitens ist zu fragen, inwiefern eine spezifische Position politisch repräsentativ für eine Gruppe ist. Hierfür sind die internen Kommunikations- und Entscheidungsprozesse genauer zu betrachten. Vergleichbar zu anderen politischen Gruppierungen ist davon auszugehen, dass individuelle Mitglieder zwar in einzelnen Standpunkten abweichen, allerdings dennoch mit der übergeordneten prozeduralen Regelung (als Gruppenentscheidung) einverstanden sind (Bratman 2006). Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass Patientenorganisationen mit einer demokratischen Organisation, basierend auf freiwilliger Mitgliedschaft, als politisch repräsentativ gelten. Einige Verbände wissen genau um diese Problematik. So haben sich beispielsweise verschiedene Patientenverbände gegen die Abfassung einer biopolitischen Positionierung in der Sterbehilfe-Debatte entschieden, nachdem Mitgliederbefragungen und Diskussionen zu große Uneinigkeit bei den Mitgliedern ergeben haben (Raz et al. 2012). Will man das Konzept der kollektiven Patientenautonomie in Theorie und Praxis ausbauen, impliziert dies in jedem Fall die Forderung nach komplexen und aufwändigen Beteiligungsverfahren in der Gesundheitspolitik. Sollte die bisher noch von wenigen vertretene Idee der kollektiven Patientenautonomie in ihrer Bedeutung erkannt werden, sind enorme Auswirkungen auf die Gesundheitspolitik, die bisherige Praxis der Expertendominanz und damit auch auf die Rolle der Bioethik in Politik und Öffentlichkeit zu erwarten. Literatur Appiah KA (2005) The Ethics of Identity. Princeton University Press, Princeton Woodstock Badura B (2002) Patientenbeteiligung im Gesundheitswesen. Vom Anbieter- zum Verbraucherschutz. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 15: 39–46 Bandelow NC (1998) Gesundheitspolitik. Der Staat in der Hand einzelner Interessengruppen? Probleme, Erklärungen, Reformen. Leske + Budrich, Opladen Bratman ME (2006) Dynamics of Sociality. In: French PA, Wettstein HK (Hrsg.) Shared intentions and shared responsibility. Blackwell, Boston /Oxford Brown P, Zavestoski S, McCormick S, Mayer B, Morello-Frosch R, Gasior Altman R (2004) Embodied health movements: new approaches to social movements in health. In: Sociology of Health & Illness 26: 50–80 Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Schicktanz, Jordan: Kollektive Patientenautonomie

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Teil 7: Kollektive Autonomie

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David P. Schweikard

Kollektive Autonomie und Autonomie in Kollektiven Mit Blick auf dringliche gesellschaftliche Herausforderungen wie den Schutz von Minderheiten, die Förderung vielstimmiger politischer Diskurse und die Gestaltung einer effektiven Verfolgung von Partikularinteressen ist eine Analyse der kollektiven Dimension von Autonomie vor allem mit Blick auf die folgenden zwei Fragestellungen relevant: erstens, unter welchen Bedingungen einem sozialen Zusammenschluss Autonomie zugesprochen werden kann, und zweitens, wie Autonomieansprüche von Individuen, die sich zu sozialen Gemeinschaften zusammenschließen, geschützt und durchgesetzt werden können. Einige grundlegende Interessen können, dies wird für das Folgende unterstellt, nur auf dem Weg der sozialen Organisation und durch die Hervorbringung handlungsfähiger sozialer Verbände effektiv verfolgt und durchgesetzt werden. Dies bezeugen mit Blick auf das Oberthema der Patientenautonomie vor allem Patientenverbände. Sie vertreten Individuen, welche nicht nur ein gemeinsames Schicksal teilen, etwa weil sie unter derselben (Art von) Erkrankung leiden, sondern meist auch ein gemeinsames Interesse an öffentlicher Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse haben. Allerdings riskieren solche in hohem Maße organisierten sozialen Zusammenschlüsse, die für das Einlösen dieses Versprechens geeignet sein sollen, dass die individuelle Autonomie ihrer Mitglieder gefährdet wird. Ist ein Zusammenschluss erst einmal hinreichend komplex aufgebaut und organisiert, sodass er effektiv für die Interessen seiner Mitglieder eintreten kann, gilt es daher, ihn so zu steuern, dass er die Überzeugungen und Interessen aller seiner Mitglieder repräsentiert und sich ihnen gegenüber nicht verselbständigt. Damit ist ein komplexes Spannungsverhältnis benannt: Es besteht zwischen dem Erfordernis einer geeigneten Strukturierung von Kollektiven zur effektiven Verfolgung der Interessen ihrer Mitglieder und der systematischen Berücksichtigung individueller Überzeugungen und Interessen. Die Herausforderungen, die in der Bewältigung dieser Spannung liegen, stellen sich auf ähnliche Weise bei Patientenverbänden, deren Mitglieder jeweils im vollen Sinne autonome Personen sind – zum Beispiel bei Organisationen, die für die Ansprüche von Krebspatienten eintreten – und bei Verbänden, die für die Interessen von Menschen eintreten, die nicht im vollen Sinne für sich sprechen können – zum Beispiel bei Vertretungen von Demenzkranken. In diesem Beitrag erörtere ich eine Konzeption kollektiver Autonomie vor dem Hintergrund derjenigen sozialphilosophischen Debatte, die in den letzten drei Jahrzehnten unter dem Stichwort »kollektive Intentionalität« Kontur gewonnen hat (vgl. Schmid, Schweikard 2009). Zur Beantwortung der Frage, ob soziale Kollektive so strukturiert sein können, dass es gerechtfertigt ist sie als Akteure aufzufassen, muss geklärt werden, auf welche Weise Kollektive irreduzible Absichten und Überzeugungen haben können. Eng damit verknüpft ist zugleich die Untersuchung der internen Struktur solcher Kollektive. Hierbei handelt es sich um Kollektive, die als Akteure gelten und denen von ihren Mitgliedern sowie von Außenstehenden auf sinnvolle Weise Absichten und ÜberClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 7: Kollektive Autonomie

zeugungen zugeschrieben werden. Im ersten Schritt lege ich die Grundzüge einer Konzeption der Autonomie von Kollektivakteuren dar, um dann im zweiten Schritt die bereits angedeuteten Chancen und Risiken als normative Implikationen zu erörtern.

Die Autonomie von Kollektivakteuren Wie müssen sich Individuen zur Verfolgung gemeinsamer Interessen zusammenschließen und organisieren, um einen Kollektivakteur zu bilden? Wie müsste zum Beispiel ein Zusammenschluss von Krebs-Patienten, die ein Interesse an verbesserter psycho-sozialer Versorgung eint, gefasst sein, damit es gerechtfertigt ist, ihn als Kollektivakteur anzuerkennen? Und ist es unter bestimmten Bedingungen sogar gerechtfertigt, dem derart konstituierten Kollektiv selbst Autonomie zuzuschreiben?

Gemeinsames Handeln und das Handeln von Kollektiven Zu Beginn muss eine grundlegende Unterscheidung zwischen gemeinsamem Handeln bzw. basalen Formen von Kooperation und dem Handeln von Kollektiven getroffen werden. Zwar ist in vielen alltäglichen Kontexten üblich, schlichtweg jede Form gemeinsamen Handelns als Handeln einer Gruppe zu beschreiben – etwa wenn von drei Spaziergängern, die auf ihrer Runde im Park unterwegs sind, gesagt wird, sie spazierten als Gruppe –, doch lässt sich mit Blick auf diese sozialen Phänomene eine für die Theorie kollektiven Handelns sinnvolle Unterscheidung treffen (vgl. Pettit, Schweikard 2006). Demnach fällt unter gemeinsames Handeln jedes Tun, das von zwei oder mehreren Akteuren auf der Grundlage ineinander verschränkter Handlungsabsichten und Überzeugungen der Beteiligten vollzogen wird. Es sind solche komplexen intentionalen Strukturen, die gemeinsames Handeln wie einen gemeinsamen Spaziergang von bloß parallelem individuellem Handeln unterscheiden, also etwa vom zufällig parallelen Spazierengehen dreier Einzelpersonen. Gemeinsam handeln Akteure dann, wenn sie sich über das Ziel und den Verlauf ihrer gemeinsamen Handlung hinreichend einig sind und sie als gemeinsame vollziehen (vgl. Bratman 1999; Schweikard 2010/2011). Zumeist sind dafür zwar Absprachen und Abstimmungen nötig, aber keine komplexe soziale Organisation, innerhalb derer Aufgaben verteilt, Positionen definiert, Verfahren zur kollektiven Entscheidungsfindung eingesetzt und einzelne Handlungen an Externe delegiert werden. Anders als gemeinsames Handeln erfordert aber das Handeln von Kollektiven genau dies: Gemeinsam Handelnde geben ihren koordinierten und kooperativen Anstrengungen eine Struktur, die es rechtfertigt, das dadurch konstituierte Kollektiv als eigenständigen Akteur anzuerkennen. Soziale Gruppen oder Kollektive, die in diesem Sinn als Akteure in Frage kommen, weisen eine über gemeinsames Handeln hinausgehende Organisationsstruktur auf, die nicht von der konkreten Mitgliederzusammensetzung abhängt. Vielmehr bestehen sie auch dann fort, wenn einzelne Mitglieder ausscheiden oder neue hinzukommen. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Schweikard: Kollektive Autonomie und Autonomie in Kollektiven

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Gemeinsames Handeln spielt für das Handeln von Kollektiven eine grundlegende Rolle. Eine theoretische Konzeption von Kollektivakteuren muss jedoch auch begründen, dass soziale Formationen unter bestimmten Bedingungen als eigenständige Handlungseinheiten anzuerkennen sind. Damit ist in der Theorie kollektiven Handelns der Kern der Position des Nicht-Singularismus bestimmt, der sich gegen die »singularistische« Auffassung wendet, nach der nur Einzelpersonen als Akteure anzusehen sind (vgl. Gilbert 1989; Schweikard 2011, Teil III). Diese nicht-singularistische Position liefert ein Instrumentarium dafür, einen normativ gewichtigen Befund zu erfassen. Denn mit zunehmender Komplexität gegebener Situationen und Problemlagen können auch die Anforderungen an die Strukturierung gemeinsamer Anstrengungen derart steigen, dass gemeinsames Handeln zur Verfolgung der Interessen oder zum Schutz der Autonomie von Beteiligten nicht ausreicht. Um zum Beispiel den Interessen von AlzheimerPatienten im gesundheitspolitischen Diskurs Gehör zu verschaffen oder um den Aufbau und eine adäquate Ausstattung von Einrichtungen für Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, sind innerhalb der zugehörigen Interessenvertretungen unter Umständen komplexe interne Strukturen zu etablieren. Innerhalb solcher Strukturen kann bestimmt werden, mit welchen Mitteln gemeinsame Interessen verfolgt werden sollen, und wie kollektive Entscheidungen in die Tat umzusetzen sind. Beispielsweise hängt die Handlungsfähigkeit einer Organisation, die sich dem Schutz der Ansprüche von Demenzkranken widmet, nicht nur von der übergeordneten Zielsetzung, sondern auch davon ab, dass geeignete Kampagnen oder Lobbyarbeit initiiert und von Repräsentanten durchgeführt werden. Kollektive Akteure Die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Kollektiv als Akteur anerkannt werden kann, fokussieren auf seine interne Verfasstheit und damit auf die Art und Weise, wie Einzelpersonen ein Kollektiv gestalten. Es reicht hier nicht, dass und ob Kollektiven von außen der Akteursstatus zugeschrieben wird (vgl. Tollefsen 2002). Nur anhand der internen Perspektive lässt sich erörtern, wie genau sich Akteure zur effektiven Verfolgung ihrer gemeinsamen Interessen verbünden und organisieren, um gemeinsam den vielschichtigen praktischen Erfordernissen zu genügen. Ein analytisch anspruchsvolles und zugleich anschauliches Modell der Akteurschaft von Kollektiven haben Christian List und Philip Pettit vorgelegt (vgl. List, Pettit 2011). Diesem Modell zufolge gilt eine Entität als Akteur, wenn sie (i) repräsentationale Einstellungen (z. B. Überzeugungen) bezüglich ihrer Umgebung hat, wenn sie (ii) motivationale Einstellungen über den gewünschten Zustand ihrer Umgebung hat, und wenn sie (iii) dazu in der Lage ist, ihre repräsentationalen und motivationalen Einstellungen auf eine Weise zu verarbeiten, die sie dazu bringt, diesen entsprechend in ihre Umgebung einzugreifen (vgl. List, Pettit 2011, 20). Damit ist zunächst nur gesagt, dass Akteure Entitäten sind, die Überzeugungen und Wünsche haben und zu den entsprechenden Formen des Eingreifens in ihre Umgebung fähig sind. Hierzu kommt eine weitere BedinClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 7: Kollektive Autonomie

gung, der Akteure genügen müssen: Die (minimale) Rationalitätsbedingung, dass Entitäten, die als Akteure gelten sollen, nicht an sich widersprechenden Überzeugungen oder Wünschen festhalten dürfen. Um in diesem minimalen Sinne als rational zu gelten darf eine Entität bezüglich eines Sachverhalts – z. B. bezüglich des Sachverhalts, dass es jetzt gerade draußen regnet – nicht zugleich die beiden Überzeugungen haben, dass er besteht und dass er nicht besteht. Das Handeln und die Rationalität eines einzelnen Menschen ist offenkundig deutlich komplexer. Die Grundidee dieses Modells liegt darin, allgemeine Merkmale von Akteuren zu identifizieren und dann zu zeigen, dass bestimmte Kollektive genau diese Merkmale aufweisen. Wenn dieses Beweisziel erfüllt wird, folgt zunächst nur, dass Kollektive in diesem bestimmten Sinn Akteure sein können. Dieses Akteurskonzept legt jedoch keine Analogie zwischen Kollektiven und Einzelmenschen (als Akteuren) nahe, sondern vielmehr eine Analogie zwischen Kollektiven und Robotern. Letztere stehen für die instrumentelle Sichtweise, dass sie so konstruiert werden können, dass sie die genannten Bedingungen erfüllen und zweckgemäß funktionieren (vgl. List, Pettit 2011, 19). In einem ganz ähnlichen Sinn werden auch Kollektive als Akteure und insbesondere zur Bewältigung ganz bestimmter Aufgaben – etwa der Verfolgung gemeinsamer Interessen – konstruiert. Das Besondere an Kollektivakteuren ist aber, dass sie aus dem gemeinsamen Handeln individueller Akteure hervorgehen und Einzelpersonen als Mitglieder haben. Wie müssen also Kollektive formiert sein, um die genannten Bedingungen zu erfüllen? Dies erfordert die Einrichtung von Verfahren, mithilfe derer ermittelt wird, welche Überzeugungen und welche Wünsche als Überzeugungen und Wünsche des Kollektivs gelten sollen. Einfache Mehrheitsabstimmungen sind eher ungeeignet, wenn es um komplexe, aus mehreren Einzelentscheidungen zusammengesetzte Entscheidungen geht (vgl. List, Pettit 2011). So kann ein Kollektiv Widersprüche zwischen Überzeugungen, die jeweils eine Mehrheit des Kollektivs unterstützt, nicht prinzipiell vermeiden. 1 Stellen wir uns vor, dass die Einzelakteure A, B und C das Entscheidungsgremium einer Patientenorganisation sind, das zu beschließen hat, welche Maß1

Schematisch lässt sich dies an folgendem Fall darstellen: Angenommen drei Einzelpersonen schließen sich zur Verfolgung eines Ziels zusammen, über das sie sich einig sind. Dabei wird unterstellt, dass die Übertragung auf größere Gruppen keine grundsätzlichen Modifikationen mit sich bringt (vgl. auch Gilbert 2006, 93 ff.). Nun fordern wir diese drei Personen (A, B und C) dazu auf, bezüglich einer relativ geringen Menge von Überzeugungen (〈p〉, 〈q〉 und 〈p&q〉) Kollektivurteile zu fällen. Sie werden dazu gefragt, ob sie für 〈p〉 sind, ob sie für 〈q〉 und ob sie für die Verknüpfung, also 〈p&q〉, sind. Dann kann sich durch Mehrheitsabstimmungen die Konstellation ergeben, dass sie als Kollektiv die Überzeugungen 〈p〉 und 〈q〉 stützen, aber 〈p&q〉 ablehnen; etwa wenn A und B 〈p〉 bejahen, C dies aber verneint, wenn A und C 〈q〉 bejahen, B dies verneint, und wenn zwar A 〈p&q〉 bejaht, B und C dies aber verneinen. Dann ergeben sich für 〈p〉 und 〈q〉 jeweils 2:1-Mehrheiten, aber auch gegen 〈p&q〉, womit sich für das Kollektiv, sofern es sich hinsichtlich jeder der in Frage stehenden Überzeugungen nach der Mehrheitsmeinung richtet, und obwohl jeder einzelne Beteiligte widerspruchsfreie Überzeugungen hat, eine inkonsistente Überzeugungsmenge ergibt (vgl. Pettit, Schweikard 2006). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Schweikard: Kollektive Autonomie und Autonomie in Kollektiven

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nahmen ergriffen werden sollen, um den Bedürfnissen der fraglichen Patientengruppe Gehör zu verschaffen. Angenommen sie stimmen darüber ab, ob eine öffentlichkeitswirksame Kampagne einschließlich Fernsehspots angestrengt werden soll (〈p〉), ob über verstärkten Dialog mit Parteienvertretern Lobbyarbeit betrieben werden soll (〈q〉) und ob diese beiden Maßnahmen ergriffen werden sollen (〈p&q〉). Wir können hier illustrationshalber unterstellen, dass auch für beide Maßnahmen Ressourcen zur Verfügung stehen und keine Entscheidung über Prioritäten zu treffen ist. Dabei kann es, ohne dass sich die Beteiligten widersprechen, aufgrund von getrennten Abstimmungen zu dem Ergebnis kommen, dass jeweils eine Mehrheit 〈p〉 und 〈q〉 stützt, aber ebenfalls eine Mehrheit die Konjunktion 〈p&q〉 ablehnt. Anders ausgedrückt: Fragt man die Beteiligten, ob sie die Kampagne befürworten, stimmt eine Mehrheit zu; fragt man nach der Befürwortung der Lobbyarbeit, stimmt auch eine Mehrheit zu; fragt man aber, ob Kampagne und Lobbyarbeit angestrengt werden sollen, lehnt dies eine Mehrheit ab, ohne dass ein einzelner Beteiligter in seinem Abstimmungsverhalten einen Widerspruch begangen hätte. Situationen dieser Art, die in der Literatur als »diskursive Dilemmata« bezeichnet werden (vgl. List, Pettit 2002), lassen sich durch die Etablierung eines Verfahrens lösen, das die Konsistenz der Überzeugungen des Kollektivs sicherstellt. Das Dilemma besteht darin, dass es in solchen Konstellationen nicht möglich ist, zugleich den individuellen Urteilen der Beteiligten Beachtung zu schenken und eine auf der Kollektivebene konsistente Überzeugungsmenge hervorzubringen. Ein Verfahren, das diese Anforderung erfüllt, besteht dann darin, eine der Überzeugungen aus der inkonsistenten Überzeugungsmenge zu revidieren. Eine Auflösung des Dilemmas durch das Kollektiv ist aber noch nicht erreicht, wenn etwa ein Kollektivmitglied aus rein strategischen Gründen sein Votum angesichts des resultierenden Kollektivurteils revidiert. Vielmehr bedarf es eines gesonderten Verfahrens, das die Beteiligten als Kollektiv auf Ungereimtheiten oder Inkonsistenzen aufmerksam macht. Ein solches Verfahren ist gegeben, wenn die Überzeugungsmenge des Kollektivs (z. B. durch Mehrheitsabstimmungen ermittelt), kontinuierlich auf interne Stimmigkeit geprüft wird. Diese interne Prüfung wiederum kann durch Probeabstimmungen erfolgen (vgl. Pettit 2007a; Schweikard 2011, 380ff.). Dazu stimmten die Beteiligten zunächst vorläufig über die einzelnen Fragen ab, registrieren und überprüfen dann die Abstimmungsergebnisse auf Konsistenz. Im obigen Fall würde so transparent, dass das von A, B und C gebildete Kollektiv zu der Akzeptanz von 〈p〉 und 〈q〉 neigt, aber zur Ablehnung der Implikation 〈p&q〉. Aus einem internen Diskurs über die Teilfragen könnte entweder eine konsistente Überzeugungsmenge (z. B. auf Basis anderer Abstimmungsergebnisse) oder der kollektiv zu fassende Beschluss hervorgehen, dass das Kollektiv nicht zu einer Entscheidung in der Lage ist. Dieses Verfahren ist ein Beispiel dafür, wie in einem Kollektiv gewährleistet werden kann, dass die Überzeugungen und Wünsche des Kollektivs der minimalen Rationalitätsanforderung bezüglich Konsistenz genügen. Damit ist die Position des Nicht-Singularismus in der Theorie kollektiven Handelns etabliert: Ein Kollektiv, das derart Überzeugungen und Wünsche bildet bzw. Urteile darüber Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 7: Kollektive Autonomie

fällt, was seine Überzeugungen und Wünsche sein sollen, erfüllt die genannten Bedingungen und ist in diesem funktionalen Sinn als Akteur aufzufassen. Und genau mit Blick auf so konstituierte Kollektivakteure ist gerechtfertigt, wenn Kollektivmitglieder oder Außenstehende ihnen irreduzible Überzeugungen und Absichten zuschreiben. In der Praxis des Handelns von Kollektiven ist allerdings mehr gefordert als die Erfüllung dieser funktionalen Bedingungen. Es ist zudem notwendig, dass die Beteiligten sich auf die Verfolgung eines Ziels festlegen und geeignete Verfahren zur Entscheidungsfindung etablieren und praktizieren. Außerdem muss sich das Kollektiv eine interne Positions- und Organisationsstruktur geben, welche Zuständigkeiten und Aufgabenverteilung spezifiziert. Diese Struktur wiederum beinhaltet normative Beziehungen zwischen den Beteiligten, da sich diese einander zur Erbringung ihrer jeweiligen Aufgaben verpflichten und ebendiese Beiträge von einander einfordern (vgl. Gilbert 2006). Somit ergibt sich eine Konzeption von Kollektivakteuren, nach der sie keine mysteriösen Entitäten »über den Köpfen« der beteiligten Einzelpersonen sind, sondern als komplexe Struktur aus Beziehungen zwischen Einzelpersonen, Bezugnahmen der beteiligten Einzelpersonen auf das Kollektiv und die zur effektiven Zielverfolgung eingesetzten Strukturen dargestellt werden. Zur Autonomie kollektiver Akteure Inwiefern ist es aber sinnvoll, solch funktional definierten Kollektivakteuren Autonomie zuzusprechen? Das Interesse an dieser Frage speist sich aus der in vielen praktischen Kontexten dringlichen Frage, ob Kollektivakteure für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden können (vgl. Neuhäuser 2011). List und Pettit (2011, 153ff.) schlagen vor, Kollektivakteuren dann Verantwortlichkeit zuzuschreiben, wenn sie (i) normativ signifikante Entscheidungen zwischen richtigen und falschen (bzw. guten und schlechten) Optionen zu treffen haben, wenn sie (ii) über die zum Treffen solcher Entscheidungen erforderliche Verständnis- und Urteilsfähigkeit verfügen und wenn sie (iii) die für die Wahl zwischen Optionen relevante Kontrolle ausüben können. Für den vorliegenden Kontext können wir unterstellen, dass damit zugleich die Bedingungen der Autonomie von Kollektivakteuren benannt sind. Die erste dieser Bedingungen ist erfüllt, wenn das Anliegen, zu dessen Verfolgung ein Kollektiv gebildet wird, oder auch eine konkret vorliegende Entscheidung, die es zu treffen hat, im genannten Sinne normativ bedeutsam ist. Vorstände von Industrieunternehmen sind beispielsweise regelmäßig mit Abwägungen zwischen Gewinnmaximierung und Mitarbeiter- oder Umweltschutz konfrontiert. Die Erfüllung der zweiten Bedingung ist gegeben, wenn die Themensetzung innerhalb des Kollektivs – in einem Industrieunternehmen etwa hinsichtlich der Betonung des Umweltschutzes – und die zur Entscheidungsfindung eingesetzten Verfahren normativ bedeutsame Frage- oder Problemstellungen einschließen. Dazu sind wiederum entsprechende Eingaben und Reflexionsanstöße seitens der Mitglieder erforderlich. Die kollektivinterne Struktur kann auch dazu genutzt werden, bestimmte Ideale – wie im zuvor genannten Beispiel Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Schweikard: Kollektive Autonomie und Autonomie in Kollektiven

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etwa das Ideal der Nachhaltigkeit – anzunehmen und für die Bestrebungen eines gegebenen Kollektivs als leitend zu behandeln. Die dritte Bedingung zu erfüllen ist schwieriger, da nicht Kollektivakteure die ihnen zugeschriebenen Handlungen vollziehen, sondern einzelne Beauftragte bzw. Repräsentanten. Dadurch ergibt sich leicht eine Kluft zwischen intern ermittelten Entschlüssen und ihrer Umsetzung. Dies kann wiederum strukturell aufgefangen werden, indem das Kollektiv durch einen oder mehrere (gewählte) Stellvertreter die Übereinstimmung von Kollektiventschlüssen und Handlungen im Namen des Kollektivs überwacht und im Falle einer Inkongruenz eingreift. Dies verdeutlicht insgesamt, inwiefern Kollektivakteure kraft ihrer Organisation die genannten minimalen Bedingungen für Verantwortlichkeit und Autonomie erfüllen können. Zwei Punkte sind dabei entscheidend: Erstens sind Kollektivakteure in vielen Fällen mit Situationen konfrontiert, die sich nicht in derselben Form für Einzelpersonen stellen, da hinsichtlich ihrer Handlungsoptionen und -wirksamkeit erhebliche Unterschiede zwischen Einzelpersonen und Kollektivakteuren bestehen. Dies zeigt sich gerade an komplexen politischen Prozessen oder öffentlichen Diskursen. Zweitens ist der Charakter oder das Ethos eines Kollektivakteurs durch geteilte normative Überzeugungen und Wertvorstellungen konstituiert (vgl. Tuomela 2007). Dies beinhaltet zudem die Gestaltung und Einflussnahme der Kollektivmitglieder auf die Bestimmung der Ziele, Agenda und Verfahren des jeweiligen Kollektivs. Trotz des selbständigen Akteursstatus solcher Kollektive ist zu betonen, dass sie nicht nur von Einzelpersonen kooperativ konstruiert, sondern auch fortwährend gestaltet werden. Das Problem der Diskontinuität In der normativen Praxis, in der Akteure für ihr Handeln kritisiert oder gelobt werden, besteht zwischen der Zuschreibung von Verantwortung und der Zuschreibung von Freiheit und Autonomie ein enger Zusammenhang. Diesem Zusammenhang kann im vorliegenden Kontext weder auf dem Weg beispielhafter Phänomenanalyse noch auf dem Weg der Begriffsanalyse nachgegangen werden. Mit Blick auf die kollektiven Spielarten dieser normativen Kernbegriffe ist es stattdessen aufschlussreich, ein spezielles Problem bezüglich kollektiver Autonomie, kollektiver Verantwortung und kollektiver Freiheit herauszugreifen: das Problem der Diskontinuität, welches sich dann ergibt, wenn die konsistenten Überzeugungen eines Kollektivs von den Überzeugungen mehrheitlich geteilten Überzeugungen seiner Mitglieder abweichen, ohne dass diesen Mitgliedern in ihren individuellen Urteilen Widersprüche unterlaufen. Einen ersten Anhaltspunkt für die Bestimmung von Diskontinuität lieferten bereits die obigen Erläuterungen zum diskursiven Dilemma. Da kann es sich ergeben, dass eine Überzeugung 〈p&q〉, auf welche das Kollektiv aufgrund von Mehrheitsmeinungen hinsichtlich anderer Überzeugungen (z. B. 〈p〉 und 〈q〉) und kraft logischer Implikation festgelegt ist, de facto nur von einer Minderheit der Kollektivmitglieder gestützt wird. Damit ergibt sich eine Diskontinuität zwischen einem konsistenten Kollektivurteil und der (wenigstens ursprünglich ermittelten) Mehrheitsmeinung der Kollektivmitglieder. Solche DiskontiClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 7: Kollektive Autonomie

nuitäten betreffen den Zusammenhang zwischen Mitglieder- und Kollektivebene und sie werden mit Blick auf die Verantwortung und die Freiheit kollektiver Akteure diskutiert und jeweils innerhalb bestimmter Grenzen bejaht (vgl. Pettit 2007b; Hindriks 2008). Das heißt, dass sich zeigen lässt, inwiefern Kollektiven in bestimmten Situationen Verantwortung oder (Un-) Freiheit zukommen kann, ohne dass in denselben Situationen derselbe Status auch auf die jeweiligen Kollektivmitglieder zutrifft. Beispielhaft sind hier die Verantwortung für eine Havarie, die aufgrund mangelhafter Strukturen und Einzelentscheidungen der zugehörigen Reederei als Kollektivakteur zukommen kann, ohne auf den Schultern von Einzelpersonen zu lasten sowie die Situation der Arbeiterklasse, hinsichtlich derer von der Freiheit der beteiligten Individuen, der Situation zu entfliehen, die Rede sein kann, in der jedoch kollektive Unfreiheit bezüglich der Flucht aus den sozialen Verhältnissen besteht. Kann sich eine Diskontinuität dieser Art auch mit Blick auf kollektive Autonomie ergeben? Kann sich ein Kollektivakteur, wie er hier beschrieben wurde, gegenüber seinen Mitgliedern derart verselbständigen? Das bloße Aufkommen dieser Frage nehmen einige Autoren in der Theorie des Gruppenhandelns zum Anlass, die Existenz von Kollektivakteuren grundsätzlich zu leugnen oder bestenfalls als metaphorisch zu erklären (vgl. Searle 1990; Quinton 1975). Andere wiederum haben sie offen bejaht und die Auffassung vertreten, dass von Einzelakteuren kooperativ konstruierte Kollektivakteure tatsächlich eine Art emergentes Eigenleben annehmen, das einen Grad der Unabhängigkeit gegenüber der Ebene ihrer individuellen Mitglieder aufweist (vgl. dazu den »Klassiker« dieser Theorielinie: von Gierke 1902). Gegenüber diesen Extrempositionen ist es mit der oben dargestellten Konzeption kompatibel und plausibel zu behaupten, dass die Existenz und die Handlungsweisen von Kollektivakteuren durchgängig von den gemeinsamen Handlungen. Interaktionen sowie der internen Organisation abhängig sind (vgl. Schweikard 2011, Teil III). Wie an den Formen der Urteilsaggregation zu sehen ist, können sich bei Kollektiven, in denen das rational konsistente Kollektivurteile von den (zunächst) mehrheitlich gestützten Mitgliederurteilen abweicht, zwar einzelne Abweichungen zwischen Kollektiv- und Mitgliederebene ergeben, jedoch keine grundsätzliche oder dauerhafte Diskontinuität. Wenigstens sollten Kollektivakteure der hier vorgestellten Konzeption zufolge so aufgebaut sein, dass zugleich auf der Kollektivebene für Konsistenz und Handlungsfähigkeit gesorgt ist und die Mitglieder die Autorschaft bezüglich des Charakters des Kollektivs behalten. Mit Bezug auf Organisationen wie die bereits angeführte Interessenvertretung von Krebspatienten ist hier erstmal nur ein komplexes strukturelles Erfordernis benannt: Um als Kollektivakteure effektiv und autonom sein zu können, müssen sie Bedingungen erfüllen, die ihren Akteursstatus und ihre Autonomie begründen; dabei sind die kollektivinternen Strukturen und Verfahren so einzurichten, dass sich das Kollektiv – insbesondere dann, wenn ein Teil des Kollektivs mit der Entscheidungsfindung oder der Umsetzung von Beschlüssen vertraut ist – nicht gegenüber seinen Mitglieder verselbständigt. Dies muss daher nach Maßgabe und unter fortwährender Berücksichtigung der autonomen Beteiligung seiner Mitglieder geschehen. Liegt dies vor, kann auch der aus praktischen KonClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Schweikard: Kollektive Autonomie und Autonomie in Kollektiven

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texten vertrauten Rede von der Verantwortung, die Kollektive gegenüber ihren Mitgliedern haben, ein spezifischer Sinn gegeben werden. Implikationen für die Autonomie von Kollektivmitgliedern Eingangs wurde behauptet, dass mit dem Handeln von Kollektiven für Einzelpersonen als Mitglieder von Kollektivakteuren sowohl Chancen als auch Risiken verknüpft sind. Die dargelegte Konzeption von Kollektivakteuren hat beides schon erkennen lassen. Im Folgenden werden diese normativ bedeutsamen Implikationen expliziert. Chancen Die mit kollektivem Handeln grundsätzlich verbundenen Chancen liegen vor allem darin, dass Einzelakteuren im Verbund Handlungsoptionen offen stehen, über die sie einzeln nicht verfügen. Liegt es beispielsweise im gemeinsamen Interesse einer größeren Menge von Menschen, die im Alltag auf einen Rollstuhl angewiesen sind, dass ihren Belangen und Bedürfnissen in der Öffentlichkeit und in politischen Verfahren Gehör verschafft wird, so bietet koordiniertes, zu einem Kollektiv organisiertes Handeln nicht nur ein geeignetes Mittel. Vielmehr ist effektive Einflussnahme in der Regel nur auf diesem Wege möglich. Hier gilt nicht nur, dass vereinte Kräfte die Möglichkeiten von Einzelpersonen oder unorganisierter Gruppen übersteigen, sondern dass auf gesellschaftlicher und politischer Ebene bestimmte Ziele nur auf dem Weg der Vereinigung, Organisation und Inkorporation erreichbar sind. Je größer innerhalb einer Gruppe die Einigkeit hinsichtlich der gemeinsamen Zielsetzung und der zielführenden Maßnahmen ist, desto besser eignen sich derart gebildete Kollektivakteure zur Verwirklichung der Chancen, die für die Beteiligten im Handeln des Kollektivs liegen. Im Idealfall erstreckt sich diese Einigkeit auch noch auf die Organisationsstruktur und insbesondere die kollektivinternen Mechanismen zur Entscheidungsfindung, wie aus dem obigen deutlich geworden sein sollte. Die Qualitäten eines sozialen Zusammenschlusses, die ihn im Idealtypus eines Kollektivakteur konstituieren, liefern entscheidende Anhaltspunkte für die Benennung entscheidender normativer Beziehungen innerhalb von Kollektiven. Diese Beziehungen lassen sich als Anerkennungsverhältnisse deuten, sofern sie die wechselseitige Identifikation der beteiligten Einzelpersonen als Kollektivmitglieder sowie die Geltung wechselseitiger Ansprüche und Verpflichtungen umfassen. Margaret Gilbert (2006) hat dies, wenngleich in anderer Terminologie, als zentrales Merkmal sozialer Vereinigungen herausgestellt. Besondere normative Bedeutsamkeit erhält dieses Merkmal bei Zusammenschlüssen, die aufgrund spezieller Belange und Bedürfnisse gebildet werden. Damit sind Fälle von z. B. ausgegrenzten, marginalisierten Gruppierungen gemeint, die untereinander ihre Ansprüche anerkennen, wohingegen diese Ansprüche außerhalb der jeweiligen Kollektive (noch) keine Anerkennung erfahren haben. Für einen einzelnen Rollstuhlfahrer oder chronisch kranken Menschen mag es schon ein Motiv sein, einer Selbsthilfe-Organisation beizutreten, weil in dieser seinen Bedürfnissen auf Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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besondere Weise Beachtung geschenkt wird. Hinzu kommt, dass er im Falle adäquater Organisation in die Lage versetzt wird, an der Gestaltung derjenigen Einheit mitzuwirken, die in der Öffentlichkeit für die fraglichen Belange eintritt, in einem bestimmten Sinn für ihn einsteht und Verantwortung übernimmt. Dieser Befund lässt sich für die Verfolgung der Belange ganz unterschiedlicher Minderheiten verallgemeinern. Dann jedoch ist zu fragen, inwiefern die Ziele, zu deren Verwirklichung Kollektivakteure gebildet werden, berechtigt sind und inwiefern die jeweiligen Kollektive selbst in gerechtfertigter Weise auf ihre Rolle im öffentlichen Diskurs pochen dürfen. So sind etwa extremistische Vereinigungen hier klar etwa von kulturellen Minderheiten, gemeinnützigen Vereinen oder eben Patientenvereinigungen zu unterscheiden. Risiken Nun entsprechen offenkundig nicht alle existierenden sozialen Verbände dem Idealtypus. Auch wenn die Schaffung eines von Kollektivakteurs gelingt, so kann die Etablierung intakter interner Anerkennungsverhältnisse misslingen. In beiden Hinsichten, bezüglich der auf Akteurschaft zielenden Organisation von Kollektiven und bezüglich der internen Anerkennungsbeziehungen, bergen soziale Zusammenschlüsse normativ signifikante Risiken für die individuelle Autonomie der beteiligten Einzelpersonen, die schließlich zu erkennen und ggf. zu umgehen sind. Ein erstes Problem, das sich unmittelbar daraus ergibt, dass zur Konstitution rational konsistenter Kollektivakteure bestimmte Entscheidungsverfahren etabliert werden müssen, stellt die so genannte »Tyrannei der Mehrheit« dar. Zwar gründet die Mitgliedschaft von Individuen in einem Kollektiv auch in der prinzipiellen Zustimmung zu Zielen und Verfahrens des Kollektivs, und typischerweise beruhen die Verfahren, die den Akteursstatus des Kollektivs ermöglichen bzw. aufrecht erhalten, auf dem Mehrheitsprinzip, doch lässt dies die Möglichkeit offen, dass einzelne Mitglieder permanent überstimmt werden. Es kann also sein, dass trotz grundsätzlicher Einhelligkeit die konkreten Voten einzelner Mitglieder bezüglich Kollektiventscheidungen von der jeweiligen Mehrheit übertrumpft werden. Dieses Problem ist innerhalb der hier favorisierten Konzeption nicht anders als mit dem Hinweis zu lösen, dass bei relativ konstanten internen Spannungen bezüglich Sachfragen auch die organisatorische Spaltung nahe liegt. Vertritt ein kleiner Teil eines Kollektivs dauerhaft abweichende Haltungen bezüglich der Maßnahmen, die das Kollektiv zur Erreichung der gesetzten Ziele ergreifen sollte, und lassen sich diese Divergenzen nicht im kollektivinternen Diskurs beheben, so empfiehlt sich den Mitgliedern dieses Teils der Aufbau eines separaten, inhaltlich ähnlichen Kollektivakteurs. Einzelnen, relativ isolierten Abweichlern kann sogar nur der Weg des Austritts bleiben, wenn ihnen keine pragmatische Abwägung zugunsten der Beteiligung am Kollektiv gelingt, sondern nur das Festhalten an den je eigenen Vorstellung als gangbar erscheint. Zweitens können die Einflussmöglichkeiten der individuellen Mitglieder auf den Charakter bzw. das Ethos des Kollektivs in Zweifel gezogen werden. Oben wurde gesagt, dass idealerweise die für das Handeln des Kollektivs leitenden Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Schweikard: Kollektive Autonomie und Autonomie in Kollektiven

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Wertvorstellungen durch die Kollektivmitglieder fortwährend gestaltet und in ihrer Umsetzung geprüft werden. Besonders bei Kollektiven mit großer Mitgliederzahl können jedoch die Möglichkeiten zur Einflussnahme durch einzelne Mitglieder derart beschränkt sein, dass sie sich und ihre Wertvorstellung in der Ausrichtung des Kollektiv nicht wiederfinden. Angesichts der sich potenziell ergebenden Entfremdungssituationen bleiben auch hier jenseits der diskursiven Annäherung nur Auswege durch gemeinsame Abspaltung oder Austritt. Besonders mit Blick auf eine mögliche Kluft zwischen dem Charakter des Kollektivs und den Wertvorstellungen autonomer Mitglieder setzt der Weg des Austritts aber voraus, dass er ohne Einbußen für die autonome Lebensführung eingeschlagen werden kann. In Fällen, in denen einzelne auf die Repräsentanz ihrer besonderen Belange angewiesen sind, könnte dies prekäre Konsequenzen zeitigen, wodurch Kollektivakteure stärker gefordert sind, für eine möglichst konsensuelle und transparente Gestaltung ihrer Wertausrichtungen zu sorgen. Eine dritte Schwierigkeit bedeuten kollektivinterne Hierarchien und Machtverhältnisse. Diese sind in der Regel zur effektiven Organisation erforderlich bedeuten zugleich zumeist interne Ungleichheiten bezüglich Befugnissen und Einflussnahme. Eine für den Einzelfall anzupassende Maxime wäre, dass eine Konzentration von Befugnissen auf einzelne Positionsinhaber lediglich zugunsten des effektiven Handelns des Kollektivs zulässig ist und diese Positionen aber allen offen stehen und alle davon Betroffenen an den Entscheidungsverfahren beteiligt werden müssen. So mag sich seitens der Mitglieder ein Grad der Abhängigkeit vom organisierten Kollektiv ergeben, insofern es um dessen Fähigkeit zur effektiven Zielverfolgung geht. Diese darf aber nicht dazu geeignet sein, die Autonomie von Mitgliedern zu unterminieren. Hinsichtlich der internen Anerkennungsverhältnisse kann sich als viertes Problem ergeben, dass sie nicht stabil etabliert werden. Der grundlegende Aufbau eines Kollektivs mit wechselseitigen Ansprüchen und Verpflichtungen der Mitglieder ist von der Praxis des Schutzes von Ansprüchen und Verpflichtungen zu unterscheiden. Bei Letzterem ist, selbst wenn ein temporärer, kontextuellen Erfordernissen geschuldeter Spielraum akzeptabel sein kann, eine klare Grenze dadurch zu bestimmen, dass die normative Binnenstruktur eines Kollektivakteurs nur dann legitim ist, wenn sie die Ansprüche wahrt, zu deren Schutz er gebildet wurde. Die Einzelpersonen, die ein Kollektiv begründen oder sich ihm anschließen, haben berechtigten Anlass auf diesen Schutz zu vertrauen; wird er vernachlässigt, verliert das Kollektiv den Status der legitimen Instanz zur Repräsentation seiner Mitglieder und ihrer Interessen. Fünftens kommt der Repräsentationsfunktion eines Kollektivs dann besondere Brisanz zu, wenn seine Mitglieder selbst nicht oder nur eingeschränkt autonom sind. Einschlägig sind an dieser Stelle Organisationen, die für Belange von Menschen mit starken, irreversiblen geistigen Behinderungen eintreten, welche selbst keine reflektierten Entscheidungen treffen und sich am Diskurs beteiligen können. In diesen Fällen fungieren Kollektive nicht als effektive Verlängerung der Autonomie ihrer Mitglieder und als Vereinigungen vollständig kompetenter Einzelakteure, sondern sie übernehmen – auch kraft des Engagements von Personen ohne die entsprechenden Einschränkungen – in der Verfolgung der InterClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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essen ihrer Mitglieder eine Stellvertreterrolle. Allgemein untersteht die Rolle des Stellvertreters der Überprüfung durch die Vertretenen. Wenn die von der Vertretung Abhängigen diese Überprüfung selbst nicht vornehmen können, ergeben sich spezielle Verantwortlichkeiten. Unter diesen Bedingungen obliegt es den im relevanten Sinn kompetenten Kollektivmitgliedern oder auch externen Beratern, die Einrichtung und die Praxen des Kollektivs den Interessen der Repräsentierten entsprechend zu steuern. An Fällen dieser Art ist zu sehen, dass die Konstruktion kollektiver Handlungseinheiten keinen Selbstzweck hat, sondern immer im Dienst der Interessen von Mitgliedern bzw. den durch sie Repräsentierten steht. Fazit Dieser Beitrag zielte darauf ab, vor dem Hintergrund der philosophischen Diskussion über die Struktur kollektiven Handelns eine differenzierte, nicht-singularistische Konzeption von Kollektivakteuren für die angewandte Bioethik darzulegen. In Ergänzung zum bisherigen Fokus auf individuelle Autonomie ging es um grundsätzliche Überlegungen zur Autonomie solcher Kollektive sowie zur Autonomie in Kollektiven. Gleichwohl geht es dabei nicht allein um ein abstraktes Interesse an Kollektivakteuren als spezielle soziale Zusammenschlüsse. Vielmehr sollte bestimmt werden, unter welchen Bedingungen organisierte Kollektive selbst einen normativ signifikanten Status haben und Autonomieansprüche von Einzelpersonen durch sie und innerhalb des Kollektivs geschützt werden können. In der Gründung und Ausgestaltung beispielsweise von Patientenverbänden liegen vor allem Chancen für diejenigen, die durch sie repräsentiert werden. Denn solche Verbände sind in der Regel besser als Einzelpersonen dazu geeignet, ihren besonderen Belangen Gehör zu verschaffen und auf ihre Berücksichtigung in öffentlichen Diskursen sowie politischen Entscheidungen hinzuwirken. Die reflektierte Wertschätzung von Organisationen dieser Art hängt jedoch auch davon ab, inwiefern sie in ihrer Struktur und ihren Aktivitäten die Autonomieansprüche der Beteiligten wahren und so die benannten Schwierigkeiten meiden. Gefordert ist, dass Kollektive, die zur Verfolgung gemeinsamer Interessen oder zum Eintreten für spezielle Belange formiert werden, praktische und normative Integrität aufweisen: praktische Integrität in der effektiven Verfolgung der für sie leitenden Ziele (vgl. Schweikard 2011) und normative Integrität in der Realisierung von Autonomie auf der Ebene des Kollektivs und bezüglich des Schutzes und der Wahrung von Autonomieansprüchen ihrer Mitglieder und all derer, die auf sie angewiesen sind.

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Schweikard: Kollektive Autonomie und Autonomie in Kollektiven

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Sigrid Graumann

Selbstbestimmt und unabhängig leben mit Behinderung Eine ethische Reflexion der Forderungen nach persönlicher und kollektiver Autonomie der Behindertenbewegung Die Behindertenbewegung als Organisation der politischen Selbstvertretung behinderter Menschen entstand in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren. Ihre zentralen Forderungen waren und sind Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Der Hintergrund dafür ist, dass zahlreiche Menschen mit Behinderung in der Vergangenheit entweder lebenslang auf die Hilfe, Unterstützung und Pflege in der Familie angewiesen waren oder keine andere Möglichkeit hatten, als in Anstalten, Heimen und Internaten zu leben, zu lernen und zu arbeiten. Dabei waren sie von pädagogischen und medizinischen Experten abhängig, und zwar sowohl persönlich, weil diesen die Entscheidungskompetenz darüber oblag, was ihrem Wohlergehen dient und was nicht, aber auch politisch, weil diese als Stellvertreter ihre vermeintlichen Interessen gegenüber der Politik vertraten (Köbsell 2006). Dies führte zu einer kollektiven Erfahrung persönlicher und politischer Bevormundung. Diese negative kollektive Erfahrung der Entmündigung und Fremdbestimmung prägt die politischen Inhalte der Behindertenbewegung bis heute. Ihre Ziele sind dementsprechend wesentlich auf die Bekämpfung »institutionalisierter Zwänge und bevormundender Fachlichkeit« ausgerichtet, wobei letztere stark medizinisch geprägt ist (Steiner 1999). An der Geschichte der Behindertenbewegung wird zudem besonders gut deutlich, dass »das Private« und »das Politische« oder persönliche und kollektive Autonomie so eng miteinander verbunden sind, wie in keiner anderen der neuen sozialen Bewegungen. Deshalb werde ich im Folgenden – ausgehend von den allgemeinen Forderungen der Behindertenbewegung nach einem selbstbestimmten und unabhängigen Leben – die enge Beziehung von Forderungen nach persönlicher und nach kollektiver Autonomie thematisieren. Anschließend werde ich vor diesem Hintergrund auf das ambivalente Verhältnis der Behindertenbewegung zur Medizin eingehen. Dabei zeigt sich einerseits, dass die Behindertenbewegung im Hinblick auf die Erweiterung der Spielräume individueller /persönlicher wie kollektiver / politischer Autonomie in den letzten Jahren beeindruckende politische Erfolge für sich verbuchen kann. Andererseits werden davon konzeptionelle Schwierigkeiten und Kontroversen in Bezug auf das Verständnis von Autonomie überdeckt. Deshalb werde ich im zweiten Teil meines Beitrags ein Verständnis von Autonomie skizzieren, das den Anspruch vertritt, den Lebensumständen von allen behinderten Menschen auch bei einem hohen Unterstützungsbedarf gerecht zu werden.

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Graumann: Selbstbestimmt und unabhängig leben mit Behinderung

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Persönliche und kollektive Autonomie als zentrale Ziele der Behindertenbewegung Die Entstehung der Behindertenbewegung in der Bunderepublik war sehr stark beeinflusst von den persönlichen Wünschen vieler Menschen mit Behinderung nach einem selbstbestimmten Leben in selbstgewählter Umgebung jenseits von familiärer und institutioneller Abhängigkeit. Darunter waren viele junge Erwachsene, die auf ein hohes Maß an personeller Unterstützung im Alltag angewiesen waren, ihre Jugend in Behindertenheimen und Internaten verbracht hatten und sich aus der institutionellen Versorgung lösen wollten. Zunächst suchten und fanden viele von Ihnen individuelle Lösungen der selbstbestimmten Unterstützung und Pflege im eigenen Lebensumfeld. Ihre Erfahrungen wurden in den Gruppen der entstehenden Selbstbestimmt-Leben-Bewegung reflektiert, in der die Kritik an der stark medizinisch beeinflussten institutionellen Behindertenhilfe von Anfang an eine große Rolle spielte. Aus den reflektierten Erfahrungen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung heraus entstand das Konzept der »persönlichen Assistenz«. Dieser Begriff wurde bewusst in Abgrenzung zu einer fremdbestimmt und entmündigend empfundenen Pflege gewählt. Persönliche Assistenz kann sowohl Körperpflege als auch medizinische Pflege sowie Haushaltshilfe, Mobilitäts- und Kommunikationsunterstützung umfassen. Selbstbestimmung und Unabhängigkeit sind die zentralen Aspekte des Assistenzmodells. Das bedeutet eine Hilfeleistung, die so weit wie möglich unabhängig von fremdbestimmenden Zwängen organisiert wird. Als wesentlich gilt, dass sich die Person mit Hilfebedarf die Assistenzperson selbst aussucht, sie anleitet, einsetzt und bezahlt (Arbeitgebermodell). 1 Bei der Organisation ihrer Assistenz nach dem Arbeitgebermodell waren die Assistenznehmerinnen und -nehmer zunächst mit allerlei bürokratischen Hürden konfrontiert. Deshalb konzentrierte sich ein Teil der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung auf die Schaffung einer Infrastruktur für behinderte Menschen, gründete ambulante Assistenz-Dienste, Zentren für Selbstbestimmtes Leben mit Beratungsstellen und später Assistenzgenossenschaften (Köbsell 2009). Mit diesen Errungenschaften sollte persönliche Autonomie ermöglicht werden vor dem Hintergrund einer stark medizinisch geprägten, fürsorglichen und entmündigenden Behindertenhilfe. Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung war übrigens nicht auf die BRD beschränkt, sondern fand – zwar in kleinerem Umfang dafür aber umso konsequenter – auch in der DDR statt: So gründeten beispielsweise 1978 junge Erwachsene mit und ohne Behinderung in Thüringen in einem alten Pfarrhof die Landkommune Hartroda. Ihr Lebensmodell basierte auf gemeinschaftlichem Eigentum und Selbstversorgung. Mit ihren Renten finanzierten die behinderten ihre nicht behinderten Kommunarden zum Teil mit, die im Gegenzug notwendige Assis1

Vgl. die Beiträge des Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e. V. (ForseA) (2001) 20 Jahre Assistenz – Behinderte auf dem Weg zu mehr Selbstbestimmung. http: // www.forsea.de /projekte /20_jahre_assistenz /20j_start.shtml (Zugegriffen am 1. August 2012). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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tenzdienste übernahmen. Gemeinsam schuf sich die bis zu zwanzig Personen umfassende Gruppe auf diese Weise einen Freiraum für ein alternatives Leben. Sie verstand sich zunächst als christliche Bruderschaft, entwickelte sich dann aber mehr und mehr zu einer Hippie- und Punk-Kommune. Mit dem Ziel der Selbstversorgung bewirtschaftete sie den Hof und engagierte sich in der Umweltund Friedensbewegung. Für alle Mitglieder bot die Kommune eine in der DDR einzigartige Möglichkeit, ihre Ideale von einem selbstbestimmten, alternativen Leben jenseits der gesellschaftlichen Zwänge zu realisieren. Für die Kommunarden mit Behinderung eröffnete sie zudem die Chance, einem Leben in der Anstalt zu entkommen. 2 Matthias Vernaldi lebte in einem Heim für körperbehinderte Kinder, gründete als 19-Jähriger Hartroda und lebte dort 16 Jahre lang. Sein Hauptmotiv für die Gründung formulierte er wie folgt: »Wir wollten nicht den Rest unserer Zeit sehnsüchtig den Stationsflur hinuntersehen« (Vernaldi zitiert nach Schliefer 2011). In der Bundesrepublik organisierte die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung parallel zum Aufbau einer Infrastruktur zur Ermöglichung persönlicher Autonomie seit den 1970er Jahren den medienwirksamen Protest gegen das entmündigende, von medizinischen und pädagogischen Experten dominierte Behindertenhilfesystem. Hierfür mussten die Behindertenaktivisten zunächst durchsetzen, überhaupt als politische Akteure ernst genommen zu werden. Ihr Ausgangspunkt war das eigene Streben nach einem selbstbestimmten und unabhängigen Leben, oder wie es Gusti Steiner, einer der Pioniere der SelbstbestimmtLeben-Bewegung, formuliert: »Das Konfliktfeld unserer eigenen Lebenssituation wurde Gegenstand unserer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung« (Steiner 1999). Durchsetzung politischer Selbstvertretung Es waren vor allem die Proteste gegen das »UNO-Jahr der Behinderten 1981«, mit denen die Behindertenbewegung ins Licht der Öffentlichkeit rückte. Koordiniert wurden die Proteste von der »Aktionsgruppe gegen das UNO-Jahr der Behinderten«. Deren Mitglieder waren überzeugt, dass das Jahr keine positiven Veränderungen hervor bringen würde, sondern im Gegenteil eine Gefahr für die Anfänge der politischen Selbstorganisation darstelle. Bei der Eröffnungsveranstaltung zum UNO-Jahr am 24. Januar 1981 besetzten die Mitglieder der Aktionsgruppe die Bühne der Festredner in Dortmund und verlasen eine Resolution, in der sie die Veranstaltung als »kostspielige Integrationsoperette« bezeichneten und »keine Reden, keine Aussonderung, keine Menschenrechtsverletzung« forderten. 3 Mit der Aktion sollten die »Wohltäter« daran gehindert werden, sich selbst zu feiern. Außerdem sollte das Bild widerlegt werden, Menschen mit Behinderung seien »dankbar, demütig, unselbständig, ohnmächtig«. 2

3

Vgl. den Dokumentarfilm von Tom Franke (2011) Schräg, fromm und frei. Die Kommunarden von Hartroda. Zitiert aus der Resolution, die bei der Bühnenbesetzung verlesen wurde. Vgl. http: // www.behinderte.de / 1981 / 8102-resolution.htm (Zugegriffen am 9. August 2012). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Graumann: Selbstbestimmt und unabhängig leben mit Behinderung

