Nationalsozialismus und Recht. Zweite und Dritte Babelsberger Gespräche
 9783848747771, 9783845290348

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Hans-Georg Hermann/Benjamin Lahusen/Thilo Ramm † Stefan Christoph Saar (Hrsg.)

Nationalsozialismus und Recht

Zweite und Dritte Babelsberger Gespräche

Nomos

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-4777-1 (Print) ISBN 978-3-8452-9034-8 (ePDF)

1. Auflage 2018 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort

Die positive Resonanz auf die Tagung von 2011 in Potsdam-Babelsberg hat uns zur Initiative einer ersten (München 2013) und schließlich noch einer weiteren Fortsetzungstagung (Rostock 2015) ermuntert, die sich neu‐ erlich mit dem Generalthema „Nationalsozialismus und Recht“ auseinan‐ dersetzten. Die Münchener und Rostocker Gespräche, deren meisten Vorträge hier zusammengefasst vorgelegt werden, waren und sind nicht einem einheitli‐ chen Projekt geschuldet, sondern dem Bedürfnis, vielfältige (und dabei ge‐ legentlich auch nicht notwendig neue) Aspekte und Perspektiven thema‐ tisch zu bündeln, für deren Aufgreifen den Autoren und Herausgebern die „Babelsberger Gespräche“ jenseits von Großprojekten der juristischen Zeitgeschichte oder gar der „Aufarbeitung“ der NS-Vergangenheit ein un‐ gezwungen und (relativ) spontan organisiertes Diskussions- und For‐ schungsforum sein wollen. Das Erscheinen des Buches zu ermöglichen, war nicht leicht, jedenfalls aber langwierig und ist letztlich dem ebenso verständigen wie sachdienlich nachdrücklichen Beharren des Verlages in Person von Herrn Dr. Grote und Frau Miriam Moschner M.A. zu danken. Ihrer und der Geduld der – teil‐ weise auch hochbetagten – Autoren sind die Herausgeber zu besonderem Dank verpflichtet. Mit zupackendem Einsatz haben Frau Sophia Hager M.A. und Herr Georg Suppé die abschließenden Arbeiten am Buch beglei‐ tet, wofür wir ihnen herzlich danken. Während der Drucklegung verstarb Thilo Ramm am 17. Juni 2018 im 93. Lebensjahr. Die verbliebenen Herausgeber sind seinem ehrenden An‐ denken als Initiator der Babelsberger Gespräche verpflichtet. München Hermann

Berlin Lahusen

Darmstadt † Ramm

Potsdam Saar

im Juli 2018

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Inhalt

Präliminarien Nationalsozialismus und Recht. Stand und Säumnisse der NSForschung 2013

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Bernd Rüthers Recht und Moral im Nationalsozialismus

29

Hubert Rottleuthner Herrschaftstechnik und Herrschaftsfelder Hitlers Instrumente der Rechtsetzung 1939-1945: Führer-Erlass und Gesetz im Urteil der zeitgenössischen Rechtswissenschaft und der Historiografie

65

Martin Moll ‚Volksgemeinschaft‘ als Kampfbegriff. Die NS-Ideologie als Maßstab für richterliches Handeln und Entscheiden

91

Christine Schoenmakers Das Ehegesetz von 1938 und die Ehescheidungsgründe Heinz Holzhauer

115

Juden im NS-Staat Wolfgang Benz

137

Der Führerstaat im Frieden

145

Thilo Ramm

7

Inhalt

Die Herrschaft der Gauleiter der NSDAP Martin Moll

171

Herrschaftstechnik und Herrschaftsfelder: Kirchen Katholische Kirche und Nationalsozialismus

201

Lucia Scherzberg Protestantismus und Nationalsozialismus. Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz

225

Klaus-Dieter Grunwald Zeittafel (Kirchen/Rostock)

237

Herrschaftstechnik und Herrschaftsfelder: Wissenschaft Der Universitätshistoriker Edward Y. Hartshorne

243

Uta Gerhardt Die völkerrechtliche Diskussion vor 1933 Dieter Waibel

273

Die Sumpfblüte des Völkerrechts im NS. Wechselnde Zwecke der Völkerrechtshistoriographie seit dem 16. Jahrhundert Mathias Schmoeckel

295

Autorenverzeichnis

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Namen und Sachen

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Präliminarien

Nationalsozialismus und Recht. Stand und Säumnisse der NS-Forschung 2013 Bernd Rüthers1

Das Thema „Stand und Säumnisse der deutschen NS-Forschung“ veran‐ laßt mich, eine eigenwillige und differenzierte Betrachtung des For‐ schungsstandes einerseits und des Geschichtsbewußtseins andererseits zu versuchen. Zu einer realistischen Analyse dieses „Standes der Forschung“ gehört ein Blick auf die Umstände des „Wissenschaftsklimas“, unter de‐ nen dieser Forschungsstand zustande gekommen ist. Das ist zugleich ein Beitrag zur „juristischen Erinnerungskultur“, die auch für die Zeit nach dem Zusammenbruch der DDR prägend war. Das historische Material zur Unrechtsgeschichte im Nationalsozialis‐ mus wurde zunächst in den sog. Nürnberger Prozessen der „Siegermäch‐ te“ gesammelt und aufbereitet. Das waren zwischen 1945 und 1948 u.a. folgende Verfahren: – der Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher (1945/46) – der Juristen-Prozeß (17. Februar – 14. Dezember 1947) – Prozeß Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS (13. Januar – 3. November 1947) – Prozeß Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (1. Juli 1947 – 10. März 1948) – Einsatzgruppen-Prozeß (15. September 1947 – 10. April 1948)2 1 Der Autor ist Prof. em. für Zivilrecht und Rechtstheorie in Konstanz. Der Text gibt einen Einführungsvortrag zu den 2. „Babelsberger Gesprächen“ wieder, die vom 12.-14. Oktober 2013 in München stattfanden. 2 Die Dimension der rechtsgeschichtlichen Bedeutung des Einsatzgruppenprozesses wird deutlich, wenn man die in den Akten dokumentierten Tatsachen und die Sozia‐ lisation der dort verurteilten juristisch gebildeten Einsatzgruppenführer aus „besten deutschen Familien“ bedenkt. Die Täter der Massenmorde dieser Einheiten sind als hochqualifizierte Juristen ihrer Generation einzustufen. Vgl. dazu U. Herbert, Best, Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. 1903– 1989. Bonn 1996, S. 191 ff. Best hatte 1934 im „Reichssicherheitshauptamt einen juristischen „Assessoren-Kindergarten“ um sich versammelt, aus dem viele SSKommandeure der Einsatzgruppen hervorgingen. Allein die Einsatzgruppe A mel‐

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– Wilhelmstraßen-Prozeß (Auswärtiges Amt und andere Ministerien, 4. November 1947 – 13. April 1949). Diese Verfahren haben den großen Bestand der Dokumente zu den Staats‐ verbrechen des NS-Regimes bewußt gemacht und sichergestellt. Außer‐ dem wurden erstmals die Vertreter eines zum Zeitpunkt ihrer Taten souve‐ ränen Staates für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen. Die Unwilligkeit, sich zu erinnern Für die deutsche Rechtswissenschaft und Justiz insgesamt ist die Erfor‐ schung ihrer Rollen im Dritten Reich kein Ruhmesblatt.3 Die Neigung der deutschen Juristen in Wissenschaft und Praxis, sich mit ihrer Beteiligung an dem staatlichen Unrecht im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen war nach dem Zusammenbruch 1945 gering. Das hatte plausible Gründe. Die Vertreibung ihrer jüdischen Kollegen nach dem verlogen betitelten „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufs‐ beamtentums“ vom 7. April 1933 hatte vielen von ihnen den Weg auf die ersehnten, nun freiwerdenden Lehrstühle ermöglicht. Die ersten Massentö‐ tungen vom 30. Juni 1934 waren allgemein bekannt. Die Blutschutzge‐ setzgebung von 1935 beseitigte die bis dahin geltenden Grundsätze der allgemeinen Rechtsfähigkeit und Staatsbürgerschaft im Sinne der NS-Ras‐ senideologie. Die Pogrome nach dem 9. November 1938 mit der polizei‐ lich geschützten Niederbrennung von Hunderten jüdischer Synagogen und der Verwüstung von Tausenden jüdischer Geschäfte und Wohnungen fand in aller Öffentlichkeit und ohne erkennbaren Widerstand der intellektuel‐ len, kirchlichen, wissenschaftlichen und staatlichen Funktionseliten statt. Die massenhafte Deportation der jüdischen Bevölkerung 1941/1942 war dete von Juni bis zum Winter 1941 nach Berlin 249.420 von ihr getötete Juden. Der Einsatzgruppe gehörten etwa 1000 Mann an. 3 Vgl. B. Rüthers Geschönte Geschichten –Geschonte Biographien, Sozialisationsko‐ horten in Wendeliteraturen, Tübingen 2001; ders., Nachwort zur 7. Auflage von „Die Unbegrenzte Auslegung“, Tübingen 2012, S. 476-522; Thulfaut, Gerrit, Kri‐ minalpolitik und Strafrechtslehre bei Edmund Mezger 1883-1962. Eine wissen‐ schaftsgeschichtliche und biographische Untersuchung (Reihe: Juristische Zeitge‐ schichte Abteilung 4 Leben und Werk 2), Baden-Baden 2000; Francisco Muñoz Conde, Edmund Mezger – Beiträge zu einem Juristenleben (Reihe: Juristische Zeit‐ geschichte, Abteilung 4: Leben und Werk, Band 10) Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2007.

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nicht nur den Nachbarn bekannt, sondern in den deutschen Großstädten ein öffentliches Ereignis. Die gängige Behauptung nach 1945 „davon ha‐ ben wir nicht gewußt“, war in der Regel die Verdrängung unangenehmer Erinnerungen an eigene Verdrängungen oder Verstrickungen. Personelle Kontinuitäten Der Mangel an unbefangenen universitätsöffentlichen Erörterungen zur Geschichte von Jurisprudenz und Justiz in der NS-Zeit war in der frühen Bundesrepublik – bis zur Mitte der sechziger Jahre – maßgeblich durch die Tatsache beeinflußt: In den westdeutschen juristischen Fakultäten amtierten nach 1949 überwie‐ gend Dozenten, die diesen Beruf bereits vor 1945 in Eidestreue zum Führer ausgeübt hatten.

Manche hatten ihre Lehrtätigkeit nach Wiedereröffnung der Universitäten ununterbrochen fortgeführt, andere waren nach kurzen oder längeren „Warteschleifen“ in die Lehre zurückgekehrt.4 Das gilt vor allem für sol‐ che Autoren, die mit ihrer Forschung, Literatur und Lehre maßgeblich, nicht selten führend, an der „nationalsozialistischen Rechtserneuerung“ mitgewirkt hatten. Die juristischen Professoren, die bereits im Nationalsozialismus tätig gewesen waren, be- oder erhielten, bisweilen nach der erwähnten „Warte‐ schleife“, mit wenigen Ausnahmen5 nach 1945 wieder juristische Lehr‐ stühle. Viele andere wurden zu akademischen Leitfiguren („Klassikern“) der deutschen Nachkriegsjurisprudenz.6 Diese wie die übrigen an der NSRechtserneuerung beteiligten Juristen entwickelten unterschiedliche Selbstbehauptungs- und Verdrängungsstrategien. Von ihren Fakultäts- und Fachkollegen wurden die NS-Autoren in aller Regel geschont. Dies er‐ folgte dadurch, dass einschlägige Themen – sei es aus kollegialer Solida‐ rität, aus Achtung vor ihrer Fachkompetenz oder wegen des Bedarfs an

4 Dabei kam es, je nach dem Informationsstand der jeweiligen Besatzungsmacht, zu skurrilen Verzerrungen. So blieb etwa K. Larenz in Kiel im Amt, während E. Wohl‐ haupter suspendiert wurde; näher dazu (Hrsg): Rechtswissenschaft im NS-Staat: der Fall Eugen Wohlhaupter, Heidelberg 1987. 5 Etwa Carl Schmitt, Otto Koellreutter, Reinhard Höhn, Karl August Eckardt. 6 Larenz, Forsthoff, Maunz, Siebert, Michaelis, Wieacker, Weber, Dahm, Huber, Wel‐ zel u. v. a.

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fachkompetenten Dozenten – in der Fakultät, in der Lehre wie auch litera‐ risch vermieden wurden. Die jüngeren Wissenschaftler kannten diese Ver‐ gangenheiten nicht oder mußten, wenn sie sie thematisierten, befürchten, ihre Karriere als "Nestbeschmutzer" zu gefährden. Die Verdrängungs- und Schweigespirale („Schulenbildung“ als prägender Faktor der Erinnerungskultur) Fachlich gute Hochschullehrer ziehen begabte Schüler an. Das war auch nach 1945 bei den bedeutenden juristischen NS-Autoren nicht an‐ ders, die jetzt ihre Karriere erfolgreich fortsetzten. Es bildeten sich um die führenden Kapazitäten in den Teildisziplinen der Rechtswissenschaft Gruppen von fachlich qualifizierten Schülern, die ihren akademischen Lehrern in Dankbarkeit und Verehrung zugetan wa‐ ren. Schon deshalb, aber auch um ihr eigenes Ansehen nicht zu gefährden, hatten sie an der Erörterung der Rolle ihrer Lehrer in der NS-Zeit kein In‐ teresse. Es entstand eine über Jahrzehnte geübte, über das ganze Fach Rechts‐ wissenschaft und die Justiz verbreitete Schweigespirale bezüglich der NSZeit. Qualifizierte, dankbare und loyale Schülerscharen schirmten in der Folge auch in ihrer eigenen Forschung und Lehre ihre in die NS-Ideologie verstrickten, fachlich anerkannten und menschlich verehrten Doktor- und Habilitationsväter gegen Kritik konsequent ab. Daraus ergab sich in den ersten Jahrzehnten nach 1945 eine zwar unge‐ schriebene, aber, soweit ich sehe, fast ausnahmslos durchgehaltene Verhal‐ tensregel für den Umgang mit der Rechtsentwicklung in der NS-Zeit. Sie lautete: Erörterungen in der Lehre, in Seminaren, Dissertationen und Habi‐ litationen, die einen Fakultätskollegen belasten könnten, hatten zu unter‐ bleiben. Meine akademische Heimatuniversität Münster hatte in der juris‐ tischen Seminarbibliothek einen sog. Giftschrank. Dort waren bis 1945 die Bücher jüdischer Autoren eingeschlossen, vor denen die juristischen Stu‐ dierenden bewahrt werden sollten.7 Nach 1945 wurde der Inhalt ausge‐ wechselt. Dort war jetzt die belastende Literatur von Fakultätskollegen aus

7 Zur Entstehungsgeschichte dieser Giftschränke verweise ich auf den von C. Schmitt im Oktober 1936 organisierten Kongress „Der Kampf der deutschen Rechtswissen‐ schaft gegen den jüdischen Geist“. Näheres dazu B. Rüthers, Carl Schmitt im Drit‐ ten Reich, München 1989, 2. Aufl. 1990, S. 97-103.

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der NS-Zeit für Studierende nur noch mit einer Sondergenehmigung zu‐ gänglich. Ähnliche Regelungen gab es an den meisten Fakultäten. An Ma‐ terial fehlte es an vielen Orten in allen staatsnahen Disziplinen nicht. Die Entwicklung des Rechts im Nationalsozialismus wurde in den westdeutschen juristischen Fakultäten über Jahrzehnte hin weitgehend aus der Forschung und erst recht aus der Lehre, auch aus den Lehrbüchern so‐ wohl in den dogmatischen Rechtsgebieten wie in den Grundlagenfächern (Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte, Methodenlehre) ausgeschlossen. Musterbeispiele dafür sind die von namhaften NS-Autoren verfaßten oder fortgeführten Lehr- und Handbücher oder Kommentare in fast allen Rechtsgebieten.8 Das setzte sich in der umfangreichen Jubiläums-, Fest- und Gedenk‐ schriftenliteratur der Nachkriegszeit bis in die neunziger Jahre fort. Dieser Trend durchzieht, bisweilen verschärft, auch zahlreiche Lebensbilder von Schülern in Sammelbänden und Einzelschriften. Einige Musterbeispiele liefern die beiden Bände über „Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler“9. Interessant ist auch der Band „Kölner Juristen im 20. Jahrhundert“.10 Soeben ist zusätzlich ein Sammel‐ band zu den deutschsprachigen Staatsrechtslehrern erschienen.11 Den genannten Sammelwerken ist zusätzlich gemeinsam, daß die Rechtswissenschaft in der DDR nicht erwähnt wird. In Österreich steht eine systematische Analyse der Entwicklung der dortigen Rechtswissen‐ schaft zwischen 1938 und 1945 immer noch weitgehend aus, findet jeden‐ falls in der gängigen Studienliteratur kaum Erwähnung. In Österreich wirkt insoweit die lange gepflegte, irrige Vorstellung nach, das Land sei das erste Opfer des NS-Staates gewesen, von Hitlers Truppen gegen den Willen seiner Bevölkerung besetzt und 1945 befreit worden.

8 Etwa Larenz, Wieacker, Schönfeld, Mezger, Siebert, Maunz, Forsthoff u.v.a. 9 Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.), Berlin 2007 u. 2010. Die Herausgeber halten den Inhalt für „Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts“. Dazu B. Rüthers in: ZRG GA 129 (2012), S. 900-904; vgl. auch die ähnliche Strategie in vielen Beiträgen der Festschrift zum 225jährigen Jubiläum des Beck-Verlages „Juristen im Por‐ trait“, München 1988, etwa zu F. Baur, F. Berber, E. Forsthoff, K. Larenz, Th. Maunz, E. Mezger. 10 S. Augsberg/A. Funke (Hrsg.), Kölner Juristen im 20. Jahrhundert, Tübingen 2013. 11 Häberle/Kilian/Wolff (Hrsg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, Deutschland - Österreich - Schweiz, 2015.

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Diese lange gepflegte „Schweigespirale“12 über die jüngere Geschichte von Rechtswissenschaft und Justiz hat Folgen bis in die Gegenwart, etwa wenn von der jüngeren Generation über die Rolle der Generalklauseln13, über die Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit14 oder über den Privat‐ rechtsdiskurs und die Ideengeschichte in der Moderne15 geschrieben wird und die engen rechtshistorischen Zusammenhänge mit den Rechtsperver‐ sionen in den beiden deutschen Diktaturen verkannt oder verschwiegen werden. Einige solcher Schriften wurden sogar „juristische Bücher des Jahres“.16 Die Aufarbeitung der Vergangenheit in den Teilrechtsgebieten Die Vereinigungen der Staatsrechtslehrer, der Zivilrechtslehrer und der Strafrechtslehrer wurden nach 1949 neu gegründet. Die meisten Mitglie‐ der bei der Neugründung waren bereits vor 1945 Professoren. Das führte dazu, daß Themen zur Geschichte des Staatsrechts, des Zivilrechts und des Strafrechts im NS-Staat über Jahrzehnte hin tabu waren. Die Staatsrechtslehrer haben das Staatsrecht des Nationalsozialismus zum ersten Mal 50 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik auf ihrer Jahrestagung 2000, und zwar am Rande neben dem Hauptthema der Jah‐ restagung in zwei Referaten behandelt.17 Das Staatsrecht der DDR hatte die Vereinigung 1991, zwei Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR, im

12 Der Begriff stammt von: Elisabeth Noelle-Neumann, Die Schweigespirale. Öffent‐ liche Meinung – unsere soziale Haut. Langen Müller, München 1980. 13 Marietta Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit. Generalklau‐ seln im Spiegel der Antinomien des Privatrechtsdenkens, Tübingen 2005. 14 Lena Foljanty, Recht oder Gesetz. Juristische Identität und Autorität in den Natur‐ rechtsdebatten der Nachkriegszeit, Tübingen 2013. Die Autorin erwähnt nicht, daß viele der Autoren, die nach 1945 das „christliche Naturrecht“ propagierten, vor 1945 mit gleichem Eifer die völkische Rechtsidee und das rassisch-völkische NSNaturrecht vertreten hatten (Larenz, Erik Wolf, Küchenhoff, Welzel, Schönfeld u.a.). 15 Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, Tübingen 2013. 16 Dazu B. Rüthers, Verfälschte Geschichtsbilder deutscher Juristen? NJW 15/2016, 1058-1074. 17 Dreier, Horst/Pauly, Walter, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Natio‐ nalsozialismus (in: Veröffentlichung der Vereinigung der deutschen Staatsrechts‐ lehrer 60). De Gruyter, Berlin 2001 (S. 9-146). Dazu B. Rüthers, ZRG GA 120 [2003], S. 860 ff.

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Rahmen von neun (!) Referaten diskutiert.18 Viele Tagungsteilnehmer äu‐ ßerten ihr Erstaunen über das, was die damals führenden Kollegen, seien es ihre Väter oder Schüler, damals geschrieben und gelehrt hatten. Es war ihnen, wie sie sagten, bis dahin unbekannt gewesen. Die Zivilrechtslehrervereinigung hat sich noch etwas mehr Zeit gelas‐ sen. Sie diskutierte ihre Rechtsanwendungsmethoden unter den verschie‐ denen politischen Systemen und Verfassungen des 20. Jahrhunderts erst‐ mals im September 2013 auf ihrer Tagung in Würzburg. Einer von fünf Vorträgen zu „Methoden des Privatrechts“ hatte den Titel: „Zur Methoden‐ geschichte unter dem BGB in fünf Systemen“.19 Die Zivilrechtslehre der NS-Zeit wurde knapp behandelt, die DDR ausgelassen. 68 Jahre nach dem Zusammenbruch von 1945 wurden also erstmals die Methoden im Privat‐ recht unter dem Aspekt der Erfahrungen dreier deutschsprachiger Länder (D, A, CH) und von fünf verschiedenen politischen Systemen erörtert, die das BGB überlebt hat. Dabei entstand ernstlich eine Diskussion, ob Me‐ thodenfragen Verfassungsfragen seien. Der unlösbare Verfassungsbezug der Methodenlehre war einigen Disputanten zweifelhaft oder unbekannt. Das erscheint einerseits skurril, andererseits verständlich, wenn man weiß, daß in den dort heute noch als Klassiker zitierten Lehrbüchern der Metho‐ denlehre von Karl Larenz20 und Franz Bydlinski21 die Methodeneskapa‐ den der NS-Zeit entweder völlig ausgespart oder ganz am Rande erwähnt werden. Ob die Strafrechtslehrer je Ähnliches verhandelten, ist mir nicht zuver‐ lässig bekannt. Gründe dafür gab es viele. Erinnerungswert ist etwa die Rolle des Strafrechtlers Edmund Mezger, der lange als Autor eines führen‐ den Lehrbuches zum Strafrecht die Juristenausbildung über Jahrzehnte hin beeinflußt, wenn nicht geprägt hat. Mezger hatte bereits 1933 ein rassisch ausgerichtetes NS-Feindstrafrecht gefordert und begründet. 1943-1945

18 Chr. Starck / W. Berg / B. Pieroth / H. R. Rill / D. Ehlers / P. Hänni, Der Rechts‐ staat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit. Eigentums‐ schutz, Sozialbindung und Enteignung bei der Nutzung von Boden und Umwelt, Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staats‐ rechtslehrer in Gießen vom 2. bis 5. Oktober 1991, Berlin 1992 (S. 9-346 von 350 S.). 19 Hans-Peter Haferkamp, Zur Methodengeschichte unter dem BGB in fünf Syste‐ men, erscheint in AcP 214 (2014), S. 60-92. 20 Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960. 21 Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982.

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wirkte er im Auftrag Heinrich Himmlers an einem Gesetzentwurf zur „Ausmerzung gemeinschaftsfremder Staatsfeinde“ mit.22 1944 forderte Mezger „rassenhygienische Maßnahmen zur Ausrottung krimineller Stämme“ und die „Ausmerzung volks- und rasseschädlicher Teile der Bevölkerung“. Eine Sondererlaubnis Himmlers verschaffte Mez‐ ger die Gelegenheit, in einem Konzentrationslager den auszumerzenden „Menschentyp“ persönlich in Augenschein zu nehmen. Nach kurzer War‐ teschleife kehrte Mezger bereits 1948 (!) auf seinen Lehrstuhl in München zurück. 1953 erhielt er eine umfangreiche Festschrift mit der Beteiligung vieler namhafter Kollegen.23 1954 wurde er Mitglied der „Großen Straf‐ rechtskommission“ der Bundesregierung, zeitweise deren stellvertretender Vorsitzender.24 Die Erinnerungskultur in der Justiz Die Erinnerungsbereitschaft der deutschen Justiz weist ähnliche, zum Teil skandalöse Verzögerungen und Verwerfungen auf wie die der Jurispru‐ denz. Viele schwerste Verbrechen blieben ungesühnt, weil sie nur als Beihilfe eingestuft wurden und verjährt waren. Das kann hier nur angedeutet wer‐ den. Wie in den juristischen Fakultäten und in den meisten anderen staatli‐ chen Institutionen waren nach 1949 auch in der westdeutschen Gerichts‐ barkeit die große Mehrheit der Richter und Staatsanwälte im Amt geblie‐ ben. Die ersten Publikationen zur Justiz im Nationalsozialismus brachten verharmlosende, schönfärberische oder rechtfertigende Darstellungen.25

22 Dazu Th. Vornbaum (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts, LIT-Verlag, Berlin 2009, passim. 23 Festschrift für Edmund Mezger zum 75. Geburtstag, hrsg. von Karl Engisch u. Reinhard Maurach, München u. Berlin 1954, S. 521. 24 Zu seiner Rolle mit vielen Nachweisen vgl. Francisco Muñoz Conde, Edmund Mezger - Beiträge zu einem Juristenleben, Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2007, 142 Seiten: dazu B. Rüthers in: ZRG, Band 127 (2010), S. 888-893. 25 H. Schorn, Der Richter im Dritten Reich, Geschichte und Dokumente, Frankfurt a.M. 1959; H. Weinkauff, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, Ein Überblick, Stuttgart 1968; ders., DRiZ 1954, 251; O.P. Schweling/ E. Schwinge, Die deutsche Militärjustiz im Nationalsozialismus, 2. Aufl., Marburg 1972; ferner I. Müller, Furchtbare Juristen, München 1989, S. 197 ff., 210 ff., 221 ff.

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Sie stammten in der Regel von Richtern aus der Zeit vor 1945. Ein Bei‐ spiel für die Sozialisation dieser Autorengruppe im obrigkeitsstaatlichen Denken und im NS-System ist H. Weinkauff, der erste Präsident des Bun‐ desgerichtshofes. Geboren 1894, wurde er ab 1935 Hilfsrichter am Reichs‐ gericht. Seit dem 1. Februar 1934 gehörte er dem Bund Nationalsozialisti‐ scher Deutscher Juristen (BNSDJ) an. Von 1937 bis 1945 war er Reichs‐ gerichtsrat. 1938 wurde er mit dem nationalsozialistischen „Silbernen Treudienst-Ehrenzeichen“ ausgezeichnet. In seinen späteren Schriften zur Justiz im Nationalsozialismus suchte Weinkauff die Verantwortung für die NS-Rechtsperversion nicht in der Bereitschaft der Richter und Professoren, der NS-Ideologie vorbehaltlos zu dienen. Er übernahm bereitwillig die von G. Radbruch 1946 aufge‐ stellte, irrige These, es sei der 1933 in Lehre und Rechtsprechung herr‐ schende Gesetzespositivismus gewesen, der die deutschen Juristen gegen ‚gesetzliches Unrecht‘ wehrlos gemacht habe.26 In Wahrheit proklamierten die Vertreter der „völkischen Rechtserneuerung“ genau das Gegenteil, nämlich die Abkehr vom „Normativismus“ und die Hinwendung zum ras‐ sisch-völkischen Rechtsbegriff: Recht sei „etwas im Blute Lebendes“, die Rechtsbegriffe müßten „umgedacht“ werden und die Rechtsfähigkeit sei nicht ein Menschenrecht, sondern „blutsbedingt“. Die Grundlage und Rechtfertigung der Rechtserneuerung war nicht der Positivismus, sondern das „Naturrecht aus Blut und Boden“.27 Die justizielle Aufarbeitung des Unrechts und der Verbrechen in der NS-Zeit kam nur äußerst langsam in Gang und führte zu Ergebnissen, wel‐ che nicht selten die Unlust der Staatsanwaltschaften und Gerichte an die‐ sen Verfahren spiegeln. Es bedurfte einzelner mutiger Männer und Frauen, die darauf drängten, die Untaten der NS-Zeit vor Gericht zu bringen. Beispiele dafür sind etwa der unbeugsame hessische Generalstaatsan‐ walt Fritz Bauer und der Rechtsanwalt Dr. Robert M. Kempner. Bauer, geb. 1903 in Stuttgart, 1933 jüdischer Emigrant, kehrte 1949 nach Deutschland zurück. Als Generalstaatsanwalt in Hessen erreichte er später gegen massive Widerstände, daß der Bundesgerichtshof die „Unter‐ suchung und Entscheidung“ in der Strafsache gegen Auschwitz-Täter

26 G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Südd. Juristenzei‐ tung 1946, S. 105-108. 27 B. Rüthers, Entartetes Recht, 3. (Taschenbuch-) Aufl., München 1994, S. 22 ff., 54 ff., 183 ff.; ders., Die Unbegrenzte Auslegung, 8. Aufl., Tübingen 2017, S. 117 ff., 216 ff., 277 ff.

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dem Landgericht Frankfurt am Main übertrug. Auf Weisung Bauers leitete die dortige Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen vormalige Angehörige der SS-Besatzung des Konzentrationslagers Auschwitz ein. Der erste Auschwitzprozeß, die „Strafsache gegen Mulka u. a.“, wurde im Dezember 1963 gegen 22 Angeklagte vor diesem Landgericht eröffnet. In‐ nerhalb der bundesdeutschen Justiz der Nachkriegszeit war Bauer wegen dieses Engagements umstritten, weil die meisten Juristen zuvor der NSDiktatur gedient hatten. Robert Kempner, geb. 1899 in Freiburg, war zunächst Staatsanwalt in Berlin, ab 1928 Beamter im preußischen Innenministerium. Er wurde 1933 wegen „politischer Unzuverlässigkeit in Tateinheit mit fortgesetztem Judentum” aus dem Staatsdienst entlassen und emigrierte in die USA. 1945/1946 wurde er stellvertretender Hauptankläger der Vereinigten Staaten beim Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher. In den Jahren 1947/1948 übte er dieselbe Funktion im sogenannten Wilhelm‐ straßen-Prozeß aus. Kempner blieb nach dem Ende der Nürnberger Pro‐ zesse als Rechtsanwalt in Deutschland. Er führte eine Vielzahl von Verfah‐ ren, in denen er als Nebenklägervertreter für die Bestrafung von NS-Tä‐ tern eintrat. Mit Hilfe von Zivilprozessen erstritt er Entschädigungen für Opfer des Nationalsozialismus. Die Rechtsprechung des BGH zum Widerstand in der NS-Zeit Ein Beispiel und ein besonders problematisches, ja anstößiges Kapitel war die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in der Ära Weinkauff zum Widerstand gegen das NS-Regime und zur Wiedergutmachung.28 Als rechtmäßig galt dieser Widerstand nur dann, wenn die Widerstandshand‐ lung „geeignet war, der NS-Gewaltherrschaft Abbruch zu tun“, also „eine gewisse Aussicht auf Erfolg“ gehabt habe.29 Die Entscheidung von 1961 war kein einzelner „Ausrutscher“. Sie spiegelt im Gegenteil den „Geist des Gerichts“ in diesen Jahren. Schon 1956 hatte der Präsident des Ge‐ richts H. Weinkauff die Legitimität jeglichen Widerstandes gegen Hitler in Frage gestellt, wenn dieser nicht geeignet gewesen sei, den Sturz des Re‐ gimes herbeizuführen. Daher komme ein berechtigter Widerstand nur für 28 Vgl. näher B. Rüthers, Verräter, Zufallshelden oder Gewissen der Nation?, Tübin‐ gen 2008, S. 108-121 mit zahlreichen Nachw. 29 Ähnlich das BVerwG, Urteil v. 12.10.1960, RzW 1961, 67 f.

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„Eliten mit klarem und sicheren Urteil“ in Betracht.30 Er selbst hatte, wie schon angedeutet, im NS-Regime eine bemerkenswerte elitäre Karriere hinter sich. 1956, also in dem Jahr, in dem Weinkauff seine These vom rechtmäßi‐ gen Widerstand erstmals publizierte, hatte der BGH das vielleicht anstö‐ ßigste Urteil seiner Geschichte gefällt.31 Ein unzuständiges SS-Standge‐ richt unter der Leitung des SS-Chefrichters Thorbeck hatte auf die direkte Weisung Hitlers am 6. April 1945 im KZ Flossenbürg im sog. Huppenko‐ then-Prozeß die Angeklagten Dietrich Bonhoeffer, Generalmajor Hans Os‐ ter, Heereschefrichter Karl Sack, Hauptmann Ludwig Gehre, Reichsge‐ richtsrat Hans von Dohnanyi und Generaladmiral Wilhelm Canaris wegen Landesverrats zum Tode verurteilt. Der 1. Strafsenat des BGH hob in einem dritten Revisionsverfahren die Verurteilung der Mitglieder des Standgerichts wegen Beihilfe zum Mord auf und sprach sie frei. Das SS-Standgericht sei ein „ordnungsgemäßes Gericht“ gewesen. Dazu ist anzumerken, daß für keinen der Angeklagten ein Verteidiger bestellt und kein Protokollführer zugezogen war. Die Verurteilten hätten, so der Senat, „nach damals geltenden und in ihrer Wirksamkeit nicht bestreitbaren Gesetzen“ Hoch- und Landesverrat begangen. In einem „Kampf um Sein oder Nichtsein“ seien bei allen Völ‐ kern von jeher strenge Gesetze zum Staatsschutz erlassen worden. Einem Richter könne „angesichts seiner Unterworfenheit unter die damaligen Ge‐ setze“ kein Vorwurf daraus gemacht werden, wenn er „glaubte“, Wider‐ standskämpfer „zum Tode verurteilen zu müssen.“ Die Tatsache, daß es sich beim NS-Staat, wie gerade dieses Standgericht und sein Verfahren zeigte, um einen Unrechtsstaat handelte, blieb dem Senat auch 1956 ver‐ borgen. Bei dieser Entscheidung des Ersten Strafsenats wirkte ein Richter mit, der während der NS-Zeit Beisitzer eines Sondergerichts gewesen war. Der Präsident des BGH a. D. Prof. Dr. Günter Hirsch hat in einer Anspra‐ che zum Gedenken an den von diesem Standgericht verurteilten Reichs‐ gerichtsrat Hans von Dohnanyi am 8. März 2002 erklärt, für dieses Urteil müsse man sich schämen. Davon war man im BGH 1956 weit entfernt. Die Rechtsgeschichte, besser, die Unrechtsgeschichte dieser Jahrzehnte wurde nach 1945 von den Autoren der „völkischen Rechtserneuerung“,

30 H. Weinkauff, Über das Widerstandsrecht, Karlsruhe 1956; ders., Die Militäroppo‐ sition und das Widerstandsrecht, in: Europäische Publikation (Hrsg.), Vollmacht des Gewissens, Frankfurt a.M./Berlin 1960, S. 136 ff. 31 BGH, Urteil v. 19.06.1956 - 1 StR 50/56 in: JuNSV Bd.XIII, Lfd.Nr. 420.

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aber auch von den Staatsanwälten und Richtern aller Rangstufen der Jahre 1933-1945 aus verständlichen Gründen oft nicht auf-, sondern eher zuge‐ deckt.32 Die juristische Methodenlehre In Westdeutschland „führend“ war lange die „Methodenlehre der Rechts‐ wissenschaft“ von K. Larenz, die zwischen 1960 und 1991 in sechs Aufla‐ gen erschien. Im historischen Teil des Buches kamen die Auslegungs‐ abenteuer der „völkischen Rechtserneuerung“ nach 1933, an denen der Autor führend beteiligt war, nicht vor. Auch die kritische Literatur, die zu dieser Perversion einer ganzen Rechtsordnung erschien, wurde über Jahr‐ zehnte hin konsequent verschwiegen, obwohl Larenz auf diese Kritik hin mehrfach ganze Teile seines Methodenbuches und anderer seiner Lehrbü‐ cher umschrieb. In der dritten, von C.-W. Canaris verantworteten Auflage der Studienausgabe wurde der mit seinen Lücken unhaltbar gewordene „historisch-kritische Teil“ gänzlich gestrichen. In den Entscheidungen oberster Bundesgerichte wird bei den dort seltenen methodischen Bemer‐ kungen über Jahrzehnte hin „Larenz“ unkritisch wie eine methodische Rechtsquelle zitiert. Das ist kein Einzelvorgang. In dem umfangreichen österreichischen Standardwerk „Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff“ von F. Byd‐ linski33 finden sich zum Thema Methodenlehre und Rechtsperversion im Nationalsozialismus nur wenige, sehr allgemeine Hinweise, die sich auf die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen beziehen.34 Vom Wandel der „Rechtsidee“, der Rechtsquellen, der Auslegungsmethoden und der Rechtsgrundbegriffe in der Rechtswissenschaft und der Justiz nach 1938 ist allenfalls am Rande die Rede. Das Buch erweckt den Eindruck, als sei‐ en österreichische Juristen in Wissenschaft und Praxis in dieses System nicht involviert gewesen. Soweit der Autor auf die deutsche Methodenleh‐ re der Gegenwart Bezug nimmt, ist für den Autor das Buch von Larenz die maßgebliche Rechtserkenntnisquelle, der „Klassiker“.

32 Vgl. dazu B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, Nachwort zur 8. Aufl., Tübin‐ gen 2017, S. 477-529. 33 F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1992 (667 Sei‐ ten). 34 aaO. S. 102 ff.; 211 Fn. 73; 283; 291; 295; 499.

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Die Rechtsgeschichte Da ist zunächst die Teildisziplin Rechtsgeschichte. Hier ist aus meiner Sicht in den fast 70 Jahren seit dem Zusammenbruch des NS-Regimes und den 65 Jahren seit der Gründung der Bundesrepublik, teilweise – unter ideologisch verengten Blickwinkeln – auch in der DDR, quantitativ wie qualitativ Außerordentliches geleistet worden. Viele heute anwesende Kollegen und Referenten sind dafür Zeugen. Sie haben nicht nur selbst als Autoren Maßstäbe für gründliche historische Analysen gesetzt, sondern durch eine Vielzahl betreuter Dissertationen und Habilitationsschriften ein umfängliches Material an Quellen zu dieser Epoche bereitgestellt. Das qualitativ zu würdigen, steht einem ‚Arbeitsrechtler vom Bodensee‘ nicht zu. Es ist aber aus meiner Sicht ebenso beachtens- wie bewundernswert. Autoren, welche die Rechtsentwicklung im Nationalsozialismus in der Zeit vor 1968 zum Thema wissenschaftlicher Arbeiten machten, mußten mit herben Abwehrreaktionen rechnen.35 Bisweilen scheiterten einge‐ reichte Arbeiten zu solchen Themen.36 Daneben hat es an vielen westdeutschen Fakultäten von den sechziger Jahren an Ringvorlesungen zum Thema Recht im Nationalsozialismus ge‐ geben. Inhaltlich waren sie regelmäßig so konzipiert, daß keiner der noch lebenden Fakultätskollegen von den vorgetragenen Inhalten negativ be‐ troffen sein konnte. Wenn die Fachschaften der Studierenden – an den Fakultäten vorbei – auswärtige Referenten zu solchen Themen einluden, blieben die Studie‐

35 Im Nachwort zur 7. Auflage meiner Habilitationsschrift „Die unbegrenzte Ausle‐ gung“ (1. Auflage Tübingen 1968, 8. Aufl. 2017, S. 477 ff.) habe ich aus der Ent‐ stehungs- und Wirkungsgeschichte des Buches berichtet. Sie spiegelt zugleich ein Stück der Mentalitätsgeschichte und der Gegenwart des Wissenschaftsklimas in der Bundesrepublik. 36 Die Habilitationsschrift von Diemut Majer über das Thema: „Fremdvölkische im Dritten Reich – Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechts‐ praxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingeglie‐ derten Ostgebiete und des Generalgouvernements“ (Verlag Boldt, Winsen (Luhe) 1981 (Band 28 Schriften des Bundesarchivs); 2. Aufl. 1993; 3. Aufl. OldenbourgVerlag, München 1996.) wurde 1975 an der juristischen Fakultät der FU Berlin eingereicht. Nach längeren Verfahrenshemmnissen wurde die Habilitation 1981 (!) von der Juristischen Fakultät der FU Berlin abgelehnt (dazu Rainer Schröder, Die Bewältigung des Dritten Reiches durch die Rechtsgeschichte, in: Heinz Mohn‐ haupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten, Frankfurt a.M. 1991, S. 604 ff.,621 f.). Sie erfolgte schließlich 1984 an der Universität Bern.

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renden mit den Referenten meistens unter sich. Bei entsprechenden Vor‐ trägen in Bonn und in München habe ich jeweils nur einen Kollegen (in Bonn Herrn Friesenhahn, in München Herrn Nehlsen) getroffen. „Unfähigkeit zu trauern“ oder “Unwilligkeit sich zu erinnern“? Die lange gehütete Tabuzone um die Rechtsentwicklung im Nationalso‐ zialismus hatte dauerhafte Folgen für viele Juristengenerationen. Den größten Erkenntnis- und Lerngewinn schöpft eine Wissenschaft re‐ gelmäßig aus der Wahrnehmung, Analyse und Reduktion ihrer Irrtümer, Schwachstellen und Fehlleistungen. Genau das wurde nach 1949 weitge‐ hend ausgespart. Dabei spielte bei den betroffenen aktiv Beteiligten der NS-Zeit die „Un‐ fähigkeit zu trauern“37 in der Regel eine geringere Rolle als die Unwillig‐ keit, sich zu erinnern. Das nahezu perfekte kollektive Verschweigen der Rechtsperversion in der NS-Zeit in der Juristenausbildung, gefolgt von den ebenfalls weithin unbekannten, strukturell ähnlichen Praktiken der DDR, prägte das verfälschte juristische Geschichtsbild der nachfolgenden Generationen von Studierenden oft bis in die Gegenwart. Das bewirkte eine Desinformation und Irreführung von Studierenden über die realen Vorgänge ihres „Handwerks“ in methodischer wie dogmatischer Hinsicht. Mit dieser beschränkten Sichtweise gelangten viele in leitende Funktionen auf allen juristischen Berufsfeldern bis in die Bundesgerichte und Minis‐ terämter hinein. Der zwiespältige Stand der Forschung und seine Folgen So entstand eine zwiespältige Situation. Einerseits wurde in Deutschland, auch und gerade in Westdeutschland, auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte bei der historischen Aufarbeitung des Geschehens in Justiz, Rechtswissen‐ schaft und Verwaltung Hervorragendes geleistet. Das gilt vor allem im Vergleich zu den Nachbarländern mit ähnlichen Vergangenheiten. Ande‐ rerseits blieben die zunächst wenigen, die sich an dieser Arbeit beteiligten, meistens in kleinen Fachzirkeln und oft in außeruniversitären Instituten 37 Vgl. Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, München 1967.

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unter sich. Ihre Forschungsergebnisse drangen nicht an die breite Öffent‐ lichkeit. Aus dem Rechtsunterricht wurden sie weitgehend herausgehalten. Erkenntnisse über die allgemeine Verstrickung des gesamten Staats- und Justizapparates und das Wissen um die organisierten Verbrechen des Sys‐ tems wurden eher als Nestbeschmutzung aufgefaßt und diffamiert. Ein neuer Literaturschub, ja fast eine Literaturschwemme zu unserem Thema setzte ab etwa 1968 ein. Durch die aufkommende sog. Studentenrevolte war aus dem bisherigen Karriererisiko eine Karrierechance geworden. Auch die akademische Literatur kennt Flauten und Hochkonjunkturen. Hier ist nochmals an die bereits erwähnten „Schülerschutztruppen“ der NS-Autoren zu erinnern. Die Verschweigung und Verdrängung der Vor‐ gänge in der NS-Zeit setzte sich, wie erwähnt, manchmal unbewußt, bis in die „Enkelgeneration“ fort, wie die erwähnten „juristischen Bücher des Jahres“ zeigen. Das ist aus meiner Sicht eine „normale“ Folge der Schwei‐ gespirale, also kein moralischer Vorwurf, sondern eine Tatsachenfeststel‐ lung. Das Wissen mehrerer Juristengenerationen nach 1945 um die Grundla‐ gen des Rechts und die Funktionsweisen der Rechtswissenschaft ist seit dem Zusammenbruch der beiden totalitären Diktaturen in Deutschland in einem beklagenswerten Zustand. In den Justizausbildungsordnungen vie‐ ler Bundesländer führen die Grundlagenfächer als „Pflichtwahlfächer“ eine Aschenbrödel-Existenz. Generationen von Juristen – auch heutige Bundesrichter – sind in ihrer Ausbildung den dramatischen Umwälzungen der „Rechtsideen“, der Rechtsgrundwerte in mehreren System- und Ver‐ fassungswechseln und den Kontinuitäten der Auslegungsmethoden kaum begegnet. In der Mehrzahl ihrer gängigen Lehrbücher wurden diese ent‐ weder verschwiegen oder am Rande abgetan. Oft waren die Autoren der‐ selben in die Vorgänge verstrickt. Die historisch-politischen Erfahrungen der Rechtswissenschaft und Justiz blieben den nachwachsenden Genera‐ tionen oft verborgen. Daran änderten auch die in herausragenden rechtsge‐ schichtlichen Forschungen gefundenen Materialien wenig. Aus dem, was verschwiegen wird, kann man nichts lernen. Manche meinen bis heute, man könne aus der Geschichte nichts lernen. Die so entstandenen Leerräu‐ me des historischen Unwissens oder auch des Nicht-Wissen-Wollens führ‐ ten über lange Zeit hin zu riskanten methodischen Blindflügen. Viele Juristen wissen bis heute nichts von den technisch-methodischen Instrumenten, mit denen die Umdeutung der gesamten Rechtsordnung – zunächst weitgehend ohne den Gesetzgeber – bewirkt wurde und werden kann. Da dieselben Instrumente von der herrschenden Lehre heute noch 25

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verwendet werden, geht es bei der historischen Aufarbeitung der Rolle von Jurisprudenz und Justiz in den beiden deutschen Diktaturen primär nicht um die Vergangenheit, sondern um die Gegenwart und Zukunft unse‐ rer Disziplin. Fazit und Ausblick Mein Thema lautete „Stand und Säumnisse der Forschung zum Recht im Nationalsozialismus“. In den einzelnen Rechtsbereichen ist auch in Deutschland noch vieles offen. Das gilt für alle mir bekannten Einzelfächer, erst recht für die oft unerforschten personellen Konstellationen. Sehr allmählich setzt sich die Einsicht durch, daß totalitäre Systeme nur effizient funktionieren konnten und können, weil sich die Funktionseliten aller Lebensbereiche (bis in die Kirchen hinein38) den Erwartungen der Machtzentralen mehrheitlich anpassen. Ähnliches war später in der DDR zu beobachten. Das ist hervorzuheben, weil noch heute die verbreitete Neigung besteht, das staatliche Unrecht dieser Systeme in erster Linie auf moralische De‐ fekte und Versäumnisse einzelner handelnder Personen zurückzuführen. Hinter diesen „Sündenböcken“ treten dann die Analysen der systembe‐ dingten Kausalfaktoren und die Anpassungsbereitschaft der Massen von Mitläufern auf allen Ebenen zurück. Im Bereich der akademischen Forschung ist – auch im internationalen Vergleich – festzuhalten, daß in Deutschland Beträchtliches geleistet wor‐ den ist. Die qualitative Beurteilung dieses Forschungsstandes ist Sache der Fachleute der jeweiligen Teildisziplin. Generell läßt sich sagen, daß in den meisten anderen Ländern mit vergleichbar umwälzenden Systemwechseln von totalitären Systemen zu demokratischen Verfassungsstaaten die Be‐ reitschaft zur Analyse der Unrechtssysteme deutlich zögerlicher und weni‐ ger intensiv ausgeprägt war. Meine eigenen Beobachtungen in mehreren mittelosteuropäischen Staaten weisen in diese Richtung. In Österreich, Ita‐ lien, Spanien und Portugal ist es nicht anders.

38 Hier ist das Schweigen der Kirchenleitungen zu den öffentlichen Verbrechen am 9. November 1938, aber auch an die allgemein sichtbare und bekannte Deportati‐ on der deutschen Juden 1941/1942 zu erinnern.

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Anders als beim beachtlichen Stand der historischen Forschungsergeb‐ nisse sieht es bei der Aufnahme dieser Ergebnisse in die Denkweisen und in die Praxis sowohl der Juristenausbildung als auch der Justiz aus. Mit der nicht zufälligen aber verhängnisvollen Reduktion der Grundlagenfä‐ cher in der Juristenausbildung ist der juristische Alltag in der Lehre, in der Verwaltung und in der Justiz, auch in den Staatsanwaltschaften und An‐ waltskanzleien eher auf die juristisch-technische Verfeinerung der Lösun‐ gen von Einzelproblemen gerichtet. Das beginnt bei der Ausrichtung der Studienschwerpunkte. Wer den letzten Stand der bundesgerichtlichen Rechtsprechung trefflich auswendig kennt, hat die besten Chancen auf ein Prädikatsexamen. Das eigene, kritische und kreative Nachdenken steht nicht im Vordergrund der juristischen Lernziele. Wissenschaftlich verantwortbare Jurisprudenz ist mehr als gekonnte Rechtstechnik. Erst vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen und der unver‐ zichtbaren philosophischen Grundlagen kann Rechtkultur entstehen. Deutschland hat in den Erlebnissen von fünf politischen Umbrüchen und Verfassungen einen großen Erfahrungsschatz gesammelt. Das darin ge‐ speicherte juristische Lernpotential ist bisher weitgehend unbeachtet ge‐ blieben, weil die betroffenen Funktionseliten lieber vergessen als lernen wollten. Genau das wird in der gegenwärtigen, staatlich organisierten deutschen Juristenausbildung verkannt und unterbewertet. Nachbemerkung zur Drucklegung 2018: Wenn dieser Beitrag nun fünf Jahre später erscheint, gelten die vorstehen‐ den Feststellungen zur mangelnden Geschichts- und Methodenkenntnis vieler der gegenwärtigen juristischen Funktionseliten unvermindert fort. Die Fakultäten und die Justizausbildungsordnungen der Bundesländer mit ihren Verschweigungen und Verdrängungen tragen dazu bei. Das führt zu einem verfälschten Geschichtsbild und zum fortgesetzten methodischen Blindflug vieler deutscher Juristen. Dieser Text entstand für die zweiten «Babelsberger Gespräche» in München 2013 zum Thema «Nationalsozialismus und Recht». Diese spä‐ ten, aber fruchtbaren Diskurse gehen maßgeblich auf die Initiative des Kollegen Thilo Ramm zurück. Während ich diese Nachbemerkungen schreibe, ist Thilo Ramm am 17. Juni 2018 im Alter von 93 Jahren ver‐ storben. Er war – neben allen anderen wissenschaftlichen Leistungen – 27

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einer der großen, kritischen und deshalb oft «anstößigen» Modernisierer der deutschen Nachkriegsjurisprudenz. Diese Hinweise bieten nicht den erforderlichen Raum für eine angemessene Würdigung seiner vielfältigen Verdienste, die er sich um die Rechtstheorie, die Rechtsphilosophie, das Arbeitsrecht, das Familienrecht und die Rechtsgeschichte erworben hat. Das muß und wird, wie ich hoffe, aus berufenen Federn geschehen. Er war einer der wenigen Juristen der damals „jüngeren“ Generation, die mutig und mit Freimut die Rolle der Juristen in den beiden deutschen totalitären Diktaturen zur Sprache gebracht und aus dieser Kenntnis und Perspektive Folgerungen, mehr noch Forderungen für eine neue Sicht der Justiz und Jurisprudenz, vor allem auch eine neue Orientierung der Juris‐ tenausbildung hergeleitet hat. Das empfanden nicht wenige der mehrheit‐ lich noch amtierenden Kollegen, die nach 1933 das „Naturrecht aus Blut und Boden“ entdeckt und propagiert hatten, als eine unmittelbare und existentielle Bedrohung ihrer fortgesetzten Karrieren. Die erwartbaren Nachteile, die ihm aus diesem Mut und Freimut vielfach erwuchsen, hat er in Kauf genommen. Acht Jahre vergingen, bis er nach seiner Habilitation in Freiburg zum apl. Professor ernannt wurde, elf Jahre, bis er den Ruf nach Gießen erhielt. Auch danach blieb er für viele Kollegen ein Außen‐ seiter… Ein Hinweis auf die „Erinnerungskultur“ und die Unwilligkeit von Jurisprudenz und Justiz über Jahrzehnte hin, sich der eigenen Rolle im Na‐ tionalsozialismus zu erinnern?

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Recht und Moral im Nationalsozialismus* Hubert Rottleuthner

Die unterschiedliche Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral ist in der neueren Rechtstheorie und Rechtsphilosophie an die Stelle des Gegensatzes von Naturrecht und Rechtspositivismus getreten. Unter‐ schiedlich wird das Verhältnis von Recht und Moral bestimmt je nachdem, ob man der Verbindungsthese oder der Trennungsthese anhängt. Positivis‐ ten vertreten eine Trennbarkeitsthese oder Trennungsthese, die Nicht-Posi‐ tivisten favorisieren eine Verbindungsthese.1 Im Kern geht es um die Fra‐ ge, ob gesetztes Recht gilt, ob es befolgt/angewendet werden soll. I. Recht und Moral: Trennungs- und Verbindungsthese 1. Positivisten vertreten eine Trennbarkeits- oder Trennungsthese. a) Die Trennbarkeitsthese besagt, dass die Trennung von Recht und Moral möglich ist. Es gibt danach keinen begrifflich notwendigen Zusam‐ menhang von Recht und Moral. Rechtsnormen müssen nicht moralischen Kriterien genügen um zu gelten. „Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein.“2 Nach Kelsen waren die Bestimmungen zur Einrichtung von Schutzhaftla‐ gern und das am 3. Juli 1934 erlassene „Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr“ Normen des geltenden Rechts.3 – Ein „inklusiver Positi‐ vismus“ konzediert, dass in positiven Normen Menschen- und Grundrech‐

* Für zahlreiche Anregungen danke ich Joachim Rückert. 1 Vgl. etwa Robert Alexy, Recht und Moral, in: W.Härle/R.Preul (Hrsg.), Ethik und Recht. Marburger Jahrbuch Theologie XIV, 2002, S. 83-92. Ausführlich in: The Ar‐ gument from Injustice, 2002. 2 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 63; 2. Aufl. 1960, S. 201. 3 Zu Kelsen und dem NS-Recht s. seine Bemerkungen in: F.-M. Schmölz (Hrsg.), Das Naturrecht in der politischen Theorie, 1963 (= Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht, Bd. XIII [NF, 1964]), S. 148 f; zu den Konzentrationslagern s. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960, S. 42; zu den Röhm-Morden und dem sie rechtfertigenden Gesetz s. ebd., S. 13 und Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen,1979, S. 117; vgl. auch Hubert Rottleuthner, Hans Kelsen, Carl Schmitt

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te, überhaupt moralische Elemente „inkorporiert“ sein können, das sei aber nicht notwendig. b) Die (immer noch positivistische) Trennungsthese besagt, dass die Trennung von Recht und Moral vorzugswürdig sei. Es gibt gute Gründe dafür – bei Kelsen z.B. die Sicherung einer pluralistischen Demokratie –, dass bei der Definition von (geltendem) Recht alle moralischen Elemente ausgeschlossen werden sollten. Für die Beantwortung der Frage, ob Rechtsnormen gelten, genügen nach Kelsen zwei Kriterien: ihre ordnungs‐ gemäße Gesetztheit und die soziale Wirksamkeit (d.h. bei Kelsen: ihre Be‐ folgung) im Ganzen. H.L.A. Hart hält es für besser, auch bei moralisch verwerflichen Rechtsnormen von geltendem Recht zu sprechen, aber das heiße nicht, dass sie auch angewendet oder befolgt werden müssten. Die Trennung von Recht und Moral erlaubt eben die Trennung von Geltung, die sich kognitiv feststellen lässt, und motivationaler Verbindlichkeit. Sie stützt damit einen moralischen Handlungsvorbehalt und eine Widerstän‐ digkeit gegen geltendes Recht, ein Handeln allerdings auf eigenes Risiko.4 2. Die Nicht-Positivisten – oder klassisch: die Naturrechtler – fordern hingegen, dass der Begriff des Rechts moralische Elemente einschließen müsse. Das geschieht in zwei Varianten: a) Im Sinne einer starken Verbindungsthese heißt das, dass der Einschluss moralischer Elemente notwendig sei. So etwa bei Radbruch: „Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren

und der Nationalsozialismus, in: P. Kunig/M. Nagata (Hrsg.), Deutschland und Ja‐ pan im rechtswissenschaftlichen Dialog, 2006, S. 9-30. 4 H.L.A.Hart, The Concept of Law, 1961, S. 205 f. In der deutschen Übersetzung von N. Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral, 2002, S. 74: „Inwiefern ist es angesichts mo‐ ralisch verwerflicher Vorschriften besser, sie überhaupt nicht als Recht anzusehen, als der Meinung zu sein, dass sie zwar zum positiven Recht gehören, aber zu ver‐ werflich sind, um angewendet oder befolgt zu werden? Würde das die Menschen klarsichtiger machen oder ihre Bereitschaft fördern, das Gesetz zu missachten, falls die Moral es fordert? Würden jene Probleme, wie sie das Naziregime hinterlassen hat, leichter lösbar werden? Ohne Zweifel haben Ideen ihren Einfluß. Aber da‐ durch, dass man die Bürger zum Gebrauch eines engeren Begriffs rechtlicher Gül‐ tigkeit erzieht, in dem kein Platz für gültiges, aber moralisch verwerfliches Recht ist, wird man den Widerstand gegen das Böse angesichts der Drohungen organisier‐ ter Macht wohl kaum stärken können. (...) dass die Feststellung, etwas sei gültiges Recht, nicht ohne weiteres eine Gehorsamspflicht zur Folge hat (...)“.

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Recht und Moral im Nationalsozialismus

denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“5 b) Die schwache Verbindungsthese besagt, dass der Einschluss von mora‐ lischer Richtigkeit in den Rechtsbegriff vorzugswürdig sei. Zusätzlich zu Gesetztheit und Wirksamkeit müssten Rechtsnormen ethisch ge‐ rechtfertigt oder rechtfertigungsfähig sein und dürften nicht extrem un‐ gerecht sein; sie müssten einen Anspruch auf inhaltliche Richtigkeit er‐ füllen.6 Eine spezielle Variante der Verbindungsthese findet sich in Lon L. Fullers Konzept einer Moral, die dem Recht innewohnt („inner or internal morali‐ ty of law“ oder einer „morality of order“).7 Damit Recht seine Orientie‐ rungsfunktion erfüllen könne, müssten mindestens acht Bedingungen er‐ füllt sein. Rechtsnormen müssen generell sein, verkündet werden, dürfen nicht rückwirkend sein, müssen klar und widerspruchsfrei sein, dürfen nichts Unmögliches gebieten, sollten nicht zu häufig geändert werden und der Staatsapparat sollte sich an die deklarierten Normen halten.8 Fullers Konzept verdient hier Erwähnung, weil er es selbst auf das Recht des NS angewendet hat.9 5 G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: SJZ (1946), S. 105-108 (107). 6 „Recht ist die Gesamtheit der Normen, die zur Verfassung eines staatlich organisier‐ ten oder zwischenstaatlichen Normensystems gehören, sofern dieses im großen und ganzen sozial wirksam ist und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit aufweist, und der Normen, die gemäß dieser Verfassung gesetzt sind, sofern sie, für sich genommen, ein Minimum an sozialer Wirksamkeit oder Wirksamkeitschance und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit aufweisen.“ (Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, NJW [1986], S. 890-896 [896]) - „Das Recht ist ein Normensystem, das (1) einen An‐ spruch auf Richtigkeit erhebt, (2) aus der Gesamtheit der Normen besteht, die zu einer im großen und ganzen sozial wirksamen Verfassung gehören und nicht extrem ungerecht sind, sowie aus der Gesamtheit der Normen, die gemäß dieser Verfassung gesetzt sind, ein Minimum an sozialer Wirksamkeit oder Wirksamkeitschance auf‐ weisen und nicht extrem ungerecht sind, und zu dem (3) die Prinzipien und die sonstigen normativen Argumente gehören, auf die sich die Prozedur der Rechtsan‐ wendung stützt und/oder stützen muß, um den Anspruch auf Richtigkeit zu erfül‐ len.“ (Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 1992, S. 201). 7 Lon L. Fuller, The Morality of Law, rev. ed. New Haven 1960. 8 Vgl. ebd., S. 33ff. 9 Ebd., S. 40, 54 f., 62, 107, 123, 155, 158, 245ff. und dann in Positivism and the Fi‐ delity to Law, 71 Harvard Law Review 1958, S. 630-672, insbes. S. 646, 648-657. Fuller konstatiert folgende Verstöße gegen eine interne Moralität des Rechts: Erlass

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Dies sind rechtsphilosophisch-normative Betrachtungen. Sie unterschei‐ den sich in der Art der Begründung einer Befolgung von Rechtsnormen. Auf der Handlungsebene müssen sich beide Positionen gar nicht unter‐ scheiden. Man kann als Positivist (wie Hart) sagen, dass etwas (geltendes) Recht sei, aber zu unmoralisch um befolgt zu werden; oder man sagt eben als Naturrechtler, dass es gar kein Recht sei (nach Radbruch: „der Rechts‐ natur entbehrt“), weil zu unmoralisch, und befolgt es deshalb nicht.10 Das Verhältnis von Recht und Moral gehört zu den Standardthemen rechtsphilosophischer Betrachtungen. Es kann bei der Bestimmung des Rechtsbegriffs auftauchen, bei der noch immer üblichen Gegenüberstel‐ lung von Positivismus und Naturrecht oder im Rahmen von Gerechtig‐ keitstheorien. Auf diese verschiedenen Facetten kann ich hier nicht näher eingehen. Rechtshistorisch und rechtssoziologisch, also aus einer empiri‐ schen Perspektive, kann zum Verhältnis von Recht und Moral festgehalten werden, dass Rechtsnormen nicht aus Moralnormen erwachsen.11 Auch aktuell trifft es nicht zu, dass Gesetze aus einer moralischen „Substanz“ (des Volksgeistes oder einfach des Volkes) entstünden. Es besteht keine Verbindung in der Entwicklung beider Normarten. – Es trifft, empirisch gesehen, auch nicht zu, dass alles, was moralisch verurteilt wird, (straf)rechtlich sanktioniert würde (Versprechen zu halten, die Eltern zu ehren, in vielen Ländern Inzest) – auch wenn die Forderung nach dem

rückwirkender Gesetze (z.B. nach den Röhm-Morden), Gesetze wurden nicht be‐ kannt gemacht und waren oft zu vage, auch die Nicht-Verfolgung von Straftaten erwähnt er. Aber wie weit reicht diese Kritik, wenn z.B. Rassegesetze alle seine Bedingungen erfüllen? – Vgl. auch Fn. 119. 10 Die positivistische Position ist im Englischen leichter zu vertreten, weil „law“ nicht solche inhaltlich positiven Konnotationen wie „Recht“ etwa im Gegensatz zu „Gesetz“ im Deutschen hat. Im Deutschen ist es schwieriger zu sagen, dass eine Norm geltendes Recht sei, aber eigentlich doch extremes Unrecht. 11 Vgl. dazu Theodor Geiger, Über Recht und Moral, 1979, S. 170: „Genetisch gese‐ hen besteht zwischen Recht und Moral ein enger Zusammenhang (...). Beide ha‐ ben als Systeme regelmäßigen Verhaltens ihren gemeinsamen Ursprung in Ge‐ wohnheit, Brauch und Sitte. Insoweit kann man sagen, daß embryonale Moral und embryonales Recht in eins zusammenfallen. In einem primitiven Stadium wird das Gemeinschaftsleben durch gewohnte Verhaltensformen bestimmt, die zum einen von einem religiösen Tabu umgeben sind und zum anderen von der Umgebung ge‐ gen den einzelnen durchgesetzt werden. Eine sowohl innere wie auch äußere Moti‐ vation bewirkt in diesem Stadium die Aufrechterhaltung des hergebrachten Verhal‐ tens. Danach setzt ein Polarisierungsprozeß ein, in dessen Verlauf sich Moral und Recht als zwei selbständige Systeme zunehmend von einander entfernen."

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Einsatz des Strafrechts oder seiner Erweiterung angesichts empörender Vorkommnisse schnell erhoben wird. Vor allem werden mit Hilfe von Rechtsnormen moralfreie Sachverhalte geregelt (oder Sachverhalte moral‐ frei geregelt) (wie etwa der Straßenverkehr, wirtschaftsrechtliche Bestim‐ mungen bis zur Regelung der Form von Sektkorken). Insofern sind Recht und Moral auch sachlich zweierlei. Normativ betrachtet stellen sich im Verhältnis von Recht und Moral et‐ wa folgende Fragen: soll alles, was moralisch verurteilt wird, auch recht‐ lich sanktioniert werden? Ist es zulässig, dass im Recht sittenwidriges Ver‐ halten geduldet wird? Ist es die Aufgabe des Staates, aus seinen Bürgern mit Hilfe des Rechts tugendhafte Menschen zu machen? (Was immer den staatlichen, paternalistischen Tugendwächtern da einfallen mag.) Ein rechtssoziologisches, also empirisch zu behandelndes Thema ist das Verhältnis von Wertewandel und Rechtswandel. Inwieweit – und vielleicht mit welchen Verzögerungen – führt eine Änderung moralischer Bewertun‐ gen zu Rechtsänderungen? Beispiele aus dem Familienrecht – speziell dem Scheidungsrecht und der Regelungen zum Kindeswohl – und solche aus dem Sexualstrafrecht (Homosexualität12, Ehebruch, Kuppelei etc.) lie‐ gen nahe. Oder kann der Gesetzgeber durch den Erlass neuer Normen einen Wandel in den moralischen Einstellungen herbeiführen, etwa im Be‐ reich der „sexuellen Belästigung“? Die Entwicklung nach 1933 wird man unter dem Aspekt eines radikalen Werte- und Rechtswandels interpretieren können. An dieser Phase lässt sich anschaulich machen, auf welche drei Arten Gesetzgebung und Rechtsprechung auf einen Wertewandel reagie‐ ren oder darauf Einfluss nehmen können: (1) es können bestimmte Hand‐

12 In einer Gesellschaft mit vier radikalen Regimewechseln in einem Jahrhundert sollte das Problem des Wertewandels eine gewisse Aufmerksamkeit und subtile Behandlung erfahren können. Die jüngste Diskussion über die Rehabilitierung von in der Bundesrepublik verurteilten Homosexuellen verkennt das Problem des Wer‐ tewandels, wenn behauptet wird, dass § 175 StGB und die entsprechenden Urteile „die Verfassung schon immer verletzt“ hätten (so der damalige Justizminister Maas). Gegen den bekannten Filbinger-Spruch „Was damals (d.h. im NS) Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.“ ist zu antworten, dass heute durchaus als Un‐ recht angesehen wird, was damals als Recht galt. So kann man auch sagen: was damals als unsittlich angesehen wurde (auch vom Bundesverfassungsgericht am 10. Mai 1957), sehen wir heute als verfassungswidrig an. Die Empörung ist aber wohl nicht so stark, dass man an Verfahren wegen Rechtsbeugung gegen Richter dächte, die bis 1969 (und dann noch bis 1994) nach § 175 StGB verurteilt haben. Vielleicht fände man ja noch einige verhandlungsfähige Personen.

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lungen verboten werden, die zuvor erlaubt (oder strafrechtlich irrelevant) waren – im NS z.B. die „Rassenschande“, die Betätigung in bestimmten Organisationen (die als solche auch verboten wurden); es können auch Verbote aufgehoben werden.13 (2) Von der Rechtsprechung können „wert‐ geladene“ Begriff in schon länger bestehenden Gesetzen genutzt werden, um neue Moralvorstellungen durchzusetzen (Treu und Glauben, Verkehrs‐ sitte, gute Sitten, sittenwidrig, verwerflich, sittliche Pflicht und Anstand, Zumutbarkeit, Verhältnismäßigkeit, öffentliche Ordnung etc.). (3) Der Ge‐ setzgeber kann auch neue Moralbegriffe den Gesetzen „inkorporieren“. Die Gesetzgebung im NS bietet dafür, wie wir sehen werden, zahlreiche Beispiele. Im Folgenden versuche ich, auf dem Feld des Rechts im Nationalsozia‐ lismus in verschiedenen Dimensionen von Recht – Gesetzgebung, Recht‐ sprechung, Rechtslehre etc. – moralische Elemente ausfindig zu machen. Dabei verwende ich einen neutralen Moral-Begriff, der selbst bewertet werden kann.14 Unter moralischen Elementen verstehe ich Normen und Werturteile oder auch einzelne Wertprädikate, mit denen bestimmte Zu‐ stände, vor allem Handlungen, aber auch Wirkungen von Handlungen, Motive, Gesinnungen, Einstellungen („Tugenden“ oder „Untugenden“) als geboten/verboten/erlaubt15 oder als positiv, vorzugswürdig oder negativ ausgezeichnet werden.16 Eine Pflichten-Moral verbietet/gebietet einzelne 13 Im NS kann man sagen, dass das Mordverbot für bestimmte Gruppen z.T. infor‐ mell aufgehoben wurde, für die Morde im Umfeld der „Röhm-Affäre“ explizit. Ansonsten sind auch Amnestien relevant, z.B. für Täter, die in der Weimarer Re‐ publik wegen staatsfeindlicher Delikte verurteilt wurden. 14 Mit Norbert Hoerster (Was ist Moral? Eine philosophische Einführung, 2008) ist zwischen Moral und richtiger, begründeter, legitimer Moral zu unterscheiden. Auch der Begriff des Rechts wird hier in einem möglichst neutralen Sinne verwen‐ det, wie es bei einer historischen Betrachtung des NS üblich ist – auch wenn die Distanz zu signalisieren versucht wird, z.B. bei Joachim Rückert, Unrecht durch Recht – zum Profil der Rechtsgeschichte der NS-Zeit, in: JZ (2015), S. 793-804. Es heißt jedenfalls nicht „Unrechtsgeschichte der NS-Zeit“. Ich schreibe also nicht zu Unrecht und Unmoral im NS. 15 Das Spezifikum von Rechtsnormen gegenüber Moralnormen besteht darin, dass in Rechtsnormen an die Übertretung eines Verbotes oder Gebotes eine Rechtsfolge geknüpft wird und auch rechtlich geregelt ist, wer kompetent ist, sie zu verhängen. 16 Die Kant‘sche Unterscheidung von Legalität und Moralität ist insofern missver‐ ständlich, als Rechtsnormen sich nicht nur auf das „Äußere“ von Handlungen be‐ ziehen – wie Kant meinte – , sondern auch auf das „Innere“, auf den Willen, Vor‐ satz, die Absicht, Gesinnung – wie wir gerade am NS-Recht noch drastisch sehen werden.

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Handlungen, eine Tugend-Moral zeichnet bestimmte Haltungen oder Ar‐ ten der Lebensführung als positiv aus. Ein neutraler Moral-Begriff erlaubt es, die Äußerungen von Nationalso‐ zialisten über Fragen der Moral ernst zu nehmen, sie nicht von vorneher‐ ein als zutiefst unmoralisch abzuwehren oder für eine bloße Fassade zu halten, mit der sich alles rechtfertigen ließ oder hinter der alle Untaten oh‐ ne jede Rechtfertigung begangen wurden. 17 Es waren moralische Recht‐ fertigungen, die für die Täter neue soziale Handlungsräume eröffneten, in‐ nerhalb derer etwas erlaubt oder geboten wurde, was zuvor als verboten galt. Diese moralische Umwertung wurde gestützt durch spezifische Kon‐ texte kollektiven Handelns (soziale Distanz, ausgrenzende Definitionen des „Anderen“), die schließlich eine kollektive Tötungsbereitschaft frei‐ setzten.18 Die moralische Aufladung der nationalsozialistischen Weltan‐ schauung – etwa mit dem „gesunden Volksempfinden“ oder der „Ehre“ – war ein wichtiger Mechanismus, denn sie hatte auf der individuellen Ebe‐ ne motivationale Kraft und durch die Inkorporierung der NS-Moral in Rechtsnormen erlangte sie eine überindividuelle Bedeutung, die jederzeit abrufbar war und das Spektrum des öffentlich Sagbaren und dann auch Machbaren festlegte. II. NS-Moral in den verschiedenen Dimensionen des Rechts Den Streit zwischen Vertretern einer Trennungsthese und einer Verbin‐ dungsthese behandele ich angesichts des NS-Rechts nicht bloß als eine rechtsphilosophische Auseinandersetzung über Kriterien der Rechtsgel‐ tung, also darüber, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit man Rechtsnormen Geltung und – das würde Hart betonen – auch eine motiva‐ tionale Verbindlichkeit zusprechen kann. Nur auf die NS-Rechtsphiloso‐ phen beschränkt wird man schon hier sagen können, dass sie Vertreter einer Verbindungsthese waren. Ich möchte aber die möglichen Verbindun‐ gen moralischer Elemente mit den vielfältigen Dimensionen des Rechts untersuchen, also konkret in der Gesetzgebung, Rechtsprechung, der dog‐

17 Sinnvoll ist auch die Frage, in welchem Maße das, was Hitler in „Mein Kampf“ moralschäumend propagiert hatte, später realisiert wurde. Vgl. Eberhard Jäckel, Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltanschauung, 1986. 18 Diese Mechanismen sind sozialpsychologisch untersucht worden, z.B. bei Harald Welzer, Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, 2005.

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matischen Rechtslehre, in allgemeinen weltanschaulichen Beiträgen mit Rechtsbezug und dann natürlich auch in rechtsphilosophisch gemeinten Texten. 1. Gesetzgebung Für die ungewöhnliche Menge von Rechtsnormen, die im NS erging,19 wurden Rechtfertigungen geliefert; sie waren nicht nur Machtsprüche einer Führung. Auch wenn die Gesetzgebung von einigen Theoretikern als „Ausdruck“ einer völkischen Substanz interpretiert wurde, folgte die Pra‐ xis der Gesetzgebung einem instrumentellen Rechtsverständnis: Rechts‐ normen wurden verstanden als Mittel zur Erreichung erwünschter Ziele. Beim Erlass neuer Normen, mit denen das Spektrum des Verbotenen, Ge‐ botenen und Erlaubten geändert wird, stehen Wertungen im Hintergrund, mit denen diese Normen gerechtfertigt werden. Ziele oder Zwecke der Normen wurden im NS häufig in besonderen Präambeln formuliert. Nor‐ men, die als typisch nationalsozialistisch angesehen werden, hatten als Ziel eine völkische Gesundheit oder Reinheit, eine Stärkung der deutschen Nation und seiner Führung oder in harten Zeiten auch harte Maßnahmen zu ergreifen. Auf diesem allgemeinen Hintergrund von Rechtfertigungen ließen sich Gesetze formulieren, die im Wortlaut ohne irgendwelche welt‐ anschaulichen Obertöne auskamen, wie z.B. das Erbgesundheitsgesetz.20 Die Rassegesetze zur Exklusion von „Nicht-Ariern“ ließen sich nüchtern administrativ durchsetzen, nachdem einmal einigermaßen geklärt war, wer als Nicht-Arier anzusehen war. Es waren keine moralischen Elemente,

19 Die Normenflut erreichte in Deutschland im letzten Jahrhundert im Jahr 1938 ein Maximum, was die Anzahl (nicht den Umfang) von Normen im Reichsgesetzblatt angeht. Vgl. Hubert Rottleuthner, Aspekte der Rechtsentwicklung in Deutschland – Ein soziologischer Vergleich deutscher Rechtskulturen, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie (1985), S. 206-254 (214). 20 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 (RGBl I, 529). Das Gesetz kam ohne Präambel aus. Die begleitenden Rechtfertigungen wurden in der juristischen Literatur geliefert, auch im Reichsanzeiger 1933, Nr. 172. Im Kommentar von Gütt, Rüdin und Ruttke 1934 wird das Gesetz insbes. als eine „Tat der Nächstenliebe und Vorsorge für die kommende Generation“ angesehen (S. 60). Das Gesetz wurde vom Alliierten Kontrollrat nach 1945 übrigens nicht aufgehoben, weil es nicht typisch nationalsozialistisch sei. Erst 2007 wurde es vom Bundestag endgültig geächtet.

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auch keine physiognomischen oder Bluteigenschaften, die in die Exklusi‐ ons-Tatbestände aufgenommen wurden, sondern der verwaltungsmäßig handhabbare „Ariernachweis“, basierend auf der Religionszugehörigkeit der Vorfahren. Auch die exzessive Androhung (und Exekution) der Todes‐ strafe, noch geknüpft an herkömmliche, relativ moralfrei formulierte Tat‐ bestände, wurde im Hintergrund gerechtfertigt mit dem „Interesse der Volksgemeinschaft“ oder dem „Volksschutz“.21 Nach 1933 galten Gesetze fort, die wertgeladene Generalklauseln wie „Treu und Glauben“, „gute Sitten“, „sittenwidrig“ enthielten, die sich nun gut dafür eigneten, in der Rechtsanwendung die Grundvorstellungen des neuen Regimes durchzusetzen.22 Der NS-Gesetzgeber erließ aber auch selbst eine Fülle neuer Normen mit wertgeladenen Begriffen. Ein Spezifi‐ kum der nationalsozialistischen Gesetzgebung stellt die „Inkorporierung“ solcher wertgeladenen Begriffe in die Rechtsnormen selbst dar. Morali‐ sche Elemente finden sich also nicht nur in den „externen“ Rechtfertigun‐ gen der Gesetze, sondern auch in der moralischen Aufladung der Normen selbst. So sind die Gesetze im NS voll von „Gemeinwohlformeln“.23 Sie wur‐ den in allen möglichen Rechtsgebieten zu Kernbegriffen: nationales Be‐ dürfnis, Gemeininteresse oder das Interesse des Volksganzen, das Gemein‐ wohl, Gemeinnutz oder das Wohl des Reiches, das Volkswohl, das Wohl der Allgemeinheit, das „Ansehen oder das Wohl des Deutschen Reiches“, das „Ansehen des deutschen Volkes“24, die „Belange der Volksgemein‐

21 Vgl. etwa Roland Freisler, Gedanken über das Gesetz zur Änderung des Reichs‐ strafgesetzbuches, in: Deutsche Justiz (1941), S. 929-938 (930). Eine ganz beson‐ dere Rechtfertigung hatten sich in der Rechtslehre bereits 1932/1933 Dahm und Schaffstein einfallen lassen: „Der Staat benutzt die Strafe, um seine Macht aller Welt sichtbar vor Augen zu führen. In der Strafe offenbart sich symbolisch die Würde des Staates, die Todesstrafe macht eindringlich sichtbar, daß der einzelne dem Staat preisgegeben werden darf.“ (Georg Dahm/Friedrich Schaffstein, Libe‐ rales oder autoritäres Strafrecht? 1933, S. 41). 22 Vgl. Fritjof Börner, Die Bedeutung der Generalklauseln für die Umgestaltung der Rechtsordnung in der nationalsozialistischen Zeit, 1989. 23 Vgl. Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974; Hasso Hofmann, Über Gemeinwohlformeln im NS-Recht, in: Die Verwal‐ tung (1977), S. 375-382. 24 Letztere im Lichtspielgesetz vom 16. Februar 1934 (RGBl I, 1236) § 7; Verord‐ nung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ost‐ gebieten vom 4. Dezember 1941 (RGBl I S. 759), Art. 1 (1,3).

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schaft“, das „Lebensrecht“ des deutschen Volkes25, der „Gemeinschafts‐ willen des deutschen Volkes, die deutsche Wehrhaftigkeit“26 etc. Im Reichskonkordat verpflichtete sich die katholische Kirche zu „pflicht‐ mäßiger Sorge um das Wohl und das Interesse des deutschen Staatswe‐ sens“ und zu einem „Gebet für das Wohlergehen des Deutschen Reiches und Volkes“27. – Über diese Gemeinwohlformeln ließen sich Elemente der nationalsozialistischen Weltanschauung in der Rechtsanwendung umset‐ zen. Ein zentraler Topos in vielen Rechtsnormen wurde die Ehre. Sie erlang‐ te eine ähnliche Prominenz wie heute die Menschenwürde. Ehre zählte – nach Hans Frank28 – neben Rasse, Boden, Arbeit und Reich zu den fünf „Substanzwerten“ Hitlers. Es existierte eine Fülle von „Ehrengerichten“29: – soziale Ehrengerichte für Betriebsführer30 – Ehrengerichte des Handwerks – den Ehrengerichtshof des Deutschen Handwerks- und Gewerbekam‐ mertages – Jägerehrengerichte – Ehrenräte bei den Kulturkammern.

25 Präambel der Verordnung über die Sechzigstundenwoche vom 31. August 1944 (RGBl I, 191). 26 Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 (RGBl I, 713), § 14. 27 Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich vom 20. Juli 1933 (RGBl II, 679), Art. 16 u. 30. 28 Hans Frank, Die Beziehung der deutschen Rechtswissenschaft zur Geistesge‐ schichte unserer Zeit, in: JW (1938), S. 1799. 29 Vgl. Ernst Marcello, Die Ehrengerichtsbarkeit in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, Diss. jur. 1937; Wilhelm Wackerbeck, Der Schutz der Volkseh‐ re im neuen Strafrecht, 1937 (Diss. jur. Köln 1937 – Umfang von 29 Seiten) und allgemein zum Ehrenschutz: Markus Brezina, Ehre und Ehrenschutz im national‐ sozialistischen Recht, 1987; Jörg Ernst August Waldow, Der strafrechtliche Ehren‐ schutz in der NS-Zeit, 2000 (Diss. Kiel 1999). 30 §§ 35ff Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG) v. 20. Januar 1934, RGBl I, 45. Die weiß Carl Schmitt auch gleich rechtsphilosophisch zu überhöhen: „Die soziale Ehrengerichtsbarkeit ist eine folgerichtige Anwendung des Ordnungs‐ gedankens, der es bewirkt, daß Treue, Gefolgschaft, Disziplin und Ehre nicht mehr als Funktionen losgelöster Regeln und Normierungen, sondern als Wesenselemen‐ te einer neuen Gemeinschaft und ihrer konkreten Lebensordnung und -gestaltung aufgefaßt werden.“ (Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 64).

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Laut Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 193331 war aus den Zeitungen al‐ les fernzuhalten, was gegen die „Ehre und Würde eines Deutschen“ ver‐ stößt. – Das Blutschutzgesetz von 1935 war eben auch ein Gesetz zum Schutz der deutschen Ehre.32 – Der Arbeitsdienst33, der Dienst in der Wehrmacht und in der Hitler-Jugend – sie alle galten als ein „Ehrendienst am Deutschen Volke“, schließlich auch der Volkssturm34. „Unwürdigkeit“ war die Folge „ehrenrühriger Handlungen“35. Die NSDAP erfüllte im Kampf die „höchste Ehrenpflicht“36. „Meine Ehre heißt Treue“ war nicht nur der Wahlspruch der SS. „Treue“ hielt auch Einzug in einige Gesetze: Das Reichsbürgergesetz37 ge‐ bot den Reichsbürgern „in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu die‐ nen“. Beschäftigte waren zu „treuer Gefolgschaft“38 verpflichtet. Die Be‐ rufsbeamten waren dem Führer „in Treue verbunden“, sie hatten ihm „Treue bis zum Tode zu halten“39. Ein besonders berüchtigter Moralbegriff – und der aus dem NS wohl heute bekannteste – ist das „gesunde Volksempfinden“. Es war keine Ent‐ deckung der Nazis. Auf das „gesunde Empfinden des Volkes“ berief sich schon die Begründung eines Gesetzesentwurfs von 1919 zur Strafbarkeit der Unzucht zwischen Männern.40 Im Strafgesetzbuch wurde 1935 das „gesunde Volksempfinden“ quasi flächendeckend zum Rechtsbegriff ge‐

31 S.o. Fn. 26, § 14 Nr. 3. 32 Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. Septem‐ ber 1935 (RGBl I, S. 1146). 33 Reichsarbeitsdienstgesetz vom 26. Juni 1935 (RGBl I, 769), § 25: „in Ehren ge‐ leistete Dienstzeit“. Alle Handlungen oder Unterlassungen, die die Ehre der Ge‐ meinschaft und das öffentliche Ansehen des Arbeitsdienstes oder die Kamerad‐ schaft verletzen oder gefährden oder gegen Zucht und Ordnung im Arbeitsdienst verstoßen, sind nach der Dienststrafordnung für die Angehörigen des freiwilligen Arbeitsdienstes vom 8. Januar 1935 (RGBl I, 5) zu verfolgen. 34 Verordnung über die Stellung der Angehörigen des Deutschen Volkssturms vom 1. Dezember 1944 (RGBl I, 343). 35 Zweite Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Hitler-Jugend vom 25. März 1939 (RGBl I, 710), § 3. 36 Erlaß des Führers über die Bildung des Deutschen Volkssturms vom 25. Septem‐ ber 1944 (RGBl I, 253), Nr. 9. 37 Vom 15. September 1935 (RGBl I, 1146), § 2. 38 Theatergesetz vom 15. Mai 1934 (RGBl I, 411), § 2. 39 Deutsches Beamtengesetz vom 26. Januar 1937, Präambel und § 3 Abs. 1. 40 Zitiert in BVerfGE 6, S. 436 vom 10. Mai 1957. Zu längeren Traditionslinien und etlichen Beispielen nach 1933 vgl. Joachim Rückert, Das „gesunde Volksempfin‐ den“ – eine Erbschaft Savignys?, in: ZRG GA 103 (1986), S. 99-247.

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macht41 – vor allem im neuen § 2 StGB mit der Aufhebung des Analogie‐ verbotes42: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volks‐ empfinden Bestrafung verdient.“

Im selben Gesetz wurde der Begriff auch in der Neuregelung der unterlas‐ senen Hilfeleistung aufgenommen.43 Im StGB von 1871 war wegen unter‐ lassener Hilfeleistung bestraft worden, wer der Aufforderung der Polizei zur „Hülfe“ nicht nachkam. Nun, 1935, hatten wir keinen „Polizeistaat“, sondern der Volksgenosse musste zunächst selbst sein gesundes völkisches Pflichtempfinden bemühen: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies nach gesundem Volksempfinden seine Pflicht ist, insbesondere wer der polizeilichen Aufforderung zur Hilfeleistung nicht nachkommt, ob‐ wohl er der Aufforderung ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten genügen kann, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“44

41 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 28. Juni 1935, in Kraft getreten am 1.9.1935 (RGBl I, S. 839). 42 Im Anschluss daran wird die Alternativfeststellung für zulässig erklärt: „Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanken auf sie am besten zutrifft.“ Im Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungs‐ gesetzes vom 28. Juni 1935 (RGBl I, 844) wurden geändert: § 170 a StPO („ge‐ sundes Volksempfinden“); dieses findet sich auch in § 267 a StPO, in dem – selten genug für Gesetze – der Begriff „Gerechtigkeit“ auftaucht. 43 § 330 c StGB vom 28. Juni 1935, in Kraft getreten am 1. September 1935 (RGBl. I, S. 839, 843). 44 Die Geschichte der Regelung der moralnahen „unterlassenen Hilfeleistung“ ver‐ dient eine nähere Betrachtung: § 360 I Nr. 10 StGB von 1871: „… wer bei Un‐ glücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Noth von der Polizeibehörde oder deren Stellvertreter zur Hülfe aufgefordert, keine Folge leistet, obgleich er der Aufforde‐ rung ohne erhebliche eigene Gefahr genügen konnte.“ (Geldstrafe bis zu 150 M oder Haft bis zu 6 Wochen). - § 330 c StGB) von 1935 (s.o. Fn. 43):. Aus der Übertretung wird ein Vergehen. - 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953, in Kraft getreten am 1. Oktober 1953 (BGBl. I S. 735, 743): „Wer bei Un‐ glücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erfor‐ derlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahre oder mit Geldstrafe bestraft.“ Statt „Gefängnis“: „Freiheitsstrafe“ auf Grund des 1. StrRefG v. 25. Juni 1969, in Kraft getreten am 1. April 1970 (BGBl I S. 645, 657, 680).

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Ein solcher Autonomiegewinn war nur möglich, wenn der Einzelne wohl‐ integriertes Mitglied einer homogenen, völkisch empfindenden Gemein‐ schaft war. Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 193545 führte das „gesunde Volksempfinden“ im Anschluss an § 2 StGB auch in die StPO (§§ 170 a, 267 a.) ein: die Staatsanwaltschaft oder das Gericht hatten zu prüfen, ob auf eine Tat, die nach dem „gesunden Volksempfinden“ Bestrafung ver‐ dient, der Grundgedanken eines Strafgesetzes zutrifft und ob durch ent‐ sprechende Anwendung „der Gerechtigkeit zum Siege verholfen werden kann“. Wer beim Umgang mit Kriegsgefangenen das „gesunde Volksempfin‐ den gröblich verletzt“, wurde mit Gefängnis oder Zuchthaus bestraft.46 – Das „gesunde Volksempfinden“ wurde 1943 in den neuen § 240 Abs. 2 (Nötigung) und § 253 Abs. 2 (Erpressung) StGB aufgenommen.47 – Nach 1945 traten im StGB an die Stelle des „gesunden Volksempfindens“ die „guten Sitten“48 oder die Begriffe „verwerflich“ oder „zumutbar“. In vielen Normen wurde auf Gesinnungen der Adressaten Bezug ge‐ nommen – auf positive wie auf negative Gesinnungen. Positive Eigen‐ schaften wurden verlangt von Reichsbürgern, Beamten und Soldaten: „rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintreten“49; „unbeding‐ ter Gehorsam und äußerste Pflichterfüllung“, „echte Vaterlandsliebe, Op‐ ferbereitschaft, volle Hingabe der Arbeitskraft, Gehorsam …“50; „restloser

45 RGBl I, 844. 46 Verordnung zur Ergänzung der Strafvorschriften zum Schutz der Wehrkraft des Deutschen Volkes vom 25. November 1939 (RGBl I, 2319), § 4. 47 Gleichlautend: „Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Zufügung des angedrohten Übels zu dem angestrebten Zweck dem gesunden Volksempfinden widerspricht.“ (Verordnung zur Angleichung des Strafrechts des Altreichs und der Alpen- und Donau-Reichsgaue [Strafrechtsangleichungsverord‐ nung] vom 29. Mai 1943 [RGBl. I, 339]). Nach der Fünften Verordnung zur Er‐ gänzung der Kriegssonderstrafrechtsverordnung vom 5. Mai 1944 (RGBl I, 115) konnte auch auf Todesstrafe erkannt werden, „wenn der regelmäßige Strafrahmen nach gesundem Volksempfinden zur Sühne nicht ausreicht“. In diesem Zusam‐ menhang wurden auch die Mannszucht und der soldatische Mut angemahnt. 48 So für §§ 240, 253 StGB das OLG Koblenz vom 24. April 1947, in: SJZ (1947), S. 441-443 (441). 49 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 (RGBl I, 175), § 4. 50 Deutsches Beamtengesetz vom 26. Januar 1937 (RGBl I, 41), §§ 1, 3.

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Einsatz“51; „körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialis‐ mus“ 52; „höchste Opfer“, „selbstverständliche Pflicht“53; „Zucht und Ord‐ nung“, „Ehrenpflicht“54; „Kampfentschlossenheit und Hingabe“, gegen Feigheit und Eigennutz55; „Anstandspflicht“, „Verantwortungsbewusst‐ sein“56. Negativ wurden Gesinnungen von Straftätern, Juden und anderen „Fremdvölkischen“ sanktioniert. So verbot das Gesetz gegen heimtücki‐ sche Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20. Dezember 193457 vor allem Äußerungen, die geeignet waren, dem Wohl des Reiches oder dem Ansehen von Regierung und Partei zu schaden. (§ 2 Abs. 1: „Wer öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP, über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen macht...“) – Das Gesetz verbot auch (in § 2 Abs. 2) „böswillige Äußerungen“ über sie. Bekannt sind auch (noch heute) die wertgeladenen täterbezogenen Merkmale, die 1941 in den Mordparagraphen aufgenommen wurden: Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier oder niedrige Be‐ weggründe.58 In vielen anderen Bestimmungen finden sich äußerst negati‐ ve Charakterisierungen von Motiven und Gesinnungen: „feindliche Hal‐

51 Erlass des Führers und Reichskanzlers über die Vereinfachung der Verwaltung vom 28. August 1939 (RGBl I, 1535), Art. I. 52 Gesetz über die Hitlerjugend vom 1. Dezember 1936 (RGBl I, 993), § 2. 53 Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September 1939 (RGBl I, 1609), Präambel. 54 Verordnung über die Stellung der Angehörigen des Deutschen Volkssturms vom 1. Dezember 1944 (RGBl I, 343), Nr. 2, 4. 55 Verordnung über die Errichtung von Standgerichten vom 15. Februar 1945 (RGBl I, 30), Präambel. – Feigheit und Eigennutz gehören dann auch zu den negativen Merkmalen, s.u. 56 Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1. September 1939 (RGBl I, 1683), Präambel. 57 RGBl I, S. 1269. Um „heimtückische Angriffe“ ging es bereits in der Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933 (RGBl I, 135). 58 Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches vom 4. September 1941 (RGBl. I, 549). § 211 StGB lautete bis 1941: „Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.“ Aufgrund des Gesetzes zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches vom 4.9.1941 (RGBl. I, 549): „Der Mörder wird mit dem Tode bestraft. – Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefähr‐

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tung“, „feige Mordtaten“59; „Hetze des internationalen Judentums“60, „volks- und staatsfeindliche Gesinnung“61, „gemeine Gesinnung“62, „ge‐ hässige oder hetzerische Betätigung … deutschfeindliche Gesinnung“; „niedrige Gesinnung“63, „kriegsschädliches Verhalten“, „böswillig“64; „wehrfeindlich“;65 „totalen Vernichtungswillen unsrer jüdisch-internatio‐ nalen Feinde“; die Kriegsgegner zielen auf die „Ausrottung des deutschen Menschen“66. Eigennutz ist ein häufig verwendeter negativer Moralbegriff in Rechts‐ normen: „Gemeinnutz vor Eigennutz“67. Dieser Spruch ist wieder keine NS-Erfindung. Er findet sich schon in den Anfängen der Versicherungs‐ wirtschaft, etwa bei Ernst Wilhelm Arnoldi (1778–1841), dem Begründer der Gothaer Versicherungsbanken.68

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lichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.“ (Nunmehr Totschlag, § 212: „Wer vorsätzlich einen Men‐ schen tötet, wird, wenn er die Tötung nicht mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Totschlages mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft.“). Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit vom 12. November 1938 (RGBl I, 1579). Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrie‐ ben vom 12. November 1938 (RGBl I, 1581), § 1. Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 7. August 1934 (RGBl I, 769), § 3. Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 23. April 1936 (RGBl I, 378), § 1. Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingeglieder‐ ten Ostgebieten vom 4. Dezember 1941 (RGBl I, 759), Art. I, III. Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September 1939 (RGBl I, 1609), § 1 und Verordnung zur Ergänzung der Kriegswirtschaftsverordnung vom 25. März 1942 (RGBl I, 147), § 1. Kriegswirtschaftsverordnung, ebenda, § 3. Erlaß des Führers über die Bildung des Deutschen Volkssturms vom 25. Septem‐ ber 1944 (RGBl I, 253). Deutsche Gemeindeordnung vom 30. Januar 1935 (RGBl I, 49), Präambel. Die Schriftleiter haben darauf zu achten, dass „eigennützige Zwecke“ nicht mit ge‐ meinnützigen vermengt werden (Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 (RGBl I, 713), § 14 Nr. 1). „Eigennützige Beweggründe“ werden erwähnt in der Verordnung gegen die Unterstützung der Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe vom 22. April 1938 (RGBl I, 404), § 1. Der Bürgerturmverein Gotha e. V. hat sich jedenfalls den Grundsatz von Ernst Wilhelm Arnoldi „Gemeinnutz steht vor Eigennutz“ auf die Fahne geschrieben (§ 1, Abs. 3 der Satzung), http://www.buergerturm-gotha.de/pages/verein/ziele.ph p.

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2. Rechtsprechung Die Rechtsprechung konnte die herkömmlichen Generalklauseln zur Um‐ deutung der Rechtsbegriffe nutzen. Hier bedurfte es keiner Gesetzesände‐ rung, nur einer Umwertung solcher Begriffe wie „gute Sitten“, „sittenwid‐ rig“, „zumutbar“ etc. Das hat Bernd Rüthers ausführlich aufgezeigt.69 Da‐ rauf kann ich hier verweisen. Die in neu eingeführten Gesetzen verwendeten Gemeinwohlformeln und die weiteren Moralformeln vom „gesunden Volksempfinden“, den „völkischen Lebens- und Sittengesetzen“, dem „Volksbewußtsein“70 etc. warfen für die Richter aber besondere Probleme auf. Einerseits gewährten sie ihnen einen größeren Entscheidungsspielraum. Sie mussten aber so tun, als ob diese Moralformeln in ihrer Substanz klar und bestimmt wären. Jeder Gesunde muss eben wissen, was das gesunde (und nicht das kranke) Volksempfinden sagt. Mit der moralischen Homogenität war es aber trotz der Volksgemeinschafts-Propaganda doch nicht so weit her. Die Funktion der Moralformeln wird man deshalb eher darin zu sehen haben, dass sie ein Mittel der Konformitätssicherung durch Verunsicherung darstellten. Wer mit seinem arischen Blut nicht so recht in Spürung war, wen sein völ‐ kisches Gewissen trotz tiefer Erforschung im Stich ließ, der dürfte ein fei‐ nes Gespür für das Sagbare, das moralisch-politisch Erwünschte ent‐ wickelt haben, der wird sich gegebenenfalls an den jeweiligen Führer ge‐ wendet haben, um herauszufinden, was denn nun gewünscht sei.71 Konn‐ ten die Richter am LG Oldenburg ahnen, dass sie am 14. März 1942 ein völlig „volksfremdes“ Urteil gefällt hatten über einen Mann, der seine Ehefrau im Affekt zu Tode geprügelt hatte und dafür „nur“ mit fünf Jahren Zuchthaus (und dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte) bedacht wor‐ den war? Nicht aus der völkischen Substanz, sondern aus der Presse hatte der Führer höchstpersönlich von diesem „Schandurteil“ erfahren, worauf‐ hin er Schlegelberger und Freisler anwies, für eine Korrektur in Gestalt

69 Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 210ff. Zeitgenös‐ sisch zur Funktion der Generalklauseln s. Carl Schmitt, Neue Leitsätze für die Rechtspraxis, in: JW (1933), S. 2793 f und Heinrich Lange, Generalklauseln und neues Recht, in: JW (1933), S. 2858 f. 70 Vgl. Rüthers, ebenda, S. 218ff. 71 Einen „Bumerang-Effekt“ der Verweisung auf das gesunde Volksempfinden oder generell die nationalsozialistische Weltanschauung betont auch Rückert, Das ge‐ sunde Volksempfinden, S. 224 (Fn. 36).

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der Todesstrafe zu sorgen – was dann auch das Reichsgericht unter seinem Präsidenten Bumke prompt erledigte, so dass schon am 2. April 1942 die Hinrichtung erfolgen konnte. Vierundzwanzig Tage später ließ sich Hitler vom Reichstag mit Bezug auf dieses Urteil u.a. zum „obersten Gerichts‐ herrn“ erklären.72 Dieser „Fall Schlitt“ ist sicherlich ein Extremfall von Justizsteuerung im NS. Justizsteuerung musste angesichts des justiziellen Massengeschäfts zu einer Routineangelegenheit werden. 73 So wurden im NS ein System der Berichte von unten nach oben, von Vor- und Nach‐ schauen und der Versand von „Richterbriefen“ von oben nach unten einge‐ richtet. Auf diese Weise ließ sich der durch die Moralformeln erweiterte Spielraum kontrollieren. Verstärkte Steuerung der Justiz war also die Kehrseite der Moralisierung der anzuwendenden Gesetze. 3. Rechtslehre allgemein74 In der strafrechtlichen Dogmatik wurden die hohen Werte von Ehre, Treue und Pflicht in ein neues Verständnis der Straftaten umgesetzt. Das Verbre‐ chen wurde als „Treuebruch“ verstanden: der Straftäter bricht der Volksge‐ meinschaft die Treue.75 Eine strafwürdige Handlung wurde als eine Verlet‐ zung der „Treue als dem sittlichen Band der Gemeinschaft“76 angesehen, als eine Verletzung der „Heiligkeit der Treuepflicht“; ein Rechtsbruch war „seinem Wesen nach Treubruch“, Verrat an der Volksgemeinschaft77. Der

72 Beschluss des Reichstags v. 26. April 1942, RGBl I, 247. 73 Zur Steuerung der Justiz im NS vgl. Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz im Nationalsozialismus und in der DDR – Thesen, in: Justizbehörde Hamburg (Hrsg.), „Von Gewohnheitsverbrechern, Volksschädlingen und Asozialen ...“ Ham‐ burger Justizurteile im Nationalsozialismus, 1995, S. 471-478. 74 Zu einzelnen rechtswissenschaftlichen Gebieten s. Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, ARSP Beiheft Nr. 18, Wiesba‐ den 1983; Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.), Recht und Rechtslehre im Nationalsozia‐ lismus, Baden-Baden 1992; speziell an der Martin-Luther-Universität Halle-Wit‐ tenberg vgl. Joachim Rückert, Zwölf Jahre „Dienst am Recht“?, in: Heiner Lück/ Armin Höland (Hrsg.), Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Nationalsozialismus, 2011, S. 111-137 u. 204-206. 75 OStA Schlegel in DR 1937, S. 205. 76 Roland Freisler, Der Treuegedanke im neuen Strafrecht, in: Deutsches Strafrecht (Juni 1936), S. 193-209 (193, 196). 77 Freisler, ebenda, S. 197.

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Treuebrecher verlor seine Ehre und konnte aus der Volksgemeinschaft aus‐ geschlossen werden. Die oben genannten negativen Varianten der Gesinnung bildeten den Kern eines Gesinnungsstrafrechts78, das nicht auf die Schädlichkeit der Tat, sondern auf die Schändlichkeit der Motive zielte. – Die Strafrechts‐ lehre ging überdies von einem „Tätertypus“ aus, war also mehr ein Täterals ein Tatstrafrecht. Tätertypen waren z.B. der Gewohnheitsverbrecher, der Mörder, der „Volksschädling“79. Auch im Privatrecht wurden Grundbegriffe neu bestimmt: Eigentum wurde z.B. zu einem „ethisch gebundenen Gemeinschafts- und Pflichten‐ verhältnis“80. Privateigentum und subjektive Rechte seien stets gemein‐ schaftsrechtlich gebunden; der Person komme nur eine „Gliedstellung“ zu. Das Staatsrecht schaffte sich im Laufe der NS-Zeit selbst ab. Alle poli‐ tischen Maßnahmen wurden gerechtfertigt („Der nationalsozialistische Staat ist ein gerechter Staat.“81 „Der Führer schützt das Recht.“82). Die Staatsrechtslehre hinterließ aber eine moralisch relevante Konstruktion,

78 Zum Problem allgemein vgl. Brigitte Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungs‐ merkmalen im Strafrecht. Eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersuchung, 2007. 79 Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939 (RGBl I, 1679). Das Reichsgericht erging sich dann in der Feststellung der „Wesensart eines Volks‐ schädlings“ (z.B. RGSt 74, 199). 80 Karl Larenz, Volksgeist und Recht, in: Zeitschrift für Deutsche Kulturphilosophie (1935), S. 35. 81 Carl Schmitt, Neue Leitsätze für die Rechtspraxis, in: JW (1933), 2793 (2794); = Fünf Leitsätze für die Rechtspraxis, in: DR (15. Dezember 1933), S. 201 f. (202); der 5. und letzte Leitsatz: „Ob er ein „Rechtsstaat“ ist, hängt davon ab, welchen besonderen Inhalt man diesem vieldeutigen Wort gibt und wieweit man den Rechtsstaat zu einem gerechten Staat in Gegensatz bringen will. Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts hat dem Begriff eine bestimmte Bedeutung gegeben und da‐ durch den Rechtsstaat zu seiner politischen Waffe im Kampf gegen den Staat ge‐ macht. Wer heute das Wort Rechtsstaat gebraucht, wird also genau sagen müssen, was er darunter versteht, worin sich sein Rechtsstaat von dem liberalen Rechtsstaat unterscheidet und wieweit sein Rechtsstaat ein nationalsozialistischer oder eine andere der vielen Arten von Rechtsstaat sein soll. Sonst besteht die Gefahr eines politischen Mißbrauchs, die es den Feinden des nationalsozialistischen Staates er‐ möglicht, gegen das Recht und die Gerechtigkeit des nationalsozialistischen Staa‐ tes andere Auffassungen von Recht und Gerechtigkeit ins Feld zu führen und den deutschen Richter, Anwalt, Rechtspfleger oder Rechtslehrer zum Werkzeug ihrer politischen Bestrebungen zu machen.“ – Vgl. dann auch noch Carl Schmitt, Was bedeutet der Streit um den „Rechtsstaat“, in: ZgStw (1935), S. 189-201.

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nämlich die einer homogenen Volksgemeinschaft. An die Stelle einer plu‐ ralistisch gespaltenen Gesellschaft mit einem repräsentativen parlamenta‐ rischen Mehrparteiensystem trat eine völkische Substanz, die ihren „Aus‐ druck“ in einer Partei – der „Bewegung“ – und im Führer findet, der einen direkten Draht zur völkischen Substanz hat.83 Aus der Wahl vom 5. März 1933 machte E.R. Huber eine „Volksabstimmung im Rahmen der werden‐ den nationalsozialistischen Verfassung“.84 Dass sich für die Regierung 51,9 % der Stimmen aussprachen85, bezeugte dann das „Verwurzeltsein der Regierung im Volke selbst“.86 „Das Volk“ legte durch die Abstimmung ein „Bekenntnis zum Vorgang der Revolution ab“.87 Der Staatsakt in Pots‐ dam am 21. März 1933 war „das verfassungsrechtlich entscheidende Be‐ kenntnis zur neuen völkischen Einheit und Ganzheit“.88 – Das sind die verfassungsrechtlichen Obertöne zur Zwangsharmonisierung der Gesell‐ schaft. Mit dem unklaren Verhältnis von völkischer Substanz und Führer-Dezi‐ sion – mit dem „substantiellen Dezisionismus“89 – haben sich die natio‐ nalsozialistische Rechtslehrer, vor allem im Staatsrecht, vielfach herumge‐ schlagen. Das Volk ist der „Urgrund des politischen Geschehens“, die „Substanz der politischen Einheit“, „während der Volkswille durch den Führer her‐

82 Carl Schmitt auf seinem frühen Tiefpunkt im NS (Der Führer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13. Juli 1934, in: DJZ [1. August 1934]; wieder abgedruckt in: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Ver‐ sailles 1923-1939, 1940, S. 199-203). Einen weiteren Tiefpunkt erreichte er als Or‐ ganisator der Tagung „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“ (1936). 83 „Wenn Sie richten, mein Führer, richtet das deutsche Volk.“ Rudolf Heß auf dem Reichsparteitag 1934 (5.-10. September 1934 – also nach den Röhm-Morden), in: DR (1934), S. 427. 84 Ernst Rudolf Huber, Verfassung, 1937, S. 43. 85 Ebenda, S. 36. 86 Ebenda, S. 39. 87 Ebenda, S. 43. 88 Ebenda, S. 39. 89 Vgl. Hubert Rottleuthner, Substantieller Dezisionismus - Zur Funktion der Rechts‐ philosophie im Nationalsozialismus, in: ders. (Hrsg.), Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft Nr. 18 (1983), S. 20-35.

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vorgehoben wird“, der Führer schützt und entfaltet das „Wesen des Vol‐ kes“, er ist „Vollstrecker des völkischen Gemeinwillens“.90 „… verliert für das nationalsozialistische Reich daher die Frage nach der ‚Willensbildung‘ ihre Bedeutung, da der einheitliche nationale Wille jederzeit konkret in Führer und Bewegung lebendig und wirksam ist.“91 Die Führergewalt ist „dem Führer vom Volke anvertraut“. „Sie ist frei von allen äußeren Bindungen, weil sie im Inneren ihres Wesens aufs stärkste gebunden ist an das Schicksal, an das Wohl, an die Aufgabe, an die Ehre des Volkes.“92 „Wahre Gemeinschaft erträgt es nicht, wenn der Wille in zersetzender Vielfältigkeit gebildet werden soll; sie verlangt vielmehr eine geschlosse‐ ne Einheit gerade auch in der Willensbildung und Leitung, wobei der Füh‐ rer dann nicht etwa der Gemeinschaft gegenübersteht, sondern ihr, seiner Gefolgschaft, art- und wesensgleich verbunden ist und sein muß.“93 4. Rechtsphilosophie Auch die im NS weiter aktiven Rechtsphilosophen haben nahezu alles le‐ gitimiert. Die Selbstüberschätzung kannte dabei anscheinend keine Gren‐ zen. So sah Larenz seine Aufgabe darin, den NS-Staat auf den „ethischen Fundamenten der idealistischen Rechts- und Staatsphilosophie“ zu errich‐ ten.94 Das Verhältnis von Recht und Moral wurde nicht einheitlich bestimmt; gemeinsamer Nenner war allerdings die Verbindungsthese, so bei Julius Binder. Recht ist bei ihm die „Ausprägung des sittlichen Willens einer

90 Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. Aufl. 1939, S. 210. 91 Ulrich Scheuner, Der Gleichheitsgedanke in der völkischen Verfassungsordnung, in: ZgStw (1939), S. 245-278 (256). 92 Huber, Verfassung, a.a.O. (Fn. 84), S. 230). 93 Wolfgang Siebert, in: H. Frank (Hrsg.), Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung, 1935, S. 961. 94 So Larenz in einem Brief aus den 60er Jahren an Karl Dietrich Erdmann; vgl. von diesem: Wissenschaft im Dritten Reich, 1967, S. 23 f. (nach Josef Kokert, Briefe, die Geschichte schreiben – Karl Larenz und die nationalsozialistische Zeit, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte [1996], S. 23-43 [25]).

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Volksgemeinschaft“.95 „Wir nennen ‚Recht‘ alles dasjenige, von dem es Sinn hat zu sagen, dass es ‚recht‘ sei, in bezug worauf die Frage nach Recht und Unrecht überhaupt einen Sinn hat. D.h. Recht ist Gesetzlichkeit und Inhalt des praktischen Verhaltens überhaupt, und so hat es keinen Sinn, das Recht von der Moral usw. zu unterscheiden.“.96 Für die völkische Rechtsanschauung „ergibt sich der rechtsphilosophi‐ sche Grundsatz: Eine Norm ist deshalb Recht, weil sie der Rechtsüberzeu‐ gung des Volkes entspricht. Es ergibt sich die grundsätzliche Gleichung zwischen Moral und Ethik eines Volkes und seinem Recht.“97 Recht ist „Form und Ausdruck der in einem Volke lebendigen objektiven Sittlich‐ keit“.98 „Nicht jede beliebige Anordnung (kann) Recht schaffen, sondern nur der Wille eines Gesetzgebers, der die Rechtsidee eines Volkes als die Substanz seines eigenen Denkens und Wollens in sich trägt.“99 Die Strategie der Neuhegelianer (Binder, Larenz, Dulckeit, Schönfeld u.a.) bestand in einer „Substantialisierung des Formalrechts“100 durch Im‐ plantation von Konzepten der Moralität und Sittlichkeit in die Sphäre des abstrakten Rechts, also in einer Verkehrung der Hegelschen Rechtsphilo‐ sophie. Das Privatrecht müsse „heute“ vom Standpunkt der Sittlichkeit be‐ griffen werden; es ist „Recht der Sittlichkeit“ 101. Es gab aber auch Ansätze zu einer differenzierteren Betrachtung des Verhältnisses von Recht und Moral, so bei Wilhelm Sauer, der das oben 95 So bereits 1930 Julius Binder, Die Freiheit als Recht, in: Verhandlungen des ers‐ ten Hegelkongresses (1930), 1931, S. 41. Zu Binder vgl. Ralf Dreier: Julius Bin‐ der (1870–1939). Ein Rechtsphilosoph zwischen Kaiserreich und Nationalsozia‐ lismus, in: F. Loos (Hrsg.): Rechtswissenschaft in Göttingen, 1987, S. 435–455 und Ken Takeshita, Ein Weg zum Totalitarismus - der rechtsphilosophische Wen‐ depunkt Julius Binders, in: ARSP 79 (1993), S. 237-246. 96 Julius Binder, Grundlegung zur Rechtsphilosophie, 1935, S. 118; s. auch ders., Die Einheit der praktischen Gesetzgebung, in: FS Koschaker, 1939, Bd. III, S. 420-452 (450). 97 RA Dr. Kuntze, Schiedsgericht oder Rechtsprechung durch die Gerichte des Staa‐ tes? In: JW (1934), S. 649-653 (651). 98 Karl Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie, 1934, S. 6. 99 Karl Larenz, Volksgeist und Recht. Zur Revision der Rechtsanschauung der Hi‐ storischen Schule, in: Zeitschrift für Deutsche Kulturphilosophie Bd. 1 (1935), S. 40-60 (57). 100 Vgl. Hubert Rottleuthner, Die Substantialisierung des Formalrechts – Zur Rolle des Neuhegelianismus in der deutschen Jurisprudenz, in: Oskar Negt, Hrsg., Ak‐ tualität und Folgen der Philosophie Hegels, 1970, S. 211-264. 101 Karl Larenz, Die Aufgaben der Rechtsphilosophie, Zeitschrift für Deutsche Kul‐ turphilosophie Bd. 4 (1938), S. 209-243 (239).

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beschriebene Dilemma in der Rechtsprechung sah, wenn er sagt: „… daß nicht jedes Volksempfinden gesund ist; der Richter hat eben das Volks‐ empfinden auf seine Rechtmäßigkeit, auf seine Ausrichtung auf die Rechtsidee zu prüfen und evtl. zu berichtigen und zu leiten. In weitesten Volkskreisen herrschen über die Zulässigkeit von Meineid, Notzucht, Kuppelei, Notbetrug, Widerstand, Wucher usw. die ungeheuerlichsten Vor‐ stellungen, wie jeder Vorsitzende weiß, der in der Beratung mit Laienrich‐ tern die wahren Anschauungen der Bevölkerung kennengelernt hat“ 102; die „völkische Sittenordnung“ sei nicht klar erfassbar.103 Aber dann geht es doch, wie üblich, weiter: „der Führerwille (wächst) organisch aus der Lebensmitte der Gemeinschaft.“ „Das Recht wächst lebensvoll aus der Sitte als der Volksüberzeugung heraus.“104 Die NS-Rechtsphilosophie ist mit ihrer Moralisierung des Rechts antipositivistisch und antiliberal; das nationalsozialistische Rechtsdenken war ja gerade eine Reaktion auf Positivismus und Rechtsformalismus.105 Nach der NS-Rechtslehre gilt Recht nur, wenn es moralischen Standards ent‐ spricht. Deshalb ist für sie der Positivismus von Kelsen ganz untauglich zur Legitimation einer staatlichen Ordnung; er ist viel zu nüchtern, wert‐ neutral, offen machtorientiert, wenn es für die Geltung einer Rechtsord‐ nung nur auf ihre Setzung und Durchsetzung ankommt. Die Machthaber, nicht nur die im NS, werden sich immer auf die Gerechtigkeit und andere hohe Werte berufen. Deshalb ist auch der Teil der sog. Radbruch-Formel unsinnig, der besagt, dass Gesetze der Rechtsnatur überhaupt entbehren, wenn der Gesetzgeber die Gerechtigkeit nicht einmal erstrebe.106 Wo kommt denn so etwas vor?

102 Wilhelm Sauer, Lebendes Recht und lebende Wissenschaft, 1936, S. 31. Zu einer weiteren zeitgenössischen Kritik am „gesunden Volksempfinden“ s. Leopold Zimmerl, Gesetz und materielle Gerechtigkeit im Strafrecht, in: Beiträge zur Neugestaltung des Deutschen Rechts. Festgabe der Rechts- und Staatswissen‐ schaftlichen Fakultät Marburg zum 70. Geburtstag von Erich Jung, 1937, S. 222-242 (241) und dazu Heinz Mohnhaupt, Rechtsgeschichte und Recht in Festschriften für Rechtshistoriker und Juristen zwischen 1930-1961, in: J. Rück‐ ert/D.Willoweit (Hrsg.), Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, 1995, S. 139-176 (157ff). 103 Sauer, ebd. S. 30. 104 Ebd., S. 37 u. 41. 105 So schon Alessandro Baratta, Rechtspositivismus und Gesetzpositivismus, in: ARSP LIV (1968), S. 325-350 (339ff). 106 „Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet

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Das sah z.B. der Rechtsphilosoph Erich Jung ganz klar: „… Auffassungen, wie u.a. auch der Absolutismus des Thomas Hobbes und die dialektisch-logizistische Lehre der österreichischen rechtsphilosophischen Schule um Kelsen-Kohn glauben vielfach von sich selbst oder behaupten we‐ nigstens, eine starke Bejahung von Staatsleben und Rechtsordnung zu enthal‐ ten. Sie sind aber tatsächlich und in ihren Wirkungen durchaus verneinend und zerstörerisch. Man raubt der Rechtsordnung das Beste von ihrer Hoheit, von ihrem Majestätsrecht, wenn man sie ausschließlich auf die wechselnden Befehle wechselnder Obrigkeiten stellt; man entzieht ihr damit die tiefere menschliche Begründung aus dem Gemeinschaftsleben heraus und aus den sittlichen Begriffen, die im Zusammenleben mit Artgenossen sich entwickeln und es tragen.“ 107

Solche „sittlichen Begriffe“ wurden dann auch reichlich mobilisiert. Die bloße Berufung auf Macht und Effektivität reicht nicht aus. Die Rechtsleh‐ re hat sich fleißig um ein moralisches Surplus an Rechtfertigungen be‐ müht. 5. Allgemeine Ideologie, Weltanschauung Von den vielen allgemeinen weltanschaulichen Stellungnahmen zum Ver‐ hältnis von Recht und Moral sei ein Kernsatz zitiert, den Adolf Hitler am 3. Oktober 1933 auf dem „Deutschen Juristentag“ in Leipzig von sich gab: „Von nun an gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Recht und Moral.“108

wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur „unrichtiges Recht“, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“ (Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und über‐ gesetzliches Recht, in: SJZ [1946], S. 105-108 [107]). 107 Erich Jung (1866-1950), Positivismus, Freirechtschule, neue Rechtsquellenlehre, in: AcP 143 (1937), S. 28-79 (30). (Das war sein Beitrag zur von Carl Schmitt organisierten Tagung von 1936 „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“, Band 8: Rechtsquellenlehre und Judentum. Positivismus, Freirechtschule, neue Rechts‐ quellenlehre, 1937). 108 Zitiert bei Wilhelm Sauer, Rechts- und Staatsphilosophie, 1936, S. 399. Hitlers Rede auf der Schlusskundgebung wurde nie gedruckt; vgl. Rudolf Schraut (Hrsg.), Deutscher Juristentag 1933 / 4. Reichstagung des Bundes Nationalsozia‐ listischer Deutscher Juristen e.V. / Ansprachen und Fachvorträge, 1933; Hermann Voß (Präsident des DAV), Zum ersten Juristentag im Dritten Reich, in: JW (1933), S. 2089 (vom 23./30.9.33; dass Hitler auftreten würde, kündigte er nicht an); Peter Landau, Die deutschen Juristen und der nationalsozialistische Deut‐ sche Juristentag in Leipzig 1933, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte (1994), S. 373-390 (375, Fn. 20). Die Ständige Deputation des „Deutschen

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Hitler ist also Vertreter einer starken Verbindungsthese. Roland Freisler veröffentlichte als Staatssekretär im Preußischen Justizministerium am 6. Juli 1934 – wenige Tage nach den Morden an Röhm u.a. - einen recht‐ fertigenden Aufsatz „Des Führers Tat und unsere Pflicht“ 109, in dem es u.a. heißt: „Und dann wurde Gericht gehalten, ein Gericht, wie es gerechter und notwen‐ diger in der Welt noch nie gehalten wurde; ein Gericht, dessen Spruch unmit‐ telbar aus dem klaren und tiefen Quell unserer deutschen Sittenordnung ge‐ schöpft war; ein Gericht, das also Recht im höchsten Sinne verwirklichte.“ (Und etwas weiter:): „Für deutsches Denken besteht Einklang zwischen sittli‐ cher Wertung, Pflichtgefühl und Rechtsempfinden.“ „Treuepflicht und Rechtspflicht, Pflichtwidrigkeit und Rechtswidrigkeit sind eins. Deutsches Rechtsgefühl und Sittlichkeitsempfinden klingen zusammen.“ „Einklang von Recht und Sittlichkeit …“110. Das Recht einer wirklich organischen Volksge‐ meinschaft sei nicht von Sittlichkeit und Gerechtigkeit abgetrennt.

Wenn man von Recht und Moral im NS spricht, muss man sich frei ma‐ chen von positiven Konnotationen, die diese beiden Begriffe (zumindest im Deutschen) haben. Man kann moralfrei, und d.h. wertungsfrei, über Moral, Ethik111 und Recht sprechen. Sehr vieles von dem, was im NS als Recht und Moral geschätzt wurde, ist für uns heute verabscheuungswür‐ dig. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die nationalsozialistische Weltanschauung in hohem Maße moralisch durchwirkt war – bis zu den

Juristentages“, der 1860 gegründet wurde, beschloss am 29. April 1933 seine Tä‐ tigkeit einzustellen. Das Treffen in Leipzig (30.9. – 3.10.1933) war eigentlich die 4. Reichstagung des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen, firmierte aber als „Deutscher Juristentag 1933“. Der Deutsche Juristentag wurde durch Ge‐ setz vom 27. Mai 1937 (RGBl I, 597) aufgelöst. 109 In: Deutsche Justiz (1934), 850 f. 110 Roland Freisler, Der Treuegedanke im neuen Strafrecht, in: Deutsches Strafrecht, Juni (1936), S. 193-209 (195 f.). - Zur Identität von deutschem Recht und Moral s. auch Hans Frank, in: Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht 1938, S. 4 (angeführt bei H. Kantorowicz, Der Begriff des Rechts, Göttingen 1963, S. 103). 111 Das Verhältnis von Moral und Ethik (und auch von Recht und Rechtsethik) wird unterschiedlich gesehen: einmal ist Ethik eine normative Theorie der Moral (etwa bei Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 60ff oder bei Dietmar von der Pfordten – Rechtsethik, 2. Aufl., 2011) oder Moral wird als eine Menge von Normen (Geboten, Verboten, Erlaubnissen) für Handlungen konzipiert, während Ethik sich auf eine gelungene Lebensführung, auf Tugenden, den Charakter be‐ zieht (so. z.B. bei Aristoteles bis Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 187ff). Das Verständnis von „Metaethik“ müsste dann auch differenziert wer‐ den. Das ist hier nicht Gegenstand.

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Posener Geheimreden Himmlers an seine „anständig gebliebenen“ Mord‐ gesellen. Diese Moralisierung hat vielen, sehr vielen ein ruhiges Gewissen verschafft. Die NS-Moral war nicht bloß Fassade, die dem puren Machter‐ halt diente; sie hatte konkrete Auswirkungen, sehr konkrete Auswirkungen im Recht. Die NS-Moral ist nicht einfach ein konfuses Konglomerat; sie weist Spezifika auf, die auch über das Recht realitätsformend wurden. III. Merkmale der nationalsozialistischen Moral Die NS-Moral112 und über sie auch das Recht sind: 1. Anti-individualistisch, kollektivistisch: Der einzelne Mensch bezieht seinen Wert, seine Ehre immer nur durch seine Treue zur Gemeinschaft, zum Volk, zu seiner Rasse.

112 Das Interesse an der NS-Moral - und damit an der Täter-Perspektive - ist in den letzten Jahren gewachsen, insbesondere aus dem Kreis des Fritz Bauer Instituts: vgl. Werner Konitzer/Raphael Gross (hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts), Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen, Jahrbuch 2009 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, 2009; Raphael Gross, Anständig ge‐ blieben. Nationalsozialistische Moral, 2010; Wolfgang Bialas, Moralische Ord‐ nungen des Nationalsozialismus, 2014 (aber nicht zum Zusammenhang von Mo‐ ral und Recht); Werner Konitzer (hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts), Mo‐ ralisierung des Rechts. Kontinuitäten und Diskontinuitäten nationalsozialistischer Normativität. Jahrbuch 2014 des Fritz Bauer Instituts, 2014; Raphael Gross, Ver‐ fehlungen. Franz Kafka, Hans Kelsen und die Normativität des Bösen., in: Ein‐ sicht 14 (Herbst 2015), S. 48-55. In einem früheren Beitrag führt Heinz MüllerDietz (Zur moralischen Rechtfertigung totalitärer Anschauungen am Beispiel des nationalsozialistischen Rechtsdenkens, in: H. Jung/H. Müller-Dietz/U. Neumann (Hrsg.), Recht und Moral. Beiträge zu einer Standortbestimmung, 1991, S. 177-204) als oberste Rechtswerte nur Volk, Rasse und Führer an (201). Er ver‐ meint, Elemente eines „pervertierten“ Naturrechts wie eines Rechtspositivismus im NS zu finden (200), was etwas erstaunt, nachdem er zuvor (184) die bloß mo‐ ralische Empörung über den NS („Perversion“) kritisiert hatte. Mit der NS-Moral der Täter, die als moralisch handelnde, „anständige“ Personen angesehen werden möchten, mit der Verkopplung von Tötung und Moral, befasst sich intensiv Ha‐ rald Welzer, a.a.O. (Fn. 14). Hingewiesen sei auch auf die Sammlung von Herlin‐ de Pauer-Studer/Julian Fink (Hrsg.), Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus in Originaltexten, 2014. Knapp dazu auch Joachim Rückert, Unrecht durch Recht, a.a.O. (Fn. 11), S. 802.

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2. Anti-egalitär: Gleichheit gibt es nur unter „artgleichen Volksgenos‐ sen“113. 3. Anti-pluralistisch, homogenisierend: „Der vom Zerfall bedrohte Volkskörper mußte durch einen neuen Gesellschaftsvertrag die Vorausset‐ zungen zur Bildung einer neuen Gemeinschaft erhalten. Die Grundthesen dieses Vertrages aber konnten nur gefunden werden in jenen ewigen Ge‐ setzen, die dem aufbauenden Leben zugrunde liegen. In klarer Eindring‐ lichkeit mußte man über alles Nebensächliche die Bedeutung der völki‐ schen Substanz an sich und ihre Erhaltung stellen“114. Der Deutsche soll in einer homogenen völkischen Gemeinschaft, einer Schicksalsgemeinschaft leben. Das Volk, die Nation bilden eine homogene Substanz115, die „Blutsgemeinschaft eines Volkes“, eine „Gemeinschafts‐ substanz“ oder „artbestimmte Gemeinschaft“, die vom Führer artikuliert wird. Angesichts der theoretisch gerechtfertigten und tatsächlichen Zwangs‐ harmonisierung sind empirische Befunde zur tatsächlichen Inhomogenität im Volke aufschlussreich. Was heutzutage jede demoskopische Untersu‐ chung zeigt, wird im NS nur ganz sporadisch berührt, wenn bemerkt wird, dass keine „einhellige Volksmeinung“ (hier über die Beurteilung des Ge‐ schlechtsverkehrs unter Verlobten) bestehe116 – entgegen einer Entschei‐ dung des Reichsgerichts vom 21. Januar 1937, das ihn weiterhin für Un‐ zucht erklärt hat. – Es gibt einen Bericht über eine Umfrage des Bayeri‐ schen Rundfunks zu einem erbrechtlichen Gerichtsurteil mit gespaltenen Reaktionen. Ein Teil votierte für den Kläger, ein anderer Teil gegen ihn, die relative Mehrheit der Befragten sprach sich dafür aus, dass der Richter „nach Billigkeit“ entscheiden solle.117 Der Richter wird also mit seinem

113 Theodor Maunz, Die Staatsaufsicht, in: R.Höhn/T.Maunz/E.Swoboda (Hrsg.), Grundfragen der Rechtsauffassung, 1938, S. 45-85 (83 f.); Gustav Adolf Walz, Artgleichheit gegen Gleichartigkeit. Die beiden Grundprobleme des Rechts, 1938. 114 Hitler, Reichstagsrede vom 30. Januar 1934, zitiert nach Wilhelm Sauer, Recht und Volksmoral im Führerstaat, ARSP XXVIII (1934/35), S. 231. 115 Zur Tradition des Homogenitätspostulats im Staatsrecht (insbes. bei Heller, C.Schmitt und Kelsen) vgl. Gertrude Lübbe-Wolff, Homogenes Volk – Über Ho‐ mogenitätspostulate und Integration, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Aus‐ länderpolitik (2007), S. 121-127. 116 S. die Notiz in Deutsches Recht (1937), S. 206. 117 H.P. Danielcik, Die Befugnis des Richters zur Rechtsgestaltung, in: DR (1939), S. 201-202.

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„völkischen Gewissen“ allein gelassen. Wie es einem Richter dabei zu er‐ gehen pflegt, hatte ja Wilhelm Sauer beschrieben118. 4. Anti-universalistisch: Wenn man Moralen nach ihrem Bezugskreis unterscheidet, so kann man eine Abfolge bilden von (familialer) Nahmoral – Gruppenmoral – Sozialmoral – universeller Moral. Die NS-Moral bleibt auf der Ebene einer Gruppenmoral, beschränkt auf das deutsche, rassenrei‐ ne, arische Volk. Sie ist explizit anti-universalistisch119, preist aber das „Deutschtum“ als eine Wohltat für die gesamte Menschheit! So Hans Frank 1933: „Wir sind Antisemiten (…) Wir betonen aber auch: wir sind es nicht aus Haß gegen die Juden, sondern aus Liebe zum deutschen Volk. Wir haben die Vor‐ stellung, daß die rassische Blutsubstanz des Deutschtums ein so überragendes einmaliges Gut der Welt darstellt, daß wir es eigentlich als Pflicht der gesam‐ ten Menschheit ansehen würden, in Dankbarkeit dieses germanische Urele‐ ment zu wahren; denn wir wissen, daß aus dieser rassischen Substanz die höchsten Leistungen der Menschheit hervorgegangen sind.“120

Hierher gehört auch der Umgang mit Kants Kategorischem Imperativ, dem klassischen Muster einer universalistischen Moral (oder Sittenlehre). Aus dem Bericht von Hannah Arendt über „Eichmann in Jerusalem“121 ist bekannt, dass Eichmann „mit großem Nachdruck beteuerte, sein Leben lang den Moralvorschriften Kants gefolgt zu sein, und vor allem im Sinne des kantischen Pflichtbegriffs gehandelt zu haben“. Auf Befragen konnte er ziemlich exakt eine Formulierung des Kategorischen Imperativs vortra‐ gen. Er habe Kants Kritik der praktischen Vernunft gelesen. Aber „in dem Augenblick, als er mit den Maßnahmen zur ‚Endlösung‘ beauftragt wurde,

118 S.o. zu Fn. 102. 119 Den partikularen Charakter der NS-Moral betont auch Harald Welzer, a.a.O. (Fn. 18): die absolute Ungleichheit von Menschen war für die Akteure wissen‐ schaftlich begründet und das Überleben der höherwertigen Gruppe war durch die „Minderwertigen“ bedroht. So einfach ist das aber auch wieder nicht: Robert Ale‐ xy (Theorie der Grundrechte, 1985, S. 361) konstatiert, dass auch die nationalso‐ zialistische Judengesetzgebung das Postulat einer universalistischen Entschei‐ dungspraxis erfüllt. Die Rassengesetze haben die Form universeller Normen: „Für alle x gilt, wenn x die Eigenschaften E1, E2, … , En hat, dann ist gesollt, dass auf x die Rechtsfolge R zutrifft.“ 120 Hans Frank, Ansprache des Herrn Reichsjustizkommissars Staatsminister Dr. Frank an die Fachgruppen- und Gauleiter des BNSDJ auf dem Reichsparteitag der NSDAP 1933, in: JW (1933), S. 2090-2092 (2091). 121 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (1964), 1978, S. 174 f.

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(habe er) aufgehört, nach kantischen Prinzipien zu leben“. Er habe dann gemäß dem von Hans Frank formulierten Kategorischen Imperativ gehan‐ delt: „Der kategorische Imperativ des Handelns im Dritten Reich lautet: Handle so, daß der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde.“122 5. Utilitaristisch: Trotz Betonung von Ehre, Treue, Anstand, Pflicht ist die NS-Moral keine Pflichten-Moral, sondern eine krasse utilitaristische, konsequentialistische Moral. Es gibt ein oberstes Ziel – ein „größtes Glück“ – freilich nicht der „größten Zahl“; das wäre ja egalitär-universa‐ listisch.123 Das Ziel, das mit (fast) allen Mitteln erreicht werden soll, be‐ steht in der Förderung der arischen Rasse und des deutschen Volkes oder Volkstums, des „Deutschtums“ als deren Spitzenvertreter. Im Zentrum steht die „Reinheit des Blutes“124. Das reduziert den Gleichheitssatz auf die Gleichbehandlung „Artgleicher“, erfordert die berufliche, staatsbürger‐ liche und schließlich soziale Ausgrenzung „Artfremder“, umfasst das Ver‐ bot von Geschlechtsverkehr und Eheschließungen zwischen „Rassefrem‐ den“ und geht bis zu Zwangssterilisationen. Der Krieg im Osten ist auch ein Rassenkrieg, zu dem der Weltkrieg insgesamt gemacht wurde, nach‐ dem Hitler schon in der Reichstagsrede am 30. Januar 1939 die „Vernich‐ tung der jüdischen Rasse in Europa“ angedroht hatte. 6. Naturalistisch: Blut, Boden, Rasse sind im NS naturalistische, dem Menschen vorgegebene, unverfügbare Kategorien, aus denen Normatives – irgendwie auch die Führer-Dezision – entquillt. Viele NS-Rechtsphiloso‐ phen verstanden sich als Naturrechtler im Sinne eines „Naturrechts aus Blut und Boden“125. „Der Nationalsozialist ist Naturrechtler, weil das deutsche Volk eine natürliche lebensgesetzlich verbundene Gemeinschaft

122 Hans Frank, Die Technik des Staates (Bd. 1 Schriftenreihe des Institutes für die Technik des Staates an der Technischen Hochschule München), 1942, S. 15 f. Wie hätten die Richter des LG Oldenburg das im Fall Schlitt (s.o. zu Fn. 72) her‐ ausfinden können? 123 Insofern enthält der Utilitarismus ein nicht-utilitaristisches Prinzip der universali‐ sierbaren Gleichheit. 124 Wilhelm Stuckart/Hans Globke, Kommentar zum Reichsbürgergesetz, Blut‐ schutzgesetz und Ehegesundheitsgesetz, 1936, S. 16: der „Verfall des Gefühls für die Bedeutung der Reinheit des Blutes und die damit verbundene Auflösung aller völkischen Werte ließ ein gesetzliches Eingreifen besonders dringlich erschei‐ nen“. 125 Raimund Eberhard, Modernes Naturrecht, 1934 (für den ein „rassengesetzliches Naturrecht“ allerdings „noch nicht der Weisheit letzter Schluß“ ist [S. 24]); Hans-

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ist.“126 Aber das ist ein biologistisches Missverständnis von „Natur“ in „Naturrecht“. Selbst bei einem Neuhegelianer wie Larenz, der es von He‐ gel wissen sollte, dass sich das Recht gerade durch seine Unabhängigkeit von Naturgegebenheiten auszeichnet 127, findet man eine solche naturalisti‐ sche Regression: „Blut muß zu Geist, und Geist zu Blut werden, wo ein schöpferischer Wurf gelingen soll.“128 Die NS-Rechtstheoretiker waren aber Naturrechtler im Sinne einer modernen Interpretation, nämlich als Vertreter der starken Verbindungsthese. Eigentlich ist die Trennung von Recht und Moral als kritisches Instru‐ ment gedacht, um Geltung und/oder Verbindlichkeit von Rechtsnormen zu prüfen, zu befragen, in Frage zu stellen. Aber was geschieht, wenn aus‐

Helmut Dietze, Naturrecht aus Blut und Boden, in: Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht (1936), S. 818-821; ders., Naturrecht in der Gegenwart, 1936 (das Naturrecht der Gemeinschaft „wurzelt in den naturhaften Kräften, aus denen alles wirkliche Leben der Natur kommt: im Drängen des Blutes, in den Säften des Bodens und in der Innigkeit gleicher Gesinnung“ [S. 318]); von der Schweiz aus blickte Hans Fehr (Die Ausstrahlungen des Naturrechts der Aufklärung in die neue und neueste Zeit, 1938) auch auf das neue Naturrecht des totalen Staa‐ tes: es sei nicht universell, sondern „isoliertes Naturrecht“ (S. 26), auf den jewei‐ ligen Volkskörper bezogen, ein „angeborenes Nationalrecht“ (S. 26). Die Volks‐ gemeinschaft sei eine Einheit aus Blut (Rasse), Boden (Lebensraum) und geisti‐ ger Beschaffenheit (historisch-völkische Gesinnung) (S. 24); Franz Beyerle, Der andere Zugang zum Naturrecht, in: Deutsche Rechtswissenschaft Bd. 4 (1939), S. 3-24 (ohne rassisches Fundament). Zum Verhältnis des NS zum Naturrecht vgl. bereits Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat (1940), Teil II (in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, 1999, S. 157-201, 369-418); Wolfgang Schild, Die nationalsozia‐ listische Ideologie als Prüfstein des Naturrechtsgedankens, in: D. Mayer-Maly/ P.M. Simons (Hrsg.), Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnis‐ schrift für René Marcic, 1983, S. 437-453; das Rechtsverständnis des NS sei „na‐ turrechtsanalog“ gewesen, auf keinen Fall positivistisch; so auch Fabian Wittreck, Nationalsozialistische Rechtslehre und Naturrecht, 2008. 126 H. Richter, Völkerrecht, in: Deutsches Recht (1934), S. 206 (zit. nach HansHelmut Dietze, Naturrecht in der Gegenwart, 1936, S. 110 f); vgl. auch Dan Di‐ ner, Rassistisches Völkerrecht. Elemente einer nationalsozialistischen Weltord‐ nung, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (1989), S. 23-56. 127 „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige, und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht, und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Frei‐ heit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 4). 128 Karl Larenz, Volksgeist und Recht, Zeitschrift für Deutsche Kulturphilosophie 1 (1935), S. 42.

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drücklich gesagt wird, dass das Recht moralisch sei; dass Recht und Moral eins seien; dass die Verbindung realisiert worden sei?129 Der Bereitschaft der NS-Rechtsdenker, alles zu rechtfertigen, was rechtsförmig geregelt wurde, steht zur Seite die völlige Einflusslosigkeit und Unmaßgeblichkeit der Philosophen im NS mit ihren gedanklichen Überhöhungen. Sie mögen vielleicht eine gewisse Zeit geglaubt haben, den NS geistig steuern zu können. Erfreut haben sie vielleicht Sonntagsre‐ den der führenden Politiker vernommen, in denen philosophische Phrasen auftauchten. Aber welcher Jurist beschäftigt sich schon mit Rechtsphiloso‐ phie oder lässt sich durch sie gar in seinen Routinehandlungen beeinflus‐ sen? Es genügte, eine rohe Moral den Gesetzen zu inkorporieren, um die bloße Gesetzeskonformität zu einer Loyalität dem Regime gegenüber zu steigern. Die Verbindungsthese ist also angesichts der Erfahrungen mit der NSMoral sehr sorgfältig zu prüfen. Kelsens Plädoyer für eine radikale Tren‐ nung wird man auf diesem Hintergrund nur zu gut verstehen: zu einer sol‐ chen Moral, wie der im NS propagierten, sollte das Recht keine Verbin‐ dung eingehen. Es sollte also stets gesagt werden können, welche Art von Moral mit dem Recht „verbunden“ werden sollte.130 Man macht es sich zu leicht, wenn man die NS-Moral einfach als „unmoralisch“ abweist oder

129 Kelsen wendet sich ja dagegen, dass „das Recht als Bestandteil der Moral tat‐ sächlich moralischen Charakter habe“. Das sei die Strategie einer konservativen Naturrechtslehre. Dass das Recht moralisch, d.h. gerecht sein solle – was immer das heißen möge –, ist für ihn eine selbstverständliche Forderung (Reine Rechts‐ lehre, 1. Aufl., 1934, S. 13, 16). 130 Dieses Problem stellte sich auch im Fall der DDR, in der im Rahmen der marxis‐ tisch-leninistischen Rechtstheorie eine starke Verbindungsthese vertreten wurde. Recht und Moral sollten zur Deckung gebracht werden, um gemeinsam den Auf‐ bau des Sozialismus voranzubringen. Diese Forderung adressierte Ulbricht im April 1958 auf der Babelsberger Konferenz an die Rechtswissenschaftler; im Juli 1958 beschloss der 5. Parteitag der SED die „Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik“, auf dem 6. Parteitag 1963 wurden sie in das Parteiprogramm der SED aufgenommen und bis 1976 hoch gehalten. Verweise auf die Grundsätze (oder Prinzipien) der sozialistischen Moral finden sich auch in Gesetzen der DDR (im ZGB von 1975: Präambel, §§ 2, 14, 15, 44, 68, 323, 442; in der Präambel des Arbeitsgesetzbuches von 1977 und noch in der Verordnung über Reisen von Bür‐ gern der DDR nach dem Ausland vom 30. November 1988, § 14 Abs. 2). Mit dieser DDR-Version des Verhältnisses von Recht und Moral (und Politik) hat ein Vertreter einer starken Verbindungsthese westlicher Provenienz gewisse Schwie‐ rigkeiten: Robert Alexy charakterisiert sie als „Variante eines nichtpositivisti‐ schen Positivismus“; Alexy, Walter Ulbrichts Rechtsbegriff, in: Jörn Eckert

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behauptet, das sei überhaupt keine Moral gewesen. Kelsen war in Sachen der Moralauffassungen generell skeptisch. Er hatte vor allem die Tatsache im Sinn, dass über Fragen der Moral – und speziell der Gerechtigkeit – kaum Konsens zu erzielen ist. Zu welcher Art von Moral wäre im Recht eine Verbindung herzustellen, welche Art von Moral könnte vielleicht den Rechtsnormen inkorporiert werden? Welche Anforderungen müssten mo‐ ralische Begriffe erfüllen, um als Rechtsbegriffe auslegungsfähig zu sein und um durch ihre Anwendung konkrete Rechtsfolgen auslösen zu kön‐ nen? Nach Kelsen wäre es jedenfalls nicht der zentrale Moral-Begriff der Gerechtigkeit. IV. Ein aktueller Ausblick Sehr sorgfältig wird man Elemente der NS-Moral beachten müssen, die man nicht als antiquarisch abschieben kann, sondern die offenbar das mo‐ ralische Desaster des NS überlebt haben: Homogenitätsvorstellungen durchdringen die Diskussionen darüber, wieviel Fremde, welche „Höchstgrenze“ an Fremden eine Gesellschaft, ein Volk, eine Nation vertragen kann. Was sind die Bedingungen einer ge‐ lingenden sozialen Integration, was macht die „Identität“ einer Gesell‐ schaft aus („Deutschland muss Deutschland bleiben.“ „Wir sind das Volk.“)? Gegenüber einer in der Gesellschaft tatsächlich bestehenden Mul‐ tikulturalität wird von auf Homogenität bedachten politischen Gruppen anscheinend einer deutschen Monokultur der Vorzug gegeben. Neue Formen einer „illiberalen Demokratie“ (Orbán) – in Russland, der Türkei, in Ungarn, Polen etc. – bedienen sich Homogenisierungs-Strategi‐ en, wie wir sie oben bei den Staatsrechtslehrern im NS schon kennen ge‐ lernt hatten.131 Aus der Mehrheit wird eine Ganzheit gemacht, aus einer Majorität der Wählerstimmen (und seien es nur 51,9%) wird „das“ Volk gemacht, innerhalb dessen es keine Minderheiten mehr gibt, die eines in‐ stitutionellen Schutzes (durch Presse-, Meinungsfreiheit, eine unabhängige Justiz samt Verfassungsgerichtsbarkeit etc.) bedürften. – Viele deutsche Medien bedienen sich einer Homogenisierungssprache, wenn sie nach po‐ litischen Wahlen vermelden, was „der“ Wähler entschieden habe. (Hrsg.), Die Babelsberger Konferenz vom 2./3. April 1958, 1993, S. 191-202 (202). 131 S.o. zu Fn. 85-88.

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Angesichts einer globalen kulturellen Vielfalt stellt sich verstärkt das Problem einer universalen Moral, etwa im Bereich der Menschenrechte. Dieser große Anspruch trifft aber im politischen Raum auf Fälle, in denen ganz ohne Skrupel eine partikulare, nationalistische Gruppenmoral vertre‐ ten wird, etwa von George W. Bush, der die Folterer der CIA als „Patrio‐ ten“ pries.132 Dann wird es schwierig, gegenüber Vertretern einer nichtuniversalistischen Moral (nicht nur in islamischen Ländern) zu argumen‐ tieren. Während die Nazis das Recht mit einer Moral des Volksnutzens verban‐ den („Recht ist, was dem Volke nutzt.“), hörte man von polnischen Rechtsnationalen jüngst: „Das Recht ist eine wichtige Sache, aber über dem Recht steht das Wohl des Volkes.“133 Man muss aber gar nicht auf das „Volk“ und dessen Nutzen rekurrieren, sondern es wird auch ganz direkt auf ökonomische Kalküle zurückgegriffen, um Fragen der Moral zu ent‐ scheiden. Argumente mit Blut und Boden werden eher als Entgleisungen angese‐ hen, wenn z.B. Erdoğan (im Juni 2016) das ihm missliebige Verhalten tür‐ kischstämmiger Bundestagsabgeordneter mit deren „verdorbenem Blut“ erklärt oder wenn AfD-Politiker von „Blutsverwandtschaft“ und „raumund kulturfremden“ Menschen raunen. - Biologistische Argumente findet man heute eher versteckt z.B. in der Abtreibungsdiskussion, in der von der Eigenschaft der menschlichen DNA eine „Potentialität“ der Eizellen her‐ geleitet und daraus eine Menschenwürde „abgeleitet“ wird.134 – Die Euge‐ nik lebt fort, nunmehr mit den Möglichkeiten der Manipulation des Erbgu‐ tes etwa im Rahmen der PID. Ein gentechnischer Perfektionismus fördert

132 Zu dem Folter-Bericht der US-Regierung erklärte Bush: “We’re fortunate to have men and women who work hard at the C.I.A. serving on our behalf. (…)+These are patriots and whatever the report says, if it diminishes their contributions to our country, it is way off base.” These are “really good people and we’re lucky as a nation to have them.“ (NYT 7. Dezember 2014). 133 So ein PiS-Abgeordneter im Sejm, nach: Die Zeit v. 14. Januar 2016, S. 8. Rad‐ bruch hatte die Gleichsetzung von Recht und Volksnutzen bei den Nazis umge‐ kehrt: „nur was Recht ist, nützt dem Volke.“ Gustav Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie (12. September 1945), RGA Bd. 2, S. 78. 134 Vgl. Reinhard Merkel, Forschungsprojekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen, 2002, S. 161ff; Eric Hilgendorf, Begründung in Recht und Ethik, in: C.Brand/E.M.Engels/A.Ferrari/L.Kovács (Hrsg.), Wie funktioniert Bioethik?, 2007, S. 233-254 (244 f).

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die negative Selektion von unerwünschten Eigenschaften; da bedarf es keiner Sterilisation mehr.135 Nimmt man die NS-Moral ernst, so wird man mit moralischem Ernst aktuelle Tendenzen betrachten.

135 Den früheren Glaube an die Wissenschaftlichkeit der Eugenik sollte man ernst nehmen, sonst versteht man die internationale Verbreitung des Gedankengutes seit Beginn des 20. Jahrhunderts nicht, auch nicht die Fortgeltung des Erbgesund‐ heitsgesetzes in der Bundesrepublik (s.o. Fn. 16) und das internationale Fortleben eugenischer Vorstellungen. Vgl. Hubert Rottleuthner, Zum Wissenschaftscharak‐ ter der Eugenik, in: I. Czeguhn/ E. Hilgendorf/J. Weitzel (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie 1850-1945 (Schriftenreihe des Zentrums für rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung Würzburg, Bd. 2), 2009, S. 43-70. Was hätten die Nazis gemacht, wenn sie den heutigen Kenntnisstand der Genetik und das gentechnolo‐ gische Know-how gehabt hätten?

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Herrschaftstechnik und Herrschaftsfelder

Hitlers Instrumente der Rechtsetzung 1939-1945: Führer-Erlass und Gesetz im Urteil der zeitgenössischen Rechtswissenschaft und der Historiografie Martin Moll

Einleitung In Verbindung mit der nationalsozialistischen Diktatur von Rechtsetzung zu sprechen, ohne die Vorsilbe „Un-“ voranzustellen, erscheint auf den ersten Blick höchst problematisch. Wenn im Folgenden von Rechtsetzung in Hitlers Reich die Rede ist, so verwende ich diesen Begriff zur Kenn‐ zeichnung der Tätigkeit der klassischen Legislative, der verbindliche Nor‐ men setzenden Instanz(en) dieses Staates, ohne damit irgendeine Bewer‐ tung des Inhalts dieses Rechts und dessen moralischer Qualität vorzuneh‐ men – in diesem Punkt scheint mir der Konsens derart allgemein zu sein, dass sich weitere Erörterungen erübrigen. Davon abgesehen, würde es eine Ausklammerung des nationalsozialistischen Rechtssystems faktisch un‐ möglich machen, den Zeitraum von 1933 bis 1945 aus rechtsgeschichtli‐ cher Sicht zu untersuchen. Diesem legitimen Vorgehen wäre die Grundla‐ ge entzogen, würde man den Rechtscharakter der vom NS-Regime erlas‐ senen Anordnungen negieren. Für den Historiker macht es zudem wenig Sinn, sich bei der Beschrei‐ bung eines real existierenden Herrschaftssystems in langatmige Auslas‐ sungen über die fehlende Legitimität der rechtsetzenden Instanzen und Personen zu verlieren.1 Er muss vielmehr zur Kenntnis nehmen, dass der‐ lei Kompetenzen – seien sie angemaßt oder nicht – de facto beansprucht wurden und die darauf beruhenden Anordnungen weitgehend, bis in die allerletzten Kriegstage hinein, auf Befolgung rechnen konnten. Es geht da‐

1 Die (aus Sicht des Historikers) Fruchtlosigkeit dieses Ansatzes beweist etwa die po‐ lemische, nur notdürftig juristisch kaschierte Erörterung der Rechtmäßigkeit der Regierung von Großadmiral Karl Dönitz, des in Hitlers Politischem Testament zum Reichskanzler ernannten Oberbefehlshabers der Kriegsmarine, bei Thomas Moritz/ Reinhard Neubauer, Die Rechtmäßigkeit der „Regierung Dönitz“ oder: Wie rechts‐ staatlich war das „Dritte Reich“?, in: Kritische Justiz 1989, S. 475-481.

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her nicht an, eine Analyse eines politischen Systems vorzunehmen und da‐ bei die Frage, von wem und auf welche Weise in ihm schriftlich fixierte Rechtsnormen erlassen wurden, an den Rand zu drängen. Die unbestreit‐ bare Entwicklung der NS-Diktatur weg vom Normen- und hin zum auf Willkür beruhenden Maßnahmenstaat2 darf nicht den Blick dafür verstel‐ len, dass ein moderner Industriestaat mit einer komplexen Wirtschaft und Verwaltung ohne gesatztes Recht, ohne ein Minimum an Rechtssicherheit (charakterisiert durch Vorhersehbarkeit und Stetigkeit) nicht funktionieren kann, unabhängig von dem in ihm herrschenden Regime. Erst recht kann auf eine halbwegs geregelte Rechtsetzung nicht verzichtet werden, wenn ein Staat einen Weltkrieg mit der seinetwegen erforderlichen Umstellung des gesamten zivilen Lebens auf die Kriegsführung zu bewältigen und obendrein ausgedehnte besetzte Gebiete zu verwalten hat. Die ausschließ‐ liche Kennzeichnung des Dritten Reiches als Maßnahmenstaat verzerrt so‐ mit das Urteil, wie schon ein Blick auf den ab 1933 Jahr für Jahr zuneh‐ menden Umfang des Reichsgesetzblattes erweist. Mir scheint die Formel von der Bürokratisierung und Legalisierung des Unrechts den Sachverhalt besser zu treffen als der häufig allzu dichotomisch interpretierte Gegensatz von Normen- und Maßnahmenstaat. Hitlers Stellung im NS‑Herrschaftssystem Es dürfte unbestritten sein, dass die Beschreibung der Rechtsetzung auch und gerade hinsichtlich ihrer verdeckten Mechanismen für die Analyse je‐ des politischen Systems von Belang ist. Umso mehr erscheint es als legi‐ tim, nach Hitlers diesbezüglichen Funktionen und konkreten Handlungen zu fragen, wenn wie hier eine Diktatur den Gegenstand des Forschungsin‐ teresses bildet. Seit den 1960er Jahren wird in der Geschichtswissenschaft kontrovers diskutiert, ob Hitler der von der NS-Propaganda beschworene, allmächtige Monokrat oder nicht vielmehr ein – wenigstens während des Krieges – in seine Hauptquartiere und Residenzen zurückgezogener, nicht‐ militärischen Entscheidungen aus dem Weg gehender, dem Müßiggang le‐

2 So die berühmte Formel von Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat. Recht und Justiz im Nationalsozialismus, 1984, zuerst 1941.

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Hitlers Instrumente der Rechtsetzung 1939-1945

bender „schwacher Diktator“ gewesen sei.3 Dabei ist offensichtlich, dass zur Klärung des Sachverhalts ein methodisches Vorgehen zu wählen ist, das Hitlers Eigenwilligkeiten, seinen spezifischen Regierungsstil zwischen Tür und Angel, seine an Adjutanten und Sekretäre gerichteten „Führer‐ worte“ bei diversen Tischgesprächen und anderes mehr angemessen in Rechnung stellt. Der Beitrag der Rechtsgeschichte müsste darin bestehen, sich der Manifestationen der klassischen Legislative, also der schriftlich fixierten Rechtsetzungsakte des Diktators, anzunehmen. Für die Friedensjahre des Regimes bereitet dieses Vorgehen wenig Schwierigkeiten, sind doch die diesbezüglichen Gesetze, Erlasse, Verord‐ nungen usw. mit an den Fingern einer Hand abzählbaren Ausnahmen be‐ quem im Reichsgesetzblatt nachzulesen. Nach Kriegsbeginn erschien die‐ ses zwar weiter, doch wurde darin nur mehr ein Teil der schriftlich ergan‐ genen Führer-Direktiven abgedruckt. Der andere, ab 1941 überwiegende Teil erschien nicht mehr in diesem jedermann und damit auch den Feind‐ mächten zugänglichen Organ, sondern ging nur innerhalb des Behörden‐ apparats von Staat, NSDAP und Wehrmacht an einen ausgewählten, mehr oder minder kleinen Empfängerkreis. Es lag nahe, dass unter den Bedin‐ gungen des Krieges Anordnungen der Staatsspitze über die Verwaltung besetzter Gebiete oder die Kriegswirtschaft aus Geheimhaltungsgründen nicht publiziert wurden. Da in keinem Archiv eine auch nur einigermaßen geschlossene Sammlung dieser unveröffentlichten Hitler-Direktiven vor‐ handen ist, hat die Forschung den Umfang dieser geheimen Rechtset‐ zungstätigkeit lange unterschätzt. Eine Edition als Grundlage weiterer Forschungen In meiner 1997 erstmals erschienenen und 2011 unverändert neu aufgeleg‐ ten Edition konnten 405 zeitgenössisch unpublizierte, seit dem 1. Septem‐ ber 1939 schriftlich niedergelegte Anordnungen des Diktators textlich er‐

3 Die Debatte wird zusammengefasst bei Manfred Funke, Starker oder schwacher Diktator? Hitlers Herrschaft und die Deutschen. Ein Essay, 1989. Enrico Syring, In‐ tentionalisten und Strukturalisten. Von einem noch immer ausstehenden Dialog, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse/Rainer Zitelmann (Hg.), Die Schatten der Vergangen‐ heit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus, 1990, S. 169-194. Der Be‐ griff „schwacher Diktator“ stammt von dem verstorbenen Historiker Hans Momm‐ sen.

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fasst und wiedergegeben werden. Diese Zahl hat sich seitdem durch sieben Neufunde minimal erhöht; zu beachten sind ferner mehrere nach Existenz und Inhalt zweifelsfrei belegte, aber textlich nicht auffindbare Weisun‐ gen.4 Die Edition ergänzt in einem ganz erheblichen Ausmaß die 245 Di‐ rektiven mit Hitlers Unterschrift, die im gleichen Zeitraum im Reichsge‐ setzblatt bzw. – in einem einzigen Fall – im Reichshaushalts- und Besol‐ dungsblatt abgedruckt wurden. Bei beiden Kategorien, mit den sieben Neuentdeckungen also 657 Anordnungen, sind militärische Operationsbe‐ fehle5 ebenso wenig mitgezählt wie individuelle Rechtsakte des Staats‐ oberhauptes (Ernennungen, Beförderungen, Ordensverleihungen usw.), ausgenommen in jenen Fällen, wenn mit einer Ernennung zugleich eine neue Behörde, Dienststelle oder dergleichen geschaffen wurde. Die ledig‐ lich auf einzelne Personen zugeschnittenen Rechtshandlungen gehen in die Abertausende, während es mir aber darauf ankam, die Normen mit

4 Martin Moll (Hg.), „Führer-Erlasse“ 1939-1945. Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrie‐ ges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Be‐ satzungspolitik und Militärverwaltung, 1997, unveränderte Neuausgabe 2011. Vgl. darüber hinaus Arno Buschmann, Nationalsozialistische Weltanschauung und Ge‐ setzgebung 1933-1945. Band II: Dokumentation einer Entwicklung, 2000. Neu ent‐ deckt wurden seit 1997: Führererlaß über die Ausübung des Gnadenrechts, 3.9.1939. Bundesarchiv Berlin (künftig: BArch), R 43 II/645, Blatt 85, sowie: Füh‐ rererlaß über die Ausübung des Gnadenrechts in Beamtensachen, 2.10.1939. BArch R 43 II/645, Blatt 92. Beide abgedruckt bei Friedrich Hartmannsgruber (Bearb.), Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler 1933-1945. Band VI: 1939, 2012, S. 537 f. bzw. S. 604. Erlaß des Führers über die Wiedereintragung getilgter Strafre‐ gistervermerke wegen Landesverrats, 16.1.1942. BArch R 43 II/1536, Blatt 60. (Zwei) Erlasse des Führers ohne Titel, betreffend Ermächtigung für Lammers zur Verfügung über die im Haushalt des Führers und Reichskanzlers ausgebrachten Mittel a) zu besonderen repräsentativen Aufgaben, b) zu allgemeinen Zwecken, 16.1.1942. BArch R 43 II/974 a, Blatt 7. Erlaß des Führers über die Errichtung ei‐ nes Münzkabinetts in Linz (Donau), 30.9.1942. BArch R 43 II/1650, Blatt 29 f. Er‐ laß des Führers betreffend die Übertragung der Befugnis zu Gnadenerweisen gegen‐ über Angehörigen der Waffen-SS hinsichtlich der fürsorge- und versorgungsrechtli‐ chen Folgen aus strafgerichtlichen Entscheidungen und Disziplinarbestrafungen auf den Reichsführer-SS, 23.10.1942. BArch R 43 II/1205 a, Blatt 87. Hinweise nach Peter Keller/Hauke Marahrens (Bearb.), Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler 1933-1945. Band IX: 1942, 2018, S. 1002 f., 1034, 1038. 5 Diese finden sich bei Walther Hubatsch (Hg.), Hitlers Weisungen für die Kriegfüh‐ rung 1939-1945. Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht, 21983.

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einem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit zu ermitteln.6 Mit einiger Berechtigung kann man nämlich davon ausgehen, dass in ihnen die typi‐ sche Amtstätigkeit eines Staats- und Regierungschefs ihren Niederschlag findet, die sich in unserem Fall auf die Bereiche Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungsherrschaft und Militärverwaltung konzentriert. Es handelt sich ausnahmslos um schriftlich niedergelegte und von Hitler eigenhändig un‐ terzeichnete Anordnungen, die nicht zu verwechseln sind mit mündlich geäußerten Willensbekundungen, die von dienstbeflissenen Helfern und Sekretären als „Führerwille“ an präsumtive Adressaten weitergeleitet wur‐ den. Es versteht sich, dass in einem größeren Betrachtungsrahmen diese für Hitler typische, der Rechtsetzung gleich- oder doch nahekommende Form der mündlichen Befehlserteilung ebenfalls zu berücksichtigen ist. Der Historiker stößt hier jedoch auf schier unüberwindliche methodische und quellenbedingte Probleme, so dass es sinnvoll erscheint, sich hier le‐ diglich mit den schriftlichen Direktiven zu befassen, bei denen derartige Schwierigkeiten (Was hat Hitler wirklich geäußert?) nicht bestehen. Der „Führerwille“ als Rechtsquelle Für die zeitgenössische Rechtswissenschaft7 war es selbstverständlich, dass neben dem Gesetz – verstanden als Umsetzung von „Plan und Wille des Führers“ – und dem Gewohnheitsrecht die mannigfaltigen Manifesta‐ tionen des „Führerwillens“ zu den Rechtsquellen zu zählen waren. Freilich begegnete diese Auffassung kaum lösbaren Abgrenzungsproblemen: „Es läßt sich weder jedes Gespräch und jede Kundmachung des Führers als Rechtsquelle bezeichnen, noch andererseits die Möglichkeit, bestimmten Führeräußerungen diese Eigenschaft zuzuerkennen, schlechthin bestrei‐ ten“, so urteilte Ende 1935 der Präsident des Oberlandesgerichtes Ham‐

6 Auf die überaus komplexe Abgrenzungsproblematik kann an dieser Stelle nicht ein‐ gegangen werden. Die ausführlich erörterten Kriterien bei Moll, „Führer-Erlasse“ (Anm. 4), S. 35-42 werden hier übernommen. 7 Zum Hintergrund vgl. Bernd Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronju‐ risten im Dritten Reich, 1988. Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, 1985. Rudolf Echterhölter, Das öffentliche Recht im nationalsozialistischen Staat, 1970. Michael Stolleis, Geschichte des öf‐ fentlichen Rechts in Deutschland. Band 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissen‐ schaft in Republik und Diktatur 1914-1945, 1999. Horst Dreier, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, 2001.

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burg, Curt Rothenberger.8 Über die in Betracht kommenden Formen der Artikulation des „Führerwillens“ wurde unausgesetzt und lebhaft debat‐ tiert. Während die einen sogar Hitler-Reden als Quellen neuen Rechts re‐ zipierten und ohne Weiteres „Verfassungsentscheidungen“ in Form einer Reichstagsrede für möglich hielten9, da der „Führerwille“ formenimmun sei10, pochten andere darauf, auch im nationalsozialistischen Staat müsse sich dieser Wille gewisser Formen bedienen, um rechtswirksam zu wer‐ den. Von dieser Seite wurde insbesondere an dem rechtsstaatlichen Erfor‐ dernis der öffentlichen Verlautbarung von Normen festgehalten, ohne frei‐ lich die während des Krieges gängige, dem entgegenstehende Praxis be‐ einflussen zu können.11 Die Debatte hielt bis in die Schlussphase des Re‐ gimes an und zeitigte letzten Endes wenig mehr als das banale Ergebnis, dass es eine Geheimvorschrift im eigentlichen Wortsinn per definitionem nicht geben könne: „Den davon unmittelbar Betroffenen kundgemacht werden muß sie ja in jedem Fall, wenn sie wirken will.“12 Ohne jeden Wi‐ derspruch wurde hingenommen, dass Hitler selbst die Frage seiner Stell‐ vertretung und Nachfolge post mortem in einer Reichstagsrede am Tag des

8 Curt Rothenberger, Die Rechtsquellen im neuen Staat, in: Deutsche Juristen-Zei‐ tung 1936, S. 22-24, Zitate S. 22. 9 Hans Peter Ipsen, Zur Organisation der zivilen Reichsverteidigung, in: Reichsver‐ waltungsblatt 1940, S. 21-26, Zitat S. 24. 10 Beispielsweise Werner Best, Die deutsche Polizei, 21941, S. 18. Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 21939, S. 236 f., 242, 252 f. 11 Werner Weber, Führererlaß und Führerverordnung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1942, S. 101-137. Bemerkenswert ist etwa folgende, einem weit verbreiteten Standardwerk des als regimefreundlich geltenden Staatsrechtlers Otto Koellreutter entnommene Passage: „Diese Formen, wie die des Gesetzes und der Verordnung, haben ihren Eigenwert. Deshalb wirkt im nationalsozialistischen Rechtsstaat nicht jede Willensäußerung der Führung als Gesetz. Sondern, um als Gesetz wirksam zu sein, muß der Führerwille sich auch in die Form des Gesetzes kleiden.“ Otto Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht. Ein Grundriß, 31938, S. 15. Vgl. auch ebd., S. 57, 178 f. Besonders weit geht Charlotte Dieckmann, Der Vorbehalt des Führerwillens und der Vorbehalt des Gesetzes im nationalsozialisti‐ schen Verfassungsrecht, 1937, S. 34: „Eine nicht formell verkündete Äußerung des Führers, z.B. die Führerrede, ist daher keine verbindliche Anordnung, deren Befol‐ gung erzwungen werden könnte.“ 12 Walter Mallmann, Die Verkündung von Rechtsvorschriften, in: Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht 1944, S. 47-49, Zitat S. 48.

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Kriegsausbruchs mündlich (!) regelte.13 Erst im Juni 1941, nach dem Eng‐ land-Flug des bisherigen zweiten Ersatzkandidaten Rudolf Heß, wurde die notwendig gewordene Neufassung schriftlich, allerdings geheim vorge‐ nommen.14 Je länger desto mehr wurden die Schwierigkeiten beklagt, die aus dem Vorhandensein zahlreicher unveröffentlichter Anordnungen resultierten. Darunter befanden sich für das gesamte zivile Leben grundlegende Direk‐ tiven wie etwa der Führer-Erlass über die Arbeitspflicht der deutschen Be‐ völkerung vom Januar 1943.15 Untere Verwaltungsbehörden waren häufig über den genauen Wortlaut neuer Weisungen nicht informiert; wurden sie in Kenntnis gesetzt, so durfte die Rechtsgrundlage ihres Handelns gegen‐ über der Bevölkerung etwa in Bescheiden nicht offengelegt werden.16 Auffällig ist jedenfalls der deutliche Anstieg unpublizierter Direktiven, die nur 1939 und 1940 hinter den veröffentlichten lagen; 1945 wurden von 30 Führer-Anordnungen nur mehr zwei veröffentlicht.17

13 Huber erblickte in der Erklärung zwar kein Gesetz, sprach ihr aber dennoch „die verbindliche Kraft eines Rechtssatzes“ zu, da sie gehörig kundgemacht worden sei. Der Sache nach handle es sich „um eines der wichtigsten Verfassungsgesetze des nationalsozialistischen Reiches“. Ernst Rudolf Huber, Reichsgewalt und Reichsführung im Kriege, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1941, S. 530-579, Zitat S. 542. 14 Erlaß des Führers über die Stellvertretung des Führers, 29.6.1941. Erlaß des Füh‐ rers über die Nachfolge des Führers, 29.6.1941. Beide abgedruckt bei Moll, „Füh‐ rer-Erlasse“ (Anm. 4), S. 180 f. 15 Erlaß des Führers über den umfassenden Einsatz von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung, 13.1.1943. Gedruckt bei Moll, „Führer-Erlasse“ (Anm. 4), S. 311-313. 16 Derartige Klagen finden sich etwa in einem Aktenvermerk der Reichskanzlei vom 9.4.1943. BArch R 43 II/695 a, Blatt 71. 17 Verordnung des Führers zum Schutz der Sammlung von Kleidern und Ausrüs‐ tungsgegenständen für die Wehrmacht und den Deutschen Volkssturm, 10.1.1945. RGBl. 1945 I, S. 5. Verordnung über die Einführung eines Tieffliegervernichtungs‐ abzeichens, 12.1.1945. RGBl. 1945 I, S. 23.

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Verhältnis publizierter (dunkelgrau) zu unpublizierten  (hellgrau) Führer‐Anordnungen nach Jahren (ohne militärische  Operationsbefehle)

100 80 60 40 20 0 1940

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Ohne die hierdurch verursachte Konfusion zu unterschätzen, muss doch davor gewarnt werden, sie als Indiz einer völligen Auflösung und Lahmle‐ gung des Staatsapparates zu deuten. Die Praxis zeigt vielmehr, dass die Berufung auf einen Führerbefehl oder – wie es hinsichtlich unveröffent‐ lichter Hitler-Erlasse hieß – auf eine erteilte „besondere Ermächtigung“ vollauf genügte, um das gewünschte Verhalten der Rechtsunterworfenen herbeizuführen. In den Kriegsjahren war das seit mehreren Jahren auf Be‐ fehl und Gehorsam basierende Herrschaftssystem hinreichend eingespielt, um das Problem einer wahren Flut unpublizierter Normen – unter denen die Führer-Erlasse ja nur die Spitze des Eisbergs darstellen – zu bewälti‐ gen. Im Übrigen wies der Geheimhaltungsgrad von Fall zu Fall eine be‐ trächtliche Bandbreite auf. Manche im Reichsgesetzblatt nicht abgedruck‐ ten Erlasse waren den NS-Staatsrechtlern offenbar so bekannt, dass deren ausführliche Kommentierung in juristischen Fachzeitschriften einer Publi‐ kation nahekam.18 Man muss ferner bedenken, dass die Empfänger be‐ gehrter Führer-Ermächtigungen zumeist nichts Eiligeres zu tun hatten, als ihre neuen Vollmachten allen möglichen und unmöglichen Dienststellen

18 Als Beispiel vgl. die ausführliche Wiedergabe der geheimen Führer-Erlasse vom 17.7.1941 und 22.7.1941 über die Einführung der Zivilverwaltung in den neu be‐ setzten Ostgebieten bei Ludwig Losacker, Aufbau der Verwaltung im neuen Di‐ strikt Galizien, in: Deutsche Verwaltung 1942, S. 5 f. Der Erlass vom 22.7.1941 war sogar als „Geheime Kommandosache“ eingestuft. Die Erlass-Texte bei Moll, „Führer-Erlasse“ (Anm. 4), S. 189-192.

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abschriftlich zuzuleiten. Demgegenüber finden sich in den Akten aber auch Belege dafür, dass sich fallweise sogar die Reichskanzlei auf die peinliche Suche nach dem Text eines neuen Führer-Erlasses begeben musste.19 Zustandekommen der Führer-Erlasse Im Prinzip sowie nach Hitlers wiederholt bekundetem Willen sollten Er‐ lass-Entwürfe ausschließlich über die Reichskanzlei sowie – für den Be‐ reich der NSDAP – über die Partei-Kanzlei unter Martin Bormann an den Diktator herangetragen werden, um sicherzustellen, dass das jeweilige Vorhaben mit allen in Betracht kommenden Instanzen vorab akkordiert worden war.20 Für die Einhaltung dieses Verfahrens hatten ReichskanzleiChef Hans-Heinrich Lammers und Bormann durch ihre Mitzeichnung des Entwurfs die Verantwortung zu übernehmen. Es lag allerdings in der Natur von Hitlers Regierungsstil, seinem Aufenthalt in den von der Hauptstadt weit entfernten Hauptquartieren und den dort ausgewählten Paladinen ge‐ währten Audienzen, dass immer wieder versucht wurde, den Diktator in einem günstigen Augenblick mit einem nur angeblich unterschriftsreifen Entwurf zu überrumpeln. Wurde dieser „Überfallsweg“, wie ihn die Reichskanzlei treffend bezeichnete, beschritten, brach in der Folge ebenso prompt wie regelmäßig ein Sturm der Entrüstung bei den Übergangenen aus, so dass die Angelegenheit Hitler sehr zu dessen Ärger erneut vorge‐ tragen werden musste.21 Entgegen manchen historischen Darstellungen, die das Machtgerangel der NS-Elite und ihre rüden Methoden im Buhlen 19 Über die von Hitler am 22.3.1944 unterzeichnete Anordnung über die Durchfüh‐ rung des Bahnbaus in Norwegen hielt der Chef der Reichskanzlei, Lammers, noch am 19.4.1944 in einem Aktenvermerk fest: „Sowohl ich als auch Reichsleiter Bor‐ mann erklärten, daß uns von dieser Führerweisung nichts bekannt sei.“ BArch R 43 II/1472 a, Blatt 127. In diesem Akt auch der weitere Schriftverkehr, mit dem die Reichskanzlei bei Rüstungsminister Albert Speer eine Abschrift der Weisung erbitten musste, die sie mit Schreiben vom 9.5.1944 erhielt. 20 Verfügung Hitlers, 26.9.1943. Abdruck bei Moll, „Führer-Erlasse“ (Anm. 4), S. 360. Erlaß des Führers über die Beteiligung des Reichsministers und Chefs der Reichskanzlei bei der Vorbereitung von Entscheidungen des Führers, 1.4.1944. Abdruck bei Moll, „Führer-Erlasse“ (Anm. 4), S. 406. 21 Entwurf eines Schreibens Lammersʼ an Reichsarbeitsführer Konstantin Hierl, 20.7.1941. BArch R 43 II/518 a, Blatt 125-128. Vgl. das Rundschreiben Lammersʼ an die Obersten Reichsbehörden mit dem Betreff „Vorbereitung von Verordnun‐

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um die Führergunst krass überzeichnen, zeigt eine sorgfältige Analyse des Zustandekommens sämtlicher Führer-Erlasse, dass in den meisten Fällen das vorgeschriebene Verfahren eingehalten wurde; Ausnahmen bestätigen hier nur die Regel. Welche Materien regelten die Führer-Erlasse? Wie lassen sich nun die erwähnten 657 Anordnungen formal und thema‐ tisch gliedern? Noch am wenigsten Probleme bereiten die insgesamt 72 während des Krieges im Namen der gesamten Reichsregierung bzw. in ei‐ nigen ganz wenigen Fällen vom Reichstag verabschiedeten Gesetze, die sich ausnahmslos im Reichsgesetzblatt finden. Ab 1943 verschwinden die nominellen Gemeinschaftsakte des Kabinetts, das seit 1938 nicht mehr zu‐ sammengetreten war und Gesetzesvorhaben daher nicht mehr in Beratun‐ gen, sondern im Umlaufverfahren erledigte, nahezu völlig zugunsten der auf Hitlers Person zugeschnittenen Rechtsakte. Verwirrend ist zunächst deren äußeres Erscheinungsbild, treten sie doch als Erlass, Verfügung, An‐ ordnung, Verordnung oder Befehl des Führers bzw. des Führers und Reichskanzlers auf. In nicht wenigen Fällen fehlt überhaupt jegliche Über‐ schrift. Vergeblich bemühten sich die zeitgenössische Rechtswissenschaft und die Bürokratie um eine klare Abgrenzung und Systematisierung. Einem sachkundigen Interpreten blieb schließlich nichts Anderes übrig als das Eingeständnis, man dürfe nicht in jedes Detail dieses „bunten Bildes“ einen Sinn hineinlegen.22 Diese Deutung hat bei allen Zügen der Hilflosig‐ keit immerhin das Argument für sich, dass sie den „Führerwillen“ als real existierende Rechtsquelle in den Blick nimmt – und dazu gehörte nun ein‐ mal die unüberwindliche Abneigung des Diktators gegen alles, was ihm als formaljuristische Spitzfindigkeit und als Einschränkung seiner absolu‐ ten Herrschaft erschien.

gen, Erlassen und Anordnungen des Führers“ vom 14.9.1943 sowie die in diesem Schreiben in Erinnerung gerufenen, inhaltlich gleichgelagerten Mahnungen seit 1939. BArch R 43 II/695, Blatt 56-59 und R 43 II/1648, Blatt 97 f. Weitere Nach‐ weise bei Moll, „Führer-Erlasse“ (Anm. 4), S. 32-34. 22 Weber, Führererlaß (Anm. 11), S. 123.

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Eine grobe inhaltliche Gliederung der Direktiven kann vier Kategorien unterscheiden: 1) Verfassungsgestaltende 2) Organisationserlasse 3) Militärisch-administrative bzw. typisch kriegsbedingte Verordnungen, darunter sehr viele über die Stiftung und Änderung von Orden und Eh‐ renzeichen 4) Sonstige Rechtsetzungsakte. Eine Sonderstellung nehmen jene Direktiven ein, in denen die Hoheitsbe‐ fugnisse einer okkupierenden Macht zum Ausdruck kommen. Da diese Er‐ lasse und Verordnungen auf der Basis des Kriegsvölkerrechts verkündet wurden, gehen sie über die geschriebene oder ungeschriebene Verfassung des Reiches hinaus. Als Beispiele genannt seien die beiden Erlasse vom Frühjahr 1940 über die Ausübung der Regierungsbefugnisse in Norwegen und den Niederlanden.23 Betrachtet man die genannten vier Kategorien näher, so fällt auf, dass die Erlasse meist verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte regel‐ ten, extrem selten hingegen Fragen des Straf- und Zivilrechts. Für die Form des Führer-Erlasses eigneten sich im staatlichen Bereich höchstper‐ sönliche Vorhaben und Interessen Hitlers, wie z.B. die zahlreichen Anord‐ nungen über die bauliche Neugestaltung deutscher Städte belegen. Hierher zählt auch manche Skurrilität, die einem konkreten Anlass oder einer mo‐ mentanen Eingebung Hitlers entsprungen war, etwa der Führer-Erlass vom 19.6.1942 „über die Beisetzung hervorragender Deutscher“ oder der Er‐ lass „zur Sicherung des Preisstandes“ vom 14.3.1942, mit dem Hitler auf Meldungen über Inflationsängste in der Bevölkerung reagierte.24 Des Wei‐ teren eignete sich für eine Regelung durch Führer-Erlass oder -Verordnung die Verteilung der Kompetenzen bzw. die Organisation des Behördenappa‐ rats, insbesondere dann, wenn es sich um neu errichtete Behörden handel‐ te, häufig in eroberten Gebieten, die selbst wiederum der verwaltungs‐ mäßigen Neugliederung bedurften.

23 RGBl. 1940 I, S. 677 und 778. 24 Moll, „Führer-Erlasse“ (Anm. 4), S. 257 f. und 240 f.

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Hitlers Rechtsakte, die NS-Ideologie und die Sachzwänge Sieht man von der Materie des Städtebaus – bekanntlich eine der Lieb‐ lingsbeschäftigungen Hitlers – ab, so finden sich kaum Anordnungen, die als unmittelbare Umsetzung ideologischer Zielvorgaben des Nationalso‐ zialismus gedeutet werden können. Sofern man nicht die Regelungen für die Verwaltung und Ausbeutung besetzter Gebiete (auch) als Schritte zur Verwirklichung langfristiger Lebensraumziele verstehen will, stehen die Direktiven durch die Bank unter dem Diktat kriegsbedingter Erfordernis‐ se. Besonders anschaulich lässt sich diese anlassbezogene, reagierende Rechtsetzung in der Wirtschafts- und Rüstungspolitik mit ihrer laufenden Umreihung der Prioritäten, der Schaffung immer neuer Bevollmächtigter und Sonderprogramme usw. verfolgen. Gleiches gilt für die Behebung der sich mehrenden Luftkriegsschäden.25 Hier handelte es sich je länger desto mehr um ein Krisenmanagement, um nicht zu sagen um ein System hekti‐ scher, sich bald gegenseitig blockierender Aushilfen, nicht um die Verfol‐ gung ideologiegeleiteter Endziele. Auch im Kleinen folgte die Befehlsgebung dem Gebot der Behebung von Problemen, die der Krieg unerwartet aufgeworfen hatte, nicht ohne manche skurrile Note: Auf die zahlreichen Auto- und Flugzeugunfälle führender Persönlichkeiten seines Reiches reagierte Hitler mit einer Art Sicherheits-Erlass, der u.a. bereits den Einbau von Tempomaten in Auto‐ mobile sowie Höchstgeschwindigkeiten vorschrieb. Die steigende Zahl der Gefallenen gab Ende 1941 den Anstoß für eine umstrittene Anord‐ nung, mit der neben der Ferntrauung die nachträgliche Eheschließung Ge‐ fallener, die sogenannte Leichentrauung oder Stahlhelmehe, legalisiert wurde.26 Hitler griff in diesem Fall nicht nur in Grundprinzipien abendlän‐ discher Rechtstraditionen ein, indem er die Abgabe einer bindenden Wil‐ lenserklärung des Bräutigams unter bestimmten Voraussetzungen für ent‐ behrlich erklärte. Er änderte zudem das geltende reichsdeutsche Eherecht

25 Vgl. als Beispiel: Erlaß des Führers über die Errichtung einer Reichsinspektion der zivilen Luftkriegsmaßnahmen, 21.12.1943. Abdruck bei Moll, „Führer-Erlasse“ (Anm. 4), S. 380 f. 26 Verfügung V 14/1944, 27.10.1944. Abdruck bei Moll, „Führer-Erlasse“ (Anm. 4), S. 463 f. Erlaß des Führers, 6.11.1941. Abdruck ebd., S. 205. Vgl. zum Hinter‐ grund Cornelia Essner/Edouard Conte, „Fernehe“, „Leichentrauung“ und „Toten‐ scheidung“. Metamorphosen des Eherechts im Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1996, S. 201-227.

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durch einen Geheim-Erlass – ein mehr als sonderbarer Vorgang, über des‐ sen Gültigkeit bzw. über dessen Rechtswirkungen noch Jahre nach Kriegs‐ ende diskutiert wurde. In Österreich wurden selbst nach der Befreiung des Landes von der nationalsozialistischen Herrschaft Eheschließungen auf der Grundlage dieses Führer-Erlasses vollzogen, dessen Wirksamkeit die österreichische Bundesregierung erst mit dem 30. Oktober 1945 enden ließ.27 So absurd uns derlei Regelungen anmuten, so ist doch nicht zu verken‐ nen, dass sie wenigstens partiell ihren Ursprung in einer uns heute unbe‐ greiflichen Problemlage hatten. Typischerweise engagierte sich Hitler in jenen Bereichen, deren Normierung nicht nur ein aktuelles Bedürfnis be‐ friedigte, sondern die mit Hitlers persönlichen Marotten und seinem Welt‐ bild korrespondierten. Als typisches Beispiel sei hier eine Anordnung von Anfang 1940 genannt, der zufolge die von Hitler romantisch verklärten Büchsen-Wilderer einer Bestrafung entgehen sollten; sie durften ihre Schießkünste vielmehr an der Front unter Beweis stellen. Zu erwähnen ist ferner ein geheimer Erlass „zur Reinhaltung von SS und Polizei“ vom Herbst 1941, der die Todesstrafe für homosexuelle Verfehlungen einführ‐ te.28 Es zeigt sich schon anhand dieser wenigen Beispiele, dass die oberste Staatsführung unterschiedslos mit wichtigsten Angelegenheiten wie mit Bagatellen befasst war. So viel Energie und Akribie für Nebensächlichkei‐ ten aufgewendet wurden: Es mangelte keineswegs an generellen Direkti‐ ven, mit denen der Diktator die Richtlinien der Politik bestimmte. Ebenso aussagekräftig wie eine Analyse des Inhalts der Direktiven ist eine Betrachtung jener Materien, die aus welchen Gründen immer nicht geregelt wurden bzw. deren Behandlung nicht in die Setzung einer Norm mündete. Weit gediehene Vorarbeiten für Erlasse, mit denen Hitler im Krieg von seinen zivilen Regierungsaufgaben entlastet werden sollte, ver‐ staubten in den Aktenschränken, weil der Diktator sich letztlich weigerte,

27 Fritz Schwind, Die Eheschließungen nach dem Tode, zugleich ein Beitrag zu den Fragen der Rechtsüberleitung, in: Österreichische Juristen-Zeitung 1949, S. 609-611 (mit falscher Datierung des Erlasses, aber interessanten Hinweisen zur zeitgenössischen Rechtsansicht und zur Judikatur des österreichischen Obersten Gerichtshofs). 28 Verfügung V 2/1940, 16.1.1940. Abdruck bei Moll, „Führer-Erlasse“ (Anm. 4), S. 108 f. Erlaß des Führers zur Reinhaltung von SS und Polizei, 15.11.1941. Ebd., S. 206 f.