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Zum Abschluss der Proteste gegen das UNO-Jahr fand am 13. Dezember 1981 in Dortmund das »Krüppel-Tribunal« gegen Menschenrechtsverletzung durch den Sozialstaat statt. Auf dem Tribunal wurden gesellschaftliche Diskriminierung und Ausgrenzung, Menschenrechtsverletzungen in Heimen und Werkstätten für Behinderte sowie in der Psychiatrie, mangelnde Barrierefreiheit von öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln sowie das entmündigende wohlfahrtsstaatliche Hilfesystem angeprangert (Sandfort 1990). Die Heftigkeit der Proteste gegen das UNO-Jahr, welches ja auf eine gesellschaftliche Besserstellung von Menschen mit Behinderung abzielte, ist sicher vor allem darauf zurückzuführen, dass die Veranstaltungen über die Köpfe der selbst Betroffenen hinweg geplant worden waren. Mit ihrem Protest wollten die Aktivisten der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung also ihren Anspruch auf politische Selbstvertretung durchsetzen. Aus heutiger Sicht waren die Proteste so provokativ wie erfolgreich. Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung ist damit dem Ziel der Anerkennung ihrer kollektiven Autonomie ein großes Stück näher gekommen. Auch wenn es sicher noch ein weiter Weg bis zu einer wirklichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung ist, hat die Behindertenbewegung seit ihren Anfängen in den 1970er Jahren einiges erreicht. Um nur einige Beispiele zu nennen: 1994 wurde der Satz »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden« in Art. 3 des Grundgesetzes aufgenommen. 2006 wurde das Allgemeine Gleichstellungsgesetz verabschiedet und ermöglicht nun gegen viele Fälle von Diskriminierung auf Grund von Behinderung gerichtlich vorzugehen. In den vergangen Jahren wurde die Sozialgesetzgebung reformiert. Dadurch ermöglicht das persönliche Budget und die Finanzierung persönlicher Assistenz immer mehr Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben, auch wenn es nach wie vor zu Heimeinweisungen auf Grund von Kostenvorbehaltsregelungen kommt. Die Wohlfahrts- und Behindertenverbände orientieren ihre Angebote trotz nach wie vor vorhandener systembedingter Reformwiderstände zunehmend an den Leitbildern der Selbstbestimmung und Inklusion. Die 2006 verabschiedete UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung hat die Entwicklung hin zu einem selbstbestimmten und unabhängigen Leben für Menschen mit Behinderung und damit zur Verwirklichung persönlicher und kollektiver Autonomie weiter dynamisiert. Die Behindertenrechtskonvention hat nicht zuletzt dazu geführt, dass die politische Selbstvertretung von Menschen mit Behinderung mittlerweile gut verankert ist: Besonders deutlich zeigt sich dies im Inklusionsbeirat beim Bundesbehindertenbeauftragten, der ausschließlich mit selbst betroffenen Menschen mit Behinderung besetzt ist und beratend die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention begleiten soll. Die nicht behinderten Vertreterinnen und Vertreter der Wohlfahrts- und Behindertenverbände und anderer gesellschaftlicher Gruppen wie der Kirchen und der Ärzteschaft verstehen sich selbst als Vertreter der Belange von behinderten Menschen und arbeiten in vier Sachverständigenkommissionen dem Inklusionsbeirat zu. Das heißt, dass letztlich die Menschen mit Behinderung selbst entscheiden, welche Forderungen hinsichtlich der Umsetzung der UN-Konvention an die Politik gerichtet werden und welche nicht. Der Inklusionsbeirat hat Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 7: Kollektive Autonomie

zwar »nur« beratende Funktion und Zweifel an einer wirklichen Bereitschaft von Regierungsvertretern und Administration, dessen Forderungen aufzunehmen, sind sicher berechtigt. Trotzdem zeigt sich an dieser Organisationsform, dass die Behindertenbewegung durch die Emanzipation von pädagogischen und medizinischen Experten einen großen Schritt in Richtung kollektiver Autonomie gemacht hat. Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung und das Verhältnis der Behindertenbewegung zur Medizin Die Behindertenbewegung hat generell ein schwieriges Verhältnis zur Medizin. Ein Grund hierfür ist , dass viele Menschen mit Behinderung existenziell und oft auch dauerhaft auf medizinische Versorgung angewiesen und dabei einem »medikalisierten Blick« ausgesetzt sind, durch den sie sich auf ihre Beeinträchtigung reduziert fühlen (Kuhlmann 2003). Auf Grund ihres Selbstverständnisses als »Heiler« fällt es Ärztinnen und Ärzten offenbar schwer, Behinderung als solche nicht als Krankheit, sondern als unabänderliche und nicht per se negative Lebensrealität eines Menschen anzuerkennen und Grenzen sinnvoller therapeutischer Interventionen zu akzeptieren (Nicklas-Faust 2003). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass viele Menschen mit Behinderung auf sehr zwiespältige Erfahrungen mit Ärztinnen und Ärzten zurückblicken (Köbsell 2003). Das spiegelt sich auch in der Medizinkritik der Behindertenbewegung wieder. Diese fordert, das medizinische Modell von Behinderung, das Behinderung als individuelle körperliche oder seelische Defekte definiert, durch das soziale Modell von Behinderung zu ersetzen. Nach dem sozialen Modell muss Behinderung auf die Wechselwirkung zwischen der individuellen Beeinträchtigung und den gesellschaftlichen Barrieren zurückgeführt werden. Auch diesbezüglich kann die Behindertenbewegung einen Erfolg verzeichnen: Die UN-Konvention legt das soziale Modell von Behinderung als verbindlich fest. Individuell haben viele Menschen mit Behinderung dennoch nach wie vor ein ambivalentes Verhältnis zu Ärztinnen und Ärzten. Ihre gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten sind häufig stark von einer guten medizinischen Versorgung abhängig. Dazu kommt, dass Ärztinnen und Ärzte Gutachtertätigkeiten ausführen, die einen großen Einfluss auf sozialrechtliche Ansprüche haben und damit auf die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben zu führen. Unstrittig ist, dass immer noch erhebliche Defizite in Bezug auf die Forderungen nach gleicher Zugänglichkeit und gleicher Qualität der Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderung bestehen. Dabei bedeutet »gleich« der UN-Konvention folgend, »nicht identisch«, sondern eine dem individuellen Bedarf und der Lebenssituation von Menschen mit Behinderung angepasste medizinische Versorgung.« Menschen mit Behinderung haben zudem oft den Eindruck, unbeliebte Patientinnen oder Patienten zu sein, weil sie besondere Bedürfnisse haben und mehr Zeit benötigen. Sie erfahren oft, von Ärztinnen und Ärzten nicht ernst genommen und auf ihre Beeinträchtigung reduziert zu werden (Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer 2010). Generell beklagen viele Menschen mit Behinderung, dass Ärztinnen und Ärzte weniger Respekt vor ihrer Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Graumann: Selbstbestimmt und unabhängig leben mit Behinderung

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persönlichen Autonomie zeigen als gegenüber Patientinnen und Patienten ohne Behinderung. 4 Die Errungenschaften der Behindertenbewegung hinsichtlich der Anerkennung ihrer kollektiven Autonomie haben sich auch in der Gesundheitsversorgung niedergeschlagen. Wichtigstes Beispiel für diese Entwicklung ist, dass seit der Gesundheitsreform von 2004 die beratende Mitarbeit von Patientenorganisationen an den Entscheidungen des »Gemeinsamen Bundesausschusses« gesetzlich verankert ist. Der Gemeinsame Bundesausschuss entscheidet vor allem darüber, welche medizinischen Leistungen als Kassenleistungen in Anspruch genommen werden können und welche nicht. Gerade für diejenigen Menschen mit Behinderung, die dauerhaft auf ein hohes Maß an Gesundheitsversorgung angewiesen sind, hat dies einen großen Einfluss auf ihre Lebensqualität und Teilhabemöglichkeiten. Der Deutsche Behindertenrat ist berechtigt, einvernehmlich mit der »Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen« und der »Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen« die Patientenvertreterinnen und -vertreter zu bestimmen. Jenseits eines verengten liberalen Autonomieverständnis Angesichts der politischen Erfolge der Behindertenbewegung wird oft ausgeblendet, dass der Begriff der Autonomie in der Behindertenbewegung keineswegs unstrittig war und ist. Dabei sind die vertretenen Autonomiekonzepte so vielfältig wie anderswo: Manche assoziieren mit »Autonomie« primär Wahl- und Willkürfreiheit, für andere ist Autonomie gleichbedeutend mit Selbstverwirklichung als Maßstab eines guten Lebens und wieder anderen geht es um das Kantische Konzept moralischer Selbstverpflichtung. Vor allem aber ist »Autonomie« der politische Leitbegriff des modernen Liberalismus. Vertreter eines liberalen Autonomiebegriffs setzen die Fähigkeit zu Autonomie als gegeben voraus (vgl. Reinders 2008; Eurich 2008). Damit werden konzeptionell alle diejenigen ausgeschlossen, die nicht, noch nicht oder nicht mehr zu Autonomie fähig sind (Nussbaum 2006, 14–18; Richardson 2006, 420). So kritisiert beispielsweise die Philosophin Eva Kittay den politischen Liberalismus, weil er einseitig von der Perspektive erwachsener, unabhängiger und selbstgenügsamer Bürger ausgehen würde. Dabei würde er konsequent vernachlässigen, dass wir in vielen Phasen unseres Lebens, beispielsweise als Kinder, als kranke oder als alte Menschen, unausweichlich von der Sorge in partikularen Beziehungen abhängig sind (Kittay 1999, 13–17). Dieser Kritik eines liberalen Autonomieverständnisses geht es offenbar primär um persönliche Autonomie. Innerhalb der Behindertenbewegung wird aber auch das Konzept kollektiver Autonomie kritisch diskutiert. Hinter dem Konzept kollektiver Autonomie stehe die Konstruktion eines Kollektivsubjekts »Menschen mit Behinde4

Leider gibt es bisher nur wenig aussagekräftige empirische Untersuchungen zur medizinischen Versorgung von Menschen mit Behinderung. Meine Aussagen stützen sich daher vor allem auf persönliche Gespräche sowie auf Diskussionen, die auf den zahlreichen Tagungen zur Thematik seit der Verabschiedung der UN-Konvention geführt wurden. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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rung«, das der Vielfalt an Beeinträchtigungen, die Menschen haben können, nicht gerecht werde. Denn die Unterschiede in den Lebensumständen einer Rollstuhlfahrerin, einer gehörlosen Person, einer Person mit einer geistigen Beeinträchtigung und einer Person mit einer chronischen psychischen Störung sind ausgesprochen groß und es ist fraglich, ob dieser Vielfalt mit dem Begriff der kollektiven Autonomie Rechnung getragen werden kann. Damit verbunden ist die Gefahr, dass Unterschiede an Macht und Einfluss innerhalb der Gruppe von Menschen mit Behinderung negiert werden. Es ist unbestritten, dass Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung mehr gesellschaftliche Anerkennung genießen und eher ernst genommen werden, als Menschen mit einer kognitiven oder psychischen Beeinträchtigung. Zudem gibt es auch Diskriminierung innerhalb der Gruppe behinderten Menschen. So sind Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung nicht unbedingt frei von Vorurteilen gegenüber Menschen mit einer kognitiven oder psychischen Beeinträchtigung (vgl. Köbsell 2006). Um die Probleme mit dem Begriff der Autonomie zu lösen, ist es zunächst einmal notwendig, dass die folgende Unterscheidung getroffen wird: Zum einen ist »Autonomie« ein empirischer Begriff, der eine Eigenschaft und Fähigkeit von Menschen bezeichnet. Autonomie als Fähigkeit ist in Abhängigkeit von inneren und von äußeren Bedingungen immer nur graduell verwirklicht, also durch innere und äußere Bedingungen limitiert. Für behinderte Menschen bestehen die inneren limitierenden Bedingungen in ihrer körperlichen, geistigen, psychischen oder Sinnes-Beeinträchtigung und können sehr unterschiedlich sein. Die äußeren limitierenden Bedingungen bilden Barrieren in der physischen und sozialen Umwelt. Auch diese wirken sich von Beeinträchtigung zu Beeinträchtigung sehr unterschiedlich aus. Zum anderen ist »Autonomie« ein normativer Begriff, mit dem verbindliche Ansprüche verbunden werden, die gegenüber anderen geltend gemacht werden können. Es wird gleiche Achtung gegenüber der Autonomie von allen behinderten Menschen gefordert. Hier geht es also im Kantischen Sinne um »Autonomie« als Grund für moralische Pflichten. Mit Kant kann aber auch der Zusammenhang zwischen »empirischer Autonomie« und »normativer Autonomie« beleuchtet werden: Für Kant ist der Mensch auf der einen Seite ein leiblich-sinnliches und auf der anderen Seite ein autonomiebegabtes Wesen. Als leiblich-sinnliches Wesen ist er an die Möglichkeiten und Grenzen seiner biologischen Existenz gebunden und seinen sinnlichen Begierden ausgesetzt. Als autonomiebegabtes Wesen kann er auf seine biologischen Existenzbedingungen reflektieren, sich von seinen sinnlichen Begierden distanzieren und sich zu diesen verhalten. Als Handelnder ist er in dem Sinne autonom, in dem er sich in seinem Handeln als frei erlebt, moralischen Gesetzen zu gehorchen oder diesen zuwiderzuhandeln (vgl. Steigleder 2002, 72). Dabei ist für Kant Autonomie jedoch nicht nur eine empirisch feststellbare Eigenschaft von individuellen Personen (empirische Autonomie), sondern auch eine Eigenschaft, die den Menschen als Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnet und normative Ansprüche gegenseitigen Respekts begründet (normative Autonomie). Für normative Autonomie ist entscheidend, dass einem Menschen, wie Kant es ausdrückt, auf Grund seiner Autonomie Würde zukommt (Kant [EA1785]/1974, 69). Dabei ist nicht die empirische, individuelle, aktuell verwirklichte AutonoClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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mie eines Menschen ausschlaggebend, sondern die Fähigkeit zur Autonomie des Menschen als Menschen. Jedem Mitglied der menschlichen Gemeinschaft kommt daher Würde zu und zwar unabhängig von dem Grad an Autonomie, den sie oder er aktuell verwirklicht hat. Der Zusammenhang zwischen empirischer und normativer Autonomie stellt sich dann wie folgt dar: Die Menschenwürde zu achten bedeutet nach Kant, andere niemals nur als Mittel sondern immer auch als Selbstzweck zu behandeln. Damit ist die Selbstzweckformel des obersten Moralprinzips, des Kategorischen Imperativs, angesprochen. Autonomie wird hier – unabhängig vom individuellen Grad ihrer Verwirklichung – als oberster moralischer Wert angesprochen. Um dem Anspruch auf gleiche Achtung normativer Autonomie gerecht zu werden, müssen die individuellen Unterschiede empirischer Autonomie und deren Beeinträchtigung durch innere und äußere Bedingungen beachtet werden. Deshalb sind wir, wie ich meine, nicht nur zur Achtung vorhandener empirischer Autonomie, sondern auch zum Schutz und zur Verwirklichung von noch nicht entwickelter oder beschädigter Autonomie verpflichtet. Dieses Konzept bezeichne ich als »assistierte Freiheit«. Assistierte Freiheit Um die gesellschaftspolitischen Verpflichtungen gegenüber behinderten Menschen auszuweisen, die mit dem Konzept »assistierter Freiheit« verbunden sind, kann auf Kants Gerechtigkeitskonzeption Bezug genommen werden. Der Schlüsselbegriff in Kants Gerechtigkeitskonzeption ist nicht Autonomie sondern Freiheit. Während Autonomie für Kant innere Freiheit im Sinne des Vermögens zu moralischem Handeln bedeutet, ist Freiheit als solche für Kant zunächst einfach Freiheit von äußeren Zwängen (Rosen 1996, 7). 5 Das gesellschaftliche Zusammenleben führt aber zwangsläufig dazu, dass die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen in Konflikt gerät, sodass eine geregelte wechselseitige Beschränkung äußerer Freiheit notwendig wird. Das Gerechtigkeitsprinzip soll die individuellen Freiheiten miteinander verträglich machen und dabei gleiche maximale Freiheit für alle garantieren (Kant 1797/1977, 337; Rosen 1996, 11). Allerdings steht das Gerechtigkeitsprinzip für Kant nicht unabhängig neben dem Moralprinzip (Steigleder 2002, 132), sondern stellt dessen externalisierte Fassung dar (Rosen 1996, 13). Ohne Freiheit ist Autonomie nicht möglich. Der wesentliche Faktor für behinderte Menschen ist nun, ob und wie sie im Rahmen der wechselseitigen Beschränkung von Freiheit berücksichtigt werden. Wenn hier Regeln formuliert werden – wie es vielfach auch mit Bezug auf Kants Rechtslehre geschieht –, denen zufolge in erster Linie negative Freiheitsrechte geschützt werden, dann sind diejenigen, die auf Assistenz angewiesen sind, um ihre Freiheitsmöglichkeiten überhaupt realisieren zu können, benachteiligt oder werden sogar ganz ausgeschlossen. Werden aber auch die Realisierungsbedingungen von Freiheit in die Regeln einbezogen, dann können ver5

Hier wird auch der Unterschied zu einem verkürzten, liberalen Autonomiebegriff deutlich, weil mit Autonomie in erster Linie Freiheit von äußeren Zwängen gemeint ist. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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bindliche Ansprüche auf Assistenz formuliert werden. Zur Konkretisierung des Konzepts »assistierter Freiheit« werde ich auf eine zeitgenössische Interpretation der drei Prinzipien, die Kant zur Konkretisierung des Gerechtigkeitsprinzips anführt, Bezug nehmen: Das Prinzip der Freiheit bestimmt Kant einerseits negativ über das Paternalismusverbot, nachdem mich niemand zwingen kann auf seine Art glücklich zu sein (Kant 1793/1991, 145), und andererseits positiv als Bestimmung, nach der jeder Weg der Suche nach der eigenen Glückseligkeit berechtigt ist, sofern nicht die Freiheit anderer eingeschränkt wird. Mit Kant kann demzufolge ein allgemeines Recht auf ein selbstbestimmtes Leben formuliert und begründet werden. Dabei betont Kant, dass »dieses Recht der Freiheit« jedem Menschen als Menschen zukommt (Kant 1793/1991, 146). Das bedeutet, dass Einschränkungen individueller äußerer Freiheiten grundsätzlich legitimationspflichtig sind. Ob Einschränkungen äußerer Freiheit gerecht sind oder nicht, ist mit Hilfe des Universalisierungsprinzips zu prüfen: Einschränkungen individueller Freiheit können dann und nur dann als gerecht gelten, wenn diese durch die Zustimmung aller potenziell davon Betroffener legitimiert wurden (Rosen 1996, 17). Wenn aber das Recht auf Freiheit für wirklich alle Menschen garantiert werden soll, muss auch in Rechnung gestellt werden, dass viele behinderte Menschen auf Assistenz zur Realisierung ihrer Freiheitsmöglichkeiten angewiesen sind. Damit aber wären sozialrechtliche Ansprüche auf Assistenz und die Beseitigung physischer und sozialer Barrieren gefordert, weil auf diese Weise gleiche Freiheit für alle Menschen erst ermöglicht wird. Das Freiheitsprinzip umfasst aber noch einen weiteren wichtigen Aspekt: Soziale Dienste und Leistungen müssen in jedem Fall und unabhängig von den Gründen, aus denen heraus sie geleistet werden, der negativen Bestimmung des Freiheitsprinzips genügen, nämlich dem grundsätzlichen Verbot jeder Form von paternalistischer Bevormundung und Fremdbestimmung. Damit kann die Kritik der Behindertenbewegung an der traditionellen Behindertenhilfe der Wohlfahrtsverbände, die von vielen behinderten Menschen als fremdbestimmt und entmündigend beurteilt wird, als berechtigt begründet werden, und der Anspruch auf eine selbstbestimmte Assistenz am selbstgewählten Lebensort ausgewiesen werden. Das Prinzip der Gleichheit bestimmt Kant einerseits negativ als Diskriminierungsverbot und andererseits positiv als Recht auf Chancengleichheit. Es beinhaltet für Kant, dass alle als Bürger den gleichen Gesetzen unterworfen sein müssen. Deshalb spricht Kant von der Gleichheit »dem Rechte nach« (Kant 1793/1991, 147). Kant geht explizit von großer Ungleichheit im Hinblick auf soziale Herkunft, Besitz, individuellem Lebensglück, aber auch körperlichen und geistigen Fähigkeiten aus, die jedoch für die Gleichheit »dem Rechte nach« irrelevant seien. Er betont dabei aber auch, dass jeder die grundsätzliche Möglichkeit haben muss, jede soziale Stellung – erreichen zu können, »wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen« kann (Kant 1793/1991, 147). Auch für Kant bedeutet dies zunächst nur, dass Gesetze, die Standes- oder Klassenprivilegien festschreiben oder auch nur stützen, ungerecht sind. Ebenso ist es in Bezug auf den Grundsatz der Chancengleichheit offensichtlich, dass eine rein formale Gleichbehandlung vor dem Recht erhebliche Ungerechtigkeiten nicht Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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verhindern kann. Kant selbst ging es mit dem Ausweis formal gleicher Rechte aller primär um den Abbau von Standesprivilegien, nicht aber beispielsweise um das Zurückdrängen von massiven ökonomischen Ungleichverteilungen. Deshalb wurde ihm von Seiten der marxistischen Kritik auch vorgeworfen, einen bürgerlichen Gleichheitsbegriff zu vertreten, der der ideologischen Legitimierung von Ausbeutungsverhältnissen diene (Rosen 1996, 32–33). Trotz der Berechtigung dieser Kritik bin ich der Meinung, dass sich auch Kants Bestimmungen des Gleichheitsprinzips einerseits als Diskriminierungsverbot und andererseits als Chancengleichheitsgrundsatz mit Blick auf die Lebensumstände behinderter Menschen kohärent weiterentwickeln lassen. Wenn Rechtsgleichheit nur formal gewährt wird, entspricht das dem liberalen Recht auf Achtung der (empirischen) Autonomie unabhängiger Personen, und alle nicht oder nur eingeschränkt zu Autonomie fähigen Personen werden vernachlässigt. Damit würde das Gleichheitsprinzip sein eigenes Anliegen unterlaufen. Wenn es seinen Anspruch also einlösen will, erfordert auch das Prinzip der rechtlichen Gleichheit die Berücksichtigung der besonderen Lebenssituationen einzelner Menschen. Und das heißt, dass verbindliche Ansprüche auf Assistenz anerkannt werden müssen, weil mit ihnen auch allen Menschen mit Behinderung eine selbstbestimmte und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht wird. Festgehalten werden kann an dieser Stelle, dass die Forderungen nach persönlicher Autonomie, wie sie von der Behindertenbewegung vertreten werden, mit Kant als berechtigt ausgewiesen werden können. Offen ist noch die Frage, ob dies auch für die Forderungen nach kollektiver Autonomie gilt. Das Prinzip der Selbstständigkeit beinhaltet Kant zufolge, dass nur solche Gesetze Legitimität beanspruchen können, die durch einen gemeinsamen Willen zustande gekommen sind. Das Prinzip der Selbstständigkeit bestimmt er primär negativ damit, dass nur der Zwang durch ein Gesetz, an dessen Zustandekommen diejenigen, die unter das Gesetz fallen, selbst beteiligt waren, kein Unrecht darstellt. Daraus leitet Kant politische Mitwirkungsrechte ab (Kant 1793/1991, 150). Diese gesteht er allerdings im Unterschied zu den Rechten, die mit dem Freiheits- und dem Gleichheitsprinzip verbunden sind, nicht allen Menschen als Menschen zu, sondern nur aktiven Bürgern, die auf Grund von Besitz oder Beruf selbstversorgungsfähig sind. Allerdings wären nach Kant alle Mitglieder der Gemeinschaft, unabhängig von ihrer Selbstversorgungsfähigkeit, den allgemeinen Gesetzen unterworfen. Diese Position Kants dürfte aus heutiger Sicht kaum noch akzeptabel sein. Es ist nicht rational nachvollziehbar, warum es nur für einen ökonomisch selbstständigen Mann gelten soll, das ein Gesetz, an dessen Erlass er nicht über seine politischen Mitwirkungsrechte beteiligt war, ihm gegenüber als Unrecht gelten soll (Rosen 1996, 37). Aus demselben Grund lassen sich mit Kant universelle politische Partizipationsrechte zumindest für alle erwachsenen Menschen unabhängig von Beruf und Besitz ausweisen. Aus dem Prinzip der Selbstständigkeit folgen politische Selbstvertretungsrechte für alle Bürger – und damit auch für alle Bürger mit Behinderung. Wie im UN-Jahr der Behinderten 2001 von der Behindertenbewegung zu Recht kritisiert wurde, ist es Unrecht, wenn politische Entscheidungen getroffen werden, die das Leben von Menschen mit Behinderung betreffen und an denen sie nicht Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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beteiligt sind. Mit Kants Prinzip der Selbstständigkeit können daher auch die Forderungen der Behindertenbewegung nach kollektiver Autonomie als berechtigt ausgewiesen werden. Dabei ist allerdings zu beachten, dass Vertreter aller Gruppen von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen direkt beteiligt werden müssen, sofern sie von der Entscheidung jeweils betroffen sind. So sind etwa weder nichtbehinderte Verbandsvertreterinnen und -vertreter noch Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung berechtigt, die Interessen von Menschen mit einer geistigen oder psychischen Beeinträchtigung zu vertreten. Der Anspruch auf politische Selbstvertretung gilt für alle Menschen mit ihren individuellen Beeinträchtigungen und muss gegebenenfalls mit dem Mittel der Assistenz verwirklicht werden. Ein Fazit Mit den Differenzierungen hinsichtlich des Begriffs der Autonomie sollten die Ambivalenzen der Autonomieforderungen in der Behindertenbewegung verdeutlicht und ein Konzept vorgelegt werden, mit dem die damit verbundenen Probleme aufgelöst werden können. Dabei wird deutlich: Die Forderungen nach persönlicher und kollektiver Autonomie sind zwar eng miteinander verbunden, müssen aber dennoch unterschieden werden. In Bezug auf die persönliche Autonomie von Menschen mit Behinderung können die individuellen Wünsche nach einem selbstbestimmten und unabhängigen Leben aufgegriffen werden. Sinnvoll ist hier folgende Unterscheidung: einerseits die Einschätzung von Autonomie als empirische Eigenschaft, die für Menschen mit Behinderung durch die jeweilige Beeinträchtigung und durch physische und soziale Barrieren mehr oder weniger stark eingeschränkt sein kann, und andererseits ihre Würdigung als ethische Norm, die sich in der Beanspruchung des gleichen Rechts auf ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben unter Berücksichtigung der individuellen Lebensumstände ausdrückt. Ein liberales Autonomieverständnis, das Autonomie auf die Abwesenheit äußerer Zwänge beschränkt, kann vor diesem Hintergrund als unangemessen zurückgewiesen werden. Das hier vorgeschlagene Konzept assistierter Freiheit dagegen wird den Lebensumstände von Menschen mit Behinderung weit besser gerecht. Denn es berücksichtigt, dass (empirische) Autonomie immer nur graduell verwirklicht ist, der Anspruch auf gleiche Achtung von (normativer) Autonomie aber unabhängig davon immer besteht. Damit wurde mit Kant ein Verständnis von Autonomie gewonnen, das den Menschen sowohl als zu Autonomie begabtes als auch als leibliches, verletzliches und soziales Wesen betrachtet. Zudem weist dieses Verständnis verbindliche Ansprüche auf Achtung, Entwicklung, Bewahrung, Förderung und Wiederherstellung von Autonomie und Freiheit aus, gleichzeitig aber Diskriminierung sowie paternalistische Bevormundung durch Ärztinnen, Ärzte und andere Experten zurück. In Bezug auf die kollektive Autonomie von Menschen mit Behinderung kann mit Kant außerdem die Legitimität der politischen Vertretung der Belange von Menschen mit Behinderung durch eine stark medizinisch geprägte Behindertenhilfe zurückgewiesen werden. Und dazu können die Hierarchien innerhalb der Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Behindertenbewegung, etwa zwischen Menschen mit körperlichen und Menschen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen kritisiert werden. Das Recht auf politische Selbstvertretung kommt mit dem Konzept der assistierten Autonomie allen Gruppen von Menschen mit Beeinträchtigungen zu – gegebenenfalls mit ihrer Stärkung durch Assistenz. Literatur Eurich J (2008) Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung. Ethische Reflexionen und sozialpolitische Perspektiven. Campus, Frankfurt/M Graumann S (2009) Assistierte Freiheit. Von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit zu einer Politik der Menschenrechte. Campus, Frankfurt/M Kant I (1785/1974) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Weischedel W (Hrsg.) Werkausgabe Band VII. Suhrkamp, Frankfurt/M, 9–102 Kant I (1793/1991) Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. In: Weischedel W (Hrsg.) Werkausgabe Band XI. Suhrkamp, Frankfurt/M, 125–172 Kant I (1797/1977) Die Metaphysik der Sitten. In: Weischedel W (Hrsg.) Werkausgabe Band VIII. Suhrkamp, Frankfurt/M Kittay E F (1999) Love’s Labor. Essays on Women, Equality, and Dependency. Routledge, New York Köbsell S (2003) Behinderte und Medizin – Ein schwieriges Verhältnis. In: AG »Medizin(ethik) und Behinderung« in der Akademie für Ethik in der Medizin (Hrsg.) Behinderung und medizinischer Fortschritt. Dokumentation der gleichnamigen Tagung vom 14.–16. April 2003 in Bad Boll, Göttingen, 31–41 Köbsell S (2006) Gegen Aussonderung – für Selbstvertretung: Geschichte der Behindertenbewegung in Deutschland. Vortrag vom 26. April 2006 am Zentrum für Disability Studies Universität Hamburg. http: // www.zedis.uni-hamburg.de / dokumente /Bewegungsgeschichte_HH_04–06_Vortrag.pdf (Zugegriffen 1. Aug. 2012) Kuhlmann A (2003) Therapie als Affront. Zum Konflikt zwischen Behinderten und Medizin. In: Ethik in der Medizin 15: 151–160 Nicklas-Faust J (2003) Ziele der Medizin – Ein schwieriges Verhältnis. In: AG »Medizin(ethik) und Behinderung« in der Akademie für Ethik in der Medizin (Hrsg.) Behinderung und medizinischer Fortschritt. Dokumentation der gleichnamigen Tagung vom 14.–16. April 2003, Göttingen, 42–48 Nussbaum M (2006) Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership. Harvard University Press, Cambridge /London Reinders H (2008) Receiving the Gift of Friendship. Profound Disability, Theological Anthropology, and Ethics. Erdmans Publishing, Cambridge Richardson H S (2006) Rawlsian Social-Contract Theory and the Severely Disabled. In: The Journal of Ethics 10: 419–462 Rosen A (1996) Kant’s Theory of Justice. Cornell University Press, New York Sandfort L (1990) Selbstorganisation Behinderter in den alten Bundesländern. In: Seifert I, Sandfort L, Jähnichen W (Hrsg.) »Versorgt« bis zur Unmündigkeit. Eine Dokumentation zur Behindertenbewegung und zum Allgemeinen Behindertenverband in Deutschland e. V. »Für Selbstbestimmung und Würde« Bd 3. Kolog-Verlag, Berlin, 7–23 Schliefer K (2011) »Läuse im Pelz« – Das Behindertenprojekt Hartroda. In: Horch und Guck. Zeitschrift zur kritischen Aufarbeitung der SED-Diktatur 20(73): 28–29 Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teil 7: Kollektive Autonomie

Steigleder K (2002) Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft. Metzler Verlag, Stuttgart Steiner G (1999) Selbstbestimmung und Assistenz. In: Gemeinsam leben – Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 3–99, Luchterhand Verlag, Neuwied 1999. Volltextbibliothek BIDOS http://bidok.uibk.ac.at/library/gl3–99-selbstbestimmung.html (Zugegriffen 1. Aug. 2012) Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2010) Die neue UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung als Herausforderung für das ärztliche Handeln und das Gesundheitswesen. Stellungnahme. In: Deutsches Ärzteblatt 107(7):A297-A300

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TEIL 8 PATIENTENAUTONOMIE ANWENDUNGSPROBLEME UND FRAGEN DER PRAXIS Herausgegeben von F. Nauck, A. Simon

Ralf J. Jox

Der »natürliche Wille« bei Kindern und Demenzkranken Kritik an einer Aufdehnung des Autonomiebegriffs Autonomie und Einwilligungsunfähigkeit Die Autonomie des Patienten ist das normative Leitprinzip der modernen Medizinethik. Der Respekt vor der Autonomie des einzelnen Patienten in der konkreten medizinischen Behandlungssituation wird, auch dank der Bemühungen der Medizinethik seit den 1960er Jahren (Beauchamp, Childress 2008), von den in Gesundheitsberufen Tätigen heute nicht nur als moralische Verpflichtung wahrgenommen, sondern auch überwiegend praktiziert, zumindest in höherem Maße, als dies noch vor einem halben Jahrhundert der Fall war (Faden et al. 1986; Pellegrino 1999). Das beste Beispiel dafür ist der Informed Consent, das Prinzip der informierten Einwilligung vor jedem medizinischen Eingriff (Bernat 2001). Gewiss wirft der Informed Consent nach wie vor ethische Fragen auf und wird in der Praxis nicht immer in der richtigen Weise angewandt. Die normativen Implikationen alltäglicher Einwilligungsgespräche sind vielen Ärzten wenig bewusst, während ihnen jedoch ein anderes Problem offenkundig auf den Nägeln brennt: Ärzte berichten in Umfragen, dass eines der häufigsten ethischen Probleme der Umgang mit einwilligungsunfähigen Patienten sei (Hurst et al. 2007). Die Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit und das Vorgehen bei mangelnder Einwilligungsfähigkeit ist offenbar auch einer der wesentlichen Anlässe für klinische Ethikberatung (Swetz et al. 2007; Sorta-Bilajac et al. 2008). Dabei tritt eine scheinbar widersprüchliche Situation zutage: Einerseits wird die Freiheit mancher Patienten, über ihre medizinische Therapie selbst zu entClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

scheiden, begrenzt, da sie nicht die erforderlichen kognitiven, volitionalen oder kommunikativen Fähigkeiten für die so genannte Einwilligungsfähigkeit aufweisen (z. B. Patienten mit fortgeschrittener Demenz, Delir, akuter Psychose, akuter Intoxikation, Koma). Andererseits ist man bestrebt, die Autonomie dieser Patienten gleichwohl zu wahren und sie vor Fremdbestimmung zu schützen. Diese Spannung lässt sich lösen, indem auf frühere Äußerungen personaler Autonomie zurückgegriffen wird, z. B. durch Anerkennung der Patientenverfügung. So kann erklärt werden, dass etwa ein deliranter Patient die ihn betreffenden Therapieentscheidungen nicht selbst treffen darf, dass man aber zugleich durch Rückgriff auf seine frühere Autonomieausübung eine patientenzentrierte Orientierung für die aktuelle Situation finden kann. An die Stelle des aktuell geäußerten, vollgültigen (weil auf Einwilligungsfähigkeit basierenden) Patientenwillens treten dann gleichsam Willenssurrogate, die sich aus der Vergangenheit speisen. Das deutsche Recht differenziert drei solcher Willenssurrogate, die sich primär durch ihre Form und ihre Beweiskraft unterscheiden: die Patientenverfügung, den Behandlungswunsch und den mutmaßlichen Willen (Deutscher Bundestag 2009). Allen drei Surrogaten ist gemeinsam, dass es Willensmanifestationen sind, die in der biographischen Vorgeschichte des Patienten auftraten und auf eine je eigene Weise geäußert wurden: bei der Patientenverfügung wird der Wille durch spezifische, schriftliche Bezugnahme auf antizipierte Behandlungssituationen geäußert, beim Behandlungswunsch ebenso, aber mündlich, und beim mutmaßlichen Willen drückt sich das Gewollte in eher unspezifischen Äußerungen, gelebten Überzeugungen und Werthaltungen aus. Solange ein Patient z. B. bewusstlos ist und keine aktuellen Verhaltensäußerungen zeigt, ist es klar, dass die Patientenautonomie nur durch diesen Rückgriff auf frühere Willensäußerungen respektiert werden kann. Schwieriger wird es aber, wenn der Patient aktuell noch ein nonverbales – oder sogar verbales – Verhalten zeigt, auch wenn er sich im Stadium der praktisch nachgewiesenen Einwilligungsunfähigkeit befindet. Ein deliranter Patient etwa kann nachdrücklich Wünsche äußern, ärztliche Eingriffe wie Blutentnahmen, Infusionen oder Tabletteneinnahme ablehnen, sei es mit Worten, Mimik oder Gestik. Wie stehen dann aber diese Verhaltensweisen zu den Willenssurrogaten, also der Patientenverfügung, den Behandlungswünschen und dem mutmaßlichen Willen? Wie ist das Verhältnis zwischen früher geäußerter autonomer Entscheidung und aktuell geäußertem nicht-autonomen Impuls ethisch zu konzeptualisieren und praktisch zu operationalisieren? Wie sollen Konflikte zwischen beiden gelöst werden, wenn etwa in der Patientenverfügung die medikamentöse Therapie einer akuten Manie befürwortet wird, der einwilligungsunfähige Patient sie dann aber in der manischen Phase ablehnt? Und wie ist zu entscheiden, wenn der mutmaßliche Wille einer Krebskranken einer intensivmedizinischen Therapie entgegensteht, die Patientin aber wegen eines rechtshemisphärischen Schlaganfalls keine Krankheitseinsicht hat (Anosognosie), ihre Krebsdiagnose negiert und maximale Therapie einfordert? Das deutsche Recht nennt solche Äußerungen Einwilligungsunfähiger den »natürlichen Willen«. Es handelt sich dabei um einen Terminus technicus, der Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Jox: Der »natürliche Wille« bei Kindern und Demenzkranken

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selbst unter Juristen wenig bekannt ist und im Recht eher selten, und wenn dann eher disparat Anwendung findet (Jox 2006). Über die unglückliche Wortwahl einer Verbindung des Substantivs »Wille« mit dem Adjektiv »natürlich« wurde bereits an anderer Stelle Näheres ausgeführt (Jox 2006). Ich werde den Begriff im Folgenden dennoch verwenden, da es bisher keine griffige Alternative gibt. Eine Definition findet sich weder im Gesetz noch in der Rechtsprechung oder der Rechtswissenschaft, obwohl der Begriff vor allem in der Jurisdiktion und Jurisprudenz immer wieder gebraucht wird. Lediglich zwei Online-Lexika versuchen sich an einer Definition, so zum einen das Online-Lexikon Betreuungsrecht: »Der natürliche Wille ist der Wille, der in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit gefasst wird« (BtPrax 2012).

Zum anderen führt das Online-Lexikon Wikipedia aus, dass der natürliche Wille »Absichten, Wünsche, Wertungen und Handlungsintentionen eines Menschen« betreffe, der nicht einwilligungsfähig bzw. nicht geschäftsfähig sei (Wikipedia 2012). Einmal wird also explizit von einem Willen gesprochen, das andere Mal von vielfältigen mentalen Zuständen des Menschen, die alle zumindest als Intention zu verstehen sind, d. h. die ein Streben nach bestimmten Zielen darstellen. Damit ist der Begriff überaus vage definiert und umfasst ein Sammelsurium schwer fassbarer Phänomene. Da Willensinhalte, Absichten, Wünsche, Wertungen und andere Intentionen nicht direkt erfahrbar sind, sondern sich nur durch sprachliche Äußerungen und nonverbales Verhalten mitteilen, müssen letztere gedeutet werden, um den »natürlichen Willen« zu bestimmen. Unterhalb der Schwelle der Einwilligungsfähigkeit kann es verschiedenste Formen von Äußerungen geben. Dem Spektrum zwischen dem gerade nicht mehr einwilligungsfähigen Dementen und dem tief Komatösen entspricht ein Spektrum zwischen expliziten sprachlichen Willensäußerungen und einem basalen motorischen Verhalten, bei dem Unterschiede zwischen reflektorischer und intentionaler Genese kaum zu erkennen sind. Manche mögen es für absurd halten, dass Komatösen tatsächlich Willensäußerungen unterstellt werden, doch es gibt gerade in der Ärzteschaft Vertreter, die dieses behaupten, wie etwa der Psychiater Klaus Dörner im Deutschen Ärzteblatt: »Zum anderen muss der Arzt [. . .] von der [. . .] Patientenverfügung auch abweichen können. Und dies [. . .] auch weil er den »natürlichen Willen« des Patienten, den dieser auch komatös mit seiner Körpersprache ausdrückt, zu beachten und zu gewichten hat« (Dörner 2004).

Bevor wir uns der Frage zuwenden, wie der »natürliche Wille« normativ zu bewerten ist, soll zunächst deskriptiv seine praktische Relevanz in der Medizin untersucht werden. Dabei stellen sich folgende Fragen: Treten solche »natürlichen« Willensäußerungen überhaupt in der Praxis auf, und spielt es für die behandelnden Ärzte und Pflegenden oder die Stellvertreter der Patienten eine Rolle, ob Patienten solche Äußerungen zeigen, oder handelt es sich lediglich um ein theoretisches Konstrukt ohne Bezug zur Praxis? Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Zur Beantwortung dieser Fragen sollen zwei eigene empirische Untersuchungen vorgestellt werden, deren Ergebnisse die praktische Relevanz des Phänomens unterstreichen. Eine Untersuchung widmete sich dem Anfang des Lebens und nahm Therapieentscheidungen bei schwerstkranken Neugeborenen und Kleinkindern in den Blick. Die andere Untersuchung konzentrierte sich auf betagte Menschen am Ende ihres Lebens, genauer gesagt auf Therapieentscheidungen für Demenzkranke. Es wurden jeweils unterschiedliche Perspektiven untersucht, einmal die des ärztlichen Experten, das andere Mal die der Patientenstellvertreter.

»Natürlicher Wille« bei Kindern Für Kinder, die an unheilbaren, zum Tode führenden Erkrankungen leiden, gibt es seit wenigen Jahren erste Pilotprojekte der pädiatrischen Palliativmedizin. Pädiater, Kinderpflegekräfte und Sozialarbeiter mit einer Palliative-Care-Zusatzqualifikation kümmern sich um schwerkranke Kinder und versuchen, ihre Leiden bestmöglich zu lindern, ihre Lebensqualität zu verbessern und ihnen eine letzte Lebensphase zu Hause im Kreis ihrer Familie zu ermöglichen (Führer, Zernikow 2005). Hier treten besonders oft ethische Schwierigkeiten auf, zumal die kranken Kinder meist einwilligungsunfähig sind (Führer et al. 2011). Die Einwilligungsfähigkeit wird zwar nach der individuellen »geistig-sittlichen Reife« eines Minderjährigen bestimmt und muss zudem in Relation zur Tragweite der anstehenden Therapieentscheidung gesetzt werden, doch als grobe Richtschnur ist davon auszugehen, dass Jugendliche ab dem Alter von 14 Jahren einwilligungsfähig sind (Harder 2004; Jox, Eisenmenger 2006; Putz, Steldinger 2009). Das Münchener Projekt »HOMe – Hospiz ohne Mauern« ist eines der ersten kinderpalliativmedizinischen Projekte, das den Familien eine ambulante Versorgung und Beratung durch ein multiprofessionelles Team von Fachkräften anbietet (Vollenbroich et al. 2012; Koordinatiosstelle Kinderpalliativmedizin 2012). Ein Jahr nach Beginn des Versorgungsprojekts wurde die damalige hauptamtliche Kinderärztin des Projekts zu ihren ersten Erfahrungen interviewt, was in der Form von Fallstudien getan wurde. Ausgewählt wurden sieben Patientengeschichten, bei denen ethische Probleme im Rahmen der Therapiezielfindung identifizierbar waren. Die Pädiaterin berichtete in mehreren, narrativ gehaltenen, leitfadengestützten Interviews über diese Fälle. Die Interviews wurden akustisch aufgezeichnet, die Aufzeichnungen wörtlich transkribiert, und die Transkriptionen anonymisiert und ausgewertet. Letzteres geschah in Anlehnung an die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (Mayring 2000). Bei den sieben Patienten handelte es sich überwiegend um Kinder in den ersten Lebensjahren, die also zweifellos einwilligungsunfähig waren. Sie litten an verschiedensten, schwerwiegenden, infausten Erkrankungen, zumeist seltenen angeborenen Syndromen, die zu einer fortschreitenden Funktionsstörung mehrerer Organsysteme führten. Eines der Kinder war ein Säugling mit einer komplexen angeborenen Stoffwechselstörung und Fehlbildung. Mehrmals stand es an der Schwelle zum Tod und war von den Ärzten und Eltern schon »aufgegeben« worden, ehe sich sein Zustand mit Hilfe intensivmedizinischer Maßnahmen Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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wieder stabilisierte. Im Gespräch über diesen Jungen schildert die Pädiaterin die Einstellung der Mutter wie folgt: Pädiaterin: Also wenn sie [die Mutter] jetzt mal wirklich sehen würde, er hat jetzt eine ganz schwere Infektion und es ist wirklich nichts zu machen und er wird wiederbelebt und wiederbelebt – ich glaube, da würde sie sagen: »Also jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich denke, dass der [ihr Sohn] entscheiden muss – und dass wir nicht immer eingreifen dürfen.« Interviewer: Er kann doch nicht richtig entscheiden. . . Pädiaterin: Das ist aber immer wieder eine Aussage, die du von Eltern hörst. Interviewer: Ja? Pädiaterin: Ja: »Das muss mein Kind entscheiden.« Interviewer: Was heißt dann: »Das muss mein Kind entscheiden«? Pädiaterin: Ich glaube, Eltern müssen selber das Gefühl für den Zeitpunkt entwickeln, wann das Kind – das ist so was ganz auf einer emotionalen Ebene, etwas vielleicht für Außenstehende kaum Nachvollziehbares – das Gefühl: Jetzt will mein Kind nicht mehr. Mein Kind hat keine Lebenskraft mehr. [. . .] Der Lebensgeist ist raus. Das ist vielleicht sehr subjektiv, emotional und schwer dingfest zu machen, aber das hört man immer wieder. Vielleicht auch mehr von Müttern als von Vätern. Interviewer: Und das war eben ein Punkt von ihr, dass sie sagte, also mein Kind hat doch noch Lebensgeist, hat Lebenswille? Pädiaterin: Genau. »Er will doch noch leben. Er ist jetzt zu Hause, es geht ihm so gut zu Hause, er zeigt, dass er will.« [. . .] Er hat jetzt Lautäußerungen, er fixiert mich zwar nicht, aber ich kann Kontakt mit ihm aufnehmen. Das ist ja bei solchen Kindern dann alles auf einer nonverbalen Ebene. Die Pädiaterin schildert eindrücklich, wie der Junge in einer lebenskritischen Situation auf Intensivstation bereits vermeintlich im Sterben lag, der Seelsorger ihn noch eilends taufte, dann der Beatmungstubus entfernt und die Beatmung beendet wurde. Dem Bruder des Jungen hatten die Eltern bereits gesagt: »Dein Bruder ist tot – er wird nicht mehr nach Hause kommen.« Indes atmete das kranke Kind nach der Extubation selbständig, stabilisierte sich insgesamt und konnte schließlich wieder nach Hause entlassen werden. Die Pädiaterin berichtete von der Reaktion der Mutter: Pädiaterin: Und jetzt sagt die Mutter – und das waren ihre wiederholten Worte – »er hat uns noch was zu sagen, er hat noch eine Aufgabe zu erfüllen, er hat noch was zu erledigen auf dieser Welt.« Interviewer: Er hat noch einen Lebenswillen. Ist das so gedeutet worden? Pädiaterin: Nein, nicht als Lebenswillen, sondern nur ein Lebenswillen, um eine – ich sag jetzt mal – Mission zu erfüllen. »Es fehlt noch was, er kann noch nicht gehen.« Das sind so ihre Worte, die sie da findet. Interviewer: Hat sie da konkret irgendwas. . . Pädiaterin: Nein. Sie hat zwar einerseits gesagt, sicherlich, nach Hause gehen, nach Hause. Vielleicht ist es wirklich dieses Noch-mal-nach-Hause-gehen, Noch-mal-in-die-Familie-eingebunden-werden. Ich weiß es nicht. Sie weiß es Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

selber nicht. Sie sagt, sie weiß es nicht, aber sie hat das Gefühl: »Er kann noch nicht loslassen, und da gibt es noch was.« Die Pädiaterin berichtet also, dass Eltern, insbesondere Mütter, selbst bei den jüngsten Kindern Reaktionen als eine Art »natürlichen Willen« deuten, von dem sie die Entscheidung über lebenserhaltende Therapiemaßnahmen abhängig machen. Im zitierten Beispiel wurde das Überstehen gesundheitlicher Krisen als »natürlicher Wille« für ein Weiterleben interpretiert, in anderen Fällen wurde umgekehrt die mangelnde Resistenz und Robustheit gegenüber Infektionen oder anderen Krankheitskomplikationen als fehlender Lebenswille gedeutet. Es ist aufschlussreich, die hinter solchen Einstellungen liegende Logik bloßzulegen, die sich nämlich auf einen klassischen Syllogismus der Form des zweifachen Modus ponens zurückführen lässt: Prämisse 1: Wenn ein Kind eine akute gesundheitliche Krise übersteht, will es leben. Prämisse 2: Das Kind K (im geschilderten Fall) übersteht eine gesundheitliche Krise. Konklusion 1: Das Kind K will leben. Prämisse 3: Wenn ein Kind leben will, muss es lebenserhaltend behandelt werden. Konklusion 2: Das Kind K muss lebenserhaltend behandelt werden. Während der Syllogismus logisch korrekt ist, sind zwei der drei Prämissen indes alles andere als selbstverständlich. Die erste Prämisse ist schon deshalb zweifelhaft, weil die gesundheitlichen Krisen ja nur durch die technologisch hochentwickelte medizinische Versorgung überstanden werden. Gewiss spielen bei biologischen Erholungsprozessen auch das Immunsystem, das endokrine System und andere körperliche Resistenzmechanismen eine Rolle, die via vegetatives Nervensystem von der Psyche moduliert werden können (»Psychoneuroimmunologie« bzw. »-endokrinologie«). Doch lässt sich schwerlich behaupten, dass der Wille stets der determinierende Faktor für das Überstehen solcher lebenskritischer Situationen sei. Die erste Prämisse ist aber noch aus einem weiteren Grund fragwürdig: Es gibt bekanntermaßen zahlreiche einwilligungs- und ausdrucksfähige Patienten, die im Endstadium tödlicher Krankheiten lieber sterben als weiterleben wollen, aber dennoch erfolgreich reanimiert, gerettet, am Leben erhalten werden. Mithin kann also bei Einwilligungsunfähigen nicht aus der medizinischen Stabilisierung akuter Krisen auf einen Lebenswillen geschlossen werden. Die dritte, wiederum normative Prämisse übersieht, dass der Wille des Patienten zwar eine wichtige, aber nicht die einzige Rechtfertigung für eine medizinische Behandlung darstellt. Schon bei Einwilligungsfähigen ist unstrittig, dass ein noch so eloquent vorgetragener Patientenwille nicht jede Therapie einfordern kann, wenn keine medizinische Indikation dafür besteht, weil sie wirkungslos ist oder mehr Schaden als Nutzen stiftet (Jox et al. 2012). Wenn dies schon beim geäußerten Willen des einwilligungsfähigen, seine Autonomie aktuell ausübenden Erwachsenen der Fall ist, muss es a fortiori auch für einwilligungsunfähige Kinder gelten, deren Wille ja nicht diesen Charakter von Autonomie hat. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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»Natürlicher Wille« bei Demenzkranken Bei Demenzkranken wird in ähnlicher Weise von einem »natürlichen Willen« gesprochen, nur dass statt des Überstehens gesundheitlicher Krisen meist das offensichtliche Wohlergehen eines lächelnden, fröhlich singenden oder spielenden Demenzkranken als Lebenswille gedeutet wird (Jox 2011). Der entsprechende Syllogismus lautet wie folgt: Prämisse 1: Wenn es einem Demenzkranken offensichtlich wohl ergeht, will er leben. Prämisse 2: Dem Demenzkranken D ergeht es offensichtlich wohl. Konklusion 1: Der Demenzkranke D will leben. Prämisse 3: Wenn ein Demenzkranker leben will, muss es lebenserhaltend behandelt werden. Konklusion 2: Der Demenzkranke D muss lebenserhaltend behandelt werden. In diesem Fall sind alle drei Prämissen nicht unproblematisch. Die erste Prämisse ist ganz evident falsch, da es Fälle hochbetagter, lebenssatter Menschen gibt, denen es zwar nach eigenem Bekunden sehr gut geht, die sich aber dennoch vehement gegen eine Reanimation oder sonstige lebenserhaltende Therapie verwehren. Auch die zweite Prämisse kann fragwürdig sein: Demenzkranke zeigen häufig ein rasch wechselndes Verhalten, das zwischen situativer Freude und situativer Traurigkeit oder Resignation oszilliert (Herwig 2009). Es lässt sich daher in vielen Fällen gar nicht einfach erkennen, ob es den Betroffenen in summa wohl ergeht oder eher nicht. Die dritte Prämisse entspricht der dritten Prämisse bei den Kindern und ist bereits im vorherigen Kapitel kritisiert worden. Eine weitere Form des »natürlichen Willens«, die von Demenzkranken berichtet wird, ist die konkrete Gegenwehr bei Therapie- und Pflegemaßnahmen. Eingangs wurden bereits einige Beispiele dieser Art genannt. Dass beide Arten von Verhaltensweisen Demenzkranker tatsächlich als für Therapieentscheidungen relevant herangezogen werden, konnten wir durch eine experimentelle Studie mit Patientenstellvertretern nachweisen (Jox et al. 2011). Engste Angehörige Demenzkranker, welche als Bevollmächtigte oder Betreuer die Therapieentscheidungen stellvertretend trafen, sowie berufsmäßige und ehrenamtliche Betreuer für demenzkranke Personen wurden auf ihr Entscheidungsverhalten hin untersucht (n=32, je 16 aus jeder Gruppe). Sie bekamen zwei hypothetische Fallvignetten über Demenzkranke im Endstadium zu lesen und sollten jeweils die Entscheidung treffen, ob sie in die Anlage einer Magensonde (Fall 1) oder eines Herzschrittmachers (Fall 2) einwilligen würden. Die Fallvignetten enthielten Informationen zum Patientenwillen und zu den Meinungen der Beteiligten, die im Rahmen eines experimentellen Studiendesign variiert wurden: jede Variable wurde einmal so dargeboten, dass sie für die Therapie sprach, ein anderes Mal dagegen. Dies ergab je zwei Versionen der Fälle, von denen dann eine randomisiert jedem Studienteilnehmer präsentiert wurde. Auf diese Weise konnte das Gewicht der einzelnen Variablen für die jeweils getroffene Entscheidung errechnet werden. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Die Variable »aktuelles Verhalten des Patienten« lag einmal in der Version einer Gegenwehr gegen die Essensgabe vor (Demenzkranker dreht Kopf weg und kneift Mund zu), einmal in der Version eines vermeintlichen Lebenswillens (Demenzkranker akzeptiert Essen, lacht viel und spielt gerne). Das Ergebnis der Studie zeigt, dass diese Information über das aktuelle Patientenverhalten den weitaus größten Einfluss auf die getroffene Therapieentscheidung hatte. Die nach dem Gesetz zu berücksichtigenden Hinweise auf den mutmaßlichen Patientenwillen hatten deutlich weniger Einfluss. Das entscheidungsrelevante Gewicht des aktuellen Patientenverhaltens fand sich sowohl für die körperliche Gegenwehr als auch den vermeintlichen Lebenswillen. Eine qualitative Auswertung des kognitiven Entscheidungsprozesses mittels der Methode des lauten Denkens bekräftigte diesen Befund (Tab. 1). Tabelle 1: Bewertungen des »natürlichen Willens« von Demenzkranken durch Stellvertreter Proband

Entscheidung

Einstellung gegenüber dem »natürlichen Willen«

Angehöriger A8

Gegen Therapie

Angehöriger A1

Für Therapie

Berufsbetreuer B14

Für Therapie

Angehöriger A16

Gegen Therapie

»Ich würde keine Magensonde legen lassen (. . .) wenn er dann schon den Kopf wegdreht, wenn das Essen kommt, dann ist er gar nicht mehr am Leben interessiert (. . .) Das habe ich selbst bei einem Freund miterlebt.« »Wenn es gar nicht geht, dann müssen sie die Magensonde legen (. . .) man kann in den Menschen wirklich nicht reinschauen. Wenn er den Kopf wegdreht und er meint es vielleicht gar nicht böse (. . .)« »Es wird ja doch berichtet, dass er Lebensfreude zeigt, lacht. Das sind für mich starke Indizien dafür, dass er nach wie vor ähm, auch trotz dieses Zustands in dem er sich jetzt befindet, gerne am Leben ist.« »Also einen Tag ist er fröhlich und einen anderen Tag wieder mehr deprimiert und, mhm, da kann man, kann man eigentlich nicht sagen, ihn bloß wegen des Lachens und wegen der guten Stimmung, äh, da alles aufrecht erhalten.«

Normative Einordnung Angesichts des sehr breiten und heterogenen Spektrums an Formen des so genannten »natürlichen Willens« und angesichts der Schwierigkeit, diese angemessen unter einen Begriff zu subsumieren, lässt sich bezweifeln, ob es eine einClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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heitliche normative Einordnung des »natürlichen Willens« geben kann. Die zwei am häufigsten aus der Praxis berichteten Phänomene, die körperliche Gegenwehr bei Therapie- oder Pflegemaßnahmen und die Zeichen des Lebenswillens bzw. -unwillens, stellen Verhaltensweisen dar, die viel eher dem Wohlergehen als dem Willen des Patienten zuzuordnen sind. Die Gegenwehr des Demenzkranken bei der Essensgabe weist eher darauf hin, dass er damit situativ etwas Unangenehmes oder sogar Schreckliches verbindet, als dass er damit ausdrücken will, überhaupt keine Nahrung und Flüssigkeit zu sich nehmen oder gar durch freiwilligen Verzicht bewusst sein Sterben herbeiführen zu wollen (Chabot, Walther 2011). Noch evidenter wird es bei den so genannten Zeichen für einen Lebenswillen: Das Lachen des Demenzkranken drückt zwar sein momentanes Wohlergehen aus, rechtfertigt aber keine komplexe, situationsübergreifende Entscheidung über eine medizinische Therapie wie z. B. jene, den Betreffenden lebenserhaltend zu behandeln. Erst recht kann das Überstehen gesundheitlicher Krisen bei kleinen Kindern nur im Rahmen der Wohlergehensperspektive verstanden werden. Insofern können uns die Verhaltensweisen wichtige Hinweise darauf geben, wie wir den medizinethischen Verpflichtungen des Nützens und Nicht-Schadens gerecht werden, nicht jedoch, wie wir den Respekt vor der Autonomie des Patienten wahren (Beauchamp, Childress 2008). Damit ist notabene noch nichts präjudiziert über die Richtung der letztendlichen Therapieentscheidung. Es gibt aber noch einen weiteren, pragmatischen Grund für diese normative Einordnung: Wie wir in Tabelle 1 gesehen haben, können die Verhaltensweisen des Patienten leicht in unterschiedliche Richtungen als Willensäußerungen gedeutet werden, d. h. Stellvertreter sind sich oft uneins, welche Schlüsse sie daraus ziehen sollen, sofern das Verhalten als Willensmanifestation aufgefasst wird. Eine wirklichkeitsnähere Einordnung in Bezug auf das Wohlergehen des Patienten würfe dagegen weniger Deutungsschwierigkeiten auf. Hinzu kommt ein Drittes: Selbstbestimmte, höchstpersönliche Entscheidungen über die medizinische Behandlung des eigenen Körpers sind Willensakte, die normalerweise bewusst, informiert, reflektiert und freiverantwortlich getroffen werden. Der natürliche Wille ist hinsichtlich dieser vier Kriterien defizitär (sofern das dahinterliegende Verhalten überhaupt als Wille aufgefasst werden kann). Es hieße den Begriff der Patientenautonomie ungebührlich zu erweitern und damit zu entwerten, wenn man den »natürlichen Willen« auf eine Stufe mit aktuellen oder antizipierten Willensentscheidungen Einwilligungsfähiger setzte oder gar zuließe, dass er eine Patientenverfügung aushebelte.

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

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Jox: Der »natürliche Wille« bei Kindern und Demenzkranken

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Katja Kühlmeyer

Selbstbestimmung von Patienten im Wachkoma Eine qualitative Interviewstudie mit Angehörigen Einleitung und Forschungsfrage Manche Patienten erwachen aus dem Koma, was durch Augen-öffnen sichtbar wird, aber reagieren nicht bzw. nur reflexhaft auf Reize. Es wird angenommen, dass sie nicht bei Bewusstsein sind. Dieser Zustand wird im deutschsprachigen Raum »apallisches Syndrom« (Kretschmer 1940) und in der englischsprachigen Literatur »persistent« oder »permanent vegetative state« (PVS) (Jennett, Plum 1972) genannt. Aufgrund der pejorativen Konnotation des Begriffs »vegetative«, der an das englische Wort »vegetable« (Gemüse) erinnert, wurde von einer europäischen Expertengruppe der Begriff »unresponsive wakefulness syndrome« (UWS) eingeführt (Laureys et al. 2010) was als »Syndrom reaktionsloser Wachheit« übersetzt werden kann. In der deutschen Fach- und Laienliteratur hat sich der Begriff Wachkoma etabliert. Die medizinischen Entscheidungen über Diagnose, Prognose und Behandlung von Wachkomapatienten werden unter Unsicherheit getroffen. In einer Studie, in der klinische Diagnosen mit den Ergebnissen eines strukturierten Testverfahrens verglichen wurden, waren 40% der Patienten fälschlicherweise als Wachkomapatienten diagnostiziert worden (Schnakers et al. 2009). In dieser Untersuchung konnten die fehldiagnostizierten Patienten z. B. zielgerichtet auf Kommandos reagieren oder Objekte manipulieren, was den Diagnosekriterien eines minimal bewusstem Syndroms entspricht, die erstmals 2002 von einer amerikanischen Expertengruppe veröffentlicht wurden (Giacino et al. 2002). Die Diagnoseunsicherheit wird noch deutlicher durch die Ergebnisse neuer Forschungsansätze mit bildgebenden Verfahren. Die Annahme, dass Patienten im Wachkoma nicht bei Bewusstsein seien, wurde so kürzlich in Frage gestellt. In einer Studie wurden 54 Patienten im Wachkoma und im minimalbewussten Zustand gebeten, sich vorzustellen Tennis zu spielen oder durch ihr Haus zu gehen (Monti et al. 2010). In fünf Fällen zeigte der Scan mit Hilfe des funktionellen Magnetresonanztomographen die gleiche Aktivierung von Hirnarealen wie bei Gesunden. Ein Patient konnte die Vorstellungsaufgabe dazu nutzen, einfache Fragen z. B. ob der Name seines Vaters Alexander sei, akkurat mit Ja und Nein zu beantworten. Nun wird diskutiert, ob das Forschungsparadigma zukünftig dazu eingesetzt werden könnte, Patienten nach ihrem Willen bezüglich lebensverlängernder Maßnahmen zu fragen oder ob das Vorliegen von bewussten Aktivitäten allein eine Entscheidung für lebensverlängernde Maßnahmen rechtfertigt (Ropper 2010). Jedoch argumentieren Kritiker, dass alleine die Fähigkeit zu minimal bewusster Hirnaktivität nicht unmittelbar auch eine höhere Lebensqualität des Patienten zur Folge haben muss (Boly et al. 2008; Wilkinson et al. 2009). Im Gegenteil wären Patienten, die bei Bewusstsein sind, auch in der Lage Schmerzen wahrzunehmen und zu leiden. Diese Gefahr müsse dem Potential, ErfahClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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rungen zu machen und der Chance auf eine spätere Rehabilitation gegenüber gestellt werden (Wilkinson et al. 2009). Dennoch stellen diese neurowissenschaftlichen Ergebnisse die Möglichkeit in Aussicht, in Zukunft mit sogenannten Brain Computer Interfaces mit Patienten im vermeintlichen Wachkoma kommunizieren zu können (Kubler, Kotchoubey 2007). Ein Journalist berichtete im November 2012, dass es Adrian Owen mit dieser Methode mittlerweile gelungen sei, von einem Patienten zu erfahren, dass er keine Schmerzen habe (Walsh 2013). Die Dauer des Wachkomas ist ein entscheidender Faktor für die Prognose und so galt ein bestehendes Wachkoma ein Jahr nach einer traumatischen Hirnschädigung und drei Monate nach einer nicht-traumatischen (z. B. anoxischen) Hirnschädigung lange Zeit als irreversibel (The Multi-Society Task Force on PVS 1994). Eine Besserung nach diesen Zeiträumen gilt als unwahrscheinlich, weil nur wenige Fälle von später Besserung in der wissenschaftlichen Literatur veröffentlicht wurden (Bernat 2009). Diese Richtlinien wurden jedoch kritisiert, weil sie auch solche Fälle eingeschlossen hatten, in denen Patienten aufgrund der Begrenzung lebenserhaltender Maßnahmen verstarben (Problem der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen (Bernat 2006)). Im Fall einer ungünstigen Prognose und einer möglichen Irreversibilität des Zustands stellt sich dennoch die Frage nach der Indikation lebensverlängernder Therapiemaßnahmen (Royal College of Physicians 2003; The Multi-Society Task Force on PVS 1994). Die Deutsche Ärztekammer hat in ihrer Änderung der Grundsätze zur Sterbebegleitung nun der Indikation des behandelnden Arztes mehr Gewicht gegeben: »Art und Ausmaß ihrer Behandlung sind gemäß der medizinischen Indikation vom Arzt zu verantworten« (Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung 2011). Zuvor sah sie bei Wachkomapatienten die Indikation lebenserhaltender Maßnahmen unter Beachtung des Patientenwillens grundsätzlich als geboten an (Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung 2004). Handelt es sich um einen Patienten, der zuvor auskunftsfähig war, hatte er die Möglichkeit im Vorfeld seine Wünsche seinem Arzt oder seinen Angehörigen gegenüber zu äußern oder schriftlich in einer Patientenverfügung zu fixieren. Die Entscheidung, lebensverlängernde Maßnahmen im Wachkoma prospektiv abzulehnen, wird unter Unsicherheit getroffen. Eine solche Person hat noch keine Erfahrung mit diesem Zustand, sein Wissen über das Wachkoma ist begrenzt und seine Werte könnten sich im Laufe der Zeit verändern (Jox 2004). Um der Autonomie des Patienten Rechnung zu tragen, wird im Entscheidungsprozess ein Betreuer oder Bevollmächtigter des Patienten bestellt und eine schriftliche Patientenverfügung herangezogen, sofern diese vorliegt. Das ist seit 2009 auch im deutschen Betreuungsrecht im BGB explizit geregelt (durch das so genannte Patientenverfügungsgesetz, das 3. Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts). Die Rolle des Stellvertreters übernimmt in der Regel der nächste Angehörige, was zum Beispiel damit begründet wird, dass er die Wertvorstellungen des Patienten am besten kennt und das Wohlergehen des Patienten von großer Bedeutung für ihn ist (Jox 2004). Einige empirische Arbeiten befassen sich damit, wie Angehörige Therapieentscheidungen für Patienten im Allgemeinen treffen. Meist werden hypothetische Szenarios verwendet, um die Vorhersagen von Patienten und Angehörigen Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

zu vergleichen oder es wird mit Hilfe qualitativer Forschungsmethoden die Perspektive von Angehörigen exploriert (Meeker, Jezewski 2005). In einer qualitativen Interviewstudie mit 50 Angehörigen von älteren, chronisch Kranken wurden Einflussfaktoren auf geplante stellvertretende Entscheidungen von Angehörigen identifiziert (Vig et al. 2006): Gespräche mit dem Angehörigen, Dokumente (z. B. Patientenverfügungen), geteilte Erfahrungen, die Hinweise auf den Willen des Patienten geben, wurden berücksichtigt. Etwa ein Viertel der Befragten jedoch bewerteten die eigenen Werte und Einstellungen bezüglich der Lebensqualität des Patienten höher als die des Patienten. Eine ältere Studie in den USA hat die Einstellungen von 33 Angehörigen gegenüber Wachkomapatienten untersucht und festgestellt, dass 72% der Angehörigen dachten, der Patient nehme ihre Anwesenheit wahr (Tresch et al. 1991). Obwohl viele nicht mehr an eine Besserung des Zustands glaubten, wünschten sich die Familienmitglieder, dass die Patienten weiterhin z. B. mit Antibiotika behandelt werden. Es gibt bisher keine Arbeiten, die die Berücksichtigung des Patientenwillens bei Entscheidungen für Patienten im Wachkoma untersuchen. In einer qualitativen Interviewstudie wurde den Forschungsfragen nachgegangen, welche Rolle der vorausverfügte oder mutmaßliche Wille von Wachkomapatienten spielt, wenn Familienangehörige zu Entscheidungen über lebenserhaltende/ -verlängernde Maßnahmen der Wachkomapatienten befragt werden. Die Ergebnisse der Studie wurden bereits in einer englischsprachigen Fachzeitschrift veröffentlicht (Kuehlmeyer, Borasio, Jox 2012), werden an dieser Stelle noch einmal zusammen gefasst und es werden weitergehende Schlussfolgerungen gezogen. Methodik Die Ethikkommission der medizinischen Fakultät der Universität an der die Studie durchgeführt wurde, hat die Studie befürwortet. Es wurden 14 Angehörige von 12 Patienten im Wachkoma in halbstrukturierten Interviews zum Krankheitszustand des betreuten Patienten und zu Entscheidungen über lebenserhaltende Maßnahmen befragt. Es wurden Gespräche mit drei Müttern, acht Partnern /Partnerinnen und drei Söhnen von Müttern im Wachkoma geführt. Bis auf eine Angehörige waren alle Befragten die gesetzlich bestellten Betreuer des Patienten. Vier der Angehörigen haben die Patienten im häuslichen Umfeld gepflegt, acht Patienten wurden in einem Pflegeheim versorgt. Die Interviews fanden in einem face-to-face Setting statt. Entweder wurden die Angehörigen zu Hause aufgesucht, im Pflegeheim, in dem der Patient versorgt wurde, oder an einem neutralen Ort (z. B. Besprechungszimmer am Arbeitsplatz der wissenschaftlichen Mitarbeiter) interviewt. Das Gespräch begann mit einem allgemeinen Erzählstimulus, um den Angehörigen zu ermöglichen, ihre Sicht auf den Patienten zu schildern, bevor sie durch die Fragen des Interviewers beeinflusst werden. Der Erzählstimulus lautete: »Wir möchten etwas über den gegenwärtigen Zustand und die mögliche Zukunft des Patienten erfahren. Bitte erzählen Sie alles was Ihnen in diesem Zusammenhang wichtig erscheint und beginnen Sie mit dem, was Ihnen zuerst einfällt.«. Dann wurden konkrete Fragen gestellt. Neben anderen Fragen, die für Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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diesen Teil der Ergebnisse keine Rolle spielen, wurden die Angehörigen gefragt: »Haben Sie sich jemals die Frage gestellt, ob es in seinem /ihrem Fall besser gewesen wäre, lebenserhaltende Maßnahmen nicht mehr weiter ausführen zu lassen?«. Die Interviews dauerten jeweils eine bis eineinhalb Stunden. Die Tonbandaufnahmen der Interviews wurden wörtlich von einer Transkriptionskraft transkribiert und von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter überprüft und korrigiert. Der Transkriptionsleitfaden schrieb beispielsweise vor, Gesprächspausen und überlegende Laute (wie »ähm«) mit zu transkribieren, um eine möglichst präzise Wiedergabe des Gesagten zu gewährleisten. Die Transkripte wurden mit Hilfe der Software MAXqda nach der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet (Mayring 2008). Die Auswertung erfolgte nach folgenden Schritten. Zuerst wurde die Forschungsfrage an das Material formuliert: »Wie gehen Angehörige von chronischen Wachkomapatienten mit dem vorausverfügten Willen und dem mutmaßlichen Willen des Patienten bezüglich lebenserhaltender Maßnahmen um?«. Um die Frage zu beantworten, wurde die Unterfrage formuliert: »Welche Willensäußerungen des Patienten wurde in den Interviews berichtet?« Hierzu wurden die bedeutungstragenden Abschnitte der Interviews selektiert. Die Aussagen wurden paraphrasiert und abstrahiert. Wiederholende Aussagen wurden reduziert. Alle Interviewtranskripte wurden daraufhin analysiert und in den Kodierleitfaden eingeordnet. Die Ergebnisse dieser Kategorisierung ist in der Tabelle 1 dargestellt. Dann wurden Fälle ausgewählt, wo der vorausverfügte oder mutmaßliche Wille des Patienten berichtet wurde, aber die Entscheidung nicht dem Willen entsprechend ausgefallen war. Es wurde in einer vertieften Fallanalyse betrachtet, wie die Angehörigen mit diesen Willensäußerungen umgegangen sind. Diese Fälle wurden in Originalzitaten berichtet und auf eine Aussage reduziert und abstrahiert. Ergebnisse Die Patienten in der Stichprobe befanden sich zum Zeitpunkt der Gespräche zwischen einem dreiviertel Jahr und 15 Jahren im Wachkoma. Sie waren zwischen 36 und 71 Jahre alt, Angehörige zwischen 34 und 74 Jahren. Die Hälfte der Patienten und Befragten waren weiblich. Um die Forschungsfrage zu beantworten, werden nun die unterschiedlichen Einstellungen der Interviewteilnehmer bezüglich lebensverlängernder Therapiemaßnahmen dargestellt. Dann wird gezeigt, wie verschiedene Angehörige mit dem prospektiven Willen des Patienten umgehen. Im nächsten Abschnitt wird die Forschungsfrage beantwortet und Implikationen für die Praxis diskutiert. Im letzten Abschnitt wird auf Einschränkungen der Studie eingegangen.

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Einstellungen der Angehörigen gegenüber lebensverlängernden Therapiemaßnahmen Die Einstellungen der befragten Angehörigen bezüglich lebensverlängernder Therapiemaßnahmen der Patienten lassen sich auf einer Skala abbilden (Abb. 1). Um das Spektrum der Antworten zu zeigen, werden drei typische Aussagen dargestellt. Die Interviewerin (I) fragt die Angehörige (A2a) ob sie über solche Entscheidungen schon einmal nachgedacht habe. Die Befragte (B) verwendet das Wort »abschalten« als alltagssprachliche Metapher für die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen. Es gibt in der Versorgung ihrer Tochter keine Beatmungsmaschine, die abgeschaltet werden könnte. I: B: I: B:

»Und wie denken Sie heute über solche Entscheidungen?« »Ich würde nicht abschalten.« »Und mit Reanimieren, wenn noch mal was wäre?« »Sofort wieder.«

Die Mutter äußert, dass sie alle verfügbaren lebenserhaltenden Therapiemaßnahmen durchführen lassen würde. Der Partner der gleichen Patientin (A2b) äußert sich zur gleichen Frage unterschiedlich: I: »Haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt?« B: »Ja und auch mit der Mutter selber, also wir beide haben da die gleiche [. . .] Meinung, also wenn wirklich wieder was wäre mit dem Herzen, dann soll’s nicht so sein.« Seine Formulierung bleibt allgemein, er benennt keine konkreten Maßnahmen, aber deutet das Unterlassen der Reanimation an. Er geht davon aus, dass sich die Mutter und er in diesem Punkt einig seien. Da beide als Betreuer bestellt sind, besteht bei dieser Entscheidung Konfliktpotential. Die Mutter schilderte, dass sie früher der Auffassung gewesen sei, bei einem erneuten Herzstillstand der Tochter auf eine Reanimation verzichten zu lassen, aber in der Zwischenzeit habe sie ihre Meinung geändert, da ihr diese Entscheidung zu endgültig sei. Sie berichtet an anderer Stelle von Schuldgefühlen wegen ihrer früheren Einstellung. Die meisten Interviewpartner vertraten die Einstellung, bei einer Verschlechterung oder Komplikation einzelne Maßnahmen einzuschränken. Meist würden sie auf die Reanimation des Patienten verzichten. Nur ein Angehöriger, der Ehemann einer Patientin (A8) die seit vier Jahren im Wachkoma ist und künstlich beatmet wird, äußert die Absicht, sämtliche lebenserhaltenden Therapiemaßnahmen einschränken zu lassen. B: »Meine Erwartung ist, dass ich vom Staat irgendwie eine Unterstützung krieg, dass man so was auch mal beenden kann. Das ist ja bei uns überhaupt nicht vorgesehen.« Er möchte, dass das Wachkoma seiner Frau ein Ende hat. Er hat bereits das Pflegeheim angewiesen, im Fall einer Lungenentzündung keine Medikamente mehr zu verabreichen, ist jedoch unsicher, ob sich die Pflegenden an seine Weisung gehalten haben. Er wünscht sich die rechtliche Erlaubnis und die Unterstützung, diesen Zustand zu beenden, d. h. konkret die künstliche Beatmung einzustellen. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Leben

A

alle Maßnahmen ausführen

N=2

⇐==⇒

Abb.1: Skalierende Inhaltsanalyse der Aussagen zu Entscheidungen über lebenserhaltende Maßnahmen in der Zukunft

B

Unterlassung einzelner Maßnahmen

N=11

C

alle Maßnahmen unterlassen

N=1

Sterben

Der Angehörige (A8) ist unsicher, welche Entscheidungen rechtlich erlaubt und möglich sind. Offenbar ist er der Auffassung dass die Beendigung der künstlichen Beatmung der Patientin nicht erlaubt ist. An anderer Stelle geht er davon aus, dass er das Recht des Verzichts auf diese Therapiemaßnahme in einem langwierigen Gerichtsprozess durchsetzen müsste. Er befürchtet, dass selbst wenn er den Prozess gewinnen würde, er auch die Entscheidung umsetzen müsste und schreckt deshalb vor einer Handlung zurück. B: »Also das einzuklagen die Beatmungsmaschine abzuschalten ist ein Klageweg [. . .] von fünf bis sieben Jahren und wenn ich dann Recht kriege, dass ich vor vielen Zeugen sage, dass die [. . .] [Name seiner Ehefrau] [. . .] dass die so nicht leben wollte, dann müsste ich die Beatmungsmaschine abschalten. Das kann ich auch nicht.« Er rechtfertigt seine Einstellung damit, dass seine Frau in einem solchen Zustand nicht hätte leben wollen, aber er bezieht sich nicht auf ein Gespräch mit der Ehefrau. Im Folgenden wird der Einfluss des Patientenwillens auf die Einstellungen genauer untersucht. Der Einfluss des vorausverfügten Willens des Patienten auf die Einstellung Um die Forschungsfrage zu beantworten, wurde analysiert, ob Willensäußerungen des Patienten bekannt waren und wie sie bisher berücksichtigt wurden (siehe Tabelle 1 auf der folgenden Seite). In der Hälfte der Fälle gibt es Äußerungen des Patienten, vor dem Wachkoma, die sich auf die Situation übertragen lassen. In Fällen, in denen der vorausverfügte Wille des Patienten nicht geschildert wurde, waren aktuelle Verhaltensweisen oder das Überleben des Patienten für die Angehörigen ein Indikator für den Willen des Patienten. Es werden nun beispielhaft drei Fälle vorgestellt, bei denen Patientenwünsche bekannt waren, aber Angehörige anders entschieden haben. Erwartung einer Besserung in der Zukunft In zwei Interviews mit den Söhnen einer Patientin war eine Patientenverfügung bekannt, in der die Patienten die künstliche Ernährung abgelehnt hat. Zum Zeitpunkt des Interviews wurde die Patientin künstlich über eine PEG-Sonde ernährt und ihre beiden Söhne hatten die Einstellung, die künstliche Ernährung Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Tabelle 1: Kategoriale Analyse der Repräsentation des Patientenwillens in den Interviews mit Angehörigen. Die Art der Repräsentation, der Inhalt und die Tendenz des Wunsches werden dargestellt. A steht für Angehörige. Art der Repräsentation

Wunsch

Tendenz des Wunsches

Patientenverfügung

Keine künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe (A3) Keine anhaltenden lebenserhaltenden Maßnahmen wenn ein »normales Leben« nicht mehr möglich ist (A1) Keine Schläuche (A9) Keine lebenserhaltende Behandlung (A6)

Mündliche Äußerungen (im Voraus)

Keine Schläuche wenn ich im Wachkoma bin (A7)

Mutmaßlicher Wille (basierend auf der früheren Identität des Patienten)

Sie hätte so nicht leben wollen (A8)

Wille des Patienten basierend auf seinem Überleben

Er ist ein »Kämpfer« weil er eine Krise überlebt hat (z. B. eine Sepsis) (A4, A6)

Wille basierend auf dem gegenwärtigen Verhalten des Patienten

Sie gibt Zeichen (z. B. Augenöffnen), dass sie leben will (A2a)

Kein Leben in einem Rollstuhl (A10) Keine lebensverlängernden Maßnahmen in einem Zustand wie nach einem Schlaganfall (A11)

Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen

Er hätte mit Krankheit und Behinderung nichts anfangen können (A12) Wenn sie sich umbringen könnte, z. B. von einer Brücke springen könnte würde sie es tun (A11)

Er ist nicht unglücklich über seine Situation, sonst würde sich sein Zustand verschlechtern (A9) Er entscheidet selbst: Wenn er sterben will, wird er sterben (A4, A9)

Andauernder Überlebenswille

Durch Teilnahme an der Physiotherapie zeigt sie ihren Lebenswillen (A3a) Er möchte leben, weil er auf den Pflegeprozess und Zuwendung reagiert (A5)

aufrecht zu erhalten, jedoch auf eine Reanimation der Patientin zu verzichten. Ein Sohn (A3b) schilderte den Sachverhalt folgendermaßen: B: »[. . .] in Bezug auf ihre Patientenverfügung, die ja existiert. Die ja auch eigentlich verbietet sie künstlich zu ernähren, also das hat sie ja angekreuzt. [. . .]« I: »Hat sie mit Ihnen da mal drüber gesprochen gehabt?« B: »Ja also also jetzt nicht so konkret. Aber es /irgendwie so eine beiläufige Bemerkung vielleicht mal irgendwie. Also zumindest der Standpunkt den sie gegenüber einem /einer künstlichen Ernährung [. . .] also sozusagen k-künstlich am Leben erhalten werden. Da war ihre Position relativ klar. Mir zumindest. Ich glaube uns allen Kindern und /aber diese Situation haben wir durch diesen akuten / durch diesen unvorhergesehenen / durch diese Gehirnblutung auch auch dro-/durch diese Ungewissheit wie ist dieser Krankheitsverlauf, Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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also wie kann er sein. Also das ist ja das das ist ja alles nicht beantwortbar. Haben wir eigentlich nie die Situation so gesehen, dass es also eigentlich eine künstliche Lebenserhaltung ist, sondern im im Genesungsprozess oder im / also im im prozesshaften Weg wo ich mir aber denke: das ist sinnvoll. Und das ist noch keine noch keine Vernachlässigung ihres Wunsches.« Der Sohn hat Schwierigkeiten seine Einstellung zu erklären. Dies wird auch sprachlich durch die Unterbrechungen im Satzbau und die Wiederholungen der Wörter deutlich. Er wiegt den Wunsch seiner Mutter gegen seinen Eindruck von ihrem Krankheitszustand und seiner eigenen Einschätzung ihres Besserungspotentials ab. Er hat sich entschieden, dem Willen der Patientin nicht zu folgen, um weitere Verbesserungen zu ermöglichen. Es wird sogar die Patientenverfügung selbst angezweifelt, da sie keinen Text sondern »nur ein Kreuz« bei dieser Option beinhaltet. Andererseits war der Wunsch auch mündlich geäußert worden und seine Gültigkeit wird in letzter Konsequenz nicht angezweifelt. Definition lebensverlängernder Maßnahmen Ein anderer Angehöriger (A11) hatte vorher mit seiner Ehefrau über lebenserhaltende Maßnahmen gesprochen, da der Vater der Patientin pflegebedürftig war. Dem Angehörigen ist der Wunsch der Patientin klar, auch wenn es in ihrem Gespräch nicht um Wachkoma ging. B: ». . . über Wachkoma nicht. Ihr Vater selbst ist an den Folgen mehrerer Schlaganfälle gestorben. War’s auch lange lange Zeit zu Hause in in Pflege gewesen [. . .] So mal selbst zu unterhalten ja was was ist, wenn wenn dieses und jenes eintritt. Na also sie wünscht halt auf gar keinen Fall lebensverlängernde Maßnahmen.« Diese Patientin wird künstlich ernährt, aber das sieht der Angehörige nicht als lebensverlängernde Maßnahme an, da gesunde Menschen auch Nahrung erhalten würden. Er denkt stattdessen vom heutigen Standpunkt kontrafaktisch zurück: Hätte er den Ausgang der Operation vorhergesehen, hätte er ihr nicht zugestimmt. Auch er hält an der Hoffnung fest, dass sich ihr Gesundheitszustand wesentlich verbessern wird in Zukunft. B: »Also hätte ich damals wie sie operiert worden ist da [. . .] gewusst was es für für für Folgen haben wird . . . [. . .] wie der Zustand sein wird hätte ich dem nicht zugestimmt. Also schon weil ich ganz genau weiß, dass sie das was sie jetzt hat auf gar keinen Fall will.«

Moralische Verpflichtung, anderen nicht zu schaden Eine Angehörige (A10) legt bei der Entscheidung für den Patienten einen anderen Standard an, als sie für eigene Entscheidungen anlegen würde. Die Ehefrau des Patienten berichtet, dass sie das Krankenhaus an einen Anwalt verwiesen hätte, der sie über die Möglichkeit der Ernährungseinstellung beraten habe. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

B: »[. . .] Machen viele Angehörige dass sie jetzt die / die Nahrung einstellen, dass er bloß noch zu trinken krieg. Das dauert ungefähr zwei drei Monate, ich meine ne! So was mache ich nicht. [. . .] Ich finde so etwas unmenschlich. Weil, weiß ich nicht, weiß ja noch nicht mal ob er was mitkriegt. Und der hat ja schon einmal mit dem Magen zu tun gehabt und dann noch verhungern das ist für mich verhungern. Also und so was würde ich nicht machen. Wenn jetzt sein Herz versagt und er wird nicht mehr zurückgeholt ist es was anderes. Aber ansonsten wird alles so weitergemacht wie es war. Das mache ich nicht. Medikamente so was kriegst du auch alles weiter, weil man weiß ja nicht ob er Schmerzen hat oder nicht und das habe ich auch alles weitermachen lassen.« Es wird deutlich, dass ihr wichtiger ist, dem Patienten durch ihr Handeln keinen Schaden, kein Leid zuzufügen. Später wird sie gefragt, was sie für sich wollen würde. Was sie bei dem Ehemann noch als unmenschliches Handeln bezeichnet hat, entspricht ihrem Wunsch für sich selbst. B: I: B: I: B:

»Alles abschalten.« »Alles?« »Alles.« »Auch die künstliche Ernährung.« »Ja alles. Also ich möchte nicht so leben. Mm Mm [verneinend]. Vorher hat man sich keinen Kopf gemacht, aber wenn man so was selber mitmacht ne.« I: »Aber Sie haben doch gesagt verhungern ist unmenschlich.« B: »Ja bei anderen. Bei mir, phh [nonverbaler Ausdruck für »egal«].« Der Wunsch des Patienten war in diesem Fall, eher allgemein formuliert. Er habe nie in einem Rollstuhl leben wollen. Die Angehörige begründet damit, dass auf eine Reanimation verzichtet wird, wenn es noch einmal zu einem Herzstillstand kommt. Sie möchte dem Patienten keinen Schaden zufügen und sieht die Reanimation im Gegensatz zu anderen Therapiemaßnahmen als eine Maßnahme an, deren Verzicht keinen Schaden verursacht. Sie ist eine Angehörige, die keine große Hoffnung mehr hat, dass sich der Zustand des Patienten noch wesentlich verbessern wird. Diskussion Es folgt die Beantwortung der Forschungsfrage und eine knappe Diskussion der Ergebnisse. 1 Der Wille des Patienten konnte von vielen Angehörigen in dieser Studie berichtet werden, aber er spielt eine untergeordnete Rolle, wenn sie sich zu Entscheidungen über lebensverlängernde Maßnahmen positionieren sollen. Die befragten Angehörigen nannten das potentiellen Wohlergehen des Patienten (in der Zukunft), die eigene Definition von lebensverlängernden Maßnahmen oder die moralische Verpflichtung, dem Patienten keinen Schaden zufügen zu dürfen als Gründe dafür, warum dem Patientenwillen nicht gefolgt worden sei. 1

Eine ausführliche Ergebnisdarstellung wurde im Journal of Medical Ethics veröffentlicht (Kuehlmeyer et al., 2012). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Das von den Angehörigen eingeschätzte, potentielle Wohlergehen des Patienten hat einen starken Einfluss auf die Entscheidungen über lebenserhaltende Maßnahmen. Es ist bekannt, dass sich Angehörige von schwer kranken Patienten für das Wohlergehen der Patienten einsetzen und dafür eigene Bedürfnisse zurück stellen, was zum Beispiel in einer Studie mit Angehörigen von Patienten mit Krebserkrankungen berichtet wurde (Meeker 2004). Die Vorstellung von dem Besserungspotential des Patienten in dieser Studie entsprach jedoch nicht der Prognose, die ärztliche Expertengremien vertreten, wo drei bzw. sechs Monate nach einer nicht-traumatischen Hirnschädigung und ein Jahr nach einer traumatischen Hirnschädigung von einem irreversiblen Zustand ausgegangen wird (Bates 2005; The Multi-Society Task Force on PVS 1994). Es wurde vorgeschlagen, den Begriff »lebensverlängernde Therapiemaßnahmen« pragmatisch als »medizinische Maßnahmen, ohne die der Patient sehr wahrscheinlich innerhalb der nächsten sechs Monate sterben würde« zu definieren (Jox 2011). In vielen Fällen wurde der Begriff lebensverlängernde Maßnahmen von den Befragten in dieser Studie unterschiedlich interpretiert. Künstliche Ernährung oder Antibiotikagabe wurden als »normale« Behandlung angesehen, bei der es immer geboten sei, sie auszuführen. Im Gegensatz dazu wurde die Beatmung, eine Operation oder Reanimation des Patienten als technische oder invasive Behandlung angesehen. Nach Ansicht vieler Angehörigen könnten nur invasive Maßnahmen abgelehnt werden. Eine Einteilung von Therapiemaßnahmen in »normal« und »außergewöhnlich« ist jedoch künstlich und stark von der Vorerfahrung dessen abhängig, der die Einteilung vornimmt. Beispielsweise kann eine Reanimation für einen Angehörigen außergewöhnlich, für einen Notarzt hingegen Routine sein. Es ist von großer Bedeutung, wie der betreuende Angehörige seine Rolle im Entscheidungsprozess interpretiert und welchen Einflussfaktoren er ausgesetzt ist. Dabei agieren Angehörige als Mit-Betroffene nicht immer rational oder eindeutig, sie können auch ambivalent und inkonsistent handeln. Sie vertreten eigene Interessen mit und müssen Entscheidungen auch vor ihrem eigenen Gewissen verantworten, was sie selbst zu einer vulnerablen Gruppe macht. In einer Studie in Frankreich unter Angehörigen von Patienten auf Intensivstationen reagierte ein Drittel der Angehörigen nach drei Monaten mit Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Unter den Angehörigen, die auf den eigenen Wunsch hin an Entscheidungen über lebenserhaltende Maßnahmen in »Entscheidungskonferenzen« beteiligt waren (7,7% der Gesamtstichprobe) erfüllten 82% die Kriterien für eine PTBS. Angehörige, die das Gefühl hatten, die Information, die sie bekommen hätten, wären unvollständig, hatten ein höheres Risiko für eine PTBS. Ein Eingreifen in den Krankheitsverlauf durch eine Entscheidung über lebensverlängernde Maßnahmen kann als äußerst belastend eingeschätzt und sollte vermieden werden. Das kann so weit gehen, dass dem Patienten selbst die Entscheidung überlassen und ein Überleben dem »Überlebenswillen des Patienten« zugeschrieben wird. Ob und wie die prospektive Autonomie von Wachkomapatienten respektiert wird, hängt also nicht nur von der Verfügbarkeit vorab geäußerter Behandlungswünsche, deren Aktualität und Übertragbarkeit auf die Situation ab (Jox 2004), Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

sondern auch von der eigenen Interpretation der Prämissen für die Entscheidung und der Entscheidungsoptionen. Empfehlungen für die Praxis Die Ergebnisse der vorgestellten Interviewstudie machen deutlich, dass Familien mit Patienten im Wachkoma langfristig über den gesamten Krankheitsverlauf des Patienten professionell beraten, begleitet und unterstützt werden sollten. Eine amerikanische Interviewstudie mit Angehörigen von Patienten mit Krebserkrankungen hat gezeigt, dass Angehörige von schwer kranken Patienten Unterstützung brauchen (Meeker 2004). Die vorliegende Studie belegt, dass Angehörige von Wachkomapatienten ebenfalls und vor allem langfristig unterstützt werden sollten, besonders da der Krankheitszustand über Jahre andauern kann, ohne dass sich der Zustand des Patienten verbessert oder verschlechtert. Das Bild der Angehörigen vom Patienten als »Handelnden« der durch sein »Überleben« oder »Verhalten« einen Lebenswillen zeigt, sollte von Fachkräften anerkannt und nicht abgetan werden. Andererseits sollten Angehörige wiederholt und sensibel über die Möglichkeit aufgeklärt werden, dass sich trotz kleiner Fortschritte ihre Hoffnung auf Besserung auch nicht erfüllen kann. Die Patientenautonomie von Wachkomapatienten sollte gestärkt werden und offenbar reicht hier die Implementierung von Patientenverfügungen nicht aus, um zu garantieren, dass der vorausverfügte Patientenwille berücksichtigt wird. Personen, die eine Patientenverfügung verfassen möchten, sollten eine spezifische Beratung für Entscheidungen im Fall von chronischen Bewusstseinsstörungen erhalten, wie sie bereits bei Programmen gesundheitlicher Vorausplanung (advance care planning) durchgeführt werden (Garand et al. 2011; In der Schmitten et al. 2011) und auch von der Bundesärztekammer empfohlen wird (Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis 2010). Eine qualitative Untersuchung zu Patientenverfügungen hat gezeigt, dass es immer wieder zu Inkonsistenzen zwischen den mündlich geäußerten Wünschen der Patienten und ihren Patientenverfügungen gab (Becker 2010), was durch eine solche Beratung vermieden werden könnte. Standards für den Inhalt von Beratungsgesprächen sollten von einem multiprofessionellen Fachgremium bestehend aus Ärzten, Wissenschaftlern, Pflegenden, Ethikern und Angehörigen von Betroffenen formuliert werden. Ein Bestandteil könnte die Wissensvermittlung über die Diagnose- und Prognosestellung sowie Chancen und Risiken der Behandlungsmöglichkeiten bei chronischen Bewusstseinsstörungen sein. Ein weiterer Bestandteil könnte die Besprechung häufiger Konfliktsituationen bei der Umsetzung von Patientenverfügungen anhand von Fallbeispielen sein. Die Verfasser der Patientenverfügung sollten ihre Wünsche auf spezifische Therapiemaßnahmen konkretisieren und ihrem gewünschten Stellvertreter ihre Wünsche auch mündlich erläutern. Für den Fall des Zweifels an dem irreversiblen Bewusstseinsverlust, der durch nonverbale Verhaltensweisen festgestellt wurde, sollten sie ebenfalls Entscheidungen im Voraus festlegen. Ein solcher Passus könnte folgendermaßen aussehen: »Im Falle des Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Andauerns des Zustands, aber Zweifeln an seiner Irreversibilität aufgrund von nonverbalen Verhaltensäußerungen möchte ich, dass meine Verfügung 1) durchgesetzt wird 2) nicht durchgesetzt wird.« Die Angehörigen potentieller Patienten sollten in diesen Vorbereitungsprozess mit einbezogen werden. Dabei sollte schon im Vorhinein offen darüber gesprochen werden, welche psychischen Auswirkungen das Berücksichtigen der Wünsche des Patienten auf den Stellvertreter haben könnten (z. B. durch Schuldgefühle oder Verlustängste). Das Modell der dialogischen Entscheidungsfindung im Sinne eines »shared decision-making« entlastet schon jetzt Beteiligte von der subjektiv eingeschätzten Verantwortung. In der Praxis wird dieses Modell leider noch nicht überall angewandt. Ursprünglich wurde der Ansatz in den 70er Jahren entwickelt, und bezeichnet eine gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Patient als Gegenentwurf zu einer paternalistischen Entscheidung für den Patienten durch den Arzt (Scheibler 2003). Anstelle des Patienten kann der Betreuer oder Bevollmächtigte des Patienten über den Patientenwillen Auskunft geben, in der Praxis wird er oder sie häufig jedoch auch als Entscheider mit einbezogen. Da in der dialogischen Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Betreuer der Patientenwille zu wenig Gewicht erhalten kann, ist es in manchen Fällen indiziert, einen geschulten Mediator hinzuziehen, der immer wieder auf den Patientenwillen rekurriert und darauf achtet, dass Angehörige und behandelnder Arzt sich nicht selbst die Verantwortung für die Therapieentscheidung aufbürden, wenn der Patient bereits im Voraus Entscheidungen getroffen hat. Diese Rolle sollte eine Person übernehmen, die nicht Teil des Behandlungsteams ist, aber die unkompliziert zu solchen Gesprächen hinzugezogen werden kann. In manchen Settings kann diese Rolle von einem Seelsorger oder einer psychosozialen Fachkraft übernommen werden, in komplexeren Fällen kann auch ein klinischer Ethikberater hinzugezogen werden. Generalisierbarkeit der Ergebnisse und Einschränkungen der Studie Bei dieser qualitativen Interviewstudie wurde keine repräsentative Stichprobe erhoben. Die Gesprächspartner, die für diese Studie ausgewählt wurden, sollten Angehörige von Patienten im andauernden, sogenannten »irreversiblen« Wachkoma sein. Angehörige von Patienten, die bereits aufgrund von Entscheidungen über die Limitierung lebensverlängernder Maßnahmen verstorben waren, wurden nicht befragt. Im Ergebnisteil dieser Studie wurden einzelne prototypische Fälle dargestellt, die eine Bandbreite der Perspektiven der Interviewteilnehmer zeigen. Ihre Aussagen repräsentieren subjektive Sichtweisen, die sich auch bei anderen Angehörigen von Wachkomapatienten finden lassen. Es werden quantitative Studien benötigt, um zu untersuchen, wie häufig diese Sichtweisen in der Grundgesamtheit aller Angehörigen von Wachkomapatienten vorkommen. Weitere Fragestellungen einer quantitativen Erhebung könnten sein, welche Unterschiede es bezüglich des Geschlechts oder der Rolle der Angehörigen (z. B. von Müttern und Ehemännern) gibt. Innerhalb dieser Studie wurden die Diagnosen der Patienten nicht überprüft. In Deutschland wird noch nicht konsequent zwischen Wachkoma und minimal Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

bewusstem Syndrom unterschieden und es ist möglich, dass einzelne Patienten fälschlicherweise als Wachkomapatienten bezeichnet wurden und tatsächlich im Zustand minimalen Bewusstseins zu zielgerichteten Reaktionen in der Lage waren, was in der Studie von Schnakers und Kollegen auf 40% der untersuchten Patienten zutraf (Schnakers et al. 2009). Der Zustand von Patienten im minimal bewussten kann sich auch noch nach Jahren bessern (Estraneo et al. 2010; Wijdicks 2006), der Patientenwille sollte jedoch auch in einem solchen Zustand berücksichtigt werden. Diese Studie konnte nicht prüfen, ob der Wille des Patienten korrekt wiedergeben wurde, da es sich nicht um eine prospektive oder hypothetische Studie handelte. Shalowitz und Kollegen haben in einem systematischen Review darauf hingewiesen, dass in etwa einem Drittel der Fälle Angehörige den Willen des Patienten inakkurat wiedergeben (Shalowitz, Garrett-Mayer, Wendler 2006) und Fagerlin et al. konnten zeigen, dass Angehörige bei Ihrer Einschätzung des Patientenwillens näher an ihrem eigenen Willen bezüglich eigener Behandlungswünsche sind, als an dem Willen des potentiellen Patienten für den Sie die Einschätzung machen sollen (Fagerlin et al. 2001). Marks und Arkes wiesen nach, dass Angehörige häufig das, was sie sich für den Patienten wünschen, als Wunsch des Patienten wiedergeben, wobei Alter, Bildungsstand und Herkunft keinen Einfluss auf diese Projektionen hatten (Marks, Arkes 2008). 2 Literatur Bates D (2005) The vegetative state and the Royal College of Physicians guidance. In: Neuropsychological rehabilitation 15(3–4): 175–183 Becker M, Jaspers B, King C, Klaschik E, Radbruch L, Voltz R, Nauck F (2010) Don’t Get Me Wrong! Advance Directives in Germany: A Qualitative Study. Paper presented at the EAPC 2010, Wien Bernat J L (2006) Chronic disorders of consciousness. In: Lancet 367(9517):1181– 1192 Bernat J L (2009) Chronic consciousness disorders. In: Annual Review of Medicine 60: 381–392 Boly M, Faymonville M E, Schnakers C, Peigneux P, Lambermont B, Phillips C, Lancelotti P, Luxen A, Lamy M, Moonen G, Maquet P, Laureys S (2008) Perception of pain in the minimally conscious state with PET activation: an observational study. In: Lancet Neurology 7(11): 1013–1020

2

Diese Arbeit entstand im Rahmen des dreijährigen Forschungsprojektes »Neuroethik chronischer Bewusstseinsstörungen«, das unter der Leitung von Dr. Dr. Ralf J. Jox und Co-Leitung von Prof. Gian D. Borasio am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Ludwig-Maximilians-Universität München durchgeführt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde (Förderkennzeichen 01GP0801). Ich danke den Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern, den Projektleitern, dem Betreuer meiner Doktorarbeit Prof. Georg Marckmann und meinen Kolleginnen und Kollegen im Arbeitskreis Forschung und in der Qualitativen Werkstatt, die mir bei der Auswertung der Interviewstudie mit kritischen Anmerkungen geholfen haben. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis (2010) In: Deutsches Ärzteblatt 107(18):A877-A882 Estraneo A, Moretta P, Loreto V, Lanzillo B, Santoro L, Trojano L (2010) Late recovery after traumatic, anoxic, or hemorrhagic long-lasting vegetative state. In: Neurology 75(3): 239–245 Fagerlin A, Ditto PH, Danks JH, Houts RM, Smucker WD (2001) Projection in surrogate decisions about life-sustaining medical treatments. In: Health Psychology 20(3): 166–175 Garand L, Dew MA, Lingler JH, Dekosky ST (2011) Incidence and predictors of advance care planning among persons with cognitive impairment. In: American Journal of Geriatric Psychiatry 19(8): 712–720 Giacino JT, Ashwal S, Childs N, Cranford R, Jennett B, Katz DI, Kelly JP, Rosenberg JH, Whyte J, Zafonte RD, Zasler ND (2002) The minimally conscious state: definition and diagnostic criteria. In: Neurology 58(3): 349–353 Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (2004) In: Deutsches Ärzteblatt 101(19):A1298-A1299 Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (2011) In: Deutsches Ärzteblatt 108(7):A346–348 In der Schmitten J, Rotharmel S, Mellert C, Rixen S, Hammes BJ, Briggs L, Wegscheider K, Marckmann G (2011) A complex regional intervention to implement advance care planning in one town’s nursing homes: Protocol of a controlled inter-regional study. In: BMC Health Services Research 11:14 Jennett B, Plum F (1972) Persistent vegetative state after brain damage. A syndrome in search of a name. In: Lancet 1(7753): 734–737 Jox RJ (2004) Bewusstlos, aber autonom? Ethische Analyse stellvertretender Entscheidungen für einwilligungsunfähige Patienten. In: Ethik in der Medizin 4: 401– 414 Jox RJ (2011) End-of-life decision making concerning patients with disorders of consciousness. In: Res Cogitans 8(1): 43–61 Kretschmer E (1940) Das Apallische Syndrom. In: Zeitschrift für die Gesamte Neurologie und Psychiatrie 169: 576–579 Kubler A, Kotchoubey B (2007) Brain-computer interfaces in the continuum of consciousness. In: Current Opinion in Neurology 20(6): 643–649 Kühlmeyer K, Borasio G D, Jox R J (2012) How family caregivers’ medical and moral assumptions influence decision making for patients in the vegetative state: a qualitative interview study. In: Journal of Medical Ethics 38: 332–337 Laureys S, Celesia GG, Cohadon F, Lavrijsen J, Leon-Carrrion J, Sannita WG, Sazbon L, Schmutzhard E, von Wild KR, Zeman A, Dolce G (2010) Unresponsive wakefulness syndrome: a new name for the vegetative state or apallic syndrome. In: BMC Medicine 8(1):68 Marks MA, Arkes HR (2008) Patient and surrogate disagreement in end-of-life decisions: can surrogates accurately predict patients’ preferences? In: Medical Decision Making 28(4): 524–531 Mayring P (2008) Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken. (Bd. 10). Beltz, Weinheim /Basel Meeker MA (2004) Family surrogate decision making at the end of life: seeing them through with care and respect. In: Qualitative Health Research 14(2): 204–225 Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

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Irmgard Hofmann

Leibliche Ausdrucksformen als Zeichen der Selbstbestimmung Einleitung »Selbstbestimmung ist der elementare Ausdruck menschlicher Freiheit« (Deutscher Ethikrat 2012, 46). So lapidar und doch so richtig findet sich dieser Satz in der Stellungnahme »Demenz und Selbstbestimmung« des Deutschen Ethikrates. Tatsächlich wird im medizinischen Behandlungssetting der Selbstbestimmung in Form der Einwilligungsfähigkeit von Patient /-innen großes Gewicht beigemessen. Allerdings erfüllen viele Menschen auf Grund krankheitsbedingter kognitiver Beeinträchtigungen die Anforderungen nicht mehr, die an eine informierte Zustimmung (informed consent) im Sinne einer rechtlich gesicherten Einwilligungsfähigkeit gestellt werden. Benachteiligend kommt hinzu, dass Information, Aufklärung und Einwilligungsfähigkeit in der Regel an die Wortsprache gebunden sind, was für die genannte Personengruppe ein unüberwindbares Hindernis darstellen kann. Nicht zuletzt zeigen Erfahrungen aus der Praxis, dass eine partielle oder dauerhafte Nichteinwilligungsfähigkeit von Patienten unterschwellig gleichgesetzt wird mit einer generellen Unfähigkeit, selbstbestimmt zu leben. Damit scheint es für viele Ärzte und Pflegende eine »untere Grenze« zu geben, »unterhalb derer es keine Möglichkeit der Selbstbestimmung mehr gibt« (Wunder 2008, 18). Allerdings verfügen alle Menschen – selbst bei schwerer Bewusstseinsstörung – über ein mehr oder minder großes Repertoire an leiblichen Ausdrucksformen, mit denen sie Außenstehenden zumindest Befindlichkeiten, in etlichen Fällen aber auch Willensbekundungen anzeigen können. Bisher wird diesen leiblichen Ausdrucksformen, die sich besonders im Rahmen pflegerischer Maßnahmen wahrnehmen lassen, insgesamt zu wenig Bedeutung beigemessen. Im Gegenteil, sie werden entweder nicht zur Kenntnis genommen oder – das gilt besonders bei Widerstand – regelhaft durch paternalistisches Handeln, also Formen von Gewalt, überwunden. Damit wird die Selbstbestimmung der betroffenen Menschen auf die Zustimmung zu helfenden Handlungen reduziert. Dem gegenüber steht die Forderung, leibliche Ausdrucksformen – bei aller Schwierigkeit der Interpretation – grundsätzlich als Ausdruck menschlicher Selbstbestimmung anzuerkennen und helfendes Handeln daran zu orientieren. Selbstbestimmung im Rahmen des informed consent In der Medizin werden im Rahmen des informed consent, der informierten Zustimmung, die heute als zentraler Ansatz der Patientenautonomie 1 gilt, bestimmte Anforderungen gestellt, die sich mehrheitlich an dem Autonomiebe1

Selbstbestimmung und Autonomie werden in diesem Beitrag synonym verwendet. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

griff von Beauchamp und Childress orientieren. In deren Principles of biomedical ethics sind Handlungen dann autonom, wenn sie erstens absichtlich »intentionally«, zweitens mit Einsicht »with understanding« und drittens ohne kontrollierende Fremdeinflüsse »without controlling influences« erfolgen (Beauchamp, Childress 2001, 59). Patientinnen sollen also auf der Basis richtig verstandener Informationen bewusste und freiwillige Entscheidungen im Hinblick auf ihre Behandlung treffen. Das können sie (rechtlich) nur, wenn sie einwilligungsfähig sind. »Einwilligungsfähig ist, wer Art, Bedeutung und Tragweite (Risiken) der ärztlichen Maßnahme erfassen kann« (BGH, Urteil vom 28.11.1957). Einwilligungsfähigkeit liegt also vor, wenn Menschen imstande sind zu begreifen, was ein medizinischer Eingriff für sie persönlich in ihrem individuellen Lebensentwurf bedeutet (Verständnis), welche Folgen und Risiken das ungefähr für sie haben kann (Verarbeitung und Bewertung) und sie dadurch in der Lage sind, die Verantwortung für ihre Entscheidung zu übernehmen (Willensbestimmung). Umgekehrt wird ein Mensch als einwilligungsunfähig bezeichnet, der wegen »Minderjährigkeit, psychischer Krankheit oder geistiger Behinderung« (Schöpf, Nedopil 2003, 309) einen Eingriff nicht verstehen, verarbeiten oder bewerten kann bzw. auf Basis dieser Fähigkeiten seinen Willen nicht mehr bestimmen kann. Damit wird ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Einwilligungsfähigkeit und Selbstbestimmung hergestellt bzw. im Umkehrschluss: Wer nicht mehr einwilligungsfähig ist, darf in Behandlungs- (und oft auch Pflegesituationen) nicht mehr über sich selbst bestimmen, nicht mehr für sich selbst entscheiden. Während im Alltagshandeln auch unvernünftiges Handeln weitgehend als Ausdruck der persönlichen Autonomie respektiert wird, gilt das nicht gegenüber Menschen, denen die Vernunft bzw. rationales Denken abhanden gekommen zu sein scheint. Jenen, die sich alters- oder krankheitsbedingt nicht mehr äußern können, die kognitive Beeinträchtigungen aufzeigen oder dem Anschein nach keine Beziehung mehr zwischen dem Gesagten und dessen Auswirkung auf ihr Leben herstellen können, wird Einwilligungsunfähigkeit attestiert. Dabei rekurrieren Ärzte im Wesentlichen auf die verbale Kommunikation, ohne ernsthaft zu berücksichtigen, dass z. B. Menschen mit demenziellen Veränderungen die Wortsprache zunehmend erhebliche Schwierigkeiten bereitet. 2 Diesem Personenkreis wird also relativ schnell die Selbstbestimmung abgesprochen, insbesondere dann, wenn sie Heileingriffe ablehnen. Rendina et al. beschreiben als gängige, beobachtete Praxis, dass Einwilligungsfähigkeit solange anerkannt wird, bis eine Patientin die Behandlung ablehnt, also eine unerwünschte Entscheidung kommuniziert. Erst dann wird die Einwilligungsfähigkeit in Frage gestellt und eventuell überprüft (Rendina et al. 2009). Doch diese Überprüfung erfolgt nicht nach transparenten Kriterien. Marson et al. stellen fest: Wenn verschiedene Ärzte die Einwilligungsfähigkeit ein und desselben Menschen mit Demenz in ein und dieselbe medizinische Maßnahme beurteilen, dann ist die Übereinstimmung die2

Derzeit führt die Schumpeter-Forschungsgruppe der Universität Frankfurt ein Forschungsprojekt zur »Förderung der Einwilligungsfähigkeit in medizinischeMaßnahmen bei Demenz durch ressourcenorientierte Kommunikation (EmMa)« durch. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Hofmann: Leibliche Ausdrucksformen als Zeichen der Selbstbestimmung 357

ser Urteile nicht größer als zufällig (Marson et al. 1997). Das würde bedeuten, dass die ärztliche Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit weniger schlüssigen und transparenten Kriterien folgt, sondern eher von der persönlichen Wahrnehmung geprägt wird. Selbstbestimmung als Gegenteil von Fremdbestimmung Wer sich selbst bestimmt, sagt zunächst vor allem, dass nicht andere bestimmen, was er selbst will und entscheidet. Das dürfte auch ohne jede Bestimmung der Begriffsgeschichte unmittelbar einsichtig sein. Wunder kritisiert am Autonomiebegriff, dass er von der leiblichen Natur des Menschen abstrahiert (Wunder 2008, 17). Seinen Ausführungen zufolge hat Selbstbestimmung einen unmittelbaren leiblichen Bezug, der unabhängig von jeglicher Rationalität seine Gültigkeit behält. Selbstbestimmung ist in einem ganz ursprünglichen Sinne das Gegenteil von Fremdbestimmung, und zwar nicht allein im kognitiven Sinne, sondern auf einer elementar leiblichen Ebene. Konkret bedeutet das, dass unabhängig von verbalen Sprachmöglichkeiten die leibsprachlichen Reaktionen auf helfendes Handeln ganz grundsätzlich als Akt der Selbstbestimmung anzuerkennen sind. Wunder fordert entsprechend, dass auch »schwer entschlüsselbare Äußerungen in Gestalt von Mimik, Gestik, Ganzkörpersprache, Ritualen und Verhaltensweisen, [die] Wünsche, Interessen, Präferenzen und Bedürfnisse [repräsentieren], [. . .] als notwendige Voraussetzung [. . .] für jede pflegerische und ärztliche Antwort Beachtung finden [müssen]« (Wunder 2008, 25).

Um Missverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass Selbstbestimmung niemals absolut, sondern in mehreren Dimensionen relativ zu sehen ist. So ist das Maß an Selbstbestimmung abhängig von den Lebensbereichen, um die es geht. Auch ein kognitiv schwer beeinträchtigter Mensch kann vielfach noch entscheiden, was er essen möchte, wann er Ruhe will oder Beschäftigung. Die Fähigkeit zur Ausübung der Selbstbestimmung wird zudem ganz wesentlich geprägt von dem sozialen Umfeld bzw. der sozialen Eingebundenheit. Je mehr ein Mensch körperlich oder kognitiv beeinträchtigt ist, desto mehr ist er abhängig von anderen Menschen, die ihm ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Dies wiederum verweist darauf, dass Selbstbestimmung jenseits aller individuellen Gestaltungsmöglichkeiten wesentlich davon abhängig ist, dass andere diese Selbstbestimmung positiv anerkennen und unterstützen. Selbstbestimmung ist also auch ein »soziales Geschehen« (Weingärtner 2006, 63) und zwar um so mehr, je eingeschränkter ein Mensch in seinen individuellen Möglichkeiten ist. Denn was hilft es einem bewegungsunfähigen Menschen, dass er sich gerne im Kreise anderer Menschen aufhalten möchte, wenn er niemanden findet, der ihn dorthin bringt? Die Angewiesenheit auf andere Menschen ist eine menschliche Grundkonstante, die aber in bestimmten Lebenssituationen wie schwerer Krankheit oder Pflegebedürftigkeit erheblich wichtiger wird als in gesunden Zeiten.

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Scheinbar irrationales Verhalten – eine Frage der Perspektive Angesichts steigender Lebenserwartung nimmt die Zahl der Menschen, die mit demenzieller Veränderung in zunehmende Abhängigkeit geraten, deutlich zu. Dabei können viele von ihnen im Anfangsstadium noch weitgehend selbstbestimmt leben. Menschen mit fortgeschrittener demenzieller Veränderung dagegen sind nach unserem Verständnis nicht mehr in der Lage, sich autonom zu verhalten, da sie die Gründe unseres helfenden Handelns anscheinend nicht mehr verstehen können. Oder anders gesagt,wir nehmen an, dass sie uns nicht mehr verstehen, weil sie sich nicht nach unseren Vorgaben und Normen verhalten. Außerdem sind sie praktisch nicht in der Lage, uns zu erklären, warum sie sich jetzt so und nicht anders verhalten. Das liegt überwiegend daran, dass sie uns ihre eigene innere Rationalität nicht mit für uns verstehbaren Worten mitteilen können, weil ihnen unsere Wortsprache mehr oder weniger verloren gegangen ist. Umgekehrt sind wir in der Regel kaum in der Lage, das intrinsisch Rationale eines nach außen irrational wirkenden Verhaltens zu erkennen. Bislang wird selten reflektiert, dass nicht nur Menschen mit demenziellen Veränderungen die Helfenden oft nicht verstehen, sondern dass umgekehrt die Helfenden die Hilfebedürftigen mindestens ebenso wenig verstehen. Ein Beispiel: Manche Menschen mit Demenz erkennen sich im Spiegel nicht mehr, unter anderem mit den Worten »Wer ist denn dieser alte Mann?«. Die Interpretation sei erlaubt, dass sich die Menschen deswegen nicht mehr erkennen, weil ihnen ihr eigenes Alt-Geworden-Sein fremd, nicht wirklich zugänglich ist. Umgekehrt bedeutet das, sie fühlen sich jung bzw. jünger, als sie sind und vermutlich deutlich fitter, als Außenstehende sie wahrnehmen. Nimmt man diese Überlegungen ernst, dann zeigt sich darin eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Erleben der Betroffenen und der Reaktion der Helfenden. Und vermutlich glauben beide auf ihre Weise, sie seien die »Vernünftigen«. Wenn nun Pflegende einen demenziell schwer veränderten Menschen z. B. bei der Körperpflege unterstützen wollen, während dieser sich selbst möglicherweise als jung und selbstständig sieht, entsteht ein erhebliches Missverständnis. Wie soll ein Mensch, der sich selbst als jung und selbstständig erlebt, akzeptieren, dass andere, fremde Menschen ihm »an die Wäsche« wollen? So wehrt er sich unter Umständen dagegen, wenn Pflegende eine wegen Inkontinenz eigentlich erforderliche Intimpflege durchführen wollen, weil er deren Tun möglicherweise als sexuellen Übergriff oder generell als Grenzüberschreitung wahrnimmt. Umgekehrt verstehen Pflegende häufig nicht, warum der Betreffende sich nicht helfen lassen möchte, entsteht doch bei Inkontinenz relativ schnell schmerzhafter Schaden in Form von Dekubiti. Das Nicht-Verstehen-Können existiert also auf beiden Seiten. Man redet und handelt in diesen Situationen regelmäßig aneinander vorbei. Allerdings bleibt auf beiden Seiten jenseits aller verbalen Sprachlichkeit noch die Sprache des Leibes.