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sie zu unterzeichnen.29 Man mag dieses Verhalten mit dem Streben nach ungeschmälertem Machterhalt erklären. Genauso rigoros fiel jedoch die Ablehnung aus, wenn die vorgelegten Entwürfe Hitlers politisch-ideologi‐ schen Intentionen zuwiderliefen, wie die Vorschläge zur Autonomiege‐ währung an die von deutschen Truppen besetzten baltischen Staaten Ende 1943.30 Auch Reichsostminister Alfred Rosenbergs jahrelang verfochtenes Anliegen, von seinem Führer zum Beauftragten für die NS-Weltanschau‐ ung ernannt zu werden, blieb trotz fix und fertiger Erlass-Entwürfe ein un‐ erfüllter Traum.31 In Summe zeigt sich, dass Hitler bis weit in den Krieg hinein legislative Vorhaben in einem weit höheren Umfang selbst entschieden hat, als früher angenommen wurde. Der Rückzug in die Hauptquartiere und die intensive Befassung mit militärischen Angelegenheiten rechtfertigen also ebenso wenig wie der unübersehbare physische und psychische Verfall des Dikta‐ tors den Schluss, Hitler habe sich allen zivilen Regierungsgeschäften ent‐ zogen oder ihm seien gar die Zügel seines Reiches aus den Händen geglit‐ ten.32 Es ist folglich davor zu warnen, Hitlers Regierungsstil als noch ex‐ zentrischer darzustellen, als er es ohnedies war, und den Verfall der Schriftlichkeit zu verabsolutieren. Immerhin unterzeichnete der Diktator – ohne Berücksichtigung der militärischen Befehle – im Durchschnitt der Kriegsjahre jeden dritten Tag ein Gesetz, einen Führer-Erlass, eine Anord‐ nung etc. Bemerkenswerterweise blieb deren Zahl, umgerechnet auf Mo‐ nate, bis in die Schlussphase des Krieges hinein ziemlich konstant.

29 Vgl. die Akten in BArch R 43 II/1213 a sowie R 43 II/958, Blatt 32 f. Einer Auf‐ zeichnung von Lammers vom 16.1.1942 zufolge verweigerte Hitler die Unter‐ zeichnung der vorgelegten Entwürfe zweier Erlasse „über seine vorübergehende Entlastung von Regierungs- und Verwaltungsgeschäften“, denn: „Er hält beide Er‐ lasse nicht für nötig“. Ebd., Blatt 31. Vgl. auch Moll, „Führer-Erlasse“ (Anm. 4), S. 20 und 31. 30 Die Erlass-Entwürfe in BArch R 6/67 und in NS 19/3894. Zu Hitlers Ablehnung vgl. Lammersʼ Schreiben an Heinrich Himmler, 14.11.1943. BArch NS 19/3894, Blatt 47. 31 Umfangreicher, jedoch ergebnisloser Schriftwechsel 1939/40 in BArch R 43 II/ 1200. 32 So aber das Urteil von Hans Mommsen, Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Gerhard Hirschfeld/Lothar Kettenacker (Hg.), Der „Führer‐ staat“. Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, 1981, S. 43-72, hier S. 43.

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Ist schon die bloße Zahl der Führer-Erlasse nicht dazu geeignet, die These vom schwachen Diktator, der in seinen Residenzen für niemand mehr zu sprechen gewesen sei, zu erhärten, so belegen die Akten über das Zustan‐ dekommen der Anordnungen den herausragenden Anteil Hitlers. Selbstre‐ dend wurden Initiativen oft von außen an ihn herangetragen. Er prüfte aber die vorgelegten Entwürfe sehr sorgfältig und ließ sie – auch wenn die beteiligten Ressorts darüber bereits Einvernehmen erzielt hatten – so lange umarbeiten, bis sie seinen Absichten exakt entsprachen. Ging der Impuls für eine Regelung von Hitler selbst aus, so genügte ein schlichtes Führer‐ wort, um den Behördenapparat bis in die kommunalen Amtsstuben herab in hektische Aktivität zu versetzen, an deren Ende oft schon nach wenigen Tagen ein unterschriftsreifer Entwurfstext vorgelegt wurde. Hitlers Stellung im Urteil der zeitgenössischen Rechtswissenschaft Die zeitgenössische Rechtswissenschaft hat die auffälligen staatsrechtli‐ chen Wandlungen, wie sie insbesondere nach dem Tod von Reichspräsi‐ dent Paul von Hindenburg Anfang August 1934 einsetzten, mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und sich im Zuge dessen auch der faktischen

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Änderungen scharfsinnig angenommen.33 Hitler nahm seit dieser Zeit ein selbstständiges, nicht auf einer Ermächtigung durch übergeordnete Nor‐ men beruhendes Verordnungsrecht in Anspruch, ohne dass hierfür bis zum Ende des Dritten Reichs jemals eine formal gültige Grundlage geschaffen wurde.34 Kein einziger Führer-Erlass berief sich je auf das Notverord‐ nungsrecht des Reichspräsidenten (dessen Funktionen und Befugnisse Hit‐ ler im August 1934 übernommen hatte) gemäß Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung.35 Die Führer-Erlasse entwickelten sich je länger desto mehr geradezu zum verfassungspolitischen Normalzustand, obwohl bis 1945 darauf verzichtet wurde, dem Diktator auch formal die gesamte oder gar die alleinige Legislative zu übertragen. Mit dem Ermächtigungs‐ gesetz vom März 1933 und dem Neuaufbaugesetz von 1934 war die Be‐ fugnis zur – auch verfassungsändernden – Gesetzgebung ja lediglich der Reichsregierung als Kollegialorgan übertragen worden.36 Daneben behielt der Reichstag bis 1945 seine legislativen Kompetenzen nominell bei, von denen er bis April 1942, als er zum letzten Mal zusammentrat, noch spora‐

33 Ernst Rudolf Huber, Das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1935, S. 202-229. Max Irlinger, Die Rechte des Führers und Reichskanzlers als Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches nach dem Gesetz vom 1. August 1934. Iur. Diss., Innsbruck 1939 (Druck 1939). Gottfried Neeße, Führergewalt. Die Entwicklung und Gestaltung der hoheitlichen Gewalt im Deutschen Reiche, 1940. 34 Huber unterscheidet ferner zwischen abhängigen und selbstständigen Führer-Ver‐ ordnungen und schlägt für Letztere den Begriff „gesetzesgleicher Führerent‐ scheid“ vor, da ein solcher anstelle eines Gesetzes und gleichrangig mit diesem er‐ gehe. Huber, Verfassungsrecht (Anm. 10), S. 252. Anderer Auffassung ist Dieck‐ mann, Vorbehalt (Anm. 11), S. 57: „Die Führerverordnung hat selbst nur minderen Rang gegenüber dem förmlichen Gesetz“. Die Autorin fügt allerdings hinzu, die‐ ser Umstand sei praktisch ohne Belang, da eine etwa fehlende Übereinstimmung zwischen Verordnung und Gesetz von den Gerichten ohnedies nicht nachgeprüft werden könne. 35 Nach Irlinger, Rechte (Anm. 33), S. 55 war der Diktaturartikel „nicht mehr von praktischer Bedeutung“. Vgl. auch ebd., S. 67, wonach „von einer Diktaturgewalt des Führers nicht gesprochen werden kann“. 36 RGBl. 1933 I, S. 141. RGBl. 1934 I, S. 75. Vgl. Lothar Gruchmann, Die „Reichs‐ regierung“ im „Führerstaat“. Stellung und Funktion des Kabinetts im nationalso‐ zialistischen Herrschaftssystem, in: Günther Doeker/Winfried Steffani (Hg.), Klas‐ senjustiz und Pluralismus. Festgabe für Ernst Fraenkel zum 75. Geburtstag am 26. Dezember 1973, 1973, S. 187-223.

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disch Gebrauch machen durfte.37 Hinzu kam die 1938 letztmalig prakti‐ zierte Rechtsetzung im Wege einer Volksabstimmung.38 Das vielbeschworene Führerprinzip wurde mithin niemals verbindlich kodifiziert. Die staatsrechtliche Situation bei Kriegsausbruch war vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass sich die Legislative gerade nicht in Hitlers Hand befand und der Diktator nicht einmal als Gesetzgeber neben den hierzu autorisierten Institutionen: Reichstag, Reichsregierung und Reichs‐ volk tätig werden konnte – theoretisch, wie sich versteht. Hitler dachte freilich nicht daran, sich zumal während des Krieges auf das ihm nach Hindenburgs Tod allein zugefallene Notverordnungsrecht beschränken zu lassen, verkörperten seine Erlasse doch exakt jene Form der Rechtsetzung, die es dem Diktator ermöglichte, seinen Willen ohne Weiteres zur Geltung zu bringen. Im Mai 1942 teilte er dem Reichsminister und Chef der Reichskanzlei Lammers mit, er wünsche „weder die Vorbereitung seiner in Frage stehenden Entscheidungen noch deren Form im voraus und allge‐ mein geregelt zu sehen, (er) möchte in dieser Hinsicht vielmehr völlig freie Hand haben.“39 So entstand bald eine erhebliche Diskrepanz zwischen der realen, im‐ mer mehr auf dem Instrument der Führer-Erlasse beruhenden Herrschafts‐ ausübung und dem geltenden Staatsrecht, die sich in der zweiten Kriegs‐ hälfte noch steigerte, als die Erlasse quantitativ weiter zunahmen und zu‐ gleich der Rückgriff auf die Regierungsgesetzgebung immer seltener zum Tragen kam. Symptomatisch für das Aufsaugen der Kompetenzen der üb‐ rigen legislativen Instanzen, die Hitler im Krieg gar nicht oder nur bei sel‐ tenen Gelegenheiten in Aktion treten ließ, ist der Umstand, dass das 1933 verabschiedete und 1937 sowie 1939 (vorzeitig, zwei Jahre vor Ablauf) für jeweils vier Jahre verlängerte Ermächtigungsgesetz im Mai 1943, als

37 Eberhard Jaeckel, Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltanschauung, 1986, S. 159 bietet eine Auflistung der wenigen noch vom Reichstag verabschiedeten Gesetze. Der letzte legislative Reichstagsakt war der „Beschluß des Großdeutschen Reichs‐ tags vom 26. April 1942“, der Hitler weitere Vollmachten, jedoch wiederum nicht die Legislative schlechthin übertrug. Bezeichnenderweise wurde zur Klarstellung der Machtverhältnisse vermerkt: „Im Auftrage des Führers wird dieser Beschluß hiermit verkündet“. RGBl. 1942 I, S. 247. 38 Otmar Jung, Plebiszit und Diktatur: die Volksabstimmungen der Nationalsozialis‐ ten. Die Fälle „Austritt aus dem Völkerbund“ (1933), „Staatsoberhaupt“ (1934) und „Anschluß Österreichs“ (1938), 1995. 39 Lammers an Keitel (abgezeichneter Entwurf), 15.5.1942. BArch R 43 II/958, Blatt 136.

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seine Geltungsdauer wiederum zu Ende ging, nicht durch einen neuerli‐ chen Reichstagsbeschluss, sondern durch einen Führer-Erlass verlängert wurde, diesmal auf unbestimmte Zeit.40 An diesem Beispiel lässt sich das klassische Muster einer auf die Errichtung einer Ein-Mann-Diktatur abzie‐ lenden Machtergreifung verfolgen: Die Kompetenzen, die ein ohnehin längst „uniformierter Reichstag“41 der Regierung, nicht etwa dem Kanzler allein befristet eingeräumt hatte, verlängerte sich der Diktator selbst für eine völlig undefinierte, beliebige Zeitspanne. An diesem Vorgang wurde schon für zeitgenössische Beobachter „die staatsrechtliche Wandlung, die sich bei uns in den letzten Jahren vielfach stillschweigend und ohne aus‐ drückliche Verlautbarung der Gesetzgebung vollzogen hat, ganz besonders deutlich.“42 Eine Deutung dieser Vorgänge als unbekümmerte Usurpation, die im Krieg zunehmend auf den in den Anfangsjahren des Regimes sorgsam ge‐ wahrten Schein des Rechts verzichten zu können glaubte, sieht sich frei‐ lich mit dem Umstand konfrontiert, dass die damalige Staatsrechtslehre nicht müde wurde, die Rechtmäßigkeit der legislativen Allmacht Hitlers zu betonen. Da diese für sie eine schiere Selbstverständlichkeit war, stellte sich das Problem in dieser Form im Grunde gar nicht.43 Die Diskrepanz der 1943 durch Führer-Erlass vorgenommenen Verlängerung des Ermäch‐ tigungsgesetzes zu den in den Vorkriegsjahren peinlich gewahrten Formen der Reichstagsgesetzgebung wurde mit der Formel aus dem Weg geräumt: „Ohne weiteres aber entspricht es unserer heutigen völkischen Verfassung, wenn der Führer die von ihm für nötig gehaltenen Anordnungen selbst trifft.“44 Die Juristen übernahmen kritiklos die vom Staatssekretär im

40 Erlaß des Führers über die Regierungsgesetzgebung, 10.5.1943. RGBl. 1943 I, S. 295. Der Erlass bestimmte, die Reichsregierung habe ihre Befugnisse „auch weiterhin auszuüben“. Es war eine bloße Leerformel, wenn sich Hitler eine Bestä‐ tigung durch den Reichstag vorbehielt. 41 So der treffende Titel der instruktiven Studie von Peter Hubert, Uniformierter Reichstag. Die Geschichte der Pseudo-Volksvertretung 1933-1945, 1992. 42 Gerhard Wacke, Staatsrechtliche Wandlung. Gedanken zur Verlängerung der Re‐ gierungsgesetzgebung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1944, S. 273-303, Zitat S. 274. 43 Für Scheuner stand Hitler die ungeschriebene Kompetenz zur Rechtsetzung zu; er brauche „sich auf keine gesetzliche Ermächtigung, die ja von ihm selbst ausgeht, zu stützen.“ Ulrich Scheuner, Die deutsche Staatsführung im Kriege, in: Deutsche Rechtswissenschaft 1940, S. 1-43, hier S. 33 f. 44 Wacke, Wandlung (Anm. 42), S. 279.

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Reichsinnenministerium, Wilhelm Stuckart, vorgegebene Definition des nationalsozialistischen Staates: „Das Wesen des Führerstaates besteht ein‐ mal darin, daß an der Spitze ein Führer steht, dessen Geist und Wille den Staat beseelt und gestaltet, ihm sein Gepräge gibt.“ Hitler und die von ihm verkörperte Einheit von Legislative und vollziehender Gewalt bedurften keiner expliziten Übertragung von Kompetenzen in einem rechtsförmigen Verfahren, geschweige denn eines solchen auf der Grundlage der Weima‐ rer Reichsverfassung – schon wenige Jahre nach 1933 genügte die „Ge‐ wohnheitsrecht schaffende Übung der letzten Jahre“, um Hitler „tatsäch‐ lich und auch rechtlich“ zur „Quelle unseres Rechts“ zu machen.45 Die von der Staatsführung gelieferte Interpretation, die mit dem Rück‐ griff auf angebliches Gewohnheitsrecht im Grunde nur die Fakten zur Le‐ gitimation ihrer selbst heranzog, wurde von den Verfassungsjuristen willig aufgenommen und weiterentwickelt. Die meisten Autoren machten aller‐ dings um das glatte Parkett der stringenten Herleitung von Hitlers unum‐ schränkter Gewalt einen weiten Bogen und konzentrierten ihre Bemühun‐ gen vielmehr auf eine Beschreibung des Ist-Zustandes, an dem es ohnedies wenig zu deuteln gab. Denn der Wegfall des Montesquieu’schen Prinzips der Gewaltentrennung verstand sich ebenso von selbst46 wie die Aussage, dass die Volksvertretung (i.e. der Reichstag) im Dritten Reich „ihre bishe‐ rige Bedeutung vollkommen eingebüßt“ hatte und ein richterliches Recht auf Prüfung der legislativen Akte der Staatsführung geradezu denkunmög‐ lich geworden war.47 Die Vorstellung, die Reichstagsabgeordneten und die Reichsminister, die allesamt einen Treueeid auf den Führer hatten schwö‐ ren müssen, könnten dem Diktator den Gehorsam und einer seiner Geset‐

45 Wilhelm Stuckart, Nationalsozialismus und Staatsrecht, in: Hans-Heinrich Lam‐ mers/Hans Pfundtner (Hg.), Grundlagen, Aufbau und Wirtschaftsordnung des na‐ tionalsozialistischen Staates. 1. Band, Gruppe 2, Lieferung 15, o.J., S. 1-46, hier S. 28 und 30. 46 „Daß für sie im Führerstaat kein Raum ist, bedarf heute gewiß keines besonderen Nachweises mehr.“ Kurt Emig, Die Anordnung als Mittel nationalsozialistischer Rechtsetzung und Rechtsgestaltung, in: Deutsche Rechtswissenschaft 1942, S. 205-227, hier S. 211. 47 Otto Koellreutter, Der Aufbau des deutschen Führerstaates, in: Lammers/Pfundt‐ ner, Grundlagen (Anm. 45), 1. Band, Gruppe 2, Lieferung 18, o.J., S. 1-63, hier S. 47-49.

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zesinitiativen die Zustimmung verweigern, galt als wirklichkeitsferne Ge‐ dankenspielerei.48 Nach einhelliger Auffassung der Rechtsgelehrten trat sogar ein von Hit‐ ler dem Volk zur Abstimmung unterbreitetes Gesetz im Fall seiner Ableh‐ nung dennoch in Kraft. Denn nur der Führer war „der Träger des völki‐ schen Willens“; dieser von ihm repräsentierte „wahre Wille des Volkes“ war von den subjektiven „Meinungen, Bestrebungen und Befürchtungen der jeweils lebenden Volksangehörigen“ klar zu trennen und konnte „nie‐ mals dadurch mit Sicherheit erkannt werden, daß man die lebenden Volks‐ angehörigen abstimmen läßt“.49 In Summe gelangte die Staatsrechtslehre zum Postulat einer durch keinerlei „Sicherungen und Kontrollen, durch autonome Schutzbereiche und wohlerworbene Einzelrechte“ gehemmten, absoluten Führergewalt, die als „frei und unabhängig, ausschließlich und unbeschränkt“ definiert wurde. Hitler und nur er allein galt entgegen dem ersten Anschein als alleiniger Gesetzgeber im Deutschen Reich.50 Es war daher völlig in sein Belieben gestellt und letztlich nicht von Belang, ob die Rechtsetzung im Wege der Gesetzgebung (formal durch Reichstag oder Reichsregierung) oder durch Führer-Erlass vorgenommen wurde. Extrem zugespitzt wurde überhaupt jegliche Unterscheidung zwischen stärkeren und schwächeren Normen, zwischen Verfassungsrecht und gewöhnlichem Recht, zwischen öffentlichem und Privatrecht in Abrede gestellt, denn:

48 Die Degradierung von Reichstag und Reichsregierung zu bloßen Befehlsempfän‐ gern wurde schon Jahre vor dem Krieg unverblümt ausgesprochen. Vgl. Huber, Verfassungsrecht (Anm. 10), S. 205-207. Günther Küchenhoff, Artikel „Reichsre‐ gierung“ und „Reichstag“, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft. Band VIII, 1937, S. 620-625 bzw. S. 628-630. 49 Huber, Verfassungsrecht (Anm. 10), S. 195 (Zitate). Zur Volksabstimmung ebd., S. 199-203. Typisch etwa die Formulierung: „Falls das Volk der beabsichtigten Maßnahme nicht zustimmt, kann sie doch durchgeführt werden.“ Ebd., S. 202. Gleichlautend Irlinger, Rechte (Anm. 33), S. 25 und 40. 50 Huber, Verfassungsrecht (Anm. 10), S. 230 (Zitate), 237. Vgl. ebd., S. 248: „Es gibt nur noch einerlei Gesetz, das auf die Hoheitsgewalt des Führers zurückgeht.“ Vgl. Ernst Rudolf Huber, Der Führer als Gesetzgeber, in: Deutsches Recht 1939, S. 275-278, hier S. 276: „es gibt nur einen Gesetzgeber; in allen seinen Erschei‐ nungsformen ist das Gesetz der Entscheid des Führers.“ Dieckmann, Vorbehalt (Anm. 11), S. 29: „An die Stelle des Gesetzes als oberstem Willen im Staat ist der Wille des Führers im nationalsozialistischen Staat getreten.“

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„Der Wille der Führung, gleich in welcher Form er zum Ausdruck gelangt (…) schafft Recht und ändert bisher geltendes Recht ab.“51 Radikalen SS-Juristen ging freilich selbst diese Verabsolutierung von Hitlers Stellung im Führerstaat nicht weit genug, denn sie erblickten darin nationalsozialistisch verbrämte Reste des überlebten Staats- und Verfas‐ sungsverständnisses der Weimarer Zeit sowie ein Wiederaufleben des an‐ geblich überwundenen „Zwiespalt(es) zwischen dem aktionsunfähigen Volk einerseits und dem rechts- und handlungsfähigen Staat anderer‐ seits.“52 Diese Richtung wandte sich dagegen, den Führer als Staatsorgan mit wie umfassenden Kompetenzen auch immer zu begreifen, denn da‐ durch gehe „das Eigentümliche des Führers für das Recht verloren.“ Des Führers Amt sei seinem Ursprung nach kein Staatsamt, ja es könne über‐ haupt nicht als Amt im herkömmlichen staatsrechtlichen Sinn verstanden werden. Mit der Annahme, des Führers Handeln sei weit mehr als bloße Ausübung der Staatsgewalt, wurde Hitlers Stellung im Staatsgefüge des Dritten Reiches nicht mehr juristisch umschrieben, sondern in mythische Bereiche entrückt.53 Ohne sich mit der Herleitung allzu große Mühe zu geben, konstruierte diese Schule die Führergewalt als ein rational nicht fassbares Kompositum aus germanisch-heidnischer Volksgenossenschaft, mittelalterlich-feudalem Kaisertum und preußischen Tugenden von Auto‐ rität und Verantwortung.54

51 Best, Polizei (Anm. 10), S. 16. Vgl. auch ebd., S. 15, wo es heißt, staatliches Han‐ deln sei die Herausstellung des Führerwillens „durch Einzelbefehl oder durch die Setzung oder die Billigung von Regeln, die ohne Rücksicht auf die Form verbind‐ liches ‚Recht‘ sind“. 52 Reinhard Höhn, Volk und Verfassung, in: Deutsche Rechtswissenschaft 1937, S. 193-218, Zitat S. 194 (im Original gesperrt). Der Aufsatz ist eine Rezension der 1. Auflage von Hubers „Verfassungsrecht“ bzw. in den Worten Höhns „eine Aus‐ einandersetzung mit der Verfassungsdarstellung E.R. Hubers.“ Ebd., S. 193. 53 Ebd., S. 204 (Zitat), 206-212. Zur Umschreibung des Führeramtes vgl. auch Ru‐ dolf Kluge/Heinrich Krüger, Verfassung und Verwaltung im Dritten Reich, 1937, S. 50-53. 54 Exemplarisch Günther Küchenhoff, Artikel „Führergrundsatz, Führertum“, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft. Band VIII, 1937, S. 197-203, hier S. 202. Reinhard Höhn, Der Führerbegriff im Staatsrecht, in: Deutsches Recht 1935, S. 296-301, hier S. 297. Friedrich Kühn, Zur Entwicklung des Führergedan‐ kens, in: Deutsches Recht 1935, S. 202-204, hier S. 203. Eine gute Zusammenfas‐ sung der zeitgenössischen Diskussion bei Alisa Schaefer, Führergewalt statt Ge‐ waltenteilung, in: Böckenförde, Staatsrecht (Anm. 7), S. 89-105.

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Derlei radikalen, zudem in ihrer konkreten Gestalt schwer fassbaren Gedanken mochte die Mehrheit der Rechtsgelehrten nicht folgen; sie argu‐ mentierte überwiegend in klassischen juristischen Kategorien, um aber im Ergebnis zu dem gleichen Endpunkt zu gelangen. Ihr ging es erkennbar darum, die während des Krieges durch das exzessiv gehandhabte Instru‐ ment der Legislative mittels Führer-Erlassen geschaffene Verwirrung auf‐ zulösen. Nachdem sich die Fälle gehäuft hatten, dass vom Reichstag oder der Reichsregierung verabschiedete Gesetze durch einfachen Erlass aufge‐ hoben oder abgeändert worden waren, erklärte die Lehre die gesamte Fra‐ ge der Derogation von Normen für obsolet. Eine verbindliche Linie zu fin‐ den war umso dringlicher, als Hitler in seinen Anordnungen pauschal und unbekümmert ältere Normen – egal, ob sie von ihm selbst gesetzt worden waren oder nicht – derogierte, sofern sie der Neuregelung entgegenstan‐ den, wobei in zahlreichen Fällen auf eine exakte Bezeichnung der außer Kraft gesetzten Bestimmungen zugunsten von Generalklauseln verzichtet wurde.55 Schon vor dem Krieg galt es als communis opinio, dass das ge‐ samte Gesetzgebungsrecht in seinen unterschiedlichen Formen bloß einen integrierenden Bestandteil der Führergewalt darstelle. Seit 1939 war je‐ doch von einer Überlegenheit des Führer-Erlasses gegenüber dem Gesetz auszugehen, da „ein Reichstags- sowohl wie ein Regierungsgesetz (…) nur auf Grund besonderer Anordnung des Führers ergehen“ konnten.56 Wie rapide die „staatsrechtliche Wandlung“ im Krieg voranschritt, er‐ hellt aus der nun unumwunden vertretenen Auffassung, der Führer sei der alleinige Träger der Rechtschöpfung, der von Fall zu Fall Reichstag und Reichsregierung daran beteilige oder auch nicht. Da diese beiden legislati‐ ven Organe jedoch jedes Initiativrecht verloren hätten und für sie oben‐ drein eine Pflicht zur Akklamation gegenüber dem Führer bestehe, könn‐ ten sie nur mehr auf Grund einer speziellen Delegation durch den Diktator tätig werden. Den im Krieg ergangenen Gesetzen könne folglich nicht mehr „der Charakter einer ursprünglichen Rechtsquelle im reinen Sinne beigemessen werden.“ Das Gesetz sank damit auf die Stufe der früheren Rechtsverordnungen herab.57 Der qualitative Bedeutungsverlust wurde er‐

55 Gebräuchlich waren etwa Formeln wie: „Dieser Verfügung entgegenstehende Be‐ stimmungen hebe ich hiermit auf“ oder „Entgegenstehende Befehle sind aufgeho‐ ben“. Nachweise bei Moll, „Führer-Erlasse“ (Anm. 4), S. 59. 56 Wacke, Wandlung (Anm. 42), S. 280 f. Für den Vorrang der Führer-Erlasse in Zweifelsfällen auch Weber, Führererlaß (Anm. 11), S. 134. 57 Wacke, Wandlung (Anm. 42), S. 282-285, Zitat S. 283.

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gänzt und verstärkt durch den Rückgang der noch nominell von Reichsre‐ gierung oder Reichstag verabschiedeten Gesetze gegenüber den reinen Führer-Akten; ab 1942 war die Zahl der Gesetze bis zur quantitativen Be‐ deutungslosigkeit abgesunken, 1945 wurde kein einziges mehr verabschie‐ det. Von den 657 von Hitler während des Krieges unterschriebenen Rechtsakten entfielen lediglich 72 (11%) auf Gesetze. Interessanterweise hatte Hitler allerdings kurz nach Kriegsausbruch sei‐ ne Meinung kundgetan, es sei zweckmäßig, der Reichsregierung gewisse gesetzgeberische Aufgaben vorzubehalten: „In jedem Fall sollen die Rechtsnormen, die wegen ihrer Bedeutung die Unterschrift des Führers tragen müssen, in der Form eines Reichsgesetzes durch die Reichsregie‐ rung verabschiedet werden.“58 In der Praxis war davon kaum die Rede. Zwar ist es bemerkenswert, dass man mit dem letzten Regierungsgesetz vom September 1944 an der Regelung einer Materie, des Wehrrechts, fest‐ hielt, die traditionell dem Gesetz vorbehalten war.59 Andererseits wurde in der Schlussphase des Krieges erstmals darauf verzichtet, wie in den Jahren zuvor ein Gesetz über den Reichshaushalt zu verabschieden. Wenngleich zuzugeben ist, dass der Rückgang der Gesetze nicht ausschließlich auf den steigenden Anteil der Führer-Erlasse zurückging, sondern ebenso auf die legislative Tätigkeit des bei Kriegsbeginn eingesetzten Ministerrates für die Reichsverteidigung unter dem Vorsitz von Hermann Göring60, so kann doch nicht übersehen werden, dass die Staatsrechtslehre die dramatischen Verschiebungen der verfassungsrechtlichen Verhältnisse zutreffend be‐ schrieben hat. In der Bevorzugung der Führer-Erlasse und -Verordnungen gegenüber den Gesetzen erblickte sie nicht nur den sinnfälligen Ausdruck der schöpferischen Fortentwicklung der Verfassung, sondern die „auch äu‐ ßerlich erkennbare Konzentration der Führergewalt, einer betonten Perso‐

58 Lammers an die Mitglieder des Ministerrates für die Reichsverteidigung und die Herren Reichsminister, 20.2.1940. BArch R 43 II/1648, Blatt 146. Darin Wieder‐ gabe von Willensäußerungen Hitlers. 59 Erstes Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Wehrgesetzes, 24.9.1944. RGBl. 1944 I, S. 317. 60 Erlaß des Führers über die Bildung eines Ministerrats für die Reichsverteidigung, 30.8.1939. RGBl. 1939 I, S. 1539. Ausführlich hierzu Dieter Rebentisch, Führer‐ staat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwal‐ tungspolitik 1939-1945, 1989, S. 117-132. Vgl. bereits Wacke, Wandlung (Anm. 42), S. 289. Scheuner, Staatsführung (Anm. 43), S. 36 räumt dem Minister‐ rat gar das Recht ein, Gesetze und Führeranordnungen abzuändern.

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nalität der Rechtsetzungsakte und sonstiger Führerakte“.61 Ebenso korrekt wurde erfasst, dass der weitgehende Wegfall der Mitzeichnung der FührerErlasse durch die jeweils ressortzuständigen Fachminister, an deren Stelle die Kanzlei-Chefs Lammers, Bormann und für die Wehrmacht General‐ feldmarschall Wilhelm Keitel, seit 1938 Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, mitzeichneten, auf die nicht nur räumlich zu verstehende Ent‐ fernung des Diktators und seiner Gehilfen vom Kollegium der Reichsre‐ gierung hindeutete. Ja, der Regierung wurde sogar bescheinigt, sie bilde „kein Kollegium, keine organisatorische Einheit mehr.“62 Der Führer mit seinen Kanzleien mutierte somit zu einem Verfassungsorgan sui generis, das nicht aus dem Amt des Reichskanzlers, seit August 1934 fusioniert mit jenem des Staatsoberhaupts bzw. des Reichspräsidenten, abzuleiten war.63 Vor diesem Hintergrund wird man auch Hitlers wechselnde Titula‐ tur in seinen Anordnungen (Führer, Führer und Reichskanzler, Führer und Oberster Befehlshaber der Wehrmacht) zu verstehen haben, die den Juris‐ ten manche Nuss zu knacken aufgab und die trotz verschiedener Anläufe der Reichskanzlei bis weit in den Krieg hinein nicht vereinheitlicht wur‐ de.64 Zusammenfassung Eine umfassende Analyse von Theorie und Praxis des NS‑Herrschaftssys‐ tems ist auf Basis der Führer-Legislative allein ebenso wenig möglich, wie sie ohne Berücksichtigung dieses wichtigen Instruments des völkischen Führerstaats zu plausiblen Ergebnissen gelangen kann. In ihrer berechtig‐ ten Kritik an der Verherrlichung des Führerabsolutismus durch die zeitge‐

61 Heinrich Korte, Führererlaß und Führerverordnung als Mittel der Führergewalt, in: Deutsche Verwaltung 1942, S. 473-476 und 498-501, Zitat S. 498. 62 Scheuner, Staatsführung (Anm. 43), S. 26 f. Zu den Wandlungen bei den Mit- bzw. Gegenzeichnungen bereits Werner Weber, Kontrasignatur und Mitzeichnung bei Akten des Staatsoberhauptes, in: Jahrbuch der Akademie für Deutsches Recht 1937, S. 184-198. 63 Wacke, Wandlung (Anm. 42), S. 293 f. Weber, Führererlaß (Anm. 11), S. 126 f. und 136 f. Huber, Reichsgewalt (Anm. 13), S. 555. 64 Weber, Führererlaß (Anm. 11), S. 124-126. Korte, Führererlaß (Anm. 61), S. 500 f. Rundschreiben Lammersʼ, 26.6.1943. BArch NS 6/346. Umfangreicher Schrift‐ wechsel mit dem Betreff „Bezeichnung: Der Führer“ in BArch R 43 II/958, Blatt 158 ff.

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nössischen Rechtsgelehrten hat die historische Forschung lange überse‐ hen, dass die juristische Literatur der Jahre 1933 bis 1945 neben allen Glo‐ rifizierungen des Unrechtsstaates auch eine Beschreibung des verfassungs‐ rechtlichen Ist-Zustandes des Dritten Reiches beinhaltet, die es ernst zu nehmen und anhand der Quellen zu überprüfen gilt. Gerade dann, wenn man den Staatsrechtlern jener Jahre Liebedienerei und Feigheit vor den Thronen der Mächtigen zum Vorwurf macht, muss man davon ausgehen, dass die Macht tatsächlich an jener Stelle konzentriert war, an die sich die Unterwerfungsgesten richteten. Jedes andere Postulat, insbesondere jenes vom „schwachen Diktator“, würde zu absurden Resultaten führen. Kon‐ frontiert man die juristischen Kommentare mit den aus den Quellen ableit‐ baren Befunden, so lässt sich zumindest keine nennenswerte Diskrepanz erkennen. Dieser Befund ist umso erstaunlicher, als im Krieg ein erheblicher Teil der Führer-Legislative formal der Kenntnis der Öffentlichkeit entzogen war. Zweifellos bilden die Führer-Erlasse einen zentralen Bestandteil des vom NS-Regime errichteten, auf permanenter Ausnahmegesetzgebung be‐ ruhenden Staatswesens. Mit Sicherheit kann keine Rede davon sein, der Diktator habe lediglich wie ein Notar andernorts getroffene Entscheidun‐ gen formal sanktioniert. In Theorie und Praxis war Hitler die letzte und höchste Instanz, deren Entschlüsse bis in die allerletzten Kriegstage hinein nicht ernsthaft in Frage gestellt wurden. Die von einem Teil der Ge‐ schichtswissenschaft vertretene Deutung Hitlers als Diktator monokrati‐ schen Zuschnitts findet somit durch unsere rechtsgeschichtliche Fragestel‐ lung ihre volle Bestätigung.65 Eine Analyse der Führer-Erlasse bietet je‐ denfalls keinerlei Stütze für die auf eine – gewollte oder ungewollte – Exkulpation Hitlers hinauslaufende These, dass Großdeutsche Reich sei im Krieg ein „Führerstaat ohne Führer“ gewesen.66 Das Gegenteil trifft zu.

65 Zu diesem Urteil gelangt auf breiter Quellengrundlage z.B. Rebentisch, Führer‐ staat (Anm. 60), S. 411. Vgl. auch die Literaturzusammenstellung bei Moll, „Füh‐ rer-Erlasse“ (Anm. 4), S. 34 f. Auch die seither erschienenen Hitlerbiografien be‐ stätigen diesen Befund. Vgl. zuletzt Ian Kershaw, Hitler. 1936-1945. Nemesis, 2001. Peter Longerich, Hitler. Biografie, 2015. 66 David Irving, Hitlers Krieg. Die Siege 1939-1942, 1985, S. 10. Diese These des Außenseiters der NS-Forschung und Holocaust-Leugners wird merkwürdigerweise von einem Teil der sogenannten revisionistischen Hitler-Forschung mitgetragen. Vgl. etwa Mommsen, Stellung (Anm. 32).

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‚Volksgemeinschaft‘ als Kampfbegriff. Die NS-Ideologie als Maßstab für richterliches Handeln und Entscheiden Christine Schoenmakers

Einleitung: ‚Volksgemeinschaft‘ exklusiv Seit etwa zwei Jahrzehnten erforscht die Geschichtswissenschaft den Bei‐ trag der ‚einfachen Deutschen‘ zu Stabilität und Radikalisierung des NSRegimes. Die Einbeziehung ihrer Perspektive soll den gesellschaftlichen Ursprüngen des Holocaust, insbesondere den Interessen und Intentionen der Zeitgenossen des ‚Dritten Reichs‘ auf den Grund gehen. Dabei rückt das propagandistisch aufgeladene Leitbild der NS-‚Volksgemeinschaft‘ wieder stärker ins Blickfeld: Denn das systemkonforme Verhalten und Handeln breiter Bevölkerungskreise resultierte nicht nur aus Zwang, son‐ dern der bereitwillige Glaube an das für die meisten Deutschen positiv be‐ setzte Ziel einer rassisch einheitlichen Gemeinschaft ebnete Dissens ein und legitimierte die NS‑Herrschaft mit ihrer Praxis der radikalen sozialen Ausgrenzung.1 Dabei war ‚Volksgemeinschaft‘ kein originär von den Nationalsozialis‐ ten erfundener Begriff, sondern hatte sich bereits am Ende des 19. Jahr‐ hunderts zum Kampfbegriff verschiedener politischer Richtungen und Zielstellungen entwickelt. Doch erst Hitler und seine Nationalsozialisti‐ sche Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) hatten mit ihrer Form von ‚Volks‐ gemeinschaft‘ auch auf breiter Basis Erfolg. Zum einen vermochten sie damit an klassische Sehnsüchte wie der kollektiven Suche nach ‚Sicher‐ heit‘ anzuknüpfen: Hitler als charismatischer, autoritärer ‚Führer‘ wurde zum Hoffnungsträger vieler Menschen in den Jahren des erlebten Chaos in

1 Vgl. Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, 2005, S. 113-114; Ders., Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, erweiterte Neuausgabe, 72002, S. 96-135; siehe hier auch Andreas Wirsching, Die deutsche „Mehrheitsgesellschaft“ und die Etablierung des NS-Re‐ gimes im Jahre 1933, in: Ders. (Hg.), Das Jahr 1933. Die nationalsozialistische Machteroberung und die deutsche Gesellschaft, 2009, S. 9-29.

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der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Weimarer Republik. Zum ande‐ ren gelang es der nationalsozialistischen Propaganda, eine angebliche Be‐ drohung der NS-‚Volksgemeinschaft‘ und der mit ihr verknüpften Verhei‐ ßung von einer ‚besseren Zukunft‘ durch jedwede ‚Fremde‘ als real er‐ scheinen zu lassen. Auf Grundlage eines vor allem antisemitischen Kon‐ senses entstand ein sozialer Ausgrenzungsprozess, an dem weite Teile der deutschen Gesellschaft bereitwillig partizipierten und der sich in seiner Dynamik immer mehr radikalisierte.2 Die Idee der ‚Volksgemeinschaft‘ war Mittelpunkt und Leitbegriff der antiliberalen und antidemokratischen Ideologie des NS-Regimes.3 Wer Mitglied sein durfte, war bestimmt durch die individuelle biologische Her‐ kunft sowie durch die unbedingte Loyalität zu ‚Führer‘ und Partei. Aller‐ dings blieb die Idee einer nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaft‘ va‐ ge, ihre Grenzen weitgehend undefiniert. Daher fanden sich Anknüpfungs‐ punkte für unterschiedliche Gruppierungen und politische Gesinnungen – ‚Volksgemeinschaft‘ wirkte als sozialer Kitt nivellierend auf gesellschaft‐ liche Unterschiede, schaffte den Rahmen für die ideologische Ausrichtung der Deutschen auf den Nationalsozialismus und mithin ihre Mobilisierung für den Krieg.4 Obwohl die NS-‚Volksgemeinschaft‘ letztlich eine Utopie blieb, wurden ihre Verheißungen im Alltag der Zeitgenossen wirkmächtig.

2 Vgl. John Connelly, The Uses of ‘Volksgemeinschaft’. Letters to the NSDAP Kreisleitung Eisenach, 1939-1940, in: Scheila Fitzpatrick / Robert Gellately (Hg.), Accusatory Practices. Denunciation in Modern European History, 1789-1989, 1997, S. 153-184, hier S. 182. 3 Vgl. Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Aus‐ merze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, 1982, S. 255 sowie HansWalter Schmuhl, Rassismus unter den Bedingungen charismatischer Herrschaft. Zum Übergang von der Verfolgung zur Vernichtung gesellschaftlicher Minderheiten im Dritten Reich, in: Karl-Dietrich Bracher / Manfred Funke et al. (Hg.), Deutsch‐ land 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, 1993, S. 182-197, hier S. 186. 4 Vgl. Frank Bajohr, Von der Täterforschung zur Debatte um die ‚Volksgemein‐ schaft’. Anmerkungen zur Historiographie der NS-Zeit seit den 1990er Jahren, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hg.), 1960-2010. 50 Jahre For‐ schungsstelle, 2011, S. 55-68, hier S. 65; Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919-1939, 2007, S. 361; Ders., Charisma und Volksgemeinschaft, in: Zeithistorische For‐ schungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, Nr. 1, 2004, S. 3. Siehe auch Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, 2005, S. 15 sowie generell David Schoenbaum, Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches, 1999 und Thomas Mergel, Führer,

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‚Volksgemeinschaft‘ als Kampfbegriff

Denn allein die Hoffnung, ‚Volksgemeinschaft‘ und damit eine ‚bessere Zukunft‘ irgendwann zu realisieren, verhalf der nationalsozialistischen Po‐ litik zu einer breiten Akzeptanz. Die auf die Zukunft ausgerichtete, unvollkommene ‚Volksgemein‐ schaft‘ war damit bereits in der Gegenwart zum Maßstab geworden, an dem sich der Einzelne im täglichen Leben zu messen hatte. Wie sie letzt‐ lich umgesetzt werden sollte, das allerdings bestimmten ‚Führer‘ und Par‐ tei maßgeblich. Mit dem Argument der noch zu erreichenden ‚Volksge‐ meinschaft‘ als sozialem Versprechen besaß die NS-Führung ein macht‐ volles Instrument, um Zwangs- oder Verfolgungsmaßnahmen im vehe‐ menten Kampf gegen den so genannten ‚inneren Feind‘ zu rechtfertigen und an vielen verschiedenen Fronten mit aller Härte durchzusetzen. Eine davon war bis zuletzt das Recht und die Rechtsprechung. 1. Recht und ‚Volksgemeinschaft‘: Permanenter Kampf gegen alles ‚Fremde‘ Die nationalsozialistische Weltanschauung und damit auch die Idee der NS-‚Volksgemeinschaft‘ waren Voraussetzung und Hintergrund für die Abschaffung des Rechtsstaats. Dessen Zerstörung begann jedoch nicht erst mit Hitlers Machtantritt. Denn schon in den 1920er Jahren hatte völki‐ sches Denken Einzug in die Rechtswissenschaft gehalten und sollte die Praxis bis 1945 prägen. Als höchste Rechtsquelle galt seit 1933 die For‐ mel „Volk gleich Staat gleich Führerwille“. Brauchte es vorher erfüllte Tatbestände und damit eine akkurate Beweiswürdigung, um eine Tat abzu‐ urteilen, konnten Gerichte nun jedwede Entscheidung mit Generalklauseln wie dem ‚gesunden Volksempfinden‘ begründen. Während das neue, na‐ tionalsozialistische Recht vorrangig auf solchen ‚überpositiven Werten‘ beruhte, sollten die Juristen altes Recht im Lichte des neuen Staates ausle‐ gen oder gar nicht anwenden. Grundlage der Rechtsprechung blieb dabei das Gesetz. Wie es jedoch angewandt wurde, das bestimmten die Richter nach eigenem Ermessen – ab 1933 in sich häufenden Fällen unter Berück‐ sichtigung der NS-Weltanschauung. Gerichtsverfahren dienten damit nicht mehr der Wahrheitsfindung, sondern der Durchsetzung politischer Macht. Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918-1936, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918-1939, 2005, S. 91-128.

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Recht und Gesetz waren zwischen 1933 und 1945 auf zwei Dinge aus‐ gerichtet: Auf den scheinbaren Erhalt von ‚Rasse‘ und ‚Volk‘ sowie auf den Kampf gegen Kriminelle. Das bedeutete einerseits, dass nur Staatsan‐ gehörige des ‚Deutschen Reichs‘, die ihre Zugehörigkeit zur ‚arischen Rasse‘ nachweisen konnten, einen vollgültigen Rechtsschutz genossen.5 Zum anderen hieß das aber auch, dass den Gemeinschaftsmitgliedern be‐ stimmte Pflichten auferlegt, ja ihre Rechte zugunsten des Schutzes der Ge‐ meinschaft (und damit des politischen Machtanspruchs des ‚Führers‘) ein‐ geschränkt wurden. Wenn ‚Volksgemeinschaft‘ der rechtliche Maßstab für das Handeln des Einzelnen war, so bedeutete die Nichterfüllung der ‚volksgenössischen Pflichten‘ einen ‚Treuebruch‘ gegenüber ‚Führer‘, Partei und letztlich der Gemeinschaft. Damit stellte das NS-Regime nicht nur politische Opposition unter Strafe, sondern auch nicht konforme Le‐ bensentwürfe unter Generalverdacht.6 Im Klartext: Jedwedes Verhalten, das den staatlich vorgegebenen Re‐ geln zuwider lief, konnte so zur Sanktion gebracht werden. Schnell sahen sich Regimekritiker und soziale Außenseiter als ‚Gemeinschaftsfremde‘ kriminalisiert und mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft bedroht. Trotz des Gleichheitsversprechens, das der Volksgemeinschaftsidee per se innewohnte, lag dem NS-Regime jedoch nichts ferner als die Vorstellung, alle Menschen seien gleich. Mittels Gesetzen verweigerte die Staatsfüh‐ rung der Bevölkerung das Recht auf Gleichheit ebenso radikal wie die Le‐ gitimität von Unterschieden und erhob die Aussonderung alles Andersarti‐ gen und Nicht-Konformen zum Programm.7 Juristen prägten dabei höchst wahrnehmbar das öffentliche Bild von ‚Volksgemeinschaft‘, indem sie die

5 Rechtlich verankert im „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.4.1933 (RGBl. 1933, Teil I, Nr. 34, S. 175-177) und im „Reichsbürgergesetz“ vom 15.9.1935 (RGBl. 1935, Teil I, Nr. 100, S. 1146). 6 Festgelegt durch die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ (Reichstagsbrandverordnung) vom 28.2.1933 (RGBl. 1933, Teil I, Nr. 17, S. 83), durch das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ (Ermächti‐ gungsgesetz) vom 24.3.1933 (RGBl. 1933, Teil I, Nr. 25, S. 141) sowie durch das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei“ (Heimtückegesetz) vom 20.12.1934 (RGBl. 1934, Teil I, Nr. 137, S. 1269). 7 Vgl. Dietmar Süß / Winfried Süß, Volksgemeinschaft und Vernichtungskrieg. Ge‐ sellschaft im nationalsozialistischen Deutschland, in: Dies. (Hg.): Das Dritte Reich, 2008, S. 79-100, hier S. 81-82.

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Grenzen der Gemeinschaft vor Gericht immer wieder neu verhandelten.8 Dabei entschieden sie nach elastischen Kriterien, was als ‚gemeinschafts‐ fremd‘ (und damit als potenziell kriminell und staatsgefährdend) galt. Das führte beispielsweise dazu, dass die Richter den Begriff des ‚politischen Feindes‘ sehr weit auslegten. Ein besonderes Merkmal der Justizpraxis im ‚Dritten Reich‘ war Ab‐ schreckung. Harte Strafen sollten die Gemeinschaftsmitglieder davon ab‐ halten, die durch das Regime vorgegebenen Grenzen zu überschreiten. Nicht umsonst wurde der Justiz die Rolle der „Erzieherin zur Volksge‐ meinschaft“9 zugeschrieben.10 Das Ziel war eindeutig: Die Durchsetzung politischer Macht durch den Ausschluss von politischen Gegnern bzw. die Erziehung der ‚Volksgenossen‘ zu Konformität. In Schnellverfahren ohne Möglichkeit der Rechtsmitteleinlegung wurden insbesondere in der Kriegszeit politische Delikte wie Hoch- oder Landesverrat, so genannte ‚Heimtücke‘ und Defätismus, aber auch das Abhören von ‚Feindsendern‘ und vieles mehr von einer Sondergerichtsbarkeit abgeurteilt. Doch auch vor den normalen Strafkammern setzte sich seit 1933 nationalsozialisti‐ sches Gedankengut durch. Damit war die Justiz neben Polizei und SS ein zentrales Instrument der Exklusion. Dabei eigneten sich insbesondere Strafverfahren nicht nur, um politische Opposition zu unterdrücken, sondern auch um das staatliche Handeln offiziell zu legitimieren und die öffentliche Meinung diesbezüg‐ lich zu mobilisieren oder gar zu manipulieren. Dazu gehörte maßgeblich die Rechtsprechung im Verhandlungssaal, wenn die Richter und Staatsan‐ wälte die Interessen des Volkes gegenüber von als ‚Volksschädlingen’ oder ‚Gemeinschaftsfremden’ kriminalisierten Angeklagten vertraten. Die Rolle der Justiz, mittels Normsetzung abweichendes Verhalten zu sanktio‐ nieren, wurde mit dem Leitbild der NS-‚Volksgemeinschaft‘ im Hinblick

8 Vgl. Claus Füllberg-Stolberg, Sozialer Tod – Bürgerlicher Tod – Finanztod. Fi‐ nanzverwaltung und Judenverfolgung im Nationalsozialismus, in: Katharina Sten‐ gel (Hg.), Vor der Vernichtung. Die staatliche Enteignung der Juden im National‐ sozialismus, 2007, S. 31-58, hier S. 31. 9 Vgl. Roland Freisler, Das Werden des Juristen im Dritten Reich, 1933; Curt Ro‐ thenberger, Der deutsche Richter, 1943. 10 Vgl. Otto Kirchheimer, Die Rechtsordnung des Nationalsozialismus, in: Redaktion Kritische Justiz (Hg.): Der Unrechts-Staat. Recht und Justiz im Nationalsozialis‐ mus, 21983, S. 9-23. Siehe auch Ders., Von der Republik zum Faschismus. Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung, (herausgegeben von Wolfgang Luthardt), 1976.

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auf die Abschaffung des Rechtsstaats und die Willkür gegen die eigene Bevölkerung radikal umgedeutet.11 1.1 Radikalisierung der Rechtsprechung I: Konflikte mit der Polizei Zum Schutz der ‚Volksgemeinschaft‘ wurden Polizei und Gerichte ab 1933 umfassend in Sachen Kriminalitätsbekämpfung und Strafverfolgung tätig. Seit 1935 diente das Strafrecht als wirksames Instrument zur Aus‐ schaltung politischer Gegner.12 Damit einher gingen zahlreiche fundamen‐ tale Eingriffe des Staates in die Gerichts- und Verfahrensordnungen, die dem Staatsanwalt gegenüber dem Richter deutlich mehr Macht einräum‐ ten. So konnte der Ankläger die richterliche Mitwirkung bei Erlass und Aufhebung von Haftbefehlen oder Durchsuchungen aushebeln und nun al‐ lein auf Grundlage der polizeilichen Ermittlungen entweder vor einem or‐ dentlichen Gericht oder auch vor einem Sondergericht Anklage erheben. Damit erhielten Gestapo und Kriminalpolizei einerseits spürbaren Einfluss auf die Hauptverhandlung. Zum anderen dienten Rechtsmittel, wie der au‐ ßerordentliche Einspruch oder die Nichtigkeitsbeschwerde, der Staatsan‐ waltschaft nicht selten, um unerwünschte Urteile, wie Freisprüche oder zu milde Strafen, zu korrigieren. Die Folge war, dass die Richter weitreichen‐ de Entscheidungskompetenzen an die weisungsgebundene Anklagebehör‐ de abgeben mussten.13 Weiterhin wurde die Entscheidungsfreiheit der Richter durch wachsen‐ de Spielräume von Kriminalpolizei und Gestapo eingeschränkt: So konnte die Polizei bereits unabhängig vom Vorliegen von Straftatbeständen ‚vor‐ beugenden‘ Freiheitsentzug anordnen, sollte sie die staatliche Ordnung ge‐

11 Vgl. Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechts‐ ordnung im Nationalsozialismus, 62005. 12 Vgl. Bremer Nachrichten vom 3.6.1935: „Die Aufgaben der deutschen Rechts‐ wahrer“, S. 1 sowie Völkischer Beobachter vom 19.8.1935: „Das deutsche Straf‐ recht – ein Damm gegen die Verderber unserer Zeit“, S. 1-2. Siehe auch Roland Freisler, Schutz des Volkes oder des Rechtsbrechers? Fesselung des Verbrechers oder des Richters? Einiges über das zweckmäßige Maß der Bindung des Richters an gesetzliche Straftatbestände, 1935, S. 13. 13 Vgl. Hinrich Rüping, Staatsanwaltschaft und Provinzialverwaltung. Aus den Ak‐ ten der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht Celle als höherer Reichsjus‐ tizbehörde, 1990, S. 127-148, hier besonders S. 133-137.

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fährdet sehen.14 Eine solche Praxis wurde mit der reichsweiten Zentrali‐ sierung der Politischen Polizei unter das Kommando von Reichsführer-SS Heinrich Himmler 1934 vereinheitlicht und ausgebaut.15 Das am 10. Fe‐ bruar 1936 erlassene „Gesetz über die Geheime Staatspolizei“16 ermäch‐ tigte die Gestapo zur Bekämpfung „aller staatsgefährlichen Bestrebungen im gesamten Staatsgebiet“ und verdrängte zusehends die fest umrissene, an Gesetze gebundene Gefahrenabwehr.17 Die nun im eigenen Ermessen der Behörden liegende Verfolgung politischer Gegner wurde zwei Jahre später durch den „Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ des Reichsinnenministers Wilhelm Frick vom 14. Dezember 193718 perfektio‐ niert und rechtfertigte fundamentale Eingriffe der Polizeibehörden in die Arbeit der Justiz. Die Radikalisierung der Rechtsprechung erfolgte daher auch vor dem Hintergrund zunehmender Kompetenzkonflikte zwischen Justiz und Poli‐ zei. Der Jurist Ernst Fraenkel hat das nationalsozialistische Deutschland im Zusammenhang mit der Verfolgung von Regimegegnern und anderen 14 Durch Verhängung der vorbeugenden Schutzhaft nahm die Polizei dem Richter die alleinige Entscheidung über den Freiheitsentzug aus der Hand, weiterhin ermög‐ lichte das „Gesetz über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe“ (Lex van der Lubbe) vom 29.3.1933 (RGBl. 1933, Teil I, Nr. 28, S. 151) die rückwir‐ kende Anwendung der „Reichstagsbrandverordnung“ und der darin enthaltenen Todesstrafe auch auf Taten, die vor Erlass der Verordnung zwischen Ende Januar und Februar 1933 begangen worden waren. (Vgl. Gerhard Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989, S. 48 und 73-75; Hans Wrobel, Der Deutsche Richterbund im Jahre 1933. Skizze eines Ablaufs, in: Kritische Justiz, 4 [1982], S. 323-347, hier S. 326 sowie Eduard Rabofsky, Verbor‐ gene Wurzeln der NS-Justiz. Strafrechtliche Rüstung für zwei Weltkriege, 1985, S. 71-72.) 15 Vgl. Werle, Justiz-Strafrecht, S. 483 (Fn. 14). Die Ernennung Himmlers zum Chef der deutschen Polizei erfolgte durch Führererlass am 17.6.1936. (RGBl. 1936, Teil I, Nr. 55, S. 487. Vgl. hierzu auch Karl-Leo Terhorst, Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeugungshaft im Dritten Reich, 1985, S. 43.) 16 PrGS. 1936, S. 21. 17 Vgl. Andreas Schwegel, Der Polizeibegriff im NS-Staat. Polizeirecht, juristische Publizistik und Judikative 1931-1944, 2005, S. 153. 18 Der Erlass stellte einen Maßnahmenkatalog zur planmäßigen und vorbeugenden polizeilichen Überwachung von potenziellen Straftätern dar. Auf Basis der „Ver‐ ordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ (siehe Fn. 6) war er ein Instrument zur Anwendung von Terror gegenüber jedwedem abweichenden Verhalten. Die Polizei konnte nun auch ohne richterlichen Beschluss verdächtige Personen jederzeit und unbegrenzt in Gewahrsam nehmen. (Vgl. Werle, JustizStrafrecht, S. 489-492 [Fn. 14].)

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missliebigen Personen als „Doppelstaat“ bezeichnet.19 Je mehr die Polizei Funktionen übernahm, die vorher im Bereich der Justiz gelegen hatten, desto mehr etablierte sich neben dem durch Recht und Gesetz verkörper‐ ten Normenstaat ein weitestgehend von legalen Rahmenbedingungen los‐ gelöster Maßnahmenstaat.20 Das führte unweigerlich zu Kompetenzstrei‐ tigkeiten und Machtkämpfen zwischen Polizei und Justiz, die sich zuse‐ hends radikalisierten.21 Auf den Punkt brachte dies der Chef der Deut‐ schen Polizei22 und Reichsführer-SS Heinrich Himmler selbst, als er im Jahr 1936 seine Wertschätzung für Recht und Gesetz so ausdrückte: „Was heißen hier Paragraphen? Was heißen hier Verordnungen? Was heißen hier festgesetzte Verhandlungsmaxime? Wenn ich auf irgendeine Art zum Ziele komme, meinem Volk zu helfen, so ist dies Recht im tiefsten göttlichen und moralischen Sinne.“23 Gegen solche Anmaßungen war die Justiz bestrebt, ihre Zuständigkei‐ ten weitestgehend zu bewahren und bei der Strafverfolgung wenigstens im Ansatz gesetzliche Vorschriften einzuhalten.24 Summa summarum ver‐ schärfte dies jedoch nur die Spannungen mit der Polizei und beschleunigte

19 Vgl. Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat. Recht und Justiz im ‚Dritten Reich’, 1984; Siehe hier auch Lothar Gruchmann, Die „rechtsprechende Gewalt“ im nationalso‐ zialistischen Herrschaftssystem. Eine rechtspolitisch-historische Betrachtung, in: Wolfgang Benz / Hans Buchheim / Hans Mommsen (Hg.), Der Nationalsozialis‐ mus. Studien zur Ideologie und Herrschaft, 1993, S. 78-103, hier S. 84-90. 20 Vgl. Schwegel, Polizeibegriff im NS-Staat, S. 313 (Fn. 17); Werle, Justiz-Straf‐ recht, S. 48-49 (Fn. 14); Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, 1988, S. 583-626 sowie 675-718; Rüping, Staatsanwaltschaft und Provinzialverwaltung, S. 109-126 (Fn. 13). 21 Siehe dazu Gruchmann, Justiz, ab S. 535 (Fn. 20). 22 Zur Verschmelzung von Polizei und SS siehe Friedrich Wilhelm, Die Polizei im NS-Staat. Die Geschichte ihrer Organisation im Überblick, 1997, S. 93-96 sowie Werle, Justiz-Strafrecht, S. 485-487 (Fn. 14). 23 Hans Frank / Heinrich Himmler / Werner Best u.a., Grundfragen der deutschen Polizei. Bericht über die konstituierende Sitzung des Ausschusses für Polizeirecht der Akademie für Deutsches Recht am 11. Oktober 1936, 1937, S. 14-15. 24 Vgl. Terhorst, Polizeiliche Überwachung, S. 160-166 (Fn. 15). Ausführlich bei Werle, Justiz-Strafrecht, S. 516-520 sowie 619-660 (Fn. 14). Mit Beginn des Zwei‐ ten Weltkriegs wurden die Machtbefugnisse der Polizei umfangreich erweitert: Mit Errichtung des Reichssicherheitshauptamts erfolgte 1939 die weitere Zentralisie‐ rung der Polizei, die nunmehr auch eine eigene Gerichtsbarkeit bekam. Mit Ein‐ satz der Sicherheitspolizei in den annektierten Gebieten waren Exekutionen ohne justizielles Verfahren an der Tagesordnung. Polizei, wie auch SS, ließen sich da‐ rüber hinaus nicht selten bereits gerichtlich Verurteilte ausliefern, um sie danach in

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– auch durch das Zurückweichen der Justiz vor polizeilichen Eingriffen – den Radikalisierungsprozess innerhalb von Rechtsprechung und Gesetzge‐ bung. Besonders deutlich wird dieser Konflikt an einer Eingabe Himmlers an den Chef der Reichskanzlei Lammers vom 30. Oktober 1941. Aufs Schärfste kritisierte der ranghöchste Polizeichef die Verurteilung von Wil‐ helm Klinzmann, eines Hauptwachtmeisters der Schutzpolizei, durch das Landgericht Stendal. Dieses hatte Klinzmann die Misshandlung eines ju‐ gendlichen Untersuchungshäftlings, der wegen Arbeitsverweigerung und Verdacht auf Brandstiftung inhaftiert gewesen war, zur Last gelegt und Klinzmanns Tat entsprechend geahndet. „Gelegentlich einer Besprechung habe ich Ihnen berichtet, dass ein bis jetzt unbescholtener Hauptwachtmeister der Schutzpolizei von dem Land‐ gericht Stendal wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung im Amt mit 6 Monaten Gefängnis bestraft worden ist, weil dieser einen langge‐ suchten Volksschädling mit einigen Ohrfeigen und zwei Schlägen mit dem Gummiknüppel auf das Gesäß zurechtgewiesen hätte.“ Dass der Ange‐ klagte überhaupt vor Gericht kam (und von den gleichen Richtern zum To‐ de verurteilt wurde), sei nur dem tatkräftigen Einsatz Klinzmanns zu ver‐ danken. „Trotz der durch das Todesurteil […] offenkundigen Richtigkeit der Handlungen des Klinzmann wurde wegen der sogenannten Freiheits‐ beraubung und Misshandlung im Verlaufe des Verfahrens gegen den Ver‐ brecher Strafantrag gegen Klinzmann gestellt. Dabei möchte ich mit be‐ sonderer Schärfe auf den Umstand hinweisen, dass offensichtlich die Voll‐ streckung des Urteils gegen [den Volksschädling] deshalb unterlassen wurde, um diesen […] als Zeugen gegen Klinzmann vor Gericht auftreten zu lassen.“ Es widerspräche dem ‚gesunden Rechtsempfinden‘ und sei eine „durch nichts zu rechtfertigende Maßnahme“, wenn ein aus der ‚Volksgemeinschaft‘ ausgeschlossener und zum Tode verurteilter ‚Schwer‐ verbrecher‘ als Zeuge gegen einen ‚untadeligen Beamten‘ aussagte, um zu dessen Verurteilung wegen Körperverletzung zu gelangen.25 Hier prallten zwei Rechtsauffassungen aufeinander, die unterschiedli‐ cher nicht sein konnten. Denn entgegen Himmlers Forderung, mit potenzi‐

Konzentrationslagern einzusperren. Sie waren nicht einmal gehalten, ihre Ermitt‐ lungen der Staatsanwaltschaft zu übergeben, sondern hatten ihre eigenen Instru‐ mente. (Vgl. Wilhelm, Polizei im NS-Staat, S. 116-178 [Fn. 22].) 25 Bundesarchiv (BArch) Berlin, R 43 II / 1544, Eingabe Himmlers über die Verur‐ teilung des Kripowachtmeisters Klinzmann wegen Misshandlung eines ‚Volks‐ schädlings‘, Bl. 82-101.

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ellen ‚Verbrechern‘ kurzen Prozess zu machen, war es noch 1941 der An‐ spruch der Stendaler Richter den Sachverhalt eindeutig festzustellen, be‐ vor sie urteilten. Das Gericht hatte dabei den Schilderungen mehrerer Zeu‐ gen geglaubt, dass Klinzmann den Beschuldigten letztendlich durch Folter zu einem ‚Geständnis‘ gezwungen hatte.26 Dabei hielten sich die Richter – auch im Krieg – an die Strafprozessordnung, welche die Verwendung von unter Erpressung und Gewalt zustande gekommenen ‚Beweisen‘ vor Ge‐ richt streng untersagte. Insofern musste das Landgericht nun den Haupt‐ wachtmeister zur Verantwortung ziehen und bezog damit klar Stellung ge‐ gen die brachialen Rechtsbrüche der Polizei. Solche Reste einer traditiona‐ len, in Teilen sogar rechtsstaatlichen Strafpraxis stießen jedoch (nicht nur) bei Himmler auf völliges Unverständnis. Obwohl dem Reichsjustizminis‐ terium bekannt war, dass Klinzmann gegen mehrere Beschuldigte „bru‐ talste Gewaltmaßnahmen angewandt habe […], um Geständnisse zu errei‐ chen“, ordnete es – unter dem Druck Himmlers und der Reichskanzlei – schließlich den Erlass der Strafe gegen Klinzmann an.27 In Anbetracht solch weitreichender Eingriffe in ihre Tätigkeit gerieten die Richter in eine Zwickmühle: Formal war – trotz der Gleichschaltung der Justiz nach 1933 – ihre Unabhängigkeit unangetastet geblieben, doch beugten sie sich in vielen Fällen dem von politischer und polizeilicher Sei‐ te auf sie ausgeübten Druck. In vorauseilendem Gehorsam legten sie die neuen, generalklauselartig gefassten Gesetze und Verordnungen im Sinne der nationalsozialistischen Machthaber aus.28 Je enger Kriminalpolizei, Gestapo und Justiz die Gemeinschaftsgrenzen im Laufe der Zeit zogen, desto mehr gesellschaftliche Gruppen gelangten ins Fadenkreuz ihrer strafrechtlichen Ermittlungen. Damit war der Rahmen so weit gestreckt, dass die Verfolgung jeden mutmaßlichen Delinquenten erfasste und die Regierung unbegrenzten Spielraum hatte, um entweder Milde walten zu lassen oder brutal durchzugreifen.29

26 Vgl. ebenda, Urteil vom 3.8.1941, Bl. 88. 27 Vgl. ebenda. 28 Vgl. Stefan Gimm, Das Sondergericht als „Maulkorb des kleinen Mannes“ (I). Heimtückeverfahren, in: Robert Bohn / Uwe Danker (Hg.), ‚Standgericht der inne‐ ren Front’. Das Sondergericht Altona / Kiel 1932-1945, 1998, S. 190-209, hier S. 207. 29 Vgl. Kirchheimer, Rechtsordnung des Nationalsozialismus, S. 22 (Fn. 10).

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1.2 Radikalisierung der Rechtsprechung II: Die unlösbare Definition vom ‚Volksfeind‘ Besonders schwierig gestaltete sich dabei die Grenzziehung zwischen um‐ fänglichen Rechtsschutz genießenden ‚Volksgenossen‘ und zu vogelfrei erklärten ‚Gemeinschaftsfremden‘.30 Von 1933 bis 1945 kursierten dutzen‐ de Definitionsversuche – mit Abstufungen je nach Schwere der Tat und Chance auf eine mögliche Wiedereingliederung in die Gemeinschaft.31 Wenn es der Schutz der ‚Volksgemeinschaft‘ erforderte, dass man gegen Feinde rücksichtslos vorging, so verlangte es eine kluge Menschenführung ebenso, dass besserungsfähige Verurteilte wieder für ‚Volk und Vaterland‘ in die Pflicht genommen würden, argumentierte das Reichsjustizministeri‐ um noch im Jahr 1942.32 Zentrales Kriterium war die ‚soziale Brauchbar‐

30 Vgl. Diemut Majer, „Fremdvölkische“ im Dritten Reich. Ein Beitrag zur national‐ sozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter be‐ sonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouver‐ nements, 1981, S. 83. 31 Vgl. Wolfgang Ayaß, „Asoziale“. Die verachteten Verfolgten, in: Dachauer Hefte, 14 (1998), S. 50-66, hier S. 51-52. Laut Definition des Rassepolitischen Amts von 1940 sei ‚gemeinschaftsunfähig‘ „wer 1. infolge verbrecherischer, staatsfeindli‐ cher und querulatorischer Neigungen fortgesetzt mit den Strafgesetzen, der Polizei und anderen Behörden in Konflikt gerät; oder 2. wer arbeitsscheu ist (trotz Ar‐ beitsfähigkeit schmarotzend von sozialen Einrichtungen lebt, Rentenjäger, Versi‐ cherungsschmarotzer usw. ist); oder 3. wer den Unterhalt für sich und seine Kinder laufend öffentlichen oder privaten Wohlfahrtseinrichtungen, der NSV, dem WHW aufzubürden sucht; hierunter sind auch solche Familien zu verstehen, die ihre Kin‐ der als Einnahmequelle betrachten und sich deswegen für berechtigt halten, einer geregelten Arbeit aus dem Wege zu gehen; oder 4. wer besonders unwirtschaftlich und hemmungslos ist und aus Mangel an eigenem Verantwortungsbewusstsein we‐ der einen geordneten Haushalt zu führen noch Kinder zu brauchbaren Volksgenos‐ sen zu erziehen vermag; oder weitere 5. Trinker, die einen wesentlichen Teil ihres Einkommens in Alkohol umsetzen und von ihrer Sucht so beherrscht werden, dass sie und ihre Familien darüber zu verkommen drohen; oder 6. Personen, die durch unsittlichen Lebenswandel aus der Volksgemeinschaft herausfallen bezw. ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise durch ihr unsittliches Gewerbe verdienen. Hierher gehören Straßendirnen, Zuhälter, Sittlichkeitsverbrecher, Homosexuelle usw.“ (BArch Berlin, R 3001 / 21932, Informationen des Rassenpolitischen Am‐ tes, Bl. 41-42. Siehe auch Bremer Zeitung vom 20.6.1942: „Wer ist gemein‐ schaftsunfähig?“, S. 3.) 32 „Der kompromisslosen Härte der Strafrechtspflege gegen wirkliche Volksschädlin‐ ge auf der einen Seite muss die verständnisvolle Behandlung derjenigen Volksge‐ nossen entsprechen, die anständig im Gemeinschaftsleben ihre Pflicht tun und nur

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keit‘ einer Person, der ‚Wert‘ oder ‚Unwert‘ der Persönlichkeit, anhand dessen Polizei und Gerichte über den Ausschluss eines Menschen aus der ‚Volksgemeinschaft‘ stritten.33 Ähnlich dem ‚gesunden Volksempfinden‘ war auch diese Richtschnur nicht klar umgrenzt und es lag im Ermessen des Kripobeamten, Staatsanwalts und Richters, sie mit Inhalt zu füllen. Grundsätzlich verkörperte der Begriff des ‚Art- oder Gemeinschafts‐ fremden‘ alles ‚Fremde‘, das sich nicht in die Gemeinschaft einfügte oder ihr potenziell Schaden zufügen konnte. Jeder, der auch nur ein Stück weit von der vorgegebenen Linie abwich, barg ein Gefährdungspotenzial für Staat und Gemeinschaft.34 Dabei wurde (wenig trennscharf) unterschieden in ‚Gemeinschaftsunfähige‘, die man gegebenenfalls resozialisieren kön‐ ne, und ‚Gemeinschaftsfremde‘, die durch biologische Herkunft und/oder Staatsangehörigkeit per se nicht zur ‚Volksgemeinschaft‘ zählten oder durch ihr stark von der Norm abweichendes und kaum ‚korrigierbares‘ Verhalten auffielen, sowie – in letzter Konsequenz – ‚Volksschädlinge‘, die den politischen Feind verkörperten. Diese Kategorien spannten den Bogen von Ausländern und religiösen Minderheiten (Juden, Zeugen Jeho‐ vas) über straffällig Gewordene, so genannte ‚Asoziale‘ und ‚Arbeits‐

einmal unerheblich und ohne großen Schaden anzurichten gestrauchelt sind. Sie durch übermäßige Härte niederzudrücken, wäre eine Verkennung der Aufgabe der Strafrechtspflege.“ (Staatsarchiv Bremen [StAHB], 4,44/3-715, Rundschreiben des Reichsjustizministers an die Oberlandesgerichtspräsidenten vom 19.8.1942, Bl. 26.) Auch die SS-Zeitschrift das „Schwarze Korps“ forderte immer wieder auf, je‐ manden, der mal einen Witz machte, nicht gleich als Staatsfeind zu behandeln. (Das Schwarze Korps vom 1.2.1937: „Besuch beim Sondergericht. Die Kleinen lässt man laufen“, S. 14.) 33 Vgl. Karola Fings / Franz Sparing, „tunlichst als erziehungsunfähig hinzustellen“. Zigeunerkinder und -jugendliche: Aus der Fürsorge in die Vernichtung, in: Dach‐ auer Hefte, 9 (1993), S. 159-180, hier S. 163. 34 Vgl. Michael Löffelsender, Strafjustiz an der Heimatfront. Die strafrechtliche Ver‐ folgung von Frauen und Jugendlichen im Oberlandesgerichtsbezirk Köln 1939-1945, 2012, S. 27; Jürgen Zarusky, Von der Sondergerichtsbarkeit zum End‐ phasenterror. Loyalitätserzwingung und Rache am Widerstand im Zusammenbruch des NS-Regimes, in: Cord Arendes / Edgar Wolfrum / Jörg Zedler (Hg.), Terror nach Innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges, 2006, S. 103-121, hier S. 106. Siehe hierzu auch den Beitrag von Norbert Haase in derselben Aufsatz‐ sammlung, S. 80-102, hier S. 86 und 90 sowie Michael Hensle, Nichts hören und nichts reden. Die Verfolgung von „Rundfunkverbrechern“ und „Heimtücke-Red‐ nern“ durch die NS-Justiz und die Geheime Staatspolizei, in: Sibylle Quack (Hg.), Dimensionen der Verfolgung. Opfer und Opfergruppen im Nationalsozialismus, 2003, S. 81-120, hier S. 118.

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scheue‘ bis hin zu Homosexuellen und Andersdenkenden – also generell Menschen, die nicht in das nationalsozialistische Weltbild passten. Die Staatsführung und damit de facto die Verfolgungsorgane definierten dabei, was als abweichendes Verhalten und damit als potenziell ‚kriminell‘ zu gelten hatte.35 Denn dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen ‚Gemeinschaftsfremdheit‘ und ‚Kriminalität‘ gab, da waren sich Polizei und Justiz sicher.36 Der Ermessensspielraum für die Einordnung (und damit die Verurtei‐ lung) von menschlichen Biographien in eine der genannten Kategorien war dabei so groß, dass es selbst NS-Rechtswissenschaftler bereits als eine „unlösbare“ Aufgabe ansahen, allein den Volksschädlingsbegriff mit kon‐ kretem Inhalt zu füllen. Dass die Definition mit schwankenden Begriffen arbeitete und ergo Fehlurteile begünstige, beklagten Rechtstheoretiker im‐ mer wieder. Der inflationäre Gebrauch des ‚Volksschädlings‘ habe den Begriff, „sehr gegen den Willen seiner Urheber“ zum verführerischen Schlagwort gemacht, schrieb Johannes Nagler 1942 und warnte: „Nur zu leicht täuscht ein gläubig aufgegriffenes Stichwort Inhalte von erprobter Standkraft vor und lässt das, was als Vertiefung und Bereicherung des Rechtslebens gedacht war, wieder verflachen.“ Eindeutige Richtlinien oder Leitbilder seien dabei Fehlanzeige. Wollte sich ein Gericht an ihnen orientieren, käme dies einer „Gefühlsjudikatur“ gleich!37 Hochproblematisch dabei war, dass den Kern des Kriegsstrafrechts ein Sammelparagraph für alle kriegsbedingten Straftaten bildete: die „Verord‐ nung gegen Volksschädlinge“ vom 5. September 1939.38 Unter Anwen‐ dung dieser Norm gerieten nun auch viele ehedem ehrbare Gemeinschafts‐ mitglieder selbst für Bagatelldelikte in die Mühlen der Verfolgung und mussten mit schweren Strafen, in vielen Fällen sogar mit der Todesstrafe, rechnen. Der undefinierbare Volksschädlingsbegriff stellte somit einen Freibrief für die unterschiedlichsten Verfahrensweisen gegen abweichen‐ des Verhalten dar. Das Bemühen der Richter, sich der rigorosen Vorge‐

35 Vgl. Detlef Garbe, Ausgrenzung und Verfolgung im Nationalsozialismus, in: Frank Bajohr (Hg.), Norddeutschland im Nationalsozialismus, 1993, S. 186-217, hier S. 187. 36 Vgl. Das Schwarze Korps vom 22.10.1936: „Menschen hinter Gittern“, S. 10. 37 Johannes Nagler, Die Entwicklung des Tätertyps in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zu §§ 2,4 der Volksschädlingsverordnung, in: Deutsche Rechtswis‐ senschaft, 7 (1942), S. 147-163, hier S. 153, 155-156 und 159. 38 RGBl. 1939, Teil I, Nr. 168, S. 1679.

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hensweise der Polizei anzupassen und Angeklagte grundsätzlich mit aller Härte zu bestrafen, sah der Hamburger Oberlandesgerichtspräsident Dr. Curt Rothenberger 1940 noch kritisch und dabei die Glaubwürdigkeit der Justiz in Gefahr. „Vom Gauleiter, aus Kreisen der Richterschaft und aus Kreisen der Be‐ völkerung höre ich immer wieder Meinungen, die aus einer gewissen Sor‐ ge wegen allzu zahlreicher Todesurteile entsprungen sind. Man befürchtet, dass die grundsätzlich anerkannte Notwendigkeit scharfen Durchgreifens gerade in Kriegszeiten zu bedenklichen Übertreibungen und zu einem Überhandnehmen von Todesurteilen auch in Fällen führt, die in anderer Weise erledigt werden könnten.“ Eine solche Praxis würde von der Bevöl‐ kerung vielfach als Überspitzung empfunden. „Durch allzu scharfe Urteile werden auch die befremdlichen Maßnahmen des Reichsführers SS, die im‐ mer wieder das Vertrauen des Volkes erschüttern – wie die Erfahrung zeigt – nicht verhindert.“39 Vor dem Hintergrund des ins Stocken geratenen An‐ griffs der Wehrmacht auf die Sowjetunion Anfang 1942, setzten sich Poli‐ zei und SS jedoch immer mehr durch. Die Entgrenzung der Tatbestände und der Handlungsoptionen von Polizei und Justiz bei der Strafverfolgung – nicht erst seit Kriegsbeginn – waren die offensichtlichsten Merkmale dieser auf Exklusion ausgerichteten Seite der NS-‚Volksgemeinschaft‘. 2. Die Strafpraxis: ‚Volksgemeinschaft‘ vor Gericht Einige Beispiele aus der Strafpraxis des Bremer Land- und Sondergerichts sollen dies im Folgenden verdeutlichen: Seit 1933 wandten die Bremer Richter konsequent nationalsozialistische Gesetze an. Bis 1939 verhandel‐ ten sie zumeist gegen deutsche Angeklagte, die bereits mehrfach vorbe‐ straft und immer wieder rückfällig geworden waren. Die fast schon routi‐ nierte Anordnung von Sicherungsverwahrung, das Wegsperren und Aus‐ schließen aus der Gemeinschaft, bauten Staatsanwaltschaft und Gericht zur wirksamen Gemeinschaftsgrenze aus. Dabei war die juristische Argu‐ mentation mit der ‚Volksgemeinschaft‘ lange vor Kriegsausbruch gang und gäbe. Allerdings urteilten die Bremer Strafkammern bis 1939 in den überwiegenden Fällen nach einer durchaus differenzierten Bewertung der 39 BArch Berlin, R 3001 / 23366, Lageberichte des Hamburger Oberlandesgerichts‐ präsidenten an das Reichsjustizministerium 1940-1945, Lagebericht vom 8.1.1940, Bl. 7-8.

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Sachlage. So galt jemand beispielsweise erst dann als ‚Volksschädling‘, wenn er durch sein Verhalten „eine nicht geringfügige Mehrzahl von Volksgenossen in dieser ihrer Eigenschaft als Volksgenossen […] fühlbar beeinträchtigt“ hatte.40 Das änderte sich jedoch mit Beginn des Zweiten Weltkriegs. Jetzt ent‐ schied das Gericht allein auf Grundlage einer, wie auch immer, bewiese‐ nen „asozialen Einstellung“ oder „schlechten Erbmasse“ des Angeklagten, dass dieser eine ernsthafte Gefahr für die ‚Volksgemeinschaft‘ darstellte. Nicht nur vor dem Bremer Sondergericht (das seit 1940 existierte), son‐ dern eben auch vor den regulären Strafkammern ergingen zunehmend Ur‐ teilssprüche wie dieser: „Die Belange der Volksgemeinschaft erfordern ge‐ bieterisch, dass jemand, der sich in einer solch gewissenlosen Weise au‐ ßerhalb der Volksgemeinschaft stellt, aus dieser auch gänzlich ausgemerzt wird.“41 Zwei Kriterien waren für die Bremer Richter maßgebend, ob je‐ mand als ‚Volksschädling‘ abzuurteilen war und eine ‚empfindliche Stra‐ fe‘ erhalten sollte oder möglicherweise wieder für die Gemeinschaft ge‐ wonnen werden konnte. Dabei ging es einerseits um die (sowohl biologi‐ sche als auch soziale) Herkunft des Angeklagten, zum anderen um den Schaden, den dieser angerichtet hatte. War die ‚Volksgemeinschaft‘ durch die Tat betroffen oder nicht? Zwei Krankenschwestern, die sich 1941 wegen fahrlässiger Tötung einer wohl drogenabhängigen 22-jährigen Patientin vor dem Landgericht zu verantworten hatten, verurteilten die Richter nur zu einer geringen Ge‐ fängnisstrafe. Begründung: „Strafmildernd ist berücksichtigt worden, dass es sich bei der [Toten] um ein wertloses Menschenleben gehandelt hat.“42 Eine französische Zwangsarbeiterin sprach das Sondergericht gar von einem Plünderungsverdacht nach § 1 der „Volksschädlingsverordnung“ frei, weil „der Diebstahl, den die Angeklagte nach einem Terrorangriff bei Gelegenheit der Bergung ihrer eigenen Sachen begangen hat, sich nicht gegen einen Angehörigen der deutschen Volksgemeinschaft [richtet] und die Volksgemeinschaft überhaupt nicht [berührt], sondern er richtet sich gegen einen anderen ausländischen Lagerinsassen. Das Arbeitslager, so‐ weit es die dort kasernierten ausländischen Arbeiter betrifft, steht außer‐ halb der deutschen Volksgemeinschaft.“43 Ausschlaggebend war auch der

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StAHB, 4,89/2-136, Urteil vom 22.4.1938, Bl. 227. StAHB, 4,89/2-329, Urteil vom 4.9.1942, Bl. 65-66. StAHB, 4,89/2-313, Urteil vom 19.6.1942, unfol. StAHB, 4,89/5-410, undatiertes Urteil, unfol.

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Vorsatz, also der Wille, die ‚Volksgemeinschaft‘ zu schädigen. Demnach durften vermindert Zurechnungsfähige nicht als ‚Volksschädlinge‘ behan‐ delt werden, wie das Sondergericht in einem Urteil gegen einen Bremer Postbeamten wegen Beraubung von Feldpostpäckchen klarstellte.44 Umgekehrt bestraften die Richter selbst Minderjährige mit dem Tod, wenn sie diese für mündig und die Strafe für opportun hielten – egal, ob der Angeklagte einen Schaden an der ‚Volksgemeinschaft‘ nun bewusst beabsichtigt, lediglich in Kauf genommen hatte oder sich über die Folgen seines Tuns überhaupt nicht im Klaren gewesen war. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des 16-jährigen Polen Walerjan Wróbel, dessen tra‐ gischer Fall einige traurige Berühmtheit erlangt hat. Wróbel wurde vorge‐ worfen, im Frühjahr 1941 einen Hof im Bremer Umland angezündet zu haben, wo er als Landarbeiter eingestellt worden war. Laut der Bäuerin, die ihn auf ihrem Gut beschäftigte, zeigte Wróbel ein „faules und störri‐ sches Verhalten“, er hatte mehrfach versucht wegzulaufen, bevor er in der Scheune zündelte – aus Heimweh, wie er in seinem Geständnis immer wieder beteuerte.45 Staatsanwalt Dr. Waldemar Seidel beantragte daraufhin ein Verfahren vor dem Sondergericht nach § 3 der „Volksschädlingsverordnung“ mit der Begründung, die Tat sei „ein gemeingefährliches Verbrechen, durch das die Widerstandskraft des deutschen Volkes eine Schädigung erfahren musste, wenn der Anschlag gelang, weil ein bäuerliches Anwesen hier‐ durch vernichtet worden wäre.“46 Das hatte zwangsläufig die Todesstrafe zur Folge. Wróbels Verteidiger hingegen plädierte auf ‚normale‘ Brand‐ stiftung, weil Seidel einen Vorsatz der ‚Schädigung der Widerstandskraft des deutschen Volkes‘ nicht beweisen könne. Zudem sei die Tat auch nicht aus besonders niederer Gesinnung begangen worden und sollte besser un‐ ter Anwendung des Jugendstrafrechts verurteilt werden – was Wróbel wo‐ möglich den Tod erspart hätte.47

44 Vgl. StAHB, 4,89/5-430, Urteil vom 17.5.1944, Bl. 44. 45 Vgl. StAHB, 4,44/3-358 und StAHB, 4,89/5-207. Zum Fall Walerjan Wróbel siehe umfassend: Heinrich Hannover, Die Republik vor Gericht 1975-1995. Erinnerun‐ gen eines unbequemen Rechtsanwalts, Berlin 22001, S. 279-306; Christoph Schminck-Gustavus, Das Heimweh des Walerjan Wróbel. Ein Sondergerichtsver‐ fahren 1941/42, Berlin/Bonn 1986 sowie Annegret Ehmann/Stefanie Fischer, Kin‐ der und Jugendliche als Opfer von NS-Verbrechen. Walerjan Wróbel aus dem pol‐ nischen Dorf Fałków 1925-1942, Berlin 2003. 46 StAHB, 4,89/5-207, Anklageschrift vom 13.6.1942, Bl. 44. 47 Vgl. ebenda.

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Das Sondergericht sah das anders. Unter dem Vorsitz von Richter Dr. Emil Warneken und den beisitzenden Richtern Dr. Walter Hans Heumann und Ernst Landwehr stimmte das Gericht allen Anklagepunkten der Staatsanwaltschaft zu und verurteilte den Jugendlichen in seiner Sitzung am 8. Juli 1942 zum Tode. In ihrer Urteilsbegründung führten die Richter aus, dass die Widerstandskraft des deutschen Volkes im Sinne der „Volks‐ schädlingsverordnung“ auch dann geschädigt sei, falls sie nur gefährdet werde. Eine solche Gefährdung liege in Wróbels Falle vor. Den Einspruch von Wróbels Anwalt, hier das Jugendstrafrecht anzuwenden, wischte das Sondergericht mit Verweis auf die geistige Zurechnungsfähigkeit des An‐ geklagten „trotz seiner Jugend […] die Folgen für die Widerstandskraft des deutschen Volkes zu erkennen“ beiseite und hob hervor, dass das Ju‐ gendstrafrecht auf ihn als Polen keine Anwendung fände. Diese Bestim‐ mungen seien lediglich für den jungen Deutschen geschaffen, um ihn durch Erziehungsmaßnahmen zu einem ordentlichen ‚Volksgenossen‘ zu formen. „Den Angeklagten als Polen musste daher trotz seiner Jugend von 16 Jahren z.Zt. der Begehung der Tat und trotzdem er geistig in seiner Ent‐ wicklung zurückgeblieben ist, zwangsläufig die Todesstrafe treffen, da eine andere Strafe nach § 3 V.Sch.V. nicht zugelassen ist. In der Verord‐ nung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den angeglie‐ derten Ostgebieten vom 4.12.194148 heißt es auch in Abs. III, 2 ganz all‐ gemein: ‚Auf Todesstrafe wird erkannt, wo das Gesetz sie androht.‘“49 Wróbels Strafe wurde am 25. August 1942 vollstreckt. Auch eine junge Deutsche, die 1944 bei Bergungsarbeiten aus einem ausgebombten Pelzgeschäft einen Mantel an sich genommen hatte, verur‐ teilte das Sondergericht noch am 3. April 1945 aufgrund der „Volksschäd‐ lingsverordnung“ wegen Plünderns zum Tode. Dabei wurde, wie im Fall Wróbel, zugunsten der Abschreckung auch hier der richterliche Ermes‐ sensspielraum weit über das gehörige Maß hinaus ausgedehnt. Denn schaut man sich allein das Zustandekommen beider Urteile genauer an, so sind Zweifel angebracht, ob die daraus resultierenden Strafen wirklich der Sachlage angemessen waren. Im Fall der jungen Frau wies bereits das Er‐ mittlungsverfahren erhebliche Mängel auf, die sich in der Hauptverhand‐ lung fortsetzen sollten. So scheint es schon in der Untersuchungshaft zu massiver Einschüchterung und Gewaltanwendung gekommen zu sein, um

48 RGBl. 1941, Teil I, Nr. 140, S. 759. 49 Vgl. StAHB, 4,89/5-207, Urteil vom 8.7.1942, Bl. 63-64.

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ein Geständnis zu erzwingen.50 Dabei war sich das Gericht darüber im Klaren, dass sich die polizeilichen Ermittlungen, insbesondere die „Er‐ mittlungen der Gestapo […] in nicht seltenen Fällen in den Hauptverhand‐ lungen als unzulänglich, unzuverlässig und mehrfach auch als direkt un‐ richtig erwiesen [haben]“, so Sondergerichtsvorsitzender Warneken in Rückschau auf das Geschehen. „Angeklagte, sowohl wie auch vor allem Zeugen erklärten wiederholt vor Gericht, dass sie derartiges, wie es in den Vernehmungsprotokollen als ihre Aussage niedergelegt worden war, nicht ausgesagt hätten, auch nicht hätten aussagen wollen oder können.“51 Darüber hinaus war die Staatsanwaltschaft nicht gezwungen, die Tat in beiden Fällen nach der „Volksschädlingsverordnung“ anzuklagen, sondern es hätten sich durchaus Alternativen geboten, auf die die Todesstrafe nicht gleich zwingend vorgeschrieben war. Da beide Angeklagte minderjährig und nicht vorbestraft waren, hätte man sie auch unter Jugendstrafrecht oder einer minder schweren Norm (beispielsweise Diebstahl im Fall der jungen Deutschen) anklagen und so mit einem ‚blauen Auge‘ davonkom‐ men lassen können. Schließlich weigerte sich das Gericht in der Verhand‐ lung gegen die junge Angeklagte einen wichtigen Zeugen zu befragen, der ihre Tat womöglich in ein gänzlich anderes Licht gerückt hätte. Lediglich drei Zeugen waren zur Hauptverhandlung geladen, deren Vernehmung nach etwas mehr als einer halben Stunde abgeschlossen war. Den Großteil der Zeit nahmen dabei die zwei Belastungszeugen, ein Kriminalobersekre‐ tär und die Besitzerin des Pelzladens, ein. Als dritte Zeugin erschien die Mutter der Angeklagten, die laut Protokoll gerade mal fünf Minuten Rede‐ zeit zugestanden bekam. Auch wenn gewisse Zweifel am Ermittlungsverfahren und der Argu‐ mentation des Staatsanwalts nicht ausgeräumt werden konnten, beschrieb Vorsitzender Dr. Warneken die Tat als „ein Schulbeispiel des Plünderns“. Mildernde Umstände wollte das Gericht der Angeklagten, trotz ihres ju‐ gendlichen Alters, ihrer bisherigen Unbescholtenheit und trotz dessen, dass die Richter ihr keinen Vorsatz nachweisen konnten, nicht zubilligen. Sondern: Die „zweifellos bestehende asoziale Einstellung und Haltung der Angeklagten“ sei Ausdruck ihrer „moralischen Minderwertigkeit“52 und rechtfertige den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Das Gericht schloss

50 Vgl. StAHB, 4,89/5-528, Aufnahme der Personalien und Protokoll der Verneh‐ mung vom 13.1.1945, Bl. 5. 51 StAHB, 4,44/3-871, unfol., Tätigkeitsbericht Warnekens, S. 3. 52 StAHB, 4,89/5-528, Urteil vom 3.4.1945, Bl. 33-34.