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Hofmann: Leibliche Ausdrucksformen als Zeichen der Selbstbestimmung 359

Der Leib ist mehr als der Körper Das deutsche Wort »Leib« steht dem Ursprung nach als Synonym für »Leben«, »leib-eigen« im Sinne von dem »Leben zugehörig« sowie für »leibhaftig«, also ganz und gar selbst (Duden Band 7, 1963, »Leib«). Der Begriff des Körpers ist dagegen nicht auf etwas Lebendiges begrenzt, vielmehr wird er als Ausdruck für jedes Gebilde mit räumlicher Ausdehnung verwendet (Duden Band 7, 1963, »Körper«). Plessner unterscheidet zwischen Körper-haben und Leib-Sein. Der Mensch »weiß um sich als Geistwesen und als Körperding zugleich« (Plessner 1982, 238). Einen Körper, den ich habe, kann ich berühren, in seinen einzelnen Bestandteilen untersuchen oder einfach anschauen. In Anlehnung an Plessner führt Fuchs zum Leib aus: Er ist »nicht der Körper, den ich sehe, berühre oder empfinde, sondern er ist vielmehr mein Vermögen 3 zu sehen, zu berühren und zu empfinden. Er ist kein Gegenstand in der Welt, sondern das Vermögen, das mir die Welt eröffnet.« Der Leib ist somit der »Resonanzboden«, der uns die Welt erfahrbar macht und damit das Reservoir bildet, in dem Menschen ihre Lebenserfahrungen integrieren (Fuchs 2008, 17). Der Mensch bzw. seine Entwicklung basiert zwar auf körperlichen Gegebenheiten, aber unser ganzes Werden im »Prozess der Zivilisation« (Elias 1976) besteht im Wesentlichen darin, sich unsere Kultur, unsere täglichen Erfahrungen »einzuverleiben« und in individuell angeeigneter Form wiederum leiblich zum Ausdruck zu bringen. Mit unserem Leib kommunizieren wir somit nach innen und außen, mit uns selbst und mit anderen und erfahren uns dabei als leibhaftig anwesend im Austausch. Wer sich freut, sagt nicht, der Körper oder der Intellekt freut sich, sondern »Ich freue mich«. Dieses »Ich« steht für das Selbst, für das eigene Erleben in leiblicher Verfasstheit. »Leiblichkeit ist Kommunikation« Diese Aussage von Uzarewicz und Uzarewicz (Uzarewicz, Uzarewicz 2005, 145) verweist auf eine elementare Lebenswirklichkeit, die im medizinischen und leider auch pflegerischen Alltag selten hinreichend zur Kenntnis genommen wird. Mit unserem leiblichen Ausdrucksverhalten bringen wir Teile unserer Innerlichkeit, unseres Verständnisses von Leben sowie unsere Empfindungen zur Sprache, die wir mit bloßen Worten oft nicht formulieren können. Jeder Mensch reagiert intuitiv auf die sogenannte Körpersprache, die sich in Gestik, Mimik und Körperhaltung zeigt. Die Leibsprache umfasst neben diesen Anteilen der nonverbalen Kommunikation alle weiteren Aspekte, mit denen sich Menschen ohne Worte zum Ausdruck bringen. Unruhe, Schmerzen, Ekel, Abwehr, Scham, Freude oder Hingabe drücken sich leiblich aus, aber auch bestehende Formen wie Leibesumfang, Falten oder Narben verweisen uns auf die Leib gewordene Geschichte eines Menschen. Ohne dass wir uns dessen immer bewusst sind, sind wir doch in vielen Fällen in der Lage, leibliche Ausdrucksformen intuitiv zu erfassen, weil sie Teil unseres eigenen leiblichen Erlebens sind. 3

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Allerdings haben wir auch gelernt, zugunsten einer Wortrationalität leibliche Erfahrungen als weniger wichtig darzustellen bzw. sie zu überwinden, sie nicht ernst zu nehmen. Menschen mit fortschreitender demenzieller Veränderung haben zunehmend eingeschränkte Möglichkeiten rationaler Auseinandersetzung mit der Außenwelt. Je weniger eine kognitive Begegnung mit der Umwelt möglich ist, desto »leiblicher« werden die Reaktionen der Betroffenen. Ihnen bleibt zunehmend nur die Möglichkeit, sich leiblich zum Ausdruck zu bringen, wenn ihnen die Wortsprache nach und nach verloren geht. Sie kommunizieren also anders, entsprechend ihrem eigenen Erleben und mit den ihnen verbliebenden Möglichkeiten, die Außenstehenden wiederum oft nur begrenzt zugänglich sind. Aber es stellt sich die Frage: Sind leibliche Ausdrucksformen überhaupt als Teil sich selbst bestimmen wollender Individuen ernst zu nehmen? Und wenn ja, was folgt daraus? Leibliche Ausdrucksformen als Zeichen der Selbstbestimmung Ärztliches Handeln beschränkt sich bei Menschen mit demenzieller Veränderung oder überhaupt bei zunehmender Pflegebedürftigkeit zumeist auf kurze Untersuchungen und Anordnungen, insofern gerät der leibliche Ausdruck kaum ins Blickfeld. Man mag das bedauern, aber es ist Teil der Wirklichkeit. Pflegerisches Handeln dagegen geht direkt an die Leiblichkeit eines Menschen. Körperpflege, Essen und Trinken, Umgang mit Ausscheidungen gehören zu den intimen Angelegenheiten eines Menschen. Normalerweise lassen wir nur vertraute Menschen an unseren Leib, gegenüber Fremden, die uns zu nahe kommen, wehren wir uns. Unseren Leib vor ungewollten Berührungen anderer zu schützen, ist ureigenster Ausdruck unserer Selbstbestimmung. Pflegende sind zunächst keine Vertrauten, sondern Fremde. Gleichwohl ist die Übernahme der Körperpflege sowie Unterstützung beim Essen und Trinken genuine Aufgabe der Pflege. Inkontinenzpflege und Essen anreichen werden von pflegebedürftigen Menschen recht unterschiedlich erlebt, die Skala reicht von lustvoll über peinlich bis widerwärtig. Rational einsichtsfähige Menschen versuchen, diese Vorgänge möglichst neutral und kontrolliert über sich ergehen zu lassen. Ganz anders ergeht es Menschen, die zu dieser rationalen Kontrolle nicht mehr in der Lage sind. Sie reagieren von freudig annehmend bis hin zu massiver Abwehr. Nun ist das sicher in Teilen auch abhängig davon, von wem auf welche Weise die Pflegemaßnahmen durchgeführt werden – aber nicht nur. Wenn Menschen mit demenzieller Veränderung die Inkontinenzversorgung in ihrer eigenen Wirklichkeit als Vergewaltigung erleben, sei es, weil sie früher traumatische Erfahrungen gemacht haben, sei es, weil sie keinen anderen Menschen an ihrem Intimbereich dulden, dann wehren sie sich dagegen verständlicherweise mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln. Sie kratzen, beißen, schlagen, treten, schreien. . . Es sind die ihnen verbliebenen leiblichen Ausdrucksformen ihrer Selbstbestimmung. Wenn alte Menschen – und das gilt keineswegs nur für demenziell veränderte Menschen – nicht oder nur wenig essen und trinken, z. B. weil sie schlicht keinen Hunger oder Durst verspüren, dann reagieren sie, indem sie den Kopf wegdreClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Hofmann: Leibliche Ausdrucksformen als Zeichen der Selbstbestimmung 361

hen, Mund zukneifen, spucken etc. Das sind sehr eindeutige leibliche Ausdrucksformen und offensichtlich teilen sie uns damit etwas über ihr Wollen mit. Menschen mit fortgeschrittener Demenz können unsere erklärende Wortsprache häufig nicht mehr verstehen. Sie erleben es aber buchstäblich an ihrem Leib, wenn wir sie zwingen, etwas über sich ergehen zu lassen, was sie in diesem Moment nicht wollen. Und so wehren sie sich, solange sie nicht völlig in eine Lethargie der Hoffnungslosigkeit verfallen sind. Dabei scheint es zumindest in Verbindung mit Essen und Trinken überwiegend möglich, auf die leibliche Zustimmung oder Ablehnung adäquat zu reagieren. Wir sollten lernen, unsere oft rigorosen Vorstellungen von bestimmten Trinkmengen und Kalorienvorgaben zu überdenken. Wichtiger dürfte allemal sein, dass sich Menschen in ihrem Leib wohlfühlen und dazu gehört in jedem Fall, ihr Selbstbestimmungsrecht soweit wie möglich zu achten. Das entbindet die Helfenden nicht von der Aufgabe zu überlegen, ob Schmerzen, falsche Medikamente, Übelkeit oder Einsamkeit die Menschen am Essen und Trinken hindern; es entbindet sie auch nicht von der Aufgabe, mit regelmäßigem Angebot von Speisen und Getränken Anreize zum Essen und Trinken zu geben. Aber Zwang sollte es nicht geben dürfen – auch nicht die Androhung einer PEG-Sonde. Ärzte respektive der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) sollten daher nicht einfach statische Trinkmengen anordnen, sondern sich nach Rücksprache mit den Pflegenden an dem leiblichem Ausdrucksverhalten der direkt Betroffenen orientieren. Dagegen bleibt bei der Inkontinenzversorgung ein weitgehend unauflösbarer Widerspruch. Wenn Menschen die Inkontinenzversorgung ablehnen bzw. sich dagegen wehren, sollten die Pflegenden zunächst feststellen, ob es unterschiedliche Reaktionen bei verschiedenen Pflegenden gibt (z. B. Frauen oder Männer). Manchmal hilft es, wenn zwischen der Erläuterung einer erforderlichen Intimpflege und der eigentlichen Durchführung etwas Zeit gelassen wird, damit die Person sich darauf einstellen kann. Trotzdem gibt es Menschen, bei denen keine Pflegevariante zu einer Veränderung führt. Es ist eine alltägliche Dilemmasituation, die auf beiden Seiten viel Frustration und Aggression auslöst. Tatsächlich bleibt hier nur die Wahl zwischen zwei nahezu gleich großen Übeln. Der leiblichen Abwehr als Ausdruck der Selbstbestimmung steht objektiv eine schnell eintretende Schädigung der Haut gegenüber, die innerhalb kurzer Zeit zu schmerzhaftem Dekubitus mit weitergehenden Folgen führt. Man darf zudem davon ausgehen, dass kein Mensch gerne längere in den eigenen Exkrementen liegen möchte. Aber auch in diesem Fall gilt: Selbst wenn die leibliche Abwehr dieser Menschen im Einzelfall überwunden, also Gewalt angewendet werden muss, um größeren Schaden zu vermeiden, muss im professionellen Bewusstsein bleiben, dass auch Menschen mit demenzieller Veränderung bis zuletzt ein Recht auf Selbstbestimmung haben. Es ist eine Frage der ethischen Grundhaltung, ob der Respekt vor der Selbstbestimmung auch dann gilt, wenn sie nur noch in leiblicher Form zum Ausdruck gebracht werden kann – und ob dieser Respekt dazu beiträgt, manchmal unumgängliche Zwangsmaßnahmen auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Umgekehrt, wer anderen das Recht auf Selbstbestimmung abspricht, Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

weil die Menschen eben nicht mehr autonom bzw. einwiligungsfähig seien, riskiert aus paternalistischen Überlegungen, aus falsch verstandener Fürsorge, den betroffenen Personen mehr Gewalt anzutun, als unbedingt nötig wäre. Ärztliches und pflegerisches Handeln wird zu Gewalt, wenn das Bewusstsein fehlt, dass auch Menschen mit einer anderen Wirklichkeit ein Recht auf Selbstbestimmung haben – zumindest im Sinne eines Abwehrrechtes. Insofern scheint es unerlässlich, leibliche Ausdrucksformen stärker als bisher in den Fokus zu nehmen, auch um Interpretationshilfen zu erarbeiten. Leibliche Ausdrucksformen und die Notwendigkeit ihrer Intepretation Leibliche Ausdrucksformen sind vielfältig; um sie als Zeichen der Selbstmitteilung angemessen berücksichtigen zu können, müssen sie interpretiert werden. Beispiele leiblicher Ausdrucksformen können sein: – Zeichen des Wohlbehagens (z. B. entspannte Körperhaltung, gelöste Mimik, Summen) – Zeichen des Unbehagens (z. B. muskuläre Verspannungen, Stirn runzeln, unwilliges Brummen, »Gänsehaut«, verkniffener Mund, weit aufgerissene Augen, starre Körperhaltung, Unruhe, spastische Reflexe, verzerrtes Gesicht) – Zeichen der Zustimmung (z. B. positive Zeichen des Mitmachens im Sinne kleinster Gesten wie ein angedeutetes Lächeln, ein entspanntes »sich-führenlassen«, freiwilliges Essen und Trinken) – Zeichen der Ablehnung (z. B. Schlagen, Beißen, Kratzen, Spucken, Schreien, Mund zusammenpressen, gekrümmte Haltung, hohe Körperspannung) Um die gegebene Irrtumsanfälligkeit bei der Deutung zu reduzieren, muss immer die jeweils aktuelle Situation berücksichtigt werden. Zur Interpretation gehört das zugrundeliegende Krankheitsbild mit seinen Besonderheiten ebenso wie die Berücksichtigung der emotionalen Beziehung zum Gegenüber. Denn je nachdem, wie Pflegende und Ärzte mit diesen Menschen kommunizieren (behutsam und zugewandt oder unsensibel, einfühlsam oder abweisend) reagieren die Betroffenen oft verschieden in ihrer leiblichen Verfasstheit, also bei der gleichen Handlung mal zustimmend und mal ablehnend. 4 Erst wenn unabhängig von der interagierenden Person regelmäßig die gleiche leibliche Ausdrucksform gezeigt wird – z. B. die konstante Ablehnung von Essen und Trinken durch Mund zukneifen – kann von einem einigermaßen stabilen Wollen gesprochen werden und nicht nur von einer Momentaufnahme. Mit dem »Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebensqualität demenzkranker Menschen (H. I. L.DE.)« wurde ein valides Assessment für eine »positive Beeinflussung der Lebens- und Erlebensumstände demenzkranker Heimbewohner« (Becker, Kaspar, Kruse 2011, 23) entwickelt. Inwieweit dieses Instrument tatsächlich dazu verhilft, leibliche Ausdrucksformen stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit zu stellen, muss sich in einer breiten Anwendung erweisen, die derzeit angestrebt wird. 4

Leider fehlen bislang valide Studien zu dieser durchaus bekannten Alltagserfahrung. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Hofmann: Leibliche Ausdrucksformen als Zeichen der Selbstbestimmung 363

Zusammenfassung Die Rechtsgrundlage der Einwilligungsfähigkeit im medizinisch-pflegerischen Alltag verführt dazu, einwilligungsunfähigen Menschen gleichzeitig generell ihre Selbstbestimmung zu verwehren. Das verletzt das Grundrecht auf Freiheit. Einwilligungsfähigkeit und Selbstbestimmung werden oftmals gleichgesetzt und häufig an Fähigkeiten der Wortsprache festgemacht; leibliche Kommunikation wird dagegen weitgehend ausgeblendet. Damit sind Menschen in ihrer Selbstbestimmung benachteiligt, die der Wortsprache nicht mehr mächtig sind. Pflegende und Ärzte sind aufgefordert, sich in diesen Fällen verstärkt an der leiblichen Kommunikation, an den leiblichen Ausdrucksformen zu orientieren. Bei aller Schwierigkeit der Interpretation ist es doch in vielen Fällen möglich, leibliche Ausdrucksformen zu verifizieren und damit auch Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen in ihrer je aktuellen Selbstbestimmung zu achten und zu unterstützen. Die Anwendung von paternalistischer Gewalt kann damit zwar nicht völlig verhindert, aber doch deutlich reduziert werden. Literatur Beauchamp TL, Childress JF (2001) Principles of biomedical ethics. 5. Aufl., Oxford University Press, New York Becker S, Kaspar R, Kruse A (2011) Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebensqualität demenzkranker Menschen (H. I. L.DE.). Huber, Bern BtPrax, Onlinelexikon Betreuungsrecht (2009) Natürlicher Wille. http://wiki.btprax. de /Natürlicher_Wille (Zugegriffen 31. Juli 2012) Deutscher Ethikrat (2012) Demenz und Selbstbestimmung. Stellungnahme Duden (1963) Das Herkunftswörterbuch. Die Etymologie der deutschen Sprache. Bd. 7, Bibliografisches Institut Mannheim /Wien /Zürich Elias N (1976) Über den Prozess der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Suhrkamp, Frankfurt/M Fuchs T (2008) Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays. Die Graue Edition, Kusterdingen Marson DC, Hawkins L, McInturff B, Harrell LE (1997) Cognitive Models that Predict Physician Judgments of Capacity to Consent in Mild Alzheimer’s Disease. In: Journal of the American Geriatrics Society 45: 458–464 Plessner H (1982) Gesammelte Schriften VII. Ausdruck und menschliche Natur. Suhrkamp, Frankfurt/M Rendina N, Brodaty H, Draper B, Peisah C, Brugue E (2009) Substitute consent for nursing home residents prescribed psychotropic medication. In: International Journal of Geriatric Psychiatry 24: 226–231 Schöpf J, Nedopil N (2003) Psychiatrie für die Praxis: Mit ICD-10-Diagnostik. 2. Aufl., Springer, Berlin /Heidelberg /New York Uzarewicz C, Uzarewicz M (2005) Das Weite suchen. Einführung in eine phänomenologische Anthropologie für Pflege. Lucius&Lucius, Stuttgart Weingärtner C (2006) Schwer geistig behindert und selbstbestimmt. Eine Orientierung für die Praxis. Lambertus, Freiburg /Br Wunder M (2008) Demenz und Selbstbestimmung. In: Ethik in der Medizin 20: 17– 25

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Carola Seifart

Paradoxer Paternalismus? Widerspricht ein Teilnahmeverzicht am informed consent dem Prinzip der Patientenautonomie? Patientenautonomie wird als zentrales medizinethisches Paradigma seit mehreren Jahrzehnten zunehmend betont. Diese Entwicklung spiegelt sich in einer Verlagerung des Arzt-Patienten-Verhältnisses beruhend auf von Fürsorge geprägten, paternalistischen Grundprinzipien, hin zu einer Dominanz der selbstbestimmten Entscheidung des Patienten /der Patientin in medizinischen Belangen. Das zugrunde liegende Autonomieprinzip begründet in der Medizin einen Anspruch darauf, als Patient über relevante medizinische Aspekte informiert zu werden und selbst zu entscheiden, welche medizinischen Maßnahmen durchgeführt werden sollen – ein Anspruch, der medizinethisch und juristisch als informierte Zustimmung bzw. als informed consent (I. C.) Ausdruck findet. Für die Praxis bedeutet das konkret, dass keine medizinische Maßnahme oder Handlung ohne die informierte Zustimmung des Patienten erfolgen darf. Fraglich ist aber, ob der theoretische Anspruch auf Selbstbestimmung als paradigmatische Basis jeder medizinischen Handlung tatsächlich immer den Wünschen der Patienten entspricht. Kranke Menschen befinden sich oft in persönlichen Krisen- oder gar Grenzsituationen, in denen ihnen mit der Forderung nach Selbstbestimmung möglicherweise etwas abverlangt wird, was sie in ihrem leidenden Zustand nicht leisten wollen oder können (Böhme 2009). Eine eigene empirische Untersuchung an der Universität Marburg, die im Rahmen einer Evaluation des SPIKES-Protokolls 350 onkologische Patient/-innen befragte, beinhaltete die Frage, ob sie in ihre weitere Therapieplanung einbezogen sein wollten. Dies wurde von 26,0% der befragten Patienten/-innen abgelehnt. 22,9% stimmten sogar »voll und ganz« einem prinzipiellen Vorgehen ohne Einbezug des Patienten /der Patientin in die weiteren therapeutischen Entscheidungen zu. Das heißt, etwa ein Viertel der befragten Patient/-innen wollen nicht in die Therapieplanung und -entscheidung einbezogen werden, was die Frage aufwirft, wie ein solcher Verzicht medizinethisch, insbesondere im Lichte des Leitprinzips der Autonomie, zu werten ist. Diese Frage scheint prima facie wenig Bedeutung für medizinische Alltagsentscheidungen zu haben, ist jedoch für Krisensituationen und Grenzentscheidungen, wenn beispielsweise das Überleben des Betroffenen direkt beeinflusst wird, von erheblicher Relevanz. Im Weiteren werde ich daher für diese Situationen hinterfragen, ob ein Teilnahmeverzicht des Patienten aus ethischer Sicht eine zulässige Ausnahme des I. C. darstellt, oder ob der Arzt /die Ärztin, möglicherweise gegen den Willen des Patienten /der Patientin – quasi im Sinne eines paradoxen Paternalismus – eine Teilnahme des Patienten am I. C. erwirken muss. 1 1

Die vorliegende Diskussion konzentriert sich auf die zugrunde liegende ethische Frage. Es muss jedoch unabhängig davon bedacht werden, dass ein Teilnahmeverzicht relevante juristische Implikationen haben kann. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Seifart: Paradoxer Paternalismus?

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Informed consent Für die klinische Medizin konkretisiert der I. C. das zentrale Prinzip der Patientenautonomie und stellt das rechtlich verbindliche Handlungsmodell im Gesundheitswesen dar. Seine Bedeutung beschränkt sich aber nicht nur auf die Legitimation medizinischer Maßnahmen, sondern ist, hergeleitet aus dem Autonomieprinzip, Ausdruck eines Schutz- und Abwehrrechtes für Patient/-innen und stellt zudem eine wichtige Konkretisierung für Begriffe wie Menschenwürde und Individualrecht dar (Düwell 2008). Diese Werte sind für die praktische Umsetzung des I. C. als eine intendierte, freie und autonome Handlung leitend. Dementsprechend werden die folgenden Anforderungen an einen gültigen I. C. gestellt (Beauchamp, Childress 2009; Beauchamp, Faden 2004): Als Grundvoraussetzungen: – Entscheidungs- und Verständniskompetenz des Patienten – Freiwilligkeit der Entscheidung Für die Information: – Übermittlung der entscheidungsrelevanten Informationen – Ärztliche Empfehlung – Verständnis der Informationen beim Patienten Für das Einverständnis: – Entscheidung – Autorisierung des Handlungsvorhabens

Legitime Ausnahmen vom Informed consent Bestimmte Lebenssituationen bedingen ihrem Wesen nach, dass die oben genannten Anforderungen oder ihre Implikationen, wie eine offene Gesprächssituation, ausreichend Zeit und die Bereitschaft und Befähigung der Teilnehmer zum Gespräch nicht gegeben sind. Sie werden als Ausnahmeregelungen 2 vom I. C. anerkannt. In dieser Hinsicht gelten eine Notfallsituation, mangelnde Entscheidungskompetenz (Giese 2001; Faden, Beauchamp 1986) und die Verletzung der Rechte Dritter (Giese 2001) als weitgehend unstrittig, während Uneinigkeit dahingehend herrscht, ob das »therapeutische Privileg« und der Teilnahmeverzicht als legitime Ausnahmen vom I. C. anzuerkennen sind. Ein medizinischer Notfall, der zeitnahen ärztlichen Handlungsbedarf erfordert, um Schaden von dem Betroffenen abzuwenden, ist häufig mit fehlender Kompetenz des Patienten /der Patientin, beispielsweise bei starken Schmerzen oder Schockzuständen, oder relevantem Zeitdruck verbunden. Ein Verzug der 2

Verschiedene Autoren führen unterschiedliche mögliche Ausnahmeregelungen vom I. C. auf. Die Notfallsituationen, das therapeutische Privileg und der Teilnahmeverzicht werden jedoch immer genannt. Vgl. Williams (2008); Faden, Beauchamp (1986); Dworkin (1988); Appelbaum et al. (1987); Giese (2001). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Einleitung der medizinischen Maßnahmen ist naturgemäß nicht möglich, da dem Patienten ansonsten gesundheitlicher Schaden oder gar der Tod droht. In diesem Fall darf, unter der Annahme, dass ein vernünftiger Mensch in alle Maßnahmen einwilligt, die geeignet sind, sein Leben zu erhalten und Schaden von ihm abzuwenden, die Zustimmung des Patienten implizit vorausgesetzt werden. Entscheidungs- und Verständniskompetenz gelten als grundlegende »Eingangsvorrausetzungen« für einen I. C. Sind sie nicht gegeben, 3 kann ein gültiger I. C. nicht zustande kommen, wobei nicht, wie beispielsweise bei der Notfallregelung, der behandelnde Arzt der Legitimierung durch Zustimmung enthoben ist, weil diese implizit vorausgesetzt werden kann. Vielmehr muss in diesem Fall die Zustimmung durch einen Stellvertreter erfolgen. Als weitere Ausnahme gilt die Verletzung der Rechte Dritter, da das selbstbestimmte Handeln einer Person generell ihre Grenzen an den berechtigten Interessen anderer findet. Das gilt auch in medizinischen Belangen, sodass Ärzte nicht kategorisch verpflichtet werden können, sich an Maßnahmen zu beteiligen, die sie für unzulässig halten oder deren Konsequenzen eine Gefahr für Dritte darstellen. Bei der umstrittenen Ausnahmeregelung des therapeutischen Privilegs wird davon ausgegangen, dass die Aufklärung selbst bei dem Patienten /der Patientin relevanten Schaden hervorruft, sodass sie zur Bedrohung für die Gesundheit oder gar das Leben des Betroffenen würde und daher zu unterlassen sei. Die Befürworter räumen dem Nichtschadensprinzip Vorrang vor der Patientenautonomie ein, während die Gegner sie als paternalistische Intervention ablehnen. Teilnahmeverzicht am Informed consent Ein Teilnahmeverzicht am I. C. liegt vor, wenn der Patient auf sein Recht auf informierte Zustimmung verzichtet. Hinsichtlich seiner Zulässigkeit als legitime Ausnahme vom I. C. besteht eine Kontroverse. In der wenig systematisch aufgearbeiteten Literatur sind dazu drei grundlegende Positionen 4 erkennbar: Die erste Position geht davon aus, dass es sich beim Teilnahmeverzicht um ein Scheinproblem handelt, da es prinzipiell keinen, vom Patienten intendierten, autonomen Teilnahmeverzicht an sich geben könne (Giese 2001). Ein Teilnahmeverzicht wäre demnach immer darauf zurückzuführen, dass der Patient nicht über sein Recht auf Aufklärung voll informiert sei, und daher gar nicht wisse, dass er überhaupt, und auf was er verzichte. Alternativ könne der vermeintliche »Teilnahmeverzicht« des Patienten auch auf Kommunikationsmängeln des Arztes oder psychologischen Ursachen beruhen. Beispielsweise beruhe die Annahme eines Teilnahmeverzichts durch den Arzt (fälschlicherweise) auf »nonverbaler« 3

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Wann Entscheidungs- oder Verständniskompetenz gegeben ist wird unterschiedlich bewertet, siehe beispielsweise Düwell (2008); Beauchamp, Childress (2009); Beauchamp, Faden (2004); Giese (2006) u. a. An dieser Stelle diskutieren die genannten Autoren nicht das »Recht auf Nichtwissen«, was m. E. aber für die Bewertung des Teilnahmeverzichts, i. e.S. des Informationsverzichts, relevant ist. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Kommunikation des Patienten oder auf so starken Ängsten des Patienten vor der erwarteten Information, dass der Patient deshalb auf jedes weitere Gespräch verzichten würde (Giese 2001). Die zweite Position (Barilan 2010) bezweifelt nicht, dass es einen autonomen Teilnahmeverzicht geben kann, erkennt diesen jedoch nicht als legitime Ausnahme vom I. C. an, da es eben gerade Sinn des Autonomieprinzips sei, über wichtige Fragen aus dem individuellen Kontext heraus selbst zu entscheiden, da Betroffene selbst am besten wüssten, was für sie gut sei. Beim Teilnahmeverzicht würde aber der Arzt /die Ärztin zum Entscheidungsträger und müsse für den Patienten entscheiden, wozu ihm /ihr schlicht die Kompetenz fehlte, was dem Sinn des Autonomieprinzips entgegenstünde. Hieraus folgt, dass der Arzt /die Ärztin – im Sinne eines paradoxen Paternalismus – aus dem Autonomieprinzip heraus aufgefordert wäre, auch gegen den Willen des Patienten dessen Teilnahme am I. C. einzufordern. Die dritte Position geht ebenfalls von der Möglichkeit eines autonomen Teilnahmeverzichts aus, bewertet diesen jedoch als legitime Ausnahme vom I. C., da der Patient / die Patientin als Ausdruck des Autonomieprinzips autonom auf seine /ihre Teilnahme verzichten könne und dürfe (Williams 2008; Appelbaum et al. 1987). Können Patient/-innen autonom auf den informed consent verzichten? Bei der Frage, ob es einen autonomen Teilnahmeverzicht gibt, muss aus ethischer Sicht gefragt werden, ob dem Verzicht selbstbestimmtes Handeln zugrunde liegen kann. Giese (Giese 2001) verneint diese Frage. Sie geht davon aus, dass ein Teilnahmeverzicht deshalb nicht autonom sein kann, da er bei den Betroffenen auf Unkenntnis ihrer Patientenrechte oder auf Kommunikationsmängeln beruhe. Giese legt in ihrer Argumentation damit aber schon implizit zugrunde, dass Patient/-innen immer am I. C. teilnehmen wollen. Es steht außer Frage, dass Kommunikationsmängel und auch Unwissen einen Teilnahmeverzicht des Patienten / der Patientin befördern und diesen möglicherweise sogar bedingen können. Daraus lässt sich aber keineswegs der Umkehrschluss folgern, dass es prinzipiell keinen autonomen Teilnahmeverzicht geben kann. Die Argumentation Gieses ist daher nicht geeignet auszuschließen, dass es einen autonomen Teilnahmeverzicht geben könne, denn das würde kategorisch voraussetzen, dass jeder Mensch immer, und unabhängig vom Kontext, autonom agieren wolle. Warum sollte ein Patient /eine Patientin nicht autonom entscheiden können, auf seine /ihre Teilnahme am I. C. zu verzichten? Der klinische Alltag spricht dafür. Ein Teilnahmeverzicht ist – in verschiedenen graduellen Abstufungen – faktisch ein häufiges Phänomen, wie auch die oben aufgeführte Patientenbefragung nahe legt. Allerdings muss, in Anbetracht der Bedeutung des I. C. als Schutz- und Abwehrrecht, als Vorrausetzung für die Bewertung eines Teilnahmeverzichts als legitime Ausnahme vom I. C. gelten (Appelbaum et al. 1987), dass der Teilnahmeverzicht selbst einer autonomen Entscheidung entspricht. Grundvoraussetzung für die Annahme eines autonomen Teilnahmeverzichts ist also, dass die Patient/ -innen wissentlich von dem ihnen zustehenden Recht, verständlich informiert zu werden, und ein geplantes medizinischen Vorgehen wirksam befürworten oder ablehnen zu dürfen, zurücktreten. Der Verzicht muss zudem frei und unabhänClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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gig sein. Wenn diese Grundvorrausetzungen gegeben sind, kann die Möglichkeit eines autonomen Teilnahmeverzichts prinzipiell angenommen werden. Formen des Teilnahmeverzichts Bei der Betrachtung des Teilnahmeverzichts ist es üblich, seine verschiedenen Varianten als eine Einheit 5 aufzufassen (Beauchamp, Childress 2009; Williams 2008; Appelbaum et al. 1987). Der Teilnahmeverzicht ist jedoch kein einheitliches Geschehen. Vielmehr gibt es unterschiedliche Formen des Teilnahmeverzichts. Aus der Art des Verzichts resultieren grundlegend unterschiedliche Konsequenzen. Daher ist es erforderlich zu ermitteln, auf welche Elemente des I. C. der Patient konkret verzichten will. Patienten können entweder auf die Informationselemente 6 oder die Einverständniselemente des I. C. verzichten, da die Grundvorrausetzungen, Kompetenz und Freiwilligkeit, ihrem Wesen nach nicht verzichtbar sind. Im ersten Fall, dem Informationsverzicht, verzichtet der Patient /die Patientin komplett oder teilweise auf Aufklärung oder Informationsübermittlung durch den Arzt /die Ärztin. Er /Sie möchte also beispielsweise nicht wissen, welche Risiken mit der Einnahme eines Medikamentes einhergehen oder welchen Erfolg die Durchführung einer Operation konkret verspricht. Beim Informationsverzicht kann der Patient /die Patientin aber theoretisch entscheiden, welche Maßnahme durchgeführt werden soll. Im zweiten Fall, dem Entscheidungsverzicht, möchte der /die Betroffene an der anstehenden Entscheidung nicht beteiligt werden. Hier soll der Arzt /die Ärztin alleine entscheiden, 7 welche möglichen Maßnahmen oder Interventionen durchgeführt werden sollen. Der Patient /die Patientin kann zuvor aber theoretisch ausführlich über die zur Wahl stehenden Optionen aufgeklärt worden sein. Beide Formen des Teilnahmeverzichts haben unterschiedliche Implikationen hinsichtlich der Ebenen und Auswirkungen des Verzichts, einer möglicherweise erforderlichen Behandlungsverzichtsnotwendigkeit und eines notwendigen Handelns Dritter. Daher müssen sie getrennt betrachtet und bewertet werden.

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Appelbaum, Lidz, Meisel beschreiben zwei mögliche Arten des Verzichts, bewerten diese aber nicht als jeweils eigene Variante, vgl. Appelbaum, Lidz, Meisel (1987, 70). Medizinische Information umfasst die Diagnose, die individuelle Prognose, die Aufklärung über relevante Aspekte der Erkrankung und die Aufklärung über Risiken und Nebenwirkungen sowie Erfolgschancen einer geplanten Therapie. Auf welche Information der Patient / die Patientin verzichten möchte, hat relevante Implikationen, was hier jedoch nicht Gegenstand der Diskussion sein soll. Die Frage, dass ein Patient an dieser Stelle auch einen familiären Stellvertreter benennen könnte, soll hier nicht diskutiert werden. Es geht vielmehr um die im klinischen Alltag häufig auftretende Situation des Teilnahmeverzichts in einem Arzt-Patienten-Gespräch ohne beteiligte Dritte. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Teilnahmeverzicht als Informationsverzicht Hinsichtlich der Zulässigkeit eines Informationsverzichts, kann es drei grundlegende Auffassungen geben: a) Der Informationsverzicht ist mit einem gültigen I. C. prinzipiell unvereinbar, muss aber als autonome Entscheidung des Patienten /der Patientin respektiert werden und führt dazu, dass die geplante medizinische Intervention unzulässig ist 8 und nicht durchgeführt wird, oder b) es gelten die Annahmen von a), da aber das Unterlassen der Maßnahme dem Benefizienzprinzip widerspricht, ist der Patient /die Patientin verpflichtet, ein gewisses Maß an Aufklärung – auch gegen seinen /ihren Willen – zu tolerieren, um einen gültigen I. C. möglich zu machen, oder c) der Informationsverzicht stellt tatsächlich eine legitime Ausnahmeregelung vom I. C. dar, sodass der I. C. an dieser Stelle zur Legitimation der medizinischen Maßnahme nicht erforderlich ist, da autonom auf ihn verzichtet wird. Der I. C. konkretisiert für die klinische Medizin das zentrale Prinzip der Patientenautonomie, nämlich die »individuelle Entscheidungshoheit in Fragen persönlicher Belange« (Schöne-Seifert 2007) auch hinsichtlich medizinischer Fragen zu verwirklichen. Verzichtet der Patient /die Patientin auf die ihm /ihr angebotene Information, entscheidet er /sie sich für eine »uninformierte« weitere Behandlung im Sinne seiner »individuellen Entscheidungshoheit«, was – unabhängig von der Frage, ob es ein Recht auf Nichtwissen gibt – dem Schutzund Abwehrrecht, welches durch den I. C. konkretisiert wird, eo ipso nicht widerspricht. Informiertheit aber ist ein konstituierender Bestandteil eines gültigen I. C. Welches Ausmaß an Informiertheit für einen gültigen I. C. zu fordern ist, kann unterschiedlich bewertet werden. Verzichtet der Patient /die Patientin aber auf alle Informationen, kann formal eine gültige informierte Zustimmung (I. C.) nicht angenommen werden, wenn auch ein autonomer consent möglich ist. Sofern ein Informationsverzicht keine legitime Ausnahme eines I. C. darstellt, wäre dann zwangsläufig auch die Legitimation der geplanten medizinischen Intervention nicht gegeben. Daraus wurde folgen, dass der Patient /die Patientin gegen seinen /ihren Willen aufgeklärt werden, oder die Intervention unterbleiben muss. Die Tatsache, dass informierte Patient/-innen eine höhere Compliance aufweisen und bei nahezu allen medizinischen Interventionen eine gewisse Mitarbeit des Patienten /der Patientin für ein Gelingen der Maßnahme erforderlich ist, würde ein solches Prinzip plausibel machen. Andererseits gründet aber die fehlende Aufklärung im Falle des Informationsverzichts auf einer autonomen Entscheidung des Patienten /der Patientin, die auf die Aufklärung und nicht auf die Ablehnung der medizinischen Maßnahme gerichtet ist. Nimmt man zudem an, dass es prinzipiell ein »Recht auf Nicht-

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Der Schlussfolgerung, dass ohne gültigen I. C. eine medizinische Maßnahme nicht durchgeführt werden darf, liegt keine logisch zwingende Kausalität zugrunde. Der I. C. als notwendige Legitimation einer medizinischen Maßnahme stellt jedoch das ethisch und rechtlich verbindliche Handlungsmodell in unserem Gesundheitswesen dar und wird aufgrund dieser Konvention daher hier als conditio sine qua non betrachtet. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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wissen« gibt 9, ist ein Informationsverzicht nicht nur zulässig, sondern quasi Teil der Patientenrechte und darf dann nicht direkt die Ablehnung einer vom Patienten /von der Patientin möglicherweise gewünschten medizinischen Maßnahme implizieren. Zudem widerspricht das Unterlassen einer objektiv notwendigen medizinischen Maßnahme, beispielsweise einer lebensrettenden Operation, direkt dem Wohl des Patienten /der Patientin. Aus einer Sicht der Fürsorge wäre es daher nicht zulässig, die Maßnahme zu unterlassen. In dieser Dichotomie zwischen Autonomie und Fürsorge ist es nicht zu begründen, warum dem Autonomieprinzip und seiner strikten Umsetzung als I. C., Vorrang eingeräumt werden muss, zumal der grundlegenden Forderung nach Autonomie durch das Angebot der Teilnahme am I. C. Rechnung getragen wurde. 10 Fürsorge und Autonomie sind nach Beauchamp und Childress (Beauchamp, Childress 2009) gleichwertige Prinzipien, die im jeweiligen Fall spezifiziert und gewichtet werden müssen. Im Fall des Informationsverzichtes könnte dem Fürsorgeprinzip ein größeres Gewicht zukommen, da Fürsorge größtmögliche Autonomie erst möglich macht. Allerdings muss im Hinblick auf die Auslegung des I. C. als »Zielbestimmung ärztlichen Handelns« (Düwell 2008) und Konkretisierung für Begriffe wie Menschenwürde und Individualrechte (Düwell 2008) gefragt werden, ob die Anerkennung und der Schutz dieser impliziten Werte den Arzt / die Ärztin zur Aufklärung, bzw. den Patienten /die Patientin zur Aufgeklärtheit, prinzipiell verpflichten. Das Autonomieprinzip verpflichtet den Arzt / die Ärztin nicht nur den Patienten /die Patientin so aufzuklären, dass dieser aus seinem individuellen Kontext heraus eine Entscheidung treffen kann, sondern auch zu einem Bemühen um die Förderung der Autonomie des Patienten /der Patientin. Daraus kann jedoch keine kategorische Pflicht zur Aufklärung oder Aufgeklärtheit hergeleitet werden, da die daraus folgende, »paradoxe« paternalistische Aufklärung gegen den Willen des Patienten /der Patientin eben gerade die individuelle Entscheidungshoheit in persönlichen Fragen des Patienten /der Patientin missachten würde. Unzweifelhaft leitet sich hieraus jedoch eine besondere Sorgfaltspflicht für den Arzt /die Ärztin hinsichtlich des Informationsangebots ab. Einen Informationsverzicht für den Einzelnen aber als unzulässig zu erklären oder daraus folgend die Durchführung der medizinischen Maßnahme auszusetzen, ist auch im Hinblick auf die negativen Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis abzulehnen. Ein solches Vorgehen widerspräche nicht nur dem Nichtschadens- und dem Benefizienzprinzip, sondern auch den genannten schützenswerten Rechten auf Individualebene. Vielmehr sollte der Informationsverzicht als Ausdruck von Autonomie und der Konkretisierung der Achtung der impliziten Werte des I. C. und des Respekts vor Selbstbestimmung aufgefasst werden und daher als legitime Ausnahmeregelung vom I. C. gelten, sofern der Arzt /die Ärztin sich um ein ausrei-

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Das »Recht auf Nichtwissen« wird aus dem Autonomieprinzip herleitet und wird insbesondere in Bezug auf genetische Befunde kontrovers diskutiert. Insbesondere, wenn das therapeutische Privileg als Ausnahmeregelung anerkannt wird, da dort der Patient /die Patientin nicht autonom über seine Aufklärung entscheiden darf. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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chendes Informationsangebot für den Patienten /die Patientin bemüht und hohe Anforderungen an die Autonomie des Informationsverzichtes selbst gestellt werden. Teilnahmeverzicht als Entscheidungsverzicht Für die Bewertung eines Entscheidungsverzichts müssen die Betrachtungsebenen auf Dritte erweitert werden. Im Gegensatz zum Informationsverzicht, bei dem es sich um eine selbstbestimmte Entscheidung handelt, die primär nur die entscheidende Person betrifft, verzichtet der Patient /die Patientin beim Entscheidungsverzicht auf das eigentliche Ergebnis des I. C., nämlich die (gemeinsame) Entscheidung. Daraus folgt zwangsläufig, dass dort das Handeln eines Anderen erforderlich wird oder implizit angenommen werden muss, dass ein Entscheidungsverzicht einer Ablehnung der vorgeschlagenen Maßnahme entspräche. Nach Appelbaum, Lidz und Meisel (Appelbaum et al. 1987) lässt sich der I. C. theoretisch mit einem konsequentialistischen und einem deontologischen Ansatz begründen. Ersterer geht davon aus, dass der I. C. gerade deshalb die optimale Form der Entscheidungsfindung ist, weil er seinem Wesen nach stets zum besten erreichbaren Ergebnis führt. Ein diesbezüglicher Konfliktfall muss als Hinweis auf eine unzureichende Durchführung des I. C. gewertet werden. Demgemäß wäre sowohl der Informations- als auch der Entscheidungsverzicht keine legitime Ausnahme vom I. C. Vielmehr müsste der Prozess des I. C. so lange weiter geführt werden, bis der Patient /die Patientin gemeinsam mit dem Arzt /der Ärztin eine informierte Entscheidung treffen kann. Die deontologische Begründung des I. C. basiert auf der Annahme, dass es keine objektiv »beste Lösung« geben kann und nur die Lösung, die einer autonomen Willensentscheidung des Patienten /der Patientin folgt, dem »besten« Vorgehen für den Patienten /die Patientin entspricht. Selbstbestimmung begründet daher Sinn und Wesen des I. C. Ein Informationsverzicht könnte danach zulässig sein, da er nicht zwingend Autonomie unterbindet, im Gegensatz zum Entscheidungsverzicht, der danach grundlegend dem Wesen des I. C. widerspräche. Eine Ausnahme wäre demgemäß nur dann zulässig, wenn eine autonome Willensentscheidung des Patienten /der Patientin nicht möglich ist. Sieht der Patient /die Patientin sich selbst nicht in der Lage, die vom Arzt /der Ärztin erhaltenen Informationen (die er /sie ohne Weiteres verstanden haben kann), im Hinblick auf die eigenen Werturteile zu beurteilen und zu bewerten, dann erfüllt er /sie möglicherweise formal nicht die geforderten Kriterien für Kompetenz und kann keine autonome Entscheidung treffen. In diesem Falle müsste – analog zu anderen Fällen der Inkompetenz 11 – eine implizite Zustimmung vorausgesetzt werden können oder die Entscheidungskompetenz an einen Stellvertreter /eine Stellvertreterin übertragen werden. Eine implizite Zustimmung könnte dann begründbar sein, wenn vorausgesetzt werden kann, dass alle vernünftigen Menschen nach den Regeln der medizinischen Kunst behandelt wer11

Wie beispielsweise bei der Notfallregelung. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

den wollen und ein Entscheidungsverzicht daher implizit einem solchen Vorgehen zustimmt. Dies könnte aber nur für Situationen angenommen werden, in denen ein bestimmtes Vorgehen medizinisch eindeutig zu bevorzugen ist. Dies ist gerade in Grenzsituationen häufig nicht der Fall, so dass ein Entscheidungsverzicht in diesen Situationen nicht als implizite Zustimmung (oder Ablehnung) einer Vorgehensweise aufgefasst werden kann. Der Arzt /die Ärztin als Stellvertreter /in Die Übertragung der Entscheidungskompetenz auf einen Stellvertreter /eine Stellvertreterin, beispielsweise in Form einer Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht, macht ihrem Wesen nach auch bei fehlender Beteiligung des Patienten /der Patientin einen legitimen I. C. möglich. Im klinischen Alltag erfolgt ein Entscheidungsverzicht häufig spontan innerhalb eines aktuellen Arzt-PatientenGespräches, sodass für diesen Fall zu fragen ist, ob eine Stellvertretung durch den Arzt /die Ärztin ethisch zulässig ist. 12 Ein legitimer I. C. schließt eine Beteiligung des Arztes an der Entscheidung keineswegs aus, im Gegenteil, der Arzt soll dem Patienten sogar ein Vorgehen empfehlen. Welches Ausmaß an ärztlicher Beteiligung akzeptiert werden kann, kann unterschiedlich bewertet werden. Eine gänzlich fehlende Beteiligung des Patienten ist aber seinem Wesen nach mit einem I. C. nicht vereinbar. Der Patient darf aber als legitime Ausübung seiner Autonomie für den Fall einer zu erwarteten Entscheidungsunfähigkeit, beispielsweise im Zusammenhang mit einer krankheitsbedingten Bewusstlosigkeit, einen Stellvertreter benennen. Warum soll ein Patient nicht auch autonom seinen Arzt als Stellvertreter benennen dürfen, wenn er sich entscheidungsunfähig fühlt, obwohl er bei Bewusstsein ist? Hier ist allerdings wichtig zu bedenken, dass sich der Arzt / die Ärztin für eine größtmögliche Förderung von Autonomie einsetzten sollte. Der Arzt /die Ärztin sollte daher versuchen, dem Patienten Hilfestellung zu leisten, doch zu einer eigenen Entscheidung zu finden. So hält Williams ein solches Vorgehen für eine legitime Ausnahme des I. C., eben wenn der Arzt /die Ärztin den Patienten aufgeklärt und zuvor versucht hat, den Patienten zu einer eigenen Entscheidung zu bewegen (Williams 2008). Dabei soll der Arzt /die Ärztin »zum Besten« des Patienten entscheiden. Ungeachtet der Frage, ob überhaupt jemand außer dem Patienten selbst entscheiden kann, was für ihn /sie das »Beste« ist, ist ein solches Vorgehen dann problematisch, wenn kein medizinisches Vorgehen eindeutig zu bevorzugen ist, und /oder mit der Maßnahme schwerwiegende Konsequenzen 13 oder hohe Risiken verbunden sind. Im ersten Fall wäre der Arzt /die Ärztin aufgefordert, eine Entscheidung ohne Beihilfe medizini12

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In vielen anderen Fällen wünscht sich der Patient in seiner Situation tatsächlich gerade seinen Arzt als Stellvertreter, weil er ihm beispielsweise eine hohe Entscheidungskompetenz zuspricht. Selbstverständlich kann in einer solchen Situation auch ein Stellvertreter aus dem Familien- oder Freundeskreis benannt werden, was aber nicht selten an den Umständen oder den Zeitvorgaben scheitert. Beispielsweise wenn es um die Frage geht, ob bei dem Rezidiv eines Plasmozytoms eine Knochenmarkstransplantation durchgeführt werden soll oder nicht. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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scher Entscheidungskriterien zu treffen und müsste nach seinem persönlichen Dafürhalten entscheiden. Dies wird von jedem Stellvertreter bei einem entscheidungsunfähigen Patienten verlangt. Für den Arzt /die Ärztin ergibt sich aber aus dem Arzt-Patienten-Verhältnis eine besondere Situation. Einerseits resultiert aus dem Benefizienzprinzip eine Fürsorgepflicht des Arztes /der Ärztin für seinen / ihren Patienten, aus der abgeleitet wird, dass der Arzt /die Ärztin sich an der Entscheidung beteiligt. Die Stellvertreterrolle beinhaltet aber auch rein persönliche Anteile, die sich nicht direkt aus dem professionellen Arzt-Patienten-Verhältnis ergeben, sodass eine kategorische Verpflichtung zur Stellvertretung nicht aus dem Arzt-Patienten-Verhältnis abgeleitet werden kann. Es ergibt sich aber genauso wenig direkt, dass eine Entscheidungsübernahme durch den Arzt /die Ärztin unzulässig wäre. Eine Unzulässigkeit könnte sich aber aus dem Autonomieprinzip ergeben. Die Stellvertretung durch den Arzt /die Ärztin ist nämlich, im Vergleich zu einer familiären Stellvertretung, dahingehend begrenzt, dass der Arzt / die Ärztin im Regelfall über die Werthaltungen des Patienten nicht vergleichbar informiert ist und daher nur sehr eingeschränkt »aus der Sicht des Patienten« entscheiden kann. Hier muss dann berechtigt gefragt werden, ob eine Entscheidungsübernahme durch den Arzt /die Ärztin dann nicht einer paternalistischen Intervention entspräche. Allerdings werden sogar starke paternalistische Entscheidungen dann als legitim vertreten, wenn das durch sie erkaufte Patientenwohl »groß und eindeutig ist, die Autonomieverletzung aber vergleichsweise geringfügig« ist (Schöne-Seifert 2007). Diese Verhältnismäßigkeit kann im Fall eines Entscheidungsverzichts angenommen werden, da die Stellvertretung durch den Arzt /die Ärztin autonom gewünscht ist und der Patient subjektiv davon profitiert. Eine Stellvertretung durch den Arzt /die Ärztin kann daher als zulässig bewertet werden, sofern der Arzt /die Ärztin ihr zustimmt, woraus sich auch unter Ansehen der ärztlichen Fürsorge eine Zulässigkeit des Entscheidungsverzichts als legitime Ausnahme vom I. C. ableiten lässt. Resümee: Zur Legitimität des Teilnahmeverzichts Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, dass sowohl der Informationsverzicht als auch der Entscheidungsverzicht als Unterformen des Teilnahmeverzichts – auch im Licht des Autonomieprinzips – begründbar als legitime Ausnahmen des I. C. gelten können. Diese Auffassung vertritt beispielsweise auch Dworkin (Dworkin 1988), der im Teilnahmeverzicht generell keine Verletzung des Autonomieprinzips sieht. Er geht davon aus, dass Patienten ebenso autonom sein können, wenn sie entscheiden dem zu folgen, was der »Doktor« empfiehlt (Dworkin 1988). In dieser Hinsicht ist natürlich kritisch zu fragen, ob tatsächlich ein Entscheidungsverzicht vorliegt, wenn der Patient den Empfehlungen seines Arztes folgt. Möchte der Patient /die Patientin allerdings autonom nicht aufgeklärt oder tatsächlich nicht an der Entscheidung beteiligt werden, so kann aus dem Autonomieprinzip für einen gültigen I. C. kein »paradoxer« Paternalismus, also die Verpflichtung des Arztes /der Ärztin zur Erwirkung einer PatientenTeilnahme am I. C. gegen dessen Willen, oder eine kategorische Verpflichtung zur Teilnahme am I. C. für den Patienten, begründet werden. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Werden der autonome Informations- oder der Entscheidungsverzicht als zulässige Ausnahmeregelung vom I. C. anerkannt, ist zu bedenken, dass hier generell paternalistischen Grundhaltungen potentiell ein schwer zu kontrollierendes Einfallstor geöffnet wird. Beauchamp und Childress schlagen an Hand des Beispiels eines Zeugen Jehovas, der nicht über die Risiken einer Operation aufgeklärt zu werden wünscht, vor, einen solchen Fall einem klinischen Ethikkomitee zur Entscheidung vorzutragen (Beauchamp, Childress 2009). Ob eine solche Forderung für alle oder nur für schwierige Fälle eines Teilnahmeverzichts gelten sollte, ist aufgrund der hohen logistischen und zeitlichen Anforderungen fraglich. Als Alternativlösung bietet sich die Vorstellung des Falles auf einer interprofessionellen Konferenz 14 oder die Einberufung einer Familienkonferenz an. Als wichtiger prinzipieller Einwand gegen ein solches Vorgehen muss aber gelten, dass der Patient ja gerade seinem Arzt /seiner Ärztin aufgrund eines besonderen Vertrauensverhältnisses die Entscheidung überträgt. Es muss daher sorgfältig geprüft werden, ob nicht die Weiterleitung auf andere direkt dem Patientenwillen widerspricht. In jedem Fall aber leitet sich aus dem Autonomieprinzip eine besondere Sorgfaltspflicht für den Arzt /die Ärztin ab, den Patienten über seine Rechte aufzuklären, den Wert des Autonomieprinzips und die Sinnhaftigkeit eines I. C. darzulegen und über die Möglichkeiten einer Stellvertretung sowie der Einschränkungen einer Entscheidungsübernahme durch den Arzt /die Ärztin sorgfältig aufzuklären. 15 Literatur Appelbaum PS, Lidz CW, Meisel A (1987) Informed consent. Legal theory and clinical practice. Oxford University Press, New York /Oxford Barilan MY (2010) Informed consent: between waiver and excellence in responsible deliberation. In: Medicine, Health Care and Philosophy 13: 89–95 Beauchamp TL, Childress JF (2009) Principles of Biomedical Ethics. 6. Aufl., Oxford University Press, New York /Oxford Beauchamp TL, Faden RR (2004) Informed consent. II. Meaning and Elements. In: Post SG (Hrsg.) Encyclopedia of Bioethics, 3. Aufl., Macmillan Reference Lib, New York, 1277–1280 Böhme G (2009) Der mündige Patient. In: Böhme G (Hrsg.) Der mündige Mensch. Denkmodelle der Philosophie, Geschichte, Medizin und Rechtswissenschaft. WBG, Darmstadt, 143–155 Düwell M (2008) Bioethik. Methoden, Theorien und Bereiche. Metzler, Stuttgart / Weimar Dworkin G (1988) The theory and practice of autonomy. Cambridge University Press, Cambridge 14

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Eine solche interprofessionelle Konferenz wäre beispielsweise ein interdisziplinäres Tumorboard. Auf die möglichen juristischen Implikationen, beispielsweise ob dann mit dem Teilnahmeverzicht auch ein Verzicht auf spätere Klagen verbunden sein könnte (was erhebliche Probleme hinsichtlich der Sittenwidrigkeit aufwerfen könnte), soll hingewiesen werden. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Faden R, Beauchamp TL (1986) A history and theory of informed consent. Oxford University Press, Oxford Giese C (2001) Die Patientenautonomie zwischen Paternalismus und Wirtschaftlichkeit: das Modell des »informed consent« in der Diskussion. In: Autiero A, Römelt J (Hrsg.) Studien der Moraltheologie, Band 22 . LIT, Münster /Hamburg /London Schöne-Seifert B (2007) Grundlagen der Medizinethik. Kröner, Stuttgart Williams JR (2008) Consent. In: Singer PA, Viens AM (Hrsg.) The Cambridge Textbook of Bioethics. Cambrige University Press, Cambridge, 11–16

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Jan Schildmann, Jochen Vollmann

Medizinische Indikation und Patientenwille Eine qualitative Interviewstudie mit onkologisch tätigen Ärzten zur Entscheidungsfindung bei Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen 1 Hintergrund Der Patientenwille und die medizinische beziehungsweise ärztliche Indikationsstellung bilden die Grundlage für Entscheidungen über die Durchführung beziehungsweise Begrenzung medizinischer Maßnahmen am Lebensende (Schöne-Seifert 1989; Vollmann 2008). Entsprechend der aktuellen standesethischen Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung sind »Art und Ausmaß einer Behandlung [. . .] gemäß der medizinischen Indikation vom Arzt zu verantworten. Er muss dabei den Willen des Patienten achten.« (Bundesärztekammer 2011). Der Stellenwert des Patientenwillens, der Verantwortungsbereich von Arzt 2 und Patient bei Entscheidungen über diagnostische und /oder therapeutische Maßnahmen sowie die Zuordnung der Kontrolle bei Entscheidung in der Arzt-Patient-Beziehung (locus of control) sind Gegenstand einer Vielzahl ethisch-normativer Analysen in den letzten Dekaden (Brody 1980; Emanuel, Emanuel 1992; Siegler 1985). In Abgrenzung zu ethisch-normativen Modellen der Entscheidungsfindung, die auf die vorstehend genannten Charakteristika fokussieren (z. B. Modell der informativen oder paternalistischen Entscheidungsfindung), betonen Charles et al. (1997) in ihrem Modell des »shared decision making« den Prozess der Entscheidungsfindung. Nach diesem Konzept steht die Gestaltung des Austausches von medizinisch fachlicher Information sowie persönlichen Präferenzen und Wertvorstellungen zwischen Arzt und Patient im Vordergrund. Ziel ist eine Therapieentscheidung, die beide Parteien als Ergebnis ihrer »Verhandlung« (negotiation) akzeptieren (siehe Tab. 1) (Charles et al. 1997; Isfort et al. 2002). Im Unterschied zu den Modellen der paternalistischen oder informativen Entscheidungsfindung bleibt offen, wer im Fall konfligierender Präferenzen und Wertvorstellungen die Verantwortung für die Entscheidung in der ArztPatient-Beziehung trägt.

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Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine modifizierte Fassung der folgenden Originalarbeit: Schildmann J, Vollmann J (2010) Behandlungsentscheidungen bei Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen: eine empirisch-ethische Untersuchung zur ärztlichen Indikationsstellung und Entscheidungsfindung. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 135: 2230– 2234. Im vorliegenden Beitrag wird aus Gründen der gebotenen Kürze und Lesbarkeit zur Bezeichnung gemischtgeschlechtlicher Gruppen die männliche Form verwendet. Gemeint sind stets beide Geschlechter, hier z. B. Ärztin und Arzt. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Tab. 1: Idealtypische Darstellungen der Entscheidungsfindung (in Anlehnung an Emanuel und Emanuel 1992 und Isfort et al. 2002) Paternalistische Entscheidungsfindung

Informierte Entscheidungsfindung

Partizipative Entscheidungsfindung

Werte des Patienten

Objektiv und von Arzt und Patient geteilt

Definiert, stabil und dem Patienten bekannt

Werden in der Verhandlung zwischen Arzt und Patient geklärt und in die Entscheidung einbezogen

Aufgabe des Arztes

Bestmögliche Fürsorge unabhängig von Präferenzen des Patienten

Übermitteln relevanter Informationen und Umsetzung des PatientenWillens

Klärung der Präferenzen des Patienten und Abstimmung dieser mit medizinisch relevanten Fakten

Informationsfluss

Patient → Arzt

Patient ← Arzt

Patient ↔ Arzt

Steuerung des Prozesses der Entscheidungsfindung

Arzt

Patient

Arzt und Patient

Verantwortung für Entscheidung

Arzt

Patient

Arzt und Patient

Empirische Untersuchungen zeigen, dass viele Patienten mit schwerwiegenden beziehungsweise lebensbegrenzenden Erkrankungen sich entweder eine gemeinsame Entscheidungsfindung mit ihrem Arzt wünschen oder die Verantwortung für Entscheidungen über weitere diagnostische und therapeutische Maßnahmen an den Arzt delegieren (Frosch, Kaplan 1999; van Oorschot 2004). Vor diesem Hintergrund kommt der Indikationsstellung in der klinischen Praxis eine zentrale Bedeutung für die Durchführung beziehungsweise Begrenzung medizinischer Maßnahmen zu. Medizinische Maßnahmen, die aus ärztlicher Perspektive als indiziert erachtet und empfohlen werden, werden sehr häufig auch durchgeführt. Im Unterschied zu konzeptionellen Analysen zur medizinischen beziehungsweise ärztlichen Indikationsstellung am Lebensende (Übersicht bei Gahl 2005; Neitzke 2008) liegen nur wenige empirische Untersuchungen vor, in denen die Kriterien für die Indikationsstellung sowie die Wahrnehmung und Bewertung der Entscheidungsfindung bei lebensbegrenzenden Krebserkrankungen untersucht werden. Im Rahmen von quantitativen Umfragen wurden der Erkrankungszustand, Leitlinien zur Behandlung von Erkrankungen und das Alter des Patienten als Kriterien für ärztliche Entscheidungen über die Durchführung beziehungsweise Begrenzung von Maßnahmen in der letzten Lebensphase ermittelt (Baberg et al. 2002; Bosshard et al.2005; Farber et al. 2006; Hinkka Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

et al. 2002). Ein methodisch bedingter Nachteil quantitativer Umfragen besteht darin, dass die erhobenen Informationen auf der Grundlage vorab definierter Kategorien gewonnen werden. Eine detaillierte Rekonstruktion der Indikationsstellung und Entscheidungsfindung Entscheidungen unter Einbeziehung informeller Erfahrungen, Kenntnisse und Wertungen aus ärztlicher Perspektive erfordert den Einsatz qualitativer Forschungsmethoden. In diesem Beitrag werden Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie mit onkologisch tätigen Ärzten vorgestellt. Ziel der Interviewstudie ist die Darstellung der Indikationsstellung und der Entscheidungsfindung bei Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen aus ärztlicher Perspektive. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen folgende Fragestellungen: – Welche Kriterien nennen onkologisch tätige Ärztinnen und Ärzte für die Indikationsstellung bei Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen? – Wie wird der Entscheidungsfindungsprozess zwischen Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen und Ärzten aus Perspektive der Befragten wahrgenommen und bewertet? Die Forschungsergebnisse aus der qualitativen Interviewstudie werden vor dem Hintergrund ethisch-normativer Argumentationen und empirischer Daten zur Indikationsstellung und dem Patientenwillen bei Entscheidungen am Lebensende diskutiert. Studienteilnehmer und Methoden Die im Rahmen der Untersuchung befragten Ärzte arbeiteten in stationären beziehungsweise ambulanten Einrichtungen mit einem Schwerpunkt im Fachgebiet der Hämatologie und Onkologie. Ausgehend von einer Konvenienzstichprobe, die durch die Vermittlung über dem Erstautor persönlich bekannter Ärztinnen und Ärzte gewonnen werden konnte, wurden im Verlauf des Forschungsprojekts potentielle Studienteilnehmer auf der Grundlage von »snowball sampling« (Gewinnung neuer Studienteilnehmender auf der Grundlage von Empfehlung von Ärzten, die bereits an der Studie teilgenommen haben) beziehungsweise »purposive sampling« (Auswahl von Studienteilnehmenden anhand von Kriterien, die sich in der Auswertung vorangegangener Interviews als möglicherweise relevant für die Studienergebnisse herausgestellt haben) kontaktiert 3. Die Forschungsinterviews wurden auf der Grundlage eines semistrukturierten Leitfadens (auf Anfrage bei den Autoren erhältlich) geführt, der unter Berücksichtigung veröffentlichter empirisch-ethischer Arbeiten zur ärztlichen Handlungspraxis am Lebensende erstellt wurde (Bosshard et al. 2005; Hurst et al. 2007; Schöne-Seifert 1989). Die auf Tonband aufgezeichneten Interviews wurden wörtlich transkribiert, anonymisiert und einer Datenkontrolle unterzogen. Die Interviewtranskripte wurden anschließend systematisch nach ausge3

Das Forschungsvorhaben wurde von der Ethikkomission der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum begutachtet (AZ 2749-06). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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wählten Prinzipien der »Grounded Theory« in der Version von Strauss und Corbin (1996) analysiert (Strauss, Corbin 1996). In einem ersten Analyseschritt wurden thematisch ähnliche Interviewabschnitte mit sogenannten »Codes« belegt. Im Rahmen eines iterativen Prozesses von Datenerhebung und Dateninterpretation wurden im weiteren Verlauf bereits kodierte Interviews mit den Transkripten neuer Interviews verglichen und je nach Inhalten die bestehenden Codes modifiziert beziehungsweise neue Codes gebildet. Im Zuge eines weiteren Analyseschrittes wurden thematisch ähnliche oder sich aufeinander beziehende Konzepte in übergeordneten »Kategorien« beziehungsweise »Subkategorien« zusammengefasst. Die Datenerhebung wurde beendet, nachdem die Durchführung neuer Forschungsinterviews keine neuen Erkenntnisse hinsichtlich der Forschungsfragen erbrachte (theoretische Sättigung). Die einzelnen Arbeitsschritte wurden in sogenannten »Memos« schriftlich und mit dem Ziel einer angemessenen Transparenz des Forschungsprozesses festgehalten. Die vorliegende Arbeit fokussiert sich auf die Interviewpassagen, in denen die Kriterien und der Prozess der Entscheidungsfindung über die Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen exploriert werden. In Ergänzung zu den im Forschungsprozess entwickelten Codes und Kategorien werden im Ergebnisteil ausgewählte Interviewpassagen wiedergegeben, in denen nach Einschätzung der Autoren wesentliche Inhalte prägnant enthalten sind. Die Auswertung erfolgte computergestützt mithilfe eines Programms zur Analyse qualitativer Daten (Atlas.ti 6). Ergebnisse Studienteilnehmer Es wurden 17 Forschungsinterviews mit einer Gesprächsdauer von mindestens 27 und maximal 73 Minuten geführt. Zwei der befragten Ärzte waren zum Zeitpunkt der Interviews auf einer Palliativstation tätig. Tabelle 2 (folgende Seite) fasst ausgewählte soziodemografische Daten der Studienteilnehmer zusammen. Grundlagen ärztlicher Behandlungsentscheidungen bei fortgeschrittenen Tumorerkrankungen Die zur Verfügung stehenden Therapieoptionen, der klinische Zustand des Patienten und der bisherige Krankheitsverlauf wurden im Rahmen der qualitativen Auswertung der Kategorie medizinische Kriterien als eine von den Ärzten genannte Grundlage für Entscheidungen über die Durchführung beziehungsweise Begrenzung medizinischer Maßnahmen zugeordnet. Im Hinblick auf die Begründung von Entscheidungen zugunsten einer Begrenzung onkologischer Therapieverfahren wurden von den befragten Ärzten die möglichen unerwünschten Wirkungen und das mit einer Behandlung verbundene Risiko für Gesundheit und Leben hervorgehoben. Während das chronologische Alter als Entscheidungskriterium in den Forschungsinterviews ausnahmslos abgelehnt wird, ist das biologische Alter im Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Tabelle 2: Ausgewählte soziodemografische Merkmale der Studienteilnehmenden (N= 17) Geschlecht

Männlich Weiblich

7 10

Alter

30–35 Jahre 36–50 Jahre 51–65 Jahre

5 8 4

Dienstbezeichnung

Assistenzarzt Oberarzt Chefarzt Facharzt in Praxis

8 6 2 1

Tätigkeitsbereich

Stationär Ambulanz Praxis

15 1 1

Palliativmedizinische Zusatzbezeichnung

Erworben Nicht erworben

5 12

Sinne des Gesundheitszustand des individuellen Patienten im Vergleich zum Durchschnitt von Patienten mit dem gleichen Alter, aus der Perspektive der Befragten ein wichtiges klinisch-medizinisches Kriterium, das Auskunft über die voraussichtliche Verträglichkeit und die Erfolgschancen einer Behandlung gibt. Arzt: »Na ja beim Jüngeren [. . .] der packt vielleicht auch noch etwas besser noch eine Chemo-, noch seine letzte Chemo-. Während beim Älteren kann man besser sagen, okay das ist sowieso, das Herz packt das nicht mehr oder die Nierendosis ist erreicht [. . .] dass man sich da leichter tut zu sagen, nein also das macht jetzt keinen Sinn.« (EOL D 5)

Das Alter wird von den Befragten allerdings auch als nicht-medizinisches Kriterium im Zusammenhang mit der Wahrnehmung und Bewertung der Lebenssituation des Patienten genannt. Diese Kategorie umfasst neben dem Alter im Sinne der aktuellen Lebensumstände des Patienten auch Aussagen zu bestehenden (familiären) Bindungen und Verpflichtungen, die nach ärztlicher Wahrnehmung relevant für Behandlungsentscheidungen bei fortgeschrittenen Tumorerkrankungen sind. Arzt: »Sicherlich ist man dazu geneigt, andersrum gesagt, 35-Jährige haben ja meistens das Problem, dass Kinder und Ehefrauen oder Ehepartner da sind [. . .] wo auch der Patient mehr noch am Leben, ich sag mal im Leben steht, als ein 65-Jähriger. [. . .], dass eher geneigt ist, einen jüngeren, in dem Fall jüngeren Patienten bei sonst gleichen Voraussetzungen aggressiver zu behandeln als einen älteren Patienten.« (EOL D 7)

Die Qualität der Arzt-Patient-Beziehung wird als weiterer nicht-medizinischer Einflussfaktor auf ärztliche Behandlungsentscheidungen benannt. Eine aus ärztClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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licher Perspektive enge Arzt-Patient-Beziehung beziehungsweise die Identifikation mit der Lebenssituation des Patienten erschweren demnach ärztliche Entscheidungen zur Begrenzung medizinischer Maßnahmen. Arzt: »Wobei [. . .] meine persönliche Beziehung zu, sicherlich auch eine Rolle spielt, ich versuch die zwar zu hinterfragen, aber. Ich hatte jetzt in dem, gerade im letzten Jahr, drei junge Patienten, die fast Söhne und Töchter von mir hätten sein können und die sich alle für möglichst lange Therapien entschieden haben. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit ich sie nicht unbewusst beeinflusst habe. Das wir wirklich jegliche Antikörpertherapie alles versucht haben.« (EOL D 15)

Die klinische Kompetenz als ärztliche Fähigkeit, die medizinischen Kriterien angemessen zu interpretieren, wird insbesondere von den Ärzten mit einer längeren Berufserfahrung (Oberarzt, Chefarzt) als Entscheidungskriterium reflektiert. Im Vergleich zum Beginn ihrer Weiterbildungszeit sehen sich diese Befragten eher in der Lage, Situationen zu erkennen, in denen eine Begrenzung medizinischer Maßnahmen aufgrund mangelnder Erfolgschancen angemessen ist. Unter der Kategorie situative Faktoren wurden sowohl Aussagen zur Bedeutung des zeitlichen Rahmens, in dem Behandlungsentscheidungen am Lebensende getroffen werden müssen, als auch die vor Ort zur Verfügung stehenden medizinischtechnischen Optionen zusammengefasst. In Situationen einer raschen beziehungsweise unerwarteten Verschlechterung des Gesundheitszustandes wird nach Erfahrung der Befragten auch im Falle einer fortgeschrittenen Tumorerkrankung zunächst zugunsten einer Intensivierung medizinischer Maßnahmen entschieden. Arzt: »Wenn jemand jetzt z. B. Thoraxschmerzen und er hat eine Lungenembolie, einen Herzinfarkt, dann ist mir in dem Moment relativ egal, wie der Status von dem Tumor ist, weil man will irgendetwas tun, man geht auf Intensiv.« (EOL D 6)

Patientenwille und Entscheidungsfindung Die im Rahmen dieser Untersuchung befragten Ärzte berichteten übereinstimmend, dass nur wenige Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen spontan und explizit ihren Willen bei anstehenden Behandlungsentscheidungen äußern. Ausgenommen von dieser als typisch geschilderten Erfahrung werden zwei Situationen, in denen der geäußerte Patientenwille der ärztlichen Behandlungsempfehlung entgegensteht. Zum einen betrifft dies Situationen, in denen Patienten entgegen dem ärztlichen Therapievorschlag eine (weitere) Therapie ablehnen (Ablehnung ärztlich empfohlener Therapieverfahren). Zum anderen gibt es nach Aussagen der Befragten Entscheidungsfindungssituationen, in denen eine weitere Therapie der Tumorerkrankung nach ärztlichem Ermessen nicht erfolgversprechend erscheint, der Patient aber beispielsweise eine weitere Chemotherapie wünscht (Therapiewunsch entgegen ärztlicher Empfehlung). Dem Wunsch des Patienten wird in diesen Situationen Priorität eingeräumt, sofern die entsprechende Behandlung dem Patienten keinen Schaden zufügt. Arzt: »Wenn der Patient dies von mir wünscht, dass noch weitere Versuche unternommen werden, auch wenn sie nur eine geringe Chance bieten, und er in einem Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

solchen Allgemeinzustand ist, dass man das auch befürworten kann, dann würde ich dem nachgeben.« (EOL D 9)

In Abgrenzung zu den vorstehend als Ausnahmen beschriebenen Situationen, in denen der Patientenwille die Entscheidungsfindung leitet, vertraut nach Einschätzung der Befragten die Mehrheit der Patienten der ärztlichen Empfehlung und willigt in das vorgeschlagene Vorgehen ein. Entscheidungen über eine Begrenzung medizinischer Maßnahmen in der letzten Lebensphase fallen demnach auch häufig in einer Art stillem Einverständnis. Arzt: »Man muss nicht immer alles verbalisieren, es ist ja vieles so unterschwellig. Und genau das mit dem ersten Patienten, das sich dann schleichend über ein paar Wochen hingezogen hat, wo er auch dann selbst nicht mehr nachgefragt hat. [. . .], da muss man dann gar nicht mehr groß darüber sprechen, sondern das war eigentlich damit klar, für ihn auch, wenn man keine Therapie mehr macht [. . .]« (EOL D 6)

Dagegen wird das offene Gespräch mit Patienten über die Behandlungsbegrenzung von den Befragten als schwierige Aufgabe wahrgenommen, die nach Wahrnehmung einiger Studienteilnehmer gelegentlich dadurch umgangen wird, dass dem Patienten noch eine Behandlung in Aussicht gestellt wird, obgleich dies aus fachlicher Perspektive fragwürdig erscheint (Behandlungsangebot statt Gespräch über Behandlungsbegrenzung). Arzt: »Ich habe den Eindruck, dass viele Kollegen einfach froh sind, wenn sie wenigstens ein bisschen was tun können [. . .] ich habe den Eindruck, dass so Entscheidungen, wollen wir das jetzt noch machen oder wollen wir es nicht machen, und die auch mit dem Patienten zu kommunizieren, und ihn wirklich einzubeziehen in die Therapieentscheidung, dass das da doch sehr zögerlich gehandhabt wird.« (EOL D 13)

Im Unterschied zu dem vorstehend skizzierten Typus der Entscheidungsfindung im »stillen Einverständnis« beschreibt eine Teilgruppe der Befragten eine proaktive Herangehensweise an die Entscheidungsfindung mit dem Ziel der Einbeziehung des Patienten in die Entscheidungsfindung. Persönliche Werthaltungen des Arztes, die Ausbildung kommunikativer Kompetenzen sowie das Behandlungssetting (Palliativstation versus Akutstation) werden als Gründe für dieses Vorgehen bei der Entscheidungsfindung genannt. Arzt: »In der [palliativmedizinischen] Ausbildung wurde ganz viel Wert darauf gelegt auf den Bereich Kommunikation. [. . .] Und dass ich versuche, durch Gespräche mir möglichst klar darüber zu werden, was derjenige jetzt eigentlich von mir möchte, und wie man das bereitstellen kann.« (EOL D 9) Arzt: »Natürlich haben wir es auch noch einmal ein kleines Stück leichter als die Onkologen. Denn in dem Moment, wo ein Patient aus der Onkologie auf die Palliativstation kommt, sind ja auch schon vorher Entscheidungen gefallen.« (EOL D 13)

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Diskussion In dieser Untersuchung wurden nach Kenntnis der Autoren erstmals im deutschsprachigen Raum im Rahmen einer qualitativen Untersuchung onkologisch tätige Ärzte zur Indikationsstellung und Entscheidungsfindung bei lebensbegrenzenden Erkrankungen befragt. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass es sich um eine kleine, nicht repräsentative Stichprobe von onkologisch tätigen Ärzten handelt. Die gewonnenen Ergebnisse können daher nicht auf die gesamte Gruppe onkologisch tätiger Ärzte übertragen werden. Weiterhin muss neben einer Ergebnisverzerrung durch sozial erwünschte Antworten auch bedacht werden, dass die vorgestellten (Sub-)Kategorien das Ergebnis von Setzungen durch die Autoren und durch weitere an der Diskussion beteiligte Wissenschaftler im Verlauf des Forschungsprozesses darstellen. Die vorstehend genannten Einschränkungen wurden in Kauf genommen, da das gewählte qualitative Studiendesign die Möglichkeit bietet, komplexe Sachverhalte, wie die ärztliche Entscheidungsfindung, detailliert zu explorieren (Baberg et al. 2002; Bosshard et al.2005; Farber et al. 2006; Hinkka et al. 2002). Auf diese Weise kann informelles Expertenwissen der aktuellen Diskussion über medizinische und ethische Aspekte der Indikationsstellung und Entscheidungsfindung am Lebensende zugeführt werden (Albisser, Reiter-Theil 2007; Sulmasy 2007; Winkler et al. 2009). Grundlagen ärztlicher Behandlungsentscheidungen bei fortgeschrittenen Tumorerkrankungen In Übereinstimmung mit internationalen Forschungsergebnissen (Hinkka et al. 2002; Leeuwen van et al. 2004) sind die von den onkologisch tätigen Ärzten genannten Entscheidungsgrundlagen für die Indikationsstellung am Lebensende vielfältig und umfassen neben objektiven medizinischen Parametern auch die ärztliche Bewertung der Lebenssituation des Patienten. Exemplarisch hierfür steht das in mehreren Interviews beschriebene Szenario der »jungen Mutter«. Die befragten Ärzte fühlten sich angesichts einer solchen Lebenssituation auch im weit fortgeschrittenen Stadium einer Erkrankung aufgefordert, ein Behandlungsangebot zu machen. Das vergleichsweise junge Alter der Patientin – in Abgrenzung zu älteren Patienten – sowie die Rolle der Patientin als Mutter werden hierfür als Begründung genannt. In Zusammenschau mit den weiteren nicht-medizinischen Kriterien (u. a. situative Faktoren, Nähe der Arzt-PatientBeziehung) weicht die in dieser Untersuchung rekonstruierte ärztliche Indikationsstellung von der gelegentlich auch mit dem Begriff der »medizinischen Indikation« transportierten Vorstellung eines rein naturwissenschaftlich-technischen Vorgangs ab (Übersicht bei Gahl 2005; Neitzke 2008). Das von den Ärzten als Entscheidungsgrundlage referierte Kriterienspektrum bietet Anknüpfungspunkte für eine kritische Analyse ethisch relevanter Aspekte des für die klinische Praxis zentralen und zwischenzeitlich auch in die gesetzliche Regelung zu Patientenverfügungen eingeführten Indikationsbegriffs (BGB § 1901b (1)). Mit Blick auf die im Rahmen der qualitativen Analyse identifizierten Werturteile im Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Zusammenhang mit der ärztlichen Indikationsstellung und vor dem Hintergrund ethisch normativer Anforderungen an die Gestaltung der Entscheidungsfindung scheint die Explizierung ärztlicher Bewertungen, wie dies im Modell der Partizipativen Entscheidungsfindung (Charles et al. 1997) (siehe Tab. 1) oder auch in dem von Emanuel und Emanuel formulierten Modell der deliberativen Entscheidungsfindung (Emanuel, Emanuel 1992) beschrieben wird, von zentraler Bedeutung für eine ethisch angemessene Entscheidungsfindung. Die Engführung fachlicher Erwägungen und persönlicher Bewertungen im Rahmen der Indikationsstellung kann dazu führen, dass Entscheidungskriterien, die in Abhängigkeit von den Präferenzen und Werthaltungen des einzelnen Patienten unterschiedlich gewichtet werden könnten, für diesen nicht transparent sind. Der Verzicht auf jegliche ärztliche Bewertungen bei der Darlegung der verschiedenen Handlungsoptionen, wie dies im Modell der informativen Entscheidungsfindung gefordert wird, erscheint dagegen aus wenigstens zwei Gründen problematisch. Zum einen erscheint eine »neutrale« Darlegung von Informationen schwerlich umzusetzen. Zum anderen hätte ein Verzicht auf ärztliche Bewertungen auch zur Folge, dass für den Patienten potentiell wichtige Informationen verloren gehen können. Dies gilt beispielsweise für praktischer Erfahrungen beziehungsweise Beobachtungen des Arztes bezüglich der praktischen Konsequenzen von Entscheidungen für ein bestimmtes Vorgehen, die eine Grundlage für ärztliche Empfehlungen darstellen. Patientenwille und Entscheidungsfindung Die in den Interviews als typisch dargestellte Entscheidungsfindung im »stillen Einverständnis« ähnelt einem paternalistischen Vorgehen, bei dem der Arzt auf der Grundlage seiner Expertise und Einschätzung zum Wohl des Patienten entscheidet (siehe Tab. 1). Dieses Vorgehen wird von den Befragten auch mit dem sich oft über einen längeren Zeitraum erstreckenden Austausch zwischen Arzt und Patient begründet. Hier ist allerdings zu bedenken, dass auch in der letzten Lebensphase Unterschiede zwischen Präferenzen der Patienten einerseits und der ärztlichen Einschätzung andererseits bestehen (Farber et al. 2006; Hinkka et al. 2002; Winkler et al. 2009). Es scheint fraglich, ob die Dauer der ArztPatient-Beziehung ausreicht, um hinreichend Kenntnisse über die Präferenzen und Erwartungen der Patienten zu gewinnen. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Präferenzen von Patienten hinsichtlich der Gestaltung der Information und Entscheidungsfindung sich im Verlauf von Erkrankung verändern können (Schildmann et al. 2008).Schließlich könnte der Verweis auf ein »stilles Einverständnis« als der Versuch der Rechtfertigung gewertet werden, um mögliche Konflikte in der Arzt-Patient-Beziehung angesichts einer ohnehin für alle Beteiligten schwierigen Konstellation nicht thematisieren zu müssen. Neben der vorstehenden Kritik am »stillen Einverständnis« ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass eine explizite Diskussion über Erkrankung, Behandlungsoptionen und Prognose gerade in der letzten Lebensphase nicht von allen Patienten gewünscht wird (Oorschot van 2004). Weiterhin erleben die Beteiligten die Aufklärung und Entscheidungsfindung häufig als Prozess, sodass die Darstellung der Entscheidungsfindung als »stilles Einverständnis« möglicherweise darauf basiert, dass die Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Informationen zur Erkrankung, zu Behandlungsoptionen und Prognose in kleinen Einheiten und in Abhängigkeit von den Reaktionen des Patienten mehr oder weniger detailliert besprochen werden. Nicht zuletzt angesichts der aktuellen Diskussion um die Bedeutung der Patientenautonomie sehen die Autoren hier weiteren empirisch-ethischen Forschungsbedarf. In der von den Befragten beschriebenen Konstellation eines Therapiewunsches des Patienten entgegen ärztlicher Empfehlung erfolgte häufig ein Therapieangebot, wenn dies von ärztlicher Seite vertreten werden konnte. Mit Blick auf die individuelle Nutzen-Schadensabwägung in diesen Situationen ist zu bedenken, dass hierfür in der Regel keine ausreichenden wissenschaftlichen Daten vorliegen (Ludwig et al. 2009). Darüber hinaus ist aus sozialethischer Perspektive relevant, dass es sich bei Behandlungen im Sinne eines »letzten Strohhalms« oft um neue, hochpreisige Substanzen handelt. Unter der Prämisse begrenzter finanzieller Ressourcen im Gesundheitswesen stehen die eingesetzten Mittel an anderer Stelle zur Versorgung von Patienten nicht zur Verfügung (Sulmasy 2007). In diesem Zusammenhang ist allerdings auch zu bedenken, dass die Kommunikation von Entscheidungen zugunsten einer Behandlungsbegrenzung von Ärzten nicht nur als schwierige Herausforderung erachtet wird sondern diese Gespräche im Unterschied zur Durchführung einer weiteren Behandlung im Vergütungssystem bisher auch nicht angemessen abgebildet werden. Vor diesem Hintergrund erscheinen sowohl Lehr- und Weiterbildungsveranstaltungen zur Verbesserung individueller ethischer und kommunikativer Kompetenzen (Schildmann et al. 2011) als auch Veränderungen bei Honorierung ärztlicher Leistungen zugunsten von Gesprächen über Behandlungsentscheidungen wichtige Maßnahmen zur Förderung der Patientenautonomie in der Arzt-Patient-Beziehung.

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

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Schildmann, Vollmann: Medizinische Indikation und Patientenwille

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Schildmann J, Grunke M, Kalden JR, Vollmann J (2008) Information and participation in decision-making about treatment: a qualitative study of the perceptions and preferences of patients with rheumatoid arthritis. In: Journal of Medical Ethics 34: 775–779 Schildmann J, Schwarz C, Schildmann E, Klambeck A, Ortwein H, Vollmann J (2011) »Wahrheit am Krankenbett«: Evaluation einer ärztlichen Fortbildung zur professionellen Aufklärung schwer kranker Patienten. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 136: 757–761 Schöne-Seifert B (1989) Verzicht auf Lebenserhalt: offene Fragen. In: Ethik in der Medizin 1: 143–161 Siegler M (1985) The progression of medicine. From physician paternalism to patient autonomy to bureaucratic parsimony. In: Archives of Internal Medicine 145: 713– 715 Strauss A, Corbin J (1996) Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Psychologie Verlags Union, Weinheim Sulmasy DP (2007) Cancer care, money, and the value of life: Whose justice? Which rationality? In: Journal of Clinical Oncology 25: 217–222 Vollmann J (2008) Patientenselbstbestimmung und Selbstbestimmungsfähigkeit. Beiträge zur Klinischen Ethik. Kohlhammer, Stuttgart Winkler EC, Reiter-Theil S, Lange-Riess D et al. (2009) Patient involvement in decisions to limit treatment: the crucial role of agreement between physician and patient. In: Journal of Clinical Oncology 27: 2225–2230

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Kirsten Brukamp

Patientenautonomie bei tiefer Hirnstimulation als Herausforderung in der Medizinethik Patientenautonomie angesichts psychischer Nebenwirkungen Die tiefe Hirnstimulation ist eine Neurotherapie, die unter bestimmten Bedingungen psychische Nebenwirkungen verursacht. Angesichts dieses Problems ist zu untersuchen, worin die Nebenwirkungen bestehen und welche Konsequenzen sie für den Einsatz der Behandlungsmethode besitzen. Da es zu Veränderungen in Verhalten und Erleben kommen kann, ist auch die Selbstbestimmung von Patienten gefährdet. Zur Selbstbestimmung gehören unterschiedliche Aspekte, die separat betrachtet und gegebenenfalls gegeneinander abgewogen werden müssen. Die psychischen Nebenwirkungen können nach ihrer Art und ihrem Schweregrad eingeteilt werden, und auf dieser Grundlage ist zu fragen, wie angesichts dessen, trotz des Eingriffs in das Gehirn, Patientenautonomie verwirklicht werden kann. Die Leitfragestellungen des Themas sind demnach: Welche psychischen Nebenwirkungen können bei der tiefen Hirnstimulation auftreten? Inwiefern beeinflussen sie Verhalten und Erleben? Welche Arten des Einflusses auf Selbstbestimmung lassen sich differenzieren? Nach welchen Kriterien können die psychischen Nebenwirkungen eingeteilt werden? Wie lässt sich angesichts dessen Patientenautonomie verwirklichen? Für den folgenden Text ergibt sich daher die folgende Gliederung: In den Abschnitten »Die tiefe Hirnstimulation« und »Unerwünschte psychische Wirkungen« werden die medizinischen Grundlagen dieser Therapie dargestellt und ihre psychischen Nebenwirkungen zusammengefasst. Die »Kasuistiken hinsichtlich manischer Symptome« illustrieren interessante Einzelfälle, die besonders aufschlussreich für »Aspekte der Selbstbestimmung« sind. Der Abschnitt »Ausmaß von psychischen Nebenwirkungen« entwickelt dann eine Klassifikation der Nebenwirkungen, die eine Basis für den medizinischen und ethischen Umgang mit den unerwünschten Folgen bildet. Der darauf aufbauende Blick auf die »Verwirklichung von Patientenautonomie« berücksichtigt diese Klassifikation, um Empfehlungen zu geben, wie mit den verschiedenartigen Typen der psychischen Wirkungen umgegangen werden kann. Am Ende steht eine abschließende Reflektion über »Neuromedizin und Patientenautonomie«. Die tiefe Hirnstimulation In der Neurologie und Psychiatrie werden mehr und mehr Technologien verwandt, die direkt auf Gehirnstrukturen einwirken, wie die tiefe Hirnstimulation (THS). Bei der THS handelt es sich keinesfalls um eine neue Therapie, da sie bereits vor über zwanzig Jahren entwickelt und seitdem verbessert wurde. Relativ gesehen wird sie allerdings selten eingesetzt, weil sie nur als Therapie der Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Brukamp: Patientenautonomie bei tiefer Hirnstimulation

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letzten Wahl gilt, wenn andere, jeweils spezifisch auf die Erkrankung bezogene Therapieformen, wie Pharmakotherapie, Psychotherapie oder auch Elektrokonvulsionstherapie, nicht gewirkt haben. Nach einer Schätzung wurde sie weltweit bereits bei über 70.000 Patienten, davon 55.000 mit Bewegungsstörungen (Kuhn et al. 2010), angewandt. Die allgemein akzeptierten Indikationen der THS bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen umfassen Morbus Parkinson (Hilker et al. 2009), Dystonien (Schrader et al. 2009), essentiellen Tremor (Sixel-Döring et al. 2009) und Tremor bei multipler Sklerose (Timmermann et al. 2009). Zusätzlich existieren sogenannte experimentelle Indikationen, bei denen die THS erst bei einer begrenzten Anzahl von Patienten mit wissenschaftlich bisher weniger gesicherten Ergebnissen eingesetzt wurde. Hierzu zählen beispielsweise Depressionen, Zwangsstörungen und Abhängigkeitserkrankungen. Die Forschungssituation, insbesondere für psychiatrische Erkrankungen, weist spezielle ethische Herausforderungen auf, die hier aber nicht thematisiert werden können; zu den ethisch relevanten Zielen gehören der Schutz von Patient und Angehörigen, Patientenautonomie und Forschungsqualität (Kuhn et al. 2009). Durch die THS werden zielgerichtet spezifische Gehirnareale elektrisch stimuliert, wobei der genaue Ort von der behandelten Krankheit abhängig ist. Für diese Stimulation werden Elektroden in das Gehirn implantiert, die, ähnlich wie bei einem Herzschrittmacher, über unauffällige subkutane Kabel mit einem inkorporierten Impulsgeber und einer Batterie im Bereich der Brust verbunden sind. Unerwünschte psychische Wirkungen Zur Behandlung des Morbus Parkinson wird als Stimulationsort vor allem der Nucleus subthalamicus, englisch Subthalamic Nucleus (STN), gewählt. Gerade hier liegen die neuroanatomischen Strukturen für mehrere wichtige Systeme in enger räumlicher Nachbarschaft: Der STN besitzt drei verschiedene Komponenten, nämlich einen motorischen, einen assoziativen und einen limbischen Anteil. Dieses bedeutet, dass die Platzierung der Elektrodenspitzen sehr präzise erfolgen muss, um den motorischen, nicht aber die anderen Anteile zu stimulieren. Nichtsdestotrotz kommt es gerade beim STN als Stimulationsort zu unerwünschten psychischen Nebenwirkungen, die auf die assoziativen und limbischen Effekte zurückzuführen sind, während solche Nebenwirkungen beispielsweise bei der Stimulation des Globus pallidus internus, der ausschließlich für motorische Aufgaben zuständig ist, nicht auftreten. Dementsprechend soll der Fokus im Folgenden auf der Erörterung des Einsatzes der THS bei neurologischen Krankheiten mit Bewegungsstörungen liegen, mit besonderem Blick auf Morbus Parkinson, da hier bei der Wahl des STN als Stimulationsort am häufigsten psychische Nebenwirkungen auftreten und diese am besten untersucht sind. Medizinethisch bedeutsam sind die kognitiven und emotionalen Nebenwirkungen mit sozialer Bedeutung, die bei THS des STN auftreten. Hierzu zählen psychologische und psychiatrische Komplikationen wie zum Beispiel Hypomanie, erhöhte Aggressivität und Impulsivität, Verwirrtheit, Antriebsverlust oder Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

-steigerung, Stimmungsdepression oder -hebung (Müller, Christen 2010; Müller, Christen 2011). Diese Zustände können den Charakter und das Handeln vorübergehend verändern, zu kognitiven Einschränkungen führen, die Einwilligungsfähigkeit herabsetzen oder sogar psychiatrische Folgetherapien nach sich ziehen. Die angegebenen Nebenwirkungen können sowohl die Persönlichkeit als auch die personale Identität betreffen, wobei die eine eher die Lebensgestaltung und die andere eher die Lebensziele betrifft (Witt et al. 2012). Wenn zentrale und periphere Eigenschaften der Persönlichkeit unterschieden werden (Witt et al. 2011), so kann die THS beide Typen in Mitleidenschaft ziehen. Die psychischen Nebenwirkungen der THS des STN lassen sich hinsichtlich der zwei Dimensionen Bedeutsamkeit für das Leben der Patienten und Komplexität der Messung der Nebenwirkung beschreiben (Müller, Christen 2010; Müller, Christen 2011). Eine andere Möglichkeit der Klassifikation fokussiert auf die vorherrschenden Symptome, nämlich auf die Verursachung von Suizidalität (siehe zum Beispiel Voon et al. 2008), affektive Störungen (siehe unter anderem Okun et al. 2009), Modulation kognitiver Funktionen (siehe beispielsweise Daniels et al. 2010) und Veränderung der Wortflüssigkeit (siehe bei Castelli et al. 2010 und anderen). Kasuistiken hinsichtlich manischer Symptome In der medizinischen Literatur werden wiederholt affektive Störungen als Nebenwirkungen der THS des STN beschrieben. Hierbei kommt es gehäuft zu manischen Symptomen. Im Folgenden sollen zwei entsprechende illustrative Kasuistiken als klinische Fallbeispiele vorgestellt und medizinethisch untersucht werden. Eine Kasuistik (Haq et al. 2010) beschreibt eine Patientin, die wegen einer Zwangsstörung, assoziiert mit einer Depression, mit THS behandelt wurde. Die THS fand in einer medizinisch noch nicht abschließend untersuchten Lokalisation statt, nämlich im vorderen Schenkel der Capsula interna und im Nucleus accumbens. Hierbei kam es während der initialen Einstellung der Stimulationsparameter zu manischen Symptomen, woraufhin die üblicherweise zurückhaltende Patientin sehr extravertiert agierte und vom medizinischen Fachpersonal als hyperreligiös bezeichnet wurde. Nach einer Anpassung der Stimulationsparameter verschwanden zunächst die manischen Eigenschaften und danach auch die Zwangssymptome. Gemäß einer anderen Kasuistik (Leentjens et al. 2004) ergab sich durch die Behandlung eines Patienten durch THS des STN infolge Morbus Parkinson ein therapeutisches Dilemma, da der Patient entweder beim Aussetzen der Stimulation in einen Zustand verfiel, in dem er akinetisch und pflegebedürftig blieb, oder aber bei Stimulation zwar bewegungsfähig, aber aufgrund einer Hypomanie behandlungsbedürftig war und keine Entscheidungskapazität besaß. Unter der Bedingung des Ausgangszustands mit wieder hergestellten kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten entschied sich der Patient für die permanente Stimulation nach Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Aspekte der Selbstbestimmung Die vorgestellten Kasuistiken illustrieren Probleme mit der THS beispielhaft, und es lassen sich aus ihnen Schlussfolgerungen für das Konzept der Selbstbestimmung in der Medizinethik ziehen: Die erste Kasuistik (Haq et al. 2010) zeigt, dass die THS eindeutige psychopathologische Wirkungen hervorrufen kann. Die Patientin entwickelte eine manische Störung, die nach den Klassifikationen medizinischer und psychiatrischer Erkrankungen in ICD (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information [DIMDI] 2012) und DSM (American Psychiatric Association 2000) als eigenständige psychiatrische Krankheit aufzufassen ist. Es wurde also eine neue, schwerwiegende Erkrankung ausgelöst, während die Behandlung einer anderen intendiert wurde. In diesem Fall stellte sich die Symptomatik als von der Einstellung der Stimulationsparameter abhängig heraus, und sie war durch deren Modulation rückläufig und letztlich reversibel. Die zweite Kasuistik (Leentjens et al. 2004) illustriert, dass eine Abwägung von verschiedenen Aspekten der Selbstbestimmung stattfinden muss: Selbstbestimmung bedeutet auf der körperlichen Ebene die Abwesenheit von Einschränkungen und die Möglichkeit, sich ungehindert zu bewegen; sie bedeutet auf der mentalen Ebene, unbeeinflusst von außen Entscheidungen treffen zu können; sie bedeutet auf der rechtlichen Ebene, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. Für den erwähnten Patienten war es sowohl ohne als auch mit THS-Therapie unmöglich, alle diese Aspekte gleichzeitig und adäquat zu verwirklichen, so dass eine Wahl notwendig wurde, die er bei Krankheitseinsicht und erhaltener Einwilligungsfähigkeit selbst traf. Fraglich bleibt, auf welche Weise die Entscheidung getroffen werden sollte, wenn der Ausgangszustand bei möglicherweise unvollständiger Reversibilität nicht wiederhergestellt werden kann. Ausmaß von psychischen Nebenwirkungen Die angesprochenen psychischen Nebenwirkungen der THS variieren qualitativ und quantitativ. Als praktisch relevante Klassifikation bietet sich die folgende Einteilung in drei Schweregrade an: Der geringere Schweregrad umfasst psychische Effekte, die ausschließlich Einzelphänomene des Verhaltens und Erlebens betreffen. Hierunter würde beispielsweise der Interessenverlust an einem bestimmten Hobby fallen, dass der Patient bisher gern ausgeübt hat. Dieser Interessenverlust könnte durch eine Modifikation des psychologischen Antriebs und der persönlichen Präferenzen entstehen. Ansonsten nimmt der Patient bei sich selbst aber keine Änderungen wahr, und er wird auch von anderen Bezugspersonen als insgesamt in seinem Wesen unverändert eingeschätzt. Der mittlere Schweregrad besteht aus solchen Wirkungen, die die Dispositionen für Verhalten als Ganzes modulieren. Beispielsweise könnte ein Patient durch die THS risikofreudiger werden und daher zu Verhaltensweisen neigen, die ihn selbst oder andere gefährden. In der Tat wurde ein solches Verhalten bei der THS des STN beobachtet, und die festgestellte erhöhte Suizidalität wird Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

teilweise, wenn auch nicht in ihrem ganzen Ausmaß, mit einem entsprechenden Risikoverhalten in Zusammenhang gebracht. Der hohe Schweregrad umfasst dezidiert psychopathologische Symptome, die eine psychiatrische Beurteilung erfordern. Eine Therapieoption wäre dann die Unterbrechung der THS oder die Umstellung der Stimulationsparameter. Außerdem kommt die zusätzliche Behandlung mit Medikamenten und Psychotherapien in Betracht. Verwirklichung von Patientenautonomie Die Gruppen der vorgestellten Klassifikation werden praktisch relevant, da das medizinethische Prinzip des Respekts vor Autonomie von Patienten (Beauchamp, Childress 2009) jeweils adäquat umgesetzt werden sollte: Beim geringeren Schweregrad der vorgestellten Klassifikation ist die Persönlichkeit des Patienten nicht als Ganzes durch die psychischen Nebenwirkungen in Mitleidenschaft gezogen. Der Wesenskern der Persönlichkeit bleibt unverändert, und es kommt nur zu einer Veränderung von Verhalten und Erleben in klar umgrenzten Bereichen. Somit bleibt auch die Patientenautonomie erhalten, und der Patient entscheidet uneingeschränkt selbst, ob er mit den auf die THS zurückzuführenden Änderungen leben möchte oder nicht. Der Patient kann die Änderungen wahrnehmen und ihre subjektive Wichtigkeit für sein Leben am besten einschätzen. Dementsprechend ist es die Aufgabe der medizinischen Berufe, der behandelnden Ärzte und Psychologen, dem Patienten die Entscheidung zu überlassen. Bei den Patienten des hohen Schweregrades wird eine neue psychiatrische Erkrankung als iatrogene Nebenwirkung einer indizierten Therapie hervorgerufen. Hiermit wird unter anderem die Autonomie von Patienten eingeschränkt, da sie unter Umständen Antriebsveränderungen, innere Zwänge oder emotionale Labilitäten erfahren und ihre Entscheidungs- und Einwilligungsfähigkeiten reduziert werden. Selbst- und Fremdgefährdungen sind möglich, und diese erlauben es nach dem geltenden Recht (beispielsweise festgeschrieben in Freiheitsentziehungs-, Unterbringungs- und Psychisch-Krankengesetzen wie dem PsychKG 1999), den Patienten zu seinem Schutz gegen seinen Willen in einer psychiatrischen Fachabteilung unterzubringen. Die iatrogenen, durch die medizinischen Eingriffe verursachten Nebenwirkungen sollten in jedem Fall soweit wie möglich vermieden oder reduziert werden. Falls die Änderungen der THS-Therapie, in Kombination mit anderen Behandlungsmethoden, es nicht erlauben, psychiatrische Symptome ganz zu verhindern, sollte der Patient, vergleichbar mit der Situation in der zweiten angesprochenen Kasuistik, im Ausgangszustand ohne THS entscheiden, ob er diese und die daraus resultierenden Konsequenzen in Kauf nehmen möchte und damit unter anderem eine psychiatrische Unterbringung riskiert. Eine solche Entscheidung ist Ausdruck der Patientenautonomie, wie sie im ursprünglichen Zustand ohne THS vorliegt. Der mittlere Schweregrad betrifft Patienten, bei denen die Wirkungen der THS ausgedehnt und tiefgreifend sind, aber die Fähigkeit zu autonomen EntClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Brukamp: Patientenautonomie bei tiefer Hirnstimulation

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scheidungen nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. In diesem Fall geht es aus medizinischer und medizinethischer Sicht darum, dem Patienten alle Informationen und Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, mit denen er selbst eine Entscheidung über die Fortführung, den Abbruch oder die Modifikation der THS als Therapie vornehmen kann. Dieses bedeutet, dass die Veränderungen im Verhalten und Erleben der Patienten unter Einsatz von psychologischen Messinstrumenten und strukturierten Interviews dokumentiert werden sollten, damit dem Patienten Evidenz für seine psychischen Veränderungen vorgelegt werden kann. Des Weiteren ist es angesichts dieses später möglichen mittleren Schweregrades sinnvoll, wenn der Patient nach der Aufklärung über mögliche psychische Nebenwirkungen bereits vor der Therapie eine Vorausverfügung formuliert, in der er seine persönlichen Kriterien für die Akzeptanz von Nebenwirkungen festlegt. Eine solche Vorausverfügung dient, wie eine Patientenverfügung (Brauer 2008; Brauer et al. 2008), der Reflektion von Selbstverständnis, persönlichen Einstellungen, Wertvorstellungen und Motivationen. Diese schriftliche Festlegung kann der Patient dann selbst als Gedächtnisstütze und Entscheidungshilfe heranziehen, wenn eine Entscheidung über die Art der Therapiefortführung nach Beginn der THS erforderlich wird. Neuromedizin und Patientenautonomie Die neuromedizinischen Fächer Neurologie, Psychiatrie und Neurochirurgie werfen vor allem deshalb medizinethische Fragen auf, weil ihre Therapien, Interventionen und Eingriffe das Gehirn betreffen, welches Verhalten und Erleben vermittelt und somit eine Grundlage von Autonomie darstellt. Behandlungsmethoden, die im Gehirn wirken, können zu einer Einschränkung der Selbstbestimmung führen, wenn sie eindeutig psychopathologische, psychiatrisch relevante Symptomen auslösen, aber auch bereits dann, wenn sie Einflüsse auf Bewegungsfähigkeit und Sprachproduktion nehmen. Im Extremfall wird die Patientenautonomie aufgrund der iatrogenen Verursachung einer psychiatrischen Erkrankung mit Verlust der Entscheidungs- und Einwilligungsfähigkeit eingeschränkt. Um auch unter diesen schwierigen Bedingungen, angesichts möglicher unerwünschter Therapiewirkungen auf das Gehirn, die Patientenautonomie zu schützen, lassen sich für die THS mehrere Desiderate identifizieren: Die Aufklärung der Patienten vor der Operation zum Einbringen der THS-Elektroden sollte verbessert werden, indem sie bereits frühzeitig verstärkt über psychische Nebenwirkungen informiert werden. Die Veränderungen in Verhalten und Erleben sind im Zeitverlauf mit Methoden der Psychologie und der empirischen Sozialforschung besser zu dokumentieren. Die Patienten sollten vor Therapiebeginn ihre persönlichen Zielkriterien und Akzeptanzbedingungen in einer Vorausverfügung festlegen, um im Bedarfsfall gegebenenfalls später auf diese Einstellungen zurückkommen zu können und sie in ihre Entscheidungen einfließen zu lassen.

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Literatur American Psychiatric Association (2000) Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders DSM-IV-TR (Text Revision). American Psychiatric Publishing, Arlington (VA) Beauchamp TL, Childress JF (2009) Principles of biomedical ethics. 6. Aufl., Oxford University Press, Oxford /New York Brauer S (2008) Die Autonomiekonzeption in Patientenverfügungen. Die Rolle von Persönlichkeit und sozialen Beziehungen. In: Ethik in der Medizin 20(3): 230–239 Brauer S, Wiesemann C, Biller-Andorno N (2008) Selbstbestimmung und Selbstverständnis. Themenschwerpunkte im Umgang mit der Patientenverfügung. In: Ethik in der Medizin 20(3): 166–168 Castelli L, Rizzi L, Zibetti M, Angrisano S, Lanotte M, Lopiano L (2010) Neuropsychological changes 1-year after subthalamic DBS in PD patients: a prospective controlled study. In: Parkinsonism and Related Disorders 16: 115–118 Daniels C, Krack P, Volkmann J, Pinsker MO, Krause M, Tronnier V, Kloss M, Schnitzler A, Wojtecki L, Bötzel K, Danek A, Hilker R, Sturm V, Kupsch A, Karner E, Deuschl G, Witt K (2010) Risk factors for executive dysfunction after subthalamic nucleus stimulation in Parkinson’s disease. In: Movement Disorders 25(11): 1583–1589 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) (2012) Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. 10. Revision, German modification, Version 2012 (ICD-10GM Version 2012) Haq IU, Foote KD, Goodman WK, Ricciuti N, Ward H, Sudhyadhom A, Jacobson CE, Siddiqui MS, Okun MS (2010) A case of mania following deep brain stimulation for obsessive compulsive disorder. In: Stereotactic and Functional Neurosurgery 88: 322–328 Hilker R, Benecke R, Deuschl G, Fogel W, Kupsch A, Schrader C, Sixel-Döring F, Timmermann L, Volkmann J, Lange M, German Deep Brain Stimulation Association (2009) Deep brain stimulation for Parkinson’s disease. Consensus recommendations of the German Deep Brain Stimulation Association. In: Nervenarzt 80(6): 646–655 Kuhn J, Gaebel W, Klosterkoetter J, Woopen C (2009) Deep brain stimulation as a new therapeutic approach in therapy-resistant mental disorders: ethical aspects of investigational treatment. In: European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience 259 (Suppl 2): S135–S141 Kuhn J, Gründler TOJ, Lenartz D, Sturm V, Klosterkötter J, Huff W (2010) Deep brain stimulation for psychiatric disorders. Deutsches Aerzteblatt International 107(7): 105–113 Leentjens AFG, Visser-Vandewalle V, Temel Y, Verhey FRJ (2004) Manipuleerbare wilsbekwaamheid: een ethisch probleem bij elektrostimulatie van de nucleus subthalamicus voor ernstige ziekte van Parkinson. In: Nederlands Tijdschrift voor Geneeskunde 148: 1394–1398 Müller S, Christen M (2010) Mögliche Persönlichkeitsveränderungen bei ParkinsonPatienten. In: Nervenheilkunde 29: 779–783 Müller S, Christen M (2011) Deep Brain Stimulation in Parkinsonian patients – Ethical evaluation of cognitive, affective and behavioral sequelae. In: American Journal of Bioethics Neuroscience 2(1): 3–13 Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Brukamp: Patientenautonomie bei tiefer Hirnstimulation

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Okun MS, Fernandez HH, Wu SS, Kirsch-Darrow L, Bowers D, Bova F, Suelter M, Jacobson IV CE, Wang X, Gordon Jr. CW, Zeilman P, Romrell J, Martin P, Ward H, Rodriguez RL, Foote KD (2009) Cognition and mood in Parkinson disease in STN versus GPi DBS: the COMPARE trial. In: Annals of Neurology 65(5): 586– 595 PsychKG (1999) Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG). Vom 17. Dezember 1999. Gesetz- und Verordnungsblatt (GV. NRW.), Nr. 51 vom 23. 12. 1999 Schrader C, Benecke R, Deuschl G, Hilker R, Kupsch A, Lange M, Sixel-Döring F, Timmermann L, Volkmann J, Fogel W, German Deep Brain Stimulation Association (2009) Deep brain stimulation for dystonia. Consensus recommendations of the German Deep Brain Stimulation Association. In: Nervenarzt 80(6): 656–661 Sixel-Döring F, Benecke R, Fogel W, Hilker R, Kupsch A, Lange M, Schrader C, Timmermann L, Volkmann J, Deuschl G, German Deep Brain Stimulation Association (2009) Deep brain stimulation for essential tremor. Consensus recommendations of the German Deep Brain Stimulation Association. In: Nervenarzt 80(6): 662–665 Timmermann L, Deuschl G, Fogel W, Hilker R, Kupsch A, Lange M, Schrader C, Sixel-Döring F, Volkmann J, Benecke R, Deep Brain Stimulation Association (2009) Deep brain stimulation for tremor in multiple sclerosis: consensus recommendations of the German Deep Brain Stimulation Association. In: Nervenarzt 80(6): 673–677 Voon V, Krack P, Lang AE, Lozano AM, Dujardin K, Schüpbach M, D’Ambrosia J, Thobois S, Tamma F, Herzog J, Speelman JD, Samanta J, Kubu C, Rossignol H, Poon YY, Saint-Cyr JA, Ardouin C, Moro E (2008) A multicentre study on suicide outcomes following subthalamic stimulation for Parkinson’s disease. In: Brain 131: 2720–2728 Witt K, Kuhn J, Timmermann L, Zurowski M, Woopen C (2011) Deep brain stimulation and the search for identity. In: Neuroethics. doi:10.1007/s12152-011-91001 Witt K, Timmermann L, Kuhn, J, Woopen C (2012) Tiefe Hirnstimulation und personale Identität: Was sollten wir messen? In: Nervenheilkunde 4: 221–225

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Sabine Wöhlke, Mona Motakef

Selbstbestimmung und die Rolle der Familie in der Lebendorganspende In ihrem Roman »Beim Leben meiner Schwester« (2011) erzählt Jodi Picoult die Geschichte einer in den USA lebenden Familie, in der bei einer Tochter eine chronische Krankheit diagnostiziert wird. Die Eltern entscheiden sich dafür, ein weiteres Kind zu bekommen, das für ihre ältere Schwester zukünftig nicht nur als Stammzellspenderin, sondern auch als Organspenderin dienen soll. Als es schließlich zur Lebendnierenspende kommen soll, verbünden sich die Schwestern gegen die Eltern. Im Einvernehmen mit der kranken Schwester verweigert die Nachgeborene die Lebendorganspende. Picoults Geschichte kann als Kritik an einer engen Vorstellung von Selbstbestimmung gelesen werden, der zufolge Individuen vollkommen frei und unabhängig von ihren sozialen Bezügen Entscheidungen treffen. Auch in feministischen, bioethischen sowie medizinsoziologischen Debatten findet seit etwa 20 Jahren eine intensive Auseinandersetzung darüber statt, wie Selbstbestimmung als philosophisches Prinzip gefasst werden sollte (Crouch, Elliott 1999; Kukla 2005). Bei genauerer Betrachtung beinhalten diese Debatten zwei verschiedene – wenn auch oft zusammenhängende – Linien der neueren Autonomiekritik. Zum einen, dass Autonomie in der Regel als ein Prinzip gefasst würde, das die soziale Realität außer Acht lasse, und andererseits, dass Autonomie häufig individualistisch konzipiert würde. In der ethischen Theorie wird dagegen die kollektive Verantwortlichkeit der »post-traditionalen Familie« betont (Wiesemann 2010). In feministischer Perspektive wird argumentiert, dass Frauen auf Grund der Trennung der Sphären von männlicher Erwerbsarbeit und weiblicher Reproduktionsarbeit vielfach weiterhin stärker als Männern Verantwortung für Fürsorgetätigkeiten zugeschrieben wird (Mackenzie 2000). Damit unterscheiden sich Frauen und Männer noch oft hinsichtlich ihrer Überlegungen und Erfahrungen in Entscheidungssituationen. Die Forschung sollte somit nicht von vorsozialen abstrakten Individuen, sondern von »situated social beings« ausgehen, so etwa Donchin (2001). In unserem Beitrag rekonstruieren wir auf der Basis von qualitativen Interviews mit LebendnierenspenderInnen und -empfängerInnen sowie mit Personen, die eine Spende abgelehnt habe, Dynamiken familiärer Beziehungen bei der Lebendorganspende. Selbstbestimmung, so unsere These, wird mit Blick auf soziale Dimensionen gerade nicht obsolet. Um der Komplexität von Selbstbestimmung jedoch gerecht zu werden, bedarf es einer systematischen Berücksichtigung familiärer Beziehungsdynamiken und ihrer Verwobenheit mit Geschlechterrollen.