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sich damit in vollem Umfang dem Antrag der Staatsanwaltschaft an und verhängte die Todesstrafe. So alternativlos, wie die Richter in beiden Fällen argumentierten, waren die Urteile nicht. Es gab durchaus Handlungsoptionen, die das Gericht je‐ weils im Anschluss an die Hauptverhandlung versuchte zu nutzen: Denn Richter und Staatsanwaltschaft empfahlen übereinstimmend Begnadigung, kaum dass das Urteil ausgesprochen war.53 Am 7. April 1945 sprach sich der Vorsitzende des Sondergerichts, Dr. Emil Warneken, in Einklang mit den beiden Beisitzern, Dr. Ferdinand Behrens und Dr. Fritz Alfes, dafür aus, die Strafe der jungen Frau in eine „angemessene Zuchthausstrafe“ umzuwandeln. Dabei folgten die Richter in ihrer Argumentation den Aus‐ führungen des Verteidigers und ließen mildernde Umstände gelten: „Das Gesamtbild der Persönlichkeit der Verurteilten ist […] zweifellos nicht das einer sehr wertvollen Persönlichkeit. Es ist dabei jedoch stark zu berück‐ sichtigen, dass die Verurteilte unter für sie sehr ungünstigen Umständen herangewachsen ist, an denen ihr selbst eine Schuld nur in recht beding‐ tem Maß zuzumessen ist.“ Dass die Richter dies nicht schon in der Haupt‐ verhandlung geltend gemacht hatten, begründeten sie mit der Abschre‐ ckungswirkung: Das ganze Strafverfahren, die Beantragung und der Aus‐ spruch der Todesstrafe hätten auf die Verurteilte ihren tiefen Eindruck kei‐ nesfalls verfehlt. Daher sei zu hoffen, „dass die Verurteilte, wenn das Ur‐ teil nicht vollstreckt wird, doch noch zu einem nutzbaren Mitglied der Ge‐ meinschaft werden kann.“54 Auch im Verfahren gegen den polnischen Jugendlichen Walerjan Wróbel war das Gericht gleich mehrfach vom gesetzlichen Rahmen abge‐ wichen: Erstens galt die „Volksschädlingsverordnung“ nur für deutsche Staatsbürger. Dennoch verurteilte das Sondergericht Wróbel nach deren § 3 zum Tode. Zweitens wandten die Richter die „Polenstrafrechtsverord‐ nung“ nicht nur rückwirkend auf die begangene Brandstiftung, sondern auch insofern unrechtmäßig an, als der Tat- und Aufenthaltsort Wróbels das Bremer Umland gewesen war, wohingegen die Norm eigentlich nur für die okkupierten Ostgebiete gelten sollte. Sich dessen bewusst, versuch‐ te das Gericht später die Strafe abzumildern. „Weder die Vorermittlungen noch die Hauptverhandlung [haben] etwas dafür ergeben, dass der Verur‐

53 Vgl. Hans Wrobel (Bearb.), Strafjustiz im Totalen Krieg. Aus den Akten des Son‐ dergerichts Bremen, 1991, Band 1, S. 18. 54 Vgl. StAHB, 4,89/5-528, unfol., Gnadenheft, Stellungnahme Warnekens vom 7.4.1945, S. 1.

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teilte aus einer deutschfeindlichen Gesinnung oder als Mitglied einer pol‐ nischen Geheimorganisation zur Tat gekommen ist“, berichtete Staatsan‐ walt Dr. Seidel am 21. Juli 1942 an den Justizminister. Im Gegenteil: Sei‐ del habe in der persönlichen Vernehmung des Verurteilten vielmehr den Eindruck gewonnen, dass es sich bei Wróbel noch um ein Kind handele, das sich der Folgen seines Tuns nicht im Klaren gewesen sei. Auch wenn auf Todesstrafe lautende Urteile gegen Polen in der Regel schonungslos vollstreckt werden müssten, hielt es Seidel daher „nicht für angängig, ein Todesurteil an einem Knaben zu vollstrecken. […] Ich empfehle daher, die verhängte Todesstrafe im Gnadenwege in ein langjähriges verschärftes Straflager umzuwandeln.“55 Genützt hat es nichts. 4. Die beteiligten Juristen: Allesamt ‚anständig geblieben‘ Die Justiz war seit Beginn der NS-Diktatur deren Erfüllungsgehilfin. Zwar übten die Machthabenden nicht wenig Druck auf die Juristen aus, sich der nationalsozialistischen Politik und Weltanschauung unterzuordnen: Mit dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom 24. März 193356 und dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 57 erfolgte eine breit angelegte Säuberung innerhalb der Gerichte. Jüdische Juristen, aber auch solche, die die neue Staatsführung qua ihrer sexuellen Orientierung, politischen Einstellung oder Parteizuge‐ hörigkeit für Gegner hielt, erhielten Berufsverbot, die in ihren Ämtern Verbliebenen wurden auf Linie gebracht. Mit der Zentralisierung der Jus‐ tizverwaltung 1935 wurde die Erwartung verstärkt, dass Richter, Staatsund Rechtsanwälte den NS-Organisationen beizutreten hatten sowie ihre Ausbildung nach weltanschaulichen Gesichtspunkten auszurichten sei. Ohne NSDAP-Mitgliedschaft war an eine Karriere kaum noch zu denken. Dennoch verband die Mehrheit der Juristen mit dem Machtwechsel 1933 weniger eine berufliche Einschränkung, als eine willkommene Kon‐ tinuität zum autoritär-nationalistischen Kaiserreich, dem sie politisch nä‐ her stand als der Weimarer Republik.58 Daher fanden sich die meisten

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StAHB, 4,89/5-207, Gnadenheft, Bl. 6-7. Vgl. Fn. 6. Vgl. Fn. 5. Vgl. Alf Lüdtke, Funktionseliten: Täter, Mit-Täter, Opfer? Zu den Bedingungen des deutschen Faschismus, in: Ders. (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis, 1991,

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Richter, Staats- und Rechtsanwälte erstaunlich schnell mit den neuen Ge‐ gebenheiten ab, ja unterstützten die Politik der Nationalsozialisten gegen alles ‚Fremdartige‘ aktiv. Urteile, wie die des Sondergerichts Bremen, wa‐ ren daher nicht so sehr das Resultat politischen Drucks, sondern zeugten von Karriereambitionen, richterlichem Übereifer und mit dem Leitbild der NS-‚Volksgemeinschaft‘ konform gehenden Ansichten über Recht, Ord‐ nung und Verbrechensbekämpfung.59 Viele Juristen hatten die NS-Ideolo‐ gie schon 1933 freiwillig in ihre Rechtsprechung übernommen – und das aus der Überzeugung heraus, dass ihr althergebrachtes Standesbewusstsein mit dem NS-Staat vereinbar sei. Dabei schrieb das NS-Regime ältere Tra‐ ditionen fort, um sie für seine politischen Ziele einzuspannen. Die Idee der NS-‚Volksgemeinschaft‘ traf bei vielen Richtern, Staatsund Rechtsanwälten einen Nerv. Insbesondere die älteren Jahrgänge, wel‐ che noch aktiv am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten und sich eindeu‐ tig im bürgerlichen, (rechts-) konservativen politischen Spektrum verorte‐ ten, verstanden ‚Volksgemeinschaft‘ am Ende der 1920er Jahre und in Ab‐ grenzung zu (sozial-) demokratischen und kommunistischen Ideen vor al‐ lem als Verheißung einer nationalen Regeneration, eines Endes der krisen‐ geschüttelten Weimarer Republik, einer wirtschaftlichen und sozialen Sta‐ bilität. Dabei ermöglichte die vage Definition von ‚Volksgemeinschaft‘ dem NS-Regime an diese Hoffnungen anzuknüpfen und mit ihnen eine Zielgruppenpolitik zu betreiben, die das Standesbewusstsein der Juristen zunächst bediente und ihre Vorstellungen von Patriotismus, Tugend und Ehre geschickt in den Rahmen des neuen Staates einband. Der überwiegende Teil der Richter, Staats- und Rechtsanwälte war da‐ her bis zuletzt von der Richtigkeit der nationalsozialistischen Politik über‐ zeugt. Lothar Fritze beschreibt sie als „Täter mit gutem Gewissen“60, die nicht nur funktioniert, sondern sich aus Idealismus eingebracht haben. Die NS-Ideologie und die Verheißung einer NS-‚Volksgemeinschaft‘ befrie‐ digten nicht nur ihre Bedürfnisse nach intellektueller Sicherheit, geistiger

S. 559-590, hier S. 569. Siehe auch Ralph Angermund, Deutsche Richterschaft 1919-1945. Krisenerfahrung, Illusion, politische Rechtsprechung, 1991. 59 Vgl. Ders., Die geprellten „Richterkönige“. Zum Niedergang der Justiz im NSStaat, in: Hans Mommsen / Susanne Willems (Hg.), Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, 1988, S. 304-373, hier S. 324 und 331. 60 Vgl. Lothar Fritze, Täter mit gutem Gewissen. Über menschliches Versagen im diktatorischen Sozialismus, 1998, S. 50.

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Geborgenheit und Sinngewissheit.61 Indem sie Orientierung bot, nahm ih‐ nen die NS-Weltanschauung ein Stück weit das Denken und die Last des eigenverantwortlichen Handelns ab.62 Der zur partikularen Moral perver‐ tierte Grundsatz der Gemeinnützigkeit war Leitmaxime für die Beteili‐ gung von Juristen an den NS-Verbrechen, zu denen auch das von ihnen ge‐ sprochene Unrecht gehört. Für die Gemeinschaftsmitglieder mochte das Ziel des Wohls Aller zutreffen. Für die aus der ‚Volksgemeinschaft‘ Aus‐ geschlossenen bedeutete es die soziale und letztlich physische Vernich‐ tung. Im Kampf gegen ‚Volksfeinde‘, so vermittelte diese nationalsozialis‐ tische Moral, war jedes Mittel recht.63 Die Idee der NS-‚Volksgemeinschaft‘ gab den Juristen also ein Argu‐ ment an die Hand, das die Exklusion von ‚Gemeinschaftsfremden‘ nicht als unmenschlich, sondern als notwendig und richtig darstellte.64 Damit konnten sie, auch noch nach 1945, von sich behaupten stets moralisch ‚an‐ ständig‘ gehandelt zu haben.65 Nachvollziehbare Regeln und Wertorientie‐ rungen, wie sie die NS-Weltanschauung anbot, erleichterten ihnen, sich guten Gewissens für den Nationalsozialismus zu engagieren.66 Dabei wa‐ ren sich die meisten Juristen bewusst, dass ihr Tun nach rechtsstaatlichem Empfinden Unrecht war. Wenn sie sich (nach 1945) dazu bekannten, so nur, indem sie argumentierten, dass es keine andere Möglichkeit zur Ent‐ scheidungsfindung gegeben habe.67 Was geschehen war, sei zwar schreck‐ lich gewesen, aber unvermeidbar.68 Zufrieden, jedenfalls mit seiner Arbeit, äußerte sich der stellvertretende Sondergerichtsvorsitzende Dr. Emil Warneken im August 1945 in einem

61 Vgl. ebenda, S. 37 und 41. 62 Vgl. Hannah Arendt, Denken ohne Geländer. Texte und Briefe, 2006, S. 32-33 so‐ wie Sebastian Haffner, Germany: Jeckyll & Hyde, 1996, S. 109. 63 Vgl. Fritze, Täter mit gutem Gewissen, S. 56 (Fn. 60). 64 Vgl. Michael Wildt, Eichmann und der kategorische Imperativ. Oder: Gibt es eine nationalsozialistische Moral?, in: Norbert Kampe / Peter Klein (Hg.), Die Wann‐ see-Konferenz am 20. Januar 1942. Dokumente – Forschungsstand – Kontrover‐ sen, 2013, S. 151-166, hier S. 157 sowie Claudia Koontz, The Nazi Conscience, 2003, S. 4-16. 65 Vgl. Welzer, Täter, S. 37 (Fn. 4) sowie Wildt, Eichmann, S. 158 und 165 (Fn. 64). 66 Vgl. Wildt, ebenda, S. 163 und 166 sowie Fritze, Täter mit gutem Gewissen, S. 215 (Fn. 60). 67 Vgl. Sönke Neitzel / Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, 2011, S. 49. 68 Vgl. Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, 2010, S. 195.

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Tätigkeitsbericht an die amerikanische Besatzungsmacht, die in Bremen im Sommer desselben Jahres die Regierung übernommen hatte: „Die Er‐ fahrung hat gezeigt, dass das Sondergericht Bremen durch die von ihm ausgesprochenen Strafen auf mehreren Gebieten einen erheblichen Rück‐ gang der Straftaten erreicht hat.“69 Jene Sonderstrafkammer hatte in der Zeit von seiner Einrichtung 1940 bis zu seiner Auflösung Ende April 1945 562 Verfahren mit 918 Angeklagten durchgeführt. Neben 49 verhängten Todesurteilen, von denen vier nicht vollstreckt wurden, sprachen die Rich‐ ter insgesamt 108 Angeklagte frei, 319 Angeklagte verurteilten sie zu Zuchthausstrafen, 380 zu Gefängnis, 11 zu Straflager, in einem Fall ordne‐ ten sie Jugendstrafe von unbestimmter Dauer an. Allein oder neben Frei‐ heitsstrafen verhängten sie 83 Geldstrafen. Der jüngste Verurteilte war ein 16-jähriger Pole, der älteste Angeklagte zählte 68 Jahre.70 5. Fazit Wer sich mit der Justiz im ‚Dritten Reich‘ beschäftigt, darf die Rechtspra‐ xis deutscher Gerichte und das staatlich propagierte Gesellschaftsmodell der NS-‚Volksgemeinschaft‘ nicht voneinander trennen. Überall im Reich zogen Juristen die Grenzen der Gemeinschaft, definierten deren Inhalt und bestimmten, wer dazugehören durfte und wer nicht. Statt unparteiisch zu urteilen, trafen sie dezidierte politische Entscheidungen. „Recht ist, was dem Volke nutzt“ – so eine zeitgenössische Formel. Sie beschreibt sehr gut, wie die zum Ideal erhobene Idee der NS-‚Volksgemeinschaft‘ zur obersten Leitmaxime richterlichen Handelns wurde. Das wirkte sich auf allen Ebenen des menschlichen Zusammenlebens aus: ob bei der Beile‐ gung von Streitigkeiten zwischen Mietparteien, bei der Entscheidung für Fürsorgeleistungen Bedürftiger bis hin zur Genehmigung von Heiraten durch Justiz und Staat. Besonders fatal jedoch war dies im Strafrecht. Der schwammig defi‐ nierte Begriff der NS-‚Volksgemeinschaft‘ als zu erreichendem Ziel mit der Verheißung einer ‚besseren Zukunft‘ diente hier als Rechtfertigung für die Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung missliebiger und nach ras‐ sistischen Kriterien als ‚gemeinschafsfremd‘ eingestufter Personen. Die 69 StAHB, 4,44/3-871, unfol., Tätigkeitsbericht Warnekens, S. 6. 70 Vgl. Hans Wrobel, Zur Theorie und Praxis der Sondergerichte – am Beispiel des Sondergerichts Bremen (1940-1945), Vortrag, 2002, S. 7.

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als ‚Feinde‘ Diffamierten sollte das scharfe Schwert des Gesetzes mit vol‐ ler Wucht treffen und auch auf bisher unbescholtene Gemeinschaftsmit‐ glieder zielte die Abschreckungspraxis ab. Die Verteidigung der NS‚Volksgemeinschaft‘ heiligte dabei alle Mittel: Von der Einschränkung der Individualrechte und Außerkraftsetzung geltender Rechtsnormen über die Anwendung und weite Auslegung von Generalklauseln, die rückwirkende Anwendung von NS-Gesetzen auf vor ihrer Einführung begangene Taten bis hin zum Wegfall der Rechtsmittel vor Gericht sowie verkürzten Ver‐ fahren bei eingeschränkter Anhörung und Verteidigung des Angeklagten. Am Ende standen zahlreiche Unrechtsurteile, insbesondere zehntausende politische Todesurteile. Die Richter haben sich nach 1945 damit entschuldigt, einerseits nur gel‐ tendes Recht angewandt und die Gesetze geachtet zu haben. Willkür und Terrorurteile schrieben sie dem Wirken der Polizei, Gestapo und SS zu, mit denen die Justiz in ständiger Konkurrenz stand und um Kompetenzen rang. Viele Richter haben so vor sich selbst gerechtfertigt, dass sich ihre Strafpraxis immer mehr von einem rechtsstaatlichen Rahmen entfernte. Auch auf politischen Druck beriefen sich die beteiligten Juristen zur Be‐ gründung ihres Verhaltens. Staatliche Stellen sowie vorgelagerte Justizbe‐ hörden hätten immer wieder harte Urteile gefordert, vor allem im Krieg, wo ja nochmal eine ganz besondere Situation ein unnachgiebiges Vorge‐ hen gegen Abweichler, Defätisten und andere ‚Kriminelle‘, die sich nicht zu Staat und ‚Volksgemeinschaft‘ bekennen wollten, nötig gemacht habe. Im Mindesten waren aber auch politische Überzeugungen ein treibender Faktor für die Radikalisierung der Strafpraxis. Die Mehrheit der Richter, Staats- und Rechtsanwälte sah sich zwar nicht als fanatische Nationalso‐ zialisten, war aber überwiegend national- bis rechtskonservativ geprägt. Insofern gab es erhebliche Schnittmengen zwischen ihren Einstellungen und der nationalsozialistischen Weltanschauung. Vorauseilender Gehor‐ sam und ein partikulares Moralverständnis, das nur den eigenen Gemein‐ schaftsmitgliedern vollen Rechtsschutz einräumte, spielten darüber hinaus eine wichtige Rolle zur Stabilisierung und Radikalisierung des NS-Re‐ gimes. Obwohl die Gerichte bis zuletzt Handlungsspielräume besaßen, wurden diese jedoch kaum zugunsten der Angeklagten genutzt.

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Das Ehegesetz von 1938 und die Ehescheidungsgründe1 Heinz Holzhauer

I. Einleitung 1. Mein Vortrag ordnet das Ehegesetz von 1938 weniger in die Geschichte des nationalsozialistischen Staates ein als in die innere Rechtsgeschichte des Eherechts. Das Gesetz von 1938 verdient diese Einordnung, weil es das einzige große Zivilgesetz aus den zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft ist2, das mit dieser nicht untergegangen ist, sondern vom Alli‐ ierten Kontrollrat nach Reinigung von nationalsozialistischem Gedanken‐ gut im Jahr 1946 neu verkündet werden konnte3, in Deutschland in Teilen noch bis 1982 weitergegolten hat und in Österreich mit zwischenzeitlichen Änderungen noch in Geltung ist.

1 Über das nationalsozialistische Ehegesetz von 1938 habe ich schon einmal im Jahr 1980 vorgetragen, damals im Rahmen des Instituts für Zeitgeschichte (Die Schei‐ dungsgründe in der nationalsozialistischen Familiengesetzgebung, in: NS-Recht in historischer Perspektive, Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte, 1981, S. 53 – 70). Die Überarbeitung für diesen Vortrag berücksichtigt zwischenzeitliche ein‐ schlägige Veröffentlichungen: Thilo Ramms Darstellung in seinem „Familienrecht Bd. I Eherecht“ 1984 und dem Aufsatz “Das nationalsozialistische Familien- und Jugendrecht“ (jetzt in Familienrecht. Verfassung. Geschichte. Reform, Ausgewählte Aufsätze 1996 S. 160), Stefan Saar, Familienrecht im NS-Staat Ein Überblick (in: Peter Salje, Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, 1985, S. 80 ff.) und zitiert jetzt nach Werner Schuberts hilfreicher Darstellung „Die Projekte der Weimarer Re‐ publik zur Reform des Nichtehelichen-, des Adoptions- und des Ehescheidungs‐ rechts“, 1986. Große Bedeutung für das Thema hat der Aufsatz über „Das Zerrüt‐ tungsprinzip im Ehescheidungsrecht und die Nationalsozialisten“ von Alfred Wolf (FamRZ 1988 S. 1217 – 1229), der zusätzliche Quellen heranzieht und die Beurtei‐ lung der Haltung Hitlers zur Scheidungsreform bei Ernst Wolf (Wolf/Lüke/Hax, Scheidung und Scheidungsrecht, 1959), der ich 1980 gefolgt war, korrigiert. 2 Ramm, wie Fußn. 1, Ausgewählte Aufsätze, S. 112. 3 Entfernt wurden 1946 aus dem 2. Abschnitt die Scheidungsgründe der Fortpflan‐ zungsunfähigkeit und der Unfruchtbarkeit, der § 48 gewordenen frühere § 55 erhielt einen Absatz 3 mit einer Einschränkung zum Schutz von Kindern.

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2. In Abwendung von Kants „imperiativisch-deontologischer Moralphi‐ losophie“4 hatte sich die im 19. Jahrhundert herrschende philosophische Strömung mit Hegel und Schelling der natürlichen und sittlichen Wirk‐ lichkeit zugewandt. Auf dieser Linie liegt Savigny mit seinem berühmten, das natürliche, das sittliche und das rechtliche Element verbindenden Dik‐ tum zur Ehe5, das eine „Geringschätzung des juristischen Charakter der Ehe“ 6 einleitete, die auch in den Motiven zum BGB ausgedrückt ist7. In welchem Maß außerrechtliche Kräfte auf die Wirklichkeit der Ehe und die gesamte „Familienverfassung“ einwirken, haben die letzten Jahrzehnte ge‐ zeigt: die Perfektionierung der Empfängnisverhütung und die Erfindung des Abstammungsnachweises haben der Ehe ihre bio-soziale Funktion ge‐ nommen, aus der sie einmal entstanden war, das Sexualverhalten breiter Schichten verändert und die Ehe in ihre gegenwärtige Krise gestürzt8. Dass die soziologische Institution der Ehe wesentlich auch von rechtlicher Gestaltung abhänge, glaubt heute wohl niemand mehr. Daher auch treten Vorschriften über die Eheführung praktisch gänzlich zurück. Nur wenige Stellschrauben, im Wesentlichen bei Eingehen und bei Trennung der Ehe, können sich auf die Institution auswirken, aber längst nicht mit der Wucht tatsächlicher Verhältnisse. 3. Indessen hat der Staat keineswegs aufgehört, sich intensiv auf dem Gebiet von Ehe und Familie zu betätigen, nur bedient er sich, nicht erst seit gestern, dazu anderer Mittel als des privaten Eherechts, nämlich des Geldes als Passepartout. Eva Schumann hat in ihrem Vortrag „Die Ökono‐ misierung der Familie“ das Material darüber ausgebreitet9. Heute hat der Kampf um das Betreuungsgeld eine vergleichbare Intensität wie etwa der

4 Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter u.a, Bd. 9, 1995, Stichwort ‚Sittlichkeit’ S. 911 (Kersting). 5 System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840 S. 346 f. 6 Ekkehard Kaufmann, Das sittliche Wesen der Ehe, in: Festschrift für Adalbert Erler, 1976, S. 649. 7 Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches etc. Bd. IV, 1888, S. 104: „Wenngleich die sich aus dem Wesen der Ehe ergebenden Rechte und Pflichten der Ehegatten untereinander in erster Linie sittlicher Natur sind, so haben sie doch auch eine rechtliche Seite“. In diesem Geist hat sich Gottlieb Planck, weit‐ gehend der Schöpfer des Familienrechts des BGB, gegenüber der patriarchalischen Kritik Gierkes einerseits und den revolutionären Ansinnen der Frauenbewegung an‐ dererseits auf die Verhältnisse und die Anschauungen der Bevölkerung berufen (Holzhauer, ZRG GA 129 (2012) S. 501 ff. 8 Holzhauer, Krise und Zukunft der Ehe, JZ 2009, 482 ff., 494. 9 Jahrbuch 2011 der Göttinger Akademie der Wissenschaften.

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Kampf in Preußen um das Scheidungsrecht in den Jahren vor der vorletz‐ ten Jahrhundertwende10. II. Die Scheidungsgründe im BGB 1. Im Jahr 1933 war das vierte Buch des BGB noch unverändert das, wel‐ ches am 1. Januar 1900 in Kraft getreten war. Dass das Eherecht des BGB von Anfang an veraltet gewesen sei, wird ihm bisweilen, meines Erach‐ tens zu Unrecht, vorgeworfen11. Was den Zugang zur Ehe angeht, so wa‐ ren Heiratsverbote mit ihrem Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts12 im 19. Jahrhundert, nicht zuletzt als Folge des Bedeutungs‐ verlustes kirchlich-kanonischer Ehehindernisse, abgebaut. Abgesehen vom Ehehindernis der engsten Verwandtschaft kannte das BGB nur noch das Erfordernis einer Heiratserlaubnis bei Militärpersonen und nach Maßgabe von Landesrecht für Beamte und Ausländer13. 2. Die wenigen Vorschriften des BGB über die Eheführung bezeugen zunächst nur die Ansicht des gesetzgebenden Personals über eine geordne‐ te Ehe. Praktische Wirkung hatten sie kaum. Beim Güterrecht ist zu diffe‐ renzieren. Wenn Kritiker im Namen der „Besitzlosen Klassen“ für die Er‐ rungenschaftsgemeinschaft eintraten14, war das mehr ideologisch begrün‐ det als sachlich gerechtfertigt, denn welche Bedeutung sollte Güterrecht für Besitzlose haben? Für die breite Mittelschicht war die Verwaltungsge‐ meinschaft mit dem Verwaltungs- und Nutznießungsrecht des Mannes passend, weil Frauen noch geschäftsfern sozialisiert waren. Bleibt die Schicht der „bürgerlichen Ehe“, gekennzeichnet durch Entlastung der Frau von Familienarbeit und, damit zusammenhängend, ihrer Offenheit für den Eintritt in die mittlere und akademische Berufswelt. Nach Meder betraf

10 Buchholz, Beiträge zum Ehe- und Familienrecht des 19. Jahrhunderts, in: Ius Commune IX, 1980, S. 229, 232, 244, 256 mit Fn. 75. 11 „Die Historiker laufen mit ihrer Bewertung des 19. Jahrhunderts als eines bürgerli‐ chen...einmal mehr Gefahr, die zukunftweisenden Kräfte allzu früh zu den allge‐ meingültigen zu erklären“ (Volker Press, Adel im 19. Jahrhundert, in: v. RedenDohna/R. Melville, Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 17801860 I. Bd. 1990, S. 417 f. 12 Dieter Schwab spricht für diese Zeit von einem „System der staatlich konzessio‐ nierten Ehe“ (HRG 1. Aufl. Bd. 2, 1978, Art. Heiratserlaubnis, Sp. 64). 13 § 1315 BGB 1900. 14 Anton Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 1890.

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das 10 % der Bevölkerung15. Wenn Frauenverbände so laut nach Güter‐ trennung oder Errungenschaftsgemeinschaft riefen, konnten sie da nicht wirklich darauf verwiesen werden, dass beide als Wahlgüterstand gewählt werden konnten? Was der Gesetzgeber des BGB nicht berücksichtigt hat und auch schwer berücksichtigen konnte, war die rasche Veränderung der Lebensverhältnisse, bald beschleunigt durch den 1. Weltkrieg. 3. Das BGB kannte in erster Linie die absoluten Scheidungsgründe des Ehebruchs, der Bigamie, betätigter männlicher Homosexualität und Sodo‐ mie, der Lebensnachstellung und des Böswilligen Verlassens (§§ 1565-1568). Diese betrafen eheliches Fehlverhalten, waren aber inso‐ fern, als sie lediglich eine finale Handlung voraussetzten, nicht Ausdruck eines vertieften Verschuldensgedankens16. Ihnen stand in § 1569 mit der Geisteskrankheit ein rein objektiver Tatbestand ohne Tathandlung gegen‐ über, der sich der Einordnung als absolut oder relativ zu entziehen scheint, weil die Geisteskrankheit zur Aufhebung der geistigen Gemeinschaft ge‐ führt haben musste; das stellt einen speziellen Fall von Zerrüttung dar. Einziger relativer Scheidungsgrund war § 1568 mit der schweren Ehever‐ fehlung, die in einer Verletzung der durch die Ehe begründeten Pflichten, einer groben Misshandlung oder einem ehrlosen oder unsittlichen Verhal‐ ten bestehen konnte, sofern dadurch eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses verursacht war, dass dem Scheidungskläger die Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet werden konnte. Dieser in die Zukunft weisende Tatbestand hatte zunächst jahrelang nur geringe praktische Bedeutung. 4. Das Scheidungsrecht des BGB war konservativ, indem es die aufklä‐ rerischen Scheidungsgründe der subjektiven einseitigen oder zweiseitigen Zerrüttung unbeachtet ließ. Von subjektiver Zerrüttung kann gesprochen werden, wenn einer oder beide Gatten die Ehe ablehnen. Das in Preußen bis 1900 geltende ALR hatte unter der Überschrift „Unüberwindliche Ab‐ neigung“ sowohl die einverständliche Scheidung kinderloser Ehen als auch die Scheidung auf einseitigen Antrag wegen tief eingewurzelten, hoffnungslosen Widerwillens gegen den anderen gekannt17. Der im größ‐ ten Teil der preußischen Rheinprovinz und wenigen weiteren Gebieten Westdeutschlands geltende französische Code civil sowie das auf ihm be‐ ruhende Badische Landrecht kannten ebenfalls die einvernehmliche Schei‐

15 Stephan Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, 2013, S. 244. 16 Erst das Ehegesetz 1938 hat den Ehebruch unter die Überschrift „B I Scheidung wegen Verschuldens“ gestellt. 17 Teil I Titel 1 §§ 716-1719 b.

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dung. Der progressive Charakter dieser Scheidungsgründe stand in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts aber in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer prak‐ tischen Bedeutung18. Daher kann die Entscheidung des Gesetzgebers des BGB gegen jeglichen Tatbestand subjektiver Zerrüttung zwar konservativ, aber nicht reaktionär genannt werden. Ihr Kern lag in der Ablehnung jeder Annäherung des Ehescheidungsrechts an das vom Vertragsgedanken be‐ herrschte Eheschließungsrecht. Es war die Überzeugung der Väter des BGB, dass die Ehe als Institution der Verfügung der Gatten entzogen ist, so dass eine Scheidung im Wesentlichen nur in die Hand eines solchen Gatten gelegt sein konnte, den der andere pflichtwidrig verletzt hatte. Aus‐ nahmsweise scheidbar war eine Ehe, für die aus objektivem Grund die Voraussetzung für ein dem Status entsprechendes Lebensverhältnis nicht mehr gegeben war. 5. Die Eheauffassung der Verfasser des BGB kann aber auch liberal ge‐ nannt werden, insofern scheidungswillige Ehegatten von einem inquisito‐ rischen Eindringen des Richters in ihre Eheführung weitgehend verschont blieben. Die Feststellung des mehr oder weniger punktuellen Scheidungs‐ grundes enthob den Richter einer Beurteilung der Ehe als Ganzes. Diese Liberalität wurde zwar durch das Verschuldenserfordernis in § 1568 durchbrochen, das aber in diesem Zusammenhang nicht die strafrechtliche Tiefendimension hat. III. Die Entwicklung vor 1933 1. Obwohl sich die Scheidungszahlen schon im Kaiserreich kontinuierlich erhöhten, wurde das Scheidungsrecht damals nicht rechtspolitisch disku‐ tiert. Das änderte sich in der Weimarer Republik, als die Zahlen sprung‐ haft anstiegen. Die Gründe lagen in kriegsbedingten Frühehen, jahrelanger Trennung der Ehegatten und der veränderten Rolle von Soldatenfrauen und Kriegerwitwen, während heimgekehrte Männer an die Vorkriegsver‐ hältnisse anknüpfen wollten, aber ihre Partnerfähigkeit nicht selten durch Fronterlebnisse gelitten hatte. Hinzu kam die wirtschaftliche Not der Nachkriegszeit und Ende der 20er Jahre die Wirtschaftskrise. Selbst kon‐

18 Das gilt vor allem für den Code civil und das Badische Landrecht; in deren Gel‐ tungsgebiet wurden in den Jahren 1869 bis 1878 nur 4 % der Ehen auf Grund ge‐ genseitiger Einwilligung geschieden; für das ALR beträgt die Prozentzahl für die Jahre 1890 bis 1899 27 % (Ernst Wolf, wie oben Fußn. 1, S. 69 f.)

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servative Gegner einer Scheidungsreform räumten ein, dass „eine große Ehenot...im deutschen Lande eingezogen ist“19. Das Anheben der Schei‐ dungsdiskussion ist aber auch der allgemeinen Ideologisierung nach der Staatsumwälzung zuzuschreiben, weil sich die politischen Parteien, Über‐ zeugungsparteien, die sie in Deutschland waren, durch weltanschauliche Gegensätze profilierten, zu denen schon seit dem 19. Jahrhundert die Scheidungsfrage gehörte. 2. In den Jahren von 1920 bis 1930 wurden im Reichministerium der Justiz zweimal, 1922 (Radbruch, SPD) und 1929 (Koch-Weser, DDP), Re‐ ferentenentwürfe gefertigt, in 4 Sitzungen stellten Abgeordnete Anträge an den Reichstag, die zweimal (1922 und 1930) wegen Ablaufs der Legisla‐ turperiode verfielen. Zweimal verhandelte der Reichstag in der Sache (1925 und 1928), alle anderen Verhandlungen liefen von 1926 bis 1929 im Rechtspflege- und einem Unterausschuss20. Rein ideologisch waren An‐ träge der KPD im Reichstag vom 20. 10. 192621. Sie liefen auf eine Über‐ nahme des russischen Dekrets über die Ehescheidung vom 19./20. Dezem‐ ber 1917 hinaus, das Heirat und Scheidung zur Privatsache jedes einzelnen erklärt hatte, vorbehaltlich einer Intervention des Staates zum Schutz des Schwächeren oder der Kinder. Dass besonders die äußerste Linke auf eine subjektive Zerrüttungsscheidung zielte, ergab sich aus ihrer antiinstitutio‐ nellen, individualistischen, im Grunde ehefeindlichen Auffassung, weil sich der isolierte Einzelne leichter als Baustein des staatlichen Kollektivs eignete. Sachnäher begründete die SPD-Abgeordnete Agnes die einver‐ ständlichen Scheidung mit einem Argument klassenjuristischer Natur, dass nämlich zahlungsfähige Scheidungswillige durchaus eine Konventional‐ scheidung erreichten, indem sie von ihren Anwälten das Scheidungsthea‐ ter eines gesetzlichen Scheidungsgrundes aufführen ließen22. Die einseiti‐ ge Aufkündigung der Ehe blieb Alleineigentum der Kommunisten; die Konventionalscheidung wurde, nicht als actus contrarius zur Eheschlie‐ ßung, sondern als Indiz der Zerrüttung, auch von der SPD vertreten23. 19 So der Zentrumsabgeordnete Karl Anton Schulte in der 276. Sitzung des RT am 23. 2. 1927 (Verhandlungen des RT Sten. Ber. Bd. 392 a, S. 9185 f.) 20 Vgl. bei Schubert, wie Fußn.1, auf S. 10 f. die Übersicht unter II. "Das Eheschei‐ dungrecht im RT" und unter III. "Verhandlungen des 13. Ausschusses...". 21 Schubert, wie S. 1, S. 465 und 471. 22 Verhandlungen des Reichstags II. Wahlperiode 1924, Bd. 385 Stenographische Be‐ richte von der Sitzung am 18. 3. 1925 S. 1137. 23 Ramm, Familienrecht Bd. I, S. 81; Schubert, wie oben Fußn 1, S. 457; Sächsischer Entwurf (Justizminister Dr. Eigner) ebendort S. 465.

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3. Mehrheitsfähiger war die Tendenz zu einem objektiven Zerrüttungs‐ tatbestand. Der uneingeschränkt darauf zielende Vorschlag, mit dem Jus‐ tizminister Radbruch Anfang 1922 eine entsprechende Erweiterung von § 1568 zur Diskussion stellte, wurde jedoch von den meisten Ländern ab‐ gelehnt. Dem Verschuldensgedanken angenähert wurde dieser Ansatz in der Stellungnahme des preußischen Justizministers, der einen Gatten, der die Zerrüttung verschuldet hat, vom Klagerecht ausnahm24. Wurde dem Scheidungseinverständnis eine Trennungsfrist vorgeschaltet25, war der Übergang zu einem Heimtrennungstatbestand geschaffen, der ab 1927 mit Wilhelm Kahl, dem Vorsitzenden des Rechtspflegeausschusses (DVP), in den Mittelpunkt trat. Bei negativer Prognose sollte schon nach einem Trennungsjahr jeder an der Zerrüttung nicht schuldige Gatte das Klage‐ recht haben26. In der Folge wurde um die Einschränkung bei einseitigem Verschulden, die Wirkung der Trennungsfrist als widerlegliche oder unwi‐ derlegliche Zerrüttungsvermutung und ihre Dauer gestritten und ein Weg‐ fall der Einschränkungen gemäß einer Stufung der Frist diskutiert. Das Scheitern jeglicher Reform dürfte auf die Haltung des Zentrums zurückzu‐ führen sein, das als einzige der Weimarer Parteien an jeder Regierung be‐ teiligt war und jede Erleichterung der Scheidung als Bedrohung für die In‐ stitution der Ehe ablehnte27. IV. Die Eheideologie des Nationalsozialismus 1. Die NSDAP, seit 1924 im Reichstag vertreten, hatte sich an der parla‐ mentarischen Diskussion nicht beteiligt. Gleichwohl hatte die Ehe in der „Weltanschauung“ Hitlers einen festen Platz. Kaum eine einschlägige Ab‐ handlung versäumte es, mindestens eines der beiden folgenden Zitate der „Führers“ voranzustellen: „Auch die Ehe kann nicht Selbstzweck sein, sondern muss dem einen großen Ziele, der Vermehrung und Erhaltung der Art und Rasse dienen“28.

24 Schubert, wie oben Fußn.1, S. 85 f. 25 So zuerst in der einflussreichen Petition des Kölner „Verband Eherechtsreform“ (Schubert, wie oben Fußn. 1 S. 82 (dort Fußn. 49). 26 Schubert, wie oben S. 1, S. 86 f. und S. 538 f. 27 Schubert, wie oben Fußn. 1, S. 90. 28 Mein Kampf, München 1933, S. 275.

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„Es gibt nur ein geheiligstes Menschenrecht...: dafür zu sorgen, dass das Blut rein erhalten bleibt...Ein völkischer Staat wird damit in erster Linie die Ehe aus dem Niveau einer dauernden Rassenschande herauszuhalten haben“29.

Als Hitler später durch den Gang der Ereignisse genötigt war, in Unterre‐ dungen mit Justizminister Gürtner auf der Ebene 'einfachen Rechts' etwas 'Führendes' zur Gestaltung des Ehescheidungsrecht zu äußern, hatte er nur Gemeinplätze zu bieten, Schlagworte oder Unverständliches. Gürtner be‐ richtete, dass Hitler keine extremen Lösungen, sondern nur eine Verschär‐ fung beim Scheidungsgrund der Geisteskrankheit wolle30. Die Scheidung soll nicht erleichtert werden, die Scheidungsziffern seien so hoch, dass er meine, "Ehen würden leichter geschieden als geschlossen". In einem spä‐ teren Gespräch äußerte er das gleiche speziell für kinderlose Ehen mit dem nur in den seltenen Fällen relativer Unfruchtbarkeit stichhaltigen Argu‐ ment, sonst würden bevölkerungspolitische Nachteile erwachsen31. 2. Alle Nationalsozialisten stimmten darin überein, dass die Schei‐ dungsfrage aus der nationalsozialistischen Weltanschauung zu beantwor‐ ten sei. Weil sich jeder in deren Besitz sah, wähnte man sich allen anderen, früheren Reformern überlegen. Von der gleichwohl aufkommenden Debat‐ te untereinander sagt Alfred Wolf, sie sei „von der letztlich eminent nazisti‐ schen und nicht gelösten Frage bestimmt, was eigentlich nationalsozialis‐ tisches Ehescheidungsrecht sei“32. Wenn die Problematik der Eheschei‐ dung im Widerspruch zwischen der Institution der Ehe und dem Wohl der Gatten gesehen wird, liegt ein Dilemma vor, das wie der gordische Knoten nur durchgehauen werden kann. In solchem Sinn hat Hans Frank, Reichs‐ minister (ohne Geschäftsbereich) und Präsident der Akademie für Deut‐ sches Recht, von der Familie als „Urzelle völkischen Lebens“ und „Grund‐ pfeiler deutsch-völkischer Kultur“ gesprochen und von dem die „grauen‐ vollen Auswirkung menschlicher Schwächen in zerrütteten Ehen“ 33 ge‐ genübergestellt. Vorwortgeklingel mit tragischem Hintergrund. 3. Insoweit es, wie Wolf an anderer Stelle sagt, um die Entscheidung zwischen den beiden Forderungen ging, nämlich „Ehen zur Aufzucht erb‐

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Mein Kampf, S. 444. Alfred Wolf , wie oben Fußn. 1, S. 1220. Wie oben Fußn. 1. S. 1228. Wie oben Fußn. 1, S. 1122. Vorwort zu den von der Akademie erarbeiteten Vorschlägen für die „Neugestal‐ tung des deutschen Ehescheidungsrechts“, zitiert bei Alfred Wolf, wie oben Fußn. 1, S. 1219.

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gesunder Kinder zu erhalten und solche, die diesem Ziel nicht dienen, zu scheiden“, liegt kein Dilemma vor, sondern der Gegensatz der zwei Pole einer Skala. Dann ist zwar richtig, dass es keine Patentlösung gab, aber es gibt eine richtige Lösung in jedem Einzelfall, so schwer zu finden sie für den Richter sein mag. Zwar lassen die Stellen aus Hitlers „Mein Kampf“ wie die Äußerungen der meisten Gesinnungs- und Parteigenossen aus‐ nahmslos eine institutionelle Auffassung erkennen: die Ehe erscheint als organisches Element im größeren Organismus des Volkskörpers. In jeder Konkretisierung wird das Institutionelle aber gleichsam entzaubert und aus der Ehe ein reines Instrument: Ehe und Familie haben „Dienstcharak‐ ter in einem höheren Ordnungsgefüge“34. Die Ehegatten stehen der Institu‐ tion nicht in einem Tragik einschließenden Spannungsverhältnis gegen‐ über, sondern sind ihr schlicht unterworfen. 4. Der Dienst, den die Ehe zu leisten hat, gilt der Rasse; diese soll nicht nur rein bleiben, sondern auch gesund und mächtig sein. Die Rasse ist der Ehe vor- und aufgegeben; „Rassenlehre“ wird mit einer sich naturwissen‐ schaftlich gebenden Genauigkeit betrieben und gehandhabt. Die Erbar‐ mungslosigkeit, mit der „Mischehen“ verboten und ihre Scheidung er‐ zwungen wird, folgt aus dem instrumentellen Charakter des zugrunde ge‐ legten Ehebegriffs. Das ist das nationalsozialistische Familienprogramm in seinen drei Elementen: dem rassischen, eugenischen und bevölkerungs‐ politischen. Thilo Ramm weist darauf hin, dass der nationalsozialistische Gemeinschaftsgedanke prinzipiell vereinbar gewesen sei mit der konser‐ vativen Ehe- und Familienauffassung der Zeit, in der er erwachsen ist. So sei das eugenische Prinzip von der in Art 119 II der Weimarer Reichsver‐ fassung aufgestellten Forderung nach „Reinerhaltung, Gesundung und so‐ zialer Förderung der Familie“ kaum zu trennen, auch stimme die national‐ sozialistische Bevölkerungspolitik mit der Sorge der Weimarer Republik für kinderreiche Familien bis auf den Punkt überein, dass nach konservati‐ ver Ideologie die Familiengröße von den Individuen bestimmt werden sol‐ le35. Diese Ähnlichkeit verblasst jedoch davor, dass die Nationalsozialis‐ ten den Gemeinschaftsgedanken auf die Rasse gründeten und vor den Fol‐ gen, die sie daraus abgeleitet haben.

34 Wieacker DR 37, 178. 35 Eherecht und Nationalsozialismus, in: Klassenjustiz und Pluralismus, Festschrift für Ernst Fraenkel, 1971, S. 115 ff.

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Im Jahr 1937 meldeten sich unterstützend zwei namhafte Vertreter der Universitätswissenschaft zu Wort, von denen sich Franz Wieacker36 deut‐ lich nationalsozialistisch einschließlich der rassistichen Grundlegung und antisemitischer Töne darstellt, während Karl Larenz37 zwar das Völkische betont, aber das rassistische oder antisemitische Moment vermeidet. V. Reformbestrebungen nach 1933 1. Rechtspolitische Forderungen ergaben sich aus dem nationalsozialisti‐ schen Programm in erster Linie für das Eheschließungs- und das Sozial‐ recht. Daher charakterisiert sich die nationalsozialistische Familienrechts‐ politik zunächst durch das Erbgesundheitsgesetz vom 18. 10. 1935 sowie das zu den Nürnberger Gesetzen gehörende Gesetz zum Schutz des deut‐ schen Blutes und der deutschen Ehre vom 14. 11. 1935 mit ihren Ein‐ schränkungen der Eheschließungsfreiheit aus eugenischen und aus rassi‐ schen Gründen. Ferner zu nennen ist die DVO zum Gesetz zur Verminde‐ rung der Arbeitslosigkeit vom 1. 6. 1933 mit der Regelung von Ehestands‐ darlehen, wodurch einerseits der Arbeitsmarkt von Arbeit suchenden Frau‐ en entlastet werden, andererseits die Bevölkerung vermehrt werden sollte. Zu diesem Zweck wurde die Tilgung der Darlehen nach Zahl und Rasch‐ heit der Geburten erleichtert. Demgegenüber wurde der Stellenwert des Scheidungsrechts von Roland Freisler, im Jahr 1937 Staatssekretär im Reichjustizministerium, gering veranschlagt: „Unter den staatlichen Maß‐ nahmen sind viele bedeutsamer als das jetzige Gesetz oder das zu erlas‐ sende Eherecht“, und weiter: „Im Eherecht selbst übt das Recht der Ehe‐ schließung den einschneidendsten Einfluss auf die Gestaltung der Ehe ... aus“38. 2. Für die nationalsozialistische Familienrechtspolitik ergab sich der ge‐ ringere Stellenwert des Scheidungsrechts39, speziell der Scheidungsvor‐ aussetzungen, aus dem Desinteresse an der Persönlichkeit der Ehegatten. 36 Geschichtlicher Ausgangspunkt der Ehereform, in: Deutsches Recht, Zentralorgan des nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes (DR) Jg. 7, 1937, S. 178. 37 Grundsätzliches zur Ehescheidungsreform, DR 1937, S. 184. 38 Vom alten zum neuen Ehescheidungsrecht, Berlin 1937, S. 4 f. 39 Aus diesem Desinteresse am Scheidungsrecht wurden Folgerungen gezogen, als gegen Kriegsende die Personalnot der Justiz immer größer wurde: nach einer VO vom 1. 9. 1939 konnte das Gericht in jeder Lage das Ruhen eines Verfahrens an‐ ordnen, „wenn es nach den Umständen des Einzelfalls die Erledigung der Sache

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Das Verschulden eines Gatten interessierte insofern, als der andere da‐ durch verletzt wurde, überhaupt nicht, sondern nur insofern es geeignet war, die Ehe zu zerrütten, die dadurch ihre bevölkerungspolitische Aufga‐ be nicht mehr erfüllen konnte: Kinder hervorzubringen und aufzuziehen. Wiederum Freisler zum Scheidungsrecht: „Es wirkt sich zwar auf viel we‐ niger Ehen aus als das Eheschließungsrecht, eben nur auf die kranken. Und es muss sich weitgehend bescheiden, insofern es nur in beschränktem Umfange die vornehmste Aufgabe des Rechts erfüllen kann: Unheil zu verhüten... Die Bedeutung des Ehescheidungsrechts liegt...in der Hauptsa‐ che nicht in der Zahl der von ihm betroffenen Ehen, sondern darin, dass todkranke Ehen, die ihre völkische Pflicht trotz Zeugungs- und Geburten‐ fähigkeit der Ehegatten nicht mehr zu erfüllen vermögen – aufs Volksgan‐ ze gesehen – den Abschluss einer gleichen Zahl von Ehen fortpflanzungs‐ fähiger und gesunder deutscher Menschen verhindern, die in diesen neuen Ehen ihrer völkischen Aufgabe gerecht werden können“40. Von daher er‐ gab sich die nationalsozialistische Richtung auf einen schneidigen Zerrüt‐ tungstatbestand und zu Antragsrechten das Staatsanwalts. 3. Es war nicht revolutionäre Leidenschaft, aus der Nationalsozialisten eine Reform des Scheidungsrechts angegangen sind. Aber sie hatten den Anspruch, das gesamte bürgerliche Recht zu erneuern, also auch das Fa‐ milienrecht. a) Zu diesem Zweck war schon im Jahr 1933 die Akademie für Deut‐ sches Recht gegründet worden, die ihre Arbeit mit dem Ehescheidungs‐ recht begann, das allgemein als reformbedürftig galt, ein 'volkstümliches' Thema war und überdies schon in Weimar reformerisch aufbereitet. Man konnte hoffen, im Ehescheidungsrecht den Anspruch der Erneuerung un‐ schwer durch Umstellung einiger jedem Fachmann bekannten Versatzstü‐ cke für das Volk sichtbar einlösen zu können. Im Jahr 1934 veröffentlichte der Vorsitzende des Familienrechtsausschusses der Akademie, Rechtsan‐ walt Dr. Ferdinand Mößmer, einen im Ausschuss erarbeiteten Vorschlag

nicht als „dringlich“ ansah. Nach dem „Richterbrief Nr. 5“ sollten im „totalen Krieg“ Ehescheidungsprozesse grundsätzlich nur noch durchgeführt werden, „wenn ein bevölkerungspolitisches Interesse es gebot oder wenn die Beteiligte schwere unzumutbare Nachteile zugefügt wurden. Zuletzt bestimmte der Reichjus‐ tizminister, dass Ehesachen nur noch durchzuführen waren, wenn ein bevölke‐ rungspolitisches Interesse dies gebietet oder wenn sie vom Staatsanwalt betrieben werden. 40 a.a.O. S. 8.

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zur „Neugestaltung des deutschen Ehescheidungsrechts“41. Zwei weitere Vorschläge ergaben sich aus der typischen Konkurrenz von Unterorganisa‐ tionen mit ihrem Streben nach Profilierung. b) Im Jahr 1937 legte die Wissenschaftliche Abteilung des Deutschen Rechtswahrerbundes (NSRB) den Entwurf eines neuen Ehescheidungs‐ rechts vor42. Auch das Reichsjustizministerium unter Leitung von Minister Dr. Franz Gürtner blieb nicht untätig; sein Entwurf wurde zuletzt für das Ehegesetz bestimmend. Schließlich lagen im Jahr 1937 zwei Einzelarbei‐ ten vor: eine im Jahr 1936 erschienene Kölner Dissertation „Die Reform des Ehescheidungsrechts“ von Otto-Rudolf Bovensiepen43 sowie die um‐ fassende Darstellung „Vom alten zum neuen Ehescheidungsrecht“ von Dr. Roland Freisler44. Die Zahl der Vorarbeiten und wissenschaftlichen Veröf‐ fentlichungen mag überraschen, zumal ihre Gesetzgebungsvorschläge in‐ haltlich variieren. Freisler hat diesen Meinungspluralismus als Beleg für die Offenheit des Nationalsozialismus gerühmt45. c) Die meisten von den Nationalsozialisten vertretenen Varianten für die Gestaltung des Scheidungsrechts waren nicht so revolutionär46, wie die ideologischen Propagandisten sich und anderen vormachten. Auf der „linken“ Seite des Spektrums entfiel die gänzlich Verneinung des institu‐ tionellen Charakters der Ehe, wie die Kommunisten das vertreten hatten, auf der “rechten“ Seite schied eine Beschränkung auf Verschuldensschei‐ dung aus47. Die später maßgeblichen nationalsozialistischen Forderungen, waren auch in Weimar von Sozialdemokraten bis zur DNVP diskutiert worden; nur Kommunisten und Zentrum stehen außerhalb dieses Ver‐ gleichsspektrums. Alle nationalsozialistischen Positionen bewegten sich unterschiedlich weit vom Verschuldensprinzip des BGB weg auf das Zer‐

41 Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Berlin o.J. (nach Freisler wie Fn 38, S. 106: 1935). 42 DR 1937, 251. 43 Rezensiert in AcP 143, 110 -112 (Isele). Der Vater Otto Bovensiepen war Altnazi, zuletzt Leiter der Gestapo in Berlin; ein Strafverfahren gegen ihn wegen der De‐ portation von über 50 000 Juden wurde im Jahr 1970 wegen dauernder Verhand‐ lungsunfähigkeit eingestellt. (Wikipedia). 44 Oben Fußn. 38. 45 A.a.O. S. 106. 46 Über die Ausnahme des Kirchenministers Hanns Kerrl sogleich. 47 Die Markierung der beiden Ränder des Feldes für ein nationalsozialistisches Scheidungsrecht klang in Hitlers Worten so: ausgeschlossen sei für Deutschland die kanonische und die jüdische Lösung (Alfred Wolf, wie oben Fußn. 1, S. 1220).

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rüttungsprinzip zu. Radikal war nach der einen Seite Bovensiepen48, der nur eine objektive Zerrüttung anerkannte und nach der anderen Seite Kerrl,49 der nur die Konventionalscheidung zulassen wollte. Beide Extre‐ me entbehrten aber der Durchsetzungskraft, erstere blieb eine einzige Lite‐ raturmeinung und dem verhinderten Reichsjustizminister Kerrl konnte sei‐ ne Radikalität weder unter maßgebenden Genossen und noch weniger bei juristischen Fachleuten Freunde schaffen. Von den anderen wurde nicht das Verschuldensprinzip als solches kritisiert, sondern nur seine aus‐ schließliche Geltung. Umgekehrt entsprechend hatten die früheren Gegner des Zerrüttungsprinzips nicht geleugnet, dass eine Ehe unverschuldet zer‐ rüttet sein kann, aber gemeint, im Interesse der Institution, man kann auch sagen: aus generalpräventiven Gründen, darauf keine Rücksicht nehmen zu sollen50. Nationalsozialistische Autoren haben ebenfalls den general‐ präventiven Gedanken betont und die Motivierbarkeit der Menschen durch die Gestaltung des Scheidungsrechts nicht in Abrede gestellt51. Aber bei ihnen wurde der generalpräventive Gedanke von einer Folgerung aus ihrer spezifischen institutionellen Eheauffassung gekreuzt: eine zerrüttete Ehe kann ihren „Dienst“ nicht mehr erfüllen, aus ihr sind keine Kinder mehr zu erwarten und den vorhandenen Kindern können die Eltern kein Vorbild sein. Als spezielle Nachteile eines ausschließlichen Verschuldensprinzips wurde genannt, dass scheidungswillige Ehegatten den Ausweg suchen, Verschuldensgründe zu fingieren und dem Gericht vorzutäuschen52, ferner werde das Verhältnis der Gatten durch das Bestreben – und dieses Argu‐ ment scheint neu gewesen zu sein - dem anderen ein Verschulden nachzu‐ weisen, zusätzlich belastet 53. VI. Das Gesetzgebungsverfahren bis zum Anschluss Österreichs 1. Mitte des Jahres 1936 wurde Justizminister Gürtner aktiv, nachdem es ihm gelungen war, ein Gespräch mit Hitler zu erreichen, aus dem er einen

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Über ihn oben S. 126. Zu ihm unten S. 129 mit Fußn. 56. Mugdan, Materialien zum BGB, Bd. 4 Familienrecht, 1899, ND 2005, S. 301 f. So aber später Ernst Wolf in Wolf/Lüke/Hax, Scheidung und Scheidungsrecht, 1959, passim, bs. S. 174 ff. 52 Vorspruch zum Entwurf des NSRB in DR, 1937, 177. 53 Larenz DR 37, 185 und Bovensiepen (oben S. 126) S. 46.

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Auftrag zur Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs ableitete. Von da an ver‐ lief die Reformdiskussion in (Ein-) Ladungen zu Gesprächen und jeweils vorbereitendem Schriftwechsel. Im November 1936 traf sich Gürtner mit 6 Ministerkollegen sowie dem Vertreter des Führers Rudolf Heß und mit Rechtanwalt Mößmer, den Vorsitzenden des Familienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht. Auf der Grundlage dieser Besprechung übersandte Gürtner den Gesprächsteilnehmern im Januar 1937 einen Ge‐ setzesentwurf54. Unterschiede zu dem Akademievorschlag waren alles an‐ dere als 'weltanschaulich', sondern eher rechtstechnischer Art. So waren im Akademievorschlag die Verschuldensgründe des Ehebruchs oder eines Sittlichkeitsverbrechens, der Lebensnachstellung und der Fortpflanzungs‐ verweigerung absolut gefasst, aber der Einwendung ausgesetzt, dass durch sie keine Zerrüttung verursacht worden war. In Gürtners Vorschlag waren die Tatbestände der Verschuldensscheidung dagegen uneingeschränkt ab‐ solut gefasst. Nur der Akademievorschlag enthielt den Tatbestand einer gemeinschaftlichen verbrecherischen oder unsittlichen Lebensführung, durch welche die öffentliche Sittlichkeit oder lebenswichtige Gemein‐ schaftsunteressen dauernd gröblich verletzt werde, Fälle, in denen das An‐ tragsrecht bei der Staatsanwaltschaft liegen sollte. Nur Gürtners Entwurf enthielt die Tatbestände der Unterhaltspflichtverletzung, der böslichen Verlassung und einer 10jährigen Heimtrennung. Mit diesem § 13 seines Entwurfs knüpfte Gürtner an die Weimarer Reformdiskussion an, in der zuletzt ein Heimtrennungstatbestand die größte Aussicht auf Verwirk‐ lichung gehabt hatte; nur waren dort deutlich kürzere Trennungsfristen diskutiert worden. Bei dieser reformerischen Zurückhaltung verwundert es nicht, dass in Gürtners Entwurf auch die Einschränkung des Antragsrechts für denjenigen Ehegatten, der die Zerrüttung ganz oder überwiegend ver‐ schuldet hat, aufgenommen war; in solchem Fall erhielt der Beklagte durch § 55 Abs. 2 des Entwurfs ein Recht zum Widerspruch, der aber die Scheidung nicht ausschloss, sondern nur die Prüfung bewirkte, ob eine Aufrechterhaltung der zerrütteten Ehe bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe und des gesamten Verhaltens beider Ehegatten sittlich gerechtfer‐ tigt war. Neu war bei Gürtner ein Tatbestand für die Eheverfehlung eines Schuldunfähigen infolge „normwidriger geistigen Verfassung“. Auf Grund dieser und zweier weiterer Besprechungen im selben Kreis wurde ein ver‐

54 Abgedruckt bei Alfred Wolf, wie oben Fußn.1, S. 1221 f.

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änderte Entwurf im April 1937 an einen erweiterten Kreis von Adressaten versandt. 2. Ende 1937 führte Reichminister Dr. Frank als Präsident der Akade‐ mie eine Verständigung des Familienrechtsausschusses der Akademie mit Beamten des Reichsjustizministeriums herbei, in deren Folge beide bisher vorliegenden Entwürfe zusammengeführt wurden. Jetzt drängte Frank bei Gürtner auf Fertigstellung der Kabinettsvorlage55. Indessen hatte sich die Auseinandersetzung längst aus diesen beiden Institutionen herausverla‐ gert; setzte nach der Geschäftsordnung eine Kabinettsvorlage doch die Ei‐ nigung aller Minister voraus. Aus deren Runde hatte sich bereits im April 1937 Kirchenminister Kerrl als Gegner in Stellung gebracht56. Dass dieser eine isolierte Reform der Scheidung ablehnte und die Eheanfechtungs‐ gründe, die Unterhaltsfolge und sogar das Verfahrensrecht einbeziehen wollte, ließ sich hören, war aber gleichwohl ein wohlfeiles Argument, wie es gegen so gut wie jede Teilreform ins Feld geführt werden kann. Was die Scheidungsgründe angeht, so berief sich Kerrl auf deren „weltanschauli‐ chen Gehalt", dem er mit einem Rückgriff auf „den alten germanischen Rechtsgedanken des Scheidungsvertrags bzw. der Selbstscheidung“ ent‐ sprechen wollte57. Aus dem germanischen Recht folgerte Kerrl bei völli‐ ger Ablehnung des Verschuldensprinzips die Maßgeblichkeit des subjekti‐ ven Zerrüttungsprinzips in Form der privaten Konventionalscheidung, zu ergänzen durch einen objektiven Zerrüttungstatbestand. 3. Wenn Gürtner58 in seiner so sachlichen wie entschiedenen Antwort an Kerrl „Wünsche auf leichtere Lösbarkeit der Ehe“ erwähnt, spielte er damit auf die SS an, „deren wildeste Leute als „Allesscheider im „Schwarzen Korps“ wüsten Lärm vollführten“59. Ihnen und ihrem

55 Alfred Wolf, wie oben Fußn. 1, S. 1225. 56 Kerrl war radikaler Nationalsozialist, 1933 aus dem mittleren Justizdienst zum preußischen Justizminister aufgestiegen, hatte er sich bei Neubesetzung des Amts des Reichjustizministers Hoffnungen gemacht. Bei der nationalsozialistischen Or‐ ganisation der Justizbeamten überholte ihn Hans Frank mit seinem BNSDJ (Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, 1988, S. 86 f.). 57 Geschichtlich nicht gerade verfehlt: zum Ganzen zuletzt Stefan Chr. Saar, Ehe – Scheidung – Wiederheirat. Zur Geschichte des Ehe- und Ehescheidungsrechts im Frühmittelalter, 2002, S. 293 ff. Aber über die Absurdität solchen Atavismus ist kein Wort zu verlieren. 58 Über ihn nicht ohne Respekt Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, 1988, S. 9 - 83. 59 So Frantz, von 1937 bis 1943 Mitglied des für Ehesachen zuständigen IV. Senats des Reichsgerichts, in NJW 1949, 448.

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„Reichsführer“ Heinrich Himmler, dem Begründer und Leiter der „SSForschungs- und Lehrgemeinschaft Ahnenerbe“60 muss Kerrl näher ge‐ standen haben als seinem „Führer“, der von den alten Germanen wenig gehalten hat61. Auf Kerrls Vorschläge geschweige auf deren weltanschau‐ liche Begründung ist in der Folge niemand eingegangen, doch wirkten sie als Hemmschuh, wenn nicht Prellbock auf dem Gleis eines geschäftsord‐ nungsgemäßen Gesetzgebungsverfahrens, zumal sich auch Himmler aus genau entgegengesetzter Richtung zu Wort meldete: er stellte sich auf den Standpunkt objektiver Zerrüttung. Die aus derselben Weltanschauung an‐ geblich abgeleiteten disparaten Forderungen zeigen eines: für eine analyti‐ sche Antwort auf die von Alfred Wolf gestellt Frage, „was eigentlich natio‐ nalsozialistisches Scheidungsrecht sei“62, fehlten der nationalsozialisti‐ schen Weltanschauung schlicht die Prämissen. Eine Lösung konnte sich nur in der Weise ergeben, dass eine kraft Machtwort oder durch ein kon‐ tingentes Ereignis – so bald darauf der Anschluss Österreichs – zustande kommende Regelung hinterher als Folgerung aus der nationalsozialisti‐ schen Weltanschauung hingestellt würde63. 4. Eine auf den 14. 1. 1938 angesetzte Chefbesprechung kam wegen des aufrechterhaltenen Widerstandes von Kerrl und Himmler nicht zustande. Dagegen stimmte Rudolf Heß, „Stellvertreter des Führers“ und Minister ohne Geschäftsbereich, in einer Unterredung mit Gürtner dessen Entwurf zu und im Hinblick darauf stellte auch Innenminister Frick anfängliche Bedenken zurück. Das änderte jedoch nichts daran, dass Gürtner den ihn obliegenden letzten Schritt der Vorlage an das Kabinett nicht tun konnte.

60 Joachim Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches, 1963, S. 156 ff, 165. Auf S. 160 auch über Himmlers auf Abschaffung der Monogamie zielendes Ehekonzept. 61 „Lackel“ hat er sie genannt in ihrem „Sauland“ (darüber Joachim Fest, Hitler, zu‐ erst 1973, bs. S. 734). Das anfängliche Vertrauen Hitlers hatte Kerrl Anfang 1937 bereits verloren (Carsten Nicolarsen, ‚Kerrl Hanns’ in NDB 11 (1977, S. 534). 62 Oben S. 6. 63 Nach Fertigstellung des Gesetzes, das am 1. Juli 1938 in Kraft trat, wurde das Sa‐ che der kommentierten Gesetzesausgabe, eine Aufgabe, der die Autoren, sämtlich Beamte und Mitarbeiter Gürtners im Reichjustizministerium, nur zurückhaltend nachgekommen sind (Großdeutsches Eherecht, 1938).

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VII. Der Anschluss Österreichs und das „Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiet“. 1. Das Ereignis war dann der Anschluss Österreichs im März 1938. Die Dringlichkeit, mit der ein spezifisch österreichischer „Ehewirrwarr“ ge‐ setzgeberisches Eingreifen erforderte, ließ in dem „Führerstaat“ des Drit‐ ten Reiches geschäftsordnungsmäßige Hemmnisse ebenso zurücktreten64 wie inhaltliche Einzelheiten. Hitler selbst war nur am schnellen Inkrafttre‐ ten des Gesetzes interessiert, nicht an inhaltlichen Einzelheiten, wie ihm überhaupt alle „Juristerei“ ein Greuel war war65. 2. Das österreichische Scheidungsrecht war noch unverändert das des Josephinischen Gesetzbuchs von 1783, das mit einer kurzen Unterbre‐ chung von 1855 bis 1868 ohne wesentliche Änderungen seit 1811 den per‐ sonenrechtlichen Teil des ABGB bildete. Danach galt als materielles Scheidungsrecht das konfessionelle Recht der Ehegatten. Problematisch war das für Katholiken, deren Ehe gemäß § 111 ABGB nicht dem Bande nach getrennt werden konnte. Weil es auf die Konfession im Zeitpunkt der Eheschließung ankam, half auch kein Konfessionswechsel. Als sich weder die Bestrebung von katholischen Laienvereinen noch die von Seiten der SPÖ – die Regierung Renner hatte bereits am 23. und 24. Januar 1919 den Entwurf einer Eherechtsnovelle vorgelegt – durchsetzten, half der sozialis‐ tische Landeshauptmann von Niederösterreich und Wien, Albert Sever, auf administrativem Weg. Nach § 83 ABGB konnte die Landesstelle, in obers‐ ter Instanz das Ministerium des Inneren, aus wichtigen Gründen „Nach‐ sicht“ in Bezug auf Ehehindernisse gewähren66. Da diese Hindernisse nicht abschließend aufgezählt waren, behandelte Sever nun auch das Hin‐ dernis des Ehebandes (§ 62 ABGB) als disponibel und ebnete damit für die Wiederheirat katholisch Geschiedener einen Weg zur Notzivilehe. Als ein Erlass es Ministeriums des Inneren vom 27. 8. 1919 diese Praxis für rechtmäßig erklärte, war die österreichische Dispensehe geschaffen, die

64 Über die Verdrängung des geschäftsordnungsmäßigen Gesetzgebungsverfahrens infolge des Ermächtigungsgesetzes Gruchmann, wie oben Fußn. 54, S. 68. 65 Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-1942, hsg. von P.E. Schramm, 1980, S. 142. 66 Manzsche Ausgabe der österreichischen Gesetze, Bd. 2 ABGB, 20. Aufl., Wien 1916, Anm. zu § 83.

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nach einem Wort Ehrenzweigs in der Kulturwelt nicht ihresgleichen hat67. Aber dieser Weg blieb unsicher. 1921 erklärte der Oberste Gerichtshof in einem auf Ersuchen des Justizministeriums erstatteten Gutachten das Hin‐ dernis der Ehebandes für indispensabel. Indem in der Folgezeit die Zivil‐ gerichte, wenn sie die Gültigkeit einer Dispensehe zu prüfen hatten, diese im Anschluss an den OGH verneinten, bestand ein Kompetenzkonflikt zwischen Verwaltung und Justiz, zu dessen Schlichtung im Jahr 1927 der Verfassungsgerichtshof angerufen wurde. Dieser sah die Zivilgerichte als an die Verwaltungsentscheidung gebunden an, verwies daher an das Zivil‐ gericht zurück, das nun an diese Rechtsauffassung gebunden war. Im Jahr 1930 änderte das Verfassungsgericht jedoch seine Ansicht, so dass der Be‐ stand einer Dispensehe, wie schon zwischen 1921 und 1927, davon ab‐ hing, ob sie angegriffen wurde oder nicht. 3. Bei der Unerträglichkeit einer solchen Rechtslage – man denke nur an die unterhalts-, versorgungs- und erbrechtlichen Folgen - erscheint es glaubhaft, dass die österreichischen Nationalsozialisten bereits in den drei‐ ßiger Jahren damit geworben haben sollen , die Ehescheidung einzufüh‐ ren. Der Anstoß zur Verwirklichung dieses Zieles wird in dem im Reich‐ justizministerium gefertigten Kommentar zum EheG 1938 im Stil einer mittelalterlichen Gesetzgebungslegende so geschildert: „Tatsächlich er‐ teilte denn auch der Führer und Reichskanzler alsbald nach seiner ersten Besichtigungsfahrt durch die wiedergewonnene Heimat, bei der insbeson‐ dere auch viele Klagen über den heillosen Ehewirrwarr an ihn herange‐ tragen waren, dem Reichsminister der Justiz den Auftrag, beschleunigt ein Gesetz auszuarbeiten, das geeignet wäre, die in Österreich aus der Zwie‐ spältigkeit seines Eherechts entstandenen unhaltbaren Zustände endgültig zu beseitigen und insbesondere die unglückselige Dispensfrage einer ra‐ schen und befriedigenden Lösung zuzuführen“68. 4. Nun hatte das Problem der Dispensehe seine Ursache zwar im kano‐ nischen Eherecht, das nur eine Trennung von Tisch und Bett kannte, die das Eheband bestehen ließ und damit für beide Teile eine Wiederheirat ausschloss. Eine Lösung des Problems konnte aber nur in einem staatli‐ chen Eheschließungsrecht bestehen, das die Zivilehe verwirklicht und kein Ehehindernis einer geschiedenen Erstehe kennt. Eine Beschränkung auf eine Reform des Scheidungsrechts hätte katholische Anhänger ihrer Kir‐

67 Ehrenzweig, JW 27, 1184. 68 Wie oben Fußn. 63, dort S. 47.

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che in die Lage einer staatlich zugelassenen Bigamie gebracht und vor al‐ lem in Altfällen nicht geholfen. Mit Recht bezeichnete Gürtner es daher als „dringend erforderlich, in kürzester Zeit in Österreich nicht nur das Recht der Ehescheidung, sondern auch das der Eheschließung neu zu re‐ geln“69. Zwar hätte kurzerhand das geltende deutsche Eheschließungsund Scheidungsrecht des BGB in Österreich eingeführt werden können. Aber angesichts des vom Reichjustizminister erarbeiteten, nur durch den Widerstand von Kerrl und Himmler und wegen des zwischenzeitlichen Desinteresses Hitlers noch nicht in Kraft gesetzten Entwurfs eines neuen Scheidungsrechts hätte bei Ausdehnung des Geltungsbereich des noch gel‐ tenden deutschen Eherechts auf Österreich den gerade „angeschlossenen“ Österreichern binnen Kurzem eine zweite Rechtsumstellung zugemutet. Gewiss hat Gürtner „die Gunst der Stunde genutzt“70, aber seine Entschei‐ dung, nicht das auslaufende Recht des BGB sondern ein neue Recht für Eheschließung und Ehescheidung einzuführen, auch um den Preis einer geringen Verzögerung, war die einzig Richtige. Bedenken einzelner Mi‐ nister gegen den geschwind erarbeiteten Entwurf des Eheschließungs‐ rechts können nicht schwerwiegend gewesen sein, denn sie wurden in einer Ressortbesprechung beigelegt. Kerrls aufrechterhaltener Wider‐ spruch gegen den Scheidungsrechtsentwurf wurde dadurch kraftlos, dass Hitler in einer Unterredung mit Gürtner dessen Vorschlag zustimmte. Am 6. 7. 1938 trat das neue Recht in „Großdeutschland“ in Kraft. 5. Das Ehegesetz hielt sich in seinem zweiten, das Recht der Eheschei‐ dung behandelnden Abschnitt (§§ 46–83) an die Vorarbeiten und zwar auf deren konservativer Linie. In dem Abschnitt B „Ehescheidungsgründe“ (§§ 47- 55) stand der Unterabschnitt I „Scheidung wegen Verschuldens (Eheverfehlungen)“ vor dem Unterabschnitt II „Scheidung aus anderen Gründen“. Bei den Eheverfehlungen blieben Ehebruch (§ 47) und Verwei‐ gerung der Fortpflanzung (§ 48) absolute Tatbestände, denen die General‐ klausel des § 49 gegenübersteht, in der „andere Eheverfehlungen“ die Scheidung nur begründen, wenn sie zur Zerrüttung der Ehe geführt haben. § 49 EheG entspricht also dem vorangegangenen § 1568 BGB-1900. Die entscheidende Neuerung gegenüber dem BGB liegt in dem Ausbau der unverschuldeten Scheidungsgründe. Hier hält sich das Ehegesetz gegen‐ über nationalsozialistisch Vorarbeiten deutlich zurück. Die meisten hatten

69 Schnellbrief vom 10. 5. 1938, zitiert bei Alfred Wolf, wie oben Fußn. 1, S. 1226. 70 Wolf, wie oben Fußn. 1, S. 1226.

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den Weg zu einer materiellen Prüfung objektiver Zerrüttung öffnen wol‐ len. Demgegenüber blieb das Gesetz mit § 55 bei Gürtners Vorschlag ei‐ nes Heimtrennungstatbestandes, verkürzte die Trennungsfrist jedoch von 10 auf 3 Jahre; das weitere Erfordernis, dass infolge Zerrüttung die Wie‐ derherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemein‐ schaft nicht zu erwarten war, konnte kaum einschränkend wirken. In kei‐ nem veröffentlichten nationalsozialistischen Vorschlag war derartiges vor‐ gesehen gewesen. Im Gegenteil hatten sich Franz Wieacker und Freisler dagegen ausgesprochen, der objektiven Zerrüttungsscheidung eine Tren‐ nungsfrist vorzuschalten71. § 55 EheG ist vielmehr aus dem Entwurf des Reichjustizministeriums72 in das Ehegesetz übernommen worden. VIII. Das Ehegesetz 1938 in der Entwicklung des deutschen Ehescheidungsrechts Bis zum Jahr 1900 hatte es keine Regelung der Scheidung gegeben, die das Erfordernis enthalten hätte zu bestimmen, ob eine Ehe zerrüttet ist. Scheidungsgründe bzw. ihre Bausteine waren bestimmte Handlungen (Ehebruch, Sävitien Injurien, bösliches Verlassen), psychisch-mentale Zu‐ stände (körperliche Gebrechen, Wahnsinn, Abneigung) äußere Umstände wie Kinderlosigkeit und Willensäußerungen der Gatten, nämlich das bei‐ derseitige Einverständnis über die Scheidung oder die gegen den anderen gerichtete Klage auf Scheidung. Es war das BGB, das diese Epoche des Ehescheidungsrechts beendet hat. Eine Scheidung wegen schwerer Ver‐ fehlung erforderte nach § 1568 BGB-1900 die Feststellung, dass der Be‐ klagte durch seine Verfehlung eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen Ver‐ hältnisses verschuldet hat, dass dem Kläger die Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet werden kann. In den Erläuterungen und Kommentierungen von § 1568 BGB (1900) scheint der „Paradigmenwechsel“ ebenso wenig wahrgenommen worden zu sein wie in Lehrbüchern.

71 Während Wieacker (DR 37, 184) bei seiner Argumentation eine einverständliche Scheidung im Auge hatte, dachte Freisler (wie oben Fußn. 33, S. 166 f.) an Fälle einseitigen Scheidungsbegehrens. Wie bei seinen Ausführungen zur Beibehaltung des Ehebruchs auch des Mannes als absolutem Scheidungsgrund (wie oben Fußn. 38, S. 172 ff.) dachte er an eine scheidungswillige Frau, die dann viel schwerer als der Mann die Trennung herbeiführen könne. 72 Wie oben S. 128 mit Fn. 54, § 11 Abs. 1 des Entwurfs.

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Von dieser Vorschrift des BGB unterscheidet sich § 49 EheG kaum: die Neuerung des Ehegesetzes liegt vielmehr im Heimtrennungstatbestand des § 55. Darin steht das Merkmal der Zerrüttung kumulativ neben dem des dreijährigen Getrenntleben, aber es versteht sich von selbst, dass dieses die Zerrüttung ausdrückt, so dass deren Nennung als eigenes Tatbestands‐ merkmal für Regelfälle keine weitere Bedeutung hat, sondern nur dazu dient, ausnahmsweise Trennungsfälle wie berufliche Abwesenheit oder Strafhaft von dem Tatbestand auszunehmen. Auf dem Weg vom BGB-1900 zu dem insoweit durch das Erste Eherechtsreformgesetz erneu‐ erten BGB von 1976 mit seinem § 1565 und dem Scheitern anstelle von ‚Zerrüttung’ als einzigem Scheidungsgrund steht das Ehegesetz von 1938 zeitlich und inhaltlich in der Mitte. Die fundamentale Neuerung lag im Jahr 1976 darin, dass das Scheitern bei Einverständnis der Gatten nach einem Trennungsjahr und bei einseiti‐ gem Scheidungswillen nach drei Trennungsjahren ohne weiteres und un‐ bestreitbar73 vorliegt. Darüber hinaus kann auch der einseitige Schei‐ dungswille nach einem Jahr zur Scheidung führen, wenn auf Grund mate‐ rieller Zerrüttungsprüfung feststeht, dass die Ehe gescheitert ist (§ 1565 I). Inzwischen hat die formelle Zerrüttungsprüfung des § 1566 BGB, wohl wegen der relativen Länge der Fristen von 3 bzw. einem Jahr, nicht den erwarteten Anteil an den jährlichen Scheidungen74. Damit steht der in § 1565 I 2 als voraussichtlich endgültiges Nichtbestehen der Lebensge‐ meinschaft definierte Zerrüttungsbegriff des Scheiterns nach wie vor im Zentrum des gegenwärtigen Scheidungsrechts.ʽScheitern’ ist selbst weni‐ ger ein Begriff als ein Bild, eine Metapher für das endgültige Nichtbeste‐ hen der Lebensgemeinschaft. Aber viel ist auch mit der Legaldefinition nicht gewonnen. Bezeichnend für eine Verlegenheit der Ausleger ist die Redeweise von „Voraussetzungen“ des Scheiterns, bei deren Hinreichen das Scheitern gleichsam als Folge eintritt. Erst später gab die mit Schwabs

73 Die praktisch unbedeutende, einzige Verteidigung, die § 1568 dem auch nach 3 Trennungsjahren die Scheidung ablehnenden Gatten belässt, gilt ausdrücklich der gescheiterten Ehe. 74 Im Jahr 2010 hatten geschiedene Ehegatten in 79, 7 % der Fälle mindestens 1, aber nicht 3 Jahre getrennt gelebt. Leider gliedert das Statistische Bundesamt nicht mehr nach Scheidungstatbeständen. Auf Grund der früheren Zahlen ist anzuneh‐ men, dass die meisten Scheidungen nach einem Trennungsjahr nicht einverständ‐ lich nach § 1566 Abs. 1, sondern nach § 1565 Abs. 1 erfolgen (Zahlen nach MK/Ey, 6. AUFL. 2013, vor § 1564 Rn. 43 f.

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Namen verbundene „Indizienlehre“75 mit den Indizien dem bisher im Wörtersee schwimmenden Ausleger Boden unter die Füße. Gleichwohl hat das Bild des Scheiterns mit seiner legalen Definition der voraussicht‐ lich endgültig nicht bestehenden Lebensgemeinschaft eine Funktion. Es gibt den Indizien ihren über die Tatsächlichkeit hinausgehenden, sozusa‐ gen sozialanthropologischen Sinn. Den Weg zu den Indizien hatte bereits § 55 des Ehegesetzes eingeschla‐ gen mit dem damals einzigen Indiz der dreijährigen Trennungsfrist. Aller‐ dings war im Jahr 1938 dem Verschuldensgedanken in § 55 Abs. 2 noch eine die Scheidung zwar nicht mehr begründende, aber beschränkende Funktion belassen. Diese letzte Spur des einstmals, nämlich in der stren‐ gen Richtung des protestantischen Scheidungsrechts, einzigen Wegs aus der Ehe, wurde 1976 getilgt, so dass auch insofern das Ehegesetz 1938 in der Mitte zwischen 1900 und der Scheidungsrechtsreform des Jahres 1976 steht.

75 MünchKomm/Ey, 6. Aufl. 2013, § 1565 Rz 54.

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1. Entrechtung und Diskriminierung Mit dem Erhalt der Macht am 30. Januar 1933, die sich die Nationalsozia‐ listen freilich noch mit ihren konservativen Steigbügelhaltern teilen muss‐ ten, nahm die „Lösung der Judenfrage“, das hieß Rücknahme der Emanzi‐ pation durch Ausgrenzung, Gestalt an. Dass eine „Judenfrage“ existiere und gelöst werden müsse, und zwar durch Berufsverbote für Juden in Be‐ reichen, in denen sie überproportional vertreten waren, durch Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben sowie durch die Beseitigung des Einflusses, den die Juden vermeintlich im öffentlichen Leben, in der Kultur und in der Fi‐ nanzwelt besaßen — diese Überzeugung teilten viele Deutsche mit den neuen Machthabern. Amtshandlungen, die sich gegen Juden richteten, erfolgten seit März 1933 auf vielen Ebenen. Das Reichsministerium des Innern teilte den Lan‐ desregierungen durch Runderlass am 15. März mit, dass die Zuwanderung von Ostjuden künftig abgewehrt werden müsse. Länderregierungen und städtische Magistrate zeigten Erfindungsreichtum gegen Juden. In Sachsen wurde das Schächten von Schlachttieren verboten, und am gleichen Tag, dem 22. März 1933, hob Thüringen die Geschwisterermäßigung beim Schulgeld für jüdische Schüler auf. Die Stadt Köln untersagte die Berück‐ sichtigung jüdischer Firmen bei öffentlichen Aufträgen am 27. März. Die Reichshauptstadt Berlin warf am 31. März die jüdischen Wohlfahrtsärzte aus dem Dienst, am gleichen Tag ordnete das bayerische Innenministeri‐ um die Kündigung aller Schulärzte „jüdischer Rasse“ an. Bis zur ersten und nachhaltig folgenreichen Diskriminierung von Juden durch ein Reichsgesetz dauerte es nur zwei Monate und eine Woche nach der Machtübernahme durch die Hitlerregierung. Das „Gesetz zur Wieder‐ herstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 war ein Berufs‐

* Der essayistische Charakter des einleitenden Textes zu den Babelsberger Gesprä‐ chen wurde für den Druck beibehalten, lediglich durch Angaben weiterführender Literatur ergänzt.

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verbot für Juden im öffentlichen Dienst, zugleich eine erste praktische Konsequenz aus dem Parteiprogramm der NSDAP. Ebenfalls am 7. April verkündet wurde ein Gesetz, das die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft re‐ gelte. Anwälten „nicht-arischer Abstammung“, wie die offizielle Formu‐ lierung lautete, die von nun an das Verhängnis für viele Existenzen bedeu‐ tet, konnte zum 30. September 1933 die Zulassung entzogen werden. Nach einer Schätzung der „Zentralstelle für jüdische Wirtschaftshilfe“ verloren 1933 etwa 2000 jüdische Beamte des höheren Dienstes Arbeits‐ platz und Beruf, außerdem wurden 700 Hochschullehrer aus den Universi‐ täten verjagt. Im April 1933 begrenzte das „Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen“ die Zahl der Juden in den Bil‐ dungsanstalten; das war die Vorstufe des vollständigen Ausschlusses, der 1938 vollzogen wurde. Mit ähnlicher Methode operierte die badische Re‐ gierung mit einer Verordnung „zur Wiederherstellung der Ehrlichkeit beim Viehhandel, die den „Gebrauch der jüdischen Sprache (Jiddisch)“ auf Viehmärkten verbot. Es folgte der Ausschluss von Juden aus dem „Reichs‐ verband des nationalen Viehhandels“ und, im Januar 1937, das Berufsver‐ bot für „nicht-deutschstämmige“ Viehhändler. Der „Arierparagraph“ diente in Analogie zum „Gesetz über die Wieder‐ herstellung des Berufsbeamtentums“ in allen Lebensbereichen als Aus‐ schlussgrund für die Juden. Das geschah allerdings in freiwilliger Über‐ nahme nationalsozialistischer Ideologie, denn kein Turnverein oder Sän‐ gerbund, kein Wanderklub musste Juden ausschließen, aber alle taten es. 2. Segregation Im September 1935 wurden auf dem „Reichsparteitag der Freiheit“ die „Nürnberger Gesetze“ verabschiedet, mit denen die deutschen Juden zu Einwohnern minderen Rechts degradiert wurden. Das „Reichsbürgerge‐ setz“ unterschied jetzt „arische“ Vollbürger des Deutschen Reiches mit po‐ litischen Rechten und „Nicht-Arier“ als „Staatsangehörige“ ohne politi‐ sche Rechte. Das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deut‐ schen Ehre“ verbot Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden und stellte sexuelle Beziehungen zwischen „Deutschblütigen“ und Juden nach dem neu eingeführten Delikt „Rassenschande“ unter drakonische Strafe. Mit diesen beiden Nürnberger Gesetzen war die Emanzipation definitiv rückgängig gemacht und gleichzeitig der Weg zur physischen Vernichtung der Minderheit bereitet. Die mörderische Konsequenz war freilich noch 138

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nicht zu erkennen, auch nicht von den Betroffenen, die jetzt ausschließlich nach rassistischen Kategorien behandelt wurden, unabhängig davon, ob sie sich selbst als Juden verstanden, einer jüdischen Kultusgemeinde ange‐ hörten oder überhaupt von ihrer jüdischen Abstammung wussten. Kompli‐ zierte Definitionen, wer Jude im Sinne der neuen Gesetze war, wer als „Mischling“ ersten oder zweiten Grades eingestuft, wer zum „Geltungsju‐ den“ deklariert wurde, wer den Makel „jüdisch versippt“ zu tragen hatte, wer in „privilegierter Mischehe“ vor Verfolgung (nicht vor Diskriminie‐ rung) geschützt war, bestimmten den Alltag der Minderheit, während die Mehrheit durch „Abstammungsnachweise“ die verhängnisvollen Konse‐ quenzen des „Arierparagraphen“ vermeiden konnte. Ende April 1938 waren alle Juden gezwungen worden, ihr Vermögen, wenn es 5000 Reichsmark überstieg, zu deklarieren, ab Juli mussten jüdi‐ sche Unternehmen äußerlich gekennzeichnet werden, ebenfalls im Juli wurde ein besonderer Personalausweis für Juden eingeführt, im August er‐ ging die Verordnung zur Führung der zusätzlichen Zwangsvornamen Sara bzw. Israel, ab Anfang Oktober wurde ein rotes „J“ in die Reisepässe der Juden gestempelt (die Anregung kam aus der Schweiz, deren Behörden jü‐ dische Flüchtlinge aus Deutschland und Osterreich gleich erkennen woll‐ ten, um sie abweisen zu können), im Oktober hatte Hermann Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan bei einer Konferenz über Rüstungszie‐ le die Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft angekündigt, ab Mitte 1938 war jüdischen Kindern der Besuch deutscher Schulen untersagt. Das waren längst nicht alle Maßnahmen. Die Diskriminierungen und Schika‐ nen, die man sich auf lokaler Ebene ausdachte, wie Parkbänke mit der Aufschrift „nur für Arier“, Verbote, städtische Badeanstalten zu besuchen, die Tafeln am Ortseingang oder an Eingängen zu Restaurants, Hotels und Geschäften: „Juden sind hier unerwünscht“ und viele andere Diffamierun‐ gen lassen sich hier nicht alle aufzählen. Eine „Aktion“ im Juni 1938 hatte besonderen Charakter: 1500 Juden, die aus irgendeinem Grund einmal vor Gericht gestanden hatten und be‐ straft worden waren, wurden als „Asoziale“ in Konzentrationslager ver‐ schleppt. Damit sollte Druck auf ihre Auswanderung ausgeübt werden, denn sie wurden nur freigelassen, wenn sie unmittelbar darauf emigrierten und die Möglichkeit dazu nachweisen konnten. Die „Juni-Aktion“ war mehr als nur ein Signal, wie das NS-Regime die Ausgrenzung der Juden als Auftakt zur Austreibung verstand.