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Wöhlke, Motakef: Selbstbestimmung und die Rolle der Familie

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Selbstbestimmung und familiäre Dynamiken bei der Lebendorganspende In zahlreichen Ländern ist die Anzahl der Lebendnierentransplantationen in den vergangenen fünfzehn Jahren gestiegen. Deutschland verzeichnet einen Anstieg von 388 Lebendnieren im Jahr 2001 auf 795 Nieren im Jahr 2011 (Eurotransplant 2012). Lebendnieren bilden in Deutschland mittlerweile 22,6% aller transplantierten Nieren (DSO 2011). 1 Da eine Lebendorganspende im Fall des Spenders mit dem medizinischen Prinzip des Nicht-Schadens bricht, soll laut Transplantationsgesetz in Deutschland diese Therapieoption nur erfolgen, wenn keine geeignete postmortale Spende zur Verfügung steht. Die deutsche Gesetzgebung sieht des Weiteren in § 8 vor, dass »die Person einwilligungsfähig ist, [. . .] aufgeklärt worden ist und in die Entnahme eingewilligt hat«. Zudem, so § 8 (2) 6, muss der oder die Spendende auch darüber aufgeklärt werden, dass die Einwilligung Voraussetzung für eine Organentnahme darstellt. 2 Die informierte Zustimmung als formaler Ausdruck des Prinzips der Selbstbestimmung ist demnach auch rechtlich die Voraussetzung der Lebendorganspende (Wagner, Fateh-Moghadam 2005). Nach einer verbreiteten Definition von Selbstbestimmung von Beauchamp und Childress (Beauchamp, Childress 2001) stellt die Freiwilligkeit eines der zentralen Kriterien für selbstbestimmtes Handeln dar. So eindeutig solche Bestimmungen von informierter Zustimmung und Selbstbestimmung zunächst erscheinen mögen, gelingt es ihnen indes nicht, die Komplexität sozialer Bezüge, in die selbstbestimmte Entscheidungen eingebettet sind, zu erfassen. Wie in Ansätzen feministischer Bioethik beklagt wird, ignorieren diese Bestimmungen zum Beispiel den Einfluss des Geschlechts (Mackenzie 2000). In der Lebendorganspende spielt das Geschlecht eine große Rolle: Weitaus mehr Frauen als Männer spenden Organe (siehe Tab. 1). Am häufigsten spenden Frauen (28,3%) ihren Ehemännern eine Niere, gefolgt von Müttern (18,9%), die ihrem Kind eine Niere spenden. Im Jahr 2011 spendeten beispielsweise Väter deutlich seltener als Mütter (12,3 %) und Ehemänner seltener als Ehefrauen (11,9%) (vgl. Tab. 1). Die Gründe für die höhere Organspendebereitschaft von Frauen wurden noch nicht systematisch untersucht. Vermutet wird, dass sie in traditionellen Geschlechterrollen zu suchen sind, da Fürsorge, Aufopferungsbereitschaft und Verantwortung für die familiäre Gesundheit weiterhin stärker als Aufgaben von Frauen wahrgenommen werden (Lorber, Moore 2002; Schicktanz et al. 2006; Winter, Decker 2006).

1

2

Gründe für die wachsende Zahl an Lebendorganspenden werden vor allem im Organmangel gesehen: Während die Nachfrage nach Transplantaten steigt, ist der Pool an verfügbaren postmortalen Nierenspenden nicht größer geworden (Motakef 2011). Zudem ist die Lebendorganspende besser planbar und gilt gegenüber der postmortalen Organspende als medizinisch überlegen (Fehrmann-Ekholm et al. 2011). Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen und Geweben (1997). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Tabelle 1: Verwandtschaftsbeziehung von Spender/-in zu Empfänger /-in bei der Lebendorganspende in Deutschland (2006–2011) 3 2006

2007

2008

2009

2010

2011

Mutter

21.6 % (113)

25.4 % (144)

23.7 % (134)

24.5 % (147)

23.3 % (155)

18.9 % (150)

Vater

15.9 % (83)

13.2 % (75)

14.0 % (79)

11.3 % (68)

12.8 % (85)

12.3 % (98)

Tochter

1.0 % (5)

1.1 % (6)

0.9% (5)

0.8 % (5)

0.3 % (2)

1.0 % (8)

Sohn

0.4 % (2)

0.4 % (2)

0.7% (4)

0.2 % (1)

1.2 % (8)

0.3 % (2)

23.3 % (122)

19.6 % (111)

25.5 % (144)

23.0 % (138)

23.0 % (153)

28.3 % (225)

Ehemann

12.0 % (63)

12.7 % (72)

9.9% (56)

11.3 % (68)

14.1 % (94)

11.9 % (95)

Schwester

8.0 % (42)

8.5 % (48)

10.1 % (57)

8.0 % (48)

8.7 % (58)

7.8 % (62)

Bruder

7.1 % (37)

8.1 % (46)

7.4% (42)

7.7 % (46)

7.1 % (47)

7.9 % (63)

Schwiegermutter

– (–)

– (–)

0.5% (3)

– (–)

0.5 % (3)

0.6 % (5)

Schwiegervater

– (–)

– (–)

0.2% (1)

0.3 % (2)

– (–)

0.1 % (1)

Freundin

– (–)

1.6 % (9)

1.1% (6)

1.5 % (9)

1.2 % (8)

1.3 % (10)

Freund

– (–)

1.1 % (6)

0.7% (4)

2.0 % (12)

1.7 % (11)

2.3 % (18)

10,7 % 56

8.5 % 48

5.3 % 30

9.3 % 56

6.2 % 41

7.3 % 58

567

565

600

665

Verwandtschaftsbeziehung von Spender/-in zu Empfänger/-in

Ehefrau

Sonstiges* Total (absolute Zahlen der gesamten Lebendnierenspenden)

523

795

(Tab. 1 Eigene Darstellung der Daten von Eurotransplant 2012) * In der Regel 2. oder 3. Verwandtschaftsgrad zum /zur Empfänger/-in

3

Angaben in der Tabelle in Prozent, sowie in Klammern in absoluten Zahlen. In dieser Tabelle sind nicht alle Verwandtschaftsspendertypen zum Empfänger aufgezeigt. Die Tabelle geht auf die statistischen Zahlen der Verwandtschaftsbeziehungen ein, die sich aus dem qualitativen Sample dieser Untersuchung ergeben. In unserem Untersuchungssample konnten keine »Kind

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Wöhlke, Motakef: Selbstbestimmung und die Rolle der Familie

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Wie bereits erwähnt, wird ein Konzept von Selbstbestimmung, das soziale Bezüge nicht berücksichtigt, auch in Forschungen zur Lebendorganspende kritisiert. Hierbei wurden bislang ausschließlich Eltern-Kind- und Kind-ElternSpenden fokussiert. So halten Crouch und Elliot (Crouch, Elliott 1999) es für ein verbreitetes Missverständnis in der Lebendorganspende, dass Entscheidungen umso freier und selbstbestimmter getroffen werden, je weniger emotional die spendende und empfangende Seite aneinander gebunden ist (vgl. auch Ho 2008). Wenn eine Mutter ohne längere Überlegungen ihrem Kind ein Organ spenden möchte, kann dies auch gerade als Ausdruck ihrer Selbstbestimmung gelesen werden. Zeiler (2008) schlägt vor diesem Hintergrund deshalb vor, bei Analysen von Lebendorganspenden stärker zu berücksichtigen, dass diese häufig in Liebesbeziehungen stattfinden. Wie Selbstbestimmung in Familien verhandelt wird, zeigt eine Reihe von empirischen medizinanthropologischen Studien. Kaufman, Russ und Shim erforschten Spendekonstellationen in Kalifornien, bei denen Erwachsene an ihre über 65 Jahre alten Eltern spendeten (Kaufman et al. 2009). Sie fanden heraus, dass die Organspenden an die Eltern als selbstverständlicher Ausdruck kindlicher Liebe bewertet wurden. Zudem zeigt ihre Studie, dass einige Eltern kein Organ mehr transplantiert haben wollten, das Lebendspendeangebot des Kindes aus Liebe zu dem Kind jedoch angenommen haben (Kaufman et al. 2009). Die Autorinnen betonen hierbei die Wirksamkeit von Familienidealen: Die Entscheidung zur Organspende wird mit einem Familienideal in Verbindung gebracht, das auf dem Gedanken wechselseitiger Hilfe innerhalb der Familie basiert. Auch Lock und Crowley-Makota (Lock, Crowley-Makota 2008) berichten aus Interviews, die sie in Mexiko führten, dass die Organspenden zwischen Kindern und ihren Eltern als Ausdruck von intakten Familienbeziehungen verstanden werden. Gerade Mütter erklären, dass sie ihren Kindern bereits einmal das Leben geschenkt haben und daher bereit sind, dies noch einmal zu tun. Umgekehrt argumentieren Kinder, dass sie keinen Grund sehen, ihrer Mutter keine Niere zu spenden, da sie ihrer Mutter ihr Leben verdanken. In bisherigen Untersuchungen stand die Kernfamilie 4 im Fokus, insbesondere die Spende zwischen Eltern und Kindern. Spender-Empfänger-Beziehungen umfassen jedoch weitere Dyaden, wie die Tabelle 1 aufzeigt. Zudem betrifft eine Lebendorganspende häufig nicht nur eine Dyade, sondern wird von verschiedenen Familienmitgliedern beeinflusst, was sich am ehesten als Beziehungsgeflecht beschreiben lässt. So lassen sich auch nicht alle Spender-EmpfängerBeziehungspaare mit einer Liebesbeziehung zwischen Eltern und Kind gleichsetzen. Neben den Eltern als größte Spendergruppe vergrößert sich zwar auch der Anteil an Ehepartnern; sie bilden die zweitgrößte Spendergruppe. Doch

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auf Eltern-Spendepaare« eingeschlossen werden, allerdings sind die Zahlen in die Tabelle zur Vervollständigung des ersten Verwandtschaftsgrades mit aufgenommen. Ebenso kommen Spenden unter den hier nicht genannten Verwandtschaftsbeziehungen in sehr geringer Anzahl vor. Sie konnten aufgrund der niedrigen Fallzahl in Deutschland nicht in unser qualitatives Untersuchungssample eingeschlossen werden und finden sich in der Tabelle unter Sonstiges. Die Dyade aus Elternteil und Kind. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

ebenso steigt die Zahl der Spenden unter Geschwistern in den letzten Jahren stetig an (vgl. Tab. 1). Geschwister stellen bei diesen Beziehungskonstellationen eine besondere Gruppe dar, da zwischen ihnen – wie bei der Beziehung zu den Eltern – eine nicht selbst gewählte Beziehung besteht. Für Geschwisterkinder dient der geschützte Raum der Familie entwicklungspsychologisch über viele Jahre zum Ausprobieren möglicher Beziehungs- sowie Konfliktlösungsstrategien. Die dabei gewonnenen Erfahrungen beeinflussen nicht nur ihr späteres soziales Verhalten, sondern bleiben unter den Geschwistern ein Leben lang präsent (Döring 2006). Methodisches Vorgehen Von 2007 bis 2009 führten wir in einer deutschlandweiten Studie 31 Einzelinterviews mit Lebendnierenspendern und -empfängern durch. 5 Die Anwerbung erfolgte über öffentlich ausgelegte Teilnahmeflyer, um eine freiwillige Teilnahme zu gewährleisten. 6 Für die vorliegende Untersuchung wurden männliche und weibliche erwachsene Spender/-innen und Empfänger/-innen einer Lebendnierentransplantation, zudem volljährige männliche und weibliche Angehörige, die eine Lebendorganspende abgelehnt haben, in die Studie eingeschlossen. Für die Auswahl der Probanden spielte es keine Rolle, wie lange die Transplantation bereits zurücklag. Mit den Probanden/-innen wurden themenzentrierte (Hopf 2003) Leitfadeninterviews (Kelly 2011, 308) durchgeführt, wobei die Teilnehmer/-innen einzeln befragt wurden und nicht als Spenderpaar gemeinsam. Der Interviewleitfaden umfasste insgesamt fünf Themenkomplexe, wobei es eine Version für Spender/ -innen und eine Version für Empfänger/-innen gab, um die jeweilige Perspektive besser fokussieren zu können. Die Einzelinterviews dauerten zwischen 30 und 120 Minuten, für die vorliegende Analyse ist der Themenkomplex der Entscheidungsfindung relevant. Die Einzelinterviews wurden auf Tonband aufgezeichnet und anschließend vollständig wortwörtlich transkribiert. Alle Namen der in den Interviews genannten Personen und Orte wurden pseudonymisiert. 7

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Von den 31 Einzelinterviews wurden 14 Interviews mit Spender/-innen (7 Männer, 7 Frauen) und 17 Interviews mit Empfänger/-innen (4 Männer, 13 Frauen) durchgeführt. Mithilfe eines Teilnahmeflyers wurden soziodemografische Faktoren von jedem Teilnehmer erhoben, die bei der Auswahl des Samples hinsichtlich Alter, Schulbildung, Familienstand sowie Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft berücksichtigt wurden. Befragt wurden Ehepartner/-innen, Lebenspartner/-innen, Elternteile, Kinder, Geschwister, Cousin /en, Nichten, Freund/-innen und Schwiegereltern. Teilgenommen haben Spender/-innen, Empfänger/-innen, Angehörige, die eine Lebendorgantransplantation abgelehnt haben oder nicht spenden konnten. Namen wurden aus Gründen des Datenschutzes im Transkript verändert. Beim Transkribieren der Interviews wurde jede /jeder Teilnehmer/-in mit einer Signatur versehen. Die Signatur ergibt sich aus der Einteilung in Empfänger/-in und Spender/-in, sowie Mann oder Frau, die Teilnehmer/-in wurden zudem fortlaufend durchnummeriert. Daraus ergeben sich folgende Signaturen: E= Empfänger/-in; S= Spender/-in; M= Mann; W= Frau. Beispiel: EW05= weibliClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Ausgehend von dem skizzierten Problem der sozialen und Gender-Dimensionen in der Lebendorganspende sowie der ethischen Anforderung, Selbstbestimmung und Freiwilligkeit zu gewährleisten, wurde der Entscheidungsfindungsprozess bei Lebendspende-Paaren mit Blick auf die Gesichtspunkte »Anfrage« bzw. »Angebot« analysiert. Der Fokus der empirischen Untersuchung lag dabei auf der Frage, welche Entscheidungsprozesse sich in den Familien beobachten lassen, und ob es je nach Beziehungskonstellation unterschiedliche Formen von Freiwilligkeit bei der Entscheidung gibt. Die Auswertung des Datenmaterials erfolgte entsprechend den Regeln der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2007). Das methodische Vorgehen war explorativ und nicht-standardisiert. Unsere Analyse konzentrierte sich auf Motive und Handlungsorientierungen der Befragten. Empirische Ergebnisse Die Auswertung zeigt, dass eine Lebendorganspende nicht nur für die Empfänger-Spender-Dyade, sondern für die ganze Familie bedeutsam ist: SW12: »[. . .] aber andererseits wieder war unsere Familie insgesamt so geschlossen, dass man sagt, also jedes Glied in einer Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Dass sie also irgendwie wusste, innerhalb unser kleinen Gruppe von Familie wird immer jeder für den anderen bereit sein, alles zu tun.«

Dieses Zitat verdeutlicht nicht nur den Zusammenhalt dieser Gruppe, sondern auch einen damit verbundenen Druck zur Handlung. Dieser Druck, der aufgrund eines innerfamiliären Verpflichtungsgefühls entstehen kann, wird wiederum mit einem Familienideal assoziiert, bei dem der Zusammenhalt der Familienmitglieder im Zentrum steht. Dies beinhaltet für die Familienmitglieder, die eigenen Interessen und Bedürfnisse zugunsten des erkrankten Familienmitglieds zurückzustellen. Zudem fungiert eine Lebendorganspende häufig als ein Verstärker von in den Familien bereits bestehenden Gruppendynamiken, wie beispielsweise Dominanzverhalten, oder aber von bereits bestehenden Konflikten. Unsere Daten zeigen, dass Familie oft mehr als nur die sogenannte Kernfamilie bedeutet, sondern häufig eher als ein Beziehungsgeflecht gedacht werden muss, so beispielsweise bei Lebendspenden von Schwiegereltern. Aus der Perspektive von Schwiegereltern ist ein Schwiegersohn in vieler Hinsicht – sei es genetisch, psychologisch oder auch sozial – ein »Fremder« in der vorher bestehenden Eltern-Kind-Beziehung. Erst die mit ihm gezeugten Enkelkinder sind aus dieser Perspektive wieder »echte« Blutsverwandte. Entsprechend betont dieses Zitat nicht das Wohl des Empfängers selbst, sondern seine Funktion hinsichtlich der Enkelkinder. SM09: »[. . .] Ich erwarte gar nix. Ich erwarte nur, dass er gesund wird und dass er dann wieder als Vater für seine Kinder da ist.«

che Empfängerin, Interviewpartnerin Nummer 5, SM11= männlicher Spender, Interviewpartner Nummer 11. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Schwierig wird es, wenn vom Spendenden die Ablehnung des Organangebotes nicht respektiert wird und emotionaler Druck ausgeübt wird, wie die Aussage verdeutlicht. Der Schwiegervater des Organempfängers rechtfertigt sein Handeln mit einem überhöhten Familienideal, indem der Zusammenhalt und der Fortbestand der Familie über die Wahrung der Selbstbestimmung jedes Familienmitgliedes gestellt werden. Das empirische Material wurde daher daraufhin analysiert, inwieweit sich unterschiedliche Formen von Freiwilligkeit bei der Entscheidung anhand unterschiedlicher Beziehungskonstellationen aufzeigen lassen. 8 Je nach SpenderEmpfänger-Dyade (Eltern-Kind /Ehepaar /Geschwister) werden die besonderen Aspekte der Selbstbestimmung dargestellt. Eltern-Kind Wie bereits internationale Forschungen aufzeigen, belegen auch unsere Auswertungen, dass vor allem für Mütter die Spende als »natürlicher Ausdruck ihrer Liebe« erscheint. Mit dem Verweis auf ihren reproduktiven Körper konzipieren einige Frauen ihr Kind sogar als Teil ihrer eigenen Leiblichkeit. Sie haben ihr Kind in die Welt gebracht bzw. bei der Geburt nicht vollständig auf die Welt gebracht und liefern – in dieser Lesart – im Nachhinein mit der Lebendorganspende ihrem Kind gleichsam eine gesunde Niere nach: SW02: »Bei der Mutter fängt es ja eigentlich schon an mit der Schwangerschaft. Und die Geburt. Das ist ja auch nicht alles so einfach, aber man tut es doch. Und na ja, die Organspende war noch einmal. Der Rest kommt hinterher. So hab ich’s [lacht] meiner Tochter damals gesagt, das, was ich dir nicht gut genug mitgegeben habe, das hab ich dir nun nachgeliefert.«

Für minderjährige Kinder erscheint es in den überwiegenden Fällen äußerst unproblematisch, ein Organ vom Elternteil anzunehmen, was in erster Linie auf die von Anfang an asymmetrische Beziehung zu ihnen zurückzuführen ist. Kinder erfahren seit ihrer Geburt, dass ihre Eltern ihnen mehr geben, als sie zurückgeben können. Dies belegen unsere Interviews mit Eltern und Kindern, wenn innerhalb dieses Verhältnisses einem minderjährigen Kind ein Organ gespendet wurde. Andere Ergebnisse zeigen sich jedoch, wenn Eltern ihrem erwachsenen Kind spenden wollen. Hier findet in den meisten Fällen eine intensive Auseinandersetzung über die eigentlichen Motive der Spende statt, um so den erkrankten erwachsenen Kindern überhaupt erst die Annahme des Angebotes zu ermöglichen. Vor der Annahme des Spendeangebots streben Eltern und Kinder eine Klärung ihrer Beziehung zueinander an: EW01: »Ja, wir haben dann erst mal stillschweigend [lacht] im Auto gesessen und dann nach und nach ich glaube, es ging sogar darum, [. . .] dass ich mich gefragt 8

An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass die vorgestellten Spender-Empfänger-Konstellationen als empirische Beispiele aus unserem Datenmaterial anzusehen sind und wir auf Basis unseres kleinen Samples und unseres qualitativen Vorgehens keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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habe, dass ich das Gefühl hatte, oder wissen wollte von ihr und mich nicht getraut hatte, ob sie all die Sachen, die sie falsch gemacht hat mit mir oder mit uns, ob sie glaubt, die jetzt mit dem Organ gut machen zu wollen.«

Das erkrankte erwachsene Kind, dem hier das Angebot unterbreitet wird, stellt bei dieser Auseinandersetzung die Selbstbestimmtheit des Angebots des Elternteils in Frage und zeigt sich nicht bereit, bestimmte Spendemotive zu akzeptieren. Tatsächlich räumen einige erwachsene Kinder ein, von einem Elternteil aufgrund ihrer konfliktreichen Beziehung nie ein Organ annehmen zu können. Die Aussagen aus der Spenderperspektive belegen zudem, dass in vielen Familien keine intensive Auseinandersetzung über mögliche Spenderoptionen stattfindet. Sowohl unsere empirischen Daten als auch Zeiler 2010 zeigen, dass Frauen sich als fürsorgender Part in der Familie zumeist nicht nur für das chronisch kranke Kind verantwortlich fühlen. Ihre Fürsorge reicht weit darüber hinaus, indem sie auch nur sich als einzige Spenderoption im Entscheidungsprozess sehen und andere Spenderoptionen, wie z. B. den Vater des Kindes, überhaupt nicht in Erwägung ziehen. Ehepaare Der Vorschlag erfolgte in allen von uns untersuchten Fällen immer von der gesunden Partnerin bzw. vom gesunden Partner. Häufiger Motor sind dabei Beschränkungen, die die Beziehung belasten, etwa durch mögliche Persönlichkeitsveränderungen oder körperliche Einschränkungen, z. B. im gemeinsamen sexuellen Leben. SW09: »Ja, mein Mann hat Zystennieren, von Geburt an, hat er geerbt von seinem Vater und dann war mein Mann zweieinhalb Jahre an der Dialyse. Und Dialyse ist Scheiß, auf Deutsch gesagt, verändert das ganze Leben, Familienleben und alles.«

Der /die erkrankte Patient/-in selbst fragt in der Regel nicht nach einer Lebendorganspende, u. a. da er /sie eine Ablehnung befürchtet. In den meisten unserer Fälle ist der /die Ehepartner/-in die einzige Spendeoption, so dass allein dadurch ein hoher Druck auf Spender/-in und Empfänger/-in lastet. Einige Empfängerinnen schildern des Weiteren, dass sie sich vom Ehepartner/-innen und von Ärzten/-innen gedrängt fühlten, das Organ anzunehmen. Wiederum bei einem anderen Paar gerät die Beziehung nach der Spende in ein Ungleichgewicht aufgrund der ungewohnten und für den gesunden Partner bisher unbekannten Aktivität des erkrankten Partners. Die Interessen driften schließlich zu weit auseinander, sodass die Ehepartner/-innen sich trennen. Ein anderes Paar hat sich mit der Option Lebendorganspende sehr intensiv auseinandergesetzt und sie letztlich abgelehnt: SM02: »Bis die Niere dann schlechter wurde. Ja, deswegen aber dann kam natürlich die Frage, Spende unter Ehepartnern. Wir haben damals uns allgemein auch Gedanken gemacht, finden wir das gut und irgendwie so im Grundsatz haben wir gesagt, finden wir eigentlich nicht gut, weil die Abhängigkeiten unheimlich groß werden und sie von sich aus sagte, ich möchte diese Abhängigkeit nicht haben.« Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Die nicht blutsverwandten Spenden verdeutlichen, dass es bei der selbstbestimmten Entscheidung für oder gegen eine Lebendorganspende weniger darum geht, den medizinischen Eingriff der Transplantation und seine Nebenwirkungen zu kennen und zu verstehen. Vielmehr stellt sich die Frage, welche Konsequenzen die Spende und das Empfangen des Organs für die Beziehung haben. Geschwister Geschwisterbeziehungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie bereits ein Leben lang anhalten, aber durch ein sehr unterschiedliches Näheverhältnis gekennzeichnet sein können. Wenn ihre Beziehung als intensiv empfunden wird, erscheint die Lebendorganspende für Spender/-in und Empfänger/-in stimmig. Mehrere Empfänger/-innen berichten, sie haben nicht fragen wollen, aber Angebote von Schwestern und Brüdern erhalten. Sie wollten möglichst nichts mit der Entscheidungsfindung des Spendewilligen zu tun haben. Die Empfänger/-innen individualisieren hierbei ihr Bedürfnis nach einem Organ nicht, sondern erheben es zur Familien- oder Geschwisterangelegenheit. Selbstbestimmung unter Geschwistern lässt sich bei der Komplexität der Entscheidung für eine Lebendorganspende nicht auf die Dyade des Geschwisterpaares reduzieren, vielmehr ist dabei das gesamte Familiengefüge von Bedeutung, und zwar sowohl im Hinblick auf die eigene Familie als auch – bei erwachsenen Geschwistern – deren Familien. Bei spendenden Geschwister-Paaren, die einen großen Altersunterschied aufweisen, treten reziproke Motive in den Vordergrund. Auf der Beziehungsebene zeigen sich bei einer Spende des jüngeren Geschwisterkindes weniger Probleme, wenn der ältere Part zuvor eine als positiv empfundene fürsorgende Rolle in der Beziehung eingenommen hat. Hierbei ist das tragende Motiv Dankbarkeit sowie eine enge emotionale Bindung. Problematisch ist es hingegen, wenn die Fürsorge des älteren Geschwisterkindes von dem jüngeren (erkrankten) Kind eigentlich abgelehnt wird und als Unterdrückung der eigenen Selbstbestimmung in der Familie wahrgenommen wird. Wenn diese Beziehungskonflikte nicht offen ausgetragen werden, entstehen nach der Spende zwischen den Geschwistern (un-)ausgesprochene Unsicherheiten sowie Erwartungen hinsichtlich der Erfolgsaussichten der Spende, die auf beide einen hohen Druck ausüben. So wird beispielsweise das bloße Nachfragen des Spenders nach dem gesundheitlichen Befinden des Empfängers von diesem als Kontrolle interpretiert. Der /die Empfänger/-in fühlt sich aufgrund der einengenden und überladenen Fürsorge eines Geschwisters in seiner Selbstbestimmung eingeschränkt. In Einzelfällen kann mangelnde Kommunikation innerhalb der Familie dazu führen, dass ein Geschwisterkind, wie etwa bei einem Zwilling, automatisch als beste Spendeoption angesehen wird. EW01: »Und da haben ja auch alle erst mal hingeguckt, was mit der Dialyse anfing, so dass dann so bescheuerte Sprüche kamen, so von meiner Oma: »Ach Silvia, na, dann gibst du ja deine Niere, das passt ja wunderbar.« Und die wurde weiß wie eine Wand und war nämlich total unter Druck, weil sie das Gefühl hatte, alle gucken auf sie und es war auch ein bisschen so, dass alle anderen sich so dachten: Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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na, mich geht das nichts an, da gibt’s ja einen eineiigen Zwilling. [. . .] ich wollt ja gar nicht, dass jetzt alle sagen, oh, ich spende, ich spende, ich spende, aber mich hat genervt, dass alle denken, ach, wenn jemand überhaupt in Frage käme, dann doch Silvia. Also das war schon, ich wollte auch nicht in ihrer Haut stecken. Also ich wollte nicht tauschen. Ich wusste, wie beschissen sie sich fühlt.«

Das Beispiel der Zwillingsschwester zeigt, dass eine Lebendorganspende von Geschwistern, insofern sie medizinisch-technisch bzw. immunologisch möglich ist, auch von der weiteren Familie sozusagen als »Dienst an der Familie« erwartet wird. Besonders Eltern haben ein äußerst starkes Interesse an dem Überleben ihres kranken Kindes. Ein Empfänger berichtet etwa, dass seine Mutter emotional mit ihrem Sohn gebrochen hat, weil er seinem Bruder keine Niere spenden wollte: EM08: »Meine Mutter hat 2004 während der Transplantation emotional den Schnitt vollzogen und hat sich emotional von meinem Bruder getrennt. Sie hat ihm glaube ich nicht verziehen, dass er sich überhaupt nicht darum kümmerte, was mit seinem kleinen Bruder ist.«

Konfliktreiche innerfamiliäre Dynamiken treten im Entscheidungsprozess für eine Lebendorganspende zutage und bewirken oder verstärken bereits bestehende Konflikte zwischen den Geschwistern. Diese innerfamiliären Konflikte stellen nicht nur die selbstbestimmte freiwillige Entscheidung potenzieller Spender/-innen und Empfänger/-innen infrage, sondern auch die Akzeptenz dieser Entscheidung durch die Familie, was unter Umständen neue Konflikte auslöst. Freund/-innen Freundschaften haben in pluralisierten Gesellschaften an Bedeutung gewonnen; dies wird im Transplantationsgesetz berücksichtigt, weshalb bei emotionaler Verbundenheit auch eine Lebendorganspende unter Freund/-innen möglich ist. Im untersuchten Sample wurde ein Spendenangebot von Freund/-innen allerdings häufig als sehr außergewöhnlich erlebt. Potentielle Empfänger/-innen, die ein solches Angebot von einer Freund/-in erhalten, sind am Anfang meist irritiert und lehnen sie ab. Wird das Angebot im weiteren Verlauf (6–12 Monate) mehrfach wiederholt, kommt es zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Thema. Auffällig bei den Freundes-Paaren ist, dass sich die Spender/-innen nach der Operation von den Empfänger/-innen distanzieren. Dieses erscheint für die Empfänger/-in paradox, da die Initiative für die Spende in allen untersuchten Fällen von der Spender/-in ausging. Die Spender/-innen erklären, dass sie den Abstand benötigen, um selbst zu genesen. Sie wollten sich vor der Empfänger/ -in nicht als »verletzlich« wegen des operativen Eingriffs zeigen. Dies zeigt, dass so die bislang gültigen Rollen innerhalb der Freundschaftsbeziehung aufrecht erhalten werden sollen. Für den erhöhten Anteil von Frauenspenden können im Fall der Freund/-innen-Spende bestimmte Erwartungen an die fürsorgliche Rolle von Frauen verantwortlich sein. Eine Freundin gab als Grund für die Spende an, dass sie keine Kinder habe und somit ihrer Freundin helfen könne. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

EW07: »[. . .] und da die Alternative bestand und Maraike sagte: »Ich hab doch Blutgruppe B und ich mach es gerne, ich habe keine Kinder und ich kriege keine Kinder mehr und ich will keine Kinder und ich kann dadurch Leben spenden« und das würde sie gern tun.«

Hier mischt sich das altruistische Motiv mit dem Wunsch, sich auf der reproduktiven Ebene zu verwirklichen. Reproduktiv bezieht sich bei diesem Konzept nicht immer auf einen unerfüllten Kinderwunsch. Hierbei kann auch der Aspekt des Lebenschenkens betont werden und gerade nicht der eigene Kinderwunsch. Freundschaft zeichnet sich bereits durch Freiwilligkeit aus. Diese scheint auch zumindest bei den befragten Freundespaaren ein wichtiges Kriterium für beide Seiten zu sein, die Entscheidung zu treffen, da sie in den Interviews die individuelle Selbstbestimmung in die Vordergrund rücken und das Spendemotiv sich unabhängig von Familiendynamiken ergibt.

Schlussfolgerungen Unsere Untersuchung verdeutlicht, dass Selbstbestimmung mit Blick auf Beziehungsdyaden nicht gänzlich unmöglich ist. Es bedarf jedoch einer systematischen Berücksichtigung familiärer Beziehungsdynamiken und ihrer Verwobenheit mit Geschlechterrollen. Anhand der vier exemplarischen Spender/-innenEmpfänger/-innen-Beziehungen konnten wir aufzeigen, dass Selbstbestimmung bei der Entscheidung für oder gegen eine Lebendspende häufig von weiteren Familienmitgliedern beeinflusst wird. Die von uns rekonstruierten innerfamiliären Dynamiken in Lebendorganspenden zeigen, dass die potenziellen Empfänger/-innen bei diesem Prozess häufig in den Hintergrund geraten. Freiwilligkeit wird bei den Empfänger/-innen zu wenig hinterfragt, sodass einige Empfänger/ -innen sich aus dem Entscheidungsprozess ausgeschlossen fühlen und vielmehr dem »still zustimmen«, was »andere«, in diesem Fall die Spender/-innen und die behandelnden Ärzte/-innen, entschieden haben. In den verschiedenen Beziehungskonstellationen werden die Rahmenbedingungen für diese Freiwilligkeit verhandelt. Sie beruhen auf unterschiedlichen Interpretationen von Selbstbestimmung, die sich in ihrer Varianz bisher theoretisch nicht integrieren lassen. Empirische Befunde können dabei behilflich sein, diese Problematik aufzuzeigen und zu verdeutlichen. Die eigenen empirischen Befunde zeigen, dass in Familien, in denen eine chronische Krankheit auftritt, in erster Linie Kräfte aktiviert werden, die dem Veränderungsprozess entgegenwirken sollen. Dies wird zum einen dadurch versucht, dass Verhaltensweisen, die das Familiensystem erhalten, betont werden, oder zum anderen, indem an etablierten Rollen festgehalten wird. In der ersten Strategie stellt sich die Familie auf die chronische Erkrankung ein. Das starke Unterstützungsangebot der Familie wird zu einer Ressource, auf die zurückgegriffen werden kann. Die zweite Strategie führt zu einem Festhalten an bzw. Verstärken der etablierten Rollen in der Familie (Corbin, Strauss 2004). In Familien mit einem traditionellen Geschlechterrollenverständnis betrachten Frauen die Lebendorganspende als eine Ausweitung ihrer Familienpflicht, zu der eben Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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auch ein hohes Maß an Aufopferung für die Familie gehört. Männer hingegen sehen sich als stabilisierenden verantwortungsbezogenen Part, der für den ökonomischen Erhalt der Familie zuständig ist (Schicktanz et al. 2010; Friedman 1998; Gilligan 1998). 9 Mit dieser Hypothese lässt sich das erhöhte Spendeaufkommen von Frauen allerdings nur teilweise erklären. Unsere Ergebnisse bestätigen einerseits bereits bestehende Befunde über die Wirksamkeit von Familienidealen. Andererseits zeigen sie jedoch auch, dass diese Familienideale wiederum vergeschlechtlicht sind (Scheper-Hughes 2007). So zeigte sich in unserem Sample, dass Mutterschaft offenbar beinhalten kann, einem kranken Kind unter allen Umständen zu helfen, auch in Form einer Lebendspende. Wenn dies der Mutter nicht möglich ist, wird dieser Druck an die Familie weiter vermittelt. Diese Fortführung eines traditionellen Rollenverständnisses tritt in der analytischen Auswertung auch bei den symmetrischen Beziehungen zwischen Geschwistern und Freunden zu Tage. Unter erwachsenen Geschwistern kann die Fürsorge des Spenders /der Spenderin vom /von der Empfänger/-in als Einschränkung der eigenen Selbstbestimmung, beispielsweise im Umgang mit dem eigenen Körper, interpretiert werden. Diese beiden Strategien geben zunächst eine Antwort darauf, inwiefern sich aufgrund von familiären Prozessen interner oder aber auch externer Druck entwickeln kann. Interner Druck kann dabei eine emotional aufgeladene Vorstellung sein, wie etwa eine Bringschuld; externer Druck kann z. B. eine angedeutete Erwartung von Familienmitgliedern gegenüber möglichen Spender/-innen und Empfänger/-innen sein (Schauenburg, Biller-Andorno 2003; Schicktanz 2011) Bei der Entscheidung für die Organspende kann somit familiärer Zwang eine Rolle spielen. Für manche Familienangehörige muss es nahezu unmöglich erscheinen, eine Organspende zu verweigern (Zeiler 2008). Dies bedeutet allerdings nicht, dass in Beziehungen prinzipiell aus Zwang gespendet wird. Schließlich bedeutet die Existenz von familiärem Zwang nicht, dass sich Familienangehörige diesem automatisch fügen. Des Weiteren sollte auch die höhere Bereitschaft von Frauen nicht als Ausweis ihrer Unfähigkeit bewertet werden, Entscheidungen zu treffen. Unsere Ergebnisse bestätigen internationale Forschungsergebnisse dahingehend, dass Organspenden an Familienangehörige häufig als selbstverständlicher Ausdruck von Liebe und Zusammenhalt bewertet werden (Zeiler et al. 2010). Die Entscheidung zur Organspende wird mit einem Familienideal in Verbindung gebracht, das auf der Idee basiert, sich innerhalb der Familie zu helfen (Motakef 2011; Shim et al. 2006; Wöhlke 2011). Problematisch ist hingegen, wenn eine Lebendorganspende nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch gesellschaftlich als die moralisch richtige Entscheidung oder als supererogatorisches Werk vermittelt wird (Motakef 2010;

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Das Verstärken von etablierten Rollenverhalten beinhaltet nicht nur die Art der Verantwortungsübernahme in der Beziehung, sondern auch die Handlungsoption. Das heißt beispielsweise, dass ich den fürsorgenden Part aus einer defensiven, einer dominanten oder aus einer gleichberechtigten Position in der Beziehung ausführe. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

2011). Wer will sich schon gegenüber seinem nahen Angehörigen nicht besser verhalten, als moralisch erwartet werden kann? Fragen der Selbstbestimmung und Freiwilligkeit in der Lebendorganspende wurden bislang nahezu ausschließlich mit Blick auf die spendende und die empfangende Seite debattiert. Auch in den Lebendorganspendekommissionen ist bei der Überprüfung von Selbstbestimmung vor allem die spendende und darüber hinaus die empfangende Seite von Bedeutung (Wagner, Fateh-Moghadam 2006). Die innerfamiliären Prozesse, besonders interner Druck durch emotionale Abhängigkeit, der sich in einem verstärkten Verpflichtungsgefühl der Familie gegenüber äußern kann, stehen nicht im Zentrum der Kommissionen. Welchen Stellenwert der weiteren Familie beigemessen wird, hängt somit vom Engagement des einzelnen Arztes bzw. des medizinischen Teams ab. Ob diese vielfältigen innerfamiliären Dynamiken ausreichend und mit adäquaten Konzepten erfasst werden können, um in dieser Hinsicht Freiwilligkeit zu überprüfen, bleibt fraglich. Daher plädieren wir für einen sensiblen Umgang mit Einschränkungen der Selbstbestimmung in der medizinischen Praxis, die aufgrund von Beziehungskonstellationen zutage treten. Dies soll nicht bedeuten, dass innerhalb der Familie keine Lebendorganspende durchgeführt werden sollte. Vielmehr sollte durch stärkere Aufmerksamkeit und professionell geschulten Umgang in den Vorgesprächen eruiert werden, inwieweit sich in den bereits vorhandenen Beziehungsdynamiken, die Rollenzuweisungen und Rollenerwartungen voraussetzen, Hinweise darauf finden, dass die Selbstbestimmung betroffener Spender/-innen oder Empfänger/-innen eingeschränkt sein kann (vgl. Zeiler 2008). Es wird deutlich, dass das Gebot der Selbstbestimmung in der Lebendorganspende nicht auf die individuelle Ebene der Patient/-innen reduziert werden sollte und die Komplexität von Familienbeziehungen berücksichtigt werden muss. Personen, die eine Lebendspende in Betracht ziehen, sollten dafür sensibilisiert werden, ob der Wunsch, ein Organ zu spenden, aufgrund eines Näheverhältnisses oder aber aufgrund einer stereotypen Rollenerwartung und den damit zusammenhängenden Rollenverpflichtungen entstanden ist. In der Praxis der Lebendorganspende sollte man sich neben den oft im Vordergrund stehenden Sorgen vor Organhandel auch dem internen Druck in Familien zuwenden (Wöhlke 2011).

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Julia Inthorn

Patientenverfügungen aus der Perspektive von Ärztinnen und Ärzten in Österreich Patientenverfügung als Autonomieinstrument Die Patientenverfügung gilt als ein wesentliches Instrument, um Patientenautonomie insbesondere am Lebensende zu gewährleisten. Die Möglichkeit, den Patientenwillen mit Hilfe einer Patientenverfügung zu kommunizieren und durchzusetzen hängt dabei von verschiedenen Faktoren ab. Neben den rechtlichen Rahmenbedingungen, die für die Beteiligten für Rechtssicherheit sorgen sollen und Reichweite und Entscheidungsprozesse regeln, spielt die konkrete Formulierung des Patientenwillens in einer Patientenverfügung eine zentrale Rolle. Die Anwendbarkeit der Verfügung auf eine konkrete Situation und die Eindeutigkeit der Darstellung des Patientenwillens sind während einer Entscheidung zu prüfen, so dass unter Umständen nicht jede Patientenverfügung zu dem vom Patienten intendierten Ergebnis führt. Darüber hinaus ist auch die Bereitschaft der Ärztinnen und Ärzte, dieses Instrument zu akzeptieren und in Entscheidungsprozesse einzubeziehen, wesentlich, damit der Patientenwille durch eine Patientenverfügung durchgesetzt werden kann. Im Folgenden werden Ergebnisse einer in Österreich durchgeführten Studie präsentiert, die nach der Haltung und Erfahrungen von Ärztinnen und Ärzten im Bezug auf Patientenautonomie und Patientenverfügungen bei Entscheidungen am Lebensende fragt. Patientenautonomie und ärztliche Entscheidung Patientenverfügungen als Instrument der Selbstbestimmung sind in Österreich im österreichischen Patientenverfügungs-Gesetz (PatVG) seit dem 1.6.2006 geregelt. Das Gesetz sieht zwei Varianten von Patientenverfügungen vor, die verbindliche Patientenverfügung, die klaren Formvorschriften genügen muss und für Ärztinnen und Ärzte bindend ist und die beachtliche Patientenverfügung, an die geringere Anforderungen gestellt werden und die nur als Hinweis auf den Patientenwillen in den Entscheidungsprozess einbezogen werden muss (vgl. Kleteˇcka-Pulker 2007). Der Gesetzgeber verfolgt mit dem PatVG das Ziel, die Selbstbestimmung des Patienten zu stärken und Rechtssicherheit für die Durchsetzung des Patientenwillens zu schaffen (Körtner 2006). Patientenverfügungen sind dabei kein neues Phänomen, sondern erhalten durch das PatVG nur einen neuen gesetzlichen Rahmen. Ziel der hier vorgestellten Studie ist es, die Auswirkungen des Gesetzes auf Entscheidungsprozesse, insbesondere auf die Beachtung des Patientenwillens in ärztlichen Entscheidungen zu untersuchen.

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Fragestellung und Methode Patientenverfügungen können nur wirksam werden, wenn Ärztinnen und Ärzte bereit sind, diese in Entscheidungen zu berücksichtigen. Die Wahrung der Patientenautonomie, für den Fall dass ein Patient sich nicht mehr selbst äußern kann, hängt damit wesentlich davon ab, wie Ärztinnen und Ärzte mit Patientenverfügungen als Ausdruck des Patientenwillens umgehen. Zentrale Fragestellung der im Folgenden vorgestellten Studie war daher zunächst allgemein, welche Erfahrungen Ärztinnen und Ärzte mit Patientenverfügungen bei Entscheidungen am Lebensende gemacht haben. Darüber hinaus interessierte, wie Patientenverfügungen in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, wie Ärztinnen und Ärzte ihre Entscheidungen mit Blick auf Patientenverfügungen begründen, wie sie Entscheidungen am Lebensende strukturieren und welchen Stellenwert sie dem Patientenwillen und Patientenverfügungen im Rahmen dieser Entscheidungen zuschreiben. 1 Diese Fragen wurden eingebettet in allgemeinere Fragen nach dem Selbstverständnis der Ärztinnen und Ärzte und ihren Motiven in Entscheidungssituationen. Im hier vorliegenden Beitrag liegt der Fokus auf der Frage, wie Ärztinnen und Ärzte vor dem Hintergrund ihres Selbstverständnisses ihre Rolle bei Sterbenden Patienten sehen und welche Bedeutung für sie dabei der Patientenwille hat. Da insgesamt noch wenig Erfahrungen mit Patientenverfügungen in Österreich vorliegen und auch bislang kaum Untersuchungen zur Haltung von Ärztinnen und Ärzten gegenüber Patientenverfügungen publiziert wurden, lag ein qualitativ-exploratives Studiendesign nahe. Hierzu wurden 2008 28 leitfadengestützte Experteninterviews mit Ärztinnen und Ärzten aus allen österreichischen Bundesländern durchgeführt. Das Sample weist eine breite Streuung hinsichtlich des Dienstverhältnisses, des Alters, der Dienstjahre, des Fachgebietes und des Geschlechts auf und umfasst sowohl niedergelassene Ärztinnen und Ärzte als auch Ärztinnen und Ärzte an Krankenhäusern und im Rettungsdienst. Die transkribierten Interviews 2 wurden qualitativ-inhaltsanalytisch ausgewertet und eine Typenbildung nach Kluge durchgeführt (Böhm 2005, Kluge 2000). Gemeinsamkeiten: Ärztliches Ethos und Entscheidungssituationen Die Ergebnisse der Interviews zeigen durchgängig, dass Ärztinnen und Ärzte ihre Aufgabe darin sehen, Patienten bestmöglich zu unterstützen. Die Patientenversorgung steht im Mittelpunkt ihres Selbstverständnisses, in dem die Ärztinnen und Ärzte dann jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Das medi1

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Die Studie ist Teil der Evaluationsstudie des österreichischen Patientenverfügungsgesetzes, die die rechtlichen, ethischen und faktischen Erfahrungen nach In-Kraft-Treten des PatVG untersucht. Hintergrund der Gesamtstudie ist die Frage, ob das PatVG und die Patientenverfügung als Instrument Patienten zur Wirksamkeit ihres Willens verhelfen, vgl. Körtner et al. (2009). Die Transkription erfolgte detailgenau entsprechend dem gesprochenen Wort und ggf. im Dialekt. Die hier angegebenen Interviewzitate sind zur leichteren Lesbarkeit sprachlich leicht bereinigt und ins Schriftdeutsch übertragen. Die Nummerierung bezieht sich auf das jeweilige Interview und die Zeilenangaben. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Inthorn: Patientenverfügungen in Österreich

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zinische Fachwissen wird hierzu gezielt eingesetzt. Medizin als Wissensbestand wird dabei als hilfreich erlebt ebenso wie auch die Zusammenarbeit in Teams von Spezialisten. Die ärztliche Arbeit wird beschrieben als eine Abfolge einer Vielzahl von Entscheidungen, die wissensbasiert vom einzelnen Arzt oder auch als Teamentscheidung getroffen werden. Mit den vielen Entscheidungen verbunden ist für die Ärztinnen und Ärzte eine hohe Verantwortung, gleichzeitig aber auch ein großer Gestaltungsspielraum. Dieser Spielraum gepaart mit der Verantwortung für die Entscheidungen wird ambivalent beurteilt und kann sowohl belastend als auch positiv gesehen werden. Die Belastungen, die der Arztberuf mit sich bringen kann, werden vor allem mit dem Hinweis darauf, Menschen in schweren Krisensituationen helfen zu wollen, akzeptiert. Im Hinblick auf Entscheidungen am Lebensende und Patientenautonomie zeigt sich zunächst ein relativ einheitliches Bild. Alle Ärztinnen und Ärzte wissen, dass der Selbstbestimmung des Patienten allgemein eine zentrale Bedeutung für medizinische Entscheidungen zugesprochen wird und sie stellen selbst die Selbstbestimmung des Patienten als etwas Wichtiges dar. 3 Verfahren der Patientenaufklärung und das Einholen der Einwilligung eines Patienten (informed consent) sind zum selbstverständlichen Bestandteil der medizinischen Praxis geworden. Gleichzeitig haben die meisten Ärztinnen und Ärzte ein geringes Wissen über das Patientenverfügungsgesetz. 4 Ihnen ist die Unterscheidung zwischen verbindlicher und beachtlicher Patientenverfügung nicht geläufig ebenso wie sie unzureichend über die Bedingungen der Gültigkeit und Reichweite einer verbindlichen Patientenverfügung Bescheid wissen. So äußert sich ein Arzt auf die Frage nach seinen Erfahrungen mit Patientenverfügungen: »Wir haben eigentlich mit, wirklich so wie es gehört, Patientenverfügungen also eigentlich in den letzen Jahren noch nie was zu tun gehabt, die müssen ja notariell beglaubigt sein« (P18 Z20 ff). 5

Patientenverfügungen kommen in der Praxis noch nicht häufig vor, dennoch gibt es bereits sehr unterschiedliche Erfahrungen sowohl unter niedergelassenen als auch unter Spitalsärztinnen und -ärzten. Neben den hier skizzierten verbindenden Elementen zeigen die Interviews auch große Unterschiede zwischen den Ärztinnen und Ärzten hinsichtlich des Verständnisses der Zielsetzung ihrer eigenen Arbeit und damit verbunden in der Einschätzung von Patientenverfügungen, die im Folgenden als zwei Gruppen vorgestellt werden.

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»Ja, wir dürfen ja an und für sich vom Rechtlichen nichts machen, ohne dass der Patient einwilligt« (P26 Z26 f). Ein ähnliches Bild zeigt sich bei einer Telefonumfrage bei Ärztinnen und Ärzten, die im Nachgang einer Fortbildungsveranstaltung zum Patientenverfügungsgesetz telefonisch befragt wurden. Hier konnten sich einige Ärztinnen und Ärzte nicht einmal an die Fortbildung selbst erinnern. Weder eine verbindliche noch eine beachtliche Patientenverfügung müssen entsprechend PatVG notariell beglaubigt sein. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Gruppe 1: Der Arzt als Lebensretter Eine erste Gruppe von Ärztinnen und Ärzten versteht Medizin als Technik, die auf den Regeln und den Erkenntnissen der Naturwissenschaften beruht. Diese Technik wird durch Ärztinnen und Ärzte dazu genutzt, gezielt in biologischfunktionale Zusammenhänge des Körpers einzugreifen und so zur Heilung eines Patienten beizutragen. Dabei steht der ärztliche Heilauftrag im Zentrum aller Bemühungen. So äußert sich ein Arzt selbst dazu: »Ärzte sind ja da [. . .], um Leben zu retten und Leben zu verlängern« (P18 Z10).

Entscheidungen am Lebensende werden, wie andere medizinische Fragen auch, als fachliche Fragen verstanden und bearbeitet, bei denen ein Vorgehen entsprechend medizinischer Evidenz, das den größten Heilungserfolg verspricht, zu bevorzugen ist. Die Mechanismen einer hochtechnisierten und hochspezialisierten Medizin werden hierfür gezielt eingesetzt und deren weitreichende Möglichkeiten von den Ärztinnen und Ärzten dieser Gruppe geschätzt. Entscheidungen am Lebensende werden innerhalb dieser Logik vollzogen. So antwortet ein Arzt beispielsweise auf die Frage der Interviewerin (I) nach einer solchen Entscheidungssituation: I: »Und wonach ist da entschieden worden, welche Kriterien sind da herangezogen worden?« P1: »Automatismen einer Intensivstation« (P1 Z47).

Die Selbstbestimmung des Patienten spielt innerhalb dieses Zitats keine Rolle mehr. In anderen Aussagen aus dieser Gruppe wird der Selbstbestimmung des Patienten zwar eine wichtigere Rolle zugeschrieben, allerdings wird Selbstbestimmung dabei nicht im klassisch-ethischen Sinn verstanden, sondern innerhalb der medizinischen Logik gedeutet. Der Patientenwille wird von den Ärztinnen und Ärzten dieser Gruppe als ein weiteres Charakteristikum des Patienten – medizinisch gesehen als Symptom des Patienten – verstanden. Die Aufgabe des Arztes besteht darin, den Patientenwillen zu erkennen, den Patienten aber gleichzeitig davon zu überzeugen, welches Vorgehen seinem Wohl bzw. dem Heilauftrag entspricht. Beispielsweise berichtet ein Arzt, dass er bei einer Patientin ein verkapseltes Leberkarzinom, das langsam größer wird, diagnostiziert hat. Diese Diagnose wird der Patientin gezielt verschwiegen, um sie nicht zu beunruhigen und damit ihr Wohl nicht zu gefährden. Im Umgang mit Sterbenden wird diese Haltung fortgesetzt. Da hier kein Heilungserfolg mehr erreicht werden kann, sehen die Ärztinnen und Ärzte in dieser Gruppe den Umgang mit Sterbenden nicht als ihre Aufgabe an. Ein Arzt berichtet von einem sterbenden Patienten auf seiner Station: »Ich hab’ halt, mhm, – am Nachmittag, in der Nacht als Oberarzt Dienst gehabt [I: Ja], das heißt, meine Funktion in diesem Sterbeprozess war gleich Null, ich war eigentlich damit [I : Mhm] nicht befasst . . . Das heißt, ich kann mich als Mediziner darauf beruhn – berufen, ich bin ja der Arzt, für die medizinischen Belange zuständig. Das Menschliche kümmert mich jetzt vielleicht, wenn ich Zeit hab’ oder wenn ich Lust hab’, aber ich muss eigentlich dort net unbedingt hin. [I: Mhm] Und so Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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sind wir glaub’ ich als Mediziner und als Ärzte auch ausgebildet worden, dass dieses Menschliche – da halt sehr weit hintan steht in der Bedeutung« (P28 Z158 ff).

Wenn kein Heilauftrag gegeben ist, wird auch kein Bedarf an ärztlicher Begleitung gesehen. Einzelne Ärztinnen und Ärzte in dieser Gruppe thematisieren das Sterben eines Patienten auch als Niederlage oder Misserfolg. Innerhalb dieses Selbstverständnisses wird die Patientenverfügung als Instrument problematisiert und unter Umständen auch von Ärztinnen und Ärzten missachtet oder umgangen. Die Patientenverfügung widerspricht in der Deutungsperspektive dieser Gruppe dem ärztlichen Selbstverständnis, das auf Heilung hin ausgerichtet ist und die den ärztlichen Handlungsbereich und damit mögliche Therapieerfolge einschränkt, wie ein Arzt deutlich macht: »Und wogegen ich bin ist, dass man eben irgendwelche allgemeinen Patientenverfügungen jetzt erstellt für irgendwelche Fälle, das hat keinen Sinn, und ich glaub auch die Medizin wird auch nicht mehr wirklich arbeiten können, wenn wir uns jetzt so ein Szenario vorstellen, wo dann jeder mit irgendeinem Wisch daher kommt, wo irgendwelche Wünsche drauf stehen« (P12 Z210 ff).

Darüber hinaus wird das PatVG als Überregulierung des ärztlichen Handlungsbereichs kritisiert. Bereits mit dem Krankenhausaufenthalt, so wird zum Teil argumentiert, zeige der Patient seinen Wunsch nach Heilung und medizinischer Hilfe. 6 Der Arzt unterstützt den Patienten und versucht sein Leben zu verlängern, damit der Patient wiederum seine individuellen Ziele verfolgen kann. Leben und maximal zu erreichende Gesundheit werden als Grundlage von Fragen nach Lebensqualität gesehen, es wird aber kein Zusammenhang zwischen Lebensqualität und medizinischer Behandlung hergestellt. Positiv am PatVG werden vor allem zwei Aspekte gesehen: Zum einen wird die dadurch entstandene Rechtssicherheit begrüßt, zum anderen wird die Rolle des Arztes in einem aus ärztlicher Sicht wichtigen Punkt gestärkt, da der Arzt den Beginn des Sterbeprozesses bzw. das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwendung der Patientenverfügung feststellt. Gleichzeitig wird damit auch das Ende des ärztlichen Zuständigkeitsbereichs klarer als bislang definiert. Gruppe 2: Der Arzt als Dienstleister der Lebensqualität In der zweiten Gruppe von Ärztinnen und Ärzten wird der Arztberuf als Dienstleistung beschrieben, bei der im Gespräch mit dem Patienten der jeweilige Bedarf an medizinischer Unterstützung geklärt wird. Der Arzt unterstützt den Patienten individuell in seinen Bedürfnissen und in seinem Streben nach seiner jeweils subjektiv definierten Lebensqualität. Hierfür wird neben medizinischen Mitteln auch über Fragen der Gestaltung der Arzt-Patienten-Beziehung reflektiert. Entscheidungen am Lebensende werden in dieser Gruppe als ethische Frage verstanden, die anhand des Patientenwillen zu entscheiden sind. So betont ein Arzt die ethische Dimension solcher Entscheidungen: 6

Dazu, dass dies weder aus ethischer noch rechtlicher Sicht eine legitime Argumentation darstellt, vgl. Birnbacher et al. (2007). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

». . .das Grundproblem ist, wer trifft die Entscheidung, ja. Ähm – mir ist es wahnsinnig recht, wenn eine Entscheidung, wenn ich sie – wenn ich sie auch für sinnvoll halte, der Patient trifft, weil das ist der, den’s angeht. Für Patienten zu entscheiden, wenn man einfach tut, was an medizinischer Möglichkeit da ist, ist man sicher auf der sicheren Seite [I: Ja], ja und [ob] man auf der ethisch korrekten Seite ist, zweifle ich sehr oft dran« (P7 Z322).

Der hier zitierte Arzt setzt sich mit seiner Aussage gegen die Oberärztin auf seiner Station ab, die beispielsweise alle beachtlichen Patientenverfügungen für irrelevant erklärt hat. Die Patientenverfügung dient – nach Gesprächen mit Patienten – als wichtigste Entscheidungsgrundlage, um den Patientenwillen zu verstehen und therapeutische Maßnahmen daran auszurichten. Ein objektiv bestimmbares Behandlungsziel wird nicht angenommen. Diese grundsätzliche Haltung, die die Lebensqualität und den Patientenwillen als zentrale Richtschnur für die Behandlung annimmt, zeigt sich in der zweiten Gruppe besonders deutlich in der Haltung zur Sterbebegleitung. Die Begleitung sterbender Patienten wird als wichtige ärztliche Aufgabe angesehen, wie ein Arzt für sich selbst beschreibt: »Von Anfang an diesen Gesichtspunkt der Lebensqualität, äh, in den Vordergrund stellen, [I: Hmm] s’bedeutet eben auch Lebensqualität bis zum Schluss, sich zu überlegen und mit dem Patienten, soweit das halt geht, ganz ehrlich zu besprechen, na? – Und, ja für mich bedeutet eben diese Hospizarbeit, hat vor allem auch schon in der Ausbildung auch Kontrast zum Krankenhaus bedeutet, nicht? Für mich äh, hat es sehr viel mit Arztsein einfach zu tun, so wie ich es mir vorstelle, dass man wirklich auch zu Hause den Patienten besucht, dass man sich wirklich äh, ja Zeit nehmen kann, zu ihm hinsetzen kann, ihm zuhören kann und muss, nicht? Und versucht halt eben neben Pillen und Röntgen und Blutabnahmen [I: Hmm] auch irgendwie, ja, letztendlich einfach dabei sein, da sein, – trösten« (P12 Z75).

Hier wird besonders deutlich, dass die Aufgabe der Sterbebegleitung nicht als Sonderfall verstanden wird. Aus dem ärztlichen Selbstverständnis heraus wird argumentiert, dass die Betreuung der Patienten wesentlich weiter gefasst wird als der Einsatz von Medizintechnik. Aus diesem Selbstverständnis heraus werden Patientenverfügungen ebenso wie das Gespräch mit dem Patienten über seine Wünsche grundsätzlich befürwortet. Positiv wird an der Patientenverfügung zudem gesehen, dass dadurch dem Patientenwillen zusätzlich Gewicht verschafft wird. Die Patientenverfügung wird in dieser Gruppe auch als Kommunikationsanlass genommen, um mit dem Patienten über Entscheidungen am Lebensende zu sprechen und sich gemeinsam Klarheit über weitere Schritte und Therapieziele zu verschaffen. Dies bewertet ein Interviewpartner als positiv und beschreibt »Patientenverfügung find’ ich [. . .] prinzipiell von vornherein schon ganz gut, weil das einfach den Menschen etwas dazu bringt, den Tod etwas auch im Leben mehr Thema sein zu lassen« (P8 Z165).

Darüber hinaus wird begrüßt, dass im Falle eines Therapierückzugs auf Wunsch des Patienten für den Arzt Rechtssicherheit besteht. Das neue Gesetz hat in dieser Gruppe aber auch zu Verunsicherung und stellenweise zu Kritik geführt. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Dadurch, dass dem Gespräch mit dem Patienten und dem Patientenwillen ein hoher Stellenwert zukommt, der in dieser Gruppe von Ärztinnen und Ärzten auch vor Erlass des Gesetzes schon anerkannt wurde, sind viele Ärztinnen und Ärzte verunsichert, welchen Stellenwert das Ergebnis eines gemeinsamen Gesprächs gegenüber einer schriftlichen Willenserklärung in einer Patientenverfügung nach der Einführung des PatVG hat. Darüber hinaus ist es für viele Ärztinnen und Ärzte, vor allem aus Unkenntnis des Gesetzes, unklar, was sich für sie durch das PatVG gegenüber der bisherigen Praxis ändert. Der Wunsch, dem Patientenwillen nachzukommen, wird hierbei irritiert durch die Konstruktion der bloß beachtlichen Patientenverfügung ohne absolute Verbindlichkeit und die hohen Formvorschriften inklusive juristischer Aufklärung der verbindlichen Patientenverfügung. Diskussion: »Es ist zumindest ein Probieren . . .« Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass zwei Jahre nach In-Kraft-Treten des PatVG noch erhebliche Unsicherheiten, Wissensdefizite und Irritationen unter Ärztinnen und Ärzten im Umgang mit dem Gesetz bestehen. Die durch die gesetzliche Regelung entstehende Rechtssicherheit, wie sie von medizinethischer Seite hervorgehoben wird (vgl. etwa Neitzke et al. 2006) wird zwar grundsätzlich begrüßt, führt aber nicht automatisch zu einer eindeutigen und veränderten Praxis (Jox 2005). Sowohl unter Ärztinnen und Ärzten, für die Patientenautonomie einen hohen Stellenwert hat, als auch unter Ärztinnen und Ärzten, die den ärztlichen Heilauftrag in den Mittelpunkt ihrer Argumentation stellen, wird das PatVG ambivalent beurteilt. Die hohe Verbindlichkeit, die Patientenverfügungen aus Sicht von Patienten zukommen sollte (vgl. Jox et al. 2009) wird zum Teil durch die Irritation, zum Teil aufgrund des Widerstands von Ärztinnen und Ärzten nicht durch das Gesetz erreicht. Vielmehr zeigen die empirischen Ergebnisse, dass das Gesetz von Ärztinnen und Ärzten vor dem Hintergrund ihres Selbstverständnisses und ärztlichen Ethos in die eigene Praxis integriert wird. Hierbei spielen die eigenen Erfahrungen eine zentrale Rolle. Das bloße Wissen um die Bedeutung von Patientenautonomie, wie es in beiden Gruppen vorhanden ist, reicht nicht, um die Patientenverfügung im Rahmen einer ärztlichen Entscheidung wirksam werden zu lassen. Die Entscheidungen wurzeln im ärztlichen Selbstverständnis, das die Zielsetzungen des ärztlichen Handelns und damit Entscheidungsstrukturen maßgeblich bestimmt (vgl. Inthorn 2012). Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen zeigen deutlich, dass die Patientenautonomie für einen Teil der Ärztinnen und Ärzte für sämtliche Entscheidungen zentral ist, während eine andere Gruppe vor allem Lebensrettung und -verlängerung als zentralen Wert ansieht. Die unterschiedlichen Herangehensweisen wurzeln beide in einem unterschiedlichen Selbstverständnis, aus dem heraus die eigenen Handlungen motiviert sind. Daher ist anzunehmen, dass die gesetzliche Regelung allenfalls mittel- bis langfristig zu einer veränderten Praxis führen wird. Das Gesetz dient dabei sicher als Katalysator einer Entwicklung in der Auseinandersetzung mit Patientenautonomie. Ähnlich wie von Patientenseite aus auch (vgl. Inthorn 2008) steht für ÄrzClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

tinnen und Ärzte die Patientenverfügung in einem Wechselverhältnis von Kommunikation und Absicherung. Die Patientenverfügung kann als Kommunikationsanlass fungieren, gleichzeitig aber die Arzt-Patienten-Kommunikation nur schwerlich ersetzen. Sowohl für Ärztinnen und Ärzte als auch Patienten dient sie gleichzeitig der Absicherung, sie schafft Rechtssicherheit. Zusätzlich wird aber auch befürchtet, dass dadurch das wechselseitige Vertrauen, insbesondere in die Ärzteschaft und in ihren Ethos als helfender und heilender Beruf, erschüttert wird (vgl. Borasio 2005) und die Patientenverfügung zunehmend als Absicherung vor ärztlichem Handeln verstanden wird. Das PatVG und die Patientenverfügung schaffen damit noch keine ideale Praxis im Sinne einer Stärkung der Patientenautonomie. Aber, mit den Worten eines Patienten während der Errichtung einer Patientenverfügung gesprochen: »Es ist zumindest ein Probieren . . .«. Literatur Birnbacher D, Dabrock P, Taupitz J, Vollmann J (2007) Wie sollten Ärzte mit Patientenverfügungen umgehen? Ein Vorschlag aus interdisziplinärer Sicht. In: Ethik in der Medizin 19: 139–147 Böhm A (2005) Theoretisches Codieren: Textanalyse in der Grounded Theory. In: Flick U, von Kardorff E, Steinke I (Hrsg.) Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 4. Aufl., Rowohlt, Reinbek, 384–402 Borasio GD (2005) Selbstbestimmung im Dialog. Die Beratung über Patientenverfügungen als Ausdruck ärztlicher Fürsorge. In: Meier C, Borasio GD, Kutzer K (Hrsg.) Patientenverfügung. Ausdruck der Selbstbestimmung – Auftrag zur Fürsorge. Kohlhammer, Stuttgart, 148–156 Inthorn J (2008) Wünsche und Befürchtungen von Patienten bei der Errichtung von Patientenverfügungen. Ergebnisse einer Studie zum Patientenverfügungs-Gesetz in Österreich. In: Bulletin de la Societe des Sciences Medicales 3: 429–440 Inthorn J (2012) Ethos als Handlungsmotivation – Überlegungen am Beispiel ärztlicher Perspektiven auf Entscheidungen am Lebensende. In: Brüntrup G, Schwartz M (Hrsg.) Warum wir handeln – Philosophie der Motivation. Kohlhammer, Stuttgart, 109–120 Jox RJ (2005) Implementierung der Rechtslange in der klinischen Praxis am Beispiel einer Leitlinie des Klinikums der Universität München. In: Meier C, Borasio GD, Kutzer K (Hrsg.) Patientenverfügung. Ausdruck der Selbstbestimmung – Auftrag zur Fürsorge. Kohlhammer, Stuttgart, 143–147 Jox RJ, Krebs M, Bickhardt J, Heßdörfer K, Roller S, Borasio GD (2009) Verbindlichkeit der Patientenverfügung im Urteil ihrer Verfasser. In: Ethik in der Medizin 21: 21–31 Kleteˇcka-Pulker M (2007) Grundzüge und Zielsetzungen des PatientenverfügungsGesetzes. In: Körtner U, Kopetzki C, Kleteˇcka-Pulker M (Hrsg.) Das österreichische Patientenverfügungsgesetz. Ethische und rechtliche Aspekte. Springer, Wien, 81–96 Kluge S (2000) Empirisch begründete Typenbildung in der qualitativen Sozialforschung [14 Absätze]. In: Forum Qualitative Sozialforschung 1(1) Art 14. http: // nbn-resolving.de /urn:nbn:de:0114-fqs0001145. (Zugegriffen 12. April 2012) Körtner U (2006) Das österreichische Patientenverfügungsgesetz. Entstehungsgeschichte, Inhalt, Bewertung. In: Zeitschrift für evangelische Ethik 50: 221–227 Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Inthorn: Patientenverfügungen in Österreich

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Körtner U, Kopetzki C, Inthorn J, Kleteˇcka-Pulker M (2009) Endbericht: Studie über die rechtlichen, ethischen und faktischen Erfahrungen nach Inkrafttreten des Patientenverfügungs-Gesetzes (PatVG). http: // www.bmg.gv.at / cms / home / attachments / 3 / 9 / 7 / CH1096 / CMS1261481034491 / ierm_endbericht_patvg_dez_2009. pdf. (Zugegriffen 12. April 2012) Neitzke G, Charbonier R, Diemer W, May AT, Wernstedt T (2006) Göttinger Thesen zur gesetzlichen Regelung des Umgangs mit Patientenverfügungen und Vorsorgevollmacht. In: Ethik in der Medizin 18: 192–194

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Daniela Ritzenthaler-Spielmann

25 Jahre Patientenverfügungen in der Schweiz Wie hat sich die Patientenautonomie verändert? Einleitung Für die Umsetzung der Patientenrechte und insbesondere die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Patient/-innen spielt die Patientenverfügung als Entscheidungsinstrument bei Urteilsunfähigkeit eine bedeutende Rolle. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung von Patientenverfügungen in der Schweiz in den letzten 25 Jahren sowie über die aktuelle Rechtslage zu Patientenverfügungen in der Eidgenossenschaft. Dabei wird die Patientenautonomie am Instrument der Patientenverfügung und im Laufe der Zeit reflektiert. Im letzten Teil des Artikels werden Herausforderungen und Spannungsfelder thematisiert, welche sich bei der Umsetzung der Selbstbestimmung im Rahmen der neuen Gesetzgebung in den nächsten Jahren stellen. Die bisher existierende Literatur zu Patientenverfügungen in der Schweiz ist hauptsächlich ab 2007 entstanden (siehe Literaturverzeichnis), klärt vor allem juristische und ethische Fragen der Patientenverfügungen, zeichnet jedoch die historische Entwicklung nur am Rande nach. Deshalb beruht dieser Artikel neben der Berücksichtigung der bestehenden Literatur auf deskriptiven Betrachtungen und Erfahrungen der Autorin in der Praxis, sowie aus narrativen Elementen von Zeitzeugen aus dem Gesundheitswesen. Historischer Überblick Dieses Kapitel gibt einen kurzen Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Patientenverfügungen in der Schweiz von den 1980er Jahren bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Pionierphase: Die Patientenverfügung als Kampfinstrument Die erste Patientenverfügung wurde in der Schweiz 1984 von der Suizidbeihilfeorganisation »EXIT« entwickelt und herausgegeben. Die Ärzte entschieden damals meist alleine über Therapien und die meisten technisch machbaren lebensverlängernden Massnahmen wurden ausgeschöpft. Viele Mitglieder der Sterbehilfeorganisation, die schwer kranke Angehörige hatten, empfanden damals ein starkes Unbehagen bei der medizinischen Betreuung am Lebensende. Die Behandlung wurde oft als Übertherapierung empfunden. Der Ruf nach einem selbstbestimmten Sterben wurde immer lauter. Im Vordergrund stand dabei die Selbstbestimmung als Abwehrrecht gegen eine Medizin, welche Therapien durchführte, die der Patient nicht mehr gewollt hätte, wenn er sich in der aktuellen Situation hätte äussern können. In dieser Stimmung entstanden die ersClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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ten Patientenverfügungen: Sie waren geprägt von einem kämpferischen Eintreten für die Abwehrrechte der Patient/-innen. Die erlebten Schwierigkeiten bei Sterbesituationen von nahestehenden Personen, sowie die Medizin, die sich noch nicht dem Paradigma der Selbstbestimmung verschrieben hatte, führten dazu, dass diese erste Patientenverfügung als Kampfmittel gegen Übertherapierung verwendet wurde. Dieser Kampfgeist prägte viele Jahre – und tut es in gewissen Fällen bis heute – das Bild und die Haltung, welche Ärzte gegenüber Patientenverfügung haben. Sie werden als Misstrauensvotum ihnen und ihrer Arbeit gegenüber wahrgenommen. Zweite Phase: Verbreitung der Patientenverfügung und Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Patientinnen und Patienten Während der späten Achtziger und der Neunzigerjahre wurden einige neue Patientenverfügungsformulare entwickelt, die meist auf Lebensendentscheide beschränkt waren. Erst Ende der 90er Jahre bis ungefähr 2007 beschleunigte sich die Entwicklung des Instrumentes Patientenverfügung signifikant. Das Instrument verbreitete sich in der Fachwelt zunehmend und die Selbstbestimmung als normative Basis der Arzt-Patientenbeziehung ist heute grundsätzlich weitgehend akzeptiert. Zahlreiche Nonprofitorganisationen begannen, eine eigene Patientenverfügung herauszugeben. Parallel zu dieser Entwicklung haben sich die Therapiemöglichkeiten verfeinert und ausgeweitet. Die Erkrankungen z. B. von hochaltrigen Patient/-innen sind komplexer geworden, und damit nahm die Anzahl der Stellvertreterentscheidungen bei urteilsunfähigen Patient/-innen in Spitälern seit den 80er Jahren sehr stark zu. Aktuell wird ungefähr bei 40% aller Menschen, die in der Schweiz sterben, vorgängig eine Therapieentscheidung getroffen (Bosshard et al. 2005), auf Intensivstationen sind es 70% der Todesfälle. Diese Zahlen sind im Vergleich zum europäischen Durchschnitt sehr hoch (Geth 2010, 27). Auch wenn nicht alle diese Patient/-innen urteilsunfähig sind, ist eine starke Zunahme von Stellvertreterentscheidungen am Lebensende festzustellen. Damit hat auch die Bedeutung der Patientenverfügung zugenommen – auch wenn in der Schweiz noch keineswegs eine Mehrheit der urteilsunfähigen Patient/-innen vorgängig eine Patientenverfügung erstellt hat. Schwarzenegger (Schwarzenegger et al. 2010, 14) erhob in einer Studie, wie viele Personen über eine persönliche Patientenverfügung verfügen. In der Gesamtstichprobe (N=1464) waren es 16,6%, wobei bei den über 71-jährigen 34% eine erstellt hatten, bei den unter 30-jährigen nur gerade 2,9%. Leider gibt es keine empirischen Studien, wie viele Prozent der hospitalisierten Patient/-innen eine Patientenverfügung abgeben oder bei welchem Prozentsatz bei Therapieentscheidungen bei urteilsunfähigen Patient/-innen eine Patientenverfügung vorlag.

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Dritte Phase: Beschleunigung der inhaltlichen Entwicklungen und gesetzliche Regelung der Patientenverfügung Die letzten fünf Jahre (2007 bis 2012) sind geprägt von einer rasanten Weiterentwicklung der Patientenverfügungen, die vier Hauptmerkmale aufweist – – – –

Ausweitung des Geltungsbereichs von Patientenverfügungen Entwicklung einer Vielzahl von Patientenverfügungen Verabschiedung des neuen Erwachsenenschutzrechts Vermehrte Publikationen und akademische Auseinandersetzung mit dem Instrument Patientenverfügung

Ausweitung des Geltungsbereichs Der Geltungsbereich der Patientenverfügungen hat sich (in der Schweiz) in den letzten zehn Jahren allmählich vom Fokus der »End-of-life Decisions« hin zu einem Entscheidungsinstrument für alle Situationen der Urteilsunfähigkeit erweitert. Durch die zunehmenden medizinischen Möglichkeiten mussten komplexe Therapieentscheidungen immer häufiger ausserhalb der Sterbephase bei urteilsunfähigen Patient/-innen getroffen werden. Bestimmte Entscheidungen führten in der klinischen Praxis immer wieder zu Dilemmata. Dies war z. B. bei Entscheidungen, ob Reanimationsmassnahmen eingeleitet werden sollen, oder ob eine künstliche Ernährung begonnen werden soll, der Fall. Aufgrund des Entscheidungsdrucks in der Praxis wurden Patientenverfügungen entwickelt, in welchen z. B. über künstliche Ernährung separat von anderen lebensverlängernden Massnahmen entschieden werden kann (vgl. Patientenverfügung von Dialog Ethik oder der Krebsliga Schweiz). Ein weiteres Beispiel zu dieser Ausweitung des Geltungsbereiches stellen die Erwägungen der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin dar, welche 2011 ihre Stellungnahme zu den Patientenverfügungen unter besonderer Berücksichtigung der Demenz herausgegeben hat. Auch im Verlauf dementieller Erkrankungen stellen sich häufig medizinische Entscheidungen und in der Bevölkerung besteht erfahrungsgemäss der Wunsch, auch eine Patientenverfügung für Situationen der Urteilsunfähigkeit aufgrund von Demenz zu erstellen. Die Nationale Ethikkommission hat auf dieses Bedürfnis reagiert und zu ethischen Kernfragen bei Patientenverfügungen bei Demenz Stellung genommen (Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin 2011, 6 f.). Mit der Ausweitung des Geltungsbereichs hat die Komplexität für Laien, die eine Patientenverfügung erstellen möchten, enorm zugenommen. Sie müssen sich Gedanken machen, für welche Situationen der Urteilsunfähigkeit sie vorsorgen möchten und welche medizinischen Entscheidungen sie antizipieren möchten oder zumindest, ob sie sich eher für eine detaillierte oder nur eine kurze Patientenverfügung entscheiden. Es erfordert Zeit, Fachwissen und Reflexion, die eigene Patientenverfügung abzuschliessen. Zudem handelt es sich um ein emotional anspruchsvolles Unterfangen.

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Entwicklung einer Vielzahl von Patientenverfügungen Gerade die Auswahl einer geeigneten Patientenverfügung fällt dem Laien u.U. aufgrund des breiten Angebotes nicht leicht: Aktuell bestehen allein in der deutschsprachigen Schweiz über 40 verschiedene Patientenverfügungsformulare. 1 Diese lassen sich in 3 Arten einteilen: – Allgemeine Patientenverfügung: Sie macht generelle Aussagen zu medizinischen Therapien und Wünschen für die letzte Lebenszeit – Krankheitsspezifische Verfügungen: Sind auf spezifische Symptome und Entscheidungen bei einer bestimmten Krankheit ausgerichtet (z. B. Patientenverfügung nach der Diagnose Krebs, Patientenverfügung für parkinsonbetroffene Menschen). – Verfügungen eines Leistungserbringers: Spitäler oder Langzeitpflegeinstitutionen erarbeiten zunehmend eigene Verfügungen, mit dem Wunsch, für sie wichtige Entscheidungen zu antizipieren. Bei dieser Art der Patientenverfügung kann die Gefahr bestehen, dass das Bedürfnis der Organisation, sich rechtlich abzusichern im Bezug auf gewisse Entscheidungen stärker gewichtet wird als der Wille und die Bedürfnisse des Bewohners, die er in einer Patientenverfügung regeln möchte. Hier ist zu betonen, dass keinerlei Druck auf Bewohner ausgeübt werden darf, damit diese eine Verfügung erstellen.

Fehlende »Wirksamkeitsstudien« Die zahlreichen Patientenverfügungsformulare in der Schweiz, die sich in Ausführlichkeit und Inhalten stark unterscheiden, führten in den letzten Jahren unter Fachpersonen zu einer kontroversen Diskussion über Qualitätsmerkmale einer Patientenverfügung. Es geht dabei insbesondere um einen Richtungsstreit, welche Inhalte in der Patientenverfügung hilfreich sind, um möglichst selbstbestimmte Entscheidungen bei Urteilsunfähigkeit zu ermöglichen. Die Frage nach der »Wirksamkeit« von Patientenverfügungen wurde gestellt. Wenn man von Wirksamkeit spricht, muss geklärt werden, was denn wie umgesetzt werden soll. Die Nationale Ethikkommission geht davon aus, dass die Grundlage der Patientenverfügung das Abwehrrecht des Patient/-innen gegenüber allen invasiven medizinischen Massnahmen darstellt (Nationale Ethikkommission 2011, 6). Der Patient hat also ein Recht auf körperliche Unversehrtheit in Bezug auf Therapien, die er nicht gewollt hat. Wie kann nun dieses Recht mit Hilfe einer Patientenverfügung am besten umgesetzt werden? Die folgende Aufzählung zeigt, welche Hauptinhalte in der Fachdiskussion als bedeutend genannt werden: Was ist wirksam? – Medizinische Entscheidungen (wie z. B. Reanimation ja /nein), die dem Behandlungsteam klare Handlungsanweisungen geben? 1

Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (2011, 10). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

– Die Werthaltung, welche den Kontext und die Lebenswelt des Menschen mit enthalten soll? – Ist es in erster Linie sinnvoll, vertretungsberechtigte Personen zu ernennen, welche die eigene Biographie kennen und dann die Entscheidungen stellvertretend treffen sollen? 2 Es wurden bisher unseres Wissens keine empirischen Untersuchungen dazu durchgeführt, wie die einzelnen Inhalte von bestehenden Patientenverfügungen dann in der konkreten Entscheidungssituation Anwendung finden. Dies wäre eine interessante Fragestellung für künftige Forschung. Diesen Mangel an empirischen Studien betonen auch Andorno et al. (Andorno et al. 2009, 224). Die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) sprechen den Werteklärungen in Patientenverfügungen eine gewichtige Rolle zu. Gemäss der SAMW gibt sie Aufschluss darüber, »welche Lebenseinstellungen, Befürchtungen, Werte und Erwartungen für den Patienten bestimmend sind« (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften 2009, 3). Gemäß Naef et al. (2012) ist der Hintergrund dieser Betonung der Werteklärung »die Tatsache, dass die Verfügenden in den Entscheidungen über medizinische Massnahmen immer Werteentscheidungen zu den Themen Kranksein, Sterben, Leiden und Tod fällen. In den Werteklärungen sollen diese oft unbewussten Werteäusserungen dargelegt werden. Allerdings muss betont werden, dass in der Praxis noch sehr wenig Erfahrungen mit Wertehaltungen und deren Bedeutung in der Entscheidungssituation vorliegen« (Naef et al. 2012, 80).

Obwohl die Selbstbestimmung als Leitwert gilt in der Medizinethik und Patientenverfügungen ein bedeutendes Instrument zur Realisierung der Selbstbestimmung darstellen, ist wenig empirisches Wissen zur Umsetzung der Patientenverfügung in Entscheidungssituationen vorhanden. Erfahrungen während zahlreicher Moderationen von ethischen Fallbesprechungen zu Therapieentscheidungen bei Urteilsunfähigkeit zeigten, dass nur konkrete medizinische Entscheidungen in der Patientenverfügung für das Behandlungsteam handlungsweisend sein können. 3 Wertehaltungen können stark interpretiert werden und sind nur bedingt als klare Willensäusserung für die konkrete Therapieentscheidung verwendbar. Konkrete medizinische Entscheidungen ermöglichen es stärker, das Selbstbestimmungsrecht in der konkreten Situation wahrzunehmen. Dies spricht für die Wahl einer komplexeren und ausführlicheren Patientenverfügung, setzt aber bei den verfügenden Personen eine vertiefte Auseinandersetzung mit medizinischen Fakten voraus. Der Patient übernimmt mehr Verantwortung, muss Entscheidungen reflektieren und antizipieren, die emotional belastend sind. Dies 2

3

Zur Rolle der Angehörigen in Patientenverfügungsformularen in der Schweiz siehe Zellweger et al. (2008). Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Dialog Ethik in Zürich. Dialog Ethik ist ein Interdisziplinäres Institut für Ethik im Gesundheitswesen, welches in den letzten 12 Jahren zahlreiche medizin-ethische Entscheidungen am Lebensende in Spitälern und Kliniken begleitete. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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ist sein Preis für eine grössere Autonomie im Falle der Urteilsunfähigkeit. Die soeben aufgestellte Hypothese müsste jedoch durch empirische Studien überprüft werden. Neues Erwachsenenschutzrecht Die vertiefte fachliche Auseinandersetzung in den letzten Jahren besteht meist in der Frage der rechtlichen Verbindlichkeit von Patientenverfügungen (siehe dazu Geth 2010; Andorno et al. 2009; Guillod 2010). Mit der Einführung des neuen Erwachsenenschutzrechtes ab dem 1.1.2013 tritt in der Schweiz erstmals eine eidgenössische Regelung der Patientenverfügung in Kraft. Bis zu diesem Moment gelten die kantonalen Gesetzgebungen, welche sehr unterschiedlich sind. 4 Das neue Erwachsenenschutzrecht ist Teil des Schweizerischen Zivilgesetzbuches. Es löst das bisherige Vormundschaftsrecht ab, welches bereits seit 1912 in Kraft ist und den heutigen Anforderungen des Erwachsenenschutzes nicht mehr gerecht wird. Ziel der Reform ist denn auch, gesellschaftlichen Veränderungen und Werteverschiebungen in der Gesellschaft Rechnung zu tragen. So soll in erster Linie das Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger gestärkt werden. Zudem soll die Solidarität in der Familie gefördert werden und das Handeln bei Urteilsunfähigkeit erleichtert werden. Dafür sieht der Gesetzgeber u. a. die Patientenverfügung vor. Mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht ist die Patientenverfügung für den behandelnden Arzt verbindlich, außer: – sie fordert Rechtswidriges (z. B. aktive Sterbehilfe), – beruht nicht auf freiem Willen, – es bestehen klare Hinweise, dass sich der mutmassliche Wille geändert hat. 5 Für die Patientenverfügung in der Schweiz gelten folgende Formvorschriften: Sie ist schriftlich zu erstellen, zu datieren und zu unterzeichnen. Der Verfügende muss urteilsfähig sein, Volljährigkeit ist allerdings nicht Voraussetzung. Vertretungsberechtigte Personen Bis Ende 2012 tragen in den meisten Kantonen in der Schweiz juristisch gesehen die Ärzte die Verantwortung über Therapieentscheide bei urteilsunfähigen Patientinnen. Dies bedeutet, dass Angehörige und in Patientenverfügungen ernannte Bezugspersonen kein Vertretungsrecht bei medizinischen Massnahmen haben. 6 4

5

6

In Brauer (2007, 26) findet sich eine Zusammenfassung der Regelungen in den verschiedenen Kantonen. Eine ausführliche juristische Betrachtung zu dieser rechtlichen Regelung und ihrer Vor- und Nachteile findet sich in Geth (2010). Eine Zusammenfassung des neuen Erwachsenenschutzrechtes liefert ebenfalls Guillod (2010). Einzig in der französischsprachigen Schweiz war schon bisher üblich, einen gesetzlichen Vertreter als Entscheidungsperson zu bestimmen, einen sog. »représentant thérapeutique«, der anstelle des Patienten in Therapien einwilligen oder diese ablehnen kann. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Sie haben in Entscheidungssituationen bei urteilsunfähigen Angehörigen einzig die Rolle, den Ärzten ihr Wissen über den mutmasslichen Willen des Patienten zu vermitteln. Nur Menschen, die nie urteilsfähig waren, also Kinder oder Menschen mit einer (schweren) geistigen Behinderung, haben vor 2013 gesetzliche Vertreter, welche Entscheidungsbefugnisse im Bezug auf medizinische Entscheidungen hatten. Ansonsten lag die juristische Verantwortung der Stellvertreterentscheidung bei den Ärzten. Sie mussten sich bei ihrer Entscheidung nach dem mutmasslichen Willen des Patienten richten. Hat ein Patient keine Patientenverfügung wurden die Angehörigen in den meisten Kantonen lediglich befragt um den mutmasslichen Willen des Patienten zu vermitteln, ohne juristisch auf die Entscheidung Einfluss zu nehmen. Ab 2013 werden Angehörige von Gesetzes wegen auch ein Vertretungsrecht haben, wenn der Patient keine Patientenverfügung erstellt hat und niemanden als vertretungsberechtigte Person ernannt hat (Art. 378 nZGB). Im alten Recht kam deshalb den Ärzten in der Schweiz ein grösserer Handlungsspielraum zu, als dies in anderen europäischen Ländern der Fall war, weil sie nicht nur die Indikation für eine Therapie bestimmten, sondern auch den mutmasslichen Willen eruierten und die Entscheidung rechtlich verantworten konnten und mussten. Spannungsfelder in der aktuellen Situation Ab 2013 ergeben sich durch die neue Gesetzgebung für die an Stellvertreterentscheidungen Beteiligten neben juristischer Klarheit auch neue Spannungsfelder. Zum Teil bestanden diese Schwierigkeiten schon bisher, wurden aber weniger manifest. Verfügende Person Das Erstellen einer Patientenverfügung bedingt eine vertiefte Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit: – Was bedeutet Selbstbestimmung für mich? – Was will ich mit der Patientenverfügung in meiner letzten Lebenszeit erreichen? – Welche Informationen benötige ich, um die Patientenverfügung erstellen zu können? – Will ich eine vertretungsberechtigte Person ernennen, und nach welchen Kriterien wähle ich sie aus? Wie informiere ich sie, damit sie in der Entscheidungssituation ihre Rolle wahrnehmen kann? Kann ich mit der Patientenverfügung die Angehörigen (vertretungsberechtigten Personen) entlasten oder bedeutet die neue Rolle eher eine zusätzliche Belastung? Damit die Bevölkerung über die neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen informiert wird, sollten die rechtlichen Änderungen ab 2013 in der Öffentlichkeit Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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thematisiert werden. Dies mit dem Ziel jenen Bürgerinnen und Bürger, die dies möchten, dank dem Erstellen ihrer Patientenverfügung die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts bei Urteilsunfähigkeit zu ermöglichen. Behandlungsteams in Kliniken, Spitälern und Langzeitpflegeinstitutionen Insbesondere die behandelnden Ärzte müssen sich mit der neuen Rolle zurechtfinden, da sie einen Teil ihrer Entscheidungsbefugnis an vertretungsberechtigte Personen abgeben müssen. Im Sinne aller Beteiligten wären sogenannte Shared-decision-making-Prozesse. Bei dieser geteilten Entscheidungsverantwortung sind hohe kommunikative Fähigkeiten gefragt, damit mit vertretungsberechtigten Personen gemeinsam gute Entscheidungen im Sinne des Patienten getroffen werden können. Um dieses Ziel erreichen zu können, wäre es wünschenswert, wenn die Kommunikation bei urteilsfähigen Patient/-innen über Behandlungswünsche und Patientenverfügungen intensiviert würde, sei dies durch Hausärzte, beim Eintritt in ein Spital oder nach einem Heimeintritt. Vertretungsberechtigte Personen Die Rolle der vertretungsberechtigten Person ist anspruchsvoll und verantwortungsreich. Therapieentscheidungen zu fällen ist fachlich herausfordernd und emotional belastend. Einerseits muss viel medizinisches Fachwissen in die Entscheidung einbezogen werden, was ein gutes Verständnis der medizinischen Erklärungen des Arztes bedingt. Andererseits sind Charaktereigenschaften und Selbstvertrauen notwendig, die es ermöglichen, im Gespräch mit dem Arzt so lange nachzufragen, bis alle für die Entscheidung notwendigen Aspekte verständlich und klar sind. Oft müssen Therapieentscheidungen in emotional stark belastenden Momenten getroffen werden. Es stimmt nachdenklich, dass laut einer Metastudie 1/3 der Stellvertretungspersonen nach Entscheidungen unter Schuldgefühlen oder anderen emotionalen Problemen litten (Wendler, Rid 2011). Deshalb sollten Anbieter von Patientenverfügungen den Verfügenden Informationen über die Herausforderungen und Chancen der Stellvertretungsrolle liefern, damit die Personen, welche ein solches Mandat übernehmen, sich überlegen können, ob sie sich diese Rolle zutrauen oder nicht. Dies bedeutet auch, dass darauf aufmerksam gemacht werden muss, wie wichtig das Gespräch zwischen Verfügendem und Vertreter über die Wünsche zur medizinischer Behandlung ist, damit der Vertreter auch Anhaltspunkte für die später allenfalls zu treffenden Entscheidungen hat.

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Organisationen des Gesundheitswesens Mit dem Inkrafttreten des Erwachsenenschutzrechtes sind Organisationen im Gesundheitswesen erstmals rechtlich gezwungen, ihre Abläufe im Umgang mit Patientenverfügungen zu strukturieren, da der Arzt bei Urteilsunfähigkeit abklären muss, ob eine Verfügung vorliegt. 7 Handelt er nicht gemäss den Inhalten der Patientenverfügung muss er dies im Patientendossier schriftlich festhalten und begründen. Zwei Hauptfragen stellen sich beim Umgang mit Patientenverfügungen: – Informationsvermittlung und Beratung rund um Patientenverfügungen: Wird das Thema Patientenverfügung bei urteilsfähigen Patient/-innen aktiv angesprochen (z. B. beim Eintritt), damit eine bestehende Patientenverfügung vorhanden ist, falls sich der Gesundheitszustand verschlechtern würde? Gibt es geschulte Fachpersonen in der Organisation, die eine Beratung beim Erstellen der Patientenverfügung anbieten können? Wenn nein, wie wird der Patient unterstützt, wenn er weitere Informationen zur Patientenverfügung wünscht? – Umsetzung der Patientenverfügung in der Entscheidungssituation: Wie werden Stellvertreterentscheidungen bei Urteilsunfähigkeit gestaltet? Wie sehen die Abläufe aus, um die Patientenverfügung zu erhalten und umzusetzen? Bestehen transparente Entscheidungsgespräche und -prozesse? Werden in den Gesprächen ethische Überlegungen einbezogen, d. h. hat ein Teil des Behandlungsteams eine ethische Grundausbildung? Derzeit stehen Langzeitpflegeinstitutionen wie Alters- und Pflegeheime aber auch Spitäler und Kliniken an ganz unterschiedlichen Punkten, was den Umgang mit Patientenverfügungen betrifft. Ein Teil der Institutionen hat bereits detaillierte Konzepte zum Thema erarbeitet, bei einem weiteren Teil fehlt eine systematische Auseinandersetzung zum Umgang mit Patientenverfügungen bisher. Fazit Die kontinuierliche Ausweitung des Selbstbestimmungsrechtes der Patientinnen und Patienten in den letzten 25 Jahren sowie die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung haben zu einer Etablierung des Instrumentes der Patientenverfügung geführt. Sie entwickelte sich weg vom Kampfmittel gegen die Ärzte, hin zu einem Kommunikations- und Entscheidungsinstrument. Dabei kommt dem Gespräch über Entscheidungen über Therapien und über Wünsche für die Situation der Urteilsunfähigkeit eine gewichtige Rolle zu. Ziel wäre es, dass diese Gespräche sich nicht nur um konkrete Entscheidungen wie z. B. künstliche Ernährung oder Organspende drehen, sondern dazu führen, miteinander über Leben, Leiden und Sterben auszutauschen und Ängste in Worte zu fassen. Dies sollte zu einer ganzheitlichen Behandlung und Betreuung im Sinne der Palliative Care beitragen, damit der Patient in der letzten Lebenszeit eine möglichst hohe 7

Siehe dazu auch Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (2009) zu Patientenverfügungen. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Lebensqualität erfahren kann. Gleichzeitig soll die Kommunikation über Verfügungen die Planung der Behandlung verbessern und alle Beteiligten, seien es Angehörige und vertretungsberechtigte Personen, aber auch Behandlungsteams, in der Entscheidungssituation entlasten. Das Recht auf Selbstbestimmung soll dabei ausdrücklich nicht im Gegensatz zu einem vertrauensvollen Verhältnis stehen. Ohne eine gute Arzt-Patienten-Angehörigen-Beziehung ist es schwierig, gute Stellvertreterentscheidungen im Sinne des Patienten zu treffen. Die kommunikativen Anforderungen an alle Beteiligten sind hoch, damit dieses Ziel erreicht werden kann. Lassen wir uns daher ein auf die existentiellen Gespräche über unsere Endlichkeit, mit allen Hindernissen die auftauchen können, aber auch der Tiefe, die dabei entstehen kann.

Literatur Andorno R, Biller-Andorno N, Brauer S (2009): Advance Health Care Directives: Towards a Coordinated European Policy? In: European Journal of Health Law 16: 207–227 Bosshard G et al. (2005): Behandlungsabbruch und Behandlungsverzicht in sechs europäischen Ländern: Resultate der EURELD/MELS-Studie. In: Primary Care 5(39): 799–802 Brauer S (2007): Die Patientenverfügung in der Schweiz. In: Bioethica Forum 55: 26– 28 Brauer S (2008): Die Autonomiekonzeption in Patientenverfügungen – Die Rolle von Persönlichkeit und sozialen Beziehungen. In: Ethik in der Medizin 20(3): 230–239 Dialog Ethik (2012): Patientenverfügung HumanDokument. http: // www.dialogethik.ch / patientenverfuegung / bestellen-und-download (Zugegriffen 29. März 2012) Erwachsenenschutzrecht: Schweizerische Eidgenossenschaft. Neues Zivilgesetzbuch (nZGB), Änderung vom 19. Dezember 2008. http: // www.admin.ch / ch / d / sr / 2 / 210.de.pdf (Zugegriffen 29. März 2012) Geth C (2010): Passive Sterbehilfe. In: Basler Studien zur Rechtswissenschaft. Reihe C, Strafrecht. Band 24. Helbing Lichtenhag, Basel Guillod O (2010): Droit des personnes. Université de Neuchâtel, Neuchâtel Krebsliga Schweiz: Patientenverfügung nach der Diagnose Krebs. Mit ausführlicher Wegleitung. Abrufbar unter: http://www.krebsliga.ch (Zugegriffen 28. März 2012) Naef J, Baumann-Hölzle R, Ritzenthaler-Spielmann D (2012): Patientenverfügungen in der Schweiz. Basiswissen Recht, Ethik und Medizin für Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen. Schulthess, Zürich Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (2011): Patientenverfügung. Ethische Erwägungen zum neuen Erwachsenenschutzrecht unter besonderer Berücksichtigung der Demenz. Stellungnahme Nr. 17. http: // www.nek-cne.ch (Zugegriffen 29. März 2012) Parkinson Schweiz (2009): Patientenverfügung für parkinsonbetroffene Menschen. http: // www.dialog-ethik.ch / patientenverfuegung / bestellen-und-download / parkinson (Zugegriffen 29. März 2012) Schwarzenegger et al. (2010): Was die Schweizer Bevölkerung von Sterbehilfe und Suizidbeihilfe hält. http://www.rwi.uzh.ch/lehreforschung/alphabetisch/schwarzenegger.html (Zugegriffen 29. März 2012) Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (2009): Medizin-ethische Richtlinien: Patientenverfügungen. http: // www.samw.ch /de /Ethik /Richtlinien /Aktuell-gueltige-Richtlinien.html. (Zugegriffen 28. März 2012) Wendler D, Rid A (2011): Systematic Review: The Effect on Surrogates of Making Treatment Decisions for Others. In: Annals of Internal Medicine 154: 336–346 Zellweger C, Brauer S, Geth C, Biller-Andorno N (2008): Patientenverfügungen als Ausdruck individualistischer Selbstbestimmung? Die Rolle der Angehörigen in Patientenverfügungen. In: Ethik in der Medizin 20(3): 201–212

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Friedhelm Hufen

Gefährden Ethikkomitees die Autonomie des Patienten? Einleitung: Verfassungsrechtliche Problemstellung In vielen deutschen Kliniken, teilweise auch in Pflegeheimen und Institutionen der Behindertenhilfe, gehören Ethikkomitees als Form institutionalisierter Ethikberatung heute zum Alltag. Vorliegenden Tätigkeitsberichten zufolge nehmen sie Aufgaben der Beratung von Ärzten und Pflegern, Patienten, Angehörigen und Patientenvertretern bei schwierigen ethisch relevanten Entscheidungen – auch und gerade in Krisensituationen – wahr und erarbeiten konkrete Lösungen für den Arzt am Einzelfall oder abstrakte Empfehlungen zum Verfahren in ähnlichen Fällen. Daneben obliegen ihnen Aufgaben der Fort- und Weiterbildung. 1 Im Unterschied zu Ethikkommissionen, die im Wesentlichen mit der Beurteilung von Forschungsvorhaben befasst sind und selten in unmittelbare Berührung mit den Patienten kommen, 2 arbeiten Ethikkomitees mehr oder weniger unmittelbar »am Patienten«. Anders als bei den seit längerem tätigen Ethikkommissionen sind Aufgaben, Zusammensetzung, Verfahren und Grenzen der Tätigkeit von Ethikkomitees bisher weitgehend ungeklärt. Im Hinblick auf die Grenzen der Aufgabenstellung findet sich lediglich immer wieder der Hinweis, dass Ethikkomitees die Verantwortung des Arztes zur Entscheidungsfindung im konkreten Fall nur stärken, niemals aber ersetzen können (Klinkhammer 2011; ZEKO 2006). Noch gewichtiger scheint das Problem, welche Auswirkungen die Tätigkeit dieser Gremien auf die Patientenautonomie hat. Schließlich werden sie zumeist erst dann tätig, wenn der Patient auf Grund des Krankheitsverlaufs sein Recht auf Selbstbestimmung nicht mehr selbst ausüben kann und wenn es um die Auslegung und Durchsetzung des für diese Fälle niedergelegten oder mutmaßlichen Patientenwillens geht. Einen Bedeutungszuwachs erfuhr die Arbeit der Ethikkomitees durch die Neuregelung des Betreuungsrechts im 3. Gesetz zur Änderung des Betreuungsgesetzes vom 29. 7.2009 (BGBl I 2286), die bekanntlich die Verbindlichkeit einer auf Behandlungsabbruch zielenden wirksamen Patientenverfügung, aber auch eines nach bestimmten Kriterien ermittelten mutmaßlichen Willens klarstellte und dabei auf viele der im Gesetzgebungsverfahren diskutierten Reichweitenbegrenzungen verzichtete. Diese Neuregelung lässt nach Auffassung vieler Praktiker wichtige Fragen offen und wirft damit für Betreuer, Arzt und Gericht heikle und ethisch gravierende Probleme auf. 3 Ob der Inhalt einer Patientenverfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft, welches der mutmaß1

2 3

Vgl. Klinkhammer (2007); Schulze-Fielitz (2004); Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer [ZEKO] (2006). Vgl. Kern (2008); Gödicke (2008); Just (2008). Vgl. Klinkhammer 2010; Reus 2010; Höfling 2011. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

liche Wille des Patienten ist und ob eine möglicherweise vom Patienten gewollte Abweichung zwischen der durch den Arzt festgestellten indizierten medizinischen Behandlung und dem Patientenwillen besteht: Dies sind Fragen, die dem Betreuer und dem Arzt schwerwiegende medizinische, ethische und juristische Wertungen zumuten. Deshalb liegt es nahe, im Einzelfall ein bestehendes klinisches Ethikkomitee einzubeziehen. Dessen Wertungen kommen als Grundlage für die nach § 1904 BGB zu treffende Entscheidung des Betreuungsgerichts über Genehmigung oder Nichtgenehmigung für ärztliche Maßnahmen in Betracht. Gerade in zweifelhaften Fällen werden sich Arzt, Betreuer und Richter nur schwer über das Votum eines Ethikkomitees hinwegsetzen. Insofern hängt die Durchsetzung der autonomen Entscheidung des Patienten in hohem Maße von der Tätigkeit und der Einhaltung professioneller Standards eines solchen Gremiums ab (Akademie für Ethik in der Medizin e. V. 2010). Erschwert wird die Antwort auf diese und ähnliche Fragen schon durch die unbestimmte Terminologie und die unterschiedlichen »Fachkulturen« von Medizin, Ethik und Theologie einerseits und Rechtswissenschaft andererseits. Während für viele Mediziner die Unterlassung und der Abbruch einer medizinischen Behandlung einem aktiven Tun nahezu gleichstehen, stellt der Unterschied von aktiver, passiver und indirekter Sterbehilfe für Juristen zentrale und für Schuld und Unschuld, Strafe und Haftung entscheidend wichtige Kriterien dar. Während für Mediziner der Grundsatz in dubio pro vita ggf. auch das wohlmeinende Übergehen eines konkret geäußerten Patientenwillen rechtfertigen kann, steht für den Juristen grundsätzlich die Selbstbestimmung im Mittelpunkt, der sich ggf. auch der Mediziner zu beugen hat und die das Recht des Patienten einschließt, auch medizinisch sinnvolle oder sogar lebenserhaltende Maßnahmen zu verweigern. 4 Soll eine Gefährdung der Patientenautonomie durch die Tätigkeit von Ethikkomitees vermieden werden, scheint es dringend geboten, wie bei jedem anderen Grundrechtsproblem zunächst den verfassungsrechtlichen Stellenwert der Patientenautonomie und deren Einschränkbarkeit herauszuarbeiten. Erst auf dieser Grundlage können Aussagen zu Funktion, Zusammensetzung und Verfahren der Ethikkomitees formuliert werden. Abschließend wird es um die Frage einer gesetzlichen Regelung gehen. Patientenautonomie aus verfassungsrechtlicher Sicht Schutzbereiche einschlägiger Grundrechte Ausgangspunkt aller rechtlichen Fragen der Patientenautonomie ist das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper und die daraus folgende Maxime, dass jede auch nützliche und /oder lebenserhaltende ärztliche Handlung ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff ist. Aus verfassungsrechtlicher Sicht stellt sich nicht die Frage, ob die Beachtung der Patientenverfügung oder anderer Formen der Willensäußerung nach Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit »erlaubt« 4

Vgl. Bundesgerichtshof [BGH], NJW (2010, 2963) und NJW (2011, 161). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Hufen: Gefährden Ethikkomitees die Autonomie des Patienten?

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ist; es ist vielmehr umgekehrt zu fragen, ob eine Nichtbeachtung oder nachträgliche Reichweitenbegrenzung einer vorhandenen Patientenverfügung mit den Grundrechten des Patienten vereinbar ist (Hufen 2009). Im Kern geschützt ist die Patientenautonomie durch das oberste Grundrecht der Verfassung, die Menschenwürde (Art.1 Abs. 1 GG). Das gilt auch und gerade für besonders schutzwürdige Patienten, die nicht zum Objekt medizinischer oder auch ethischer Fremdbestimmung werden dürfen und davor bewahrt werden müssen, in einen vegetativen Zustand zu geraten, den sie möglicherweise selbst als menschenunwürdig empfinden und durch eine Patientenverfügung ausgeschlossen haben. Insofern gehört das Sterben in Würde zum Schutzbereich des Grundrechts (BGH, NJW 2001, 1802; Hufen 2001). Unabhängig von der Menschenwürde ist die Selbstbestimmung des Menschen über den eigenen Körper durch die Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art 1 GG) geschützt. Beide schließen es aus, dass der Wille des Menschen übergangen, missachtet oder fehlinterpretiert wird. In Bezug auf die Patientenautonomie hat ferner das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 1. Alt. GG) durchaus seinen eigenen, vom Selbstbestimmungsrecht unabhängigen Gewährleistungsgehalt. So liegt – ungeachtet einer etwaigen Rechtfertigung – in medizinischen Maßnahmen an einem Bewusstlosen auch dann ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit vor, wenn dieser weder im jeweiligen Zeitpunkt zur Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts in der Lage ist noch die Selbstbestimmung zuvor ausgeübt hat. Auch im Übrigen wirkt Art. 2 Abs. 2 GG als Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit im Krankheitsfall unmittelbar, schützt es doch vor jedem Eingriff und jeder Beeinträchtigung der körperlichen Integrität, vor Zufügung von Schmerz, vor Einflößen von Stoffen (BVerfG, Kammer, NStZ 2000, 96) und vor jeder anderen invasiven Maßnahme – auch wenn diese letztlich der Wiederherstellung der Gesundheit oder der Erhaltung des Lebens dienen. Menschenwürde, Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit bilden zusammen den verfassungsrechtlichen Hintergrund von Patientenverfügung und anderen Formen des Ausdrucks des Patientenwillens sowie der Verfahrensschritte im Umfeld der §§ 1901a ff. BGB. Der Betroffene hat einen grundrechtlich gesicherten Anspruch auf Unterlassung von seinerseits nicht ausdrücklich oder mutmaßlich gebilligten medizinischen Maßnahmen. 5 Schon daraus folgt zwingend, dass die Patientenverfügung von Verfassungswegen von allen Beteiligten, also Betreuer, Arzt und Gericht, als verbindlich umgesetzt werden muss. 6 Nur bei Zweifeln über den Inhalt oder die Anwendbarkeit auf die konkrete Situation kommt eine Interpretation der Willensbekundung – ggf. auch unter Beteiligung eines Ethikkomitees – in Betracht. Liegt eine schriftliche Erklärung nicht vor, so nimmt auch der mutmaßliche Wille am Schutz der individuellen Selbstbestimmung teil. Dieser Schutz erstreckt sich auch auf die antizipierte Situation einer eingetretenen Einwilligungsunfähigkeit. Die Grundrechte schüt5 6

Vgl. Nationaler Ethikrat (2005); Verrel (2006); LG Essen, 29. 11. 2007, NJW (2008, 1170). Vgl. Roth (2004, 494); Bickhardt (2012); Lipp (2009). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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zen die Willensbetätigung des Einzelnen auch davor, gerade dann missachtet oder übergangen zu werden, »wenn es darauf ankommt«, also in einem Zustand, in dem der Wille nicht mehr geäußert werden kann. Dann muss sich der Schutz der Selbstbestimmung und der körperlichen Unversehrtheit bewähren und sich ggf. auch gegen noch so wohlgemeinte Denkansätze durchsetzen, die – vereinfacht formuliert – den Patienten vor sich selbst schützen möchten. Nach Maßgabe ihrer wachsenden Einsichtsfähigkeit nehmen auch Minderjährige an diesem Schutz teil. Für kleinere Kinder nehmen in der Regel die Eltern diese Rechte wahr. 7 Ethikkomitees als Grundrechtsadressaten Die Bindungswirkung der Grundrechte richtet sich gemäß Art. 1 Abs. 3 GG zunächst gegen alle Träger öffentlicher Gewalt, also Gesetzgeber, Verwaltung und Gerichte. Ethikkomitees an öffentlichen Kliniken sind auch dann unmittelbar an die Grundrechte der Patienten gebunden, wenn der zugrundeliegende Behandlungsvertrag privatrechtlicher Natur ist. Dasselbe gilt für Gerichte, wenn sie über Streitigkeiten hinsichtlich eines ursprünglich zivilrechtlichen Behandlungs- oder Pflegevertrags entscheiden. Insofern gelten die Grundrechte zumindest mittelbar im privatrechtlichen Behandlungs- oder Pflegeverhältnis. Rechte und Pflichten von an privaten Einrichtungen tätigen Ärzten, Pflegern und den Trägern selbst richten sich zunächst nach den gesetzlichen Bestimmungen des Arztrechts, Betreuungsrechts usw. Diese sind aber jeweils im Lichte der Grundrechte verfassungskonform auszulegen. Insofern sind auch innerhalb privatrechtlicher Rechtsverhältnisse Ärzte, Pfleger und Betreuer zumindest mittelbar an die Grundrechte und damit auch an den verfassungsrechtlich geschützten Patientenwillen gebunden. Das führt praktisch zur unmittelbaren Geltung der Patientenverfügung gegenüber Ärzten und Pflegern und gilt auch für die in diesem Bereich tätigen Ethikkomitees. Die Selbstbestimmung des Patienten über den eigenen Körper und über Beginn und Ende jeder ärztlichen Behandlung bindet also auch hier die Tätigkeit der Ethikkomitees. Nichtbeachtung oder Fehlinterpretation des Patientenwillens als Grundrechtseingriff Sind der erklärte und der mutmaßliche Patientenwille durch die oben genannten Grundrechte geschützt, so sind jedes Übergehen und jede Fehlinterpretation Eingriffe in diese Grundrechte. Ebenso ist jede invasive medizinische Behandlung ein zumindest tatbestandsmäßiger Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Da auch die künstliche Ernährung eine »ärztliche Behandlung« ist, kann auch sie durch eine Patientenverfügung nach § 1901b BGB ausgeschlossen werden. Die vor allem von ärztlicher und kirchlicher Seite geltend gemachte Auffassung, das Stillen von Hunger und Durst sei als Teil der Basisversorgung kein Eingriff, gilt nur für die freiwillige natürliche Nahrungsaufnahme, nicht aber für die 7

Vgl. Sternberg-Lieben, Reichmann (2012, 257); OLG Hamm 24. 5. 2007, NJW (2007, 2704). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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künstliche Ernährung z. B. durch eine Magensonde. Auch wenn Ethikkomitees lediglich beratend tätig werden, haben sie letztlich an den diesem Rat folgenden Entscheidungen des Arztes oder des Pflegepersonals teil, und ihre Tätigkeit stellt einen Grundrechtseingriff dar. Keine Eingriffe, sondern lediglich Konkretisierung des grundrechtlichen Selbstbestimmungsrechts sind allerdings die notwendige Interpretation der Patientenverfügung, die Ermittlung des mutmaßlichen Willens und die Prüfung, ob der Inhalt der Patientenverfügung mit der darauf bezogenen realen medizinischen Situation übereinstimmt (§ 1901a Abs. 1 BGB). Auch sog. Irrtumsklauseln 8 sind nicht Eingriffe in die Selbstbestimmung des Patienten, sondern Regeln für deren angemessene Interpretation. Weicht die reale medizinische Situation erkennbar von der in der Patientenverfügung vorausgesetzten ab oder wurde diese in einem offensichtlichen Irrtum über die Schwere einer Krankheit oder deren Heilungsmöglichkeiten verfasst, dann kann es gerade der Selbstbestimmung entsprechen, wenn eine solche Diskrepanz durch den behandelnden Arzt erkannt und die Patientenverfügung insoweit nicht wörtlich genommen wird. Ethikkomitees können insofern eine wichtige Rolle spielen. Wichtig ist aber zum einen, dass die Gremien keine eigene Entscheidung treffen, sondern nur an der Entscheidungsvorbereitung des Arztes, des Betreuers oder ggf. des Richters beteiligt sind. Zum anderen geht es nicht um eine nach objektiven Kriterien erfolgende ethische oder medizinische Bewertung, sondern ausschließlich um die Interpretation des niedergelegten oder mutmaßlichen Patientenwillens. Hier gilt wie bei jeder anderen Willenserklärung § 133 BGB, der vorschreibt, dass bei Zweifeln über den Inhalt einer Willenserklärung nach allgemeinen juristischen Auslegungsregeln der wirkliche Wille zu erforschen ist. Liegt dagegen eine eindeutig auf den Fall passende Patientenverfügung vor, so besteht auch für das Ethikkomitee keine Legitimation zu einer abweichenden Bewertung. Unzulässig ist es insbesondere, den erklärten und verfassungsrechtlich geschützten Willen nach Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit durch Spekulationen über den zu diesem Zeitpunkt bestehenden »eigentlichen« oder »natürlichen« Willen zu ersetzen und damit dem Betreuer oder dem Arzt die Definitionsmacht darüber einzuräumen, was der bewusstlose Patient wohl »eigentlich« wollen würde. 9 Keine gesetzliche Ermächtigung zur Fremdbestimmung Die oben genannten Grundrechte stehen mit Ausnahme der Menschenwürde unter Gesetzesvorbehalt, d. h. der Gesetzgeber ist befugt, die Selbstbestimmung unter Bewahrung der Bedeutung des Grundrechts und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einzuschränken. Deshalb ist etwa das Verlangen nach aktiver Sterbehilfe für Ärzte und Ethikkomitees nicht bindend. Eine gesetzliche Legitimation zum Abweichen von einem »erlaubten« Patientenwillen – etwa auf passive Ster8

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Wie z. B. § 1901a Abs. 2 S. 1, 2. Halbsatz, der das mögliche Abweichen der aktuellen Lebensund Behandlungssituation von einer Patientenverfügung regelt. Dreier (2007, 317); Palandt /Diederichsen, Kommentar zum BGB, 69. Aufl. 2010, § 1901a Rn. 24; Verrel (2006). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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behilfe in bestimmten Fällen – ergibt sich aber weder aus dem Betreuungsgesetz noch aus anderen Gesetzen. Auch Ärzte, Betreuer und Richter, denen nach dem Gesetz eine wichtige Entscheidungsfunktion zukommt, sind nicht legitimiert, sich über den Willen des Patienten hinwegzusetzen. 10 Eingeschränkte Kompetenz zur Formulierung von Leitlinien Wie im konkreten Einzelfall, so gilt auch für den anscheinend in der Praxis häufig wahrgenommenen Auftrag zur Formulierung abstrakt genereller Maßstäbe und Leitlinien, dass diese sich stets nur auf die Interpretation des vorliegenden Patientenwillen beziehen können, aber keine davon abweichenden Maßstäbe für die Entscheidung von Ärzten, Betreuern und Richtern bieten dürften. Hier wäre es sogar bedenklich, wenn solche Leitlinien von Ethikkomitees als eine Art von »soft law« das Handeln von Ärzten, Betreuern oder sogar Richtern direkt oder indirekt bestimmen würden. Wenn also Ethikkomitees zur Klärung von Grundfragen in bioethischen Debatten und zur Steigerung der Rationalität der Debatte tätig werden (Dreier 2011), so muss deutlich sein, dass sie keinerlei Maßstäbe für ein Abweichen vom Patientenwillen formulieren können. Andernfalls liegt der Vorwurf einer »institutionalisierten Kompetenzüberschreitung« nahe (SchulzeFielitz 2004, 203, 219). Verfassungsimmanente Schranken des Selbstbestimmungsrechts? Trotz der an sich klaren verfassungsrechtlichen Ausgangslage werden immer wieder Werte und Rechtsgüter angeführt, die einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht rechtfertigen sollen, so der Schutz des aktuellen Selbstbestimmungsrechts im Moment der Anwendung einer Patientenverfügung – sozusagen des Menschen vor sich selbst – (Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 GG), der objektive staatliche Schutzauftrag des Staates für den Lebensschutz (Art. 2 Abs. 2 GG) und die Gewissensfreiheit von Ärzten und Pflegern (Art. 4 Abs. 1 GG). Diese könnten ohne gesetzliche Konkretisierung zwar nicht allein Eingriffe in die Selbstbestimmung legitimieren, aber immerhin dem Gesetzgeber selbst als Basis für eine Einschränkung der Patientenautonomie und eine Erweiterung der Befugnisse von Ethikkomitees dienen. Deshalb seien sie hier auf ihre verfassungsrechtliche Tragfähigkeit im genannten Zusammenhang untersucht. Aus medizinischer Sicht wird gelegentlich vorgetragen, die von einem gesunden Menschen verfasste Patientenverfügung könne grundsätzlich nicht den Zustand einer medizinischen Grenzsituation wie tiefer Bewusstlosigkeit, schwerer Krankheit oder Demenz antizipieren. Der Patient sei in seiner Krankheit imperfekt und könne deshalb nicht mehr selbst bestimmen. Es gelte also, den dann nicht mehr äußerbaren eigentlichen Willen des Patienten vor dem früher erklärten Willen, also die aktuelle Selbstbestimmung gegen die frühere Selbstbestimmung, in Schutz zu nehmen und die medizinische Fürsorge und die Pflege des kranken Menschen anstelle der Selbstbestimmung in den Mittelpunkt zu 10