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3. Verfolgung und Vertreibung Der 9. November 1938 markiert den Umschlag staatlichen Handelns von legislativer und administrativer Diskriminierung der jüdischen Minderheit zur brachialen Gewalt. Als Vorwand diente das Attentat des 17jährigen Herschel Grynszpan auf Ernst vom Rath, einen Beamten der Deutschen Botschaft in Paris. Die Aufforderung zur Gewalt gegen die Juden durch Goebbels wurde bei den Nationalsozialisten im ganzen Land verstanden, wenige Stunden später standen die Synagogen in Flammen, wurden Juden öffentlich misshandelt, wurde jüdisches Eigentum zerstört und geplündert. Die Aufforderung zum Pogrom durch die NSDAP kam einem bei vielen Parteigenossen seit der „Kampfzeit der Bewegung“ brachliegenden Akti‐ onsbedürfnis entgegen. Die Pogromnacht verlief im ganzen Deutschen Reich in ähnlicher Form. Zumeist in Zivil erschienen SA-Männer und An‐ gehörige anderer Parteigliederungen, den „spontan aufwallenden Volks‐ zorn“ darstellend, vor Gebäuden der jüdischen Gemeinden, vor Geschäf‐ ten und Wohnungen bekannter Juden. Sie johlten, warfen Fenster ein, er‐ brachen Türen, verwüsteten das Innere und legten schließlich Feuer. Die Feuerwehr hatte ausdrücklichen Befehl, brennende Synagogen nicht zu lö‐ schen, sie sollte lediglich Nachbarhäuser vor dem Brand schützen. 4. Gewalt und öffentliche Demütigung Das Ereignis war als öffentliches Ritual der Erniedrigung und Demütigung der jüdischen Minderheit inszeniert. Diesem Zweck diente nicht nur die Zerstörung des Eigentums, die Verhöhnung und Misshandlung der Men‐ schen in der Nacht und am folgenden Tag. Der Befehl zur Inhaftierung von ungefähr 30 000 jüdischen Männern in den drei Konzentrationslagern Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen hatte das Ziel, Druck zur Aus‐ wanderung auszuüben. Deshalb hatte man gutsituierte Juden ausgewählt und ließ sie wieder frei, wenn die Angehörigen eine Emigrationsmöglich‐ keit vorweisen konnten. Im Reichsluftfahrtministerium konferierten am 12. November 1938 un‐ ter Hermann Görings Vorsitz Vertreter aller Reichsministerien und der deutschen Versicherungswirtschaft über die Folgen des Pogroms. Die Ent‐ eignung der Juden war zu diesem Zeitpunkt schon beschlossene Sache, die vollständige „Arisierung“ der deutschen Wirtschaft bereits von Hitler ent‐ schieden. Eine Bilanz des Sachschadens, von Reinhard Heydrich für Gö‐ 140

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ring erstellt, ergab, dass 7500 jüdische Geschäfte zerstört, dass „dem Volkszorn“ und der „gerechten Empörung“ der Deutschen Fensterscheiben im Wert von zehn Millionen Reichsmark zum Opfer gefallen waren, dass durch Vandalismus und Plünderung ein Schaden von mehreren hundert Millionen Mark entstanden war. Dazu kamen über die offiziell genannten 91 Fälle hinaus weitere Hun‐ derte Todesopfer durch Morde, tödliche Misshandlungen und die Selbst‐ morde, begangen aus Verzweiflung und Entsetzen. Einig waren sich die Minister und Beamten auf der Sitzung am 12. November, dass die Juden nicht nur für die Pogromschäden haften sollten (durch die Beschlagnahme der Versicherungsleistungen war sichergestellt, dass sie auch wirklich ge‐ schädigt blieben), dazu kam außer der „Sühneleistung“ von einer Milliar‐ de Reichsmark die Verpflichtung, das Straßenbild wieder herzustellen, als sei nichts geschehen. Im Herbst 1938, zur Zeit der Novemberpogrome, befanden sich von ehemals etwa 100 000 jüdischen Betrieben noch 40 000 in Händen ihrer rechtmäßigen Besitzer. Am stärksten hatten die „Arisierungen“ im Einzel‐ handel zu Buche geschlagen, von 50 000 Geschäften waren noch 9000 üb‐ rig. Die Zahl der jüdischen Arbeitslosen war stetig angestiegen, Berufsver‐ bote und erzwungene Verkäufe hatten zur Verarmung vieler Juden geführt. Die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirt‐ schaftsleben“ vom 12. November 1938 vernichtete die noch verbliebenen Existenzen. Ab dem 1. Januar 1939 war Juden das Betreiben von Einzel‐ handelsgeschäften, ebenso das Anbieten von Waren und gewerblichen Leistungen auf Märkten und Festen sowie das Führen von Handwerksbe‐ trieben untersagt. Die Unternehmen wurden, in der Regel zu einem Bruch‐ teil ihres Wertes, in die Hände von nichtjüdischen Besitzern überführt („arisiert“) oder aufgelöst, für den jüdischen Eigentümer bedeutete es in jedem Falle den Ruin, denn auch über den Erlös konnte er nicht verfügen, da er auf Sperrkonten eingezahlt und später zugunsten des Deutschen Rei‐ ches konfisziert wurde. Schmuck, Juwelen, Antiquitäten mussten die Ju‐ den zwangsweise verkaufen, die Ankäufe erfolgten zu Preisen, die weit unter dem Wert lagen. Auch über Wertpapiere und Aktien durften Juden nicht mehr verfügen, sie mussten in ein Zwangsdepot gegeben werden. Jü‐ discher Immobilienbesitz wurde zwangsweise „arisiert“. Jüdische Arbeit‐ nehmer wurden gekündigt, die Selbständigen hatten fast ausnahmslos Be‐ rufsverbot. Nach dem Novemberpogrom kam mit dem Verbot jüdischer Zeitungen und Organisationen das noch verbliebene öffentliche Leben der Juden zum 141

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Erliegen. Ausgeraubt und verelendet, blieb ihnen nur die private Existenz unter zunehmend kläglichen Umständen, unter immer neuen Schikanen. Am 30. April 1939 begannen mit einem „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ die Vorbereitungen der Zusammenlegung jüdischer Familien in „Judenhäusern“. Die Juden sollten in Wohnungen zusammengedrängt wer‐ den, um den Verfolgern die Überwachung (und später die Deportation) zu erleichtern. „Ariern“, so die Begründung, sei das Zusammenleben mit Ju‐ den im gleichen Haus nichts zuzumuten. Die Novemberpogrome machten unmissverständlich klar, dass für Juden kein Platz mehr in Deutschland sein sollte, dass das Regime sie jetzt mit allem Nachdruck zur Auswande‐ rung zwingen wollte. 5. Vertreibung Bis 1939 forcierte und bremste der NS-Staat gleichermaßen die Auswan‐ derung der deutschen Juden. Die Verdrängung aus der Wirtschaft förderte den Emigrationswillen, aber die Ausplünderung durch Vermögenskonfis‐ kation und ruinöse Abgaben hemmte die Auswanderungsmöglichkeiten. Dem verstärkten Druck zur Emigration Anfang 1939 folgten massive Be‐ hinderungen durch den NS-Staat, die bis zum Auswanderungsverbot im Herbst 1941 andauerten und selbst im Kriege weiterhin aufrechterhalten wurden. 6. Vernichtung Die Besetzung weiter Gebiete Europas durch das Deutsche Reich entzog zahlreichen Juden im Exil das bisher sicher geglaubte Refugium und zwang sie, sofern es noch möglich war, zur weiteren Flucht. Nicht allen gelang dies, und vergleichsweise nur wenige konnten im besetzten Europa mit gefälschten Papieren oder in Verstecken überleben. Für die Mehrzahl der jüdischen Emigranten, die in Westeuropa Schutz gesucht hatten, gab es keine Hilfe. Für 30 000 Menschen wurde das Exil zur Falle, sie wurden nach der deutschen Besetzung der Asylländer in die Vernichtungslager im Osten deportiert und dort ermordet. Ihre Emigration mündete in den Holo‐ caust. Der Kriegsbeginn am 1. September 1939 diente als Anlass für neue Schikanen gegen die noch in Deutschland lebenden Juden. Sie durften im

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Juden im NS-Staat

Sommer ab 21.00 Uhr und im Winter ab 20.00 Uhr ihre Wohnungen nicht mehr verlassen. Als „Reichsfeinden“ war ihnen ab 20. September der Be‐ sitz von Rundfunkempfängern, ab 19. Juli 1940 von Telefonen verboten. Seit September 1939 konnten Juden nur noch in bestimmten Läden ihre (gegenüber „Ariern“ erheblich gekürzten) Lebensmittelrationen erwerben; oftmals durften sie auch erst am späten Nachmittag einkaufen, wenn es keine Waren mehr gab. Penible Bürokraten dachten sich immer neue Ver‐ bote aus, z. B. Haustiere zu halten oder Leihbüchereien zu benutzen. Seit Dezember 1938 waren Juden zur Zwangsarbeit verpflichtet, sie er‐ setzten in der Rüstungsindustrie die zur Wehrmacht Eingezogenen unter diskriminierenden Bedingungen im „geschlossenen Arbeitseinsatz“, d. h. sie wurden abgesondert von der „arischen“ Belegschaft beschäftigt. Am 1. September 1941 erging die Polizeiverordnung über die Kennzeichnung von Juden: Vom 15. September an musste jeder Jude vom sechsten Le‐ bensjahr an einen gelben Stern auf der Kleidung aufgenäht tragen. Damit war die öffentliche Demütigung und Stigmatisierung vollkommen, die Überwachung der verfolgten Minderheit perfekt. Mit einem lakonischen Erlass des Reichssicherheitshauptamts vom 23. Oktober 1941 war wieder eine Wegmarke erreicht: „Die Auswanderung von Juden aus Deutschland ist ausnahmslos für die Dauer des Krieges verboten“, und in einem Rund‐ erlass Himmlers Anfang Januar 1942 war die Absicht des NS-Regimes noch deutlicher formuliert, als es hieß, angesichts der angestrebten „End‐ lösung der Judenfrage“ werde die Auswanderung von Juden deutscher Staatsangehörigkeit und staatenloser Juden aus dem Deutschen Reich un‐ terbunden. Die Entscheidung zum Mord war gefallen. Im Herbst 1941 be‐ gann mit der systematischen, bürokratisch geregelten und bis ins Detail programmierten Deportation der Juden aus Deutschland die letzte Phase nationalsozialistischer Judenpolitik. Sie war nunmehr zielstrebig und aus‐ schließlich darauf gerichtet, die europäische Judenheit auszurotten. Seit dem 1. Juli 1943 waren die Juden in Deutschland (durch die 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz) unter Polizeirecht gestellt, d. h. für sie gab es keine Rechtsinstanzen mehr. Aber zu diesem Zeitpunkt lebten nicht mehr viele Juden in Deutschland. Etwas mehr als die Hälfte war aus‐ gewandert. Die anderen waren „evakuiert“, das hieß in Sammeltransporten „Richtung Osten“ deportiert worden. Offiziell war das Deutsche Reich „judenfrei“. Einige wenige hatten sich in die Illegalität geflüchtet, andere lebten in dem zweifelhaften Schutz, den „Mischehen“ mit nichtjüdischen Partnern boten, jederzeit gewärtig, das Schicksal der Mehrheit der deut‐ schen Juden, die Deportation und den Tod im Vernichtungslager, zu teilen. 143

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Literatur Wolfgang Benz, Deutsche Juden im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Porträts, Mün‐ chen 2011. Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Juden in Deutschland 1933-1945. Leben unter nationalso‐ zialistischer Herrschaft, München 1988. Wolfgang Benz, Gewalt im November 1938. Die „Reichskristallnacht“ – Initial zum Holocaust, Berlin 2018. Cornelia Essner, Die „Nürnberger Gesetze“ oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933-1945, Paderborn 2002. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 2 Bände München 1998 und 2006. Wolf Gruner, Der geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938-1945, Berlin 1997. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialisti‐ sche Deutschland 1933-1945, hrsgg. im Auftrag des Bundesarchivs u.a., Bd. 1-Bd. 3 Deutsches Reich, München 2008. Joseph Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung, Heidelberg 1981. Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007.

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I. Ich behandele die Friedensjahre der nationalsozialistischen Herrschaft von Hindenburgs Tod (August 1934) bis zum Ausbruch des Zweiten Welt‐ kriegs (1. September 1939) und setze damit mein Referat „Hitlers Weg zur Macht“1 fort. Als abschließendes Referat ist der „Führerstaat im Krieg“ vorgesehen2, der bis zur bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 reicht. Die Referate sind Gesamtdarstellungen des Zeitgeschehens, wie sie der umfassend informierte Zeitgenosse hätte wahrnehmen können – wenn er Leopold von Rankes Mahnung zu sehen, „wie es wirklich gewesen ist“, befolgt hätte. Dieses Gebot gilt auch für alle späteren Historiker und ver‐ pflichtet sie zur Unterdrückung der eigenen Subjektivität oder zumindest ihrer Offenlegung3. Allerdings bereitet die Berücksichtigung zwischen‐ zeitlicher Forschungsergebnisse, der Fortschritte bei der Ermittlung des Gewesenen Schwierigkeiten. Ihre Einbeziehung darf jedoch nicht die da‐ maligen Reaktionen der Beteiligten verfälschen. Als Lösung bietet sich an, das früher Geschehene mitsamt der damaligen Wahrnehmung und Wer‐ tung abzuspalten und den später erlangten Wissensstand getrennt wieder‐ zugeben. Der Begriff „Führerstaat“ trifft nur auf den Zeitraum, der von den bei‐ den letzten Referaten abgedeckt wird, zu. Für das erste Referat, das sich mit dem Entstehungsprozess der nationalsozialistischen Herrschaft be‐ fasst, stimmen weder er noch der vielfach gebrauchte Begriff der „Macht‐ ergreifung“. Deckt sich der letztere schon mit Hitlers Ernennung zum 1 Der Ausgangsbeitrag ist erschienen im Band zur (ersten) Babelsberger Tagung: Thi‐ lo Ramm / Stefan Saar (Hrsg.), Nationalsozialismus und Recht, 2014, S. 219 und S. 361. 2 Der für die dritte Tagung 2015 vorgesehene Vortrag kam nicht zustande. 3 Zu meiner Rolle als Zeitzeuge siehe daher S. 168. Vgl. zum methodischen Umgang auch schon Ramm, Die Justiz und das „Dritte Reich“ – das „Dritte Reich“ und die Justiz, in: Gerhard Pauli / Thomas Vormbaum (Hrsg.), Justiz und Nationalsozialis‐ mus – Kontinuität und Diskontinuität 2003, S. 17 (dort insb. S. 31 ff.).

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Reichskanzler, wie Theodor Heuss4 und Josef Goebbels5 meinten? Dem‐ gegenüber war nach dem Urteil des Vizekanzlers Papen Hitler in seinem Kabinett, in dem die Nationalsozialisten in der Minderzahl waren6, „ein‐ gemauert“. Seine sanguinische Rechnung berücksichtigte allerdings weder das Gewicht des Reichskanzlers, der die Richtlinien der Kabinettspolitik bestimmte, noch die Erlangung der Herrschaft über die preußische Polizei und überhaupt nicht die sonstigen tatsächlichen Machtverhältnisse: Die Nationalsozialisten waren die stärkste Fraktion im Reichstag und verfüg‐ ten mit der SA über eine starke, kampfbereite, wenngleich nicht unbedingt zuverlässige Privatarmee. Als noch wichtiger erwiesen sich die Notverord‐ nungen, mit denen der Reichspräsident von Hindenburg sein Präsidialka‐ binett7 ausstattete. Die durch SA-Männer als Hilfspolizisten ergänzte Polizei schlug die Kommunisten nieder, die als Einzige, allerdings erfolglos, den General‐ streik ausgerufen hatten, und sperrten die politischen Gegner, sofern sie nicht „auf der Flucht“ erschossen wurden, zu ihrem „Schutze“ in Konzen‐ trationslager ein. Hermann Göring, der neue Machthaber in Preußen, er‐ klärt in einem Schießbefehl die Ermordung politischer Gegner für straf‐ frei. Beim Reichstagsbrand wurden die wichtigsten Grundrechte durch Notverordnung8 „vorläufig“ suspendiert – sie blieben es bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft.

4 War dies nur die retrospektive Wertung nach 1945 oder bereits auch die spezifische Sicht des Zeitgenossen, der für das „Ermächtigungsgesetz“ gestimmt hatte? 5 In seiner Wertung schwingt der Wille mit, die einmal gewonnene Machtposition nicht aufzugeben. 6 Den drei Nationalsozialisten – Adolf Hitler, Wilhelm Frick, Führer der nationalso‐ zialistischen Reichstagsfraktion und Innenminister (der aus seinen Erfahrungen als thüringischer Innenminister gelernt hatte), und Hermann Göring, der Reichstagsprä‐ sident und preußische Innenminister – stand die Mehrheit des Kabinetts gegenüber: drei Vertreter der Deutschnationalen Volkspartei, der Arbeitsminister Seldte, der Justizminister Gürtner und der Doppelminister Hugenberg, sowie fünf parteilose Mitglieder – für das Äußere, die Finanzen, den Verkehr und die Post, sowie der Reichswehrminister Blomberg und der Vizekanzler Papen, der Hitler als Aufpasser vom Reichspräsidenten beigegeben war. 7 Die Bezeichnung trifft in doppelter Hinsicht zu: Die parteilosen Minister stimmten mit dem früheren Kabinett Papen überein und waren dem persönlich geäußerten Wunsch Hindenburgs nachgekommen, ins Kabinett einzutreten. 8 Die sog. „Reichstagsbrandverordnung“, Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933, RGBl. I S. 83.

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Bei der Neuwahl des Reichstags am 5. März 1933 9 verschoben sich die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Nationalsozialisten: Die NSDAP er‐ rang 43,9% der Stimmen, die Deutschnationale Volkspartei 8%10. Doch Hitler wollte mehr, er erstrebte ein „Ermächtigungsgesetz“ vom Reichstag, das das Kabinett als Gesetzgeber einsetzte und von der Bindung an die Verfassung befreite11. Bei der Verabschiedung des Gesetzes war die katho‐ lische Zentrumspartei das Zünglein an der Waage. Die SPD war die einzi‐ ge der drei Gründerparteien der Weimarer Republik, die gegen das Gesetz stimmte12. Die Entmachtung der Gewerkschaften, der Länder und aller Gruppen, die hätten gefährlich werden können, war offensichtlich das übereinstimmende politische Anliegen. Der „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933, der die nationale Einheit der beiden Parteien und die Übereinstimmung mit dem Reichspräsidenten zum Ausdruck brachte 13, war die allgemeine Zäsur. Hindenburg übernahm dabei nicht die Gesetzgebung, die die potentiellen Gegner, die Parteien und alle politisch bedrohlichen Gruppen entmachtete14. Allein beim Ge‐ setz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums15 war ihm die Ausnah‐ meregelung für jüdische Frontkämpfer zu verdanken. Bei der erneuten Wahl des Reichstags am 12. November 1933 waren die Wähler zudem zur Bestätigung der Außenpolitik aufgerufen: Die Re‐ gierung war aus dem Völkerbund ausgetreten und hatte die Abrüstungs‐ 9 Das Parlament war am 1. Februar 1933 von Hindenburg nach gescheiterten Ver‐ handlungen Hitlers mit der Zentrumspartei aufgelöst worden. 10 Die Kommunisten erhielten nach den gegen sie gerichteten Maßnahmen noch 12,3%. Es war die letzte Reichstagswahl, in der mehrere Parteien zur Wahl stan‐ den. 11 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich. Vom 24. März 1933, RGBl. I S. 141. 12 Außer der Zentrumspartei stimmte auch die zweite Weimarer Gründungspartei, die politisch bedeutungslos gewordene Nachfolgepartei der Deutschen Volkspartei, die „Deutsche Staatspartei“, für die Gesetzesannahme. 13 Die Zusammenkunft in der Potsdamer Garnisonskirche diente zugleich als konsti‐ tuierende Sitzung des neuen Reichstags – in Abwesenheit der Abgeordneten der KPD und SPD. 14 Bereits am 8. März 1933 waren die Mandate der KPD-Abgeordneten aufgehoben worden. Die SPD wurde am 22. Juni 1933 als „volks- und staatsfeindliche“ Orga‐ nisation verboten. Mit dem Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom 14. Juli 1933 (RGBl. I S. 479) blieb nur noch die NSDAP als politische Partei in Deutschland bestehen. 15 Vom 7. April 1933, RGBl. I S. 175. Beamte nicht arischer Abstammung waren in den Ruhestand zu versetzen.

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verhandlungen verlassen. Die Entscheidungen sollten nachträglich durch ein Plebiszit legitimiert werden. Für die nationalsozialistische Einheitsliste stimmten 92,1%, die Volksabstimmung über den Austritt aus dem Völker‐ bund befürworteten 95,1%16. Die dritte Zäsur waren die Röhm-Morde17, die Liquidation des obersten Führers der SA Ernst Röhm, der eine zweite Revolution gefordert hatte, und der obersten SA-Führung ab 30. Juni 1934. Bei dieser Gelegenheit wurden auch andere Gegner von früher, darunter Schleicher und Bredow, und die Mitarbeiter des Vizekanzlers von Papen ermordet. Rechtlich er‐ klärte das „Ermächtigungskabinett“ alle Morde durch das „Gesetz über die Staatsnotwehr“ für straffrei. Hindenburg griff nicht ein, sondern begnügte sich mit dem Schutze Papens, der als Sondergesandter nach Wien abge‐ schoben wurde, und beförderte Göring vom Hauptmann zum General. Hitlers Stellung hatte schon das Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 1. Dezember 193318 als „Führer und Reichskanzler“ bezeichnet. Wie die Einheit von „Bewegung und Staat“, bei der „die Partei dem Staat befahl“19, mit dem Rechtsverhältnis zwischen der „ermächtig‐ ten“ Reichsregierung als Gruppe und dem Reichskanzler, der die Richtli‐ nien der Politik bestimmt, zu vereinbaren war, blieb allerdings dabei offen. Anscheinend sollte sie sich mit dem Verhältnis von Macht und Recht de‐ cken, das durch die Gesetzgebung fortlaufend bereinigt worden war. Vor‐ angegangen war die Ausschaltung der Gewerkschaften im Anschluss an die Erhebung des 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag. Die Regelung der Ar‐ beits- und Lohnbedingungen oblag fortan den vom Staat eingesetzten „Treuhändern der Arbeit“, die Betriebsräte wurden im „Gesetz zur Ord‐ nung der nationalen Arbeit"20 auf eine beratende Funktion zurückgestutzt. Arbeitgeber und Arbeitnehmer wurden in der gemeinsamen Organisation,

16 Der Entscheidung fehlte indessen die andere politische Entscheidungsmöglichkeit. Ihr juristischer Stellenwert war lediglich der eines „Stimmungsbarometers“, einer Vertrauensbekundung an die Regierung und den Kanzler. 17 Die offizielle Bezeichnung der Vorgänge war „Röhm-Revolte“. Ein Putsch hatte nicht stattgefunden. 18 RGBl. I S. 1016. 19 Nach einem Ausspruch Hitlers auf dem Reichsparteitag 1934. Vgl. Otto Koellreut‐ ter, Deutsches Verfassungsrecht. Ein Grundriss, 3. Aufl. 1938, S. 156. 20 Vom 20. Januar 1934, RGBl. I S. 20. Es erfolgte eine Übertragung des Führerprin‐ zips auf die Betriebe, mit dem Unternehmer als Führer des Betriebes, den Arbei‐ tern als seiner Gefolgschaft.

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der „Deutschen Arbeitsfront“, und der von ihr getragenen Unterorganisati‐ on „Kraft durch Freude“ zur Freizeitregelung, zusammengefasst. Das „Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr“21 zur Legitimation der Röhm-Morde griff dann wieder zur Regelung des Konflikts mit der SA auf das Recht zurück. In seiner Reichstagsrede am 13. Juli 1934 ging Hitler sogar noch weiter. Er beanspruchte, der „oberste Gerichtsherr“22 zu sein, und wandte sich gegen die unabhängige richterliche Gewalt und die Gewaltenteilung. Hindenburgs Tod am 2. August 1934 brachte die abschließende rechtli‐ che Lösung23: Die Ämter des Reichspräsidenten und des „Führers und Reichskanzlers“ wurden miteinander vereinigt24 und das „Ermächtigungs‐ kabinett“ schwor Hitler die Treue und gab damit seine bisherige Macht‐ stellung auf. Eine Volksabstimmung über die Ämtervereinigung am 19. August 1934 bildete den rechtlichen Abschluss der Machtergreifung Hitlers. Wer die ersten anderthalb Jahre nationalsozialistischer Herrschaft ana‐ lysiert, stellt zunächst fest, dass Papens Projekt, Hitler einzubinden und dadurch zu zähmen, gescheitert war. Weder Hugenberg noch Papen erwie‐ sen sich als Gegenspieler tauglich – aus persönlichen Gründen und weil ihnen Hitlers stete Anwesenheit im Kabinett die Möglichkeit dazu nahm. Und Hitlers Außenpolitik aktivierte das Nationalgefühl der Minister, die das „Ermächtigungsgesetz“ zu den Trägern der Staatsmacht gemacht hatte – denen allerdings der eigene politische Gestaltungswille fehlte. Frick setzte ihnen eine überbordende Tagesordnung vor und überrumpelte sie damit. Dennoch, die Erhaltung des Rechtsstaats wäre ihnen durchaus mög‐ lich gewesen. Hindenburg zog sich von der Rechtsgestaltung zurück. War es die Krankheit, die ihn von seinem Amtssitz fernhielt? Beeinflusste die von der

21 Vom 3. Juli 1934, RGBl. I S. 529. 22 Erhard Klöss (Hrsg.), Reden des Führers, Politik und Propaganda Adolf Hitlers 1922 – 1945, 1967, S. 132 (S. 152). 23 Das Gesetz zur Vereinigung beider Ämter (Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs, RGBl. I S. 747) wurde bereits einen Tag vor Hindenburgs Tod am 1. August 1934 vom Kabinett beschlossen und trat mit dessen Tod in Kraft. 24 Warum ging aber nicht das rangniedrigere Amt des Reichskanzlers in das ranghö‐ here des Reichspräsidenten auf? Dann hätte allerdings eine Volkswahl stattfinden und der neue Reichspräsident auf die Verfassung vereidigt werden müssen. Das Plebiszit über das Gesetz der Reichsregierung, in dem 89,9 % mit „Ja“ stimmten, machte dies überflüssig.

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Regierung bewilligte Dotation seine Haltung? Hindenburg war mit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler und der Ausstattung durch Notverordnun‐ gen25 die bestimmende Figur gewesen. Auf seine Kontrolle der Machtaus‐ übung hatte sich das Volk verlassen, das nur mit der Reichstagswahl vom 5. März 1933 eine entscheidende Rolle spielte. Die späteren Plebiszite be‐ stätigten nur die längst vorgenommenen machtpolitischen Verschiebun‐ gen. II. „Führer und Reichskanzler“ – die Bezeichnung war geblieben. Die Befug‐ nisse des Reichspräsidenten, einschließlich des Oberbefehls über die Wehrmacht gingen zusätzlich auf den Reichskanzler über. Geändert hatte sich indessen die Herrschaftsstruktur. Das Kabinett war kein selbständiges Organ mehr, sondern wurde untergeordnet. Die Zusammensetzung hatte sich überdies geändert. Den Anfang machte die Ernennung des Berliner Gauleiters Josef Goebbels zum Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda (13.3.1933)26. Dann schied Hugenberg aus (29.6.1933), ihn ersetzten zwei Nationalsozialisten, Schmitt und Darré. Papens Austritt er‐ folgte nach den Röhm-Morden (7.8.1934), von Eltz-Rübenach folgte spä‐ ter (2.2.1937). Hindenburgs zweiter „Preußenschlag“ hatte die Ergänzungsmöglichkeit aus dem aufgelösten preußischen Kabinett eröffnet. So kam am 1. Mai 1934 Bernhard Rust für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung hinzu. Der ehemalige preußische Justizminister Hanns Kerrl wurde mit der Bear‐ beitung der Kirchenfragen beauftragt (16.7.1935). Eine weitere Umbil‐ dungschance bot die Ernennung von Reichsministern ohne Geschäftsbe‐ reich. Hermann Göring war zunächst ein solcher. Dann wurden der Führer der SA Ernst Röhm und Hitlers Stellvertreter in der Partei Rudolf Heß

25 Auf ihre Formulierung nahm wohl mit Sicherheit Otto Meissner, Hindenburgs von Friedrich Ebert übernommener Staatssekretär Einfluss. Vgl. zu ihm das Buch sei‐ nes Sohnes (das mit der Annahme des Ermächtigungsgesetzes endet): Hans-Otto Meissner, Die Machtergreifung. 30. Januar 1933, 2. Aufl. 2002. 26 Der Erlass über die Errichtung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (RGBl. I S. 104) des Reichspräsidenten war Ausfertigung eines Be‐ schlusses der Reichsregierung vom 11. März 1933. Der Aufgabenbereich wurde am 30. Juni 1933 durch Verordnung (RGBl. I S. 449) festgelegt und bestimmte es „zuständig für alle Aufgaben der geistigen Einwirkung auf die Nation“.

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(Dezember 1933), sowie Hans Frank, der „Reichsrechtsführer“ und Initia‐ tor der „Akademie für Deutsches Recht“ (Dezember 1934) zu Ministern ernannt27. Göring erhielt April 1933 das Reichsluftfahrtministerium als Geschäftsbereich, die Oberkommandierenden des Heeres und der Marine wurden später den Ministern im Rang gleichgestellt28. Der Rang des Ministers bedeutete eine Auszeichnung und schuf eine besondere Nähe zum Führer. Dies begründete aber auch eine Unterord‐ nung, die Eingriffe durch Hitler einschloss und selbst andauerte, wenn der Minister seine Befugnisse verloren hatte. Die Einordnung der Minister in das Machtgefüge des „Dritten Reichs“ kam äußerlich dadurch zum Aus‐ druck, dass den Mitgliedern der Reichsregierung 1937 das Goldene Partei‐ abzeichen verliehen wurde. Diese Integration in die Partei29 ging einen Schritt über den zwei Jahre zuvor geleisteten Treueid hinaus. Nur ein Ka‐ binettsmitglied, der Post- und Verkehrsminister Eltz-Rübenach30, entzog sich dieser Einvernahme und wurde aus dem Kabinett ausgestoßen und verfemt. Es war die letzte Gelegenheit für die parteilosen Regierungsmit‐ glieder gewesen, ihre Sonderstellung nach außen zu bekunden. Warum ei‐ gentlich blieb Eltz-Rübenach allein?31 Die Rechtsstellung der Reichsmi‐ nister hatte sich grundlegend geändert. Ihr früherer Schutz gegenüber dem Reichstag war gegenstandslos geworden. Der Minister war vom Reichs‐

27 Aus den ursprünglichen drei nationalsozialistischen Ministern war nun die über‐ wiegende Mehrheit des Kabinetts geworden. Der Arbeitsminister und StahlhelmGründer Seldte war bereits April 1933 der NSDAP beigetreten. 28 Verordnung zur Regelung der Stellung der Oberbefehlshaber des Heeres und der Kriegsmarine, 20. April 1936, Heeresverordnungsblatt 1936, Nr. 461 (S. 163). Sie konnten damit auf Einladung Hitlers oder des Reichskriegsministers an Kabinetts‐ sitzungen teilnehmen. 29 Die Minister Neurath, Gürtner, Schacht und Schwerin von Krosigk wurden damit zu Mitgliedern der NSDAP. Im Dezember 1937 traten Otto Meissner (Chef der Präsidialkanzlei) und Hans Heinrich Lammers (Chef der Präsidialkanzlei), beide ebenfalls Nationalsozialisten, als Minister ohne Geschäftsbereich in die Regierung ein. 30 Er hatte schon einmal zuvor als Bedingung seiner Zustimmung zum Gesetz über die Hitlerjugend Hitlers Zusage für das Protokoll festgehalten, dass die Hitler-Ju‐ gend „nicht das an religiösen Werten vernichten werde, was das Elternhaus in die Herzen der Jugendlichen pflanze“. 31 Ihn hat Lutz Graf Schwerin von Krosigk in seinem wichtigen Buch „Es geschah in Deutschland" 1951, 3. überarbeitete Auflage 1953 in seinen „Menschenbildern un‐ seres Jahrhunderts“ nicht behandelt. Eltz-Rübenach teilt dieses Schicksal mit Hin‐ denburg, Wilhelm Frick, Hans Frank und Otto Meissner. Auch die Selbstdarstel‐ lung fehlt. Insofern bleibt seine aufschlussreiche Typisierung lückenhaft.

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kanzler abhängig, der seinen Entlassungswunsch als Aufsage der politi‐ schen Gemeinschaft deuten und dementsprechend reagieren konnte – wie sich bei Eltz-Rübenach zeigte. Das Gegenbeispiel lieferte Hjalmar Schacht, Reichsbankpräsident und Wirtschaftsminister (seit 1934). Er ver‐ mochte seinen Entlassungswunsch durchzusetzen, indem er seine Wieder‐ berufung als Reichsbankpräsident auf ein Jahr begrenzte und die Verlänge‐ rung ablehnte, weil er Hermann Göring unterstellt werden sollte. Er konn‐ te sich dies als international hochangesehener Fachmann leisten, der mit seinen Mefo-Wechseln die deutsche Aufrüstung bislang finanziert hatte. Indessen verblieb auch er im Kabinett als Minister ohne Geschäftsbereich, ebenso wie Neurath nach dem Verlust des Außenministeriums – ihn er‐ setzte dort Ribbentrop Februar 1938. Die Kabinettszugehörigkeit, mit oder ohne Ressort, war eben Hitlers politisches Kontrollinstrument. Die Erneuerungen des Ermächtigungsgesetzes durch den Reichstag32 änderten hieran nichts. Sie bestätigten nur die Übernahme der gesetzge‐ benden Gewalt durch das Kabinett, nunmehr allerdings im Rahmen von Hitlers Willen und unter neuen Bedingungen33. Das Gesetzgebungsverfah‐ ren änderte sich freilich. Die Gesetzgebung vollzog sich nicht mehr in einem kollektiven Akt34, sondern als schriftliche Anhörung sämtlicher Mitglieder der Reichsregierung einschließlich Martin Bormanns, der für die Berücksichtigung der Parteiinteressen sorgte35. Formal war das Gesetz nach wie vor ein Akt, der sich an eine unbestimmte Zahl der Bürger rich‐ tete. Inhaltlich brachte es den Führerwillen zum Ausdruck. Wie dieser ver‐ kündet wurde, war letzthin unbedeutend, konnte allerdings einen Rück‐ schluss auf die Wichtigkeit zulassen: So wurden die „Nürnberger Gesetze“ durch den Reichstag verkündet und dadurch ihre Überordnung über das

32 Durch den Reichstag 1937 und 1939. 1943 stellte Hitler die Fortdauer fest und be‐ hielt sich dabei die Bestätigung durch den Reichstag vor. 33 Der Jurist hat bei der Analyse der Gesetzgebung des „Dritten Reichs“ ihren spezi‐ fisch nationalsozialistischen Inhalt festzustellen. Dabei sind Bormanns Stellung‐ nahmen zu den ministeriellen Vorlagen von zentraler Bedeutung. Wie weit haben diese bereits Hitlers mutmaßlichen Willen berücksichtigt? 34 Die Zahl der jährlichen Kabinettssitzungen sank 1933 auf 52, 1934 auf 13, 1935 auf 7, 1936 auf 4, 1937 auf 6 und 1938 auf eine einzige. 35 Dies geschah in Stellvertretung des Führers. Erst im Mai 1941 wurde er Reichsmi‐ nister.

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Gesetz zur Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums36 klarge‐ stellt37. Die Norm wurde durch Aus- und Durchführungsvorschriften konkreti‐ siert. Ihre Richtung war durch den Gesetzgeber, durch Aussprüche des „Führers“, etwa in „Mein Kampf“, oder durch das Parteiprogramm der NSDAP von 1920 vorgegeben. Die Frage, ob ihre Auslegung nicht nur die Norm erweiterte, sondern auch begrenzte, ist nicht aufgeworfen worden. Im Prinzip dürfte für ihr Verständnis wohl die letzte Äußerung des „Füh‐ rers“ ausschlaggebend gewesen sein. Das Verhältnis zum Unterbau, zu den Reichsstatthaltern und Gaulei‐ tern38 hatte Frick vergeblich zu lösen gesucht. Sein Plan, sie der Dienst‐ aufsicht der Reichsregierung zu unterstellen, scheiterte an Hitler. Die „al‐ ten Kämpfer“ waren eine der wichtigsten Stützen seiner Macht39. Um zu verhindern, dass sie „Reichsfürsten“ würden, genügte ihm, dass sie nicht auf Lebenszeit berufen würden, sondern jederzeit abberufbar und absetz‐

36 Es wurde durch die Reichsregierung beschlossen. 37 Hierüber hätte sich allerdings unter dem Aspekt Vorrang des Spezialgesetzes strei‐ ten lassen. Aber dies hätte vorausgesetzt, den Antisemitismus des „Führers“ korri‐ gieren zu wollen. 38 Neben ihnen blieben die Ministerpräsidenten. Preußen war eine Ausnahme. Es un‐ terstand Hitler. In Bayern gab es vier Gauleiter. Die Gauleiter waren die treibenden politischen Kräfte: die „Gaufürsten“ (Schwerin von Krosigk). Wie schwer es war, die Missstände im Reich zu bekämpfen, zeigt die Studie von Martin Moll, Der Sturz der alten Kämpfer. Ein neuer Zugang zur Herrschaftsanalyse des NS-Re‐ gimes. Historische Mitteilungen 5 (1992), S. 1. Aufschlussreich sind die Bemerkungen von Schwerin von Krosigk, Persönliche Erinnerungen Bd.2 Privatdruck 1974, S. 198: Er habe sich nur bei fünf Gauleitern „unbeschwert“ gefühlt: dem Badener Robert Wagner, dem Pfälzer Josef Bürckel, dem Hamburger Karl Kaufmann, Karl Wahl von Augsburg und Josef Wagner von Südwestfalen (der die Hochzeit seiner Tochter mit einem SS-Mann verbot, 1940 von seinem Amt enthoben und 1945 von der SS ermordet wurde). Entscheidend für Krosigks positive Wertung (in die auch der Kärntner Friedel Rainer und der Oberösterreicher August Eigruber einbezogen wurden) war, dass man bei ihnen kein Blatt vor den Mund zu nehmen brauchte. Die österreichischen Gauleiter seien „weniger verbohrt und irgendwie menschlicher“ als die Reichsdeutschen gewesen (ebd. S. 196). 39 Ob mit Peter Hüttenberger, Geschichte und Gesellschaft 1976, S. 417 angesichts der Machtverteilung schon von einer „nationalsozialistischen Polykratie gespro‐ chen werden kann, erscheint mir zweifelhaft. Die Amtsenthebungen sprechen für den unbeschränkten Absolutismus Hitlers.

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bar seien40. Hierüber entschied Hitler. Insgesamt wurden sechs Gauleiter amtsenthoben, drei davon in den Friedensjahren. III. Hindenburgs Tod war mehr als eine formelle Zäsur. Er war der Damm‐ bruch, mit dem der nationalsozialistische „Führerstaat“ klare Konturen er‐ hielt. Dies blieb allerdings zunächst verhüllt. Die bisherige Gesetzgebung lief weiter, soweit sie der Machtbefestigung diente. Die Heimtückeverord‐ nung vom 21. März 193341 wurde durch das Heimtückegesetz vom 20. Dezember 193442 ersetzt. Die Rechtspflege wurde zentralisiert. Am 24. Januar 193543 wurde sie auf das Reich übergeleitet. Institutionell wur‐ de der Volksgerichtshof am 18. April 1936 44 zum ordentlichen Gericht er‐ klärt und dem Reichsgericht gleichgestellt, dem das politische Strafrecht entzogen wurde. Materiellrechtlich traf die Aufhebung des bisherigen Analogieverbots am 28. Juni 193545 eine grundlegende Entscheidung, in‐ dem es nicht mehr einen Straftatbestand als notwendige Voraussetzung für die Bestrafung des Täters erklärte. Die lange erörterte Neufassung des Strafgesetzgesetzbuchs kam jedoch nicht zustande. Die Unterbringung in ein Konzentrationslager wurde durch Verordnun‐ gen geregelt und blieb den Reichsstatthaltern vorbehalten. Wichtigstes

40 Tischgespräch vom 23.6.1942, in Henry Picker (Hrsg.), Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1976, S. 381. 41 Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung. Vom 21. März 1933, RGBl. I S. 135. Hinden‐ burg unterzeichnete die vom Kabinett beschlossene Verordnung am Tag von Pots‐ dam. 42 Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen, RGBl. I S. 1269. Es begründete die Strafbarkeit von „öffentli‐ chen“ „gehässigen Äußerungen“ über leitende Persönlichkeiten von Staat und Par‐ tei. 43 Dritte Verordnung zur Überleitung der Rechtspflege auf das Reich, RGBl. I 68. 44 Durch das Gesetz über den Volksgerichtshof und über die fünfundzwanzigste Än‐ derung des Besoldungsgesetzes, RGBl. I S. 369. Der Volksgerichtshof war 1934 als Sondergericht für politische Straftaten, Hoch- und Landesverrat gegründet worden. 45 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs, RGBl. I S. 839. Strafbar waren nun Taten, die „nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdienen“.

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Herrschaftsinstrument war die „Geheime Staatspolizei“, die sich mehr und mehr verselbständigte. Neu war, dass gemäß dem Grunderlass zur „Vor‐ beugenden Verbrechensbekämpfung“ vom 14. Dezember 1937 auch, wer „ohne Berufs- und Gewohnheitsverbrecher zu sein, durch sein asoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährdete“, im Zuge kriminalpolizeilicher „Vorbeugehaft“ in ein Konzentrationslager eingewiesen werden konnte. Diese Gleichstellung vollendete die Diskriminierung der politischen Geg‐ ner. Das Reichsstatthaltergesetz46, das am 30. Januar 1935 gleichzeitig mit der Gemeindeordnung47 verabschiedet wurde, unterwarf die Reichsstatt‐ halter allein Hitlers Kontrolle. Der „Führer“ stützte sich damit nach wie vor auf die „alten Kämpfer“, aus denen sich die Reichsstatthalter in der Mehrzahl rekrutierten. Die Länder waren „gleichgeschaltet“. Sie bestan‐ den zwar weiterhin, hatten aber ihre politische Macht verloren. Zwischen ihnen und den nationalsozialistischen Gauen bestand ein unterschiedliches Verhältnis. Größere Länder konnten mehrere Gaue umfassen, kleine dage‐ gen in einem Gau eine Einheit finden. An der Spitze der Gaue standen die Gauleiter. Als Reichsstatthalter unterstanden sie dem Reichskanzler, nicht aber der Disziplinargewalt des Reichsinnenministers. Die „Bewegung“ blieb damit als selbständige politische Kraft im „Führerstaat“ erhalten. Sie wurde als solche sogar durch die Politisierung des Beamtenrechts (26. Ja‐ nuar 1937)48 anerkannt, bei der sich Hitler die Beamtenernennung vorbe‐ hielt. Hitler hatte ursprünglich verkündet, dass die Partei dem Staat befiehlt, und war insofern von der Überordnung der Bewegung ausgegangen. Mit den Röhm-Morden und ihrer Rechtfertigung als „Staatsnotwehr“ änderte sich dies. Nunmehr war der Führer als Inhaber der tatsächlichen und recht‐ lichen Macht anerkannt. Die schon früher gebrauchte Formel „Führer und Reichskanzler“ beschrieb die „Einheit von Bewegung und Staat“, zwi‐ schen denen nicht qualitativ unterschieden wurde. Der „Führer und Reichskanzler“ durfte in alle menschlichen Lebensbe‐ reiche eingreifen und dabei alle Machtmittel benutzen. Er nahm die höchs‐

46 Vom 30. Januar 1935, RGBl. I S. 65. 47 Deutsche Gemeindeordnung. Vom 30. Januar 1935, RGBl. I S. 49. Die Gemeinden wurden nach dem Führerprinzip organisiert, die Bürgermeister erhielten die allei‐ nige Verantwortung über die Gemeinden. Ihre Berufung und Abberufung nahmen Parteibeauftragte vor. 48 Deutsches Beamtengesetz, RGBl. I S. 39.

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te Staatsgewalt in Anspruch, und hierbei folgte ihm einer der einfluss‐ reichsten Staatsrechtler, Carl Schmitt49. Hitler, der schon die Exekutive und die Legislative beherrschte, sah die Gewaltenteilung als aufgehoben an. Dabei schloss er auch die richterliche Gewalt ein, deren Unabhängig‐ keit allerdings die insoweit immer noch geltende Weimarer Verfassung ga‐ rantierte. Die Herrschaft über den Einzelnen erstreckte sich auch auf die im Aus‐ land Befindlichen. Schädigten sie die deutschen Belange „durch ein Ver‐ halten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt“, so konnte ihnen die Staatsangehörigkeit genommen werden und ihr Vermö‐ gen verfiel dem Reich50. Auf 359 Ausbürgerungslisten wurden bis zum Ende des 2. Weltkriegs 39.006 deutsche Staatsangehörige ausgebürgert. IV. Kurze Zeit nach Hindenburgs Tod erfolgte die bedeutsamste Machterwei‐ terung des neuen Staates. Die unter den Beschränkungen des Versailler Vertrag stehende Reichswehr wurde am 16. März 1935 zur Wehrmacht umstrukturiert.51 Die allgemeine Wehrpflicht wurde eingeführt, die Dauer des Wehrdienstes wurde zunächst auf ein Jahr festgelegt52 und sodann am 24. August 1936 auf zwei Jahre verlängert53. Dazwischen lag am 7. März

49 Vgl. Der Führer schützt das Recht, Deutsche Juristen-Zeitung, 1934, Sp. 945. Auch der anschließende (Sp. 950) Aufsatz E.R. Hubers behandelt die Aufhebung der Gewaltenteilung im nationalsozialistischen Führerstaat. 50 Gemäß § 2 Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14. Juli 1933, RGBl. I S. 480. Vorange‐ gangen war der Widerruf von Einbürgerungen. Aus der endgültigen Entscheidung über die Staatsangehörigkeit, der selbstverständlichen Konsequenz einer indivi‐ dualistischen Staatsauffassung, wurde somit eine widerrufliche. 51 Gesetz über den Aufbau der Wehrmacht, RGBl. I S. 375. Ergänzt wurde es durch das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935 (RGBl. I S. 609). Das Reichswehrministerium wurde zum Reichskriegsministerium und die Luftwaffe neben Heer und Marine Teilstreitkraft der Wehrmacht. Oberbefehlshaber der Luftwaffe wurde Göring als Luftfahrtminister. Oberbefehlshaber des Heeres Fritsch und der Oberbefehlshaber der Marine Raeder wurden am 20. April 1936 im Rang den Ministern gleichge‐ stellt, vgl. Fn. 28. 52 Die Dauer der aktiven Dienstpflicht wurde von Hitler durch Führererlass festge‐ legt, (Erlaß vom 22. Mai 1935, RGBl. I S. 614). 53 Führererlass vom 24. August 1936, RGBl. I S. 760.

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1936 die Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands54 und am 26. Juni 1935 die Einführung eines halbjährigen Arbeitsdienstes55, der gemeinnüt‐ zige Aufgaben wie die Bodenkultivierung durchführte und zur Volksge‐ meinschaft, zur „wahren Arbeitsauffassung“ und insbesondere zur „wah‐ ren Achtung der Handarbeit“ erziehen sollte. Ursprünglich vornehmlich als Mittel gegen die Massenarbeitslosigkeit gedacht, diente der Arbeits‐ dienst auch – und dies nicht zuletzt – der vormilitärischen Ausbildung. Die Struktur der Reichswehr veränderte sich mit der Einführung der Wehrpflicht und der dadurch bedingten Vergrößerung des Heeres. 1938 folgte eine zweite, nicht voraussehbare Machtausweitung Hitlers. Er ord‐ nete die Kommandostruktur der Wehrmacht neu und nahm personelle Ver‐ änderungen in deren Führungsebene vor. Der Ausgangspunkt waren Ehr‐ vorstellungen, die die Wehrmacht aus der kaiserlichen Vergangenheit – ebenso wie die Wertigkeit des Eides und das Solidaritätsgefühl – beibehal‐ ten hatte56. Der Ehrbegriff wurde der Hebel für den Sturz des Reichs‐ kriegsministers Blomberg, des „Parteigenerals“, der eine enge persönliche Beziehung zu Hitler hatte57. Seine Eheschließung mit einer ehemaligen Prostituierten, bei der Hitler Trauzeuge gewesen war, erschütterte Blom‐ bergs Stellung in der Truppe und zwang ihn zum Rücktritt. Die Affäre weitete sich aus, als auch der Oberbefehlshaber des Heeres Werner von Fritsch von Hitler aufgrund einer von Heinrich Himmler lancierten Anzei‐ ge wegen Homosexualität suspendiert wurde. Nachdem sich die Anzeige als falsch erwiesen hatte, wurde er zwar von Hitler rehabilitiert, aber nicht wieder in sein bisheriges Amt eingesetzt. Hitler beseitigte das Reichs‐ kriegsministerium am 4. Februar 1938 durch Führererlass58 und übernahm

54 Eine Volksabstimmung am 29. März 1936 billigte die Remilitarisierung. Mit der Volksabstimmung war die Reichstagswahl verbunden, es stand erneut allein die Einheitsliste der NSDAP zur Wahl. 55 Gesetz für den Reichsarbeitsdienst, RGBl. I, S. 769. Die Festlegung der Dienstzeit auf ein halbes Jahr erfolgte mittels Führererlass vom 27. Juni 1935. 56 Dieses hatte allerdings nicht mehr ausgereicht, um die Ermordung der Generäle Schleicher und Bredow bei der „Röhm-Revolte“ aufzuklären. 57 Aufschlussreich ist seine Charakterisierung durch Schwerin von Krosigk, Es ge‐ schah in Deutschland 1951, 3. Aufl. 1952, S. 278. 58 Dazu hatte ihm Blomberg geraten. Hitler war schon als Nachfolger des Reichsprä‐ sidenten nach Art. 47 WRV formell Oberbefehlshaber der gesamten Wehrmacht – war aber von dessen Einschränkungen, den Gegenzeichnungen, frei. Er konnte die Befehlsgewalt nun unmittelbar, ohne einen zwischengeschalteten Minister aus‐ üben.

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selbst den Oberbefehl und benutzte die Gelegenheit, politisch unzuverläs‐ sige Generäle zu entfernen. Neu errichtet59 wurde als militärischer Stab Hitlers und zur stellvertretenden Wahrnehmung der Aufgaben des Reichs‐ kriegsministers das Oberkommando der Wehrmacht unter Wilhelm Kei‐ tel60. Nachfolger von Fritsch als Oberbefehlshaber des Heeres wurde Walther von Brauchitsch61. Ab dem Jahre 1936 schritt die politische Zwangserziehung der Jugend voran. Die Entwicklung hatte früh, am 17. Juni 1933, mit der Ernennung Baldur von Schirachs zum „Jugendführer des Deutschen Reiches“, begon‐ nen und verlief seitdem zweispurig: gewaltsam und durch obrigkeitliche Eingliederungen der anderen Jugendgruppen62. Am 1. Dezember 193663 wurde die Hitlerjugend zur Staatsjugend erklärt und damit die Zwangsmit‐ gliedschaft eingeleitet64. Die Schulerziehung lag in der Hand des aus dem preußischen Kabinett übernommenen65 Reichsministers Bernhard Rust66, der auch für den natio‐ nalsozialistischen Studentenbund zuständig war – die Burschenschaften

59 Es ging aus dem bisherigen Wehrmachtamt hervor. 60 Als Chef des OKW wurde er im Rang einem Reichsminister gleichgestellt. Stabs‐ chef unter ihm wurde Alfred Jodl. 61 Ihn ersetzte Hitler am 19. Dezember 1941 durch sich selbst. Er hatte damit auch die Kommandogewalt über das Heer inne. 62 Es handelte sich um eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen gegen die Gruppierun‐ gen. Gewaltsame Übergriffe führten teils zur Selbstauflösung, andere Verbände wurden aufgelöst, wie die Bündische Jugend im „Großdeutschen Bund“ Admiral von Throtas (17.6.1933). Eingegliedert wurden etwa Verbände der Turn- und Sportjugend. Die evangelische Jugend wurde durch Reichsbischof Ludwig Müller der Hitlerjugend überstellt (18.12.1933). Katholische Jugendorganisationen waren durch das Reichskonkordat zunächst vor einem Verbot geschützt und blieben noch über das Hitlerjugendgesetz hinaus bestehen. Sie trafen aber Einschränkungen ihrer Tätigkeit. Auch war die Doppelmitgliedschaft in den konfessionellen Organi‐ sationen und Hitlerjugend/Arbeitsdienst verboten, was noch Juli 1937 erneut aus‐ gesprochen wurde. 63 Gesetz über die Hitlerjugend vom 1. Dezember 1936, RGBl. I S. 993. 64 Der verpflichtende Beitritt wurde am 25. März 1939 in der sog. Jugenddienstver‐ ordnung festgelegt (Zweite Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Hitler‐ jugend, RGBl. I S. 710). Jugendliche waren damit vom 10. bis 18. Lebensjahr zum Dienst verpflichtet. Dazu konnten Zwangsmaßnahmen ergriffen werden. 65 Dies war kein Einzelfall. So wurde dem preußischen Justizminister Hanns Kerrl nach der Auflösung seines Ministeriums das neugeschaffene Reichsministerium für Kirchenfragen übertragen. 66 Vgl. zu ihm Anne C. Nagel, Hitlers Bildungsreformer 2012.

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und Korps waren inzwischen aufgehoben worden. Es wurden Ordensbur‐ gen67 geschaffen und Adolf Hitler-Schulen gegründet. Der Staat leistete nicht mehr in Ausnahmefällen, vor allem bei sozialer Benachteiligung, Hilfe, sondern traf die Auslese nach dem Prinzip: „Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, flink wie die Windhunde“. Dies war ein Teil der Gesamt‐ konzeption der lebenslangen staatlichen Erziehung, wie sie Hitler in seiner Rede auf dem „Reichsparteitag der Freiheit“ von 1935 umriss: „Der Knabe, er wird eintreten in das Jungvolk, und der Pimpf, er wird kom‐ men zur Hitler-Jugend, und der Junge zur Hitlerjugend, er wird einrücken in die SA, in die SS und in die anderen Verbände, und die SA- und die SS-Män‐ ner werden eines Tages einrücken zum Arbeitsdienst, von dort zur Armee, und der Soldat des Volkes wird zurückkehren wieder in die Organisation der Bewegung, der Partei, in SA und SS“68.

Alldem vorausgegangen war der radikale Kurswechsel in der Judengesetz‐ gebung. Ihn vollzogen die während des Nürnberger Parteitags am 15. Sep‐ tember 1935 vom Reichstag einstimmig verabschiedeten beiden Gesetze, das Reichsbürgergesetz und das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre69. Sie beseitigten die Sonderbehandlung der jüdi‐ schen Frontkämpfer im Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamten‐ tums von 193470 und knüpften an den offenen Antisemitismus des Partei‐ programms der NSDAP von 1920 und Hitlers „Mein Kampf" an. Unter‐ schieden wurde fortan zwischen den Staatsangehörigen und den Reichs‐ bürgern. Reichsbürger war „nur der Staatsangehörige deutschen oder art‐ verwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, dass er gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen“. Reichs‐ bürger waren die „alleinigen Träger der vollen politischen Rechte“, wäh‐ rend die Nur-Staatsangehörigen lediglich dem Schutzverband des Deut‐ schen Reiches angehörten und ihm „dafür besonders verpflichtet“ waren. Zur politischen Ausgrenzung der Juden, die mit Zerstörung des Gleich‐ heitsprinzips vollzogen wurde, trat die sexuelle Ausgrenzung. Die Ehe‐ schließung und der nichteheliche Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes wurden verboten.

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Diese wurden am 24. April 1936 offiziell eröffnet. Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945 Bd. I/2, S. 534. Beide RGBl. I S. 1146. Abgemildert wurde die Folge: Sie wurden in den Ruhestand versetzt, allerdings mit vollem Gehalt (§ 4 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935, RGBl. I S. 1333).

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Der Prozess der jüdischen Integration, insbesondere der „deutschen Ju‐ den“, fand damit ein Ende71. An die Stelle der allgemeinen Gleichheit, die das tatsächliche Aufgehen der verschwindend geringen Minderheit72 in die Mehrheit bisher vollzogen hatte, trat die Verfolgung. „Schutzgewährung“ war nur ein anderes Wort für die kollektive will‐ kürliche Verfolgung. Dies zeigte sich 1938. Als im November der deut‐ sche Gesandtschaftsrat Ernst vom Rath in Paris von einem Juden ermordet wurde, organisierte Goebbels eine „spontane“ Aktion gegen jüdische Ge‐ schäfte und Bürger. In der verharmlosend so genannten „Reichskristall‐ nacht" wurden Häuser und Synagogen verbrannt. Die Leistungen der Schadensversicherungen, die den Versicherten gebührten, wurden an das Reich abgeführt73. Diesen Rechtsbrüchen schlimmster Art war die Erfas‐ sung des Vermögens74 der Juden75 vorausgegangen. Im Juni und Juli 1938 folgten Verordnungen zum Reichsbürgergesetz mit denen „jüdische Ge‐ werbebetriebe“ in ein öffentliches Verzeichnis eingetragen werden muss‐ ten76. Jüdische Ärzte verloren ihre Approbation und es wurde ein Berufs‐

71 Galt das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums weiter oder wurde es als niederrangigeres Gesetz der Reichsregierung durch das höherrangige des Reichstags aufgehoben? Die Verschlechterung der Rechtsstellung des patrioti‐ schen, den deutschen Juden und der Widerruf der Ausschließlichkeit der „Ermäch‐ tigung“ hätten doch Anlass für einen kollektiven Rücktritt sein können: der Reichsregierung oder ihrer damals noch nichtnationalsozialistischen Mitglieder. 72 Von einem Hundertstel spricht Theodor Heuss in seiner Adolf Hitler Biographie Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus von 1932 (hrsg. von Jäckel 1968), S. 45. 73 Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrie‐ ben. Vom 12. November 1938, RGBl. I S 1581. Hinzu kam eine Vermögensabga‐ be von einer Mrd. Reichsmark (Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit. Vom 12. November 1938, RGBl. I S. 1579). 74 Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden. Vom 26. April 1938, RGBl. I S. 404. 75 Die Definierung „der Juden“ wurde in der Ersten Verordnung zum Reichsbürger‐ gesetz (14.11.1935, RGBl. I S. 1333) vorgenommen. 76 Dritte Verordnung zum Reichsbürgergesetz. Vom 14. Juni 1938, RGBl. I S. 627. Mit der 10. Verordnung (4.7.1939, RGBl. I S. 1097) wurden die Juden in eine – gleichgeschaltete – „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ zusammenge‐ fasst, welche die Auswanderung fördern sollte. Die 11. Verordnung (25.11.1941, RGBl. I S. 722) ordnete schließlich den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit für im Ausland befindliche Juden an und ließ ihr Vermögen dem Reich verfallen.

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verbot für sie ausgesprochen77. Die Diskriminierung ging weiter: Die Ju‐ den wurden gezwungen, einen jüdischen Vornamen beizufügen78, „Israel“ der Mann, „Sara“ die Frau,79 und in ihrem Reisepass wurde ein „J“ einge‐ stempelt80. Ende des Jahres wurde den Juden die gewerbliche Betätigung verboten81 und es konnte ihnen die Veräußerung oder Abwicklung der Be‐ triebe sowie von sonstigem Grundbesitz und Vermögen auferlegt wer‐ den82. V. Die Friedensjahre hatten mit der nach dem Versailler Vertrag fälligen Saarabstimmung am 13. Januar 1935 begonnen. In der Volksabstimmung stimmten 90.8% der Saarländer für die Rückgliederung in das Deutsche Reich, die dann auch gemäß dem Völkerbundsbeschluss am 1. März 1935 erfolgte. Die Abstimmung geschah in Kenntnis der Entwicklung in Deutschland und gegen die Empfehlung der emigrierten SPD-Führung. Als freie, vom Völkerbund überwachte, demokratische Abstimmung wog sie mehr als die bisherigen deutschen Plebiszite, die nur die schon zuvor getroffenen Entscheidungen bestätigten. Am 7. März 1936 rückten Truppen der Wehrmacht in das Rheinland ein. Es war im Vertrag von Versailles und in den Verträgen von Locarno 1925 zu entmilitarisiertem Gebiet erklärt worden. Als Begründung nahm man den französisch-sowjetischen Beistandsvertrag, den Hitler als franzö‐ sischen Bruch der Locarno-Verträge bezeichnete. Mit einer Volksabstim‐ mung am 29. März 1936 ließ man die Wiederbesetzung nachträglich be‐ stätigen.

77 Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz. Vom 25. Juli 1938, RGBl. I S. 969. Das Berufsverbot wurde in der 8. Verordnung (17.1.1939, RGBl. I S. 47) auf jüdi‐ sche Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker ausgeweitet. 78 Sofern sie nicht schon einen jüdischen Vornamen trugen. 79 Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Fami‐ liennamen und Vornamen. Vom 17. August 1938, RGBl. I S. 1044. 80 Verordnung über die Reisepässe von Juden. Vom 5. Oktober 1938, RGBl. I S. 1342. 81 Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben. Vom 12. November 1938, RGBl. I S. 1580. 82 Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens. Vom 3. Dezember 1938, RGBl. I. S. 1709.

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Die Olympischen Spiele 1936, die nach einer 1932 gefallenen Entschei‐ dung in Deutschland durchgeführt wurden, dienten als Massenveranstal‐ tung, die sich in die Tradition der jährlich veranstalteten Reichsparteitage einfügte, der Korrektur des bisher im wesentlichen von der ausländischen Presse geprägten Erscheinungsbildes des nationalsozialistischen Staates. Die Frage nach der internationalen Reaktion auf die Judenverfolgung stell‐ te sich zwar für die Teilnahme an den Olympischen Spielen, wurde aber nicht zu deren Boykott zugespitzt. Die Friedensjahre wurden die Zeit der großen außenpolitischen Erfolge. Der erste war die Vereinigung Deutschlands mit Österreich, die die Verträ‐ ge von Versailles und Saint-Germain untersagt hatten – 1930 war selbst die Zollunion verhindert worden. 1938 erfolgte der „Anschluss“, den wie‐ derum eine Volksabstimmung sanktionierte83. Das „großdeutsche Reich“ war fast hundert Jahre nach der Revolution von 1848 geschaffen worden. Dem folgte als zweiter Schritt die Einverleibung des Sudetenlands, das 1919 der Tschechoslowakei zugeschlagen worden war. Diese war – nach der Zerschlagung Österreich-Ungarns – der neue Mehrvölkerstaat mit der starken Minderheit der „Sudetendeutschen", der als solcher der allgemei‐ nen völkerrechtlichen Anerkennung des Nationalitätsgrundsatzes wider‐ sprach. In die Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen griff Hitler ein und forderte für die Sudetendeutschen „heim ins Reich“. Den daraus sich entwickelnden internationalen Konflikt löste das „Münchener Abkommen“ vom Oktober 1938 zwischen Frankreich, England und Deutschland zu Lasten der Tschechoslowakei. Die Siegerstaaten des Ers‐ ten Weltkriegs gaben damit faktisch ihr Produkt des Mehrvölkerstaats auf. Der letzte nicht militärisch erreichte außenpolitische Erfolg Deutsch‐ lands war die Abtretung des Memelgebiets durch Litauen am 23. März 1939, das es 1923 annektiert hatte. 1939 brach Hitler sein Wort, dass das Sudetenland seine letzte territo‐ riale Forderung sei, und marschierte in die „Rest-Tschechei“ ein, von der sich die Slowakei trennte. Das annektierte Gebiet wurde als „Protektorat Böhmen und Mähren“ ins Reich eingegliedert84. Reichsprotektor wurde

83 Mit der Volksabstimmung am 10. April 1938 war erneut die Reichstagswahl ver‐ bunden. Im Unterschied zu den vorigen Abstimmungen war nur eine gemeinsame Stimmabgabe für den Anschluss und für die Einheitsliste möglich, 99,1% stimm‐ ten dafür. Es war die letzte Reichstagswahl. 84 Erlaß des Führers und Reichskanzlers über das Protektorat Böhmen und Mähren. Vom 16. März 1939, RGBl. I S. 485.

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der ehemalige Außenminister Neurath85. Die Begründung der Einverlei‐ bung mit der früheren historischen Zugehörigkeit zum deutschen Reich widersprach dem Nationalitätenprinzip und eröffnete Deutschland die Möglichkeit zu weiterer Expansion. Polen wurde der nächste Adressat mit der Forderung, dass eine exterri‐ toriale Autobahn durch den „Polnischen Korridor“ gebaut und Danzig zu‐ rückgegeben werden sollte. Nach Ablauf des deutschen Ultimatums insze‐ nierte Hitler einen Überfall auf den deutschen Sender Gleiwitz und drang am 1. September 1939 ungeachtet des britischen und französischen Bei‐ standsversprechens in Polen ein. Polen wurde in einem „Blitzkrieg“ be‐ siegt und zwischen Deutschland und Sowjetrussland aufgeteilt, die zuvor, am 23. August 1939, den „Hitler-Stalin-Pakt“ geschlossen hatten. Der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen. VI. Wie fällt die Bilanz der Friedensjahre aus? Der außenpolitische Erfolg war groß, wurde aber mit dem Verlust an Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit teuer bezahlt – im Ausland wie im Inland. Die Kriegsfurcht hatte auch in Deutschland dominiert und das Münchener Abkommen war freudig be‐ grüßt worden. Die Okkupation der „Rest-Tschechei“ war nicht nur ein Wortbruch, sondern auch der unmissverständliche Angriff auf den Ver‐ sailler Vertrag, in dem Deutschland durch Satellitenstaaten eingemauert worden war. War Hitler tatsächlich der „Führer“ eines „totalen Staates“? Das rechtli‐ che Bild war eindeutig. Es gab keine Gegenmächte, keine kollektiven Ge‐ genkräfte. Hitlers rechtliche Absicherung durch das Strafrecht und die tat‐ sächliche mittels Gestapo und Konzentrationslager war perfekt und er‐ streckte sich auf die Herrschaft über Kultur und Presse und auf die Erzie‐ hung. Dem politischen Gegner wurde die Dimension der Öffentlichkeit genommen und damit die letzte Chance, wenigstens als Märtyrer über den Tod hinaus wirken zu können. Er blieb ein unbekanntes Opfer86. Dem ent‐

85 Staatssekretär des Reichsprotektors und faktischer Stellvertreter war Karl Her‐ mann Frank, er wurde 1943 zum Staatsminister für Böhmen und Mähren ernannt. 86 Die politische Geschichte Deutschlands während des Nationalsozialismus besteht aus drei Teilen: der Herrschaftsgeschichte, der Geschichte des Widerstands und der Geschichte der Opfer.

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sprach die tatsächliche Lage. Die politische Opposition war ins Ausland geflüchtet und hoffte, bei der Verfolgung möge es sich nur um eine Neu‐ auflage des „Sozialistengesetzes“ handeln, das die Linke schon einmal im Kaiserreich überstanden hatte. Dem Einzelnen blieb die Flucht und die Auswanderung, der wenig chancenreiche Neuanfang in einem Beruf mit Zugangshindernissen, ohne Hilfen87. Demgegenüber blieb ihm der Status quo, die Hoffnung auf das Überleben in „Oasen“, der Justiz, der Wirtschaft und der Wehrmacht, der Trost, durch das Verbleiben in der jetzigen Position deren Besetzung durch überzeugte Nationalsozialisten und damit „Schlimmeres“ verhindern zu können. Widerstand konnte von der Wehrmacht geleistet werden, deren Führung Hitler vom Krieg abriet. Der von ihrer obersten Führung geplante Aufstand unterblieb, als das „Münchener Abkommen“ geschlossen wurde. Im Übrigen gab es die spärlichen Freiräume der Kirchen, der Familie und die selbstgeschaffenen des Individuums, die „innere Emigration“. Die „Machtergreifung“ war nicht zwangsläufig gewesen. Die Eingriffs‐ möglichkeiten sind klar sichtbar. Die Reichsregierung hätte das „Ermäch‐ tigungsgesetz“ nicht zur Billigung der „Staatsnotwehr“ zu nutzen brau‐ chen. Niemand hinderte sie daran, die Suspension der Grundrechte zu be‐ enden und Fricks Plan anzunehmen, die Reichsstatthalter und Gauleiter ihrer Dienstaufsicht zu unterstellen. Und niemand zwang sie, die Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers zu vereinigen, den Treueid gegenüber Hitler zu leisten oder als Zeichen ihrer Integration das Goldene Parteiabzeichen anzunehmen. Für den einfachen Bürger war demgegen‐ über nach der rechtlichen „Machtergreifung“ politischer Widerstand aus‐ sichtslos. Schwierig war die Position des Juristen. Nur wenige Male hat Hitler das Recht neu gestaltet: bei der Erbhofgesetzgebung88 und dann nach dem „Anschluss“ Österreichs aufgrund einer dort gegebenen rechtlichen Zwangslage beim Eheschließungs- und Ehescheidungsrecht (1938)89. Hit‐

87 Beispielhaft ist der Auswanderungsversuch Sebastian Haffners. Er scheiterte in Frankreich. In England reichte die Hilfe seiner jüdischen Verlobten nicht aus, um ihn vor der Internierung als Deutscher bei Kriegsbeginn zu bewahren. 88 Reichserbhofgesetz vom 29. September 1933, RGBl. I S. 685. 89 Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiet. Vom 6. Juli 1938, RGBl. I S. 807. Die Scheidung wurde durch verschuldensunabhängige Gründe erleichtert, Verweigerung der Fortpflanzung galt als Verschulden.

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ler wartete ab. Er hielt auch den „Reichsrechtsführer“ Hans Frank bewusst kurz, der schon nach der Machtergreifung ein nationalsozialistisches „Handbuch für Recht und Gesetzgebung“ herausgegeben hatte90 und dann die „Akademie für Deutsches Recht“ gründete – sie wurde jedoch vom Reichsjustizministerium ebenso ignoriert wie die rechtspolitische Tätig‐ keit von Roland Freisler, ihres eigenen vom Preußischen Justizministeri‐ um übernommenen Staatssekretärs. Der normale Jurist blieb im Dilemma zwischen positivem Gesetzesgehorsam und dem Aufruf zur eigenen Rechtsgestaltung in den bisher offen gelassenen Freiräumen, die insbeson‐ dere die Rechtsstellung der Juden betrafen. Vorbild war insoweit Carl Schmitt. Er folgte Hitlers Anspruch, oberster Gerichtsherr zu sein, und sah die Gewaltenteilung als aufgehoben an91. Als „Reichsgruppenwalter der Hochschullehrer“ organisierte er im Oktober 1936 eine Tagung „Das Ju‐ dentum in der Rechtswissenschaft“92. An ihrem Ende gelobten die Teil‐ nehmer, weit über hundert rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Hoch‐ schullehrer und eine große Anzahl von Gästen, bei ihren wissenschaftli‐ chen Arbeiten „jüdische Schriftsteller nur soweit dies zur Vermeidung ei‐ nes Plagiats notwendig ist, und nur mit der ausdrücklichen Erwähnung, dass es sich um Juden handelt, zu zitieren und dasselbe auch von ihren Studenten zu verlangen“93. Und wie war die Stellung des einfachen „Volksgenossen“? Wie jede Veränderung der Machtbefugnisse bot auch der nationalsozialistische Um‐ bruch die Möglichkeit zum Aufstieg. Und im sozialen Überwachungsraum war genügend Platz für den Blockwart, auch als Denunzianten. Die Ar‐ beitslosigkeit wurde durch die wirtschaftliche Erholung und die Aufrüs‐

90 Die erste Aufl. von 1933 war rasch vergriffen. Die 2. Aufl. setzte die Akzente teil‐ weise anders. 91 Siehe dazu Fn. 49. 92 Auf ihr wurden dreizehn, nur teilweise später veröffentlichte Referate gehalten Re‐ feriert wurde über das Judentum: in der Wirtschaftswissenschaft (Rath), in Staats‐ recht und Staatslehre (Tatarin-Tarnheyden), in der Verwaltungsrechtswissenschaft (Maunz), im Wettbewerbsrecht (Rilk), im Zivilprozeßrecht (Bartholomyczik), im Handelsrecht (Würdinger), in der Strafrechtswissenschaft (Klee), im Strafverfah‐ ren (Siegelt), in der Kriminalpsychologie (Mikorey) im internationalen Privatrecht (Müller), sowie über „Positivismus, Freirechtslehre, neue Rechtsquellenlehre“ (Jung), „Judentum und Kriminalität“ (v. Leers) und „Der Einfluß jüdischer Theo‐ retiker auf die deutsche Völkerrechtslehre“ (Gürke). Hochschullehrer waren sechs Professoren und drei Dozenten, von denen jeweils zwei aus Göttingen, Freiburg und Breslau kamen. Bemerkenswert ist die starke Befassung mit dem Strafrecht. 93 Wie weit wurde dieses Zitierverbot allerdings in der Praxis befolgt?

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tung gemindert und zuletzt beseitigt. Und die Bedeutung des Arbeitsver‐ hältnisses wurde durch Sonderleistungen der Organisation „Kraft durch Freude“ relativiert. Die politische Kontinuität zum Kaiserreich war ohne‐ hin gewährleistet, wobei deren frühere Ungleichbehandlungen wie bei‐ spielsweise bei der Wehrpflicht beseitigt wurden: Ideologisch wichtig war die neue Wertung der Handarbeit, die der Reichsarbeitsdienst praktizierte. Demgegenüber wog die Bedeutung der Freiheit wenig, die im Kaiserreich institutionell durchgesetzt worden war. Der deutschen Grundrechtsge‐ schichte fehlte eben der politisch bewusstseinsbildende Erfolg. Daran hat‐ te auch die Weimarer Verfassung nichts geändert, zumal in ihr die sozialen Einschränkungen der Freiheit eine wichtige Rolle spielten. VII. Wichtig war in den Friedensjahren die Änderung der politischen und hi‐ storischen Vorgaben. Dies war beim Urteil über Karl den Großen oder bei der wechselnden Haltung gegenüber der Sowjetunion der Fall. Der „totale Staat“ drückte den umfassenden Herrschaftsanspruch des Staates aus. Aber wie war es um diesen wirklich bestellt? Es gab eine Lebensgesetz‐ lichkeit, die sich auch durchsetzte. Und den Befehl „von oben“ hat der „Mitläufer“ keineswegs stets verinnerlicht, sondern oft nur entgegenge‐ nommen – und befolgt. Ein politischer Witz beleuchtet die Situation. Er vergleicht den Staat mit einer Straßenbahn: Bei beiden steht der „Führer“ vorn. Hinter ihm steht das Volk; wer aber nicht hinter ihm steht, der sitzt. Zwischendurch wird kassiert. Und Abspringen während der Fahrt ist verboten. Der Witz verharmlost allerdings, denn er erwähnt nicht den Totschlag des politi‐ schen Gegners, und ebensowenig die Hektik des Veränderungsprozesses und die Chance des sozialen Aufstiegs, die insbesondere auch den Denun‐ zianten in das Sicherheitssystem einbezog. Die Kontinuität der „von oben“ geförderten Bestialität blieb. Sie war zunächst erlaubt gegen den politischen Gegner, den Kommunisten und Marxisten und wurde in den Konzentrationslagern praktiziert. Dann er‐ streckte sie sich auf die Juden und schließlich bei den Röhm-Morden auf die bisherigen Gesinnungsgenossen. Damit wurden Zäsuren im politischen Bewusstsein gesetzt, ebenso auch mit der Aufdeckung der Homosexualität in der SA und der Frage nach der praktischen Bedeutung des Rechtsstaats. Das Fazit der tatsächlichen und staatlichen Macht war die Willkür. 166

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Was war das Ende der Friedensjahre? Formal gesehen waren es sicher‐ lich die Kriegserklärungen Englands und Frankreichs und der Beginn der Kampfhandlungen in Polen. Aber entsprach das auch der Ansicht der Völ‐ ker? In Frankreich stellte man die Frage „mourir pour Dantzig?“. Die offe‐ ne Vertragsuntreue Hitlers war allerdings als Revision des „Versailler Ver‐ trags“ begreifbar. In Deutschland sahen die meisten den Krieg als unver‐ meidbares Ereignis an, auf das der „Führer“ zugesteuert war. Der „Führer‐ wille“ begründet auch insoweit die Einheit dieser Jahre. Doch entsprach ihm das politische Bewusstsein der Deutschen? Am 8. November 1939 führte ein einfacher Arbeiter, Georg Elser, ein Attentat auf Hitler im Mün‐ chener Bürgerbräukeller durch, dem dieser nur knapp entkam. In der Öf‐ fentlichkeit wurde das Attentat dem englischen Geheimdienst zugerechnet und nach kurzer Zeit totgeschwiegen94. Elser wurde in ein Kz verbracht und am Kriegsende ermordet. Aber war ein Attentat nicht das einzig noch mögliche rechtliche Urteil über Hitlers „Unrechtsstaat“, das dem Individu‐ um blieb? Wer als Machthaber den Rechtsstaat beseitigt, und damit offen die Bindung an das Recht löst, verliert auch den Schutz des Rechts. Es gibt keine Rechtsordnung mehr, sondern nur noch eine Machtordnung. Hitler war vogelfrei geworden. Entsprach dies der Überzeugung des Volks? Sie zu ermitteln, erweist sich als schwierig. Im Grunde dürfte die Frage nach der Rechtsüberzeu‐ gung eines Volks stets nur auf eine Fiktion hinauslaufen. Es geht allein um die Zufriedenheit mit einer Herrschaftsordnung. Allgemein lässt sich zweierlei feststellen. Machtergreifung und Machtbehauptung waren ein vom Einzelnen schwer nachvollziehbarer und wahrnehmbarer Prozess. Die Weichenstellungen oblagen dem Reichspräsidenten und dem Kabinett. Ihnen kam bei der Wahrung der Grundrechte und den Röhm-Morden die entscheidende Position zu. Beide haben dabei versagt. Das Volk nahm die Machtveränderungen hin. Ob dies von einem inhaltlichen Protest begleitet war, ist schwer feststellbar, da er nicht artikuliert wurde. Überhaupt sollten die damaligen historischen Vorgänge nicht nur mit den Maßstäben einer rationalen Ordnung gemessen werden. Es waren mit emotionale Prozesse,

94 Auch Hitlers Gegner waren sich über die Zurechnung des Attentats nicht einig. Bezeichnend ist, dass der mit Elser im Kz Dachau internierte Theologe Martin Niemöller es für einen Akt des deutschen Geheimdienstes hielt und Elser für ein Mitglied der SS.

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rauschhafte Zustände95, deren Kern eine Art nationaler Empörung war. Ihre Ergebnisse wurden juristisch festgehalten und sodann durch eine Vielzahl von Aus- und Durchführungsvorschriften konkretisiert. Mit dem Ausbruch des Weltkriegs trat ohnehin wie in jedem Land das „right or wrong, my country“ an die Stelle des bisherigen Strebens nach Gerechtigkeit. In Deutschland kam zunächst die Legitimation durch den militärischen Erfolg hinzu. Frankreich und England leisteten ihre Bürg‐ schaft für den Versailler Vertrag – zu spät und ohne Hilfeleistung für Polen. Oder bekundeten sie nur ihre Gegnerschaft zu Hitler? Bemerkungen des Zeitzeugen Als Angehöriger des Jahrgangs 1925 befinde ich mich auch in der Rolle des Zeitzeugen – als Jugendlicher, als Schüler und als Mitglied einer kleinbürgerlichen Familie, die das großväterliche Vermögen weitgehend durch die Inflation verloren hatte. Nur noch schattenhaft erinnere ich mich an die Eingliederung der Bün‐ dischen Jugend in die Hitler-Jugend, an deren stets misslungene Gelände‐ spiele, an die militärische Organisation, an die Aufmärsche, die permanen‐ ten Sammelaktionen, an die wenig anziehenden Auftritte des Gauleiters – „Jakob Sprenger von Hessen“. Ich bekenne, dass mich die HJ-Uniform an‐ zog und ich deshalb beitreten wollte. Doch meine kluge Mutter kaufte mir eine Uniform, und damit war es gut – bis zum späteren Zwangsbeitritt. Ich besuchte das Darmstädter Realgymnasium, das später in Horst-WesselSchule umgetauft wurde. Der Lehrkörper war mit wenigen Ausnahmen deutsch-national besetzt. Meine Schulklasse war nicht nationalsozialis‐ tisch bestimmt, die Jungvolk- und HJ-Führer gaben in ihr nicht den Ton an. Einen Eklat verursachte die Erörterung der Abstammung Richard Wagners. Der Deutschlehrer beantwortete die Frage, warum nicht Les‐ sings „Nathan der Weise“ gespielt werde, damit, später würde dies wohl möglich sein. Mein Freund Walter Grünpeter und ich lebten in der interna‐ tionalen Literatur von gestern. Voltaires „Candide“ zählte zu den Schrif‐ ten, die mich am meisten beeinflusste. Im Übrigen galt, was unerwünscht

95 Und wenn man sie als Jurist nicht teilte, was war dann? Das juristische Schrifttum meines elf Jahre älteren Bruders nahm ich erst nach 1945 zur Kenntnis und würde es heute zeitkritisch analysieren.

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oder verboten war, für uns als Empfehlung. Wir spielten daheim die Füh‐ rerreden nach – in ihrer ganzen Lächerlichkeit und Primitivität. Zur Familie: meinen 1937 verstorbenen Vater würde ich rückblickend als Mitläufer einordnen. Seine unverheiratet gebliebene Schwester war eine überzeugte „Nazisse“. Meine Mutter war eine entschiedene Hitler-Gegnerin: „Hitler bedeutet den Krieg“. Als „ihre schönsten Jahre“ bezeichnete sie die als Erzieherin bei einem jüdischen Mainzer Weinhändler verbrachten. Allerdings versi‐ cherte sie mir, sie hätte keinen Juden geheiratet. Ein jüdischer Kollege meines 1937 verstorbenen Vaters verabschiedete sich von meiner Mutter und mir 1938 mit der Begründung, er wolle uns mit seinen Besuchen nicht gefährden – was nicht falsch war, da in unserem Hause ein Angestellter der Kreisleitung wohnte. Wir schwiegen dazu betroffen. In meiner Klasse befand sich übrigens ein „Halbjude“, der absolut unbehelligt blieb. Mein elf Jahre älterer Bruder Harry war Jura-Student, seit 1932 in Frankfurt, in Heidelberg, München und Gießen, dann Doktorand und As‐ sistent bei dem Königsberger Strafrechtler Wilhelm Gallas. Er nahm an al‐ len Schulungen teil, arbeitete aber selbst mit der überkommenen Metho‐ denlehre. Anscheinend hielt er eine rechtsstaatliche oder zumindest ver‐ rechtlichte Entwicklung des Nationalsozialismus für möglich. Seine Publi‐ kationen habe ich erst während meines Studiums kennengelernt. Mir er‐ zählte er einmal, schon im Kriege, von der Aufforderung eines ostpreußi‐ schen Leutnants, mitzumachen, wenn es gegen Hitler losginge. Er kom‐ mentierte sie nicht. Harry fiel als Offizier im März 1942 in Russland. Meine persönlichen Bemerkungen, die Erinnerungen des Zeitzeugen, enden hier. Sie überschneiden sich mit meiner historischen Darstellung und werfen naturgemäß die Frage auf, inwieweit sie diese beeinflusst ha‐ ben. Ich kann eine Beeinflussung nach bestem Wissen und Gewissen nur verneinen. Die Geschichte der Zeit ab 1933 ist Herrschaftsgeschichte. Sie bricht hier beim Krieg ab. Für ihn ändert sich die Perspektive. Schwer‐ punkt der Darstellung wird die Erweiterung des Kreises der Beherrschten. Die nationale Herrschaft trat zurück gegenüber der internationalen. Maß‐ gebliches Kriterium war die Legitimation der brutalen Gewalt über die rassisch „Minderwertigen“ bis zu ihrer Vernichtung. Dies wurde nunmehr offengelegt, war aber der Sache nach nichts Neues.

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Die Gauleiter haben bereits 1969 durch Peter Hüttenbergers bahnbrechen‐ de Studie im Mittelpunkt der historischen Forschung gestanden, doch ver‐ folgte Hüttenberger vor allem das Auf und Ab der Kompetenzen dieser Funktionäre gegenüber Staats- und Parteistellen und nahm weder das Korps der Gauleiter noch deren Tätigkeit oder die Geschichte einzelner Gaue in den Blick.1 Danach wurde es – von Einzelbiographien abgesehen – um die Gauleiter vergleichsweise still, sieht man von zwei bilanzieren‐ den Aufsätzen über diese „Vizekönige des Reiches“ ab.2 Erst seit der Jahr‐ tausendwende sind wieder vermehrt Forschungsanstrengungen bemerkbar, denen es um die Gaue als unterschätzte Mittelinstanz des NS-Regimes und die Männer an deren Spitze geht.3 Die Gaue, die Länder und das Reich: Territoriale Aspekte Als die nach Hitlers Haftentlassung Anfang 1925 neugegründete NSDAP sich auf oberster Ebene in Gaue einteilte, war Hitler dieser Begriff aus sei‐ ner österreichischen Heimat bekannt. Dort und in Bayern war die Gauglie‐ derung seit dem 19. Jahrhundert insbesondere bei Sport-, Schützen- und Gesangsvereinen üblich; dem Wort, das auf die Reichseinteilung unter

1 Peter Hüttenberger, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, 1969. 2 Jeremy Noakes, ‚Viceroys of the Reich‘? Gauleiters 1925-45, in: Anthony McElli‐ gott/Tim Kirk (Hg.), Working towards the Führer. Essays in honour of Sir Ian Ker‐ shaw, 2003, S. 118-152; Walter Ziegler, Gaue und Gauleiter im Dritten Reich, in: Horst Möller/Andreas Wirsching/Walter Ziegler (Hg.), Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, 1996, S. 139-159. 3 Joachim Hendel/Oliver Werner, Regionale Mittelinstanzen im Nationalsozialismus. Materialien zur Erforschung der NS-Gaue als Mobilisierungsstrukturen, 2015; Jür‐ gen John/Horst Möller/Thomas Schaarschmidt (Hg.), Die NS-Gaue. Regionale Mit‐ telinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“, 2007.

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Karl dem Großen zurückgeht, haftete vor 1945 keineswegs sein heutiger altertümlicher Charakter an. Ab 1925 wurden bestehende NSDAP-Orts‐ gruppen zu Gauen zusammengefasst; die ab 1933 übliche Zwischenin‐ stanz der Kreise sowie die Untergliederung der Ortsgruppen in Blöcke und Zellen traten erst nach und nach hinzu. Die Satzung des Vereins NSDAP vom 22. Mai 1926 legte fest: „Der Verein besteht zunächst aus Ortsgrup‐ pen, die der Parteileitung unterstellt sind. Je nach Bedarf werden diese Ortsgruppen in Gauverbänden zusammengefaßt. Die Gauleiter werden von der Reichsleitung bestimmt.“4 Im Gründungsdokument der Partei vom Februar 1925 war bereits erklärt worden, nicht die Reichstagswahl‐ kreise, sondern Aspekte der Zweckmäßigkeit, der Propaganda und des vorhandenen Führungspersonals seien für die Bildung von Untergliede‐ rungen ausschlaggebend.5 Erst im September 1928 wurde die Anglei‐ chung der Gaue an die Wahlkreise verfügt.6 Wichtige Ausnahmen blieben bestehen: Die Gaue Franken, Kurhessen, Mecklenburg und Sachsen ohne Wahlkreisentsprechung zeigen, dass auch regionale und politische Erwä‐ gungen, von Beharrungskräften abgesehen, die Gaueinteilung beeinfluss‐ ten. Das Grundprinzip bestand darin, dass sich Gauleiter ihren Gau kämp‐ fend selbst schufen; Gaue entstanden dort, wo kampfbereite Nationalso‐ zialisten Erfolge erzielten. So sahen es die Betroffenen auch selbst, wobei alles dafür spricht, einen Rückblick wie den von Gauleiter Karl Wahl (Schwaben) ernst zu nehmen: „Ein Gauleiter war nichts anderes als ein von Hitler beauftragter Schwerstarbeiter, der in seinem Arbeitsgebiet für alles verantwortlich war.“7 In den zwei Jahrzehnten zwischen 1925 und 1945 wurden als Folge des raschen Wachstums der Partei sowie der Expansion des Reiches ab 1938 neue Gaue gegründet bzw. bestehende, zu groß gewordene geteilt.8 Als Beispiel kann die 1940 wirksam gewordene Teilung des Großgaus Schle‐

4 Clemens Vollnhals (Hg.), Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen: Februar 1925 bis Januar 1933. Band I: Die Wiedergründung der NSDAP Februar 1925 – Juni 1926, 1992, S. 463. 5 Ebenda, S. 8. 6 Bärbel Dusik/Klaus A. Lankheit (Hg.), Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen: Fe‐ bruar 1925 bis Januar 1933. Band III/1: Zwischen den Reichstagswahlen Juli 1928 – Februar 1929, 1994, S. 56-62. 7 Karl Wahl, Patrioten oder Verbrecher. Aus 50jähriger Praxis, davon 17 als Gaulei‐ ter, 31975, S. 42. 8 Als Fallstudie Albrecht Tyrell, Führergedanke und Gauleiterwechsel. Die Teilung des Gaues Rheinland der NSDAP 1931, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte

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sien in Ober- und Niederschlesien gelten. Die Expansion auf außerdeut‐ sche Gebiete erfolgte 1938/39 (sieben österreichische Reichsgaue9, Reichsgau Sudetenland 1938 sowie im Jahr darauf Bildung der Reichs‐ gaue Danzig-Westpreußen und Posen, ab 1940 umbenannt in Wartheland). Im sogenannten Altreich wurden die Gaugrenzen – mit der wichtigen Aus‐ nahme Schlesiens – ab 1933 kaum mehr verändert und die Gaunamen meist beibehalten.10 Die vielbeschworene Reichsreform fand, was die Ge‐ bietseinteilung betraf, vor allem in den neuen Territorien statt.11 Die Gau‐ gliederung im Altreich präsentiert sich als eine Mischung von gewachse‐ nen regionalen Spezifika, praktischen Erwägungen, kämpferischen Erfol‐ gen der Gauleiter und personalpolitischen Eingriffen der Reichsleitung bzw. Hitlers, wodurch wegen der angestrebten und großteils auch erreich‐ ten, mittleren Durchschnittsgröße der Gaue dem zentralisierten Reich ein regionaler Unterbau gegenübergestellt wurde.12 Einige an den Außengrenzen liegende Gaue wurden im Zuge der militä‐ rischen Expansion im Krieg durch benachbartes ausländisches, teilweise bis 1918 zum Reich gehöriges Gebiet erweitert (Eupen-Malmedy; Suwal‐ ki-Zipfel und Kreis Bialystok zu Ostpreußen; Ostoberschlesien); freilich gingen nicht alle Abrundungswünsche in Erfüllung.13 Nachdem eine

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(1975), S. 341-374. Darüber hinaus wurde der 1926 gebildete Großgau Ruhr bis Ende 1932 in die neuen Gaue Essen, Westfalen-Süd und Westfalen-Nord aufge‐ teilt. Gesetz über den Aufbau der Verwaltung in der Ostmark vom 14. April 1939, RGBl. I 1939, S. 777. Vgl. Gerhard Botz, Die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich. Planung und Verwirklichung des politisch-administrativen An‐ schlusses (1938 – 1940), 1976. Der Gau Bayerische Ostmark wurde in Bayreuth, der Gau Pfalz-Saar in Saarpfalz, später Westland umbenannt. Vgl. allgemein Michael Rademacher, Handbuch der NSDAP-Gaue 1928 bis 1945, 2000. Vgl. Uwe Bachnick, Die Verfassungsreformvorstellungen im nationalsozialisti‐ schen Deutschen Reich und ihre Verwirklichung, 1995. Ziegler, Gaue, S. 143 (Fn. 2). Gauleiter Jury (Niederdonau) scheiterte bei seinen Bemühungen, seinen Gau ins benachbarte Mähren bis Brünn auszudehnen. Vgl. Petr Nemec, Gauleiter Dr. Hugo Jury und sein Wirken im Protektorat Böhmen und Mähren, in: Thomas Winkel‐ bauer (Hg.), Kontakte und Konflikte. Böhmen, Mähren und Österreich: Aspekte eines Jahrtausends gemeinsamer Geschichte, 1993, S. 469-478. Ähnliches wider‐ fuhr Gustav Simon, der das im Mai 1940 besetzte Luxemburg seinem Gau Koblenz-Trier zuschlagen wollte. Vgl. Horst Romeyk, Der Gau Moselland in der nationalsozialistischen Reichsreform, in: Zeitschrift für westdeutsche Landesge‐ schichte (1985), S. 267-295.

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Volksabstimmung im Januar 1935 die Rückkehr des Saarlandes zum Reich entschieden hatte, wurde es mit dem Gau Pfalz zum Gau Pfalz-Saar, später umbenannt in Saarpfalz bzw. Westland vereinigt. Ab 1941 verfügte die NSDAP über 42 Gaue, darunter zehn Reichsgaue; hinzu trat als Nr. 43 die ebenfalls als Gau, aber ohne Territorium organisierte Auslandsorganisati‐ on der NSDAP unter Gauleiter Wilhelm Bohle. Die 42 Flächengaue wie‐ sen ein Spektrum vom kleinen Stadtgau (Köln-Aachen, Essen, Düsseldorf) bis zum Großgau (Kurmark, Schlesien, das 1939 und 1941 erweiterte Ost‐ preußen u.a.) auf. Das Gauleiterkorps: Personelle Aspekte Zwischen 1925 und 1945 amtierten mehr als 120 namentlich bekannte Gauleiter, sodass entgegen einer verbreiteten Anschauung eine erhebliche Fluktuation gegeben war.14 Diese konzentrierte sich allerdings auf die ers‐ ten Jahre, während ab 1933 mehr Kontinuität eintrat. Ein Teil der Neuer‐ nennungen nach 1933 war durch Todesfälle notwendig geworden; in einem Fall musste Bernhard Rust, Reichsminister für Wissenschaft, Erzie‐ hung und Volksbildung, 1940 die Leitung des Gaus Südhannover-Braun‐ schweig wegen Arbeitsüberlastung aufgeben (Joseph Goebbels blieb aber bis Kriegsende Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda und Gauleiter von Berlin; Josef Terboven, ab April 1940 Reichskommissar für die besetzten norwegischen Gebiete, leitete seinen Gau Essen von Oslo aus). Entlassungen wegen Amtsunfähigkeit, Korruption, Homosexualität oder unterstellter ideologischer Abweichung kamen in nicht wenigen Fäl‐ len selbst nach 1933 vor (in der zeitlichen Abfolge: Wilhelm Karpenstein, Helmuth Brückner, Wilhelm Kube, Odilo Globocnik, Julius Streicher, Jo‐ sef Wagner, Karl Weinrich, Fritz Wächtler).15 Das weitere Schicksal jener, die ihren Posten verloren, schwankte zwischen ehrenvoller Entlassung mit anschließender Wiederverwendung auf anderen einflussreichen Posten (Kube, Globocnik, wobei Kube und der nicht wiederverwendete Streicher

14 Kurzbiographien bei Karl Höffkes, Hitlers politische Generale. Die Gauleiter des Dritten Reiches. Ein biographisches Nachschlagewerk, 1997. 15 Hierzu Martin Moll, Der Sturz alter Kämpfer. Ein neuer Zugang zur Herrschafts‐ analyse des NS-Regimes, in: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft (1992), S. 1-51.