Kutzer 2000; zur Rolle des Arztes Kutzer 2010. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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rücken. 11 Im Extremfall wird die Abwehr medizinischer Behandlung selbst als Teil der zu therapierenden Krankheit gesehen und folglich für unbeachtlich erklärt. 12 Solche Äußerungen widersprechen nicht nur dem auf Autonomie basierenden Menschenbild des Grundgesetzes (Klimpel 2003), sie berühren den Grundrechtsschutz im Kern und machen den kranken Menschen letztlich zum Objekt der Fremdbestimmung durch Dritte. Schon gar nicht können sie als verfassungsimmanente Schranke der Selbstbestimmung dienen. Im Gegenteil: Es ist exakt dieser paternalistische Ansatz, gegen den sich Menschen durch eine Patientenverfügung rechtzeitig absichern und ihre Selbstbestimmung auch »in der Krise« schützen wollen. Umso wichtiger ist es zu betonen, dass die grundrechtliche Gewährleistung der geäußerten oder mutmaßlichen Selbstbestimmung auch und gerade für die Grenzsituationen der Einwilligungsunfähigkeit durch schwere Krankheit, der Demenz und des Wachkomas gilt. Ein weiteres Argument gegen die uneingeschränkte Beachtung des Patientenwillens ist für viele die Schutzpflicht des Staates für das menschliche Leben, 13 die im Zweifel ein Abweichen von einer schriftlichen Patientenverfügung oder das Übergehen eines erkennbaren mutmaßlichen Willens rechtfertige oder sogar erfordere (Storr 2002, 436). Da die Folgen eines Behandlungsabbruchs tödlich und irreversibel seien, die Weiterbehandlung auch gegen den Willen eines Patienten aber umkehrbar und damit das geringere Übel sei, rechtfertige schon der geringste Zweifel am Fortbestehen des Patientenwillens dessen Nichtbeachtung: In dubio pro vita. 14 Den Hintergrund bilden Dammbruchängste und zumeist einseitig interpretierte Warnungen vor Schweizer oder niederländischen Erfahrungen. 15 Gebe man die »passive Sterbehilfe« frei, so folge bald die »aktive Sterbehilfe«, und der Schutz der alten Menschen und Komapatienten sei nicht mehr zu gewährleisten. Solche Standpunkte mögen ihren Stellenwert in der allgemeinen bioethischen Debatte haben, können aber aus verfassungsrechtlicher Sicht keinen Eingriff in die Selbstbestimmung des Patienten rechtfertigen. Zum einen ist der Grundsatz: In dubio pro vita durch den Grundsatz: In dubio pro dignitate (Hufen 2001) zu ergänzen. Dieser schließt es schon im Ansatz aus, dass der einzelne Mensch zum Objekt der Fremdbestimmung durch einen Dritten und des Kalküls der Ernsthaftigkeit der eigenen Selbstbestimmung gemacht wird. Zum anderen kann der

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In diesem Sinne etwa Eibach (2002, 123 ff.); Eibach, Schäfer (2001, 21 ff.); Bartens (2011); Sahm (2007); kritisch dazu Damm (2002). Besonders drastisch Firsching (2006): »Der Wille, sein Leben zu beenden, ist fast ausnahmslos selbst ein Krankheitszeichen«; in der Tendenz ähnlich N. Geis (2009). Art. 2 Abs. 2 GG; allg. dazu BVerfGE 39, 1, 41; 49, 89, 132; 88, 203, 254; weitere Beisp. bei Hufen (2011, § 13, Rn 18). In diesem Sinne Landau 2005 50 ff.; Bundesärztekammer (2007); Tollmein, FAZ vom 2. 6. 2005, 36; Bahners, FAZ vom 24. 3. 2005; Brysch, FAZ vom 30. 8. 2004 Spieker (FAZ 17. 11. 2009, 9); Schirrmacher (FAZ 11. 7. 2008, 33); Tolmein (FAZ 2. 9. 2004); Oduncu, Eisenmenger (2002, 327); neutrale Vergleiche dagegen bei Knopp (2003, 379) und Finger (2004, 379). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Grundsatz in dubio pro vita dann keine Rolle spielen, wenn kein vernünftiger Zweifel besteht, dass der Patient gerade auch für die eingetretene Situation vorsorgen wollte. Der schriftlich geäußerte oder auf andere Weise beweisbare Wille, in bestimmten Krankheitssituationen keine Behandlung oder künstliche Ernährung zuzulassen, gilt auch für die Fälle, in denen der Tod noch nicht unmittelbar bevorsteht, der Patient aber explizit eine Weiterbehandlung und damit z. B. ein lang andauerndes Dahindämmern, Siechtum, Bewusstlosigkeit usw. ausgeschlossen hat. Ein Zwang zum Schutz des eigenen Weiterlebens ist hier nicht nur paradox; er ist auch verfassungsrechtlich um so weniger gerechtfertigt, je expliziter diese Erklärung den Ausschluss bestimmter Behandlungen, Zustände, fortdauerndes Leiden usw. benennt. Lebensschutz darf im demokratischen Rechtsstaat niemals zum Lebenszwang werden. 16 Das gilt umso mehr, als die geschilderten »Dammbruchbefürchtungen« aus empirischer Sicht keineswegs belegbar sind (van den Daele 2008). Schließlich wird versucht, eine Reichweitenbegrenzung von Patientenverfügungen mit der Gewissensfreiheit oder sogar der Menschenwürde des Arztes und des Pflegepersonals zu begründen (Pott 2007). So hielten das LG Traunstein (NJW-RR 2003, 221) und das OLG München (NJW 2003, 1743) den mutmaßlichen Willen eines Komapatienten ebenso wie den erklärten Willen des Betreuers für unbeachtlich, weil die »Mitwirkung am Herbeiführen des Todes« für die beklagte Einrichtung und das Pflegepersonal nicht zumutbar seien. Bemüht wurden in diesem Fall sogar die Menschenwürde des Personals sowie eine analoge Anwendung von § 12 Abs. 1 des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes, der den Arzt vor unfreiwilliger Mitwirkung an Abtreibungen schützt. Letztlich ist aber auch diese Argumentation zur Begründung einer Einschränkung der Beachtlichkeit des Patientenwillens nicht tragfähig. So bezieht sich § 12 Abs. 1 des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes nur auf die aktive Mitwirkung am Schwangerschaftsabbruch, nicht aber auf die Unterlassung einer weiteren Behandlung. Zum anderen ist anerkannt, dass auch die Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) keinen Eingriff in konkrete Grundrechte eines anderen Menschen rechtfertigen kann. 17 Folgerichtig hat der BGH in einem aufsehenerregenden Kostenbeschluss zum »Traunsteiner Fall« auch den Versuch zurückgewiesen, die Gewissensfreiheit des Pflegepersonals gegen den in diesem Fall deutlichen mutmaßlichen Willen eines Komapatienten in Stellung zu bringen (BGH, NJW 2005, 2385). Noch deutlicher wurde dieser Vorrang des Patientenwillens in den Urteilen des BGH vom 25.6. 2010 (NJW 2010, 2963 – Fall Putz) und vom 10.11. 2010 (NJW 2011, 161) klargestellt (Brunhöber 2011, 401).

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BGH 25. 06. 2010, NJW (2010, 2963); Borasio (FAZ 19. 1. 2007, 42); Brunhöber (2011). BGH, NJW 2003, 2011; NJW 2005, 592 – gewissensgeleiteter Eingriff in die Privatsphäre eines »Abtreibungsarztes«; BVerfG, Kammer, NVwZ (2000, 909) – Versuch der Durchsetzung eines »tierversuchsfreien Praktikums« im Biologie-Studium; BVerfGE 67, 26, 36f – Verweigerung von Krankenkassenbeiträgen, mit denen Abtreibungen finanziert werden. Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Zwischenergebnis Insgesamt gibt es – außer bei erkennbarem Irrtum – also keine tragfähige verfassungsrechtliche Begründung für die Nichtbeachtung des Patientenwillens im Einzelfall. Weder durch Gesetz noch durch Rechtsgüter von Verfassungsrang wäre ein Ethikkomitee legitimiert, indizierte medizinische Maßnahmen gegen den erklärten oder den mutmaßlichen Willen des Patienten durchzusetzen oder dies den Ärzten und Pflegern mit der ganzen Autorität eines solchen Gremiums nahezulegen. Insbesondere kann es nicht darum gehen, im konkreten Einzelfall oder aber auch durch abstrakte Leitlinien dem subjektiven Willen des Patienten eine diesem gleichsam gegenüberliegende (»objektive«) Sicht des ethisch »Richtigen« entgegenzusetzen. Die einzige legitime – wenn auch in der Praxis wichtige – Funktion der Ethikkomitees ist also die Mitwirkung an der Interpretation des Patientenwillens und die gemeinsame Erforschung des mutmaßlichen Willens. Ethikkomitees sind – anders als Betreuer und Angehörige – im Gesetz zwar nicht genannt, können aber eine wichtige Verbindungsfunktion wahrnehmen. Das setzt freilich voraus, dass sie sich nicht als »gehobenes Tribunal« zur Durchsetzung ethischer Maßstäbe, sondern als Hilfsorgan zur Durchsetzung des Patientenwillens begreifen. Dies leitet über zu einigen abschließenden Bemerkungen über Zusammensetzung und Verfahren der Ethikkomitees. Anforderungen an Zusammensetzung und Verfahren Wie gezeigt, verfügen Ethikkomitees nicht über die Legitimation zu Eingriffen in die Grundrechte der Patienten. Gleichwohl wirken sie an äußerst grundrechtsrelevanten Entscheidungen mit. Es handelt sich also um eine in hohem Maße »grundrechtsgeprägte« und »grundrechtsprägende« Tätigkeit, was auch aus verfassungsrechtlicher Sicht besondere Anforderungen an die Zusammensetzung und das Verfahren derartiger Gremien stellt. Notwendige Qualifikation der Mitglieder, Ausschluss von Befangenheit »Ethikkomitees sind so gut wie die Personen, die in ihnen mitwirken«. Diese lapidare Antwort erhält man immer wieder, wenn man nach der Qualität von Ethikkomitees fragt. Allgemein gehe es um die Sicherstellung hoher Professionalität und Unabhängigkeit, die sich in der Zusammensetzung derartiger Gremien spiegeln müsse (ZEKO 2006, A 1703; Schulze-Fielitz 2004, 203). Ein weiteres Stichwort lautet Interdisziplinarität, d. h. Mediziner, Ethiker, Juristen und Psychologen sollten in solchen Gremien mitarbeiten und die Sicht ihres jeweiligen Faches einbringen. Wichtig ist auch, dass es sich um Angehörige unterschiedlicher Hierarchieebenen vom Chefarzt bis zur Pflegekraft handelt. Ferner bedarf es einer hohen fachlichen Kompetenz zum Verstehen von Texten und anderen Willensbekundungen. Unabdingbar sind auch fundierte Kenntnisse im Hinblick auf die gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen ein Ethikkomitee tätig wird. Zur Kenntnis der gesetzlichen Lage gehört es auch, dass keine Restriktionen in das Gesetz hineininterpretiert werClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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den, die sich im Gesetzgebungsverfahren gerade nicht durchgesetzt haben, also etwa die Beschränkung des Behandlungsabbruchs auf Fälle, in denen die Krankheit einen irreversiblen tödlichen Verlauf genommen hat, die »Nicht-Ausschließbarkeit« künstlicher Ernährung und andere Reichweitenbegrenzungen. Ein heikles Thema für die Zusammensetzung von Ethikkomitees sind persönliche und quasi institutionelle Vorabfestlegungen, die den Auftrag zur Interpretation des Patientenwillens gefährden können. So wird zwar niemand Krankenhausseelsorgern und Ordensschwestern deshalb die Mitwirkung in Ethikkomitees verwehren, weil sie von ihrer religiösen Ausrichtung her verpflichtet sind, der Unverfügbarkeit des Lebens auch in ethischen Konfliktsituationen am Krankenbett Rechnung zu tragen. Andererseits ist zur Kenntnis zu nehmen, dass die Probleme der Sterbehilfe durch religiös gebundene Ärzte anscheinend ganz anders angegangen werden als durch in diesem Sinne neutrale Persönlichkeiten. 18 Wenn nach einer kategorischen Stellungnahme des Vatikans die künstliche Ernährung kein Eingriff in die körperliche Integrität des Patienten und damit Pflicht aller christlichen Ärzte und Pfleger ist und das Leben von Komapatienten unter allen Umständen geschützt werden soll (FAZ vom 18.9.2007, 6 und FAZ vom 17. 3. 2004) dann stellt dies für die Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft in Ethikkomitees hohe Anforderungen an die persönliche Distanz und Neutralität. Nicht weniger problematisch für die unabhängige und hinreichend neutrale Wahrnehmung der Mitgliedschaft in einem Ethikkomitee ist die bereits zitierte Skepsis zur Möglichkeit der Selbstbestimmung. Wer den Willen eines Patienten, sein Leben zu beenden, selbst als Krankheitszeichen sieht, wird nur dann in der Lage sein, mit der erforderlichen Unabhängigkeit in einem Ethikkomitee mitzuwirken, wenn er nahezu gänzlich zwischen seiner eigenen Auffassung und seiner Funktion im Ethikkomitee zu differenzieren weiß. Die Rechtsordnung mutet also Vertretern beider Auffassungen etwas sehr Schwieriges zu: Eine in sich möglicherweise konsistente und ethisch gut begründete Position hinter sich zu lassen und den gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Auftrag zur neutralen und patientenorientierten Interpretation in freier Selbstbestimmung getroffener Entscheidungen zu erfüllen. Hält der Betreffende dieses Spannungsverhältnis nicht aus, so wird man ihm einen Verzicht auf die Mitwirkung im Ethikkomitee zumuten müssen. Das eigentliche Verfahren Es ist nicht die Durchsetzung objektiver Prinzipien, sondern die Orientierung am Patientenwillen, die letztlich auch das Verfahren bestimmt. Der Patient ist also niemals bloßes Objekt des Verfahrens, sondern immer auf seine Weise am Verfahren beteiligt: Im Zustand der fehlenden Einwilligungsfähigkeit durch seinen mutmaßlichen Willen oder die Patientenverfügung; bei vorliegender Einwil18

Bericht DÄBl vom 26. 8. 2010; Reiter (2005); exemplarisch zur »katholischen« Position auch Mieth (2008); Pott (2007); allgemein zur Rolle von Theologen in der Medizin Hofmann (2003, 377, 381). Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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ligungsfähigkeit ist er selbstverständlich selbst zu befragen. In jedem Fall muss das Verfahren auch Angehörigen gegenüber transparent und kontrollierbar sein. Für die Mitglieder ist die Einhaltung der Schweigepflicht allerdings selbstverständlich. Vorsorgebevollmächtigte, Betreuer und nahe Angehörige müssen von vornherein angemessen beteiligt werden. Die gerichtliche Kontrolle darf nicht beschränkt werden; insbesondere sind die rechtlichen Grundsätze des gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraums, wie sie z. B. im Prüfungsrecht gelten, hier nicht anwendbar. Behandelnde Ärzte und Angehörige dürfen vor allem nicht das Gefühl haben, einem »Tribunal« gegenüber zu stehen (ZEKO 2006). Ausblick: Ein Auftrag an den Gesetzgeber Auftrag und Verfahren von Ethikkomitees sind bisher nicht gesetzlich geregelt. Aus verfassungsrechtlichen Gründen wäre eine gesetzliche Ermächtigung zum Eingriff in die Selbstbestimmung der Patienten auch nicht möglich. Gleichwohl sollte der Gesetzgeber wegen der offenkundigen Grundrechtsrelevanz die Tätigkeit von Ethikkomitees kodifizieren und zugleich den wichtigen aber begrenzten Auftrag im Zusammenhang mit den Entscheidungen nach § 1901a b klären. So könnte man an einen § 1901b Abs. 3 BGB denken, der bestimmen könnte, dass bei Feststellungen nach Abs. 2 die Beteiligten den Rat eines Ethikkomitees hinzuziehen sollten. Wichtig sind auch Bestimmungen zur personellen Zusammensetzung und zum Verfahren. Zusammenfassung Die Selbstbestimmung des Patienten über den eigenen Körper und damit über Beginn und Ende jeder ärztlichen Behandlung bilden die verfassungsrechtliche Grundlage jeder Diskussion über Ethikkomitees. Diese sind weder durch Gesetz noch durch andere Verfassungsgüter zum Eingriff in die Grundrechte von Patienten befugt. Ethikkomitees dürfen den niedergelegten oder mutmaßlichen Willen des Patienten nur interpretieren, nicht nach vermeintlich objektiven ethischen Maßstäben oder medizinischen Notwendigkeiten bestimmen oder gar übergehen. Ethikkomitees treffen keine eigene Entscheidung; sie sind vielmehr nur als fachliche Vorbereitungsgremien für die Entscheidung des Betreuers, des Arztes und des Betreuungsgerichts tätig. Da diese Vorbereitungs- und Beratungstätigkeit gleichwohl von höchster Grundrechtsrelevanz ist, sollte der Gesetzgeber Aufgabe, Zusammensetzung, Qualifikation und Verfahren gesetzlich regeln. Die Mitglieder müssen fachlich, d. h. auch hinsichtlich der rechtlichen Rahmenbedingungen, qualifiziert sein. Die Zusammensetzung des Gremiums darf nicht einseitig sein; Befangenheiten sind zu vermeiden. Das Verfahren der Beratung und Empfehlung muss transparent sein. Betroffene, Vorsorgebevollmächtigte, Betreuer und nahe Angehörige müssen von vornherein angemessen beteiligt werden. In der Gesamtwürdigung können Ethikkomitees die Patientenautonomie bei richtigem Verständnis nicht gefährden, sondern sichern. Voraussetzung ist allerClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Hufen: Gefährden Ethikkomitees die Autonomie des Patienten?

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

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Gerald Neitzke

Autonomie ermöglichen Ein Konzept für die Ethikberatung im Gesundheitswesen Autonomie In Medizin, Pflege und Gesundheitswesen hat sich die Patientenautonomie in den letzten Jahrzehnten als wichtiges moralisches Gut etabliert. Von vielen Autoren wird die Autonomie sogar als höchster moralischer Wert verstanden, den es in der Medizin zu realisieren gilt. Es ist heute jedenfalls juristisch wie ethisch unbestritten, dass eine ärztliche oder pflegerische Maßnahme nur dann erfolgen darf, wenn für diese Maßnahme eine Zustimmung von Seiten des Patienten vorliegt. Dabei gilt es zwei Konzepte zu unterscheiden: 1. Autonomie als das Vermögen des Menschen, sich und über sich in seiner Eigenschaft als Vernunftwesen zu bestimmen. Dieses Konzept von Autonomie ist kategorial an das Menschsein gebunden und erlischt nicht. 2. Autonomie als die Fähigkeit, diese Selbstbestimmung auch faktisch auszuüben, ist an den jeweiligen (Bewusstseins-)Zustand des Menschen gebunden. Bei Bewusstlosigkeit oder schon im Schlaf erlischt zwar die Fähigkeit, Selbstbestimmung aktuell auszuüben, nicht aber die Autonomie im Sinne der Selbstbestimmungsbefähigung und des Selbstbestimmungsrechts. Deshalb wird die Selbstbestimmung durch Grundrechte und Gesetze auch dann geschützt, wenn sie nicht aktuell persönlich ausgeübt werden kann. Autonomie ist die Fähigkeit, sich als Wesen in Freiheit zu verstehen und diese Freiheit auch zu ergreifen. Damit wird Autonomie zur »ability to choose how to live one’s life« (Singer 2011, 65), also zur Selbstbestimmung. Gleichzeitig wird die Freiheit beschränkt durch die Vernunftbestimmmtheit von Autonomie. Die Ausübung von Selbstbestimmung erfolgt also durch vernunftgemäße Begrenzung von Freiheit. Autonomie enthält damit beide Facetten: »die Selbstbestimmung zu beschränken und sie zu verwirklichen« (Schramme 2002, 27). Im Bereich der Medizinethik wurde Autonomie von Beauchamp und Childress als eines von vier fundamentalen ethischen Prinzipien propagiert (Beauchamp, Childress 2009). Die vier Prinzipien »Autonomie, Benefizienz, Nicht-Schaden und Gerechtigkeit« haben wohl vor allem deshalb weltweit überwiegend Anerkennung gefunden, weil sie als Prinzipien auf »mittlerer Ebene« keine Letztbegründung erfahren, sondern ihre Gültigkeit aus der faktischen Anerkennung durch die Agierenden erhalten. Im Gesundheitswesen stellt sich entsprechend dem Ansatz von Beauchamp und Childress also weniger die Herausforderung, diese Prinzipien allgemeinverbindlich zu begründen, sondern sie mit den Betroffenen im einzelnen Beratungsfall zu einem vernünftigen Ausgleich zu bringen (vgl. z. B. Rauprich, Steger 2006).

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Ethikberatung im Gesundheitswesen Das Konzept »Autonomie ermöglichen« dient der oben skizzierten Aufgabe, Selbstbestimmung konkret am individuellen Fall handhabbar zu machen, sie in ein Gleichgewicht mit anderen moralischen Werten wie Fürsorge zu bringen und letztlich das erweiterte Konzept von Autonomie praktisch umzusetzen. Es richtet sich daher grundsätzlich an alle Menschen, die in der Patientenversorgung tätig sind. In vielen Einrichtungen des Gesundheitswesens wurden in den letzten Jahren Strukturen zur Ethikberatung etabliert. Ratsuchende, die eine Anfrage an die Ethikberatung stellen, erleben die Beratung als exemplarisch, als modellhaft für den eigenen Umgang mit ethischen Konflikten. Dieser Vorbildcharakter und diese Vorreiterrolle von Ethikberatung speziell für den Umgang mit Autonomie rechtfertigt, dass das Konzept in einem ersten Schritt am Beispiel der Ethikberatung entwickelt wird. Deshalb fokussiert dieser Beitrag zunächst auf Ethikberatung im Gesundheitswesen, auch wenn eine Sensibilisierung für die hier genannten Zusammenhänge in der Patientenversorgung insgesamt wünschenswert erscheint. Unter dem Begriff »Ethikberatung im Gesundheitswesen« werden alle institutionalisierten Angebote zusammengefasst, die sich in diesem Bereich mit ethischen Herausforderungen befassen (AEM 2010). Dies kann auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen: am konkreten einzelnen Behandlungsfall oder im Rahmen von Organisationsethik für die Institution insgesamt (Dörries et al. 2010). Die häufigste Implementierungsform der Ethikberatung ist das Klinische Ethikkomitee im Krankenhaus oder das Ethikkomitee in einer Altenpflegeeinrichtung (Neitzke 2009). Ethikkomitees befassen sich im Rahmen von Einzelfallberatungen, Weiterbildungen oder der Erarbeitung von Ethik-Leitlinien mit der konkreten Ausgestaltung und Umsetzung des abstrakten Rechts auf Selbstbestimmung oder des Respekts vor der Autonomie. Damit übt die Ethikberatung eine Funktion aus, die in der Versorgung kranker und alter Menschen generell eine wichtige Bedeutung hat. Die Konkretisierung des Rechts auf Autonomie ist eine Aufgabe des Gesundheitswesens insgesamt (Bobbert 2002, Vollmann 2008). Aus diesem Grund lässt sich das hier dargelegte Konzept, Autonomie zu ermöglichen, auf sämtliche Tätigkeiten im Krankenhaus oder Pflegeheim übertragen. Typische Herausforderungen in Bezug auf Patientenautonomie, die sich in den Beratungsfällen der Ethikberatung ergeben, sind: – der Patient ist nicht selbst entscheidungsfähig und deshalb ist eine Stellvertreterentscheidung erforderlich; – der Patient kann sich aufgrund seiner eigenen Ambivalenz nicht entscheiden; – der Patient überlässt die Entscheidung bewusst anderen /dritten Personen (z. B. family consent); – der Patient verzichtet zu Gunsten Dritter auf eigene Wünsche und es stellt sich die Frage, ab welchem Ausmaß der Verzicht als Unfreiheit aufgrund sozialen Drucks gewertet werden muss; – die Wünsche des Patienten erscheinen irrational.

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Neitzke: Autonomie ermöglichen

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Fallbeispiele Einige konkrete Fallbeispiele aus der eigenen Ethikberatungspraxis sollen die schematisch angeführten Konfliktkonstellationen weitergehend illustrieren. Die Fälle sind anonymisiert und in Details verfremdet, aber der Grundkonflikt in Bezug auf Patientenautonomie wird authentisch wiedergegeben. Fall 1 Eine 60jährige Patientin war durch ein chronisches Leiden schwer erkrankt. Obwohl ihre Prognose von den behandelnden Ärzten als sehr schlecht eingeschätzt wurde, lag sie nicht mit Sicherheit im Sterben. Der Ehemann bat darum, seine Frau sterben zu lassen, da sie die weitere Behandlung und ihr schweres Leiden nicht mehr ertragen könne. Das Problem bestand darin, dass sie ihren Sterbewunsch nur gegenüber ihrem Mann äußerte, nicht gegenüber dem Stationsteam oder den Ethikberatern. Die Patientin war seit Jahrzehnten gewohnt, alle »wichtigen« Dinge mit ihrem Ehemann zu besprechen und sich darauf zu verlassen, dass er diese Dinge in ihrem Namen regelte. Dem Stationsteam gegenüber verhielt sie sich zugewandt, vertrauensvoll und angepasst. Der lebenserhaltenden Behandlung stimmte sie immer zu. Deshalb bestanden erhebliche Zweifel an den Äußerungen des Mannes. Es war unklar, ob er selbst am Zustand seiner Frau verzweifelte und litt, oder ob die Patientin so nicht weiter leben und behandelt werden wollte. Die Intervention der Ethikberater zielte darauf ab, Autonomie zu ermöglichen, indem für die Patientin eine Behandlungsumgebung und Kommunikationssituation geschaffen wurde, in der sie der Oberärztin ihren Wunsch, sterben zu wollen und die Therapie zu begrenzen, äußern konnte. Sie äußerte diesen Wunsch mehrfach und starb wenige Tage nach der mit ihr besprochenen Änderung des Therapieziels. Fall 2 In einem anderen Fall wurde bei einer in der 19. Woche schwangeren Frau ein weit fortgeschrittenes Magenkarzinom diagnostiziert. Die Überlebenschancen der Patientin waren zu dem Zeitpunkt selbst bei sofortiger Operation und Chemotherapie sehr schlecht. Außerdem hätte der Versuch, das Leben der Patientin zu retten, einen Abbruch der Schwangerschaft erforderlich gemacht. In dieser Situation bat das ärztliche Team um eine Ethikberatung, da die Aufklärung der Frau als Grundlage für ihre Entscheidung so neutral und ergebnisoffen wie nur irgend möglich erfolgen sollte. Hier bestand der Eindruck, dass eine autonome Entscheidung der Betroffenen unabdingbar sei, um das Gewissen der Behandelnden zu entlasten. Die Wahl musste zwischen zwei erkennbar ungünstigen Optionen (Kind austragen und voraussichtlich das eigene Leben verlieren, oder die geringe Chance auf Überleben wahren und das Kind sterben lassen) getroffen werden. Deshalb sollte die Aufklärung unter Hinzuziehung von Ethikberatern erfolgen, die als Unbeteiligte darauf achten sollten, dass keine willentliche oder unwillentliche Beeinflussung die Selbstbestimmung der Patientin Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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beeinträchtigte. In diesem Fall stellte die objektive, nüchterne Information über die Behandlungsoptionen mit den damit verbundenen Chancen und Risiken die Herausforderung an das Konzept »Autonomie ermöglichen« dar. Die Patientin entschied sich für die eigene Behandlung. Der Schwangerschaftsabbruch wurde durchgeführt, die Magenoperation gelang, aber die Patientin starb ein Jahr später an einem Rezidiv des Tumors. Fall 3 Eine Patientin aus Afghanistan stand vor der Entscheidung, welche Art Klappenersatz sie zur Behandlung ihres Herzklappenfehlers wünschte. Bei einer mechanischen Klappe wäre eine lebenslange blutverdünnende Behandlung erforderlich geworden, die mit der Erfüllung ihres weiteren Kinderwunsches (das Paar hatte bereits ein Kind) unvereinbar gewesen wäre. Eine biologische Klappe hätte eine deutlich kürzere Lebensdauer. Da die Patientin langfristig wieder in ihr Heimatland zurückkehren musste, hätte dort vermutlich keine weitere Herz-OP finanziert werden können und die Patientin würde vorzeitig versterben. Aus diesem Grund plädierten die behandelnden Ärzte für einen dauerhaften, mechanischen Klappenersatz. Ein ethischer Konflikt entstand, weil die Patientin trotz der schlechteren Überlebenschance eine biologische Klappe – und damit die Möglichkeit, weitere Kinder zu bekommen – wünschte, während der Ehemann den Ärzten zustimmte und darüber hinaus in Übereinstimmung mit den moralischen Gepflogenheiten in seinem Heimatland bereit war, die Einwilligung zur Operation zu unterschreiben. Hier treffen juristische Normierungen des Selbstbestimmungsrechts auf kulturell normierte Entscheidungswege (»family consent«). Inhaltlich bestand eine Allianz zwischen Ärzten und Ehemann, moralisch zwischen Ärzten und Patientin. Nach einer Reihe von Telefonaten mit der Familie in Afghanistan stimmte die Patientin selbst einer mechanischen Klappe zu. Ob diese Entscheidung alle Kriterien von Autonomie (Freiheit von äußerem Druck etc.) erfüllte, ließ sich letztlich nicht genau klären. Fall 4 Die Frage nach der Beeinflussung des Patientenwillens und damit nach den konkreten Bedingungen, unter denen Autonomie realisiert werden kann, stellt sich sehr grundsätzlich in vielen Behandlungssituationen. Wann erreicht die Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse und Interessen Dritter ein solches Ausmaß, dass sie als illegitime Einflussnahme und Fremdbestimmung gewertet werden muss? Dieser Konflikt sei exemplarisch durch einen Fall aus der Kinderklinik illustriert, bei dem sich ein Jugendlicher nach einem längeren Entscheidungsprozess für eine Re-Transplantation entschied. Er sagte allerdings, dass er selbst lieber sterben wolle, als dieses Verfahren erneut zu durchlaufen. Diese Entscheidung könne er aber seinen Eltern nicht zumuten, da sie über seinen Tod zu traurig sein würden. Um sie zu schonen und zu schützen, stimme er dem Eingriff zu. Hier stellt sich die Frage, in wie weit ein Ethikberater sich zum Anwalt der ursprünglichen Position des Jugendlichen machen darf. Da Behandlungsteam und Eltern die TransClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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plantation gleichermaßen als erforderlich und sinnvoll einschätzen, findet der Jugendliche zunächst wenig Unterstützung. Wenn aber seine Rücksichtnahme als explizite Ausübung seiner Autonomie gewertet wird, dürfte der Ethikberater gerade nicht die Position gegen die Transplantation unterstützen. Die Bedeutung des Konzepts »Autonomie ermöglichen« liegt darin anzuerkennen, dass der Jugendliche sich nicht gegen seinen sozialen Kontext, gegen seine Familie entscheiden wird. Deshalb müssen die Gespräche ausgeweitet werden, um zu prüfen wie weitgehend ein Konsens zwischen den Einstellungen und Wünschen von Patient und dem ihn umgebenden System möglich ist. Fall 5 Autonomie bleibt als Recht auf Selbstbestimmung auch dann erhalten, wenn der Träger von Autonomie bewusstlos wird. In dem Fall stellt sich die Frage, wer auf welcher Grundlage eine Stellvertreterentscheidung im Namen des Patienten treffen darf. Durch die Neuregelung des Betreuungsrechts zum 01.09.2009 wurde die Patientenverfügung als inhaltliche Grundlage für eine Stellvertreterentscheidung durch Betreuer oder Bevollmächtigte in das Gesetz eingefügt. Das Abfassen einer Patientenverfügung, also die Vorausverfügung von Selbstbestimmung, kann im Einzelfall zu einer schwierigen Herausforderung werden. So wurde eine Ethikberatung von einem Patienten gewünscht, der auf der Warteliste für eine Herztransplantation stand und im Krankenhaus auf ein Spenderorgan wartete. Die Herausforderung für eine individuelle, autonome Vorausverfügung bestand darin, genau die Grenze für mögliche Behandlungssituationen und Behandlungsbegrenzungen auszuloten, die einerseits die Chance auf eine Herztransplantation so lange wie möglich offen ließ, andererseits schwerste Gesundheitsschäden vor oder nach einer Transplantation benannte, bei deren Eintreten ein Sterbenlassen durch die Ärzte ermöglicht werden sollte. So klar und nachvollziehbar dieser Wunsch im Grundsatz war, bestanden dennoch erhebliche Schwierigkeiten, auch in diesem Fall Autonomie zu ermöglichen: Eventuelle zukünftige Entwicklungen und Krankheitsverläufe sowie deren Bewertungen mussten detailliert diskutiert werden. Fall 6 Ein Beispiel für irrational erscheinende Patientenwünsche stellt das Ansinnen eines Mannes dar, der sich hilfesuchend an das Ethikkomitee wandte, da die Neurochirurgen der Klinik es ablehnten, sein gesundes Rückenmark zu durchtrennen. Aus Sicht des Mannes wurde seine Autonomie nicht respektiert. Er formulierte sinngemäß, dass er schon als Kind das Gefühl hatte, »im falschen Körper geboren« worden zu sein. Er fühle sich querschnittsgelähmt und leide unter der Gehfähigkeit seiner Beine. Beruflich beschäftige er sich mit Menschen im Rollstuhl, sei immer neidisch auf deren Zustand. Der Fall dieses Mannes zeigte eine Analogie zu einem neu beschriebenen Störungsbild, der BIID, auf. Diese »body integrity identity disorder« wird beschrieben bei Menschen, die eine Amputation wünschen, um eine ihrem Körperbild und -empfinden fremde Extremität zu verClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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lieren. In Einzelfällen konnte dokumentiert werden, dass keine Psychotherapie, psychopharmakologische Behandlung oder Entspannungsverfahren die Störung bessern konnten. Eine Besserung der subjektiven Beschwerden trat erst durch die Amputation ein. Das sicher extreme Beispiel einer Rückenmarkdurchtrennung zeigt, wie schwer es im Einzelfall sein kann, Autonomie zu ermöglichen: Falls der Wunsch rational ist, sollte die OP erfolgen; falls er aber – und so war die allgemeine Einschätzung – irrational ist, würde gerade die Befolgung des unvernünftigen Wunsches eine Verletzung der Autonomie darstellen, da ein Mensch vor krankheitsbedingt irrationalen oder wahnhaften Vorstellungen geschützt werden muss. Selbstverständlich kann die Deutungshoheit über die Vernünftigkeit des Wunsches nicht (allein) bei den behandelnden Ärzten liegen. »Autonomie ermöglichen« Im letzten Abschnitt wurden die Herausforderungen an den Umgang mit Autonomie in der Patientenversorgung und speziell in der Klinischen Ethikberatung an konkreten Beispielen dargestellt. Zur Lösung dieser Konflikte wird das Konzept »Autonomie ermöglichen« vorgeschlagen. Es liegt im Wesen des Konzepts begründet, dass Lösungen nur im Kontext des Einzelfalles von den real beteiligten Personen erarbeitet werden können. Deshalb wird das Konzept »Autonomie ermöglichen« an dieser Stelle vorgestellt, es bleibt aber den realen Fallberatungen vorbehalten, jeweils eine Lösung zu erarbeiten. Das Konzept selbst beschreibt eher das Verfahren zur Lösungsfindung als die Lösung selbst. Zunächst soll das Konzept vorgestellt und erläutert werden: Autonomie ist einerseits eine Grundverfasstheit des Menschen, andererseits muss sie jeweils konkret in einem Kontext entfaltet werden. Die autonome Person kann sich nur in sozialen Zusammenhängen verwirklichen. Jeder Mensch ist auf persönliche Beziehungen, auf das eigene soziale Umfeld angewiesen. Selbstbestimmung findet also in einer sozialen Gemeinschaft statt, denn »das Selbst bleibt ohne Du kein denkbarer Begriff« (Rickert 1914, 188). Aus diesem Grund stellen Kontextfaktoren eine Grundvoraussetzung für den Respekt vor der Autonomie dar. Die isolierte, autonome Entscheidung hat keine Bedeutung, wenn sie nicht praktisch in jedem Einzelfall realisiert und umgesetzt werden kann. Mit dem Begriff der »relationalen Autonomie« wird beschrieben, wie eine nicht-paternalistische Fürsorge zur Entfaltung von Autonomie beitragen kann (Rehbock 2002). Das Verständnis von Autonomie wandelt sich dadurch von einem absoluten und vorauszusetzenden Konzept zu einem ethischen Reflexionsbegriff (Rehbock 2005). Dieser ethische Reflexionsbegriff ist für die Lösung eines Autonomiekonflikts in der Ethikberatung unverzichtbar und muss daher in jedem Einzelfall erneut hergestellt werden. Das hier vorgestellte Konzept »Autonomie ermöglichen« beinhaltet den Prozess der Herstellung einer relationalen Autonomie. Deshalb wird dieses Konzept für die Ethikberatung im Gesundheitswesen vorgeschlagen. Dabei stehen die Bedingungen der Möglichkeit von relationaler Autonomie im Mittelpunkt. Jede Entscheidung setzt Optionen oder Wahlmöglichkeiten voraus. Diese Optionen müssen vorhanden, verfügbar und bekannt sein. Im GesundheitsweClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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sen bestehen die Optionen aus Behandlungsalternativen. Sie reichen von der Nicht-Behandlung bis zum Einsatz maximaler Mittel. Ob medizinische Optionen vorhanden sind, prüfen die behandelnden Ärzte anhand der Indikation (Neitzke 2008). Die Verfügbarkeit wird ebenfalls von ärztlicher Seite geprüft, bevor diese Optionen dem Patienten bekannt gemacht werden. Dies erfolgt in einem Aufklärungsgespräch. Zum Konzept von »Autonomie ermöglichen« gehört zunächst, dass alle relevanten Informationen vermittelt werden und deren Verständnis überprüft wird. Im Rahmen von Ethikberatungen hat sich gezeigt, dass dabei vor allem die Bedeutung der Behandlungsoptionen, die Einschätzung und Bewertung von Nutzen und Schaden oder von Belastungen wichtig sind. Dabei fällt es leichter über mögliche Therapieziele zu sprechen als über konkrete medizinische Maßnahmen. Aus Patientensicht fällt eine autonome Entscheidung leichter, wenn das Ziel, also der Ausgang einer Behandlung, mit den dafür in Kauf zu nehmenden Belastungen verglichen wird. Die Diskussion konkreter Maßnahmen auf dem Weg zum angestrebten Ziel kann dabei sogar nachrangig werden. Im Rahmen der Behandlungsplanung kann es hilfreich sein, dass von ärztlicher Seite Empfehlungen ausgesprochen werden (Quill, Brody 1996). Die Frage, ob ein Rat aus Sicht des betroffenen Patienten hilfreich ist, kann nur aus dem individuellen Kontext heraus beantwortet werden. Manche Patienten empfinden schon einen Rat als unzulässige Beeinflussung ihrer Entscheidungsfreiheit, andere fühlen sich von einer allein zu treffenden Entscheidung überfordert. Heyland et al. konnten in einer Studie zeigen, dass es den behandelnden Ärzten nicht möglich war, den individuellen Entscheidertypus verlässlich vorauszusagen (Heyland et al. 2003). Da Autonomie durch einen ärztlichen Rat aber nur dann gefördert wird, wenn der Patient eine Entscheidungshilfe wünscht (in Heylands Studie insgesamt 75% der Patienten), bedarf es zusätzlicher Bemühungen, den Entscheidertypus zu eruieren. Im Rahmen des Konzeptes »Autonomie ermöglichen« stellt sich also für Behandler wie für Ethikberater die Herausforderung, in einem offenen Gespräch das voraussichtlich angestrebte Entscheidungsverhalten zu klären. Dies gelingt im ethischen Konfliktfall vor allem, wenn die eruierende Person von Patient und Arzt als neutral wahrgenommen wird. Im Fall 2 lag diese Problematik hingegen mit umgekehrtem Vorzeichen vor: unabhängig von den Wünschen der Patientin bezüglich des Entscheidungsmodus war von ärztlicher Seite von vornherein gewünscht, dass die Patientin allein und ohne ärztliche Empfehlungen, Ratschläge oder andere Beeinflussungen entscheiden sollte. Die zu treffende Entscheidung wurde als in einer Weise persönlich verstanden, dass jede beabsichtigte oder unbeabsichtigte ärztliche Wertung als ethisch unzulässig empfunden wurde. Im Fall 3 waren die Ratschläge von Ärzten und Ehemann den Wünschen der Patientin entgegengesetzt. Für die Lösung war es wichtig, den von der Patientin gewünschten Entscheidungsmodus herauszufinden. Sie wählte letztlich einen »family consent«, also eine gemeinsame Entscheidungsfindung in der Familie. Autonomie wurde ermöglicht, da so ihr eigener Wille nicht nur in Bezug auf die Behandlungsentscheidung, sondern auch in Bezug auf den Entscheidungsprozess gewahrt blieb. Im Fall 4 konnte nicht mit Sicherheit geklärt werden, ob der junge Patient freiwillig den Prozess eines »family consent« gewählt hat. Seine Entscheidung für eine TransplantaClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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tion deckt sich mit den von der Familie ausgesprochenen Wünschen, aber es blieben Zweifel, ob er dieses Entscheidungsverfahren für sich akzeptiert hatte. Autonomie wäre erst dann ermöglicht worden, wenn der Patient eine faire Wahl zwischen den Entscheidungsmodalitäten (autonom alleine vs. im Familienkreis) gehabt hätte. Trotz Ethikberatung war dies nicht sicher gelungen. Die Bewertung von Therapieziel, Nutzen und Risiken ist Teil der autonomen Entscheidungsfindung und muss sich deshalb an den individuellen Lebensplänen, Wertmaßstäben und Vorstellungen eines gelingenden, guten Lebens orientieren. Dies kann im Rahmen von Ethikberatung unterstützt werden. Dazu sind Elemente einer Wertanamnese hilfreich: In einem dialogischen Prozess wird der Patient unterstützt, seine moralische Grundhaltung bezüglich Krankheit und Behandlung zu entwickeln und zu reflektieren. Diese Hilfe zur Selbstreflexion greift die geäußerten Werthaltungen auf und wendet sie auf die konkrete Fragestellung an. Dabei hat es sich vielfach als hilfreich erwiesen, wenn die positiven und negativen Folgen einer Behandlungsentscheidung erfahrbar gemacht werden. So kann werdenden Eltern bei drohender Frühgeburt ihres Kindes bereits die neonatologische Intensivstation gezeigt werden, damit der Ort, an dem das Kind möglicherweise behandelt wird, bereits eine innere Repräsentanz bei den Eltern erlangt. Im Bereich der Schwangerschaftskonfliktberatung nach Pränataldiagnostik ist beispielsweise der Kontakt mit Betroffenen aus der Selbsthilfe sinnvoll, um die Bedeutung des kindlichen Syndroms oder der Krankheit des Kindes anhand von realen Menschen erfahrbar werden zu lassen. Dies scheint geradezu eine Voraussetzung für eine verantwortungsvolle Entscheidung über einen möglichen Schwangerschaftsabbruch zu sein (Neitzke 2010). Eine weitere Entscheidungshilfe im Rahmen des Konzepts »Autonomie ermöglichen« besteht darin, die jeweils negativen Ausgänge der einzelnen Behandlungsalternativen zu betrachten und miteinander zu vergleichen. Im Prozess der ärztlichen Beratung ist es üblich, zunächst die guten Ausgänge, die Hoffnungen zu benennen. Oft werden die möglichen ungünstigen Ausgänge erst im Zusammenhang mit der Einwilligungserklärung offen benannt. Für die autonome Entscheidung hat es sich aber oftmals als hilfreich erwiesen, frühzeitig diejenigen Folgen zu betrachten, die – möglicherweise mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit – aus Sicht des Patienten nachteilig sind. Bei schweren Erkrankungsprozessen ist die Wahl der Behandlungsform ohnehin häufig die »Wahl zwischen zwei Übeln«. Die Bewertung anhand der Wertmaßstäbe des Patienten kann unterstützt und begleitet werden, und dazu trägt die gemeinsame Prüfung bei, welches Übel als das geringere eingeschätzt wird. In vielen Fällen besteht die Wahl zwischen einer Option, die mit einer niedrigen Wahrscheinlichkeit in kurzer Zeit zu einer großen Schädigung führen wird (z. B. bei Misslingen des Eingriffs oder schweren Komplikationen), und einer anderen Option, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in der Zukunft zu schweren Gesundheitsschäden oder dem Tod führt (z. B. bei der Entscheidung, eine Tumorerkrankung nicht behandeln zu lassen). Im Klinikalltag nehmen hingegen die gelingende Operation und das Zurückdrängen der Erkrankung den größten Raum im Gespräch ein und dienen als Maßstab für die zu treffende Entscheidung. Ethikberatung sollte den Mut haben und auch die Zumutung darstellen, darüber hinaus die negativen AusClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

Neitzke: Autonomie ermöglichen

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gänge in den Blick zu nehmen, sie zu vergleichen und so Patientenautonomie zu fördern. Ein weiterer Aspekt, der dazu beitragen kann, Autonomie zu ermöglichen, ist der ausdrückliche Verweis auf die professionelle Autonomie von Ärzten und Pflegenden. So wenig es überrascht, dass Patientenautonomie der herausragende moralische Wert der letzten Jahrzehnte geworden ist, so sehr irritiert es, dass über professionelle Autonomie wenig reflektiert und publiziert wird. Aber der Respekt vor der Autonomie wächst in der gegenseitigen Anerkennung als autonome Wesen. Die professionelle Autonomie stellt einen Schutz vor reiner wunscherfüllender Medizin dar und verhindert, dass Ärzte zu bloßen Handlangern des Patientenwillens werden. Dies kann eine sinnvolle Orientierung für die Entscheidung des Patienten darstellen, da spürbar wird, dass das professionelle Gegenüber als moralisches Subjekt ebenfalls Verantwortung für eine gute, in dem Falle nämlich autonome, Entscheidung trägt. Um Autonomie in der oben dargelegten Form einer Selbstbeschränkung realisieren zu können, ohne deshalb auf legitime Freiheiten verzichten zu müssen, ist ein authentisches moralisches Gegenüber erforderlich. Dies sind im Gesundheitswesen die Gewissensnöte des Arztes oder der Pflegekraft, die im Rahmen der Ethikberatung als Grenzen der Patientenselbstbestimmung aufgezeigt werden können. Der Fall 6 stellt eine extreme Belastungsprobe für professionelle Autonomie dar. Die Ablehnung des Behandlungswunsches gelingt überzeugend, wenn sie als Gewissensentscheidung erkennbar wird. In der Ethikberatung können bestimmte ethische Eckpfeiler benannt werden. In Bezug auf die Anwendung von Autonomie zählt dazu die Übereinkunft, dass eine individuelle Entscheidung der betroffenen Person Vorrang hat vor allen anderen Entscheidungsträgern. Dies trifft etwa auf die oben genannten Fälle 1 und 3 zu. Die normative Klarheit dieses Standpunkts (der, wenn er explizit formuliert wird, auch selten zurückgewiesen werden wird) führt dazu, dass mögliche Interessenkonflikte Betroffener besser angesprochen und transparent gemacht werden können. Welche Eigeninteressen verfolgen Angehörige, Eltern, Ärzte oder Pflegekräfte? In wie weit können sie – oder haben sie bereits – die Selbstbestimmung des Patienten beeinflusst? Die Klärung dieser Punkte trägt erheblich zu dem Konzept bei, Autonomie zu ermöglichen. Sie schafft eine Grundlage dafür, die Willensäußerung des Patienten dahingehend zu prüfen, ob sie aufgrund illegitimer Beeinflussung zustande gekommen ist oder nicht. Da die Frage, wann der Verzicht auf eigene Interessen und die Rücksichtnahme auf Dritte ein nicht mehr mit Autonomie vereinbares Ausmaß angenommen hat, kann nicht generell beantwortet werden, sondern muss in jedem Einzelfall erneut geprüft und abgewogen werden (Fall 4). Deshalb ist dieses Konzept gerade für die Klinische Ethikberatung sinnvoll, die in derartigen Zweifelsfällen hinzugezogen werden sollte. Das moralisch legitime Motiv, anderen Menschen nicht zur Last werden zu wollen, spielt im Gesundheitswesen angesichts von schwerer Krankheit, möglichem Siechtum und Pflegebedürftigkeit eine bedeutende Rolle. Hardwig stellt dieses Motiv in einem provokativen Aufsatz so weit in den Vordergrund, dass er in solchen Fällen sogar eine (Selbst-)Verpflichtung zu sterben postuliert (HardClaudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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Anwendungsprobleme und Fragen der Praxis

wig 1997). Die Entscheidungen über lebenserhaltende und -verlängernde Maßnahmen sind immer auch geprägt von den Überlegungen, welche Auswirkungen diese auf die Familie und sozialen Beziehungen haben. In einem ethischen Konfliktfall, in dem ein Patient vehement den Wunsch zu sterben artikuliert, und deshalb z. B. einen radikalen Verzicht auf Therapie verfügt, um eine dauerhafte Sedierung am Lebensende bittet (Neitzke et al. 2010) oder den Wunsch nach einem begleiteten Suizid äußert, ist Ethikberatung verpflichtet, die Autonomie vor möglichen heteronomen Anfeindungen und Übergriffen zu schützen. Ist der Wunsch zu sterben und die damit verbundene Rücksichtnahme auf die Familie in der Persönlichkeit des Patienten verankert? Würde der Patient also z. B. die Thesen von Hardwig gutheißen? In dem Fall wäre der Verzicht zugunsten Dritter als autonom zu werten. Autonomie erlischt nicht, wenn der Patient das Bewusstsein verliert. Das deutsche Recht schützt das Selbstbestimmungsrecht von Patienten, indem es folgende Hinweise auf den Patientenwillen explizit anerkennt (§1901a BGB): eine Patientenverfügung, konkrete Behandlungswünsche und den mutmaßlichen Willen. Alle an der Behandlung Beteiligten (Betreuer und Bevollmächtigte ebenso wie Ärzte) wahren das Selbstbestimmungsrecht, indem sie der Reihe nach prüfen, ob solche Wünsche oder Verfügungen bekannt sind. Ethikkomitees und andere Formen der Klinischen Ethikberatung sollten sowohl in den Einzelfallberatungen als auch durch klinikinterne Weiterbildungen systematisch auf die Schritte bei der Ermittlung des Patientenwillens hinweisen. Das Konzept »Autonomie ermöglichen« umfasst also auch organisationsethische Fragen, wenn etwa darauf gedrängt wird, dass bereits bei der stationären Aufnahme nach dem Vorliegen einer Patientenverfügung gefragt und dies dokumentiert wird. Eine Kopie der Patientenverfügung sollte erbeten und geeignet verwahrt werden. Die Konfliktfälle aus der Ethikberatung zeigen, dass es in vielen Fällen sinnvoll sein kann, wenn ein ärztliches Gespräch über die Inhalte der Verfügung bereits vor einem Eingriff geführt wird (Fall 5 schildert einen solchen Prozess). Dies trägt zur Entscheidungssicherheit aller bei, wenn nach dem Eingriff eine längere Phase der Entscheidungsunfähigkeit besteht und geprüft werden muss, was dies aus Sicht des Patienten für die Zustimmung oder Ablehnung der weiteren Behandlung bedeutet. Es gibt weitergehende Überlegungen und Konzepte, wie das Selbstbestimmungsrecht in noch systematischerer und strukturierterer Weise Beachtung finden kann, wenn der Patient nicht aktuell entscheidungsfähig ist. Unter dem Begriff »Advance care planning« oder »Gesundheitliche Vorsorgeplanung« werden Initiativen zusammengefasst, die für derartige schwere Gesundheitskrisen »Autonomie ermöglichen« sollen (Thomas, Lobo 2011). Dies stellt jedoch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar und ist nur ansatzweise von einem einzelnen Krankenhaus, einem Palliativstützpunkt oder einer einzelnen Altenpflegeeinrichtung zu realisieren. Damit wird deutlich, was bereits eingangs betont wurde: Das Konzept »Autonomie ermöglichen« hat besonders sinnfällige Anwendungen in der Klinischen Ethikberatung, sollte aber auf allen Ebenen des Gesundheitswesens zum Tragen kommen. Damit wird langfristig sichergestellt, dass Autonomie kein leeres Wort oder eine wohlfeile Forderung bleibt, sondern in Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig

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konkreten Beziehungen zwischen Patienten, deren Bezugspersonen und den Anbietern von Gesundheitsleistungen erarbeitet und realisiert wird. Literatur AEM (2010) Standards für Ethikberatung in Einrichtungen des Gesundheitswesens. In: Ethik in der Medizin 22: 149–153 Beauchamp TL, Childress JF (2009) Principles of Biomedical Ethics. 6. Aufl., Oxford University, Oxford /New York Bobbert M (2002) Patientenautonomie und Pflege. Begründung und Anwendung eines moralischen Rechts. Reihe: Kultur der Medizin 5. Campus, Frankfurt Dörries A, Neitzke G, Simon A, Vollmann J (2010) Klinische Ethikberatung. Ein Praxisbuch für Krankenhäuser und Einrichtungen der Altenpflege. 2. Aufl., Kohlhammer, Stuttgart Hardwig J (1997) Is there a duty to die? In: Hastings Center Report 27(2): 34–42 Heyland DK, Tranmer J, O’Callaghan CJ, Gafni A (2003) The seriously ill hospitalized patient: preferred role in end-of-life decision making? In: Journal of Critical Care 18(1): 3–10 Neitzke G (2008) Unterscheidung zwischen medizinischer und ärztlicher Indikation. Eine ethische Analyse der Indikationsstellung. In: Charbonnier R, Dörner K, Simon S (Hrsg.) Medizinische Indikation und Patientenwille. Behandlungsentscheidungen in der Intensivmedizin und am Lebensende. Schattauer, Stuttgart, 53– 66 Neitzke G (2009) Formen und Strukturen Klinischer Ethikberatung. In: Vollmann J, Schildmann J, Simon A (Hrsg.) Klinische Ethik. Aktuelle Entwicklungen in Theorie und Praxis. Campus, Frankfurt, 37–56 Neitzke G (2010) Wunsch nach Spätabbruch der Schwangerschaft bei Trisomie 21 und fetalem Herzfehler. Kommentar. In: Frewer A, Bruns F, Rascher W (Hrsg.) Hoffnung und Verantwortung: Herausforderungen für die Medizin. Jahrbuch Ethik in der Klinik 3. Königshausen & Neumann, Würzburg, 283–288 Neitzke G, Oehmichen F, Schliep HJ, Wördehoff D (2010) Sedierung am Lebensende. Empfehlungen der AG Ethik am Lebensende in der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM). In: Ethik in der Medizin 22: 139–147 Quill TE, Brody H (1996) Physician recommendations and patient autonomy: finding a balance between physician power and patient choice. In: Annals of Internal Medicine 125(9): 763–769 Rauprich O, Steger F (Hrsg.) (2006) Prinzipienethik in der Biomedizin: Moralphilosophie und medizinische Praxis. Reihe: Kultur der Medizin 14. Campus, Frankfurt Rehbock Th (2002) Autonomie – Fürsorge – Paternalismus. In: Ethik in der Medizin 14: 131–150 Rehbock Th (2005) Personsein in Grenzsituationen. Mentis, Paderborn Rickert H (1914) Über logische und ethische Geltung. In: Kant-Studien XIX: 182– 221 Schramme T (2002) Bioethik. Campus, Frankfurt Singer P (2011) Practical ethics. 3. Aufl., Cambridge University, Cambridge /New York Thomas K, Lobo B (Hrsg.) (2011) Advance care planning in end of life care. Oxford University Press, Oxford Vollmann J (2008) Patientenselbstbestimmung und Selbstbestimmungsfähigkeit. Beiträge zur Klinischen Ethik. Kohlhammer, Stuttgart Claudia Wiesemann und Alfred Simon - 978-3-89785-966-1 Heruntergeladen von Brill.com03/11/2021 08:01:23PM via Universitat Leipzig