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ihren Gauleitertitel behalten durften), Übertritt in einen zivilen Beruf oder die Wehrmacht und einem regelrechten Bannstrahl des Regimes: Zwei dieser Abgesetzten (Wagner und Wächtler) wurden, wenn auch erst wäh‐ rend der letzten Kriegstage, von Schergen des Regimes ermordet. Die Gauleiter galten als „führerunmittelbar“; selbstredend war es Hitler, der diese Männer ein- und allenfalls absetzte. Welchen konkreten Einfluss die vom Stab des Stellvertreters des Führers, Rudolf Heß, bzw. später von der Partei-Kanzlei beginnend mit den 1938 anstehenden Postenbesetzun‐ gen in Österreich akribisch angestellten Planspiele und Ämterszenarien, ergänzt durch die Bildung eines Reservepools geeigneter Kandidaten für künftige Umbesetzungen, hatten, lässt sich nicht restlos klären. Die Gau‐ leiter unterstanden Hitler als Chef der NSDAP und bestenfalls theoretisch der Reichsleitung der NSDAP sowie dem zwischen Herbst 1933 und sei‐ nem Englandflug im Mai 1941 als Stellvertreter des Führers fungierenden Heß bzw. dessen Nachfolger Martin Bormann als „Leiter der Partei-Kanz‐ lei“.16 Eine wichtige Ausnahme bei der Führerunmittelbarkeit bildeten al‐ lerdings die Finanzen, über die Franz Xaver Schwarz, Reichsschatzmeister der NSDAP, umso strenger wachen konnte, als den Gauen keine eigene Rechtspersönlichkeit zukam. Die übrigen Ämter der Reichsleitung konn‐ ten im besten Fall den ihnen zu- bzw. nachgeordneten Sparten der Gaulei‐ tungen Weisungen erteilen oder auf andere Weise Einfluss nehmen, bei‐ spielsweise die Reichspropagandaleitung unter Goebbels auf die Gaupro‐ pagandaämter. Originäre Machtpositionen des Gauleiters waren insbeson‐ dere Gauinspektion und -gericht. Die Personalpolitik für den Gaustab lag ebenso fest in der Hand des Gauleiters wie die Postenbesetzungen auf den nachgeordneten Ebenen Kreis, Ortsgruppe, Zelle und Block. Über die Gliederungen (SA, SS, HJ etc.) und angeschlossenen Verbände der Partei kam den Gauleitern ein Aufsichtsrecht zu, dessen Bedeutung von Fall zu Fall variierte; hinsicht‐ lich der SS war sie marginal. Zusammenfassend lieferte das von der Reichsorganisationsleitung herausgegebene Organisationsbuch der NSDAP 1938 folgende, am anzustrebenden Ideal orientierte Definition: „Die Gauleitung hat einen bestimmten Teil des Reiches politisch zu führen und gestaltend in ihm zu wirken. Innerhalb ihres Hoheitsbereiches ist der Gauleiter für die gesamte politische, kulturelle und wirtschaftliche Gestal‐

16 Hierzu Peter Longerich, Hitlers Stellvertreter. Führung der Partei und Kontrolle des Staatsapparates durch den Stab Heß und die Parteikanzlei Bormanns, 1992.

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tung aller Lebensäußerungen nach nationalsozialistischen Grundsätzen verantwortlich.“17 Mit dieser auf den ersten Blick rein politischen Aufgabe war die vielbe‐ schworene Menschenführung durch die Partei gemeint. Allein kraft ihres Parteiamtes hatten die Gauleiter keine staatlichen Hoheits- und Verwal‐ tungsaufgaben. Dies konnte gar nicht anders sein, da die Gaueinteilung – trotz einiger Anpassungsversuche – in vielen, wenngleich nicht in allen Fällen von den staatlichen Strukturen abwich: Die Gaue deckten sich nicht zwingend mit den Reichstagswahlkreisen (was ab 1933 weniger bedeu‐ tend war), den Wehrkreisen der Wehrmacht, den Reichsverteidigungsbe‐ zirken (die Deckung wurde erst im November 1942 hergestellt) sowie vor allem nicht mit den Ländern, preußischen Provinzen, Regierungsbezirken usw. Auch die Gliederungen der Partei hatten teilweise eine abweichende Einteilung. So orientierten sich etwa die SS-Oberabschnitte an den Wehr‐ kreisen, nicht den Gauen. Auch SA, HJ, Deutsche Arbeitsfront, Reichs‐ nährstand oder der Reichsarbeitsdienst hatten jeweils ihre eigene Gebiets‐ einteilung. Daraus folgt: Für die Stellung eines Gauleiters waren die staat‐ lichen Einteilungen von nur geringer Bedeutung. Umso mehr kam es auf den Dynamismus und den Machtinstinkt dieser regionalen Führer an, die sich in vielen Fällen ihren Gau unter Überwindung erheblicher Widerstän‐ de selbst hatten aufbauen müssen.18 Gauleiter und Region Dies führt zur Frage, ob die Gauleiter – aus Eigeninteresse, Heimatver‐ bundenheit oder aus sonstigen Motiven – Regionalisierungstendenzen för‐ derten oder nicht. Die Frage zu bejahen, liegt nahe, da im deutschsprachi‐ gen Raum seit 1945 nur wenigen Lokal- und Regionalpolitikern eine Kar‐ riere außerhalb ihrer engeren Heimat gelang. Von den 70 ab 1933 amtie‐ renden Gauleitern war etwas mehr als die Hälfte nicht in jenem Gau gebo‐ ren, dessen Leitung ihnen übertragen war; dieser Anteil erhöhte sich, je später die Ernennungen ausgesprochen wurden. Hierfür einige Beispiele: Der Lothringer Adolf Wagner wurde im „Traditionsgau München-Ober‐

17 Organisationsbuch der NSDAP, 51938, S. 136. 18 Vgl. z.B. Kyra T. Inachin, „Märtyrer mit einem kleinen Häuflein Getreuer“. Der erste Gauleiter der NSDAP in Pommern Karl Theodor Vahlen, in: Vierteljahrshef‐ te für Zeitgeschichte (2001), S. 31-51.

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bayern“ zu einer Zentralfigur der bayerischen NS-Geschichte;19 Goebbels (Berlin) stammte ebenso aus dem Rheinland wie Erich Koch (Ostpreußen) und Karl Kaufmann (Hamburg), der zum vollwertigen Hanseaten mutier‐ te.20 Fritz Sauckel (Thüringen) kam aus Unterfranken, Martin Mutsch‐ mann (Sachsen) aus Thüringen, Hartmann Lauterbacher (SüdhannoverBraunschweig) gar aus Tirol. Zwei österreichische Reichsgaue wurden von Altreichsdeutschen geführt (Baldur von Schirach in Wien, Gustav Adolf Scheel in Salzburg). Der Gauleiter der Steiermark, Siegfried Uiber‐ reither, war in Salzburg geboren, sein Kärntner Kollege Friedrich Rainer leitete bis Ende 1941 den Reichsgau Salzburg. Transfers von einem Ende des Reiches zum anderen sind ebenso anzutreffen wie der Wechsel aus dem erzkatholischen Tirol ins protestantische Südhannover-Braunschweig. Vor allem die Beispiele Goebbels, Koch, Kaufmann, Mutschmann und Wagner, die zu den mächtigsten Gauleitern zählten, zeigen auf, dass ein Zusammenhang zwischen Machtfülle und genuiner regionaler Verwurze‐ lung keineswegs zwingend war. Bezüglich der Regionalisierungstendenzen ist zu fragen, ob durch die Gaue etwa eine neue, abseits der überkommenen Länder-, Regierungsbe‐ zirks-, Kreis- und Provinzgrenzen liegende Regionalstruktur entstand bzw. angestrebt wurde. Festzumachen wäre eine solche Entwicklung am ehes‐ ten an Konflikten mit bestehenden Landestraditionen, wofür sich Bayern mit seinen sechs Parteigauen (Franken, Mainfranken, Pfalz, Schwaben, München-Oberbayern, Bayerische Ostmark bzw. Bayreuth) als Beispiel eignet.21 An diesem und weiteren Exempeln zeigt sich, dass die Gaue dem regionalen und stammesmäßigen Aufbau des Reiches besser entsprachen als die Länder, deren Entstehung und Ausdehnung häufig auf historischdynastische, von Zufällen wie eingetretene Erbfolgen oder Erbteilungen

19 Eine Biografie zu ihm fehlt, vgl. Martin Broszat, Der Despot von München. Gau‐ leiter Adolf Wagner, eine Zentralfigur der bayerischen NS-Geschichte, in: Süd‐ deutsche Zeitung, 30./31.3.1985. 20 Vgl. Ralf Meindl, Ostpreußens Gauleiter. Erich Koch – eine politische Biographie, 2007; Frank Bajohr, Gauleiter in Hamburg. Zur Person und Tätigkeit Karl Kauf‐ manns, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (1995), S. 267-295. 21 Vgl. hierzu Walter Ziegler, Hitler und Bayern. Beobachtungen zu ihrem Verhält‐ nis, 2004; Walter Ziegler, Die nationalsozialistischen Gauleiter in Bayern, in: Zeit‐ schrift für bayerische Landesgeschichte (1995), S. 427-460. Ein ausgezeichneter Überblick bei Walter Ziegler, Bayern im NS-Staat 1933 bis 1945, in: Max Spind‐ ler/Alois Schmid (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte. Band 4: Das neue Bayern. Teilband 1: Staat und Politik, 22003, S. 499-634.

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etc. abhängige Ursachen zurückgingen. In Preußen, dem größten Land des Reiches, deckten sich die Parteigaue teilweise mit den geschichtlich ge‐ wachsenen Provinzen (Ostpreußen, Pommern, Kurmark, Schlesien) oder sie zerlegten große und heterogene (Rheinprovinz, Hannover) in kleinere Einheiten (Gaue Koblenz-Trier und Köln-Aachen). Blickt man auf Öster‐ reich, so erkennt man, dass nach dessen „Anschluss“ im März 1938 die neun Bundesländer, deren historische Wurzeln mit Ausnahme des Burgen‐ landes bis ins Mittelalter zurückreichen und die folglich eine ausgeprägte regionale Identität hatten, problemlos in Reichsgaue transformiert werden konnten. Die beiden Ausnahmen betrafen das erst nach dem Ersten Welt‐ krieg zu Österreich gekommene Burgenland, das auf die benachbarten Gaue Steiermark und Niederdonau aufgeteilt wurde, sowie das einfach zu kleine Vorarlberg (selbstständig erst seit 1919), das wieder an Tirol fiel. In Summe kann festgehalten werden, dass die Parteigaue meist eine viel en‐ gere Verknüpfung mit der Lebenswelt der dort wohnenden Menschen auf‐ wiesen als die abweichenden staatlichen Strukturen. Unabhängig von ihrer eigenen Herkunft bildete sich mancherorts der Typ eines Landespatriarchen heraus, für den Julius Streicher in Franken und Martin Mutschmann in Sachsen prototypisch stehen. Freilich gab es daneben auch eher blasse und folglich weitgehend vergessene Figuren wie Joachim Eggeling (Halle-Merseburg) und Otto Hellmuth (Mainfranken). Solche farblosen Männer waren die Ausnahme; nur wenige Gauleiter wa‐ ren innerhalb ihres Gaus umstritten und Gegenstand von Ablösegerüchten, die im Fall von Karl Weinrich (Kurhessen) Ende 1943 Realität wurden, während sich der ehemalige Reichsjugendführer Baldur von Schirach in Wien trotz vieler Anfeindungen bis Kriegsende halten konnte. Nahezu alle Gauleiter rekrutierten effiziente und loyale Gaucliquen, in deren Mittelpunkt der im Stellenplan der NSDAP etatisierte, hauptamtli‐ che stellvertretende Gauleiter stand. Letzterem war in Hitlers Worten jeder „Anreiz, zu intrigieren, von vornherein genommen, da […] kein GauleiterStellvertreter hoffen dürfe, beim Ableben des Gauleiters oder bei seiner Entfernung aus anderen Gründen seine Nachfolge antreten zu können. Das Abschießen von rückwärts kennen wir Nationalsozialisten daher nicht. Der Gauleiter-Stellvertreter, der sich bewähre, habe die Chance, in einem anderen Gau Gauleiter zu werden. Vorausgesetzt werde allerdings, daß

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über seine Tätigkeit nicht ein anderer Gauleiter gestürzt worden sei.“22 Da die Gaucliquen, die nur in extrem seltenen Fällen eine Fronde gegen den Gauleiter bildeten oder mit diesem in Konflikte gerieten, aus regional ver‐ wurzelten, dem Gauleiter eng verbundenen Männern bestanden, die wuss‐ ten, wem sie ihre Positionen zu verdanken hatten, förderte dieser Perso‐ nenkreis die Regionalisierungstendenzen, da seine eigene Macht von jener des Gauleiters abhing. Mit einer gewissen Folgerichtigkeit waren machtbewusste Gauleiter ge‐ radezu gezwungen, die Regionalisierung voranzutreiben, auch wenn sich dies gegen eine starke Reichszentralgewalt richtete.23 Was hiermit gemeint ist, veranschaulichen einige Extremfälle der fast überall virulenten, aber unterschiedlich ausgeprägten Tendenz zum Landesfürst: Joseph Bürckel in der Saarpfalz (ab 1940 Gau Westmark) strebte danach, die Pfalz von Bayern abzutrennen, was erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte, und Adolf Wagner wollte seinen „Traditionsgau“ München-Oberbayern auf ganz Bayern ausdehnen. Es ist eine Ironie, dass Bürckel und Wagner 1944 eines natürlichen Todes starben, ohne ihre Ziele erreicht zu haben. Gauleiter und die Regionalstrukturpolitik: Herrschaftsmanifestationen Viele Indizien deuten auf eine starke Identifizierung der Gauleiter mit ihrem Gau hin, wie ein Blick auf so divergierende Aspekte wie den Ge‐ brauch überkommener Traditionen und Symbole, aber auch die Regional‐ strukturpolitik erweist.24 Für die auf regionale Spezifika und Identitäten gestützte Kulturpolitik der Gaue ist nachgewiesen worden, dass praktisch

22 Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Entstehung, Struk‐ tur, Folgen des Nationalsozialismus, 1997, S. 551. Tischgespräch vom 24.6.1942. 23 Vgl. hierzu Michael Ruck, Zentralismus und Regionalgewalten im Herrschaftsge‐ füge des NS-Staates, in: Möller/Wirsching/Ziegler (Hg.), Nationalsozialismus, S. 99-122 (Fn. 2). 24 Symptomatisch ist etwa die Einladung zum „Ersten steirischen Gautag der NSDAP im Großdeutschen Reich“ vom Juni 1939, die das historische Wappentier, der steirische Panther, ziert (ohne Hakenkreuz). Bundesarchiv Berlin (BArch), NS 10/73, Blatt 171. Eine Einladung zur Eröffnung der Ausstellung „Der Freiheits‐ kampf der Steiermark“, ebenfalls im Rahmen des Gautages, im Steiermärkischen Landesarchiv Graz (StLA), Zeitgeschichtliche Sammlung (ZGS), Karton 190. Hier krönt das Hoheitszeichen der NSDAP (Adler und Hakenkreuz) einen steirischen Panther.

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alle Gauleiter – unabhängig von ihrer Herkunft – bei der Vereinnahmung von Traditionen und Brauchtum überaus engagiert waren, was sich keines‐ wegs allein mit politischer Opportunität erklären lässt – vielen, selbst den Zuzüglern, waren diese Traditionen offenbar ein echtes Anliegen. Natio‐ nale Einheit und partikulare Vielfalt waren alles andere als ein Gegen‐ satz.25 So gefiel sich der 1940 zum Gauleiter des Reichsgaus Wien ernannte Baldur von Schirach, der – in Berlin geboren – seine Jugend in Weimar verbracht hatte, als Mäzen des auf eine ruhmreiche Vergangenheit zurück‐ blickenden Wiener Kulturlebens und ließ keine Gelegenheit aus, die dritt‐ größte Metropole des Reiches zur Kulturhauptstadt aufzuwerten, wovon er sich auch von ihm aus Berlin auferlegten, kriegsnotwendigen Einschrän‐ kungen nicht abhalten ließ. Andere Gauleiter verfolgten parallele, wenn‐ gleich weniger ambitionierte Ziele, sieht man von Fritz Sauckel in Thürin‐ gen ab, dessen Instrumentalisierung des klassischen kulturellen Erbes sei‐ ner Gauhauptstadt Weimar keine Grenzen kannte.26 Die übrigen Gauleiter operierten in einem bescheideneren, gleichwohl wirkungsvollen Rahmen, indem sie beispielsweise lokales Brauchtum – das sich trefflich als typisch deutsch und/oder germanisch deklarieren ließ – (wieder)belebten und den großen Söhnen und Töchtern ihres Gaues die ihnen angeblich oder wirk‐ lich gebührenden Ehrungen erwiesen, woran es in der Vergangenheit, so die Behauptung, gemangelt habe. Auf diese Weise ließen sich nicht zuletzt die regionale Identität in den peripheren Gebieten des Reiches, abseits der Metropolen, sowie das Selbstbewusstsein der dort lebenden Menschen fes‐ tigen. Ein weiteres bedeutsames Kapitel der Herrschaftsausübung und Herr‐ schaftsrepräsentation der Gauleiter stellen – nach dem Vorbild ihres Meis‐ ters Hitler – ihre architektonischen Projekte dar, die in einigen Fällen (Weimar u.a.) bis heute Spuren im Stadtbild hinterlassen haben. Die prak‐

25 Vgl. Volker Dahm, Nationale Einheit und partikulare Vielfalt. Zur Frage der kul‐ turpolitischen Gleichschaltung im Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitge‐ schichte (1995), S. 221-265; Volker Dahm, Kulturpolitischer Zentralismus und landschaftlich-lokale Kulturpflege im Dritten Reich, in: Möller/Wirsching/Ziegler (Hg.), Nationalsozialismus, S. 123-138 (Fn. 2); Michael Ruck/Karl Heinrich Pohl (Hg.), Regionen im Nationalsozialismus, 2003; Martina Steber, Fragiles Gleichge‐ wicht. Die Kulturarbeit der Gaue zwischen Regionalismus und Zentralismus, in: John/Möller/Schaarschmidt (Hg.), NS-Gaue, S. 141-158 (Fn. 3). 26 Vgl. Lothar Ehrlich/Jürgen John/Justus H. Ulbricht (Hg.), Das Dritte Weimar. Klassik und Kultur im Nationalsozialismus, 1999.

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tisch im gesamten Reichsgebiet ins Werk gesetzten Bauvorhaben waren nicht nur einem zukunftsorientierten, den nationalen Aufbruch ab 1933 symbolisierenden Neubeginn verpflichtet, der die Stagnation der Weima‐ rer Zeit endgültig überwinden sollte. Es ging hier wie auf vielen anderen Gebieten um einen amikalen, die stammesmäßigen Spezifika im Geist der Volksgemeinschaft herausstreichenden Wettbewerb zwischen den Gauen, weshalb die Gauleiter ein aus unterschiedlichen Komponenten (Theater, Opernhäuser, Museen, höhere Bildungsstätten, Sportanlagen, Parteigebäu‐ de, Wohnungen bzw. Einfamilienhäuser) zusammengesetztes Baupro‐ gramm vorantrieben, für dessen Realisierung es neben der Bereitstellung eigener Finanzmittel darauf ankam, möglichst viele zusätzliche Gelder aus dem Reichshaushalt zu lukrieren. Kein Wunder, dass sich Hitler bis weit in den Krieg hinein mit Anträgen seiner Paladine konfrontiert sah (denen er meist nachgab), immer neue Kommunen bzw. Gaumetropolen zu „Füh‐ rerstädten“ zu erklären, was zwar den Um- bzw. Neubauvorhaben nicht selten eine gigantomanische Note verlieh, vor allem jedoch als probates Mittel diente, die eigenen beschränkten Ressourcen durch die als nahezu unbegrenzt geltenden Reichsmittel aufzustocken.27 Wenngleich vielerorts auf Pläne aus der Zeit vor 1933 zurückgegriffen wurde, so ist doch bemer‐ kenswert, wie umstandslos die Gauleiter in die regionalen Traditionen ein‐ traten. Von selbst versteht sich, dass die Gauleiter und ihre Gaupropagandaäm‐ ter als Instanzen eines Regimes, das den Stellenwert moderner Massen‐ kommunikation erkannt und daraus die Konsequenzen gezogen hatte, kei‐ ne Gelegenheit ausließen, ihre vermeintlichen oder wirklichen Leistungen für die ihnen anvertrauten Menschen medial zu vermitteln. Die diesem Zweck dienenden, unzähligen Publikationen unterschiedlichen Formats – vom dickleibigen Sammelband über die bebilderte Broschüre bis zum Zei‐ tungsartikel – rekapitulierten nicht bloß die Geschichte des Aufstiegs der NSDAP im jeweiligen Gau und – sofern passend – den überragenden An‐

27 Noakes, Viceroys, S. 137 f. (Fn. 2). Vgl. beispielhaft Jochen Thies, Nationalsozia‐ listische Städteplanung: Die Führerstädte, in: Die alte Stadt, 1978, S. 23-38; Win‐ fried Nerdinger (Hg.), Bauen im Nationalsozialismus: Bayern 1933 – 1945, 1993; Michael Bose (Hg.), „Ein neues Hamburg entsteht“. Planen und Bauen von 1933 – 1945, 1986; Karl Albrecht Kubinzky, Die Grazer Stadtplanung während der Herr‐ schaft des Nationalsozialismus, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz (1988), S. 335-352; Karl Albrecht Kubinzky, Die Stadtplanung für die Gauhauptstadt Graz, in: Stefan Karner (Hg.), Graz in der NS-Zeit, 1998, S. 245-256.

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teil des Gauleiters daran. Vielmehr handelte es sich um umfassende, häu‐ fig wissenschaftlich untermauerte und von sachkundigen Verfassern diver‐ ser Disziplinen zu Papier gebrachte Bestandsaufnahmen der Gaue und ihrer Bewohner unter Einbeziehung geographischer, historisch-kultureller, wirtschaftlicher und anderer Dimensionen. Überflüssig zu erwähnen, dass dieses in hohen Auflagen gedruckte Schrifttum den Zustand der Gaue so‐ wie deren rosige Zukunftsaussichten in den leuchtendsten Farben malte und dabei auch die Herausstellung der Verdienste der Gauleiter nicht ver‐ gaß.28 Freilich gab es auch die negativen Maßnahmen, mithin alles, was mit der Gegnerbekämpfung und den Unterdrückungsmechanismen des Re‐ gimes zusammenhing. Ob diese regionsspezifisch waren, ist bislang kaum systematisch erforscht; die Befunde stützen eher die These, wonach so‐ wohl die Definition der Feindgruppen als auch die gegen sie gerichteten Verfolgungswellen überwiegend auf Initiativen der Reichszentrale zurück‐ gingen. Allerdings gab es markante Ausnahmen, etwa den Kirchenkampf, den einzelne Gauleiter zur Chefsache erklärten und mit Verbissenheit führ‐ ten, während andere – aus welchen Motiven immer – das heiße Eisen nicht anfassten. Hinsichtlich der Judenverfolgung wissen wir, dass sich manche Gauleiter, allen voran Goebbels, ständig bei Hitler für die „Freimachung“ ihres Gaus in die Bresche warfen. Ob die Deportationen auf solche Wün‐ sche eingingen oder ihrer eigenen Logik folgten, steht auf einem anderen Blatt. Die für die Maßnahmen in erster Linie verantwortlichen SS- und Polizeidienststellen waren jedenfalls so ausschließlich auf Heinrich Himmler, den Reichsführer-SS, ausgerichtet, dass unmittelbare Eingriffe der Gauleiter, über Verbalradikalismus und Antreiberei hinaus, kaum in Frage kamen.29

28 Nur als Beispiel für dieses halbe Bibliotheken füllende, heute zu Unrecht verges‐ sene Schrifttum sei eine Publikation des Reichspressechefs genannt. Otto Dietrich, Das Buch der deutschen Gaue. Fünf Jahre nationalsozialistische Aufbauleistung, 1938. Ferner Paul Meier-Benneckenstein (Hg.), Die deutschen Gaue in Einzeldar‐ stellungen (diverse Bände), 1935ff. Fallweise griffen Gauleiter selbst zur Feder, so Rudolf Jordan, Zwischen Harz und Lausitz, 1935 oder Fritz Wächtler (Hg.), Baye‐ rische Ostmark. Vier Jahre nationalsozialistische Aufbauarbeit in einem deutschen Grenzgau, 1937. 29 Die beste Bilanz bei Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdar‐ stellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, 1998, S. 427ff.

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Gauleiter im Konflikt mit der Zentrale Im Folgenden soll gefragt werden, wie sich die Gauleiter verhielten, wenn aus ihrer starken Verbundenheit mit ihrem Gau Konflikte mit der NS-Ideo‐ logie und/oder mit Befehlen der Zentrale resultierten, wenn also Gau- und Reichsinteressen kollidierten. Die auf der Tagesordnung stehenden Fälle von Gau-Lobbyismus nahmen mitunter skurrile Züge an, so wenn Robert Wagner in Baden forderte, dass staatliche und Parteidienststellen seines Gaus Geld nur mehr auf badischen Banken anlegen dürften. Besonders deutlich wurden solche Konflikte rund um die in der zweiten Kriegshälfte von Rüstungsminister Albert Speer angeordneten Auskämmaktionen und Betriebsstilllegungen, von denen nicht wenige am Widerstand der Gaulei‐ ter scheiterten oder durch ihn erheblich abgeschwächt wurden. Es ist kein Zufall, dass sich Speer am lautesten über das lediglich an Partikularinter‐ essen orientierte Verhalten der Gauleiter beklagte, denen er vorwarf, die Wirtschaft ihres Gaus durch das irrationale Horten von Arbeitskräften, Rohstoffen und Nahrungsmitteln zu Lasten der ökonomischen Gesamt‐ kriegsführung, die dadurch sabotiert würde, beschützen zu wollen. Im Ok‐ tober 1943 soll es auf der Posener Tagung der Reichs- und Gauleiter gar zu tumultartiger Empörung gegen Speer gekommen sein, nachdem dieser renitenten Gauleitern schärfste Maßnahmen angedroht hatte.30 Von der Kriegswirtschaft abgesehen, stemmten sich manche Gauleiter auch gegen die durch die Reichsbehörden organisierte Verteilung Bombengeschädig‐ ter und Flüchtlinge, weshalb sie ihre Hoheitsbereiche zu Gunsten der eige‐ nen Bewohner abzuriegeln trachteten. Die Gauleiter waren vielfach zu Vertretern lokaler Interessen gegen die Zentrale geworden und hatten ein „Bewußtsein einer gauterritorialen Quasisouveränität“ entwickelt.31 Versuch einer Gauleitertypologie Anhand der bisher entwickelten Kriterien lassen sich die Gauleiter in un‐ terschiedliche Gruppen einteilen. Gauleiter konnten bei ihrer Ernennung noch sehr jung, aber auch gesetzte Herren sein. Als nach dem „Anschluss“

30 Noakes, Viceroys, S. 144 (Fn. 2); Ziegler, Gaue, S. 151 (Fn. 2). 31 Karl Teppe, Die Oberpräsidenten der Provinz Westfalen 1919 – 1945, in: Mentali‐ täten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. Festschrift für Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag, 1982, S. 260-274, hier S. 271.

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Österreichs 1938 die dortigen Gauleiter ernannt wurden, befanden sich darunter zwei 1907 bzw. 1908 Geborene (August Eigruber, Oberdonau, und Siegfried Uiberreither, Steiermark) sowie der 20 Jahre ältere Hugo Ju‐ ry (Jahrgang 1887, Niederdonau). 1933 lag das Durchschnittsalter der zu diesem Zeitpunkt amtierenden Gauleiter bei 40 Jahren; es stieg in den fol‐ genden Jahren trotz einiger Neuernennungen kontinuierlich an. Lauterba‐ chers Unterscheidung in vier aufeinander folgende Generationen bzw. Ty‐ pen hat viel für sich:32 1.) Kämpfer der Frühzeit mit fester Verwurzelung in ihrem Gebiet (Mutschmann in Sachsen, Grohé in Köln-Aachen oder Friedrich Hil‐ debrandt in Mecklenburg). 2.) Ersatz für Ausfälle oder neue Kräfte bis einschließlich 1932, die land‐ fremd waren (Goebbels, Kaufmann, Koch). 3.) die im Zuge der Expansion 1938/39 in Österreich, dem Sudetengau sowie in den annektierten polnischen Gebieten ernannten Gauleiter, die mit wenigen Ausnahmen in ihrer zuvor ausgeübten, in Österreich illegalen Funktion bestätigt wurden. 4.) jüngere, während des Krieges berufene Männer, die nur teilweise aus dem eigentlichen Parteiapparat stammten. Lauterbacher selbst beklei‐ dete einen hohen Posten in der Reichsjugendführung, Karl Hanke (Niederschlesien ab 1941) war Staatssekretär im Propagandaministeri‐ um gewesen und Gustav Adolf Scheel (Salzburg ab Ende 1941) hatte als Reichsstudentenführer und Höherer SS- und Polizeiführer im Wehrkreis XVIII amtiert. Diese Klassifizierung zeigt die laufende Ver‐ schiebung von ebenso selbstständigen wie selbstbewussten Persön‐ lichkeiten der Frühzeit zu Funktionären des Parteiapparats im weiteren Sinn; Bormann war obendrein bestrebt, Kandidaten für ein Gauleiter‐ amt durch mehrmonatige Abordnung zu seiner Partei-Kanzlei zu schu‐ len bzw. an sich zu binden.33 In Summe gab es also ab 1933 die Riege der bereits in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ins Amt gekommenen Gauleiter neben den Neulingen, von denen einige erst in den letzten beiden Kriegsjahren ernannt wurden. Ein Teil der Gauleiter stammte aus ihrem Gau, ein anderer war dorthin versetzt worden, ohne dass daraus Schlussfolgerungen auf die jeweiligen 32 Das Folgende nach Hartmann Lauterbacher, Erlebt und mitgestaltet. Kronzeuge einer Epoche 1923 – 1945. Zu neuen Ufern nach Kriegsende, 1984, S. 170ff. 33 Ziegler, Gaue, S. 146 (Fn. 2); Hüttenberger, Gauleiter, S. 205ff. (Fn. 1).

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Machtpositionen abgeleitet werden können. Hinsichtlich des Sozialprofils bzw. der Bildung lassen sich aufgrund zu heterogener Befunde keine ein‐ deutigen Aussagen treffen; der Bogen spannte sich jedenfalls von Perso‐ nen mit Pflichtschulabschluss bis zu Akademikern, darunter etliche Ärzte und Lehrer. Als Regel gilt, dass es sich bei der großen Mehrheit dieser Männer keineswegs um im Zivilleben gescheiterte Existenzen handelte, sondern dass sie eher zum oberen Rand einer aufstiegsorientierten Schicht zählten, die in nicht wenigen Fällen eine gesicherte und auskömmliche be‐ rufliche Position zu Gunsten eines anfangs meist unsicheren, schlecht oder gar nicht besoldeten Parteiamts aufgaben.34 Lohnender ist es, die Gauleiter hinsichtlich ihrer Ämter in zwei Grup‐ pen einzuteilen, zwischen denen es allerdings Misch- und Übergangsfor‐ men gab. Die erste Gruppe bildeten Männer von lediglich lokaler Veranke‐ rung und Bedeutung, die in der Regel kein Staatsamt bekleideten. Zur zweiten Gruppe zählen jene Gauleiter, die weit über ihren Gau hinaus Be‐ deutung erlangten, wofür Reichspropagandaminister Goebbels das beste Beispiel abgibt. Dies hing natürlich eng mit der ab 1933 bemerkbaren Tendenz zur Übernahme staatlicher Ämter zusammen, die sich grob in fol‐ gende Gruppen gliedern lassen: Gauleiter als Reichs- oder Landesminister (Reich: Goebbels, Rust; Bayern: Paul Giesler, Adolf Wagner und Hans Schemm);35 als preußische Oberpräsidenten (1938: 7)36, Reichsstatthalter (Ende 1938: 18), als Chefs der Landesregierungen von (1938) Hamburg, Hessen, Lippe und Sachsen37 oder – am wenigsten bedeutsam – als Regie‐ rungspräsidenten. Nach 1939 traten weitere Gauleiter in kriegsbedingt neugeschaffene Positionen (Reichskommissar u.a.) ein, für die unten Bei‐ spiele präsentiert werden. Eine Kategorie sui generis stellt der Gauleiter von Westfalen-Nord, Alfred Meyer, dar, der nicht nur bereits 1933 Reichs‐ statthalter in Lippe und Schaumburg-Lippe sowie 1938 Oberpräsident der preußischen Provinz Westfalen wurde, sondern 1941 als ständiger Vertre‐

34 Vgl. Ronald Rogowski, The Gauleiter and the social origins of Fascism, in: Com‐ parative Studies in Society and History (1977), S. 399-430; Michael H. Kater, The Nazi Party. A social profile of its members and leaders 1939 – 1945, 1983. 35 Winfried Müller, Gauleiter als Minister. Die Gauleiter Hans Schemm, Adolf Wag‐ ner, Paul Giesler und das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus 1933 – 1945, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte (1997), S. 973-1021. 36 Karl Teppe, Die preußischen Oberpräsidenten 1933 – 1945, in: Klaus Schwabe (Hg.), Die preußischen Oberpräsidenten 1815 – 1945, 1985, S. 219-248. 37 Paul Giesler amtierte 1942 – 1945 als geschäftsführender Ministerpräsident Bay‐ erns.

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ter des Ministers zum Staatssekretär im neu gebildeten Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete avancierte. Meyer war der einzige Gauleiter, der an der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 teilnahm.38 Die oben hinsichtlich der den Gauleitern übertragenen Staatsämter ge‐ bildeten Kategorien sollen durch einige markante Beispiele veranschau‐ licht werden, welche die Ämterkombinationen und -kumulationen erken‐ nen lassen. 1) Gauleiter als Reichsminister: • Joseph Goebbels, Gauleiter von Berlin, Reichsminister für Volks‐ aufklärung und Propaganda ab März 1933, Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz ab Juli 1944. • Bernhard Rust, Gauleiter von Südhannover-Braunschweig (bis 1940), Preußischer und Reichsminister für Wissenschaft, Er‐ ziehung und Volksbildung (ab 1933 bzw. 1934). 2) Gauleiter als Minister einzelner Länder: • Hans Schemm (verstorben 1935), Gauleiter Bayerische Ostmark, bayerischer Kultusminister, Leiter des NS-Lehrerbundes. • Adolf Wagner (Schlaganfall 1942, verstorben im April 1944), Gau‐ leiter von München-Oberbayern, bayerischer Innenminister, Kul‐ tusminister (ab 1936) und stellvertretender Ministerpräsident. 3) Gauleiter als Reichskommissare bzw. Leiter sonstiger Oberster Reichs‐ behörden: • Josef Terboven, Gauleiter von Essen, Oberpräsident der preußi‐ schen Rheinprovinz, ab Ende April 1940 Reichskommissar für die besetzten norwegischen Gebiete. • Karl Kaufmann, Gauleiter und Reichsstatthalter von Hamburg, Reichskommissar für die Seeschifffahrt. • Josef Wagner, Gauleiter von Westfalen-Süd (bis Ende 1941) und von Schlesien (bis 1940), Oberpräsident der Provinz Schlesien, Reichskommissar für die Preisbildung 1936 bis Ende 1941. • Fritz Sauckel, Gauleiter und Reichsstatthalter von Thüringen, Ge‐ neralbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz ab März 1942. • Josef Bürckel (verstorben 1944), Gauleiter der Saarpfalz bzw. der Westmark, Reichskommissar für die Rückgliederung des Saarge‐

38 Heinz-Jürgen Priamus, Meyer. Zwischen Kaisertreue und NS-Täterschaft: Biogra‐ phische Konturen eines deutschen Bürgers, 2011.

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bietes (1935) und für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich (1938). • Erich Koch, Gauleiter und Oberpräsident von Ostpreußen, Reichs‐ kommissar für die Ukraine ab Sommer 1941. • Hinrich Lohse, Gauleiter und Oberpräsident von Schleswig-Hol‐ stein, Reichskommissar für das Ostland ab Mitte 1941. 4) Gauleiter als Reichsstatthalter im Altreich (außerhalb Preußens und Bayerns): • Baden: Robert Wagner • Hamburg: Karl Kaufmann • Hessen: Jakob Sprenger • Sachsen: Martin Mutschmann • Thüringen: Fritz Sauckel • Württemberg: Wilhelm Murr u.a. In den Reichsgauen ab 1938 war jeder Gauleiter zugleich Reichsstatthal‐ ter. 5) Gauleiter als Oberpräsidenten preußischer Provinzen: • Rheinprovinz: Josef Terboven, Essen (Provinz umfasste mehrere Gaue) • Berlin-Brandenburg: Wilhelm Kube (bis Mitte 1936), Kurmark (Provinz umfasste mehrere Gaue) • Ostpreußen: Erich Koch (Gau = Provinz) • Schleswig-Holstein: Hinrich Lohse (Gau = Provinz) • Schlesien: Josef Wagner (bis 1940) (Gau = Provinz, 1940 Teilung von Provinz und Gau in Nieder- und Oberschlesien), u.a. 6) Gauleiter als Chefs der Zivilverwaltung in angrenzenden, ausländi‐ schen Gebieten: • 1939 kurzzeitig die Gauleiter von Schlesien und Ostpreußen (Josef Wagner, Koch) für angrenzende okkupierte polnische Gebiete bis zu deren Eingliederung ins Reich. • 1940 Gauleiter von Baden (Robert Wagner), Koblenz-Trier (Gus‐ tav Simon) und Saarpfalz (Josef Bürckel) für das Elsass, Luxem‐ burg und Lothringen. • 1941 Gauleiter von Steiermark (Siegfried Uiberreither) und Kärn‐ ten (Franz Kutschera, ab November 1941 Friedrich Rainer) für ehemals jugoslawische Gebiete der Untersteiermark bzw. Ober‐ krains.

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1941 Gauleiter von Ostpreußen (Koch) für bis dahin sowjetischen Bezirk Bialystok. 7) Gauleiter als Oberste Kommissare in Operationszonen: • Ab September 1943: Franz Hofer (Tirol-Vorarlberg) Oberster Kommissar in der Operationszone Alpenvorland. • Friedrich Rainer (Kärnten, Chef der Zivilverwaltung Oberkrain) Oberster Kommissar in der Operationszone Adriatisches Küsten‐ land. Stärkung der Gauleitermacht durch die Reichsgesetzgebung Nach der Machtergreifung der NSDAP Ende Januar 1933 gerieten die Gauleiter bzw. ihre Machtstellungen zunächst in eine kurzfristige Krise: Da die Macht erobert war, standen sie weitgehend ohne Aufgaben da. Schon bald trat jedoch eine Änderung ein, da etlichen Gauleitern, wenn auch keineswegs allen, Staats- und Verwaltungsämter übertragen wurden. Besonderen Spielraum eröffneten die Gesetze zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich, durch die eine Reihe von Gauleitern zu Reichs‐ statthaltern in ihren Ländern avancierte, wobei freilich die beiden größten Länder ausgenommen waren: In Preußen übte Hitler dieses Amt selbst aus, für Bayern ernannte er den ehemaligen Reichswehroffizier Franz Rit‐ ter von Epp, der diese Funktion bis 1945 ausübte. In allen übrigen Län‐ dern erhielten jedoch Gauleiter das Amt des Reichsstatthalters, was inso‐ fern verwundert, als durch diese Regelung Regionalfürsten die Richtlinien der Reichspolitik durchsetzen sollten, wobei sie sich damit abfinden muss‐ ten, dass die Souveränität der Länder beseitigt wurde.39 Man kann freilich auch die Auffassung vertreten, dass die Gaue als regionale Untergliede‐ rungen im zentralistischen Reich jene Funktionen übernahmen, welche den Ländern seit der sogenannten Verreichlichung zwischen 1933 und 1935 entzogen worden waren. Nach dem Reichsstatthaltergesetz vom 30. Januar 193540 waren die Reichsstatthalter ständige Vertreter der Reichsregierung in ihrem Gebiet; sie sollten die Einhaltung der politischen Richtlinien Hitlers überwachen

39 Bedeutsam waren das 2. Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 7. April 1933, RGBl. I 1933, S. 173, sowie das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30. Januar 1934, RGBl. I 1934, S. 75. 40 RGBl. I 1935, S. 65.

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und konnten zu diesem Zweck von sämtlichen Reichs- und Landesbehör‐ den ihres Zuständigkeitsbereichs Berichte anfordern. Bei Gefahr im Ver‐ zug waren die Reichsstatthalter sogar zur Erlassung einstweiliger Anord‐ nungen ermächtigt. Unkompliziert waren diese Regelungen lediglich in den ab 1938 eingerichteten Reichsgauen, da hier die Funktion von Reichs‐ statthalter und Gauleiter in einer Person vereinigt war. Im Altreich jedoch wandten die zu Reichsstatthaltern ernannten Gauleiter ihre Kompetenzen regelmäßig gegen die übrigen Gauleiter ihres Landes an, was zu ständigen Konflikten führte. 1935 übten nur mehr neun Gauleiter kein staatliches Amt, auf welcher Ebene auch immer, aus.41 Die Deutsche Gemeindeordnung von 1935 stärkte die Stellung sämtlicher Gauleiter weiter, denn sie erhielten erhebli‐ chen Einfluss auf die Bestellung von Bürgermeistern und Gemeinderä‐ ten.42 Eine weitere Etappe folgte bei Kriegsbeginn, als in den damals 18 Wehrkreisen jeweils ein Gauleiter zum Reichsverteidigungskommissar (RVK) ernannt wurde, dem die Gauleiter der übrigen im selben Wehrkreis gelegenen Gaue in Fragen der Reichsverteidigung unterstellt waren. Viel‐ fach gehörte ein Gau zu zwei Wehrkreisen, der jeweilige Gauleiter unter‐ stand also zwei RVKs. Um die daraus resultierende Konfusion zu beseiti‐ gen, wurde Ende 1942 jeder Gau zum Reichsverteidigungsbezirk erhoben, sodass ab diesem Zeitpunkt sämtliche Gauleiter zugleich RVK für ihren Gau waren.43 Mit diesen Ernennungen, denen bis Kriegsende zusätzliche Machtaus‐ weitungen (teilweise Zuständigkeit für die Aufstellung des Volkssturms ab Oktober 1944 u.a.) folgten, erhielten die Gauleiter spätestens ab 1944 in ihren Gauen die Kontrolle über die zivile Reichsverteidigung (insbesonde‐ re den Luftschutz), den Einsatz von deutschen und ausländischen Arbeits‐

41 Hüttenberger, Gauleiter, S. 80 (Fn. 1). Es handelte sich um Friedrich Karl Florian (Düsseldorf), Joseph Grohé (Köln-Aachen), Rudolf Jordan (Halle-Merseburg), Gustav Simon (Koblenz-Trier), Julius Streicher (Franken), Fritz Wächtler (Bay‐ reuth), Karl Weinrich (Kurhessen), Otto Telschow (Ost-Hannover) und Joseph Bürckel (Saarpfalz). 42 RGBl. I 1935, S. 49. Jeremy Noakes, Oberbürgermeister and Gauleiter. City Go‐ vernment between Party and State, in: Gerhard Hirschfeld/Lothar Kettenacker (Hg.), Der Führerstaat. Mythos und Realität, 1981, S. 194-227. 43 Hierzu Karl Teppe, Der Reichsverteidigungskommissar. Organisation und Praxis in Westfalen, in: Dieter Rebentisch/Karl Teppe (Hg.), Verwaltung contra Men‐ schenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System, 1986, S. 278-302.

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kräften, die Evakuierungsmaßnahmen aus luftgefährdeten Gebieten, die Befreiungen vom Wehrdienst sowie die Schließung nicht kriegswichtiger Betriebe. Eine weitere Ausdehnung erfuhr die Macht der Gauleiter nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944, dem fünf Tage später die Ernennung des Berliner Gauleiters Joseph Goebbels zum Reichsbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz folgte. Ein FührerErlass räumte den Gauleitern das Recht ein, in ihrem Gau von sämtlichen staatlichen Dienststellen bzw. privaten Unternehmen Informationen einzu‐ holen und ihnen Anweisungen zu erteilen. Spätestens jetzt hatten die Gau‐ leiter die Kontrolle über die in ihrem Gau gelegenen staatlichen Dienst‐ stellen erlangt.44 Das Verhalten der Gauleiter im Krieg: Zwischen Regimeloyalität, Einsicht und Scharfmacherei In der Festigung der Gauleitermacht spiegelte sich Hitlers Rekurs auf sei‐ ne alten Kämpfer und loyalsten Gefolgsmänner wider – je deutlicher sich die militärische Krise zuspitzte, desto mehr. Goebbels gegenüber hatte Hitler schon am 20. August 1942 sein bedingungsloses Vertrauen zu den Gauleitern artikuliert. Wenn er ihnen nicht mehr vertrauen könne, wem dann?45 Die Ausweitung der Machtstellung der Gauleiter hing, wie aus solchen Äußerungen deutlich wird, mit dem Niedergang des Regimes eng zusammen: Je prekärer die militärische Lage, desto gefestigter die Macht der Gauleiter, zu denen es aus Hitlers Sicht keine Alternative gab und von denen sich viele schon in der sogenannten Kampfzeit vor 1933 als stand‐ feste Haudegen und rücksichtslose Machertypen bewährt hatten, denen auch unter den katastrophischen Zuständen der zweiten Kriegshälfte die Mobilisierung der letzten Reserven zuzutrauen war. Mit dieser Erwartung kollidierte freilich die Sichtweise etlicher Gauleiter, die angesichts der auch ihnen unausweichlich erscheinenden Niederlage nicht nur ihr eigenes Schäfchen ins Trockene bringen, sondern ihren Gau vor dem Schlimmsten bewahren wollten, weshalb sich einige von ihnen in der Kriegsendphase zur maßlosen Enttäuschung Hitlers weniger als Proponenten des Reiches

44 Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfas‐ sungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939 – 1945, 1989, S. 519. 45 Elke Fröhlich (Hg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels 1926 – 1945. Teil II: Diktate 1941 – 1945. Band 5 (Juli – September 1942), 1995, S. 537.

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und seiner bis zur Erschöpfung fortgesetzten Kriegsanstrengungen gerier‐ ten, sondern als Vertreter der Interessen ihres Gaus, die auf eine möglichst glimpfliche Beendigung des Krieges unter Vermeidung weiterer Zerstö‐ rungen hinausliefen.46 Einige so denkende Gauleiter hissten denn auch 1945 die weiße Fahne bzw. verließen ihren Gau, ohne dessen weitere Ver‐ teidigung zu leiten.47 Es gab natürlich den konträren Typ: Scharfmacher, die ohne Rücksicht auf die Menschen in ihren Gauen Hitlers Durchhaltepolitik sogar noch steigerten. Nicht zufällig treffen wir in dieser Gruppe eher die jungen, im Nationalsozialismus sozialisierten Gauleiter wie den 1908 geborenen Siegfried Uiberreither (Steiermark), der als einer von ganz wenigen Gau‐ leitern in der Wehrmacht gedient und 1940 an der Invasion Norwegens teilgenommen hatte. Im Herbst 1944 konnte sich Uiberreither angesichts näher rückender Fronten beim Bau des Südostwalls bewähren.48 Anders als so mancher Gauleiter, der den Stellungsbau entlang der Reichsgrenzen lax betrieb, die Lage schönredete und sich bei Feindannäherung in Sicher‐ heit brachte, nahm Uiberreither seine Aufgabe überaus ernst. Nur vier Ta‐ ge nach Ausfertigung des Führerbefehls meldete er, der Großeinsatz könne beginnen – bevor noch die Erkundungs- und Baustäbe aus dem Altreich eingetroffen waren. Ungeduldig legte der Gauleiter Vorschläge für einen weiter von der steirischen Ostgrenze entfernten Verlauf der Stellung vor, die jedoch von der Wehrmacht abgelehnt wurden.49

46 Noakes, Viceroys, S. 143 f. (Fn. 2). 47 Vgl. Sven Keller, Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45, 2013. Ian Kershaw, Das Ende: Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45, 32011; Andreas Kunz, Wehrmacht und Niederlage. Die bewaffnete Macht in der Endphase der nationalsozialistischen Herrschaft 1944 bis 1945, 22007. Als Fallstudie Catherine Epstein, Model Nazi. Arthur Greiser and the occupation of Western Poland, 2010. Bei der Flucht aus seiner Gauhauptstadt Posen 1945 erwies sich Greiser gerade nicht als vorbildlicher Nationalsozialist. 48 Befehl des Führers über Ausbau im Südosten, 12.9.1944, in: Martin Moll (Hg.), „Führer-Erlasse“ 1939 – 1945. Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsge‐ setzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich er‐ teilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung, 2011, S. 452 f. Vgl. Leopold Banny, Schild im Osten. Der Südostwall zwischen Donau und Untersteiermark 1944/45, 1985. 49 Percy E. Schramm (Hg.), Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtführungsstab). Band IV: 1. Januar 1944 – 22. Mai 1945, 1982, S. 595 f.

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Liest man Uiberreithers Korrespondenz mit den Reichsinstanzen aus dem letzten Kriegsjahr, so stellt man verblüfft fest, dass er keinesfalls ver‐ suchte, die steirischen Ressourcen zu schonen und Ausnahmen von den kriegsbedingten Einschränkungs- und Schließungsmaßnahmen zu erlan‐ gen; ihm konnte es gar nicht radikal genug zugehen, sodass er ständig in Berlin mit Vorschlägen zur Totalisierung der Kriegführung, zur Auskäm‐ mung von Betrieben und Behörden in seinem Gau (nicht anderswo!) vor‐ stellig wurde.50 Der Gauleiter, der sich im Umgang mit ihm unsympathi‐ schen Reichsinstanzen nie Zurückhaltung auferlegt hatte,51 ging im Som‐ mer 1944 so weit, zu fordern, dass gegenüber den steirischen Filialen der Reichsstellen (genannt wurden die Justiz, das Verkehrs- und das Forstres‐ sort) „einmal kräftig auf den Tisch geschlagen werden müsste“.52 Selbst die Wehrmacht blieb von diesem Aktivismus nicht verschont.53 Zugege‐ ben, Uiberreithers Vorschläge zielten auch auf eine Ausweitung seiner ei‐ genen, erst Ende 1942 erlangten Kompetenzen als Reichsverteidigungs‐ kommissar ab, sie erschöpfen sich aber weder darin noch sind sie allein dadurch oder durch den Wunsch motiviert, das absehbare Ende seiner Herrschaft hinauszuschieben. Aus den steirischen Initiativen spricht ein‐ deutig das Bestreben, all das, was das Regime verbal verkündete, in die Tat umzusetzen, koste es, was es wolle.

50 Akten hierzu im StLA, ZGS (Fn. 24), Karton 15. Vgl. die Erwähnung auf der Stabsbesprechung vom 15.2.1943, wonach Uiberreither „weitgehende Vorschläge zur Vereinfachung des Personal- und Haushaltswesens an die maßgebenden Zen‐ tralstellen“ gerichtet hatte; sämtliche Amtsleiter hatten jeden entbehrlichen Mann der Wehrmacht zur Verfügung zu stellen. Stefan Karner (Hg.), Die Stabsbespre‐ chungen der NS-Zivilverwaltung in der Untersteiermark 1941 – 1944, 1996, S. 140. 51 Im Juni 1941 ließ Uiberreither die Partei-Kanzlei wissen, er lasse an ihn adressier‐ te Schreiben des Reichsministers für die kirchlichen Angelegenheiten (dessen Zu‐ ständigkeit sich nach einem Führerentscheid auf das Altreich beschränken solle, da die Ostmark nach dem Untergang Österreichs konkordatsfreier Raum sei) schlicht unbeantwortet. Uiberreither an Bormann, 13.6.1941. StLA, ZGS (Fn. 24), Karton 190. 52 Fernschreiben Uiberreither an Partei-Kanzlei der NSDAP, 14.8.1944. StLA, ZGS (Fn. 24), Karton 40. 53 Fernschreiben Uiberreither an Partei-Kanzlei der NSDAP, 15.8.1944. Ebenda. For‐ derung nach einem Auskunftsrecht des Reichsverteidigungskommissars gegenüber der Wehrmacht, ihren Betrieben und rückwärtigen Diensten innerhalb des Gaus.

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Instrumente der Gauleitermacht und ihr Verhältnis zum Diktator Die reale Macht der Gauleiter hing nicht allein von den ihnen übertrage‐ nen staatlichen Kompetenzen sowie ihrer Durchsetzungskraft ab. Mindes‐ tens ebenso wichtig für die Erlangung, Aufrechterhaltung und Ausweitung der politischen Führerstellung dieser Männer war die Frage, ob es ihnen gelang, „to maintain a dominant presence within the minds of their popu‐ lations through maximising their public exposure.“54 So wie ihr Vorbild Hitler zwischen 1933 und 1941 ständig in allen Winkeln seines expandie‐ renden Reiches auftauchte und sich der Bevölkerung präsentierte, waren die Gauleiter bestrebt, in ihrem Herrschaftsgebiet den Eindruck von Om‐ nipräsenz und damit Omnikompetenz zu erzeugen. Eine über das Jahr ver‐ teilte, dichte Abfolge von Parteiveranstaltungen, aber auch von Kulturund/oder Brauchtumsfesten bot hierfür die geeignete Bühne, wobei es bei Letzteren zugleich um die für wichtig erachtete Integration lokaler kultu‐ reller Eliten in das Regime ging. Permanent wurde der Eindruck erweckt, alle diese Veranstaltungen gingen letztlich auf die Initiative und die Tat‐ kraft des Gauleiters zurück. Derlei Projektionen von Allmacht machten vor den kleinen Dingen des Lebens nicht Halt – gerade bei ihnen ließ sich Volkstümlichkeit glaubhaft postulieren. Einige Gauleiter richteten im Rahmen des lokalen Parteiappa‐ rats Beratungs- und Beschwerdestellen ein, an die sich die Bevölkerung bei Konflikten mit der staatlichen Verwaltung oder bei sonstigen Proble‐ men wenden konnte, wovon sie reichlich Gebrauch machte. Dabei wurde suggeriert, der Gauleiter und sein Stab kümmerten sich persönlich um die an diese Vorläufer moderner Volksanwaltschaften herangetragenen Fälle, was teilweise sogar zutraf. Am weitesten ging der Parteiveteran Karl Wahl (Gauleiter von Schwaben seit Oktober 1928), der ausweislich seiner Me‐ moiren nicht weniger als zwei Tage pro Woche für Vieraugengespräche mit Bürgern reservierte; sein junger Kollege Hartmann Lauterbacher in Südhannover-Braunschweig (Gauleiter seit Dezember 1940) hielt regel‐ mäßig in mehreren Städten Sprechstunden ab, zu denen man ohne Voran‐ meldung kommen konnte. Derartige populistisch angehauchte Maßnah‐ men sollten nicht nur die Distanz der Gauleiter gegenüber unpopulären Entscheidungen der als verzopft geltenden Staatsbürokratie zum Ausdruck bringen, sondern zudem den Eindruck der omnipräsenten Machtstellung

54 Noakes, Viceroys, S. 136 (Fn. 2).

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der Gauleiter zementieren. Freilich setzten sich diese dadurch selbst unter Erfolgszwang, bestand doch die Gefahr, dass beschwerdeführende Bürger, deren Anliegen nicht erfüllt werden konnten, enttäuscht von dannen zogen und in ihrem Gauleiter eher einen Papiertiger als einen mächtigen Vertre‐ ter ihrer Interessen sahen.55 Bestand, was regelmäßig der Fall war, eine Personalunion zwischen Partei- und Staatsamt, trat dieses Problem selten auf. Die Gauleiter waren als staatliche Beauftragte zwar den Reichsbehör‐ den unterstellt, als Parteiführer aber selbstständig bzw. „führerunmittel‐ bar“, sodass sie als vom Staat de facto getrenntes Element für spezifisch politische, die staatliche Verwaltung durchbrechende Aufgaben zur Verfü‐ gung standen, was Hitler insbesondere seit Kriegsbeginn ausgesprochen gelegen kam. Ungeachtet ihrer staatlichen Funktionen hatten sämtliche Gauleiter An‐ teil an Hitlers charismatischer Stellung. Der Schlüssel ihrer Macht lag so‐ mit beim Diktator, wenngleich die erwähnten Absetzungen von Gauleitern auch belegen, dass dabei erfolgreiche Intrigen anderer Machtträger aus‐ schlaggebend waren. Die partikulare Souveränität der Gauleiter leitete sich nicht allein von ihrer führerunmittelbaren Stellung ab, sondern hatte damit zu tun, dass aufgrund der von Hitler favorisierten Herrschaftsmetho‐ de sowohl die Reichsregierung als auch die Reichsleitung der NSDAP massive strukturelle Schwächen aufwiesen, ja als Kollegialorgane spätes‐ tens ab 1938 gar nicht mehr amtierten. Martin Bormann, seit Mai 1941 Leiter der neu geschaffenen Partei-Kanzlei, bemühte sich unablässig, die‐ ses Vakuum zur Stärkung seiner Machtposition zu nutzen. Da er nicht von Hitlers Seite wich und mit diesem zwischen den Führerhauptquartieren Wolfsschanze, Werwolf und Obersalzberg pendelte, verfügte Bormann über keine direkte Einflussnahme auf die Gauleiter, während sein Vorgän‐ ger Rudolf Heß immerhin eine ansehnliche Reisetätigkeit unterhalten hatte und mit vielen Gauleitern zusammengetroffen war. Bormann setzte auf Wunsch Hitlers die seit 1933 regelmäßig abgehaltenen Tagungen der Reichs- und Gauleiter bis Februar 1945 fort. Dort wurden nicht nur Refe‐ rate gehalten, von den regelmäßigen Ansprachen Hitlers abgesehen. Es be‐

55 Karl Wahl, „Es ist das deutsche Herz“. Erlebnisse und Erkenntnisse eines ehemali‐ gen Gauleiters, 1954, S. 121; Lauterbacher, Erlebt, S. 181 (Fn. 32); Bajohr, Gau‐ leiter, S. 284 (Fn. 20).

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stand Gelegenheit zum Gedankenaustausch der Geladenen untereinander sowie mit den Regimespitzen und den Vortragenden.56 Bormann ließ es dabei nicht bewenden. Um die Gauleiter stärker an die Kandare seiner Partei-Kanzlei zu nehmen bzw. um regionale Sonderwege zu Gunsten einer einheitlichen Reichspolitik einzudämmen, überschüttete er das Führerkorps der NSDAP (Reichsleiter, Gauleiter, Verbändeführer) mit einer sich ständig steigernden Flut an Fernschreiben, unterteilt in die Kategorien Verfügungen, Anordnungen und Bekanntgaben.57 Allein 1944 ergossen sich 478 Verfügungen, 471 Bekanntgaben und 423 Anordnun‐ gen, also durchschnittlich nahezu vier pro Tag, über die Adressaten. Über die Wirkung dieser Papierflut lässt sich schwer urteilen; es war vermutlich kein Einzelfall, wenn Goebbels in seinem Tagebuch über Bormanns Tag für Tag hereinströmende Fernschreiben voll nutzloser Inhalte lamentierte, kein leitender Mann habe gegenwärtig Muße, sich damit auseinanderzu‐ setzen, ja die Papiere auch nur zu lesen.58 Verschiedentlich ist in Anlehnung an Carl Schmitts berühmte Abhand‐ lung über den „Zugang zum Machthaber“ argumentiert worden, Bormann habe seine Immediatstellung bei Hitler sowie dessen Entrücken in die ab‐ gelegenen Führerhauptquartiere genutzt, um die Kontakte des Diktators zu seinen Gauleitern auf ein Minimum einzuschränken, das Bormann oben‐ drein streng kontrollierte. Dem steht entgegen, dass die Gauleiter allein bei den erwähnten Tagungen bis einschließlich 1944 mehrmals jährlich mit Hitler zusammentrafen. Ob Bormanns Tagungsregie, die Hitler vor Kritik und offener Aussprache abzuschirmen suchte, in Gegenwart von rund 50 Reichs- und Gauleitern funktionierte, darf man bezweifeln. Den‐ noch verlor der mit der militärischen Operationsplanung beschäftigte Dik‐ tator seine Gauleiter aus den Augen, wenn es auch keinesfalls zutrifft, dass er sich für die Innenpolitik nicht mehr interessierte.59 Am 23. Juni 1942 hielt Goebbels nach einem Gespräch mit Hitler dessen Aussage fest, dieser kenne wohl die alten Gauleiter in- und auswendig, für die jüngeren und vor allem die Nachwuchskandidaten fehle ihm jedoch ein adäquater Über‐

56 Hierzu Martin Moll, Steuerungsinstrument im „Ämterchaos“? Die Tagungen der Reichs- und Gauleiter der NSDAP, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (2001), S. 215-273. 57 Überliefert im BArch NS 6/331-354 (Fn. 24). 58 Joseph Goebbels, Tagebücher 1945. Die letzten Aufzeichnungen, 1980, S. 426. Eintrag vom 4.4.1945. 59 Zahlreiche Nachweise bei Peter Longerich, Hitler. Biographie, 2015.

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blick; gleichwohl wolle er die Jugend fördern und auf einflussreiche Pos‐ ten bringen.60 Die Reduktion der Aufmerksamkeit Hitlers und der Kontakte zu ihm bedeutete keinesfalls eine Verringerung der Macht der Gauleiter, im Ge‐ genteil: Deren Macht wurde erweitert, da Hitler sich seltener als vor 1939 persönlich einschaltete. Durch Bormanns Versuche, diese Lücke zu füllen, prallten zwei konträre Machtkonzepte – jenes von Bormann und das der Gauleiter – aufeinander, wobei Hitler eine Position der Mitte einnahm. Für den Diktator waren seine Gaufürsten als Gegengewicht zu den zentralisti‐ schen Tendenzen anderer Spitzenvertreter des Regimes unverzichtbar. Ein rigider Zentralismus war Hitler, wie unzählige seiner Äußerungen belegen, schon durch seine österreichischen Erfahrungen mit dem „Wasserkopf“ Wien zutiefst verhasst.61 Als Hitler Anfang 1931 dem damaligen Orts‐ gruppenleiter von Fulda, Rudolf Jordan, die Leitung des Gaus Halle-Mer‐ seburg übertrug, machte er grundsätzliche Ausführungen über dieses Amt. Die Gauleiter bekämen von ihm, abgesehen von grundsätzlichen Entschei‐ dungen, volle Bewegungsfreiheit. Hitler bemerkte, er hasse Gleichheit, denn „jeder Gau solle – je nach der Persönlichkeit seines Führers und den besonderen Problemen der Bevölkerung – ein eigenes Gesicht haben.“62 Nicht zuletzt deshalb hielt er an seinen Gauleitern fest, solange nicht der eine oder andere die Schmerzgrenze an Inkompetenz, Korruption etc. überschritt.63 Die Zuhörer seiner Tischgespräche ließ Hitler wissen, man müsse Schwächen einzelner Gauleiter in Kauf nehmen, um so die Stellung aller übrigen unantastbar zu halten. Wichtig sei, dass Bormann die Gaulei‐ ter mit einheitlichen Weisungen versehe und sie gleichförmig erzogen sei‐ en, sodass Hitler sich um die Vorgänge in den einzelnen Reichsteilen nicht zu kümmern brauche. Wer seinen Gau verselbstständigen wolle, „gehöre in die Irrenanstalt“. Einer Entwicklung der Gauleiter zu Reichsfürsten stünden deren jederzeitige Absetzbarkeit sowie der Umstand entgegen,

60 Fröhlich (Hg.), Tagebücher. Band 4 (April – Juni 1942), 1995, S. 583 (Fn. 45). 61 Für Hitlers Votum zugunsten breiter Wirkungsmöglichkeiten der Gauleiter gegen‐ über einer zentralen, „stupiden Bürokratie“ vgl. Tischgespräch vom 24.6.1942 bei Picker, Tischgespräche, S. 548 (Fn. 22). 62 So die Erinnerungen von Rudolf Jordan, Erlebt und erlitten. Weg eines Gauleiters von München bis Moskau, 1971, S. 13. 63 Vgl. Klaus-Georg Riegel, Die innerparteilichen Säuberungskonzeptionen von Hit‐ ler und Stalin. Ein Vergleich, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse/Rainer Zitelmann (Hg.), Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalso‐ zialismus, 1990, S. 136-165.

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dass kein Staats- oder Parteiamt vererbt werden könne.64 Treffend hat Walter Ziegler Hitlers Einstellung gegenüber seinen Gaufürsten auf den Punkt gebracht: „Die Mitglieder seiner alten Garde waren ihm wohl zu‐ gleich Bausteine im Herrschaftskalkül wie nostalgische Erinnerung.“65

Führerhauptquartier Wolfsschanze, 3. August 1944. Empfang bei Hitler als Abschluss einer Tagung der Reichs- und Gauleiter, zwei Wochen nach dem Attentat vom 20. Juli 1944.

64 Picker, Tischgespräche, S. 391. Tischgespräch vom 9.5.1942 (Fn. 22) und ebenda, S. 545. Tischgespräch vom 23.6.1942. 65 Ziegler, Gaue, S. 147 (Fn. 2).

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Herrschaftstechnik und Herrschaftsfelder: Kirchen

Katholische Kirche und Nationalsozialismus Lucia Scherzberg

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erschien die katholische Kirche in Deutschland nicht nur als intakte Institution, welche die Jahre der NS‑Herrschaft mehr oder weniger unbeschadet überstanden hatte, sondern auch als moralische Instanz, die sich mit dem Nationalsozialismus nicht gemein gemacht hatte. Schon im August 1945 drückten die deutschen ka‐ tholischen Bischöfe dieses Bewusstsein in einem Hirtenbrief aus, beklag‐ ten aber auch die von „vielen Deutschen“, darunter auch manchen Katho‐ liken begangenen Verbrechen. Von Versäumnissen oder gar einem Versa‐ gen der Institution war nicht die Rede. Dabei war die Haltung der Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus keineswegs klar und deutlich eine des Widerstands.1 Vor 1933 hatten die Bischöfe, allerdings in recht unterschiedlicher Intensität, vor dem Nationalsozialismus gewarnt und Verbote ausgesprochen. Schon im März 1933 hoben sie diese jedoch wie‐ der auf. Zur Verfolgung der Juden äußerten sich weder Papst noch Bischö‐ fe in direkter Form, obwohl sie über die Vernichtungspläne informiert wa‐ ren.2 Wer als Priester oder Laie Widerstand leistete, konnte nicht unbe‐ dingt mit einer effektiven Unterstützung durch die kirchliche Hierarchie rechnen. Eine einheitliche Stellungnahme der Bischöfe gegen den Na‐ tionalsozialismus, deren Dringlichkeit manchem Bischof schmerzlich bewusst war, wurde durch den Dissens über die Einschätzung der NSRegierung als legitime Obrigkeit oder nicht und über die richtige Strategie – öffentlicher Protest oder nicht-öffentliche Eingaben-Politik – verhindert oder, wenn sie vor der Beschlussfassung stand, verzögert oder verharm‐ lost. Dennoch kann im Blick auf das Wahlverhalten und die Loyalität zur Kirche von einem gewissen Grad an „Resistenz“ innerhalb der

1 Zur ausführlichen Darstellung der hier genannten Probleme s.u. 2 Antonia Leugers, Die deutschen Bischöfe und der Nationalsozialismus, in: Lucia Scherzberg (Hg.), Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Be‐ standsaufnahme im interdisziplinären Vergleich, 2005, S. 32–55, hier S. 48 f u. 52 f.

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katholischen Bevölkerung gesprochen werden.3 Insbesondere waren Pries‐ ter, die dem Nationalsozialismus anhingen, eine absolute Minderheit. Dass die Biographie und die theologische Einstellung eines nationalso‐ zialistischen Priesters, des geistlichen Studienrates Richard Kleine aus Du‐ derstadt, dennoch den Leitfaden für diesen Beitrag bilden, ist einerseits dem Umstand geschuldet, dass die Autorin bereits umfassende Studien zu Kleine durchgeführt hat, und andererseits der Blick aus der Extrempositi‐ on wichtige Perspektiven auf den kirchlichen „Normalfall“ eröffnet. Über Richard Kleine liegen neue Forschungsergebnisse vor, die aller Wahr‐ scheinlichkeit nach repräsentativ für die Prägungen und Motive national‐ sozialistischer Priester sind.4 Darüber hinaus wird Kleines Biographie mit den Äußerungen, Einstellungen und Handlungsweisen auf der institutio‐ nellen Ebene der katholischen Kirche verglichen und kontrastiert Jugend, Ausbildung und erste Priesterjahre Richard Kleines Die biographischen Prägungen Richard Kleines spielten für die Entwick‐ lung seiner Affinität zum Nationalsozialismus eine wichtige Rolle. Er stammte aus prekären Familienverhältnissen. 1891 wurde er als nicht-ehe‐ liches Kind geboren; seine Mutter arbeitete zuweilen als Hausangestellte, war bei seiner Geburt aber ohne Beschäftigung.5 Kleine hatte eine jüngere Schwester, die ebenfalls nicht-eheliches Kind war und vermutlich einen anderen Vater hatte.6 Gerade im katholischen Milieu mussten diese Fami‐ lienverhältnisse als anstößig wahrgenommen werden. Die nicht-eheliche Geburt hatte für Kleine schwerwiegende Folgen, da sie gemäß can 984.1 3 Karl Joseph Hummel/Michael Kißener (Hg.), Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, 2009. Zum Wahlverhalten der Katholiken 1932 und 1933, s. S. 312–317. 4 An der Universität des Saarlandes werden derzeit die Publikationen zum DFG-ge‐ förderten Forschungsprojekt unter meiner Leitung „Richard Kleine (1891–1974). Biographie und theologisches Profil eines nationalsozialistischen Priesters“ fertig gestellt. 5 Richard Kleine wurde am 5. Oktober 1891 als nicht-ehelicher Sohn der Haushälte‐ rin Josephine Kleine in Düsseldorf geboren, vgl. Geburtsurkunde Richard Kleine, Stadtarchiv Düsseldorf Nr. 4747. Meldedatum 12. Oktober 1891. Hebamme Maria Lodenheid geb. Engels. Nicht-eheliche Geburt auch nachgewiesen in: Taufurkunde, Personalakte Kleine, Richard, Bistumsarchiv Hildesheim Nr. 785. S. 3. 6 Paula Kleine wurde nicht-ehelich geboren am 12. April 1893, vgl. Meldekarte von Paula Kleine, Stadtarchiv Neuss.

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des Codex iuris canonici (CIC) von 1917 als Weihehindernis angesehen werden konnte. Die Verantwortlichen für die Priesterausbildung im Bis‐ tum Köln ermöglichten ihm jedoch eine Versetzung in die Diözese Hildes‐ heim, damit er dort die Priesterweihe empfangen und inkardiniert werden konnte.7 Weil Kleine dort unbekannt war, würde niemand Anstoß an sei‐ nen Familienverhältnissen nehmen. Dieser Umstand prägte sein Leben stark, weil er sich stets für seine Herkunft schämte. Der junge Student der Theologie und Philosophie entwickelte früh wis‐ senschaftliche Ambitionen. Er versuchte sich einerseits an einer philoso‐ phischen Doktorarbeit, die er auch fertigstellte und einreichte, fiel aber durch die mündlichen Prüfungen, die er dann auch nicht wiederholte.8 An‐ dererseits plante Kleine auch eine theologische Dissertation. Für dieses Anliegen wurde er bei dem bekannten Bonner Theologen Arnold Radema‐ cher vorstellig, den er sich als Doktorvater wünschte.9 Dass dieser ihm keine Stelle anbieten konnte oder wollte, war für Kleine schwer hinzuneh‐ men, da es mit seinem Sendungsbewusstsein kollidierte. Dieses Sendungs‐ bewusstsein, in der Kirche entscheidende Veränderungen voran zu brin‐ gen, ist ein charakteristisches Merkmal nationalsozialistischer Priester, die häufig - aus der zweiten Reihe agierend – der Überzeugung waren, zu Hö‐ herem in der Kirche berufen zu sein.10 Dieses Bewusstsein Kleines schlug sich auch in den Ambitionen, die er im noch vorzustellenden nationalso‐ zialistischen Priesterkreis entwickelte, nieder. Weiterhin charakteristisch war für Kleine das ständige Gefühl, in einer Zeitenwende zu leben. Dies begann mit dem Kriegserlebnis 191411, verschärfte sich im Jahr 1918, dem

7 Der Direktor des Theologenkonvikts Albertinum, Joseph Stoffels, setzte sich beim Kölner Generalvikar Peter Kreutzwald für Kleine ein; der Generalvikar bat um die Aufnahme Kleines in die Diözese Hildesheim, welche von Bischof Adolf Bertram, dem späteren Breslauer Erzbischof und Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonfe‐ renz, gewährt wurde, s. Stoffels an Erzbischöfliches Generalvikariat Köln, 13. Ja‐ nuar 1914; Kreutzwald an Bischöfliches Generalvikariat Paderborn, 2. März 1914; Der Bischof von Hildesheim an Erzbischöfliches Generalvikariat Köln, 8. März 1914; alle in: PA Kleine, Richard, Bistumsarchiv Hildesheim. 8 Kleine an Bischof Joseph Ernst, o.D.; Leo Hain an Kleine, 2. April 1923, beide in: NL Kleine, Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik (JAM). 9 Kleine an Harras, 21. November 1918; Kleine an Rademacher, 8. Februar 1927; Kleine an Rademacher, 18. August 1928, alle in: NL Kleine, JAM. 10 Kevin Spicer, Hitler’s Priests. Catholic Clergy and National Socialism, 2008, S. 231. 11 Kleine an Harras, 29. September 1914, 1. November 1914, 5. Januar 1915, in: NL Kleine, JAM.

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Jahr der Revolution12, und verdichtete sich schließlich in den Jahren 1922 und 1923. Dieses Bewusstsein war geprägt von dem Willen zu Reform und Veränderung in Kirche und Gesellschaft, insbesondere davon, der ka‐ tholischen Kirche wieder zu größerem Einfluss in der modernen Gesell‐ schaft zu verhelfen.13 1933, das Jahr der Machtübernahme, stellte für Klei‐ ne ebenfalls eine solche Zeitenwende dar, dann wiederum das Ende des Krieges. Zeiten des Umbruchs suchte der geistliche Religionslehrer also in seinem Interesse zu interpretieren, d.h. er deutete jede dieser „Zeitenwen‐ den“ als Möglichkeit zur Reform der Kirche und zur Stärkung ihres öf‐ fentlichen Einflusses, wobei er sich selbst als Protagonisten verstand. Die theologischen Prägungen, die Richard Kleine erfuhr, gehen in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Die philosophischen und theologi‐ schen Probleme, die ihn in seinen Studienjahren beschäftigten, spiegeln die Krise um die Neu-Verortung des Katholizismus in der Moderne wider, die sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts im Pontifikat Pius X. deutlich verschärft hatte. Der gängige, aber sehr unscharfe Begriff des Modernismus umfasste sehr heterogene reformtheologische Strömungen in Frankreich, Italien, England und Deutschland; in Bezug auf die USA sprach man vom Amerikanismus.14 Die Auseinandersetzungen waren fo‐ kussiert auf die Anwendung der historischen Kritik in Bibelwissenschaft und Kirchengeschichte, die Rezeption der Kantschen Metaphysikkritik und das neu erwachte Interesse an Mystik und religiöser Erfahrung. Kleine selbst arbeitete nicht direkt historisch-kritisch, neigte aber einer modernen Bibelwissenschaft und Geschichtsforschung zu. Insbesondere Exegese und Kirchengeschichte sollten den neuesten Standards entsprechen.15 Beson‐ ders attraktiv wirkte auf ihn der Monismus im Sinne einer ganzheitlichen, an den Naturwissenschaften orientierten Philosophie. Dem Tübinger Pro‐ fessor Wilhelm Koch, der später selbst zwischen die Mühlsteine des Anti‐ modernismus geriet, schrieb der nach einigen Semestern in Tübingen wie‐ der ins Konvikt in Bonn zurückgekehrte Student: „Ich möchte endlich

12 Kleine an Harras, 14. Oktober 1918, 27. Oktober 1918, 21. November 1918, 5. November 1918, 15. November 1918, alle in: NL Kleine, JAM. 13 Richard Kleine, Erlösung, 1929, S. 49–100. 14 Zur Problematik des Modernismus-Begriffes und zur Geschichte des „Modernis‐ mus“ s. Claus Arnold, Kleine Geschichte des Modernismus, 2007, bes. S. 10–22; Hubert Wolf (Hg.), Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kir‐ che. Beiträge zum theologiegeschichtlichen Vorfeld des II. Vatikanums, 1998. 15 Kleine, Erlösung, S. 85–87 (Fn. 13).

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einmal das Wort ‚Dualismus‘ gestrichen sehen. Er ist das mächtigste Boll‐ werk gegen eine vernünftige Auffassung Gottes. Dualismus heißt Aner‐ kennung zweier Prinzipien. Aber darf man dann Gott u[nd] Welt zu zwei addieren? Dagegen ist ‚Monismus‘ richtig als das System eines Prin‐ zips.“16 Kleine besuchte Veranstaltungen des Monistenbundes17 und be‐ richtete Koch brieflich davon, zeigte sich aber enttäuscht von der Majori‐ sierung des Bundes durch Haeckel und den Nobelpreisträger Wilhelm Ost‐ wald und deren Anhängerschaft, die eine rein materialistische Weltan‐ schauung verträten. Die Hoffnungen, die er auf den Monistenbund „als Organisation des monistischen Gedankens“18 gesetzt hatte, waren damit dahin, zumal dieser eine deutliche Gegnerschaft gegen die Kirche propa‐ gierte. In der weiteren Entwicklung blieb für Kleine das Verständnis einer Einheit von Gott und Welt, des immanenten Wirkens Gottes in der Ge‐ schichte und die Notwendigkeit, an der Verwirklichung des Reiches Got‐ tes auf Erden mitzuarbeiten, maßgeblich, auch wenn sich seine philoso‐ phisch-theologischen Überlegungen durch Weltkrieg und Revolution ver‐ änderten. In den Kriegsjahren wäre der junge Priester am liebsten an die Front ge‐ zogen, was ihm aber verwehrt blieb.19 In den ersten Kriegsmonaten vor‐ zeitig zum Priester geweiht, wurde er in der Seelsorge eingesetzt. Kleines Leibbursche aus der Tübinger Studentenverbindung, mit dem er freund‐ schaftlich verbunden blieb, musste einrücken, sodass Kleine sich brieflich mit ihm über das Kriegserlebnis austauschen konnte. Seine direkte Umge‐ bung im Hildesheimer Priesterseminar nahm er als nicht patriotisch und

16 Kleine an Koch, 1. März 1921, in: NL Kleine, JAM. 17 Adrian Brücker, Die monistische Naturphilosophie im deutschsprachigen Raum um 1900 und ihre Folgen. Rekonstruktion und kritische Würdigung naturwissen‐ schaftlicher Hegemonialansprüche in Philosophie und Wissenschaft, 2011; Wolf‐ gang Mattern, Gründung und erste Entwicklung des Deutschen Monistenbundes, 1983; Frank Simon-Ritz, Die Organisation einer Weltanschauung. Die freigeistige Bewegung im Wilhelminischen Deutschland, 1997. 18 Kleine an Koch, 23. September 1913, in: NL Kleine, JAM. 19 „Daß ich am Sonntag, dem 11. Oktober schon zum Priester geweiht worden bin, weißt du sicher schon. Ich bin glücklich, jetzt auch mit einer so großen Kraft, wie sie das Priestertum ist, mich in den Dienst unseres edlen Vaterlandes stellen zu können. Am liebsten wäre ich auch vorne in der Front bei Euch wackeren Solda‐ ten, aber leider habe ich wohl noch zu wenig Erfahrung, um da als Priester so wir‐ ken zu können, wie man es von einem Feldgeistlichen verlangen muß.“, Kleine an Heinrich Michels, 3. November 1914, in: NL Kleine, JAM.

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national sowie im Blick auf den Militäreinsatz als drückebergerisch wahr.20 Der verlorene Krieg erfüllte Kleine mit Trauer und Scham, der Monar‐ chie weinte er allerdings keine Träne nach.21 In dieser Zeit arbeitete er bei Duderstadt als Kaplan und fühlte sich nicht nur geographisch von allem abgeschnitten, was die Welt seiner Meinung nach bewegte. „Ich halte es nicht mehr länger aus; der Boden brennt mir unter den Füßen“22, schrieb er dem Studienfreund und gab zu verstehen, dass er unter dem Umstand litt, nicht an vorderster Stelle an der Zukunft des Vaterlandes mitarbeiten zu können. Ihm schwebte unter Berufung auf Max Scheler eine hervorge‐ hobene Rolle des Katholizismus in der Gesellschaft vor. Noch während der Kriegszeit hatte dieser prognostiziert, dass dem Katholizismus nach dem Krieg eine besondere Funktion für die Erneuerung der Gesellschaft zukommen werde, weil die zurückkehrende Jugend nach tieferen Lebens‐ quellen verlangen werde, als die vorherigen Generationen ihr geben könn‐ ten. Das Solidaritätsprinzip und der Gedanke der Stellvertretung in Schuld und Erlösung seien das Identitätsmerkmal der katholischen Kirche, und das Fronterlebnis biete die besten Möglichkeiten für eine Anknüpfung.23 In Kleines Überzeugung verband vor allem der Autoritätsgedanke das ka‐ tholische Erbe mit den gesellschaftlichen Erfordernissen. Dieser werde im Gehorsam gegen die katholische Hierarchie in der Kirche verwirklicht; ebenso sei für die Gesellschaft eine „scharfe Führung“ notwendig.24 Klei‐ ne favorisierte darüber hinaus Matthias Erzbergers Vorschläge zu einem Völkerbund, in welchem dem Papst die oberste Schiedsgerichtsbarkeit in Konflikten der Völker zukommen sollte.25 Der Völkerbundgedanke war für den jungen Priester attraktiv, weil er zu diesem Zeitpunkt noch von der Einheit der Menschheit ausging und weil in Erzbergers Konzept der Papst, d.h. der Katholizismus, eine wichtige Rolle spielen sollte.

20 Kleine an Harras, 1. November 1914, 2. Juni 1915; Kleine an Koch, 26. Novem‐ ber 1914, in: NL Kleine, JAM. 21 Kleine an Harras, 21. November 1918, in: NL Kleine, JAM. 22 Ebenda. 23 Max Scheler, Soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der Katholiken nach dem Krieg, in: ders., Krieg und Aufbau, 1916, 196–372, bes. S. 313–316. 24 Kleine an Harras, 21. November 1918, in NL Kleine, JAM. 25 Matthias Erzberger, Der Völkerbund. Der Weg zum Weltfrieden, 1918, bes. S. 48– 60.

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Kriegserlebnis und Reform von Kirche und Gesellschaft in der Weimarer Republik Kleine war stets daran gelegen, Gleichgesinnte zu finden, mit denen er in einer Art Pressure-group zusammenarbeiten konnte. Diese Suche trieb ihn zeitlebens an und spielte in den 30er und 40er Jahren eine ganz entschei‐ dende Rolle, zumal er zeitweilig an Einfluss und Wirkung deutlich ge‐ wann. In den 20er Jahren sprach er diesbezüglich ständig von der reini‐ genden Kraft des Kriegserlebnisses.26 Sich selbst rechnete er zu der Front‐ generation, der génération du feu27. Die génération du feu umfasste vor al‐ lem junge Männer, die selbst den Krieg erlebt und überlebt hatten, und in‐ folge des Fronterlebnisses mit den gesellschaftlichen (und kirchlichen) Verhältnissen, in die sie zurückkehrten, nichts mehr anfangen konnten. Kleines Haltung ähnelt hier der des jungen Grafen Karl Anton von Rohan, der nach dem Weltkrieg einen Europa-Plan entwickelte, den Europäischen Kulturbund und die Zeitschrift Europäische Revue gründete und sich da‐ bei als Teil einer neuen jungen Elite verstand, welche die Zukunft Europas in die Hand nehmen werde.28 In der Zeit der Weimarer Republik verfasste Kleine eine Monographie mit dem Titel Erlösung, die als einer der wenigen unter den zahlreichen von ihm verfassten Texten veröffentlicht wurde.29 Die Abfassung dieses Werkes begann er nach eigener Angabe schon recht bald nach dem Ende des Krieges30, veröffentlichte es aber erst im Jahr 1929. In diesem Buch gab er einem „Schrei nach Erlösung“ Ausdruck, den er im deutschen Volk angesichts der nationalen Zerrissenheit wahrnahm. Dass das Volk uneinig und zerrissen sei, hänge mit dem modernen Staat zusammen, der durch weltanschauliche Pluralität geprägt sei. Diese Pluralität gemeinsam mit

26 Kleine an Harras, 21. November 1918, in: NL Kleine, JAM. 27 Kleine, Erlösung, S. 19 (Fn. 13); zum Begriff s. Michel Winock, Les générations intellectuelles, in: Vingtième siécle. Revue d’histoire 22 (1989), S. 17–38, hier: S. 24. 28 Lucia Scherzberg, Katholische Abendland-Ideologie der 20er und 30er Jahre. Die Zeitschriften “Europäische Revue“ und „Abendland“, in: Michael Hüttenhoff (Hg.), Christliches Europa? Studien zu einem umstrittenen Konzept, 2014, S. 11– 28, bes. S. 12–18; s. auch die dort angegebenen Schriften von Guido Müller, Ina Ulrike Paul und Manfred Bock. 29 Kleine, Erlösung (Fn. 13). 30 Ebenda, S. 9. Erkennbar ist dies auch im Brief Kleines an Arnold Rademacher, 18. August 1921, der bereits die Grundgedanken des Buches enthält.

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der Demokratie könne nicht einen, sondern schaffe vielmehr Gegensätze. Uneinigkeit und Spaltung spiegele sich nicht zuletzt in den konfessionel‐ len Differenzen wider. Von Anfang an lag Kleine die Ökumene der christ‐ lichen Kirchen am Herzen; er wollte die getrennten christlichen Konfes‐ sionen zusammenbringen, weil nur so die Einheit der Nation hergestellt werden könne.31 Das Mittel, mit dem diese Einheit erreicht werden sollte, nannte er die irenische Methode.32 Irenik ist ein Begriff für Verständi‐ gungsbemühungen zwischen den Konfessionen in früheren Jahrhunderten. Für Kleine hatte die irenische Methode die Konsequenz, dass sich katholi‐ sche Theologen und Kirchenführer auf Andersdenkende einlassen müss‐ ten. Insbesondere müsse alles, was seit dem Beginn der Aufklärung an wissenschaftlichen Entwicklungen zu beobachten sei, in die philoso‐ phisch-theologische Auseinandersetzung aufgenommen werden. In der Rezeption müssten allerdings diese wissenschaftlichen Erkenntnisse durch die katholische Lehre geläutert und gereinigt werden. Kleines Ziel war es trotz aller ökumenischen Absicht, den Katholizismus als das überlegene Prinzip herauszustellen.33 Träger dieser umfassenden Reform könnten nicht die Bischöfe sein, die er für alt und verkrustet hielt. Vielmehr seien die Priester seiner Generation dazu berufen34, diese Entwicklung einzulei‐ ten, ebenso gebildete Laien, welche, die Priester unterstützend, in beson‐ derem Maße in die Gesellschaft hineinwirken könnten. Kleine sprach in diesem Zusammenhang vom Laienapostolat.35 Die Rolle des politischen Katholizismus Das Verhältnis der katholischen Kirche zur Demokratie war in Deutsch‐ land durch den starken politischen Katholizismus geprägt. Dessen Spek‐ trum reichte vom sogenannten linken Flügel des Zentrums, der die Regie‐ rungsbildung mit der Sozialdemokratie forcierte und sich zu Demokratie und Republik bekannte, bis zum rechten Flügel des Zentrums, der in drei

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Kleine, Erlösung, S. 39 u. 45 (Fn. 13). Ebenda, S. 108. Ebenda, S. 48–52. Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 55.

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Gruppen aufgespalten war.36 Der rechte Flügel bestand erstens aus den In‐ tegralisten, für die der römische Zentralismus maßgebend war und die ent‐ sprechend alles auf Rom hin orientieren wollten, zweitens den sogenann‐ ten Staats- oder Nationalkatholiken, die wirtschaftsorientierte Politik be‐ trieben und nicht reformkatholisch gesonnen waren. In der dritten Gruppe sammelten sich die antidemokratischen Reformkatholiken, die interkon‐ fessionell orientiert waren. Daher waren sie bestrebt, Reformen in der ka‐ tholischen Kirche durchzusetzen, die auf eine Verständigung mit anderen christlichen Konfessionen, auch abseits der evangelischen Kirchen, ausge‐ legt waren. Zu den Reformkatholiken gehörte beispielsweise Martin Spahn, also vor allem Protagonisten des Gewerkschaftsstreits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, die sich für interkonfessionelle Gewerk‐ schaften, statt rein katholischer, eingesetzt hatten. Zum wirtschaftsorien‐ tierten Flügel gehörte zum Beispiel Franz von Papen, der versuchte, Adel und Bauernschaft auf seine Seite zu bringen. Da viele durchaus unter‐ schiedliche gesellschaftliche Gruppen Probleme mit der Republik und der Demokratie hatten, lag darin ein sehr starkes Potenzial. In der Zentrums‐ partei entstanden aus dieser Problemgemengelage Krisen und Auseinan‐ dersetzungen, welche z.B. die Volkssouveränität zum Gegenstand hatten. Nach traditioneller katholischer Lehre galt eine Revolution als illegitim. Dies führte zu der Frage, wie man eine Regierung unterstützen könne, die durch eine Revolution an die Macht gekommen war. Die theologische Dis‐ kussion um diese Frage, welche besonders vom linken Flügel angetrieben wurde, ist sehr interessant, weil sie unter Rückgriff auf Thomas von Aquin das Prinzip der Volkssouveränität zu rechtfertigen suchte, indem sie die Staatsgewalt als „natürliche Bestimmungsmacht des zum Staate zusam‐ mengeschlossenen Volksganzen“ definierte.37

36 Zur Heterogenität der Zentrumspartei s. Ute Schmidt, Zentrum oder CDU. Politi‐ scher Katholizismus zwischen Tradition und Anpassung, 1987, S. 85–108; Kars‐ ten Ruppert, Im Dienst am Staat von Weimar. Das Zentrum als regierende Partei in der Weimarer Demokratie, 1992, S. 29–34; Wolfram Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 90–92; Christoph Hübner, Die Rechtskatholiken, die Zentrumspartei und die katholische Kirche in Deutschland bis zum Reichskonkordat von 1933, 2014, passim. 37 „Ebendarum kann als naturrechtlicher Inhaber der Staatsgewalt, die doch den gan‐ zen Staatsorganismus trägt und beseelt, nie und nimmer eine Einzelperson oder Einzelkörperschaft in Frage kommen, sondern nur das corpus rei publicae selbst, … Von diesem Standpunkt aus gewinnt auch der Satz der neuen deutschen Verfas‐ sung: Die Staatsgewalt geht vom Volk aus, einen durchaus berechtigten, ja tiefen

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In Italien lässt sich in den 20er Jahren dagegen keine Stärkung des poli‐ tischen Katholizismus feststellen, sondern im Gegenteil eine Delegitimie‐ rung der Christdemokratie durch die Kirche selbst.38 Dies geschah insbe‐ sondere durch die Katholische Aktion, die ausgerufen wurde, um die Lai‐ enbewegung, zu der auch die katholischen Parteien gehörten, unter die kirchliche Hierarchie zu zwingen. In Italien setzte sich diese Praxis durch, welche sich faktisch zu einer Unterstützung Mussolinis entwickelte. Die Kooperation zwischen Kirche und faschistischem Staat schlug sich in den Lateranverträgen nieder. In Deutschland dagegen wurde von bischöflicher Seite, vor allem durch Kardinal Bertram von Breslau, der Kurs des linken Zentrum-Flügels gestützt. Annäherung Kleines an den Nationalsozialismus – Abgrenzung der Kirche Richard Kleine orientierte sich während der Zeit der Präsidialkabinette im‐ mer mehr am erstarkenden Nationalsozialismus. Bis hierher hatte er von seiner Einstellung her mit dem reformkatholisch-interkonfessionell orien‐ tierten Flügel des Zentrums sympathisiert. Am Konstrukt des Präsidialka‐ binettes und vor allem an der Person Brünings faszinierte Kleine, dass sei‐ ne Vorstellung einer mächtigen katholischen Führergestalt, welche die überlegene Rolle des Katholizismus repräsentieren könnte, zumindest im Prinzip verwirklicht war.39 Doch nahm er deutlich wahr, dass der Natio‐ nalsozialismus stark an Einfluss gewann und zu einem nicht zu ignorieren‐ den Machtfaktor werden könnte. Folglich wandte er die „irenische Me‐ thode“, die er vorher auf die wissenschaftlichen Entwicklungen seit der Aufklärung bezogen hatte, nun auf den Nationalsozialismus an.40 Er

Sinn, …“, beide Zitate in: Peter Tischleder, Die Staatslehre Leos XIII., 1925, S. 217; s. auch ders., Ursprung und Träger der Staatsgewalt nach der Lehre des hl. Thomas und seiner Schule, 1923, bes. 4. Kapitel, § 2: Der naturrechtliche Träger der Staatsgewalt. 38 Hübner, Rechtskatholiken, S. 361–365 und S. 390–392. 39 Kleine an I.B. Krauss, 7. Januar 1931: „Hitler ist ein Führer ganz grossen Forma‐ tes, und seine Bewegung mit einer geringschätzigen Handbewegung oder auch mit dem verbissensten Kampf abtun zu wollen, ist ein kindisches Unterfangen.“ Brü‐ ning aber sei der Wichtigere von beiden, und der Wunsch des deutschen Volkes sei es, beide zusammengehen zu sehen. „Aber Brüning ist grösser und unentbehrli‐ cher. Wir müssen Hitler an Brünings Seite bringen, zwingen.“ 40 Z.B. Kleine an I.B. Krauss, 22. November 1931, in: NL Kleine, JAM.

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bescheinigte diesem ein starkes Ethos, das die Kirche berücksichtigen und wertschätzen müsse. „Wir können und wollen nicht leugnen, dass Hitler eine ganz große Führerpersönlichkeit und seine Bewegung von kraftvol‐ lem nationalem Urwuchs und tiefem sittlichem und christlichem Ernst er‐ füllt ist.“41Auch die ökumenische Verständigung sollte dahingehend an Bedeutung gewinnen, dass Kleine eine christlich-nationale Front propa‐ gierte, in die er sogar die Sozialdemokratie einbeziehen wollte.42 Von der katholischen Kirche forderte er, die Ablehnung des Nationalsozialismus aufzugeben und dessen positive Seiten zu sehen. In dieser Zeit war die Di‐ vergenz zwischen der Vorstellung Kleines und der Haltung der katholi‐ schen Kirche am stärksten ausgeprägt, da die katholische Kirche den Na‐ tionalsozialismus deutlich ablehnte, wenn auch nicht in allen Diözesen Deutschlands mit gleicher Schärfe.43 Das Mainzer Ordinariat hatte bereits nach den Septemberwahlen 1930 die erste und zugleich weitestgehende Unvereinbarkeitserklärung ausge‐ sprochen. Katholiken wurde die Mitgliedschaft in der NSDAP verboten, NSDAP-Mitglieder durften keine Sakramente empfangen und die kirchli‐ che Beerdigung sollte ihnen verweigert werden; NS-Organisationen war es nicht erlaubt, korporativ mit Fahne und Uniform, an kirchlichen Veran‐ staltungen, insb. an Gottesdiensten oder Beerdigungen teilzunehmen. Als Argument gegen den Nationalsozialismus wurde die Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes für alle Völker und alle Zeiten hervorgehoben und die Propagierung eines rassisch bestimmten Moralgefühls zurückgewiesen. Auf die Mainzer Klarstellungen folgte die Silvester-Kundgebung Kardinal Bertrams, des Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz. Dieser sprach

41 Richard Kleine, Res venit ad triarios, unv. Ms., in: NL Kleine, JAM. 42 Richard Kleine, Vaterlandsnot und Vaterlandsliebe, unv. MS, in: NL Kleine, JAM. Über den Pressedienst I.B. Krauss lancierte Kleine einen Artikel mit dem Titel „Christlich-nationale-Front“ in verschiedene Zentrumszeitungen, s. I.B. Krauss an Kleine, 7. Dezember 1931, in: NL Kleine, JAM: „Betreffend des Artikels ‚Christ‐ lich Nationale Front‘ teile ich Dir mit, dass ich Deine Gedanken deshalb in dieser Form in einem an die gesamte katholische Presse in Deutschland gesandten Arti‐ kel verwandt habe, weil ich in diesen Dingen absolut einig mit Dir gehe. Ich habe aber mit einer Persönlichkeit doch noch zuvor darüber gesprochen und habe deren rückhaltlose Zustimmung erhalten.“; s. auch Richard Kleine, Nationalsozialisti‐ sche und sozial-nationale Haltung, unv. Ms., in: NL Kleine, JAM. 43 Alle folgenden Dokumente finden sich in Hans Müller, Katholische Kirche und Nationalsozialismus. Dokumente 1930–1935, 1963, S. 13–23, S. 24–37; Jakob Nötges, Nationalsozialismus und Katholizismus, 1931, S. 103–128.

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eine klare Warnung vor dem Nationalsozialismus aus, die er aber insoweit abschwächte, als es um die Abwehr eines falschen, nämlich überzogenen Nationalismus gehe. Daneben existiere ein berechtigter Nationalismus, der die Tugend der Vaterlandsliebe hochhalte. Die weiteren Bistümer Deutschlands folgten mit unterschiedlich akzentuierten Erklärungen. In einem Erlass vom Februar 1931 betonten die bayerischen Bischöfe, dass sie sich nicht in die Politik einmischen wollten, sondern nur das kulturpo‐ litische Programm des Nationalsozialismus kritisierten. Soweit der Natio‐ nalsozialismus sich mit diesem Programm gegen die Religion richte und damit gegen die Grundsätze der katholischen Kirche verstoße, müsse er abgelehnt werden. Bezüglich der Einzelsanktionen differenzierten sie nach der Gesinnung des Einzelnen, die der jeweilige Pfarrer im Einzelfall fest‐ stellen solle. Handele es sich um einen Mitläufer, der guten Gewissens Nationalsozialist sei und den Nationalsozialismus allein deshalb befürwor‐ te, um die Wirtschaftskrise zu überwinden, könne er zu den Sakramenten zugelassen werden, wohingegen Funktionäre, die öffentlich aufträten, die Sakramente nicht empfangen dürften. Das Hirtenwort der Bischöfe der Kölner Kirchenprovinz im März 1931 war dasjenige, das am wenigsten vor dem Nationalsozialismus warnte. Die Bischöfe hoben als positive Aspekte des Nationalsozialismus vor allem die Liebe zum Vaterland und die Überwindung der Uneinigkeit und Zer‐ rissenheit in Deutschland hervor. Weiter sagten sie, dass, selbst wenn be‐ stimmte Tendenzen abzulehnen seien, man nicht mit Hass gegen die Geg‐ ner vorgehen solle. Es folgten die Hirtenworte der Paderborner Kirchen‐ provinzen und der oberrheinischen Kirchenprovinz. Die Paderborner lehn‐ ten deutlicher als die Kölner die Rassenreligion ab. Insbesondere der Hy‐ pernationalismus wurde verurteilt. Die Bischöfe der oberrheinischen Kir‐ chenprovinz beschlossen überhaupt keine klaren Sanktionen, sondern sprachen nur davon, dass das Sittengesetz gegen eine Rassenreligion spre‐ che. Es zeichnet sich demnach ein recht unterschiedliches Bild ab. Ge‐ meinsam war allerdings allen Bischöfen, dass sie vor dem Nationalsozia‐ lismus hinsichtlich seiner Verquickung von Rasse und Religion warnten. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Nach der Machtübernahme arbeitete Kleine in mehreren Organisationen mit, die an einer Annäherung zwischen Katholizismus und Nationalsozia‐ lismus interessiert waren. Dazu gehörte der von Papen gegründete und un‐ 212

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ter seiner Schirmherrschaft stehende Bund katholischer Deutscher „Kreuz und Adler“.44 Kleine gehörte neben dem Journalisten Emil Ritter, Dr. Eu‐ gen Kogon u.a. zur Bundesleitung. Ritter nahm die Geschäftsführung wahr, Kogon war der Kontaktmann zu Österreich und damit betraut, eine österreichische Sektion aufzubauen. Recht bald schon wurde Kreuz und Adler aufgelöst und in die Arbeitsgemeinschaft Katholischer Deutscher (AKD) überführt, die eine parteigesteuerte Organisation war und eigent‐ lich keine Priester als Mitglieder haben sollte. Es gibt allerdings Listen des SD, in denen Priester, darunter auch Richard Kleine, als der AKD naheste‐ hend aufgeführt werden.45 Weiterhin wirkte Kleine 1935/36 in einer Gruppe, die ein „Sendschrei‐ ben an die katholischen Deutschen und an die Volksgenossen“46 zusam‐ menstellte und veröffentlichte. Neben früheren Mitgliedern von Kreuz und Adler arbeitete ein prominenter Theologe mit: Joseph Lortz aus Münster47, Professor für Kirchengeschichte und NSDAP-Mitglied, der als Ökumeni‐ ker und Luther-Forscher sehr bekannt wurde.48 Er galt bis in die jüngere Zeit hinein als jemand, der durch seine neue Sicht Luthers die Ökumene in

44 Klaus Breuning, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Dik‐ tatur und Demokratie (1929–1934), 1969, S. 225–238. Im Anhang finden sich der Gründungsaufruf und diverse weitere Dokumente des Bundes und der AKD, eben‐ da, S. 326 f und S. 328–350. 45 BArch 58/5715, „Die neue Taktik des Katholizismus“, o.D., hier: Bl. 1799. Die Liste ist als Anlage 1 deklariert und mit der Überschrift versehen: „Katholische Geistliche, die innerhalb und außerhalb der NSDAP planmäßig nach einer Anpas‐ sung der katholischen Kirche an den Nationalsozialismus trachten:“. S. auch Brigitte Zuber, Die Arbeitsgemeinschaft katholischer Deutscher (AKD) in Mün‐ chen und Kardinal Faulhaber, in: theologie.geschichte 9 (2014), http://universaar.u ni-saarland.de/journals/index.php/tg/article/view/657/702. 46 Sendschreiben katholischer Deutscher an ihre Volks- und Glaubensgenossen, im Auftrage eines Arbeitskreises katholischer Theologen und Laien, hg. v. Kuno Brombacher und Emil Ritter, 1936. Das erste Kapitel „Deutsche Zeitenwende“, S. 15–32, stammt von Richard Kleine. 47 Im NL Kleine ist ein umfangreicher Briefwechsel zwischen Lortz und Kleine be‐ züglich des Sendschreibens erhalten. 48 Joseph Lortz, Die Reformation in Deutschland, 2 Bde., 1939–1940; ders., Die Re‐ formation als religiöses Anliegen heute. Vier Vorträge im Dienst der Una Sancta, 1948; ders./Erwin Iserloh, Kleine Reformationsgeschichte, 1969. Auf der Rück‐ seite des letztgenannten Werkes findet sich in der Vorstellung der Autoren zu Lortz der Satz: „Seine Werke…, in zahlreiche fremde Sprachen übersetzt, bedeuten für die katholische Reformationsgeschichte so etwas wie eine kopernikanische Wen‐ de.“

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Deutschland entscheidend vorangebracht hatte. Erst neuere Forschungen machten seine Verbindung zum Nationalsozialismus deutlich.49 Hatte die Fuldaer Bischofskonferenz am 20. Februar 1933 noch die Ka‐ tholiken davor gewarnt, „Agitatoren und Parteien, die des Vertrauens des katholischen Volkes nicht würdig sind“50, zu wählen, nahmen die deut‐ schen Bischöfe nach den Märzwahlen 1933 und der Erklärung Hitlers vom 21. März, den neuen Staat auf den Grundlagen des positiven Christentums aufzubauen, die ausgesprochenen Verbote zurück. „Es ist nunmehr anzuerkennen, daß von dem höchsten Vertreter der Reichsre‐ gierung, der zugleich autoritärer Führer jener Bewegung ist, öffentlich und feierlich Erklärungen gegeben sind, durch die der Unverletzlichkeit der katho‐ lischen Glaubenslehre und den unveränderlichen Aufgaben und Rechten der Kirche Rechnung getragen, sowie die vollinhaltliche Geltung der von den ein‐ zelnen deutschen Ländern mit der Kirche abgeschlossenen Staatsverträge durch die Reichsregierung ausdrücklich zugesichert wird. Ohne die in unseren früheren Maßnahmen liegende Verurteilung bestimmter religiös-sittlicher Irr‐ tümer aufzuheben, glaubt daher der Episkopat das Vertrauen hegen zu kön‐ nen, daß die vorbezeichneten allgemeinen Verbote und Warnungen nicht mehr als notwendig betrachtet zu werden brauchen.“ 51

Die Zentrumspartei hatte am 23. März dem Ermächtigungsgesetz zuge‐ stimmt. Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf betont, dass diese Zustim‐ mung und die Erklärung der Bischöfe aus eigener Initiative und nicht auf Drängen des Vatikans erfolgt seien.52 Papst Pius XI. und Kardinalsstaats‐ sekretär Pacelli, die von Nuntius Orsenigo über den Grad der Zustimmung

49 Gabriele Lautenschläger, Joseph Lortz (1887–1975). Weg, Umwelt und Werk ei‐ nes katholischen Kirchenhistorikers, 1987; Rainer Bucher, Kirchenbildung in der Moderne, 1998, S. 143–186; Robert Krieg, Catholic Theologians in Nazi Germa‐ ny, 2004, S. 56–82. S. auch Lucia Scherzberg, „Luther und die Juden“ in der ka‐ tholisch-theologischen Wahrnehmung, in: Harry Oelke u.a., Martin Luthers „Ju‐ denschriften“. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, 2016, S. 269–288. 50 Kundgebung der Fuldaer Bischofskonferenz v. 20. Februar 1933, in: Akten deut‐ scher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933–1945, Bd. 1: 1933–1934, bearb. v. Bernhard Stasiewski, 1968, S. 6–7, hier: 6. 51 Kundgebung der deutschen Bischöfe v. 28. März 1933, in: Akten deutscher Bi‐ schöfe, Bd. 1, S. 30–32. 52 S. dazu und zur Vorgeschichte des Reichskonkordates Hubert Wolf, Papst und Teu‐ fel. Die Archive des Vatikan und das Dritte Reich, 2008, S. 145–203, bes. S. 173– 193.

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zur NSDAP unter den Katholiken falsch informiert worden waren53 und Hitlers Antikommunismus schätzten, seien durchaus an einer solchen Ent‐ wicklung interessiert gewesen, doch hätte Pacelli den Nationalsozialisten diese Zustimmung nicht zum Nulltarif gegeben. Einen Tauschhandel Kon‐ kordat – Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz habe es nachweislich nicht gegeben.54 Mit dem Reichskonkordat verbanden die Nationalsozialisten die Ab‐ sicht, sich durch das Verbot für Kleriker, politischen Parteien anzugehö‐ ren, endgültig des politischen Katholizismus zu entledigen. Die Kirche versuchte ihre institutionellen Wirkungsmöglichkeiten in Bildung und Er‐ ziehung zu erhalten, wohl wissend, dass man, so Wolf, einen „Pakt mit dem Teufel“55 geschlossen hatte. Die Hoffnung auf Absicherung und Übergang zur Normalität erwies sich als trügerisch, da es in den nächsten Jahren zu vielfachen Verletzungen der konkordatären Bestimmungen von Seiten der Regierung und zu weiteren gegen die Kirche gerichteten Maß‐ nahmen kam. Die interkonfessionell-orientierten Reformkatholiken aller‐ dings, allen voran Richard Kleine, ließen sich davon nicht abschrecken; sie kritisierten zwar Übergriffe der Nationalsozialisten auf die Kirche, sa‐ hen den tieferen Grund aber in der uneinsichtigen Haltung der Kirche ge‐ genüber Staat und Partei. Die Enzyklika Mit brennender Sorge von 1937 protestierte gegen die vielfältigen Verletzungen des Reichskonkordats.56 Die Verfolgung der Ju‐ den allerdings wird überhaupt nicht angesprochen, obwohl Edith Stein schon 1933 über den Erzabt der Beuroner Benediktinerabtei einen gerade‐ zu prophetischen Brief an Papst Pius XI. geschickt hatte, in dem sie den Papst darum bat, seine Stimme gegen die Verfolgung der Juden zu erhe‐ ben.57

53 Orsenigo hatte dem Papst am 7. März 1933 berichtet, dass nur die Hälfte der Ka‐ tholiken Zentrum und BVP gewählt hätten, die übrigen sechs bis sieben Mio. größtenteils die NSDAP. Tatsächlich waren es höchstens 4 Mio. der 13 Mio. katho‐ lischer Wähler (ebenda, S. 181). 54 Ebenda, S. 190–193. 55 Ebenda, S. 202. 56 Pius XI., Enzyklika Mit brennender Sorge vom 14. März 1937, in: http://w2.vatica n.va/content/pius-xi/de/encyclicals/documents/hf_p-xi_enc_14031937_mit-brenne nder-sorge.html, eingesehen am 16. Mai 2016. 57 Text in: Helmut Kurz, Katholische Kirche im Nationalsozialismus. Ein Lese- und Arbeitsbuch für den Religionsunterricht, 2006, S. 348–350; Wolf, Papst und Teu‐ fel, S. 212–213 (Faksimile), s. auch ebenda, S. 208–216.

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„Alles, was geschehen ist und noch täglich geschieht, geht von einer Regie‐ rung aus, die sich ‚christlich‘ nennt. Seit Wochen warten und hoffen nicht nur die Juden, sondern Tausende treuer Katholiken in Deutschland – und ich den‐ ke, in der ganzen Welt – darauf, dass die Kirche Christi ihre Stimme erhebe, um diesem Missbrauch des Namens Christi Einhalt zu tun. Ist nicht diese Ver‐ götzung der Rasse und der Staatsgewalt, die täglich durch Rundfunk den Massen eingehämmert wird, eine offene Häresie? Ist nicht der Vernichtungs‐ kampf gegen das jüdische Blut eine Schmähung der allerheiligsten Mensch‐ heit unseres Erlösers, der allerseligsten Jungfrau und der Apostel? … Wir al‐ le, die wir treue Kinder der Kirche sind und die Verhältnisse in Deutschland mit offenen Augen betrachten, fürchten das Schlimmste für das Ansehen der Kirche, wenn das Schweigen noch länger anhält. Wir sind auch der Überzeu‐ gung, dass dieses Schweigen nicht imstande sein wird, auf die Dauer den Frieden mit der gegenwärtigen Regierung zu erkaufen. Der Kampf gegen den Katholizismus wird vorläufig noch in der Stille und in weniger brutalen For‐ men geführt wie gegen das Judentum, aber nicht weniger systematisch. …58

Dieser Brief blieb jedoch ohne Erfolg. Mitgliedschaft in einer nationalsozialistischen Priestergruppe und Radikalisierung 1938 wurde Kleine im Zuge des sog. Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich auf eine nationalsozialistische Priestergruppe aufmerk‐ sam, die in Österreich entstanden war und im ersten Halbjahr 1938 mit Billigung Kardinal Innitzers agierte und schließlich öffentlich auftrat. Der geistliche Religionslehrer Johann Pircher aus Wien hatte diese Priester‐ gruppe, die sich Arbeitsgemeinschaft für den religiösen Frieden (AGF) nannte, gegründet.59 Die AGF pflegte einen guten Kontakt zu Kardinal In‐ nitzer und war innerhalb Österreichs stark vernetzt. Kleine wurde Mitglied der Gruppe und entwickelte sich neben dem Koordinator Johann Pircher, mit dem ihn bald eine enge Freundschaft verband, zum führenden Kopf der Gemeinschaft, vor allem in theologischen Fragen. Die österreichische

58 Kurz, ebenda, S. 349. 59 Im Rahmen eines DFG-geförderten Forschungsprojektes entsteht derzeit neben der Biographie Richard Kleines eine Studie über die Arbeitsgemeinschaft für den reli‐ giösen Frieden und ihre Nachfolgeorganisation; bisher s. Josef Lettl, Die Arbeits‐ gemeinschaft für den religiösen Frieden, Dipl.arb. Linz 1981; Franz Loidl, Religi‐ onslehrer Johann Pircher. Sekretär und aktivster Mitarbeiter in der Arbeitsgemein‐ schaft für den religiösen Frieden 1938, 1972 (Miscellanea aus dem Kirchenhistori‐ schen Institut der Kath.-Theol. Fakultät Wien 25).

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Bischofskonferenz sprach nach dem Scheitern eines Abkommens zwi‐ schen den österreichischen Bischöfen und der NS-Regierung über Status und Rechte der Kirche und auf vatikanischen Druck hin ein Verbot der AGF aus. 60 Der engere Kreis der AGF entschloss sich daraufhin, als „ille‐ gale“ Gruppe weiterzuarbeiten und das Ziel einer Aussöhnung der Kirche mit dem NS-Staat weiter zu verfolgen.61 Kleine erweiterte daraufhin seine Ökumene-Konzeption. Hinsichtlich der evangelischen Kirche konzentrierte er sich auf die Deutschen Christen und regte an, Völkisch-Religiöse mit einzubeziehen. So entstanden Ver‐ bindungen zum evangelischen deutschchristlich geführten Eisenacher In‐ stitut zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben62 der Thüringer Landeskirche und zu einer völkisch-religiösen Gruppe um Ernst Graf zu Reventlow.63 Vertreter der drei Gruppen hielten mehrfach in den Kriegsjahren Tagungen und Konferenzen ab, mit dem Eisenacher In‐ stitut pflegte Kleine eine intensive Kooperation.64 Nach der Inthronisation Erzbischof Lorenz Jaegers von Paderborn am 19. Oktober 1941 wandte sich Kleine an diesen und vertraute ihm, ermutigt durch dessen brieflich ausgedrücktes Interesse an seinen Ideen, seine Vorstellungen für ein neues

60 Verbot der ‚Arbeitsgemeinschaft für den religiösen Frieden’ für Priester, in: Wie‐ ner Diözesanblatt Nr. 10 (30. September 1938), S. 124 f, abgedruckt in: Loidl, ‚Ar‐ beitsgemeinschaft für den religiösen Frieden‘ I, S. 58. Das Manuskript ist erhalten in: DAW, Akten Kardinal Innitzer, Kassette 18, Fasz. 1: Pircher, Johannes: Ar‐ beitsgemeinschaft für den religiösen Frieden, Bl. 62. 61 Nikolussi an Pircher, 11. Oktober 1938, in: ÖStA, Reichskommissar für die Wie‐ dervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich/Materie (1938–1940), Map‐ pe 2513/0 „Arbeitsgemeinschaft für den religiösen Frieden: Schriftwechsel Pisch‐ tiak“, Karton 176 (Reichskommissar 2513/176); Pircher an ehemalige Mitglieder der AGF, 11. November 1938, in: DAW, NL Karl Rudolf, Karton 46, Faszikel 4: Arbeitsgemeinschaft für den religiösen Frieden: Rundschreiben ARGE, Korre‐ spondenz Karl Rudolf – Johann Pircher. 62 Zum Institut s. Oliver Arnhold, „Entjudung“ – Kirche im Abgrund. Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928–1939 und das „Institut zur Erfor‐ schung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Le‐ ben“ 1939–1945, 2 Bde., 2010; Susannah Heschel, Das Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben, in: Uwe Puschner/Clemens Vollnhals (Hg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Na‐ tionalsozialismus, 2012, S. 249–264. 63 Horst Junginger, Die Deutsche Glaubensbewegung als ideologisches Zentrum der völkisch-religiösen Bewegung, in: Puschner/Vollnhals, ebenda, S. 65–102. 64 Lucia Scherzberg, Katholizismus und völkische Religion 1933–1945, in: Pusch‐ ner/Vollnhals, ebenda, S. 299–334, hier: S. 327–333.

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Verhältnis von Staat und Kirche an. Erzbischof Jaeger empfing den Religi‐ onslehrer mehrfach zu mehrstündigen Gesprächen.65 Johann Pircher warn‐ te den Freund – wohl zu Recht – davor, dass der Erzbischof ihn nur als willkommene Informationsquelle betrachtete.66 Jaeger betonte, dass er mit Kleine die nationale Einstellung teile, ebenso den echten Willen, zu einem tragfähigen Verhältnis zwischen Staat und Kirche zu gelangen, kritisierte aber vehement Kleines Kirchenbegriff und dessen politische Implikatio‐ nen.67 „Ihre Überlegungen fußen auf einem unrichtigen Kirchenbegriff. Sie sehen in der Kirche zu sehr nur eine mehr oder weniger menschliche Angelegenheit, die sich darum auch allen menschlichen geschichtlichen, politischen, sozialen etc. Schicksalen anzupassen hat.“68 Kleine regte ein Treffen mit dem Mecklenburger deutschchristlichen Landesbischof Walter Schultz an, der ebenfalls im Eisenacher Institut tätig war. Erzbischof und Landesbischof sollten in ihren jeweiligen kirchlichen Gremien, d.h. der Fuldaer Bischofskonferenz und dem Vertrauensrat der Deutschen Evange‐ lischen Kirche, auf den Beschluss eines gemeinsamen Hirtenbriefs beider Konfessionen zum Sammeln aller Kräfte im Kampf Deutschlands gegen den Bolschewismus hinwirken. Im März 1943 kam das Treffen zustande, führte aber für Kleine und Schultz nicht zu dem gewünschten Erfolg. Erz‐ bischof Jaeger ließ sich auf keine Entscheidung ein und ließ das Ganze im Sand verlaufen.69 In der Zusammenarbeit mit dem Eisenacher Institut entwickelte Kleine einen radikalen Rassen-Antisemitismus, den er theologisch zu untermau‐ ern suchte. Seine theologischen Begründungen wurden im Rundbrief der

65 Im NL Kleine ist ein umfangreicher Briefwechsel zwischen Kleine und Jaeger von 1942 fast bis zu Kleines Tod 1974 erhalten. Der erste Brief Jaegers ist auf den 17. März 1942 datiert; Kleine hatte den Erzbischof vermutlich schon mehrere Ma‐ le zuvor angeschrieben. S. auch Spicer, Hiler’s Priests, S. 194–201 (Fn. 10). 66 Pircher an Kleine, 25. Januar 1943, in: NL Kleine, JAM. 67 „Sie kennen mein großes Verlangen nach einem dauerhaften und wahren Frieden zwischen den beiden großen Ordnungsmächten in der uns zum Lebensraum aufge‐ gebenen Welt: zwischen Staat und Kirche. Wir alle leiden tief unter der Fremdheit und den Spannungen, die hier obwalten.“, in: Erzbischof Lorenz Jaeger an Kleine, 9. September 1942, in: NL Kleine, JAM. 68 Ebenda. 69 Richard Kleine, Nachträgliche Niederschrift über die Aussprache zwischen Erzbi‐ schof Jaeger=Paderborn, Landesbischof Schultz=Schwerin und mir am Donners‐ tag, den 25. März 1943, 13–15 Uhr in Paderborn (Erzbischöfliches Palais), in: NL Kleine, JAM; s. auch Spicer, S. 197–199 (Fn. 10).

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Priestergruppe veröffentlicht und auf verschiedenen Zusammenkünften diskutiert.70 Wie bereits erwähnt wurde die AGF in Österreich zunächst unterstützt – allerdings nicht von allen Bischöfen – , bevor sie im September 1938 of‐ fiziell von der Österreichischen Bischofskonferenz verboten wurde. Dar‐ aufhin arbeitete sie konspirativ im Untergrund und gewann im sog. Alt‐ reich Mitglieder hinzu, verlor aber insgesamt an Einfluss, weil sie nicht mehr offiziell geduldet wurde. Die Wahl Pius XII. zum Papst wurde von Kleine und seinen Gesinnungsgenossen zutiefst bedauert, weil sie von die‐ sem keinerlei Verständnis für ihre Anliegen erwarteten. Kleines Hoffnung hatte sich auf einen künftigen Papst, der Mussolini und dem Faschismus nahe stünde, gerichtet.71 1941 richtete die Fuldaer Bischofskonferenz einen Ausschuss für Or‐ densangelegenheiten ein, der sich mit der zunehmenden Bedrohung der Existenz der Klöster befassen sollte.72 Mitglieder des Kreises waren die Jesuiten Augustinus Rösch und Lothar König, die Dominikaner Odilo Braun und Laurentius Siemer, der Laie Georg Angermaier, Justitiar der Diözesen Würzburg und Bamberg, sowie die Bischöfe Konrad Graf von Preysing und Johannes B. Dietz. Über die unmittelbaren Ordensangele‐ genheiten hinaus wollte der Ausschuss auf einen Hirtenbrief der Bischöfe im Advent 1941 gegen die Verbrechen des Nationalsozialismus und für die Wahrung der Menschenrechte hinwirken, der auch die Judenverfol‐ gung thematisieren sollte.73 Die Bischöfe sollten öffentlich Stellung neh‐ men, um dem katholischen Volk, das auf ein Wort seiner Hirten wartete, Orientierung zu geben. Doch wurde das Vorhaben zugunsten einer Denk‐ schrift, d.h. also einer nicht-öffentlichen Aktion zurückgestellt. Als diese keinen Erfolg zeitigte, sollte der Hirtenbrief wieder in Angriff genommen werden, doch kam es aufgrund der Uneinigkeiten unter den Bischöfen im

70 Richard Kleine, Das Evangelium Jesu Christi als Kampfansage gegen das Juden‐ tum, unv. Ms., April 1943; zuvor schon ders., War Jesus ein Jude?, unv. Ms., 1939, beide in: NL Kleine, JAM; Lucia Scherzberg, Art. Kleine, Richard, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Wolf‐ gang Benz, Bd. 8, 2015, S. 85–86. 71 Kleine an Pircher, 10. Februar 1939 und 1. März 1939 (handschriftlich ergänzt: „war 2. 3.“). Pius XI. starb am 10. Februar 1939; Pacelli wurde am 2. März 1939 zum Papst gewählt. 72 Antonia Leugers, Gegen eine Mauer bischöflichen Schweigens. Der Ausschuß für Ordensangelegenheiten und seine Widerstandskonzeption 1941 bis 1945, 1996. 73 Ebenda, S. 241–260.

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Frühjahr 1942 nur zu einer Verlesung in einigen Diözesen.74 Die Fuldaer Bischofskonferenz verabschiedete in ihrer Konferenz im August 1943 zwei Schreiben an die Katholiken: eines, das die Opfer des Krieges thema‐ tisierte und zum Zusammenhalt aufrief und ein weiteres, den sog. Deka‐ log-Hirtenbrief, der die Verstöße des NS-Regimes gegen die Zehn Gebote auflistete. In der Endfassung des Textes waren manche Passagen des Ent‐ wurfes entschärft worden, aber dennoch handelte es sich um ein ver‐ gleichsweise klares Wort.75 Nach 1945 Die deutschen Bischöfe richteten am 23. August 1945 den anfangs er‐ wähnten Hirtenbrief an ihre Diözesanen. Dieser hob zuerst die oppositio‐ nelle Rolle der Katholiken und der Kirche hervor: „Katholisches Volk, wir freuen uns, daß du dich in so weitem Ausmaße von dem Götzendienst der brutalen Macht freigehalten hast. Wir freuen uns, daß so viele unseres Glaubens nie und nimmer ihre Knie vor Baal gebeugt haben. Wir freuen uns, daß diese gottlosen und unmenschlichen Lehren auch weit über den Kreis unserer katholischen Glaubensbrüder hinaus abgelehnt wur‐ den.“

Auch die Schuld vieler wird gesehen, hier aber steht die Zugehörigkeit zum deutschen Volk, nicht zur Kirche, im Vordergrund: „Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Leh‐ ren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben; viele leisteten durch ihre Haltung den Verbrechen Vorschub, viele sind selber Ver‐ brecher geworden.“76

Von einer Schuld oder Versäumnissen der Kirche als Institution ist nicht die Rede. Es überwog die Auffassung, unbeschadet und als respektierte moralische Instanz aus der Zeit der Bedrängnis hervorgegangen zu sein. Auch spätere Zeugnisse bis hin zum Schuldbekenntnis von Papst Johannes Paul II. sind von der ekklesiologisch bedingten Hemmung geprägt, nicht

74 Ebenda, S. 260–274. 75 Ebenda, S. 274–289. 76 Hirtenbrief, beschlossen von der Konferenz der katholischen Bischöfe Deutsch‐ lands in Fulda (23. August 1945), http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/docpage.cf m?docpage_id=5527, eingesehen am 16. Mai 2016.

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nur die Schuld einzelner Mitglieder der Kirche, sondern der Kirche als In‐ stitution einzugestehen.77 Die von den Bischöfen in den 60er Jahren einge‐ richtete Kommission für Zeitgeschichte, die die jüngste Vergangenheit der Kirche wissenschaftlich erforschen sollte, hat, Olaf Blaschke zufolge, eher „beschwichtigend und apologetisch“ auf die Rolle der Kirche im National‐ sozialismus geblickt. Blaschke definiert „apologetisch“ als „die Art und Weise der Vergangenheitskonstruktion …, die Katholiken, Pries‐ ter und Kirche (…) deutlich eher in ihren Leistungen würdigt denn in ihren Verfehlungen kritisiert, sie eher in eine positive (Demokratie, Sozialstaat) denn in eine negative Tradition (Autoritätshörigkeit) stellt und sie konkret mit Blick auf den Nationalsozialismus eher als Opfer denn als Mittäter, eher als im Widerstand denn in der Kollaboration (…), eher als Verfolgte denn als Verfolger, eher als Märtyrer denn als im regimeloyalen Teilkonsens Zufriede‐ ne perspektiviert und bei Vorhandensein beider Perspektiven die Positivbei‐ spiele derart hervorhebt, dass der Eindruck entsteht, sie seien repräsentativ für die Gesamtgruppe. … Es musste 2004 erst ein Amerikaner kommen, um die‐ sem Hauptstrom einmal eine Monographie über nationalsozialistische Priester entgegenzustellen.“78

Richard Kleine hatte nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus keinerlei Unrechtsbewusstsein, sondern war im Gegenteil von der Richtig‐ keit seiner Aktionen überzeugt. Er musste sich einem Entnazifizierungs‐ verfahren unterziehen, woraus er 1948 als unbelastet entlassen wurde. Sein Bischof in Hildesheim wollte ihn jedoch nicht mehr als Religionsleh‐ rer dulden und verweigerte ihm die kirchliche Erlaubnis.79 Allerdings ließ sich Bischof Joseph Godehard Machens später widerwillig darauf ein,

77 Z.B. Erinnerung und Verantwortung. 30. Januar 1933 – 30. Januar 1983. Fragen, Texte, Materialien, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1983 (Arbeitshilfen 30), 7; s. zu dieser Frage auch den Sammelband Rainer Ben‐ del (Hrsg.) Die katholische Schuld? Katholizismus im Dritten Reich – Zwischen Arrangement und Widerstand, 2002, der unterschiedliche Perspektiven vereinigt; sowie das Werk Karl-Joseph Hummel / Michael Kißener (Hrsg.), Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, 2009, das eher der Beschrei‐ bung Blaschkes entspricht. 78 Olaf Blaschke, Geschichtsdeutung und Vergangenheitspolitik. Die Kommission für Zeitgeschichte und das Netzwerk kirchenloyaler Katholizismusforscher 1945– 2000, in: Thomas Pittrof/Walter Schmitz (Hg.), Freie Anerkennung übergeschicht‐ licher Bindungen. Katholische Geschichtswahrnehmung im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts, 2010, S. 479–521, hier: S. 482 f. 79 Bischof Josef Godehard Machens an Kleine, 21. März 1947, in: NL Kleine, JAM: „Die Frage Ihrer Zulassung zur Erteilung katholischen Religionsunterrichtes ist hier gründlich und allseitig geprüft worden. Das Ergebnis ist leider negativ. Ihre

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Kleine mehrmals hintereinander befristet die Erlaubnis zum Religionsun‐ terricht zu geben, sodass Kleine auf Dauer wieder als Religionslehrer Fuß fassen konnte.80 Schließlich blieb der Geistliche bis weit über die Pensio‐ nierung hinaus seiner Schule erhalten. Kleine sprach nun nicht mehr vom Nationalsozialismus, hielt jedoch am Nationalismus und am Wert des Na‐ tionalen weiterhin fest. Abseits davon verlagerte der uneinsichtige Priester das völkische Denken auf den Bereich der Liturgie. Jedes Volk solle eine muttersprachliche und seinem völkischen Charakter angepasste Liturgie gegeben werden.81 Interessanterweise fokussierte Kleine sein Interesse darüber hinaus auf die Missionstheologie. Er nahm Kontakt zu dem Leiter des Missionswis‐ senschaftlichen Institutes in Münster, Prof. Dr. Thomas Ohm82, auf, be‐ suchte Missionsstudienwochen und verfasste Referate und Aufsätze zur Missionstheologie. Auch hier gelang es ihm, seiner Überzeugung von der Bedeutung der „völkischen“ Eigenart für die Religion den Anschein des Modernen zu geben. Die Traditionen und Sprachen der zu missionieren‐ den Völker wurden als etwas Positives, der Christianisierung Dienendes verstanden, das respektiert werden müsse. Dies hatte zusätzlich den Ef‐ fekt, dass die jüdischen Wurzeln des Christentums zwar nicht geleugnet, aber doch deutlich relativiert werden konnten. In einem Erinnerungsproto‐ koll der Missionsstudienwoche in Würzburg im Jahr 1956 schrieb Kleine: „Unter den Völkern, die wir für die Kirche gewinnen wollen, kann diese heilsgeschichtliche Vorbereitung durch den Alten Bund von den Missionaren nicht einfach kopiert werden. Zwar hat sie auch für diese Völker einen uner‐ läßlichen Verkündigungswert; deshalb muß ihnen auch dieses Alte der Hl. Schrift des Alten Bundes gepredigt werden. Aber diese Völker sind anders als Israel; und sie haben einen ganz anderen Werdegang durchlaufen. An diesem gilt es anzusetzen, wenn eine echte Kirchengeschichte sich unter ihnen entfal‐ ten soll. Irgendwie, allerdings in ganz anderer Weise, standen auch sie bis zu

Einstellung und Ihr Verhalten in der Zeit der Bedrängnis der Kirche und auch nachher waren bedauerlicherweise derart, dass sie mich zwingen, Ihr Gesuch um Zulassung zur Erteilung katholischen Religionsunterrichtes abschlägig zu beant‐ worten. Ich sehe mich überdies genötigt, Ew. Hochwürden den gutgemeinten Rat zu erteilen, sich von Duderstadt versetzen zu lassen.“ 80 Spicer, Hitler’s Priests, S. 212–215 (Fn. 10). 81 Richard Kleine, Audiatur et altera pars! Warum die Muttersprache in unserer Kir‐ che zu ihrem Recht kommen will, unv. Ms. v. 29. September 1960, in: NL Kleine, JAM. 82 Ein ausführlicher Briefwechsel zwischen Ohm und Kleine ist im NL Kleine erhal‐ ten.

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dem Augenblick, da ihnen das Evangelium verkündet wird, unter einem vor‐ bereitenden Heilswalten Gottes, und dem Reiche der Finsternis konnten sie unmöglich gänzlich verfallen.“83

In den Bereichen der Liturgie und der Missionstheologie konnte Kleine al‐ so seine Überzeugung vom Wert des Völkischen und Nationalen beibehal‐ ten und sie in ein modernes theologisches Gewand kleiden. Kleines Antisemitismus blieb auch deutlicher sichtbar bestehen, aller‐ dings nicht mehr in der krassen Form, wie er ihn in den frühen 40er Jahren vertreten hatte. Dem neu gegründete Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen, das von Johannes XXIII. auch beauftragt war, für das Zweite Vatikanische Konzil eine sog. Judenerklärung vorzubereiten, schickte er eine von antisemitischem Gedankengut durchzogene Eingabe, in der er hinsichtlich des Verhältnisses von Judentum und Christentum eine deutli‐ che Schuld auf der Seite der Juden sah.84 Die Ankündigung des Zweiten Vatikanischen Konzils und die Vorberei‐ tungen verfolgte Kleine mit großer Spannung. Wie unzählige Tagebuchno‐ tizen zeigen, verstand er auch dieses Konzil wiederum als eine Zeitenwen‐ de, die erhoffte Reformen bringen könne. Er griff auf sein 1942 von Erzbi‐ schof Jaeger gerügtes Kirchenverständnis zurück, dass Kirche durch und durch eine geschichtliche Größe sei. 1962, noch vor der Eröffnung des Konzils, notierte er: „Ehe unsere Theologie nicht imstande ist, den Inbegriff der Zeitenwende zu erklären, ja ehe sie überhaupt noch nicht angefangen hat, Kirche als eine auch geschichtliche Größe zu verstehen, ja als eine solche ‚par excellence‘, sind wir außerstande, zu unserer Zeitenstunde als einer Zeitenwende maßgebliches Urteil abzugeben.“85

Bis zu seinem Tode hielt Kleine an der Anschauung fest, dass sein Einsatz für den Nationalsozialismus nicht verurteilt werden könne. Der Natio‐ nalsozialismus als Gegenreaktion auf den kommunistischen Internatio‐ nalismus habe das nationale und das soziale Ethos in sich vereint und dies

83 Richard Kleine, Nova et Vetera. Ein Erlebnisbericht von der Missionsstudienwo‐ che zu Würzburg, Ms. o. Datum; s. auch ders., Stellungnahme zum „Nationalis‐ mus“ der Missionsvölker, Ms. o. Datum, beide in: NL Kleine, JAM. 84 Kleine an Augustin Kardinal Bea, 18. August 1962; Richard Kleine, Judentum und Christentum, unv. Ms. v. 19. August 1962; Kleine an Thomas F. Stransky, 23. August 1962, alle in: NL Kleine, JAM. 85 Theologie in der Zeitenwende, masch.schr. Notiz v. 16. Mai 1962, in: NL Kleine, JAM.

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hätte von der Kirche nicht beanstandet werden müssen. Noch 1972 notier‐ te er: „Im Gegenteil, da sowohl das soziale und nationale Ethos als keineswegs un‐ christlich anzusprechen ist, wie auch nicht einzusehen ist, warum seine wech‐ selseitige engste Verknüpfung im NS zu verurteilen sei. Deshalb hat es auch eine gar große Zahl von christgläubigen Deutschen gegeben, die diese Bewe‐ gung des NS aus ganzem Herzen begrüßt und sich ihr mit ganzem Herzen zur Verfügung gestellt haben. Wir müssen es endlich wahrhaben, daß diese Ka‐ tholiken und Protestanten wahrlich keine Verräter an ihren Kirchen gewesen sind, vielmehr späterhin, wenn aus größerer Distanz ein zureichendes Urteil über diese Vergangenheit ermöglicht sein wird, dieser Teil unseres Volkes ob seiner ehrlichen Bereitschaft in der großen Notzeit unseres Volkes achtungs‐ voll gewürdigt und nimmer mehr verachtet wird.“86

Schluss Die Haltung der katholischen Kirche zum Nationalsozialismus und ihr Agieren während der NS-Zeit muss differenziert betrachtet werden. Für Priester, die sich dem Nationalsozialismus verschrieben, spielten die kri‐ senhaften Auseinandersetzungen um die Positionierung der Kirche in der Moderne sowie der Erste Weltkrieg eine entscheidende Rolle. Das Kriegs‐ erlebnis, ob an der Front oder nicht, wurde für die Umdeutung der kirch‐ lich sanktionierten „modernistischen“ Einstellungen in eine Gemein‐ schafts- und Führer-Ideologie sowie eine Art Kairos-Theologie eingesetzt. Mit der Machtübernahme des Nationalsozialismus schienen die Hoffnun‐ gen erfüllt und der Weg zu einer umfassenden Veränderung auch der Kir‐ che gebahnt.

86 Richard Kleine, NS und die katholischen Deutschen, masch.schr. Notiz v. 10. Ja‐ nuar 1972, in: NL Kleine, JAM.

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Protestantismus und Nationalsozialismus. Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz Klaus-Dieter Grunwald

I Einleitung Mein Thema „Protestantismus und Nationalsozialismus: Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz“ könnte dazu verleiten, von einer einheitlichen Protestantismusgeschichte im Zeitraum von 1933 bis 1945 auszugehen. Diese Annahme ist jedoch unzutreffend. Es gab in der Zeit des Nationalsozialismus 28 eigenständige evangelische Landeskirchen, die unterschiedliche Konfessionen wie Lutheraner, Unierte und Reformierte repräsentieren.1 Da es keine einheitliche Protestantismusgeschichte gibt und ich Ihnen nicht die Unterschiede und Gemeinsamkeiten aller 28 evangelischen Lan‐ deskirchen vorstellen kann, bitte ich um Verständnis, dass ich im Folgen‐ den von meiner Landeskirche, der Landeskirche Nassau-Hessen, ausgehe. Anhand des von mir 2014 mit herausgegebenen Sammelbandes „Evan‐ gelische Landeskirche Nassau-Hessen und Nationalsozialismus“ möchte ich im Folgenden exemplarisch wichtige Aspekte und Entwicklungslinien meiner Landeskirche darstellen, die auch dazu beitragen sollen, das Ge‐ samtbild des Protestantismus in Deutschland zu beleuchten. Nach dem derzeitigen Forschungsstand waren von 1933 bis 1945 drei Typen protes‐ tantischer Regionalkulturen vorherrschend:2 Erstens gab es gespaltene Regionen. Meine Kirche, die Landeskirche Nassau-Hessen, gehörte dazu. Diese Landeskirchen waren gekennzeichnet durch eine grundsätzliche Verdoppelung ihrer institutionellen Strukturen: Regierende Kirche aus Deutschen Christen, Nationalsozialismus-hörigen Pfarrern und Juristen und parallel dazu Strukturen der Bekennenden Kirche (BK). Zu dem Typ

1 Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918 – 1933, 2008, S. 268 ff. 2 Manfred Gailus, Keine gute Performance. Die deutschen Protestanten im „Dritten Reich“, in: Manfred Gailus/ Armin Nolzen (Hg.): Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, 2011, S. 111 ff.

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gespaltener Regionen gehörten auch die meisten preußischen Kirchenpro‐ vinzen. Zweitens der deutsch-christliche regionale Weg, in dem ein völki‐ scher Protestantismus durch Kirchenregiment und Pfarrerschaft praktiziert wurde und der bei den evangelischen Mitgliedern erhebliche Resonanz fand. Die Landeskirchen Thüringen und Mecklenburg sind hierfür Bei‐ spiele. Drittens ist ein angepasster Weg zu nennen, der in den lutherischen Landeskirchen Hannover, Bayern und Württemberg vorherrschend war. Man bezeichnet diese Landeskirchen auch als sogenannte „intakte Kir‐ chen“, während meine Kirche, die von den Deutschen Christen und Natio‐ nalsozialisten in der Führung beherrscht wurde, als „zerstörte Kirche“ galt. Die konfessionelle Gliederung der deutschen Bevölkerung sah 1933 wie folgt aus:3 Gesamtbevölkerung : und davon: Angehörige evangelischer Kirchen Angehörige der katholischen Kirche Jüdische Religionsgemeinschaft

65,218 Millionen 40,865 Millionen (62%) 21,172 Millionen (32.3%) 0,5 Millionen (0,8%)

II Die Evangelische Kirche und die ungeliebte Weimarer Republik: Aus welchen Gründen scheiterte sie? Hat die evangelische Kirche die Weimarer Republik aktiv mitgetragen oder hat sie sich nur an die neuen Verhältnisse, insbesondere Demokratie, Parlamentarismus, Parteienherrschaft, Pluralismus angepasst oder hat die evangelische Kirche die Weimarer Republik gar abgelehnt? Offiziell hat sich die evangelische Kirche in politischen Angelegenhei‐ ten weitgehend indifferent und distanziert verhalten, nicht zuletzt auch mit dem Ziel, unterschiedlich gebundene Kirchenmitglieder nicht zu verprel‐ len. Für den konservativen Teil des Protestantismus war mit dem Unter‐ gang des Kaiserreichs ein in der protestantischen Tradition begründetes

3 Dietmar Petzina /Werner Abelshauser/ Anselm Faust, Sozialgeschichtliches Ar‐ beitsbuch Band III. Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914 – 1945, 1978, S. 31.

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Geschichtsbild zusammengebrochen. Dass die römisch-katholischen Na‐ tionen Frankreich, Italien, Belgien auf der Seite der Sieger standen, stand in schmerzlichem Widerspruch zu den bis zuletzt genährten Hoffnungen auf den erhofften Sieg der deutschen Waffen. Die Dolchstoßlegende fand deshalb in der evangelischen Kirche willige Ohren. Die Auseinander‐ setzung mit dem Versailler Friedensvertrag war ein protestantisches Dau‐ erthema der Weimarer Republik.4 In Nassau-Hessen war Prälat Diehl (er war im Bischofsrang) von 1919 bis 1927 als Vertreter der Hessischen Volkpartei, dem Regionalableger der Deutschnationalen Volkspartei, Mitglied des Hessischen Landtages, weil die Kirchenleitung glaubte, dass die kirchlichen Interessen durch eine ge‐ eignete Leitungspersönlichkeit vertreten werden müssten. In einer internen Stellungnahme wird dies ausgeführt, zugleich aber auch die Überpartei‐ lichkeit der evangelischen Kirche betont.5 Am Ende der Weimarer Republik sind es nicht nur die Anhänger der Deutschen Christen, die die nationale Revolution und Hitler begrüßten. „Ja zum Staat, Nein zur Demokratie“, so hieß die Parole, unter der weite Teile der evangelischen Kirche ebenfalls die „braune Revolution“ unter‐ stützten. Auch die meisten Mitglieder der späteren Bekennenden Kirche sagten zu Hitler und seiner Regierung Ja. Sie begrüßten den Neubau des Staates und vor allem die Ankündigung der Liquidierung des „Versailler Schandfriedens“. Dieser Revisionspolitik Hitlers stimmten sie voll zu.6 Welche waren die Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik? Einmal ist hier die Wirtschaftskrise ab 1928/1929 zu nennen. Zum ande‐ ren aber auch die Tatsache, dass die Mehrheit der Bevölkerung und auch die Evangelische Kirche die Niederlage des Ersten Weltkrieges (Versailler Diktat) ablehnten. Hinzu kamen soziale Spannungen: Je mehr sich diese verschärften, umso stärker ertönte der Ruf nach dem starken Staat und einer Volksgemeinschaft unter einem starken Führer. Darüber hinaus be‐ stand eine Feindschaft gegenüber dem Bolschewismus. Zusammengefasst

4 Klaus-Dieter Grunwald, Kirchenkampf und Verwaltung aus gesamtkirchlicher Per‐ spektive in der Evangelischen Kirche Nassau-Hessen von 1933 bis 1945, in: KlausDieter Grunwald/Ulrich Oelschläger (Hsrg.), Evangelische Landeskirche NassauHessen und Nationalsozialismus. Auswertungen der Kirchenkampfdokumentation der EKHN, 2014, S. 58 f. 5 Ebenda, S. 59. 6 Günter Brakelmann, Evangelische Kirche im Entscheidungsjahr 1933/1934. Der Weg nach Barmen, 2010, S. 12 f.

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lässt sich sagen, dass der Protestantismus und der Nationalsozialismus, insbesondere ab 1933 in folgenden Punkten übereinstimmten:7 – – – – –

Nationale Restitution (Reichsidee) Starker Staat jenseits des Parteienhaders Kampf gegen den Bolschewismus und Bekenntnis zum sog. „positiven Christentum“. Diese Bezeichnung hatte die NSDAP in ihr Parteiprogramm aufgenommen.

Im Endergebnis ist die Weimarer Republik insbesondere daran gescheitert, dass es zu wenige Demokraten gab. Die wenigen Vernunftrepublikaner, die z.B. für die Einführung des Frauenwahlrechts 1919 gesorgt hatten, wa‐ ren nicht ausreichend. Aus staatsrechtlicher Sicht schreibt Michael Stolleis dazu in seiner „Geschichte des Öffentlichen Rechts“8 resignativ-ernüch‐ tert: „Die Staatsrechtslehrer hatten überdeutlich gemacht, dass sie nicht bereit waren, sich für die Republik einzusetzen, als sie in akute Gefahr ge‐ riet, und dass sie ihr keine Träne nachweinten, als sie verschwunden war.“ III Drei Phasen des Kirchenkampfes, exemplarisch erläutert an der Landeskirche Nassau-Hessen 1. Begriff des Kirchenkampfes aus evangelischer Forschungssicht Unter Kirchenkampf wird insbesondere der „Bruderkampf im eigenen Hause“ zwischen der Bekennenden Kirche und den Deutschen Christen in den Jahren 1933/1934 verstanden. Erst in zweiter Linie ist damit die Aus‐ einandersetzung zwischen dem Nationalsozialismus und der Landeskirche Nassau-Hessen gemeint. In der Forschung hat sich der Begriff „Kirchen‐ kampf“ als Epochenbezeichnung durchgesetzt.9 Im Folgenden stelle ich die Nazizeit in der Evangelischen Landeskirche Nassau-Hessen von 1933 bis 1945 in drei Phasen vor:

7 Büttner, Die überforderte Republik, S. 501 f (Fn. 1). 8 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland Band III. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914 – 1945, 1999, S. 202. 9 Grunwald / Oelschläger, Evangelische Landeskirche Nassau-Hessen und National‐ sozialismus, Vorwort, S. XI (Fn. 4).

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2. Die erste Phase des Kirchenkampfes (1933 bis 1934) Die neue Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) vom 11. Juli 1933 sicherte den Nazis die Macht. Die am 23. Juli 1933 durchge‐ führten Kirchenwahlen bescherten den Deutschen Christen – mit staatli‐ cher Wahlhilfe – einen großen Erfolg. Staatliche Finanzabteilungen bei den Verwaltungsstellen in Darmstadt und Wiesbaden sowie die staatliche „Beschlußstelle in Rechtsangelegenheiten der Evangelischen Kirche“ in Berlin sicherten die staatliche Bevormundung der Kirche rechtlich und fi‐ nanziell ab.10 In Hessen vereinigte der nationalsozialistische Ministerialdirektor Au‐ gust Jäger zwangsweise die bis 1933 selbständigen Landeskirchen Nassau, Hessen und Frankfurt am Main zur neuen Landeskirche Nassau-Hessen. Zahlreiche Gesetze sorgten dafür, den staatlichen Einfluss sicherzustellen und das nationalsozialistische Führerprinzip durchzusetzen. Die Einfüh‐ rung des Arierparagraphen in der Kirche war ein weiterer wichtiger Bau‐ stein der Gleichschaltung.11 Von besonderer Bedeutung ist die Konstituierung der Bekennenden Kir‐ che auf der Ersten Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche vom 29. bis 31. Mai 1934 in Wuppertal-Barmen. Ihr folgte im Oktober 1934 die Zweite Bekenntnissynode in Berlin-Dahlem. Sie erklärte das Notrecht der Evangelischen Kirche. Die Bruderräte wurden als Notkir‐ chenregiment eingesetzt mit der Aufgabe, die Kirche zu leiten.12 Zur Barmer Theologischen Erklärung, die für unsere Kirche auch heute noch von zentraler Bedeutung ist, weil darauf unsere Pfarrerinnen und Pfarrer ordiniert werden, möchte ich folgendes hinzufügen. Von grundle‐ gender Bedeutung war insbesondere die erste der sechs Thesen der Bar‐ mer Theologischen Erklärung. Sie lautet: „Wir verwerfen die falsche Leh‐ re, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“ Die Verfasser der Barmer Theologischen Erklärung, insbesondere der re‐ nommierte Theologe Karl Barth, betonten damit die alleinige Orientierung am biblischen Zeugnis von Jesus Christus. Sie wenden sich damit gegen die Irrlehre der Deutschen Christen, die die Bedeutung der natürlichen 10 Grunwald, Kirchenkampf und Verwaltung, S. 73 ff. (Fn. 4). 11 Ebenda, S. 76. 12 Ebenda, S. 82 ff.

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Gottesoffenbarung und auch die normativen Ordnungen in Schöpfung und Geschichte hervorhoben. Nach einer solchen Schöpfungsordnungslehre gehörte es auch zum Willen Gottes, dass junge Völker (wie das deutsche) wachsen und alt gewordene (wie das französische und englische Volk) verdrängen sollten.13 Die weiteren Thesen der Barmer Theologischen Erklärung erläutern un‐ terschiedliche Konsequenzen der Grundentscheidungen der ersten These. Bemerkenswert an der Barmer Theologischen Erklärung ist, dass die Ju‐ denfrage hier nicht erwähnt wird.14 3. Die zweite Phase des Kirchenkampfes (1935 bis 1937): Nassau-Hessen als staatlich gesteuerte Kirche Durch das Gesetz zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche vom 24. September 1934 (sog. Ermächtigungsgesetz) einschließlich 18 Durch‐ führungsverordnungen wurde der Reichskirchenminister unbefristet er‐ mächtigt, zur Wiederherstellung geordneter Zustände in den evangelischen Landeskirchen Verordnungen mit rechtsverbindlicher Kraft zu erlassen.15 Die Phase vom November 1935 bis Juli 1937 war gekennzeichnet durch staatlich gesteuerte Befriedungsversuche des Regimes, die institutionell durch einen von den Nazis eingesetzten Landeskirchenrat und später durch einen ebenfalls von den Nazis eingerichteten Landeskirchenausschuss sichergestellt werden sollten. Die Bekennende Kirche widersetzte sich die‐ sen Befriedungsversuchen – allerdings mit geringem Erfolg.16 4. Die dritte Phase des Kirchenkampfes: „Ein-Mann-Kirche“ unter Präsident Kipper (1937 bis 1945) Die letzte Phase des Kirchenkampfes (ab August 1937 bis zum 8. Mai 1945) wurde in Nassau-Hessen personell durch Paul Kipper geprägt, der als Präsident des Landeskirchenamtes vom Reichskirchenminister „die al‐ leinige Vollmacht zur Leitung der Kirche“ erhalten hatte (sog. Ein-Mann-

13 14 15 16

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Christoph Strohm, Die Kirchen im Dritten Reich, 2011, S. 48. Ebenda, S. 53. Grunwald, Kirchenkampf und Verwaltung (Fn. 4), S. 85. Ebenda, S. 87 ff.

Protestantismus und Nationalsozialismus

Kirche). Kipper führte dabei ab Oktober 1937 nicht nur die Verwaltungs‐ geschäfte, sondern übte auch – durch einen Geschäftsordnungstrick – die kirchenleitenden Funktionen einschließlich der geistlichen Leitung allein aus.17 Beschämender Tiefpunkt der rassistischen Judenpolitik in der Lan‐ deskirche war dabei die „Bekanntmachung über die Stellung der evangeli‐ schen Juden“ vom 17. Dezember 1941 und die Verordnung über den „Ausschluss rassejüdischer Christen“ vom 1. Juli 1942. Beide Maßnah‐ men wurden von Kipper administrativ perfekt umgesetzt. Der Einspruch des Landesbruderrates der Bekennenden Kirche half nichts mehr.18 Lassen Sie mich noch kurz auf den Hauptakteur des Kirchenkampfes in Nassau-Hessen, den Richter Paul Kipper, eingehen.19 Er wurde 1876 als Sohn eines Pfarrers in Berghofen bei Dortmund geboren. Ab 1922 war Kipper nach Richtertätigkeiten in Posen und Hagen Amts- und Landge‐ richtsrat in Wiesbaden. Er wurde ab 1933 durch August Jäger zum Präsi‐ denten des Landeskirchenamtes in Darmstadt ernannt. Dieses Amt übte er bis 1945 aus. Kippers Verhalten gegenüber der Bekennenden Kirche und insbesondere gegenüber widerständigen Pfarrern war durch ein tief ver‐ wurzeltes Obrigkeitsverständnis nach Römer 13 geprägt. Für ihn waren Ruhe und Ordnung in der Kirche oberstes Gebot. Darin sah er seine Hauptaufgabe. Ein Satz von Kipper verdeutlicht dies: „Pfarrer können pre‐ digen, was sie wollen, sie müssen nur gehorchen.“ Vom 1. Mai 1933 bis 1945 war Kipper Mitglied der NSDAP. Ab 1937 etablierte Kipper – unterstützt durch den Kirchenminister Kerrl – die sog. „Ein-Mann-Kirche“ in der Landeskirche Nassau- Hessen. Kipper übte dabei nicht nur administrative, sondern auch Kirchenleitungs‐ funktionen einschließlich der geistlichen Leitung aus. Rechtstechnischtechnokratische Maßnahmen, wie z.B. Zwangsversetzungen, Gehaltskür‐ zungen und Ausweisungen gewährleisteten dieses System, insbesondere gegenüber resistenten Pfarrern. Kipper war mithin nicht nur ein zuverläs‐ siger Umsetzer des NS-Maßnahmenstaates im kirchlichen Bereich, er war auch immer linientreu und ideologisch zuverlässig. Im Entnazifizierungsverfahren wurde Kipper 1946 von der staatlichen Spruchkammer zu 5.000 RM Sühne verurteilt, weil er schwere Mitverant‐ wortung für die unkirchlichen Kirchengesetze der fraglichen Zeit trage. Kipper starb 87-jährig 1963 in Darmstadt. 17 Ebenda, S. 91. 18 Ebenda, S. 96. 19 Ebenda, S. 97 ff.

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Zur Frage des Widerstandes in der evangelischen Kirche: Einen evan‐ gelischen Widerstand, verstanden als Organisations- und Aktionsform po‐ litischen Widerstehens und der direkten Aktion gegen den NS-Staat, hat es nicht gegeben.20 Dietrich Bonhoeffer und Alfred Delp wussten, „dass Kir‐ chen keine Organisationen des politischen Widerstandes sein können. Die Kirchen standen auf der Grenze zwischen politischer Verantwortung und seelsorgerlichem Auftrag. In den politischen Untergrund konnten nur ein‐ zelne Kirchenmänner und christliche Laien gehen.“21 Die Perspektive des Widerstandes aus evangelischem Glauben betonte daher den individuellen Ausnahmefall widerständigen Verhaltens. Besonders hervorheben möchte ich, dass die christliche Motivation widerständigen Verhaltens in nicht we‐ nigen Fällen eine wichtige ökumenische Brücke zwischen Widerständigen der evangelischen und katholischen Kirche darstellte. Der bewusst inter‐ konfessionelle Charakter des Kreisauer Kreises ist dafür ein gutes Bei‐ spiel. IV Die evangelische Kirche und die Juden: ein dunkles Kapitel Der seit 1934 amtierende Landesbischof der Landeskirche Nassau-Hessen, Ernst-Ludwig Dietrich, hielt am 7. Dezember 1930 ein Referat über die Judenfrage, das die Haltung der evangelischen Kirche zu den Juden kenn‐ zeichnete. Dietrich war theologischer Professor und ausgewiesener Juda‐ ist. Er sagte wörtlich: „Die praktische Haltung des Christen den einzelnen Juden gegenüber ist die Nächstenliebe, die Stellung unseres Volkes die der Abwehr und Notwehr.“ Dieses Zitat ist in mehrfacher Hinsicht aufschluss‐ reich. Dietrich schließt sich nicht nur dem durch die Nazis propagierten antisemitischen Zeitgeist an, er betont auch den Paradigmenwechsel vom religiösen Antijudaismus zum rassisch-völkisch geprägten Antisemitis‐ mus.22

20 Rolf-Ulrich Kunze, Widerstehen aus evangelischem Glauben, in: Peter Steinbach/ Johannes Tuchel (Hg.), Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933 – 1945, 2004, S. 112. 21 Kurt Nowak, Kirchen und Religion, in: Wolfgang Benz (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus,1977, S. 201. 22 Ulrich Oelschläger, Der Kirchenkampf und die Juden in der Evangelischen Kirche Nassau-Hessen, in: Grunwald/ Oelschläger, Evangelische Landeskirche NassauHessen und Nationalsozialismus, S. 295 (Fn. 4).

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Protestantismus und Nationalsozialismus

Ähnliche Äußerungen finden wir auch bei Martin Niemöller, dem ers‐ ten Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, und weiteren Vertretern der Bekennenden Kirche. Der Antijudaismus war in der evangelischen Kirche nicht nur damals weit verbreitet, er geht prak‐ tisch auf die Reformation und Luther zurück. Dieses insgesamt dunkle Kapitel der Evangelischen Kirche und auch der Bekennenden Kirche findet erst nach 1945 in einem langen Prozess eine angemessene Neuorientierung. Nicht nur das Schweigen der Kirche wurde als Schuld anerkannt, sondern auch der Antijudaismus und erst recht der Antisemitismus wurden verurteilt. Eine der ersten EKD-Synoden in Berlin-Weißensee formulierte dies 1950 wie folgt: „Wir glauben, dass Gottes Verheißung über das von ihm erwählte Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist.“ 30 Jahre später ist dieser Satz von der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland wei‐ tergeführt und akzentuiert worden: „Wir glauben an die bleibende Erwäh‐ lung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, dass die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hinein genom‐ men ist.“23 Diese bleibende Erwählung Israels gehört inzwischen zum Konsens in der Gemeinschaft der evangelischen Landeskirchen. Meine Landeskirche hat 1990 ihren Grundartikel, den wichtigsten Artikel der Kirchenordnung, wie folgt ergänzt: „Aus Blindheit und Schuld zur Um‐ kehr gerufen, bezeugt die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekennt‐ nis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.“ V Zum Problemhorizont über 1945 hinaus: Stuttgarter Schulderklärung von 1945 und Darmstädter Wort von 1947 Bei der Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19.10.1945 handelt es sich nicht um einen Bußruf der Kirche an ihre Mitglieder, sondern vielmehr um eine Erklärung nach draußen, insbesondere an die evangelischen Kirchen außerhalb Deutschlands. Darin heißt es u.a.: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Ge‐ meinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi

23 Ebenda, S. 214.

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gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht bekennender geliebt haben.“ Was bedeuten diese mahnenden Worte? Wichtig ist an dieser Erklärung: Sie war nicht erzwungen wie 1919 die Unterschrift unter den Versailler Schuldartikel, und sie bewegte sich nicht in der Allgemeinheit liturgischer Schuldbekenntnisse, sondern er‐ hielt ihr Gewicht dadurch, dass sie eine bestimmte Schuld der evangeli‐ schen Christen konkret aussprach. In der deutschen Öffentlichkeit löste die Schulderklärung jedoch vielfach heftige Kontroversen aus. Und das ist vor dem Hintergrund der leidigen Kriegsschuld-Diskussion nach der Ers‐ ten Weltkrieg, ferner der Flüchtlingsströme, der drohenden Besetzung durch die Sowjets, der alliierten Bombardements bis in die letzten Kriegs‐ monate hinein und der ersten Entnazifizierung auch kaum überraschend. Bei der Schulderklärung handelte es sich nicht um eine „Kollektivschuld“, sondern um das Bekenntnis der Mitschuld, freilich nicht in dem Sinne, dass alle Deutschen Mörder, Räuber und Sadisten wären, wohl aber in dem Sinne, dass sie alle diese Dinge haben geschehen lassen, ohne sich so für die Opfer und gegen die Verbrechen einzusetzen, wie sie es gemusst hätten. Martin Niemöller sprach immer wieder von seiner eigenen Schuld, obwohl er ab 1937 bis 1945 persönlicher Gefangener Hitlers im KZ war. Lassen Sie mich noch kurz auf das Darmstädter Wort des Bruderrates der Bekennenden Kirche von 1947 hinweisen: Darin wird den falschen und bösen Wegen, insbesondere dem Nationalprotestantismus, eine ent‐ schlossene Absage erteilt, u.a. mit der Absage an den Traum einer beson‐ deren deutschen Sendung. Eine weitere Absage betrifft die traditionelle Überbewertung von starker Regierung im Innern und militärischer Macht‐ entfaltung nach außen, die Verneinung des Rechts zur Revolution und die duldende Hinnahme der Diktatur. Dieses Darmstädter Wort ist zum Teil auf heftige Kritik auch innerhalb der Bekennenden Kirche und insbeson‐ dere im Osten Deutschlands gestoßen. Bei beiden Stellungnahmen ist be‐ merkenswert, dass das dunkle Kapitel der Evangelischen Kirche, nämlich der Umgang mit den Juden, mit keinem Wort erwähnt wird.24

24 Vgl. insbesondere zur Nachkriegszeit Martin Greschat, Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945 – 2005), 2010, S. 16 ff.

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Protestantismus und Nationalsozialismus

VI Schlußbemerkungen Der Kirchenkampf war im Wesentlichen ein Bruderkampf im eigenen Hause zwischen der Bekennenden Kirche und den Deutschen Christen. Den Weltanschauungskampf mit der NS-Ideologie und dem verbrecheri‐ schen Staat hat die Evangelische Kirche im Wesentlichen gescheut. Die Evangelische Kirche hat aus dem dunklen Kapitel des Nationalso‐ zialismus jedoch gelernt. Die „Schuldfrage“ war dabei ein Motor des Wandels im Protestantismus in der Nachkriegszeit. Die „nationalprotes‐ tantische Erblast“ und ihre Auswirkungen hat die Evangelische Kirche spätestens in den 1970er Jahren überwunden. Besonders hinweisen möchte ich darauf, dass die Evangelische und die Katholische Kirche in Deutschland zu einer tragfähigen Ökumene gefun‐ den haben, die auch Schwierigkeiten zu überwinden in der Lage ist. In der Nachkriegszeit haben sich die beiden Großkirchen in Deutschland, worauf in der Forschung häufig hingewiesen wird, zu wichtigen zivilgesellschaft‐ lichen Akteuren entwickelt, die unsere Gesellschaft im Rahmen des Grundgesetzes aktiv mitgestalten.

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Zeittafel (Kirchen/Rostock)

5.8.1931

Katholische Bischöfe erklären eine Mitgliedschaft in jeglichen christentums- und kirchenfeindlichen Partei‐ en und Vereinigungen für unerlaubt

Juni 1932

Gründung der Deutschen Christen (DC) innerhalb des deutschen Protestantismus als eine rassistische und fa‐ schistische Gruppierung, die sich an der Ideologie des Nationalsozialismus ausrichtet

4. 2. 1933

Die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz des deutschen Volkes“ schränkt die Versammlungsund Pressefreiheit ein und erweitert die Anwendungs‐ bestimmungen der „Schutzhaft“

28. 2. 1933

Die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ („Reichstagsbrandverord‐ nung“)setzt Grundrechte außer Kraft und schränkt die Unverletzlichkeit der Wohnung und des Eigentums‐ rechts ein

5. 3. 1933

Die NSDAP verfehlt bei der Reichstagswahl mit 43, 9 % die absolute Mehrheit

23. 3. 1933

Der Reichstag beschließt mit den Stimmen des Zen‐ trums das sog. Ermächtigungsgesetz. Die Regierung kann damit künftig Gesetze ohne Zustimmung des Par‐ laments erlassen.

28.3.1933

Das Verbot der Mitgliedschaft in der NSDAP wird durch die katholischen Bischöfe praktisch aufgehoben

11. 6. 1933

Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK)

20. 7. 1933

Abschluss des Reichskonkordats zwischen dem Heili‐ gen Stuhl und dem Deutschen Reich

23. 7. 1933

Kirchenwahlen in den Evangelischen Landeskirchen 237

Zeittafel

11.9. 1933

Gründung des Pfarrernotbundes, der später zur Beken‐ nenden Kirche (BK) wird

29. - 31. 5. 1934

Die Barmer Bekenntnissynode verabschiedet die „Bar‐ mer Theologische Erklärung“, die sich insbesondere gegen die Gleichschaltungspolitik der Nazis wendet

30. 6. 1934

Röhm – Putsch

19./20. 10. 1934

Zweite Reichsbekenntnissynode in Berlin-Dahlem. Das Dahlemer Notrecht ruft als vorläufige Kirchenlei‐ tung den Reichsbruderrat ins Leben. Dieser erkennt die Autorität der offiziellen Kirchenbehörden nicht an.

15. 9. 1935

Nürnberger Gesetze. Juden verlieren ihre staatsbürger‐ lichen Rechte, Eheschließungen von Juden und Nicht‐ juden werden verboten.

21.3.1937

Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“von Papst Pius XI wird verlesen

8. -13. 11. 1938

Von der NSDAP reichsweit organisierte Judenprogro‐ me (Reichskristallnacht)

2.3.1939

Wahl Eugenio Pacellis zum Papst (Pius XII)

Oktober 1939

Beginn der Euthanasie-Morde an geistig behinderten Anstaltspatienten

10.4.1940

Kardinal Bertram gratuliert Hitler telegrafisch zum Ge‐ burtstag, ohne dies mit den anderen Bischöfen abzu‐ stimmen

1940 - 1942

Gewaltsame Beschlagnahme und entschädigungslose Enteignung von reichsweit über 300 Klöstern und ka‐ tholischen Einrichtungen („Klostersturm“)

20. 1. 1942

Wannsee-Konferenz

1941

Einrichtung des Ausschusses für Ordensangelegenhei‐ ten durch die Fuldaer Bischofskonferenz als Reaktion auf den Klostersturm

238

Zeittafel

3.8.1941

Bischof von Galen predigt gegen die Euthanasie-Maß‐ nahmen

November 1941

Gescheiterter Hirtenbriefentwurf der katholischen Bi‐ schöfe gegen die Verletzung von Rechtsgrundsätzen (wurde nicht verlesen)

22. Mai 1942

Verurteilung der Dompropstes Bernhard Lichtenberg

1. 7. 1942

Verordnung über den Ausschluss rassejüdischer Chris‐ ten aus der Landeskirche Nassau-Hessen, vergeblicher Protest der Bekennenden Kirche

August 1943

Dekalog-Hirtenbrief der katholischen Bischöfe

8. 5. 1945

Kapitulation des Deutschen Reiches

23. 8. 1945

Hirtenwort des katholischen Episkopats über Bewäh‐ rung und Versagen der deutschen Katholiken während der NS-Zeit

18./19.10.1945

Stuttgarter Schulderklärung. Treffen des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands mit ausländischen Kirchenvertretern ( Voraussetzung für ökumenische Gemeinschaft und materielle Hilfen)

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Herrschaftstechnik und Herrschaftsfelder: Wissenschaft

Der Universitätshistoriker Edward Y. Hartshorne Uta Gerhardt

Als Universitätshistoriker ist der amerikanische Soziologe Edward Y. Hartshorne (1912-1946) durch The German Universities and National So‐ cialism – erschienen 1937 zeitgleich in London und bei der Harvard Uni‐ versity Press – bis heute ein Klassiker: Er ist Zeitzeuge der Zerstörung der deutschen Universität durch den Nationalsozialismus. Mein Vortrag stellt Hartshornes Analyse in den zeitgenössischen Zusammenhang und be‐ leuchtet anhand seiner Befunde die Diktatur aus der Perspektive der De‐ mokratie. Das Werk entsteht als Ph.D. dissertation im Programm History of Cul‐ ture des History Department der Universität Chicago, betreut durch den 1914 aus Deutschland emigrierten Louis Wirth. Mentor ist Talcott Parsons – damals ein junger Soziologe der Harvard-Universität, der 1927 in Hei‐ delberg mit einer Arbeit über Max Weber und Werner Sombart promoviert und 1930 die englische Übersetzung von Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus vorgelegt hat. Parsons wird sich Jahrzehn‐ te später erinnern, dass für ihn bei seinem Deutschlandbesuch im Sommer 1930 die SA-Horden auf den Strassen zutiefst erschreckend waren: „… und es kam nicht völlig überraschend, als Hitler 1933 die Macht ergriff. … Die Nazibewegung bekämpfte nicht nur alles Intellektuelle, sie stellte alles Moralische in Frage. … Ich hatte Deutschland seinerzeit wenige Jahre vorher lieben und achten gelernt. Die entscheidende Frage: Warum und wie konnte eine doch in vieler Hinsicht ‚akzeptable Gesellschaft’ sich derart verän‐ dern?“1

1 Talcott Parsons, Part II: Historical Interpretations (Einleitungtext zum Wiederab‐ druck von vier Arbeiten zum Nationalsozialismus) in: Politics and Social Structure, New York 1969, pp. 59-63, cit. p. 60: „and it could no longer be drastically surpris‐ ing that by early 1933, Hitler would assume power. … The Nazi movement present‐ ed not only intellectual, but also profoundly moral, problems. … I had come to love and respect that aspect of Germany which I had known. The critical question was, Why and how could this happen in what from so many points of view should be evaluated as a ‘good society’.”

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Uta Gerhardt

Während des achtmonatigen Deutschlandsaufenthalts 1935-1936 sind die Hartshornes in Berlin Gast im Hause Friedrich Meinecke – Elsa Hartshor‐ ne ist die Tochter des Harvard-Historikers Sidney Fay, dessen Kritik an der These alleiniger Kriegsschuld Deutschlands in den USA damals heftig diskutiert wird: Fay wird Meinecke 1936 für die Ehrendoktorwürde in Harvard vorschlagen. Meinecke, der 1935 als Herausgeber der Histori‐ schen Zeitschrift verjagt wird, unterstützt Hartshorne bei der Suche nach den aussagekräftigen Quellen für seine Recherche – und dieser dichtet vierzehn Strophen eines Spottlieds auf die Preußische Staatsbibliothek: „Die Angestellten, Sie nehmen Acht, Dass all’ seine Bücher werden zurückgebracht. – Die Mehrzahl der Bücher, Die er studiert, Sind entweder verboten oder sekretiert. – Sie sagen „Heil Hitler!“ Und heben die Hand Und für sein Schweigen Haben keinen Verstand. – Beim Abschied die Angestellten Reichten ihm die Hand Und wünschten ihm all’ Glück Nach seinem eigenen Land. – Aber komischerweise, In der Zeit nachher Blieben die Gallerieplätze Für immer leer.“2

Insgesamt gehören sechs weitere Arbeiten in den Zusammenhang des Uni‐ versitätsbuches. „The German Intellectual of Today“ ist ein teilweise handschriftliches Arbeitspapier mit Überlegungen und Beobachtungen aus der Zeit in Berlin.3 Die Abhandlung „The German Universities and the Government“ führt 1938 die Analyse des Vorjahres fort4, und außer „Shaping the German Mind“, erschienen 19395, sind zwei Arbeiten zu er‐ wähnen, die in den Studentenzahlen ein Symptom sehen6, bis dann im Au‐ gust 1940 in der New York Times noch ein Feature erscheint, das eindring‐

2 Das Spottlied – Melodie „da oben am Berge es steht eine Kuh“ – ist im Nachlass erhalten geblieben, den mir Robin Hartshorne, der Sohn, freundlicherweise zugäng‐ lich gemacht hat. 3 The German Intellectual of Today, Hartshorne-Nachlass. 4 The German Universities and the Government, The Annals of the American Acade‐ my of Social and Political Science, vol. 200, Nov. 1938, pp. 210-234. 5 Shaping the German Mind, Journal of Adult Education, vol. XI (Heft 1), Januar 1939, pp. 10-16. 6 Numerical Changes in the German Student Body, Nature, vol. 142, July 1938, pp. 175-178; Metabolism Indices and the Annexation of Austria: A Note on Method, American Journal of Sociology, vol. 45, 1939/1940, pp. 899-917.

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Der Universitätshistoriker Edward Y. Hartshorne

lich auf die Situation der Studenten und Dozenten aufmerksam macht, die schonungslos dem Terror ausgesetzt sind.7 I. Die Universität unter dem NS bis 1935/1936 The German Universities and National Socialism ist eine Analyse, die in sechs Gedankensträngen die verschiedenen Seiten der Zerstörung der In‐ stitution anhand historischer Fakten und persönlicher Beobachtungen ver‐ anschaulichend nebeneinander stellt, ohne ein abschließendes Urteil fällen zu wollen – es geht um das „Revolutionäre“ insgesamt, die Universitäts‐ struktur, die Professoren und Studenten, das akademische Curriculum, die University Atmosphere, sozusagen das geistige Klima unter dem national‐ sozialistischen Vorzeichen, und zusammenfassend in einer vorläufigen Gesamtbeurteilung auch eine Aussage über die Zukunft der bisher welt‐ weit geachteten Wissenschaft in Deutschland. I. Das Revolutionäre der Universitätsreform. Die nationalsozialistische Revolution – so erläutert Hartshorne den angel‐ sächsischen Lesern – bezweckte einen Totalitarismus erstens durch die Zentralisierung der Macht im despotischen Staat bei Fusionierung mit der monopolistischen Partei und zweitens – von da aus – die totale Umfor‐ mung der Gesellschaft Deutschlands: Es geht um die Deinstitutionalisie‐ rung der Organisationen und die Entindividualisierung der Menschen. Die Diktatur greift nach den Universitäten durch einen Umbau mittels Refor‐ men, die mit den Schwerpunkten Politik und Verwaltung, Wirtschaft, Mili‐ tär, Deutsch- und Volkstum sowie Weltanschauung (Ideologie) alles Bis‐ herige verändern.8 Politik und Verwaltung: Da Deutschlands föderale Struktur zerstört wird, werden die Universitäten, seit je vom Staat – wiewohl mit traditio‐ neller Autonomie – abhängig, vorübergehend zu einem Drahtseilakt der prekären Doppelloyalität gezwungen, aber dann durch Gesetz 1935 unter

7 Harvard Instructor Reveals Nazis’ Effect on Education, New York Times, Zeitungsausschnitt ohne Datum, Seite 4 D – Education News, Hartshorne-Nachlass. 8 Hartshorne spricht von Political and Administrative Reform, Economic Reform, Military Reform, Eugenic Reform, Ideological Reform.

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das Führerprinzip gestellt, das alle bisherige Universitätsverfassung null und nichtig macht.9 Wirtschaft: Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit tref‐ fen die Universität empfindlich: Der Lehrkörper wird durch die Verdrän‐ gung der Juden, Sozialdemokraten etc. aus der Beamtenschaft dramatisch ausgedünnt; die Studentenzahlen werden durch rigide Zulassungsbe‐ schränkungen und außerdem die Einführung des Arbeitsdienstes als Zulas‐ sungsvoraussetzung wesentlich heruntergedrückt. Militär: Die Militarisierung erfasst die Universitäten; dies zeigt sich an der Bevorzugung der SA bei der Zulassung und der Stipendienvergabe, der Einführung bis zu 22 Stunden obligatorischer Lehrveranstaltungen zur körperlichen Ertüchtigung sowie außerdem die Wehrwissenschaft als eige‐ ner Disziplin und ferner Programm für Forschung und Lehre in allen Fä‐ chern. Deutsch- und Volkstum: Hartshorne sieht die Eugenic Reform darin, dass nur Deutsche (Arier) überhaupt Staatsbürger sind und zum Studium zugelassen werden sowie dass die körperliche über der charakterlichen, geistigen und völkischen Eignung der Studenten rangiert – was laut Minis‐ ter Rust dem verweichlichenden Intellektualismus entgegenwirke.10 Weltanschauung (Ideological Reform): Die im Propagandaministerium konzentrierte Kulturkontrolle bedeutet unter anderem, dass an den Univer‐ sitäten – durch Gesetz! – die Grußformel und die Grußform vorgeschrie‐ ben sind, dass der Studienplan für Jura per Reichsgesetzblatt verkündet

9 Dazu pp. 20-21: „Since the history of the administration of universities in Ger‐ many has been (for peculiar reasons) principally a history of their relation to the State, the whole subject of federalization and unification of political power is of the utmost importance for an understanding of the university situation of to-day, as weill be seen later in considering the three laws modifying the constitutions of the universities, of October 18th and 28th, 1933, and April 3, 1935, the last of which applied the ‚Leadership Principle’ to the organization of the university.“ 10 Dazu p. 28: „The educational system thus culminates from the eugenic point of view in the university, which is to be the last stage in a long selective process for the building up of a new ‚racial’ élite. To quote the Minister of Education, Rust: ‘One cannot hope to conquer a State such as that of Adolf Hitler with the virtues of Courage, Tenacity (Zähigkeit), and Loyalty, and at the same time cultivate in the schools an effete intellectualism.’”

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Der Universitätshistoriker Edward Y. Hartshorne

wird11 oder – wie eine zeitgenössische Stimme fordert – dass Denken auch auf Befehl zu geschehen habe.12 II. Universitätsstruktur und –verwaltung. Der Umbau der Universität hat eine Vorgeschichte in der Weimarer Repu‐ blik: Die Studenten machen sich nach 1918 zum Sprachrohr des Nationa‐ lismus und erreichen immerhin 1920, dass sie als Deutsche Studenten‐ schaft offiziell anerkannt werden. Aber ihre maßlose Agitation gegen libe‐ rale Professoren zwingt schließlich die Regierung zum Verbot, was die Studentenschaft noch weiter radikalisiert, bis sie 1933 ein eigener Macht‐ faktor des Universitätslebens wird. Durch Zerstörung der Kollegialität werden die Dozentenschaft und die Studentenschaft zu gleichgestellten hierarchischen Gliederungen unter dem Rektor, dem Führer der Universi‐ tät, der wiederum dem Minister untersteht. Die Fakultäten werden bedeu‐ tungslos, aber die Studentenschaft wird aufgewertet: Sie ist nur dem Rek‐ tor sowie dem Minister rechenschaftspflichtig, was allerdings die SA und die NSDAP aufwertet – zumal den Gauführer des NS-Studentenbundes (ranggleich dem Gauführer des NS-Dozentenbundes). Gemäß den Richtli‐ nien zur Vereinfachung der Universitätsverwaltung vom 3. April 1935 werden die Führer der Studentenschaft durch den Minister nach Rückspra‐ che mit dem Gauführer ernannt – auch die Studentenschaft verliert also jegliche Autonomie. Zwischen der Machtergreifung und dem Gesetz 1935 haben die Studen‐ ten an der Zerstörung der Universität mitgewirkt, indem sie Hetzkampa‐ gnen gegen liberale Professoren richten und etwa die Verbrennung der Bü‐ cher nicht extremistisch nationalistischer deutscher Autoren veranstalten – was die Professoren zu Bütteln der Studenten macht, so Hartshorne. Die solchermaßen bedrängte Professorenschaft erlebt zumal, dass die neuen Rektoren durch Versetzungen, Entlassungen etc. dramatisch in die Fakul‐ täten eingreifen. Auf sage und schreibe dreizehn verschiedene Arten, so

11 Ibid., p. 34. 12 Hartshorne zitiert einen Wilhelm Waidelich in der Zeitschrift der Deutschen Stu‐ dentenschaft 1935 – zu einem Zeitpunkt, als die Reichsstudentenschaft an den Universitäten einen Rang über den Fakultäten bekleidet (in englischer Über‐ setzung): „These investigators are driven by a command, and they seek knowledge only to be able to obey the command.“ (p. 35)

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Hartshorne, könne man einem Dozenten seine Entlassung übermitteln, da‐ bei sei das Ausscheiden aus Altergründen nicht mitgerechnet.13 Aber 1935/1936 werden auch die Studenten „im Geiste Horst Wessels“ am die Kandare genommen, denn Techniker und Fachleute werden in bestimmten Sparten dringend gebraucht. Durch die dauernden Proteste gegen die Pro‐ fessoren hat sich allerdings die akademische Ausbildung bereits drama‐ tisch verschlechtert, aber die Studentenschaft lässt in ihren Boykotten von Lehrveranstaltungen und Repressalien gegen nicht-nationalsozialistische Professoren nicht nach, zumal sie sich gegenüber dem NS-Studentenbund benachteiligt fühlt.14 III. Studenten und Dozenten. Studierende und Lehrkörper werden in den ersten drei Jahren drastisch ausgesiebt – ein Aderlass wie bei der Russischen Revolution 1917. Der Verlust auf Seiten der Studierenden beträgt ca. dreißig Prozent bis 1935. Der Rückgang setzt bereits 1929 bzw. 1931 ein, steigert sich in‐ dessen 1933 durch die Maßnahmen gegen die Überfüllung der Universitä‐ ten – Deckelung der Studentenzahl durch Zulassungsobergrenzen entspre‐ chend der Einwohnerzahl der Einzelstaaten, Erteilung der Hochschulreife nur nach einer neu eingeführten Prüfung, deren Schwerpunkt die charak‐ terliche Eignung und die politische Zuverlässigkeit sind, wo HJ, SA und SS bevorzugt werden, und außerdem die bewusst restriktive Quotierung für Frauen und sogenannte Nichtarier: Die soziale Zusammensetzung der Studierenden ändert sich wegen der gezielten Aussonderung zum Nachteil von Frauen, Juden, Söhnen aus höheren Gesellschaftsschichten und Stu‐ denten ohne Nazihintergrund. Der Verlust auf Seiten des Lehrkörpers durch Entlassungen, Versetzun‐ gen und Emigration ist dramatisch. Hartshorne belegt mit Tabellen, die die offiziellen Statistiken sowie Materialien des Academic Assistance Council in London auswerten: An der Medizinischen Hochschule Düsseldorf be‐ trägt die Entlassungsquote 50 Prozent, in Berlin dreißig, in Frankfurt und

13 Ibid., p. 53: „There are no less than thirteen ways of saying that an individual has been dismissed, not counting retirement because of age.“ 14 Ibid., p. 70:„The students constantly express support for the more radical aspects of the Nazi programme and persist in a disrespectful attitude to all professors who do not observe their standards.”

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Heidelberg 25 Prozent – durchschnittlich 20 Prozent der Fakultäten wer‐ den verjagt. Am stärksten betroffen sind die Medizin sowie die Sozialwis‐ senschaften und Jura: An den juristischen Fakultäten wird fast jeder ent‐ lassen, der Jude ist, und weitere fünf Prozent verlieren ihre Stellung aus anderen Gründen, wie sie das Gesetz vom 7. April 1933 vorgibt – Harts‐ horne spricht von Vorwänden (pretexts).15 Hinzu kommen allfällige Maß‐ regelungen und willkürliche Eingriffe in ungezählten Fällen: So kann einem Professor die Prüfungsbefugnis entzogen werden, seine Bezüge können ohne Vorwarnung Bezüge werden, oder ohne Einspruchsmöglich‐ keit wird er an eine andere Universität oder ein ihm fremdes Institut ver‐ setzt, wo kaum Arbeitsmöglichkeiten für ihn bestehen.16 Der wissen‐ schaftliche Nachwuchs wird durch Änderung der Habilitationsordnung na‐ tionalsozialistisch ausgesiebt – der Kandidat hat sich einer öffentlichen Lehrprobe zu unterziehen und muss sechs Monate Gemeinschaftslager ab‐ solvieren sowie in die nationalsozialistische Lehrerbildungs- bzw. Dozen‐ tenakademie eintreten. Die Veränderungen insgesamt machen die Fakultä‐ ten zur bedeutungslosen Fassade – nunmehr entscheiden NS-Stellen durch ihr Vorschlags-, Einspruchs- und Ernennungsrecht über das akademische Personal. Die Universität wird ihr eigenes Zerrbild: „eine universitas litterarum, in der das Schrifttum nichts mehr gilt, eine regel‐ rechte Karikatur der alten civitas academica, wo die Arbeit der Studierstube des Gelehrten zur politischen Sünde gemacht wird und die altgedient hochge‐ schätzte ‚Berufung’ zur Wissenschaft – ‚Wissenschaft als Beruf’ – überhaupt nichts mehr wert ist.“17

15 Ibid., p. 100. 16 Die Lebenssituation des Professors: „Uncertain of the duration of his appointment and even of his salary; continually on his guard before non-intellectuals critics; competing with glamorous, quasi-militaristic extra-curricular appeals for the inter‐ est of his students; lecturing before rows of brown-shirts, flanked in his seminars and informal discussion groups by zealous young Nazi teachers; in his free-time called upon to participate in official functions, and to read official papers and peri‐ odicals; harassed by the thought of his banished and often expatriated colleagues and masters; disgusted at the habit of compromise and self-deception practised by others and even forced upon himself; fearful or cynical with regard to the future, the university teacher lives a truly unenviable existence.” (pp. 101-102). 17 Ibid., p. 102. Der Literaturbezug: Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in Gesam‐ melte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922): „a universitas litterarum which has lost its respect for Letters, a veritable caricature of the old civitas academica, in which scholarly seclusiveness is decried as a political sin, and in which the worthy

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IV. Akademisches Curriculum. Wissenschaften und akademische Lehre haben nichts mehr mit Freiheit zu tun – nach den Vorgaben des Regimes sind nur Deutsche zu beachten, jü‐ dische Gelehrte und ihr Denken fallen weg; das Wissen soll die prakti‐ schen Disziplinen umfassen und die praxisfernen Wissensgebiete ausblen‐ den; außeruniversitäre öffentliche Belange sollen bei der Forschung im Vordergrund stehen, was aktuelle Themen aufzwingt. Die Veränderungen sieht man an fünf Stellen: 1. Studienfachwahl und Studienabschlüsse verschieben sich zahlen- und anteilsmäßig weg von der Medizin, Jura, der Philosophie und der evan‐ gelischen Theologie hin zur katholischen Theologie, Pharmazie und Zahnheilkunde, während gleichzeitig die Rassenkunde und Vorge‐ schichte (in den ersten zwei Jahren) überproportional zunehmen. 2. Praktisch verwertbare Disziplinen werden gefördert, und die weniger praktisch verwertbaren werden geduldet, sofern sie sich propagandis‐ tisch einspannen lassen, aber andere, die für beides nicht taugen, wer‐ den abgeschafft oder ausgedünnt. Zu den neuerlich praktisch verwert‐ baren Wissenschaften gehöre auch die Physik, die nämlich als „deut‐ sche Physik“ (vier Bände) sich darauf berufe, dass „in Wahrheit die Wissenschaft wie jedes andere menschliche Produkt rassisch und blut‐ lich geprägt ist.“18 3. Geschichte, Soziologie, Psychologie erhalten im Dienst der Volksge‐ meinschaft einen neuen Wissensauftrag, wobei die Juden aus der Fach‐ literatur getilgt werden. Die Rechtswissenschaft beteiligt sich an der Regimeapotheose, indem sie den Nazistaat zum Rechtsstaat erklärt, der den Sieg über den Liberalismus davongetragen habe.19

old German ‘calling’ of Science, ‘Wissenschaft als Beruf’ has well-nigh lost its meaning.” 18 Ibid., p. 113, zitiert wird Philipp Lenard aus dem Vorwort von Deutsche Physik, das Zitat in englischer Übersetzung: „In reality Science, like any other human product, is racial and conditioned by blood.“ Die Rückübersetzung ins Deutsche ist meine eigene. 19 Ibid., p. 118. Hartshorne zitiert Carl Schmitt: „By means of simple verbal asso‐ ciations like ‚National Socialist Legal State’ or ‚National Socialist German Legal State,’ clearest of all by the formula of the Reich-Jurist-Führer Hans Frank, ‚The German Legal State of Adolf Hiltler,’ the deep change of meaning will be estab‐ lished beyond doubt.“ (Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 95, 1935, p. 199).

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4. Die nationalsozialistische Studienordnung sieht einheitliche Studien‐ pläne für das Reich vor: Studiendauer und inhaltliches Grundstudium sowie Pflicht- und Wahlveranstaltungen werden normiert. Obligato‐ risch sind Rassenkunde und NS-konforme historisch-politische Vorle‐ sungen im Grundstudium. Teile der Universität werden in ausgelagert in außeruniversitäte Einrichtugen – so kann man Wirtschaftswissen‐ schaften nur noch an einer Wirtschaftshochschule studieren. 5. Der Reichsleistungskampf der Deutschen Studentenschaft lobt Preise für studentische Forschung aus, wo tausende „Teams“ sich mit Arbei‐ ten wie „Das Eindringen der römischen Kultur und des Christentums im Gebiet Niedersachsens“ (Univ. Berlin) oder „Clemenceau und der demokratische Nationalismus in Frankreich“ (Univ. Königsberg) um einen Reichspreis bewerben20: Damit wird der NS-Student zum Leis‐ tungsträger einer Wissenschaft, die sich dem Deutschtum verschreibt und politisch konforme Themen zum Leistungsstandard macht.21 V. Die University Atmosphere. Die Universitätsatmosphäre in der Traditionsuniversität hat die Professo‐ ren und die Studenten voneinander getrennt, und die Professoren hielten zudem Abstand voneinander (einen Faculty Club gebe es nicht), während Forschung in der Studierstube oder im Labor geschah: Aber nun greift die nationalsozialistische Universität nach der ganzen Person und diktiert den Wissenschaftlern auch deren Verhalten – was Hartshorne an sechs Einzel‐ tatsachen veranschaulicht:

20 Die Themen in der englischen Übersetzung: „The Penetration of Roman Civiliza‐ tion and Christianity into the Territory of Lower Saxony“, „Clemenceau and Democratic Nationalism in France,“ außerdem: „The Organization of a Silesian Mine“ (Technische Hochschule Breslau), „Philip Lenard, the German Scientist, and His Struggle for Nordic Research“ (Univ. Heidelberg), “Danzig Youth in the Struggle over the Free-City of Danzig from Versailles to the Present Day” (Tech‐ nische Hochschule Danzig). 21 Hartshorne zweifelt, ob dies auf die Dauer für die Wissenschaft gut ist: „[W]hether scientific truth can so easily be caught by the method of direct pursuit, and whether a policy of deliberate practicalization, especially under the direction of politically motivated taskmasters, is not to some extent self-defeating, only the fu‐ ture can tell.“ (p. 125).

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– Die Professorenschaft wird zur Teilnahme am Sport genötigt, mar‐ schiert in Zwölferreihen am 1. Mai durch die Stadt zum Tempelhofer Feld – Zweck sei a more sociable professorate. – Man wird genötigt, Deutsches Wollen, die Zeitschrift der Dozenten‐ schaft, und den Völkischen Beobachter zu abonnieren, schlimmer noch: Wer sich weigert zu erklären, ob Eltern oder Großeltern jüdisch waren, so sie schriftliche Anweisung des Rektors, muss mit Bestrafung wegen Verletzung des Diensteids rechnen. – Der vierzehntätige Rundbrief der Universität teilt mit: Briefverkehr mit dem Ministerium erfolgt ab sofort nur noch über den Rektor; Be‐ schwerden sind nur auf dem Dienstweg möglich; Studenten, die den Lehrveranstaltungen wegen SA-Veranstaltungen, Arbeitsdienst etc. fernbleiben, dürfen bei der Notenvergabe nicht benachteiligt werden; Gastdozenten aus dem Ausland bedürfen der Genehmigung durch das Erziehungsministerium, eventuell das Außenministerium – und mehr dergleichen. – Fritz Haber – als Jude – wird im Oktober 1933 entlassen; die For‐ schung dieses Nobelpreisträgers wird im Jahresbericht 1936 des Kai‐ ser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie kaum erwähnt; ein Jahr nach seinem Tod, als eine Trauerfeier in Berlin stattfindet, verbietet der Rektor den Universitätsangehörigen die Teil‐ nahme. – Die Universitätsbibliothek verlangt von den Professoren per Rundbrief, ihre Werke zu spenden; das Wissenschaftliche Hauptamt der Studen‐ tenschaft erklärt die Mittwoch Nachmittage frei von Lehrveranstaltun‐ gen; der Rektor lässt sich schriftlich offenlegen, ob jemand irgend ein‐ mal als Gutachter in Berufungsangelegenheiten einem Druck von an‐ derer Seite ausgesetzt war. – Das Amtsblatt der Friedrich-Wilhelms-Universität enthält alle Persona‐ lia – nicht nur die Ernennungen, sondern auch die Versetzungen, Ent‐ lassungen, Beurlaubungen etc., außerdem Verlautbarungen des Rek‐ tors, der Fakultäten, der Universitätsverwaltung, aber auch jene der Partei, der Arbeitsfront, der Fachschaften etc. Vor der American Asso‐ ciated Press wird gewarnt wegen angeblich unwahrer Meldungen (doubtful veracity); der Hitlergruß wird während beider Nationalhym‐ nen vorgeschrieben; dem Studentenwerk wird verboten, an einer Um‐ frage des Völkerbunds teilzunehmen etc. etc. – Die offizielle Feier des „Tages des nationalen Ruhms“ am 30. Januar 1936 an der Berliner Universität – eine Teilnahme ist Pflicht – besteht 252

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aus Sprechchören uniformierter SA-Studenten, keinerlei akademi‐ schem Programm, nur den Lobeshymnen auf die nationale Wiederauf‐ erstehung in einer rituell religiösen Atmosphäre. VI. The Broader Perspective. Das vorläufige Fazit: Die „Übernahme der aus der freien Wissenschaft be‐ gründeten Universität durch den dogmatisch totalitären Staat“22 heißt Zer‐ störung der Wissenschaft – Ende der intellektuellen Kultur – und Verein‐ nahmung durch den nationalen Staat, allerdings bei neuem Selbstgefühl der studentischen Jugend. Den historischen Hintergrund für die Veränderungen bilden die Kriegs‐ niederlage, die Inflation und Depression, ein weit verbreitetes Gefühl der Gefährdung deutscher Kultur während der Weimarer Zeit und teilweise auch eine Proletarisierung des Mittelstandes. Krisenbewusstsein hat überall zu Pessimismus und Fatalismus geführt, so dass in Deutschland die Wissenschaft, da sie durch den Nationalsozia‐ lismus herabgewürdigt wurde, sich nun sinnlos vorkommt. Gelegentlich gibt es „Wanderer zwischen den Welten“, wo noch die alte intellektuelle Kultur herrscht. Andere wollen „retten, was zu retten ist“, in‐ dem sie dem Regime dienen, aber sie hoffen inständig auf Änderung. Erklärungen, warum das Schicksal der Universitäten nicht aufzuhalten oder nicht unverdient wäre, gibt es in Deutschland überall, und als Gründe gelten 1.) die Überspezialisierung, 2.) der verbreitete Radikalismus, 3.) eine Überzahl an Juden, 4.) der Dauerstreit in den Fakultäten, und schließ‐ lich 5.) dass wissenschaftliche Objektivität ohnehin Chimäre sei. Tatsächlich, so Hartshorne, sind die psychologischen Ursachen für den Mangel an Kollegialität: 1.) Ressentiments gegen die jüdischen Kollegen, 2.) ein Gefühl der Benachteiligung gegenüber den Linken und wiederum den Juden, und außerdem 3.) Neid und Rache, also persönliche Motive. Alles in allem – so Hartshorne – sind die Gewinner des nationalsozia‐ listischen Universitätsumbaus die Studenten, der Sport und das Gefühl der

22 Ibid., p. 153: „In the last analysis the monopolization of the liberal scientific uni‐ versity by the dogmatic totalitarian State has meant a renewed emphasis on social at the expense of intellectual values. Science has, in a sense, become the political theology of a secular theocracy. Philosophy is once more ancilla theologiae. Dis‐ sent has become equivalent to heresy, and heresy against a State Belief is treason.”

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Volksgemeinschaft, also vor allem das Gesellschaftliche, aber der Haupt‐ verlierer ist die Wissenschaft, denn sie muss nicht nur den Verlust ihrer besten Denker verkraften, sondern ist auch mit einer „unterschwelligen Hypothek aus Selbstbetrug, Heuchelei und Kompromittierung“ belastet.23 Auch wenn die faschistische Diktatur in Deutschland zur Tragödie der deutschen Universität geworden ist, so Hartshorne abschließend, solle man sich klarmachen: „Deutschland allein wegen der ‚Sünden’ des Natio‐ nalsozialismus zu verdammen, hieße den verhängnisvollen Irrtum von Versailles zu wiederholen.“24 II. Vertiefung und Verbreiterung der Analyse 1938-1940 Die Untersuchung wird bis einschließlich Sommer 1938 in einer Abhand‐ lung vertieft und verbreitert, und kleinere Arbeiten beleuchten unter ande‐ rem die Folgen für die Wissenschaft und die Not der Professoren und Stu‐ denten. Einige nationalsozialistische Quellen, die Hartshorne berücksichtigt, und Werke zeitgenössischer Emigranten, darunter Emil Gumbels Sammel‐ werk Freiheit der Wissenschaft, worauf Hartshorne zurückgreift, werden im Folgenden mit herangezogen, um drei Themen zu beleuchten – die Wissenschaft ohne Wissenschaftsfreiheit, die Fakultäten und die Studie‐ renden der gleichgeschalteten Universität und – drittens – das Los der In‐ tellektuellen im Fadenkreuz der Gestapo. Wissenschaft ohne Wissenschaftsfreiheit: Otto Koellreutters Deutsches Verfassungsrecht25 – in der dritten Auflage, welche Harthorne benutzt – widmet den Universitäten zusammen mit den

23 „But far graver than the numerical loss is the hidden burden of self-deception, hypocrisy, and compromise. No true greatness is likely to emerge where there is such a pall of petty revenge and of hearless oppression as now hangs over the uni‐ versity scene in Germany.” (p. 170). 24 „To condemn Germany alone for the ‚sins’ committeed in the name of National Socialism is to perpetuate the fatal error of Versailles“ (p. 174) – der Schlusssatz des Buches. 25 Otto Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht. Ein Grundriss. 3. durchgesehene und ergänzte Auflage, Berlin: Junker und Dünnhaupt 1938.

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Schulen unter „Erziehung und Wissenschaft“ ganze zwei Seiten am Ende des Buches und behandelt „Freiheit der Wissenschaft“ in vier Feststellun‐ gen auf einer halben Seite26: (1) Der Intellektualismus habe zur „Zerset‐ zung der geistigen Kräfte im Volke“ geführt, also müsse „eine vorausset‐ zungslose und bindungslose Wissenschaft im Sinne eines entarteten Libe‐ ralismus“ verschwinden. (2) Trotzdem sei „im deutschen Führerstaate die Freiheit der Wissenschaft und der Forschung gewährleistet“ – denn statt der „Objektivität“ (in Anführungszeichen) der „Beziehungslosigkeit zur politischen Wirklichkeit“ herrsche nun in den Geisteswissenschaften die „Ausrichtung und schöpferische Hingabe an ihren Gegenstand“. (3) „Wis‐ senschaftliche Produktion“ entstamme der „schöpferischen Denkarbeit der Persönlichkeiten …, die sich ihrer Verantwortlichkeit gegenüber Volk und Staat bewusst sind“ – das heiße für Jura, „solche völkischen Persönlich‐ keiten können auch die Staats- und Rechtswissenschaft im deutschen Füh‐ rerstaate wissenschaftlich durchdringen und aufbauen“. (4) Durch Führer‐ erlass gebe es seit 1937 den „Deutschen Nationalpreis für Kunst und Wis‐ senschaft“ – gleichzeitig werde Deutschen die Annahme des Nobelpreises untersagt, woran Koellreutter nichts auszusetzen findet und nur lapidar mitteilt: „Die ersten Preisträger des Nationalpreises wurden auf dem Reichsparteitag der Arbeit verkündet.“ Welcher Wissenschaftsbegriff bei dem Durchdringen und Aufbauen et‐ wa der Staats- und Rechtswissenschaft im völkischen Sinne gemeint sein soll, ist schwer zu sagen: Im „deutschen Führerstaate“ gilt offenbar alles als Wissenschaft, was jedenfalls keinen Anstoß im Propaganda- oder Er‐ ziehungsministerium erregt – scheinbar können die Wissenschaftler selbst nicht beurteilen, ob und inwiefern ihr Denken wissenschaftlich zu nennen ist. Gumbels Freie Wissenschaft – im Untertitel „Ein Sammelbuch aus der deutschen Emigration“ – berichtet von Eingriffen in die Staats- und die Naturwissenschaften. Der Soziologe Gottfried Salomon geißelt bei den „Arrivisten der Jurisprudenz“27, dass sie der Abenteurerclique um Hitler dienen, um „sich zur Ausbeutung der Staatskrippe auf Dauer“28 anzubie‐ dern. Die Vernichtung mache allerdings vor nichts und niemandem Halt:

26 Sämtliche Zitate dieses Absatzes: Ibid., p. 207. 27 Gottfried Salomon, Staatsrecht in Deutschland, in: Emil Gumbel (Hrsg.), Freie Wissenschaft. Ein Sammelbuch aus der deutschen Emigration, Strasbourg: Sebas‐ tian Brant Verlag 1938, pp. 174-189, cit. p. 174. 28 Ibid., p. 188; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen.

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„Die Deutsche Juristenzeitung ist im 41. Jahrgang zugunsten der Konkurrenz eingegangen, die Tagung der deutschen Rechtslehrer vom Oktober 1936 hat den Staatsrat Carl Schmitt nicht vor dem Schwarzen Korps gerechtfertigt.“29

Carl Misch, Jurist und Journalist, der 1924 über den Hitler-Prozess 1924 berichtet und gegen die Dolchstoßlegende polemisiert hatte, weist in sei‐ nem klugen Aufsatz nach, inwiefern die NS‑Herrschaft eine Despotie ist30, nämlich Regime ohne Gewaltenteilung oder irgendwelche Kontrollen oder Einschränkungen – stattdessen „grenzenlose Willkür“, „kumulierte Äm‐ ter“, Bonzentum, das über den Gesetzen steht, eine privilegierte Herren‐ kaste, also eigentlich eine „orientalische Form auf deutschem Boden“.31 Julius Schaxel, ein in die Sowjetunion geflohener Biologe, schildert als „faschistische Verfälschung der Biologie“32, wie das Führerprinzip gar im Tierreich zu finden sein soll, und die NS-Rassenlehre mit ihren biologi‐ schen Irrlehren könnten sogar manche Deutschen nur mit Spott ertragen.33

29 Salomon: „Man muss sich wirklich fragen, ob ein Mann wie Carl Schmitt selbst glauben kann, was er sagt, wenn er bei der Eröffnung der ‚Wissenschaftlichen Vor‐ träge’ der Rechtswahrer ausführt: ‚Wir müssen den deutschen Geist von allen jüdi‐ schen Fälschungen befreien, Fälschungen des Begriffes Geist, die es ermöglicht haben, dass jüdische Emigranten den großartigen Kampf des Gauleiters Julius Streicher als etwas ‚Ungeistiges’ bezeichnen konnten.’ … Es handelt sich nicht darum, wie er meint, ‚den guten Namen eines jeden zu zerstören, der sich dem geistigen Herrschaftsanspruch’ (der jüdischen Emigranten!) entzieht, sondern es ist für jeden Menschen außerhalb der Grenzen unvorstellbar, welcher Mangel an Kritik und Freiheitssinn in Deutschland auch bei der sogenannten Intelligenz be‐ steht.“ 30 Carl Misch, Das Dritte Reich als Despotie, in: Emil Gumbel (Hrsg.), Freie Wissen‐ schaft, pp. 156-173. Die Themen im Folgenden entsprechen den Abschnitten der Analyse. 31 Ibid., pp. 172-173: „Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte ist der deutsche Staat eine Despotie. Nie war der Herrscherwille so unumschränkt. Der deutsche oder germanischen Art entspricht das keineswegs. … Das Bismarcksche Reich war ein Rechtsstaat. Wohl gab es in ihm Ausnahmegesetze und Rechtsungleichhei‐ ten, aber die Willkür war kein Wesensmerkmal des Systems.“ 32 Julius Schaxel, Faschistische Verfälschung der Biologie, in: Emil Gumbel (Hrsg.), Freie Wissenschaft, pp. 229-245. 33 Ibid., p. 241: „Der Berliner Volkswitz hat deswegen in den Märztagen 1936 vor der ‚Volksabstimmung’ nach der Rheinlandbesetzung folgende Klebezettel ver‐ breitet: Ein Krüppel, ein Irrer und ein Sadist, wollen euch lehren, was Rasse ist. Jeder Deutsche weiß, wer und was damit gemeint ist.“

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Gumbel steuert „Arische Naturwissenschaft?“34 bei: Die „deutsche Physik“ seines ehemaligen Heidelberger Kollegen Lenhard erstrebe „ari‐ sche Physik“ durch „Ausmerzung der nicht-nordischen Physik“35, ferner finde sich „Blubo“ in der Mathematik, gar „arische Mathematik“ – also Politisierung auch der Naturwissenschaften durch Eliminierung jüdischer Denker und ihrer Tilgung ihrer Erkenntnisse aus der Wissenschaft an den Universitäten: Gelegentlich, um nicht naiv oder doktrinär zu erscheinen, enthalte die Fachliteratur verklausulierte Vorbehalte gegen nationalsozia‐ listische Lehre. Hartshorne sieht keine despotische Lenkung der Wissenschaft, was für ihn sechs Punkte bezeugen: (1) Entlassungen geschehen weniger aus Anti‐ intellektualismus, sondern eher um Staatsfeinde zu treffen, wie sie das Re‐ gime bestimmt – so erleiden Jura und die Sozialwissenschaften die stärks‐ ten Verluste zwischen 1933 und 1937. (2) Die Regierung erstrebe Verstaat‐ lichung (nationalization) der Wissenschaft auch durch den Reichsfor‐ schungsrat, der nur weltanschaulich und politisch genehme Projekte för‐ dert, aber die Wissenschaftler entziehen sich dieser Politisierung und zie‐ hen sich auf Spezialthemen zurück – eine derartige Nische (closet re‐ search) bilde die Schriftenreihe Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte.36 (3) Die auferlegte Realitätsnähe und Regime‐ loyalität wird zur Schau gestellt, wenn etwa die Physik sich eine Wehrphy‐ sik zulegt oder die „Gesellschaft für physikalische Anthropologie“ in „Deutsche Gesellschaft für Rassenkunde“ umbenannt wird. (4) Am schwersten treffe die erzwungene practicaliziation indessen die Historie, denn statt die Vergangenheit zu beschreiben, „wie sie eigentlich gewesen“, muss sie für die Gegenwart das Werden des politischen Regimes zeigen: Da sind begriffliche Verbiegungen fast unvermeidlich. (5) Der NS-Staat stuft die Wissenschaften zwar entsprechend ihrem Nutzen ein, kann aber nicht verhindern, dass das Prinzip immer wieder letztlich durchbrochen wird. (6) Die Politik bleibt vage, aber die NS-Weltanschauung soll eines

34 Emil Gumbel, Arische Naturwissenschaft?, in: Gumbel (Hrsg.), Freie Wissen‐ schaft, pp. 246-262. 35 Ibid., p. 250. 36 Hartshorne, The German Universities and the Government (Sonderdruck, Hartshorne-Nachlass), p. 16.

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Tages „ein fruchtbarer Boden für das Wachstum der Wissenschaft“37 wer‐ den – wohlgemerkt nach NS-Vorgaben: „Der Wolf im Schafspelz zeigt sich … in Gestalt der Gesinnungsloyalität, welche der deutsche Staat der Gegenwart von den Wissenschaftlern verlangt, für die er weisungsbefugt ist.“38

Schließlich fällt das Urteil Hartshornes über eine Wissenschaft ohne Wis‐ senschaftsfreiheit vernichtend aus, wobei er allerdings noch hofft, das Schlimmste wäre vielleicht bereits vorüber: „Der neue Reichsforschungsrat hat die Macht, Forschungsprojekte den ‚Sol‐ daten’ der ‚Armee’ deutscher Wissenschaften ‚zuzuweisen’, sogar gegen de‐ ren Willen – im Namen der Sicherheit des Staates! … Forschungsergebnisse und Veröffentlichungen müssen sich durch Verwertbarkeit auszeichnen, ent‐ weder indem sie politisch für die Propaganda brauchbar sind oder für Deutschland gewinnbringend im Bereich Technik beurteilt werden. Es gibt keinen Platz für die ‚Intelligenz’ als gesellschaftliche Gruppierung in diesem totalitären Staat, und so gut wie nirgends gibt es Muße des Geistes, die doch unverzichtbar für schöpferische wissenschaftliche Leistung ist.“39

Studierende und Lehrende Die dramatischen Veränderungen bei Fakultäten und Studentenschaft – einschließlich Fächerwahl – beschäftigen Hartshorne in zwei Arbeiten des Jahres 1938: Statistische Befunde spiegeln den Totalitarismus. Eine Analyse im American Journal of Sociology40 dokumentiert anhand Zahlen für Österreich vor und nach der Übernahme durch Nazideutschland

37 Ibid., p. 19; dort auch die nächste Zitatstelle. Im Original: „a fruitful soil for the growth of science.“ 38 „The wolf in sheep’s clothing is, however, the particular form of ethical loyalty which the German state, constituted as it is today, demands from the scientists who are responsible toward it.“ 39 Ibid., p. 22: „The new National Research Council has the power to ‚assign’ re‐ search projects to the ‚soldiers’ in the nation’s ‚army’ of science whether they de‐ sire it or no – in the name of national security! Research work and publications must justify themselves on practical grounds, either as politically efficacious pro‐ paganda or as nationally useful technology. … There is no ‘leisure class’ in the German totalitarian state, and little enough of that leisure of mind so necessary for scientific speculation.” 40 Hartshorne, Metabolism I’ndices and the Annexation of Austria: A Note on Method, siehe Anmerkung 7.

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ähnliche Verschiebungen bzw. Verluste an den drei großen Universitäten wie in Deutschland nach 1933: Wien verliert ein Drittel seines Lehrkör‐ pers gegenüber 1937/1938, dabei ist die Juristische Fakultät mit 44 Pro‐ zent am stärksten, die Medizinische mit 31 Prozent am zweitstärksten be‐ troffen; insgesamt übersteigt der Verlust an Privatdozenten denjenigen der Ordinarien – die Fakultäten insgesamt verlieren ein Drittel ihrer Privatdo‐ zenten und ein Viertel ihrer Ordinarien. Ergänzend verdeutlicht Gumbel in Freie Wissenschaft die Sachlage41: Nicht nur die Entlassungen, Versetzungen und Beurlaubungen ändern die Personalsituation dramatisch, sondern neue Dozenten, die das nationalso‐ zialistisch geprägte Habilitationsverfahren durchlaufen, bestimmen ver‐ stärkt das Bild. Mit anderen Worten: Die Rekrutierung des Lehrkörpers er‐ folgt nicht nach der akademischen Tradition, sondern durch Einschleusen NS-konformer Lehrender.42 Zu Heidelberg – Gumbels früherer alma mater – bis 1937/1938: „21 von 50 Ordinarien, 28 von 71 a. o. Professoren und Privatdozenten sind neu ernannt. Am stärksten zeigt sich der Einfluss der Nationalsozialisten bei den Lektoren und mit Lehrauftrag Versehenen. Hier rücken die neuen Sys‐ temgrößen, die Kreisleiter und Pg.’s in Scharen ein. Drei Viertel aller Lekto‐ ren sind neu.“43

Gumbel berichtet zudem: An der Juristischen werden 1933 sieben der neunzehn Stelleninhaber entlassen, vier weitere fallen bis 1937 weg, hinzu kommen dann fünf unter nationalsozialistischem Vorzeichen – die Fakul‐ tät verliert also 11 ihrer 19 Dozenten und zählt nun 13 Mitglieder, darunter fast ein Drittel „neue Dozenten“, während in der Medizin, wo ein Drittel entlassen wurde, nun fast die Hälfte „neu“ sind. Hartshorne dokumentiert in Nature44, dass zwar der Rückgang der Stu‐ dentenzahlen bereits vor 1933 einsetzt, aber der Aderlass bis 1936-1937 – nicht nur wegen der Zulassungsbeschränkungen des Naziregimes – ist be‐

41 Emil Gumbel, Einleitung. Die Gleichschaltung der deutschen Hochschulen, in: Gumbel, Freie Wissenschaft, pp. 9-28. 42 Ibid., p. 17: „Von den Ordinarien und Privatdozenten wurde somit ein Drittel ent‐ lassen. … Durch diese Absetzungen sind nicht etwa die Provatdozenten und a. o. Professoren rasch in höhere Lehrstellen aufgerückt; im Gegenteil: die hoffnungslo‐ sen Privatdozenten stehen im Verzeichnis von 1936 genau an der gleichen Stelle und Reihenfolge wie 1932. Nur drei Privatdozenten, darunter ein Minister und ein Ministerialrat, haben es zum Ordinarius gebracht.“ 43 Ibid., p. 18. 44 Hartshorne, Numerical Changes in the German Student Body, siehe Anmerkung 6.

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sonders auffällig in bestimmten Fächern, wozu Jura und Sozialwissen‐ schaften (eine Kategorie) zählen: Die Neueinschreibungen sinken um 60 Prozent! Er gibt keine Erklärung für diesen dramatischen Rückgang bei Jura bis Ende der dreißiger Jahre. Aber man kann aus der zeitgenössischen Literatur eine plausible Hypothese herleiten, wie der Rückgang der Neu‐ einschreibungen für Jura sowie Staats- und Sozialwissenschaften zu erklä‐ ren sein mag. Bedenkt man, wie das Studium nun aufgebaut ist und eben‐ so wie die Berufe, die nach einem Jurastudium offenstehen, sich unter dem totalitären Regime drastisch verändern, denn eine unabhängige Judi‐ kative besteht nicht mehr, mag daraus das geringe(re) Interesse für Jura plausibel zu begründen sein. Dazu seien einige Fakten anhand des zeitgenössischen Schrifttums – zur Veranschaulichung – rekonstruiert. Zur Studiensituation: Die „Richtlinien für das Studium der Rechtswis‐ senschaft“ vom 18. Januar 1935 sehen ein verschultes Studium vor: Ein fester Semesterplan, für dessen Durchführung die Fakultäten zuständig sind, wird an allen Universitäten obligatorisch, und die Studenten sollen statt Repetitor ihrerseits Arbeitsgemeinschaften bilden. Die Programm‐ schrift Das Studium der Rechtswissenschaft – Autor ist der zuständige Mi‐ nisterialdirektor im Erziehungsministerium – vermerkt dazu: „Schult euch in Arbeitsgemeinschaften! Freiwillige, selbstgewählte Arbeit ist die beste Lehrmeisterin, Kameraden die besten Lehrer!“45 Der Studienplan sieht für Erstsemester die Pflichtvorlesungen „Vorgeschichte“, „Volk und Staat“ so‐ wie „Sippenforschung“ vor, für Zweitsemester „Volk und Rasse“, „Volks‐ kunde“ sowie „Bauer“ (als erste Vorlesung einer Reihe zu den Ständen Deutschlands). Im seinem Referat anlässlich der Tagung der Fachgruppe Hochschullehrer im Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ) im Dezember 1934 ermahnt derselbe Referent des Ministeriums seine Zuhörer, „hundertprozentige Nationalsozialisten auf der Universi‐ tät“, wie das Ministerium sie wünsche, seien nicht etwa lediglich „hun‐ dertprozentige Parteigenossen“: „Ich rechne nicht den zum Nationalsozialismus, der bloß in der Partei ist, son‐ dern den, der ihn erlebt hat. Verzeihen Sie mir das Wort: Viele von Ihnen sind aus ehrlichem Herzen mit der heutigen Zeit gegangen, aber gar mancher irrt sich, wenn er sich für einen Nationalsozialisten hält. Den Nationalsozialismus

45 Karl August Eckhardt, Das Studium der Rechtswissenschaft, Heft 11 „Der deut‐ sche Statt der Gegenwart“, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1935, p. 9.

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kann man – ich will nicht sagen: nur, aber – fast nur durch die SA erleben. Das ist ein Glaubensbekenntnis, das ich hier nicht vermeiden konnte.“46

Angesichts der Verschulung des Studiums mit seinem umfangreichen Pflichtprogramm und den obligatorischen militär-sportlichen und politi‐ schen Veranstaltungen bleibt dem Studenten kaum Spielraum für eigenes Arbeiten – dabei stehen die Lehrendem unter dem Damoklesschwert, „hundertprozentige Nationalsozialisten“ sein zu sollen. Das Jurastudium verliert infolgedessen im neuen Staat seine Attraktivität für Studenten, die keine Nationalsozialisten sind – zumal Recht und Macht zu ein und dem‐ selben im Staat ohne die Gewaltenteilung erklärt werden. Zur Berufssituation: Carl Schmitts Staat, Bewegung, Volk – 1935 in zweiter Auflage47 – erklärt den liberalen Rechtsstaat für obsolet, weil nun‐ mehr Recht und Staat, Recht und Macht, Geist und Staat, Recht und Poli‐ tik, Staat und Gesellschaft in einer „Dreigliederung der politischen Ein‐ heit“ aufgehen: Staat, Bewegung und Volk - dabei „Bewegung“ das Her‐ ausgehobene und „Staat“ und „Volk“ daraus begründet – bezeugen „Füh‐ rertum und Artgleichheit als Grundbegriffe des nationalsozialistischen Rechts“.48 Jenseits von Legislative und Exekutive (die Judikative wird nicht einmal erwähnt) mache dieser Staat das Beamtentum jenseits irgend‐ welcher „Beschluss- und Verwaltungs- oder Auslegungsorgane“49 zur Durchführungsinstanz für durch die Reichsspitze erlassene Gesetze: „Überall muss das System der Verantwortungsverteilung und –verschie‐ bung durch die klare Verantwortlichkeit des zu seinem Befehl sich beken‐ nenden Führers, und die Wahl durch Auswahl ersetzt werden.“ Das heißt: Für den Richter nach nationalsozialistischem Recht bedeute Unabhängig‐ keit, dass er sich vorbehaltlos dem Diktat der Bewegung füge: „Sowohl die ‚Objektivität’ des Beamtentums, insbesondere die ‚Unabhängig‐ keit’ der Richter, wie der unpolitische Charakter der volkstümlichen Selbst‐ verwaltungssphäre sind mit allen Vorteilen und Sicherheiten des Unpoliti‐ schen nur dadurch möglich, dass beide sich der politischen Führung und den politischen Entscheidungen der Staat- und Volktragenden Bewegung unter‐ werfen.“50

46 Ibid., pp. 24-25. 47 Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, 2. Auflage, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1935. 48 Ibid., pp. 32-46. 49 Ibid., p. 35; dort auch die nächste Zitatstelle. 50 Ibid., p. 17.

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Koellreutters Deutsches Verfassungsrecht51 behandelt unter „§ 38: Die Rechtspflege. 1. Das Wesen der Rechtspflege. – 2. Die Stellung des Rich‐ ters“ – auf insgesamt zweieinhalb Seiten: Die Rechtspflege stelle „eine Funktion des völkischen und staatlichen Lebens“52 dar, werde „nur im Rahmen der Gemeinschaftsregelung tätig, … ist nicht unmittelbar politi‐ sche Führung“. „’Justizmäßige’ Entscheidungen über die Gestaltung der völkischen Gemeinschaft“ seien nicht möglich, stattdessen: „Rechtspflege ist Dienst an der Gerechtigkeit. Die Anwendung des Satzes, Gerechtigkeit erhöht ein Volk, ist ein Grundprinzip des Führerstaates als nationalsozia‐ listischem Rechtsstaat“ – was vorbildlich der Volksgerichtshof verkörpere. Daraus – nämlich dem „Wesen der Rechtspflege“53 – folge die „verfas‐ sungsmäßige Stellung des Richters in dem notwendigen Zusammenhang von Unabhängigkeit und Bindung.“ Im nationalsozialistischen Führerstaat sei, dass Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind, inso‐ fern gewahrt, als „die Rechtspflege nicht zur politischen Führung gehört“ – was im Klartext heißt, wie kurz darauf unmissverständlich deutlich wird: „Selbstverständlich ist jeder Richter nicht nur an das formelle Gesetz, sondern in erster Linie an die nationalsozialistische Rechtsidee als letzte und oberste Rechtsquelle im nationalsozialistischen Rechtsstaat (vgl. oben § 15 Z. 1) ge‐ bunden. So wenig es eine politisch wurzellose Wissenschaft geben kann, so wenig hat es im Staate je eine politisch wurzellose Rechtspflege gegeben. … [Der Richter] hat die Gesetze nicht nur formell anzuwenden, sondern er hat sie aus dem Ideengehalt des Volks- und Staatslebens auszulegen und ist dabei an die von der Führung entwickelten Grundsätze gebunden.“54

Intellektuelle und Intelligenz Im unveröffentlichten – teilweise handschriftlichen – Manuskript The German Intellectual of Today veranschaulicht Hartshorne durch Anekdo‐ ten und Betrachtungen die Lage und das Weltbild derer, die im Nazi‐ deutschland keine Nazis sind bzw. möglichst keine werden wollen. Er schildert zum einen jene Go-Between, die sich einreden, sie brauch‐ ten nur nach außen hin gewisse Eingeständnisse zur Schau stellen, bis sie eines Tages bereit sind, einige Nazilehren immerhin jedenfalls einleuch‐

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Otto Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, dazu Anmerkung 26. Ibid., p. 181; dort auch die nächsten drei Zitatstellen. Ibid., p. 182; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. Ibid., pp. 182-183.

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tend zu finden – so die Studienrätin, die irgendwann glaubhaft findet, was über Russland, die Juden und Spanien in der Nazipresse steht55, oder der Arzt, der sich mit dem Regime arrangiert, weil wenigstens das eugenische Programms fortschrittlich wäre, die Sterilisierung der für die Fortpflan‐ zung der Rasse Untauglichen.56 Manchem „Wandelfisch“57 (so Hartshor‐ ne) gelinge ein Doppelleben in voneinander abgeschotteten Welten – so der im kleinen Kreis noch immer nazikritische, ehemals hoch angesehene Professor, der 1933 nach seiner Entlassung an einer anderen Universität unterkommen konnte und dort nun in der Lehre erfolgreich ist, gar ein Se‐ minar nach besonderer Vereinbarung anbieten kann: „Im Seminar, wo neben ihm sein Assistent in SA-Uniform sitzt, wie jovial, wie loyal gegenüber der neuen Weltanschauung, wie aufgeschlossen gegen‐ über den Veränderungen an den Universitäten zeigt er sich: Doch die Diskus‐ sion schleppt sich dahin, außer dass es ihm gefällt, sich mit dem Amerikaner zu schmücken. Eine nach der anderen werden Fragen kleinlaut gestellt und gleich so schnell wie möglich vom Tisch gewischt: ‚So etwas ist zu heikel! Ich möchte mich nicht über den Begriff bei Carl Schmitt äußern, bevor ich das nicht mit ihm persönlich ausführlich geklärt habe.’ Und hinterher lässt ein rasch verschwundener Student den Amerikaner wissen, niemand habe etwas zu sagen gewagt.“58

55 The German Intellectual of Today, p. 3: “At first she told herself this was just make-believe; after all she had to do it. Gradually the strain increased and the poi‐ son worked. Now she finds it easier to believe what they write about Russia and the Jews and Spain. The children believe it too, but they did not realize that she was just playing make-believe. Now they have convinced her, and she believes it, for after all ‘there must be something in it’.” 56 Ibid., p. 4: „Much as this able man dislikes the harm done to medical training in Germany by faculty dismissals on ‚racial’ or political grounds …, he too has found an easy way to achieve peace of mind. After all, the eugenic program, especially sterilization of those unfit to propagate the race, is in the direction of progress. Let us take the bitter pills with sugar coating!” 57 Ibid., p. 2. Das Wort (auf Deutsch) ist unterstrichen. 58 Ibid., pp. 2-3: „In his private seminars, with a Storm Trooper assistant at his el‐ bow, how jovial, how loyal to the new Weltanschauung, how sympathetic with the changes in the university: But the seminar discussion proceeds rather lamely, ex‐ cept for the fun involved in showing off the American. Question after question puts in a shy appearance only to be ushered off the scene as quickly as possible: ‘These matters are too delicate! I should not like to interpret the definition given by our Carl Schmitt until I have talked it over with him at greater length.’ And afterwards the American was told, by a hastily-passing student, that none have dared speak.”

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Die andere Seite – The Imprisoned Intellect – verkörpern die Entlassenen: Bei einem – durch anonymen Brief kurz vorher in jeweils einem anderen Restaurant anberaumten – Treffen ehemaliger Regierungsbeamter wird er‐ schreckend belanglos über allerlei Personalien gesprochen: „Man setzt sich zusammen, ‚denn besser, man hört das Gras wachsen.’“59 Drei Juris‐ ten und ein Philologe, sämtlich „’bounced’ (abgebaut)“60, befassen sich ganzjährig textexegetisch mit „dem ältesten bekannten Rechtsdokument, dem Sachsenspiegel“. Die Ängste dieser Männer machen sie übervorsich‐ tig, aber zugleich sind sie fatalistisch: „Man kann nichts sagen. Man kann kaum klar denken. Nur in der Abgeschie‐ denheit der Studierstube kann man grübeln und im Selbstgespräch mit ange‐ haltenem Atem hin- und herlaufen wie ein Löwe im Käfig. Der eigene Intel‐ lekt wird nicht mehr gebraucht. Angst: furchtbares Nichtwissen und tiefste Verzweiflung. ‚Mein armer kleiner Kopf, wozu habe ich ihn denn überhaupt noch?’ Da kommt wie ein Spuk der Gedanke an Selbstmord…. Da kommt immer mehr eine Neigung auf, die Frage nach dem ewigen Sinn aller Dinge zu stellen: Leben, Tod, Gott, das Böse, Erlösung …“.61

Das Credo der halbherzig Regimekonformen und ebenso das Ethos der er‐ zwungen Ausgeschiedenen, so Hartshorne, ist das Deutschtum als histo‐ rische Größe und nationale Macht – es erkläre den Erfolg des Nationalso‐ zialismus: „They wanted to be proud and they have been made proud. Wieder stolz deutsch zu sein!“62 Zwei Schriften, die Hartshorne erwähnt, mögen das Spektrum solchen Nationalismus beleuchten: Der hoch angesehene Historiker Hermann On‐ cken stellt 1926 in seiner feierlichen Ansprache an der Universität Mün‐

59 Ibid., p. 5: „One sat together ‚the better to hear the grass grow’.” 60 Ibid., p. 4: Every two weeks all the year round the four men met, three jurists and a philologist. Together they pored over and criticized the text of the oldest know German legal document, the Sachsenspiegel. All four had been ‘bounced’ (abge‐ baut), as the current phrase has it, from their university posts.” 61 Ibid., p. 6: „One could not talk. One could not think clearly. Only in the privacy of one’s own room could one muse and soliloquise beneath one’s breath as one paced up and down like a caged lion. One’s own intellect had become superfluous. Angst: black ignorance and black despair. ‘This little head of mine, of what use is it to me now?’ Therefore the haunting thought of suicide…. Therefore the growing tenden‐ cy to dwell on the eternal meaning of it all: Life, Death, God, Evil, Salvation…”. 62 Ibid., p. 12; die Mischung englisch-deutsch im Original.

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chen anlässlich des Reichsgründungstages (18. Januar 1871)63 das siegrei‐ che Zweite Reich („deutsche Vergangenheit“) dem Leitbild neuer nationa‐ ler Größe („deutsche Zukunft“) gegenüber, was den Weg aus der Schmach der Gegenwart weise: Die „Freiheit und Autonomie“64 des Bismarck-Rei‐ ches bilde die „Höhe der Erinnerungen“65, von wo aus „wir in die Tiefen der Gegenwart [blicken] und den Weg [suchen], der uns aus ihrem Dunkel wieder hinaufführt.“ Aus der „wehrlosen Unfreiheit“ von „Besatzung und Kontrolle“66 bedeute „Rettung“, dass das „Befreiungswerk“ gelinge: „Ein neuer deutscher Befreiungskampf – wahrlich eine Aufgabe, des Schweißes der Edlen wert.“67 Deutschland – das Volk – sei „kraft seiner Stellung in der Welt besonders dazu berufen, für die Sache der Gerechtigkeit und Un‐ abhängigkeit der Völker einzutreten.“68 Dazu brauche man Idealismus ebenso wie Realismus, „die einfachen Tugenden, die jeder einzelne in sei‐ nem Kreis üben kann, und die politische Selbstzucht in der großen Ge‐ meinschaft der Nation. Wir brauchen den Willen zur Tat und den demüti‐ gen Glauben“.69 – Unter dem Nationalsozialismus hat sich der Historiker Ernst Anrich habilitiert, der 1936 – Herausgeber der Kulturpolitischen Schriftenreihe – in seiner Schrift Universitäten als geistige Grenzfestun‐ gen70 herausstellt, was die nationalsozialistische Universität ausmacht – statt „Spezialistentum“71 vielfältiger Institute und Fächer präge nunmehr das „ganzheitliche Denken“72 die „wirklich deutsche Universität“; in „le‐ bendiger soldatisch-körperschaftlicher Zusammenarbeit“ solle die „biolo‐ gische und beauftragte Deutschheit“73 vor allem an „Grenzuniversitäten“ – zumal Straßburg – im Geiste von Volk und Volkstum „in allen geisteswis‐

63 Hermann Oncken, Deutsche Vergangenheit und deutsche Zukunft, in: Nation und Geschichte. Reden und Aufsätze 1919-1935, Berlin: G. Grote’sche Verlagsbuch‐ handlung 1935, pp. 71-90. 64 Ibid., p. 81. 65 Ibid., p. 83; dort auch die nächsten drei Zitatstellen. 66 Ibid., p. 84; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. 67 Ibid., p. 85. 68 Ibid., p. 88. 69 Ibid., p. 90. 70 Ernst Anrich, Universitäten als geistige Grenzfestungen, Berlin und Stuttgart: Kohlhammer 1936, Heft 6 der Kulturpolitischen Schriftenreihe, herausgegeben von Dr. Ernst Anrich, Privatdozent der neueren Geschichte. 71 Ibid., p. 72 Ibid., p. 11; dort auch die nächste Zitatstelle. 73 Ibid., p. 14.

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senschaftlichen Gebieten mit Männern dieser Ganzheitsauffassung und des neuen dynamischen Stils der Wissenschaft“74 gepflegt werden: „Universitas, das heißt für uns nicht nebeneinanderordnende Addition, son‐ dern Erfassung aller Erscheinungen von der Erkenntnis der organischen Ge‐ setzmäßigkeit und von einem Mittelpunkt her. Und dieser Mittelpunkt ist für uns zunächst die organische Weltanschauung, sodann organisch weiter das Nationale und damit im engeren Sinne das Deutschtum.“75

Hartshorne vermerkt in seinem Papier über den deutschen Intellektuellen unter der Überschrift „The Karma Philosophy“: Eine Intelligenz, also eine „intellectual class“, wo das akademische Denken und die humanistische Bildung verkörpert sind, gebe es nicht mehr – das Erbe der abendländi‐ schen Tradition ist zur nutzlos empfundenen Gelehrsamkeit verkommen: „Die Intelligenz als Gesellschaftsschicht ist traditionell bürgerlich aus sehr gutem Grund. Eine gewisse Sicherheit der Existenz und des gedanklichen Freiraums ist unverzichtbar für die schöpferische geistige Tätigkeit. Heutzuta‐ ge in Deutschland haben die Intellektuellen, zumindest diejenigen, die sich nicht wie Papageien benehmen, keinerlei Sicherheit. Ihre Lebensphilosophie heißt Fatalismus. ‚Wir sind nur wie Spreu im Wind!’“76

Wenige Jahre später – nun beherrschen in Europa die Deutschen mit ihren Zerstörungen die Tschechoslowakei, Polen, Frankreich, Dänemark, Nor‐ wegen und Griechenland, und in den USA wird die transatlantische Be‐ drohung mehr und mehr bewusst – warnt Hartshorne in der New York Ti‐ mes im August 1940 noch einmal unmissverständlich vor den katastropha‐ len Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die Universitäten77: Die politischen Vorgaben rangieren vor der Wissenschaft, alle akademischen

74 Ibid., p. 21. 75 Ibid., p. 10. Dazu p. 11: „Erst mit der nationalsozialistischen Revolution und ihrem Anspruch auf die eigentliche Belebung der deutschen Universität ist geistig die Möglichkeit geschaffen worden, und erst durch die Schaffung des Reichserzie‐ hungsministeriums die äußere Möglichkeit der einheitlichen Kraftleitung, Aufga‐ benverteilung, Menscheneinordnung.“ 76 The German Intellectual of Today, p. 11: “The intellectual class is traditionally bourgeois, and for a very important reason. A certain modicum of material and spiritual security is indispensable for creative intellectual work. Now in contempo‐ rary Germany intellectuals, at least those who are not parrots, have no security. Their philosophy has become one of fatalism. ‘We are but straws in the wind!’” 77 Harvard Instructor Reveals Nazis’ Effect on Education. Edward Y. Hartshorne Hits at Student Opposition to Our National Defense Plans. By Edward Y. Hartshorne, Department of Sociology, Harvard University, The New York Times, 25. August 1940, 4 D, Education News. Hartshorne-Nachlass.

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Maßstäbe sind zerstört; der Studentenschaft rekrutiert sich aus der Hitler‐ jugend und findet bei bis zu 22 Wochenstunden militärisch-politischen Lehrveranstaltungen kaum Zeit für eigenes Studium; wer sich diesem Dik‐ tat verweigert, wird relegiert und findet auch nach dem Studium keine An‐ stellung; Professoren werden durch andere Professoren und außerdem durch die Studenten bespitzelt, die Gestapo rekrutiert sich allenthalben Zuträger mittels Einschüchterung oder offener Drohung. Eine vielsagende Episode: „Ein Nazifunktionär, der soviel Zeit für die Partei aufgewendet hatte, dass er überhaupt nicht zum Studieren gekommen war, sandte einen ‚Adjutanten’ zu seinem Professor kurz vor dem Examen und forderte ihn auf, ihm die Prü‐ fungsfragen zu überlassen, so dass er sich für die Prüfung schnellstens vorbe‐ reiten könne. Der Professor übermittelte die Fragen. ‚Das wäre ihn sonst teuer zu stehen gekommen’, meinte der Nazistudent zu seinen Kumpanen.“ 78

III. Hartshornes Blick „von außen“ Hartshornes Perspektive macht die Tragödie der deutschen Universität deutlich sichtbar. Er sieht die Zerstörung der Institution und die Entmündi‐ gung der Wissenschaft und der Wissenschaftler mit anderen Augen als ei‐ nerseits die meisten damaligen Zeitzeugen und andererseits die heutigen Universitätshistoriker. Sein Blick „von außen“ lässt ihn drei Facetten her‐ ausarbeiten – als Amerikaner, als Soziologie und als Bürger einer Demo‐ kratie schildert dieser Chronist, wie der Nationalsozialismus sich der deut‐ schen Universität bemächtigt. Als Amerikaner ist ihm bewusst, dass die klassische deutsche Universi‐ tät ein Vorbild für die Reformen im späten neunzehnten und frühen zwan‐ zigsten Jahrhundert gewesen ist, als in Anlehnung an die Freiheit der For‐ schung und die sprichwörtliche Gelehrsamkeit in Deutschland die großen amerikanischen Universitäten zu Stätten der höchsten Ansprüche für For‐ schung und Lehre wurden. Nun aber ist in Deutschland – durch den totali‐ tären Staat – diese moderne Kultur zerstört worden: Der Staat hat sich die (nie abgelöste) Abhängigkeit der Universität vom Staat zunutze gemacht, 78 „One of the Nazi leaders who was so busy with party affairs that he hadn’t studied at all sent an ‚Adjutant’ to his professor shortly before his examinations demand‐ ing to know that the questions would be, so that he could prepare in the shortest possible time. The professor sent the questions. ‘It was a good thing for him that he did,’ remarked this Nazi student to his friends.”

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wie sie der Beamtenstatus der Professoren und die Ernennungsrechte der Minister bei Berufungen bezeugen, um die Autonomie der Universität zu zerstören, jene Struktur, die die wissenschaftlichen Höchstleistungen eines ganzen Jahrhunderts möglich machte. Nunmehr sei im Jahr 1937 die Uni‐ versität zurückgefallen auf ihren Stand unter dem preußischen Absolutis‐ mus des achtzehnten Jahrhunderts – damals konnte der Monarch scho‐ nungslos in die Universitäten und die Wissenschaften hineinregieren: „Als ein Buch des Philosophen Kant in den Augen Friedrich Wilhelms II dem wahren Christentum widersprach, verbot er Kant (1794), fortan über religiöse Dinge zu schreiben oder öffentlich zu sprechen. (Als der König drei Jahre später starb, veröffentlichte der dreiundsiebzigjährige Philosoph prompt eine Rechtfertigung seiner Position.) Ein Professor, dessen Ansichten dem Monar‐ chen missfielen, hatte keinerlei rechtlichen Schutz.“79

Nicht nur die akademische Freiheit ist im Nationalsozialismus zerstört80, auch die Autonomie der Universität gibt es nicht mehr – sie ist dem Staat, der alles beherrscht, zum Opfer gefallen: „Die Autonomie ist vollständig zerstört. … Die letzten Reste der traditionel‐ len Struktur der Universität sind beseitigt. … Es gibt institutionell keinerlei Abgrenzung zwischen dem politischen und dem akademischen Leben mehr. Die Steuerung der Wissenschaft geschieht durch den Rektor, der sich im Re‐ gime des Führers ein- und unterordnet.“81

Fazit: Die Universität soll ein willfähriger, von oben und außen lenkbarer Staatsbetrieb wie die Reichspost sein82 – schlimmer noch: den Diensteid schwören die Professoren nun auf Adolf Hitler, woraus, wie „ein halboffi‐ zieller Sprecher es bezeichnet, ‚persönliche, lebenslange Gefolgschaft wie

79 The German Universities and the Government, p. 1: „When the philosopher Kant published a book which seemed to Frederick William II to offend against true Christian principles, he had Kant informed (1794) that he was thereafter forbidden to write or lecture on religious matters. (When the King died three years later the seventy-three-year-old philosopher promptly published a justification of his own position.) A professor whose ideas displeased the ruler had no legal protection.” 80 Ibid., p. 7: “The … measures … destroyed one of the distinguishing features of the famous German Privatdozententum, that group of independent private teachers at the state universities, whose existence many had felt to be the chief support of aca‐ demic freedom.” 81 Ibid., p. 5: „The destruction of autonomy was thus complete. … No longer was there any institutional barrier between the political sovereign and academic pol‐ icies. The responsibility for science haad been shifted to the rector and his Füh‐ rer.” 82 German Universities and National Socialism, p. 71.

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bei den alten Germanen oder beim mittelalterlichen Vasallen gegenüber dem Feudalherrn’ entsteht“.83 Als Soziologe sieht Hartshorne: Die Zerstörung der Institution Universi‐ tät bedeutet das Ende der westlich-humanistischen Tradition, die bis ins Mittelalter und zur Renaissance zurückreicht. Institution ist für Hartshorne, den Soziologen, ein Begriff in der Traditi‐ on Max Webers, wie sie sein Harvard-Mentor Parsons in den USA der dreißiger Jahre verkörpert. Institutionen wie die Justiz oder die Universität sind in der demokratischen – pluralistischen, differenzierten – Gesellschaft wiederum die Garanten für nicht nur die Gewaltenteilung, sondern auch die Vielfalt der Lebenswelten und die Individualität der Einzelnen.84 Kennzeichen der deutschen Universität als Institution sind erstens die Au‐ tonomie gegenüber anderen Institutionen und gegenüber dem Staat nach außen (wiewohl der Staat, was Hartshorne als Schwachstelle der Eingriffe erkennt, fiskalisch und durch den Beamtenstatus der Professoren durchaus Einfluss ausübt) sowie zweitens die akademische Freiheit nach innen, wo‐ bei eine Vielgestalt wissenschaftlicher Szenarien entsteht, die die scientific community bilden.85 Die Zerstörung dieser Institution durch den Nationalsozialismus – als Entinstitutionalisierung – ist Teil der Entdifferenzierung der Gesellschaft Deutschlands, wie sie Hartshorne zunächst im Ganzen in The German University and National Socialism schildert und in seinen späteren Arbei‐ ten weiter ergänzt oder wiederum zusammenfasst. Hier seien sechs Tatsa‐ chen noch einmal angeführt, um die Entinstitutionalisierung zu zeichnen, wie Hartshorne sie sieht:

83 The German Universities and the Government, p. 7: “Future professors, selected by a rigorous sifting process, must first of all convince the examiners that their loyalty to the Führer is unswerving. Refusal to take the loyalty oath is decisive, and the oath once taken establishes what one semiofficial spokesman calls ‘a per‐ sonal, lifelong tie of fealty like that of the ancient Germans or of the medieval vas‐ sal to his liege lord.” 84 Zeitgenössisch erläutert Parsons diesen Gesellschaftsbegriff in seinem ersten Hauptwerk The Structure of Social Action (1937), zu dessen Vorbereitung ein 18seitiger Brief Hartshornes an Parsons mit Einwänden und Anregungen gehört. 85 Zu akademischer Freiheit und den fatalen Folgen ihrer Zerstörung in Nazideutsch‐ land schreibt Parsons einen zu Lebzeiten unveröffentlichten, unvollendet gebliebe‐ nen Essay, „Academic Freedom (1939)“, in: Talcott Parsons on National Socia‐ lism, edited and with an introduction by Uta Gerhardt, New York: Aldine de Gruy‐ ter 1993, pp. 85-99.

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1. Die Studenten, die in der Institution Universität keine gleichberechtigte Stellung neben den Professoren einnehmen, machen sich durch Boy‐ kotte, Hetzkampagnen und die Bücherverbrennung zum Motor der Verunsicherung der liberalen, wissenschaftsorientierten Professoren, was die Institution lähmt: Diese radikal nationalistischen Studenten, so Hartshorne, treiben die Professoren sozusagen vor sich her bis hinein in den Abgrund, wo es keine Lehrfreiheit mehr gibt. 2. An die Stelle der kollegialen tritt die hierarchische Universitätsstruktur, wo der nun von oben eingesetzte Rektor als Führer und gleichberech‐ tigt neben ihm der Studenten- und Dozentenführer – beide ihrerseits Funktionäre der NSDAP – in einer Befehlskette nach oben zum Minis‐ terium hin und weiter letztlich der Regime- und Parteispitze stehen. Die Anordnungsbefugnis und weitreichenden Anordnungen des Rek‐ tors einschließlich Entlassung, Beurlaubung, Versetzung etc. ohne Wi‐ derspruchsrecht der Betroffenen und die Verkündung etwa von Univer‐ sitäts- und Parteimitteilungen durch Rundbriefe oder das Amtsblatt der Friedrich-Wilhelms-Universität sind Symptome der gesellschaftlichen Entdifferenzierung, wo der Machtstaat sich die Universität einverleibt, was eben Entinstitutionalisierung der Universität bedeutet. 3. Die Verantwortung der Fakultäten für den wissenschaftlichen Nach‐ wuchs – also Rekrutierung des Lehrkörpers nach möglichst ausschließ‐ lich wissenschaftlichen Kriterien durch Promotion und Habilitation – wird aufgebrochen. Die außerwissenschaftlichen Kriterien dominieren schon bei der Erteilung der Hochschulreife nach nicht-akademisch aus‐ gerichteter Prüfung (unabhängig vom Abitur) sowie massiv bei der Er‐ teilung der venia legendi entsprechend der novellierten Habilitations‐ ordnung, wo drei neuartig nationalsozialistische Leistungen den Aus‐ schlag geben. 4. Durch die Verschulung des Studiums und die Reglementierung der ein‐ heitlichen Curricula durch das Ministerium wird nicht nur die Lehrfrei‐ heit, sondern auch die Lernfreiheit unmöglich – dies umso mehr, als die Kontrolle der Lehrinhalte durch die überall aktiven Zuträger der Gestapo ein Klima der Angst und gewissermaßen vorauseilend gehor‐ samen Anpassung schafft. 5. Die humanistische Tradition seit der Renaissance und insbesondere das Selbstverständnis der deutschen Universität seit der Humboldt’schen Reform macht das wissenschaftliche Denken jenseits von Herkunft und anderen außerwissenschaftlichen Kriterien zum A und O der scientific community: Dieses zentrale Element der Institution zerstört nun unter 270

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den Lehrenden die rigorose Aussiebung und gnadenlose Ausgrenzung der Juden, der Kommunisten, der Frauen und Nicht-Nationalsozialisten sowie unter den Studenten deren Benachteiligung bei der Zulassung zum Studium. 6. Eine Universitätsatmosphäre der freien Diskussion, wie sie überhaupt erst zur schöpferische Leistung führt, gibt es nicht mehr – höchstens wird in privaten Gesprächen gelegentlich ein eigener Gedanke geäu‐ ßert, allenfalls überlebt Wissenschaft außeruniversitär in Nischen wie den Forschungen zur Preußischen und Brandenburgischen Geschichte, solange der Arm der Zensur nicht auch sie erreicht: An den Universitä‐ ten schützen sich die Fächer vor den stets drohenden Institutions‐ schließungen, indem sie etwa eine Wehrpsychologie, Wehrphilosophie, Wehrphysik etc. einrichten – oder auch, was Hartshorne nicht erwähnt, indem sie sich dem Vierjahresplan zur Verfügung stellen, der die Kriegsvorbereitung koordiniert und später zur Kriegsführung gehört. Das Engagement Hartshorne, so denke ich, erklärt sich nicht nur daraus, dass er als Amerikaner mit wachem Verstand – mit Meinecke als Mentor – die dramatischen Verwüstungen der akademischen Kultur in Deutschland schildert, auch nicht nur daraus, dass er als Soziologe die Entinstitutionali‐ sierung ausgerechnet jener traditionsstarken Institution sieht, die weltweit geachtet und Vorbild der Reform der großen Universitäten der USA ist; sondern Hartshornes Engagement, meine ich, entsteht letztlich aus beidem zusammen und ist dabei getragen von dem demokratischen Ethos im Zeit‐ alter der Roosevelt-Präsidentschaft, das jenes einzigartige Verständnis des Humanen und dabei Modernen der Gesellschaft(en) des zwanzigsten Jahr‐ hunderts ermöglicht, das bis in die Nachkriegszeit hinein auch Hartshor‐ nes Verständnis Deutschlands prägt – selbst noch in seiner Zeit als Univer‐ sity Officer for Higher Education in den Jahren 1945 und 1946, als die Wiedereröffnung der Universitäten nach der Katastrophe des Nationalso‐ zialismus seine bewundernswert gemeisterte Aufgabe ist.

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I. Einleitung 1. Lange Zeit konnte die Idee des Völkerrechts ohne weiteres aus dem latei‐ nischen Begriff des ius gentium abgeleitet und unter Völkerrecht die Re‐ gelung internationaler Rechtsbeziehungen der „Völker“ untereinander ver‐ standen werden. Das 19. Jahrhundert brachte hier gleich mehrere Akzent‐ verschiebungen. So wurde das Verhältnis von staatlicher Souveränität und völkerrechtlicher Bindung gegen Ende des Jahrhunderts immer mehr zum Lackmustest der internationalen Beziehungen. Mit der Entwicklung des humanitären Völkerrechts und einer internationalen Strafgerichtsbarkeit zeigten sich zudem neue Spurrillen, auf denen sich die ursprünglichen We‐ ge völkerrechtlichen Denkens weiter verzweigen sollten. Diese Entwicklungen sind nicht abgeschlossen. Seit den Balkankriegen der 90er Jahre, der rechtlichen Sanktion von Willkürregimen, dem Prinzip humanitärer Intervention und nicht zuletzt mit den Entwicklungen in Ost‐ europa, nimmt die anhaltende Diskussion nur neuen Schwung auf und tritt diese verstärkt in das politische Bewusstsein. Fast noch brisanter als heute, stellte sich die Frage nach der Notwendigkeit eines über die nationalen Grenzen hinausgehenden Rechtsdenkens allerdings vor, während und nach dem ersten Weltkrieg. 2. Legitimität und Autorität des Völkerrechts hängen von der allgemeinen Akzeptanz des zugrunde liegenden Anliegens und des rechtstheoretischen Blickwinkels ab. Versprächen völkerrechtliche Regelungen oder universel‐ les Rechtsdenken nicht einen multilateralen Mehrwert, würden sich „nach außen“ wirkende Bindungen nur schwerlich in einem nationalen Rahmen durchsetzen lassen. Und eine solche Akzeptanz ist stets abhängig von der

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staatsrechtlichen Ausrichtung und den historischen Erfahrungen, der Schnittmenge an politischer Verantwortung und Weitsicht sowie - wie sich insbesondere in den Jahren nach 1933 zeigt - ganz entscheidend von gel‐ tenden (rechts-)theoretischen Grundlagen und letztlich von den persönli‐ chen Vorgaben der handelnden Personen. 3. So ist es auch unausweichlich, dass der „Stellenwert“ der Völkerrechts‐ idee in zeitlicher Perspektive einem ständigen Wandel unterliegt. Aus sys‐ tematischen Gründen ist die Völkerrechtswissenschaft aus diesem Grund zeitweise dazu übergegangen, die Geschichte des Völkerrechts in einzelne – oft machtpolitische motivierte - „Epochen“ einzuteilen, wobei dieses Denken heute meist als antiquiert erscheint und zurecht in Frage gestellt wird1. Wenngleich derartige Kategorisierungen daher nur willkürlich und holzschnitzartig sind, könnte man den in diesem Beitrag behandelten Zeit‐ abschnitt terminologisch wie folgt eingrenzen: Nach vorausgegangenen, hier aber nicht weiter zu vertiefenden Entwicklungen, welche das Völker‐ recht bis in das 19. Jahrhundert hinein geprägt hatten, spricht ein Teil der Völkerrechtswissenschaft für die Jahre von 1815 bis 1919 gerne von einer Englischen Epoche2. Es folgt die Phase der zwei Weltkriege und der Zwi‐ schenkriegszeit. Diese war einerseits von den Gedanken des durch die Haager Landkriegsordnung geprägten Kriegsvölkerrechts und von den Fä‐ den des humanitären Völkerrechts durchzogen. Andererseits war diese 1 Zu den „gebräuchlichen“ Einteilungen: Grewe, Wilhelm, Epochen der Völkerrechts‐ geschichte, 2. Auflage, Baden-Baden 1988; Preiser, Wolfgang, Völkerrechtsge‐ schichte, Evangelisches Staatslexikon, 2. Auflage, 1975; Ziegler, Karl-Heinz, Völ‐ kerrechtsgeschichte, 2. Auflage, München 2007, siehe dort insb. 9. und 10. Kapitel; Koskenniemi; Martti, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of Interna‐ tional Law 1870-1960, 2002; Paech, Norman/Stuby Gerhard, Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, aktualisierte Ausgabe, Hamburg 2013; zur Entstehungsgeschichte auch Nuzzo, Luigi/Vec, Milos, Constructing Inter‐ national Law – The Birth of a Discipline, Frankfurt am Main 2012; zuletzt erneut kritisch aus geschichtswissenschafter Sicht Kleinschmidt, Harald, Geschichte des Völkerrechts in Krieg und Frieden, Tübingen 2013, S. 15 f. 2 Das „Englische Zeitalter“ brachte mit der Völkerrechtswissenschaft auch eine neue Disziplin zur Blüte; hierzu im Einzelnen Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, § 43, S. 187 ff.

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Die völkerrechtliche Diskussion vor 1933

Phase aber noch viel stärker von den drängenden Fragestellungen der europäischen Staatengemeinschaft und hierbei vor allem von dem Span‐ nungsfeld zwischen europäischem (Welt-)Machtstreben und einer gestei‐ gerten internationalen Friedenssehnsucht gekennzeichnet. 4. Thema dieser Abhandlung ist die Situation des Völkerrechts am Vorabend der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Das behandelte Zeit‐ fenster ist bekanntermaßen von großen Umwälzungen auf allen Gebieten des staatlichen Zusammenlebens geprägt. Angesprochen sind hierbei – ebenfalls stark vereinfacht – nur die nachhaltigen Erschütterungen der noch großbürgerlichen (europäischen) Staatengemeinschaft durch die mi‐ litärische, vor allem aber sozio-politische Sprengkraft des Ersten Weltkrie‐ ges, wobei hier die Ereignisse der Jahre 1917/18 im Vordergrund stehen. Anlehnend an Georg F. Kennan werden diese Zusammenhänge gerne auch mit der heute freilich arg abgenutzten Wendung von der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts umschrieben. 5. Unmittelbar auf das Völkerrecht bezogen, kann sich der hier gewählte Ab‐ schnitt zwar an einem roten Faden orientieren; dieser war aber an man‐ chen Stellen fester, an anderen brüchiger. Wenn wir hier auch nicht vor‐ greifen möchten, so kann an dieser frühen Stelle bereits Folgendes festge‐ halten werden: Die drängenden „Systemfragen“ vor und nach dem ersten Weltkrieg, die langer deutscher Tradition folgend nicht von ihrem ideen‐ geschichtlichen und (staats-)philosophischen Hintergrund getrennt werden können, haben auch die völkerrechtliche Debatte maßgeblich mitbe‐ stimmt.

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II. Klassisches Völkerrecht: Die Situation bis 1914 1. Die Weiterentwicklung des Kriegsvölkerrechts zum humanitären Völkerrecht Um uns dem Wissenschaftsstand vor 1933 anzunähern, wenden wir uns zunächst einem weiter zurückliegenden Ereignis zu. Mit dem amerikani‐ schen Bürgerkrieg der Jahre 1861-1865 soll dabei eine Seite kurz überflo‐ gen werden, die von den europäischen Betrachtern traditionell eher überle‐ sen wird, auf der sich aber erste Zeilen einer humanisierten Kriegsführung wiederfinden. Dabei soll nicht vergessen werden, dass sich als weiteres Fundament des humanitären Völkerrechts im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Rotkreuz-Bewegung gebildet hatte, deren Wirken 1864 in die „Genfer Konvention über die Verbesserung des Loses der Verwundeten der Streit‐ kräfte im Felde“ mit einfloss, auf die wir aber nicht näher eingehen kön‐ nen3. Der für unser Thema eher fern scheinende amerikanische Kriegsschau‐ platz wird an dieser Stelle deswegen erwähnt, da die internationale Völ‐ kergemeinschaft von nun an ihre Augen vor den Auswirkungen eines mit industriellen Mitteln geführten Krieges nicht mehr verschließen konnte. Denn bereits die nackten Zahlen des Sezessionskriegs hatten die bis dahin meist wenig beachteten Folgen einer traditionellen Kriegsführung in das öffentliche Bewusstsein eingebrannt: Während im Verlauf des Krieges über 600.000 Männer ihr Leben lassen mussten, hatte eine weit darüber hi‐ naus gehende Anzahl von Soldaten ernsthafte oder bleibende Verletzungen davongetragen. Für die historische Betrachtung ist darüber hinaus wichtig, dass die Auseinandersetzung nicht mehr als reiner „Kabinettskrieg“ ge‐ führt und empfunden, sondern von der (inter-)nationalen Presse und dem neuen Medium der Photographie als Thema quasi „neu erfunden“ und über die Grenzen hinweg transportiert wurde4. Die Wirkung der intensiven

3 Hierzu etwa Glasser/Melzer, Humanitäres Völkerrecht, 2. Auflage, Zürich 2012; S. 38 f. und allgemein zum Roten Kreuz Haug, Hans, Die Weltbewegung des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds, 2. Auflage, 1993; Riesenberger, Dieter und Gi‐ sela, Rotes Kreuz und weiße Fahne, Henry Dunant 1828-1910, Bremen 2011. 4 Nach dem Krimkrieg 1853-1856 war der amerikanische Bürgerkrieg der erste krie‐ gerische Konflikt, der umfassend bild-technisch dokumentiert wurde; zum Bürger‐ krieg zuletzt John Keegan, Der Amerikanische Bürgerkrieg, Berlin 2010.

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Berichterstattung nicht nur auf die amerikanische Öffentlichkeit war je‐ denfalls beträchtlich. Aber auch auf einem anderen Gebiet nahm der amerikanische Bürger‐ krieg eine Vorreiterrolle ein. War der rechtlichen Analyse militärischer Auseinandersetzungen bis dahin wenig Beachtung geschenkt worden, wurde in dieser Zeit mit dem Lieber Code eine erste Rechtsquelle nicht nur für Besatzungshandlungen, sondern auch für den Umgang der direkten Kombattanten untereinander geschaffen5. Der Lieber Code enthielt dabei erste Ausführungen zur Behandlung von Kriegsgefangenen, Partisanen, Deserteuren, Sanitätspersonen und Seelsorgern. Daneben wurde das Ver‐ hältnis der Streitkräfte zur Zivilbevölkerung und zu deren Eigentum be‐ leuchtet sowie erste Praktiken geächtet, wie etwa der Einsatz giftiger Stof‐ fe. Mit dem amerikanischen Bürgerkrieg war auf dem Gebiet des Kriegs‐ völkerrechts somit ein erstes, wenngleich rudimentäres Regelwerk ge‐ schaffen worden. Deutlich geworden war daneben aber auch die sich ver‐ änderte Kriegslandschaft an sich. Waren Kriege bis dahin meist regional und zeitlich begrenzt geblieben, dauerte die Auseinandersetzung nun meh‐ rere Jahre und ihre Schrecken waren nicht mehr nur von den Kombattan‐ ten, sondern auch von der Zivilbevölkerung zu tragen. Übertragen auf den europäischen Schauplatz, wirkte die Kulisse gar noch bedrohlicher. Bald sprach man hier von der neuen „modernen Form des Krieges“, von stehen‐ den (Massen-)Heeren, modernen Waffensystemen und einer effizienten Todesmaschinerie. Zum Jahrhundertwechsel waren viele dieser Entwick‐ lungen unter den Vorzeichen der Hochindustrialisierung und eines stark politisierten und aggressiven Imperialismus, sodann auf einem Scheitel‐ punkt angelangt. Auch wenn der amerikanische Bürgerkrieg keinen „klas‐ sischen“ internationalen Konflikt darstellte, hatte er für die weitere Ent‐ wicklung des humanitären (Kriegs-)Völkerrechts somit einen bis heute un‐ terschätzten Beitrag hin zur Genfer Konvention von 1864, der Brüsseler Konferenz von 1874 sowie zu den Haager Konferenzen von 1899/1907 ge‐ leistet. Diese Entwicklungen wurden nach den Erfahrungen aus dem ers‐ ten Weltkrieg später durch die Genfer Konferenzen und Konventionen von

5 Gabriel, American Experience with Military Government, American Political Sci‐ ence Review 27 (1943), S. 417-438; Carnahan, Burrus, Lieber, Lincoln and the Laws of War, American Journal of International Law, Vol.92, No.2 (1998), pp.213-231; Gasser/Schmelzer, aaO., Humanitäres Völkerrecht, S. 39.

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1925 und 1929 fortgeführt, so dass im Jahr 1933 insoweit ein relativ aus‐ gereiftes völkerrechtliches Instrumentarium zur Verfügung stand. 2. Die Entwicklung des Staatenvölkerrechts 2.1. Das Interessengemenge um die Jahrhundertwende Nach diesen allgemeineren Ausführungen möchten wir uns jetzt der Ent‐ wicklung des Staatenvölkerrechts - und damit dem klassischen ius gentium - zuwenden. Die „Englische Epoche“ des Völkerrechts ist aus staatsrecht‐ licher Sicht durch die Bildung der europäischen Nationalstaaten gekenn‐ zeichnet6. Wenngleich die europäischen Nationen einen teilweise längeren Findungsprozess durchlaufen mussten, brachten sie sich am Ende nicht zuletzt aus Gründen der Staatsräson in die Völkerrechtsgemeinschaft „zi‐ vilisierter Staaten“ ein. Als Beispiel hierfür mag für viele zunächst die Heilige Allianz von 1815 gelten; noch besser passt diese Entwicklung al‐ lerdings zum Gedanken des Europäischen Konzerts der Mächte, der mit dem Pariser Vertag von 1856 an Konturen gewann7. In macht- und wirtschaftspolitischer Hinsicht war die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts durch eine Hochindustrialisierung und ein euro-zentri‐ sches Weltbild, das sich vor allem in einer weltweiten europäischen Kolo‐ nisation zeigte, geprägt. Das Konzept des Freihandels war hiermit ebenso verbunden wie das dieses Konzept flankierende System völkerrechtlicher Verträge. Überhaupt sehen wir im Rahmen dieses „Englischen Zeitalters“ zwischen 1815 und 1919 eine Zunahme von internationalen Kongressen und Konferenzen, länderübergreifenden Vereinigungen und von völker‐ rechtlichen Abkommen und Konventionen8. In dieser Entwicklung spie‐ gelten sich zum einen die sich ineinander verflechtenden europäischen

6 Im Einzelnen hierzu Ziegler, aaO., S. 170. 7 Baumgart, Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund, Darmstadt 1974; Ziegler, aaO., S. 173; Ziegler, Die Entwicklung von Kriegsrecht und Kriegsverhütung im Völkerrecht des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Fata Iuris Gentium (2008),S. 341. 8 Hierzu etwa Ziegler,aaO., §§ 42 ff. Die vertragliche Regelung internationaler Sach‐ verhalte entsprach somit „dem Zeitgeist“ des 19. Jahrhunderts. Der tschechische Völkerrechtler Milos Vec spricht unter Anlehnung an Manfred Lachs von 8.000 ab‐ geschlossenen Friedensverträgen allein in der Zeit zwischen 1500 und 1860; Vec, Recht und Normierung in der Industriellen Revolution: neue Strukturen im Völker-

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Ökonomien und das Bedürfnis nach internationaler Zusammenarbeit wi‐ der9. Zum anderen zeigte sich in der engeren Abstimmung der Staaten un‐ tereinander machtpolitisches Kalkül innerhalb einer ausgefeilten, teils mit den Mitteln der Geheimdiplomatie geführten Bündnispolitik der europä‐ ischen Protagonisten. Vergessen werden sollten an dieser Stelle auch nicht die vorsichtigen Ansätze einer sich parallel hierzu entwickelnden internationalen Friedens‐ bewegung, die ihren unmittelbarsten Niederschlag in den von Zar Niko‐ laus II10 angeregten Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 und in der Einrichtung des Ständigen Schiedshofes in Den Haag fand und nach Ende des ersten Weltkrieges – auf der Grundlage eines freilich nur vo‐ rübergehenden Konsenses – mit zur zeitweiligen Ächtung des Krieges bei‐ tragen sollte. Von den hier nur angeschnittenen Motivlagen möchten wir im Folgen‐ den das Verhältnis von äußerer staatlichen Souveränität und der sich im Rahmen einer sich andeutenden internationalen Ordnung weiter vernet‐ zenden exklusiven „Völkerrechtsgemeinschaft“, welche große Teile der Welt, vor allem die „Objekte“ des Kolonialismus, an einer Mitwirkung ausschloss, herausgreifen. Einen Anspruch auf Vollständigkeit will dieser kursorische Beitrag dabei selbstredend nicht erheben. 2.2. Das „Grundproblem“ der Völkerrechtswissenschaft um die Jahrhundertwende: Das Verhältnis von äußerer staatlicher Souveränität und globaler Ordnung Zunächst können das staatliche Machtstreben und die institutionalisierten Friedensbestrebungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts in einer Wechsel‐ wirkung zueinander gesehen werden. Waren militärische Auseinanderset‐ zungen nach tradierter abendländischer Sicht zuvor ausschließlich als „ge‐ rechte Kriege“ und später gar nur als „ultima ratio“ denkbar, zeigte das moderne Völkerrecht gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Tendenz hin zu einem „freien Kriegsführungsrecht“ souveräner Staaten, das sich mit einer

recht, staatlicher Gesetzgebung und gesellschaftlicher Selbstnormierung (2006), S. 107. 9 Hierzu etwa Klump/Vec, Völkerrecht und Weltwirtschaft im 19. Jahrhundert (2012). 10 Zarenmanifest (Denkschrift) vom 24.08.1898.

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„institutionellen Neutralität“ verband11. Mit dieser Art eines „laissez-fai‐ res“ auf dem Gebiet des ius ad bellum hat es sich dann allerdings auch als notwendig erwiesen, universelle Strategien zu einer effektiven Kriegsver‐ hütung oder aber zumindest institutionelle Schranken gegen einen zügello‐ sen nationalen Eigensinn zu entwickeln. Denn wenngleich der Völker‐ rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts die Lehre vom gerechten Krieg schrittweise aufgeben hatte, war sich die europäische Völkerrechtslehre, die in dieser Zeit nicht unwesentlich vom in Deutschland lehrenden Schweizer Johann Caspar Bluntschli (1808-1881) vertreten wurde, wei‐ terhin darüber einig, dass zwar „das bloße Staatsinteresse für sich alleine den Krieg nicht rechtfertigen könne“ und „als bloßes Mittel der Politik der Krieg durchaus verwerflich sei“: „Eben weil in dem Krieg die Gewalt zwingend auftritt, ſind nur Rechtsgründe, nicht aber bloße Zweckmäßigkeitsgründe geeignet, denſelben zu rechtfertigen. Es gibt freilich viele Kriege, welche ohne Rechtsnothwen‐ digkeit, aus bloß politiſchen Motiven unternommen worden ſind, um das Anſehen einer Macht zu vergrößern, eine politiſche Richtung zu hindern oder zu unterſtützen, günſtige Verbindungen zu erreichen u. dgl. Aber als bloßes Mittel der Politik iſt der Krieg durchaus verwerflich.“12 Dennoch wurden die Gründe, die einen Krieg wegen einer „ernsten Rechtsverletzung oder gewaltsamen Besitzstörung“ rechtfertigen sollten, großzügig ausgelegt. Neben den genannten althergebrachten Motiven, die Bluntschli in der „Verletzung geschichtlich anerkannter und erworbener Rechte“ erblickte, benannte dieser etwa auch die „ungerechtfertigte Behin‐ derung der nothwendigen neuen Rechtsbildung und der fortſchreitenden Rechtsentwicklung“, sowie – und dies scheint in unserem Zusammenhang besonders bedeutsam - „die Notwendigkeit der zeitgemäßen Neugestal‐ tung des Stats“, mit welcher Bluntschli im Übrigen auch der deutschen Reichsbildung von 1871 nachträglich seine völkerrechtliche Legimitat verschaffte.13 11 Grewe, Epochen, S. 623 ff.; Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, § 42, S. 185 f.; Zieg‐ ler, in: Fata Iuris Gentium, S. 344 f. 12 Bluntschli, Das moderne Völkerrecht der civilisierten Staten als Rechtsbuch darge‐ stellt, Nördlingen 1878, § 518, zitiert auch in Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 186. 13 Bluntschli, aaO., § 516 und § 517: „516. Als rechtmäßige Urſache zum Krieg gilt eine ernſte Rechtsverletzung oder eine gewaltſame Beſitzſtörung, welche dem zum Krieg greifenden State widerfah‐ ren iſt oder womit er in gefährlicher Weiſe bedroht iſt, oder eine ſchwere Verlet‐

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Vor allem mit seiner Ansicht, dass es das Recht eines Volkes sein müs‐ se, sich mit gewaltsamen Mitteln „seine staatliche Gestalt zu geben“, „sei‐ ne Bestimmung zu erfüllen“, „für seine Sicherheit zu sorgen und seine Eh‐ re zu wahren“, öffnete Bluntschli zudem Türen, die insbesondere auf deut‐ scher Seite gerne durchschritten wurden und mit den Weg in eine verhäng‐ nisvolle Zukunft weisen sollten. Aus damaliger Sicht betrachtet, mögen diese Vorgaben aber bisweilen als modern und keinesfalls als Gefahr tragend gesehen worden sein. Je‐ denfalls sprach die länderübergreifende und die nationale Völkerrechts‐ wissenschaft (auch) in dieser Phase nicht mit einer, sondern mit unter‐ schiedlichen Stimmen, so dass sich der Ruf nach internationaler Zusam‐ menarbeit und das Streben nach einer Ausweitung nationaler Machtfülle kontrovers gegenüberstanden. Das Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Souveränität und „Völ‐ kerrechtsgemeinschaft“ wurde in dieser Phase etwa bei den Versuchen

zung der allgemeinen Weltordnung.Die Gewalt von Menſch gegen Menſch geübt, iſt nur durch die Nothwendigkeit zu rechtfertigen, die wir ihres ſittlichen Charak‐ ters wegen Recht nennen. Der Krieg als Rechtshülfe ſetzt daher die Verletzung ei‐ nes Rechts voraus, das nur mit Gewalt zur Anerkennung zu bringen iſt, ganz ebenſo wie der gerichtliche Proceß eine Rechtsverletzung vorausſetzt, welche die Klage begründet. 517. Als rechtmäßige Urſache zum Krieg iſt aber nicht bloß die Verletzung geſchichtlich anerkannter und erworbener Rechte, ſondern ebenſo die ungerecht‐ fertigte Behinderung der nothwendigen neuen Rechtsbildung und derfortſchreiten‐ den Rechtsentwicklung zu betrachten. Die Nothwendigkeit der zeitgemäßen Neugeſtaltung des Stats muß ebenſo aner‐ kannt und durchgeführt werden, wie der Beſtand des geſchichtlich gewordenen Rechts, ſolange es lebensfähig und zeitgemäß iſt, geſchützt werden ſoll. Wer die Verfechtung des werdenden Rechts beſtreitet, der verkennt die lebendige Natur des Rechts und hindert deren Fortbildung, welche mit der Entwicklung der Völker Schritt halten muß, wenn das Recht ſeine Beſtimmung erfüllen ſoll. Es iſt eine eher kindiſche als juriſtiſche Anſicht, daß ein Volk berechtigt ſei, für das dynaſtiſche Erbrecht eines Fürſten Krieg zu führen, aber nicht berechtigt ſei, für ſeine nationale Einigung zu den Waffen zu greifen, weil jenes Erbrecht in einer mittelalterlichen Urkunde vorbehalten worden, die nationale Einigung dagegen durch eine traurige Geſchichte bisher verhindert und gehemmt worden iſt. Dennoch hat dieſe wunder‐ liche Meinung im Jahr 1866 in Deutſchland manche Vertreter gefunden. Meines Erachtens iſt das Recht eines Volkes, ſich die ſtatliche Geſtalt zu geben, deren es bedarf, um ſeine natürliche Anlage zu entwickeln, ſeine Beſtimmung zu erfüllen, für ſeine Sicherheit zu ſorgen und ſeine Ehre zu wahren, und daher ſein Recht, da‐ für nöthigenfalls zu den Waffen zu greifen, ein ſehr viel heiligeres, natürlicheres und wichtigeres Recht als irgend ein urkundliches Dynaſtenrecht.“

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deutlich, eine Ständige Internationale Gerichtsbarkeit zu institutionalisie‐ ren. Während viele Stimmen in diesem Zusammenhang einer – wie auch immer gearteten - Friedenssicherung das Wort redeten, sah sich die deut‐ sche Völkerrechtswissenschaft ganz überwiegend dem Postulat der staatli‐ chen äußeren Souveränität verpflichtet, was einerseits dazu führte, dass sich Deutschland auf den Friedenskonferenzen in dieser Frage weitgehend isolierte14. Andererseits mag die Haltung Deutschlands auch mit dazu bei‐ getragen haben, dass sich die Völker in Art. 2 des Haager Abkommens von 1907 nur auf einen halbherzigen Appell zur einvernehmlichen Beile‐ gung künftiger „ernster Meinungsverschiedenheiten oder Streite“ im Wege einer nicht obligatorischen Streitschlichtung einigen konnten15. Zwischen 1907 und 1914 sollte die deutsche Völkerrechtswissenschaft zwar noch eine zarte Blüte erleben16, an der auch pazifistische Triebe sprossen17. Aber auch jetzt war die Wissenschaft gespalten und letzten En‐ des von einer konservativen, der nationalen Souveränität den Vorrang ge‐ benden Haltung geprägt. Als Vertreter dieser, wenn man so will, „herr‐ schenden Meinung“, gelten in dieser Zeit unter anderem Heinrich Pohl und Karl Freiherr von Stengel18. Als erstes Zwischenergebnis können wir festhalten, dass um die Jahr‐ hundertwende zwar am „freien Kriegsführungsrecht“ der Nationalstaaten gerüttelt wurde, das alte Gebäude dabei aber nicht zum Einsturz gebracht worden war.

14 Ausführich Carl, Maxi Ines, Zwischen staatlicher Souveränität und Völkerrechts‐ gemeinschaft. Deutschlands Haltung und Beitrag zur Entstehung des Ständigen In‐ ternationalen Gerichtshofs, Baden-Baden 2012. In der Frage einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit vertrat etwa Bluntschli die Forderung nach einer weitrei‐ chenden Streitschlichtungsinstanz; Bluntschli, aaO., S. 29 f. („Schiedsrichterliches Verfahren“); hierzu Carl, aaO., S. 128 ff. 15 Art. 2: „Die Signatarmächte kommen überein, im Falle einer ernsten Auseinander‐ setzung oder eines Streites, bevor sie zu den Waffen greifen, die guten Dienste oder die Vermittlung einer befreundeten Macht oder mehrerer befreundeter Mäch‐ te anzurufen, soweit dies die Umstände gestatten werden.“ 16 Carl, aaO., S. 125 ff. 17 Hierzu können in dieser Phase neben der Arbeiten von Walther Schücking etwa auch diejenigen von Josef Kohler (1849-1919) gezählt werden; hierzu Koskennie‐ mi, The Gentle Civilizer of Nations, S. 213-222. 18 Pohl, Heinrich, Deutsche Prisengerichtsbarkeit (1891), S. 3 f.; Stengel, Karl Frei‐ herr von, Weltstaat und Friedensproblem (1909), S. 133 ff.; hierzu Carl, aaO., S. 128 ff.

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2.3. Nur, wer kann, darf! Erich Kaufmann und Heinrich Triepel Beispielhaft für viele mag an dieser Stelle etwa Erich Kaufmann und sein Werk über „Das Wesen des Völkerrechts und die Clausula rebus sic stan‐ tibus“ aus dem Jahr 1911 sein19. Zwar wurde diese Schrift später mitunter als Verkörperung eines blanken Machtpositivismus und manchmal gar als „Apotheose des Krieges“ gesehen20. Jedoch kann auch dieses Werk nicht aus seinem inneren Zusammenhang mit der damaligen staatsrechtlichen Lage des Deutschen Reiches gelöst werden. In der machtpolitischen Ge‐ mengelage um die Absicherung seiner Souveränität und im verbreiteten Glauben, bei der Aufteilung der Welt und im Wettbewerb der Nationen um den „Platz an der Sonne“ zu spät gekommen zu sein, schien der Ruf nach einer kriegerischen Verfolgung legitim erscheinender Ziele zumindest nachvollziehbar. Er verband sich hier – wie an späterer, noch unheilvolle‐ ren Stelle – dabei mit darwinistischem, idealistisch-hegelianischem und positivistischem Gedankengut. Auf dieser Basis konnte nun auch die bis dahin umstrittene Frage, wer denn über die Rechtmäßigkeit eines Krieges letzten Endes richten solle, auf der Grundlage nationaler Souveränität zugunsten des Staates beant‐ wortet werden. In diesem Sinne verband Kaufmann die Entschlossenheit des Staates und damit sein „legitimes Recht“, nationale Ziele mit kriegeri‐ schen Mitteln durchzusetzen, scheinbar mit dem Rechtsgedanken. Indem er dabei im „siegreichen Krieg die Bewährung des Rechtsgedankens und damit die letzte Norm, die darüber entscheiden solle, welcher der Staaten Recht hat“, erblickte, trug er mit zu einer Atmosphäre bei, die man später auch für den – wenn hier erneut eine stark strapazierte Wendung benutzt werden darf - heraufziehenden „Weltenbrand“ verantwortlich machte21. Dies alles gipfelte bei Kaufmann an anderer Stelle in einer Symbiose sittli‐

19 Zu Kaufmann umfassend Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund. Erich Kaufmann (1880-1972), 2008. 20 Siehe etwa Lauterpach, Hersch, The Function of Law (1933), S. 409 ff. (S. 417 ff. des Nachdrucks). Lauterpacht war es auch, der Kaufmanns Ideen auf die Selbst‐ verpflichtungstheorie Georg Jellineks zurückführte; Lauterpacht, aaO. 21 Kaufmann, Erich, Das Wesen des Völkerrechts und die Clausula rebus sic stanti‐ bus, Tübingen 1911, S. 146, 153: „Nicht die ‚Gemeinschaft frei wollender Men‐ schen‘, sondern der siegreiche Krieg ist das soziale Ideal: der siegreiche Krieg als das letzte Mittel zu jenem ‚obersten Ziel‘. Im Krieg offenbart sich der Staat in sei‐ nem wahren Wesen, er ist seine höchste Leistung, in dem seine Eigenart zur volls‐ ten Entfaltung kommt. Hier hat er zu bewähren, daß ihm die Weckung und Zusam‐

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cher und moralischer Postulate, die er mit einem sozial-darwinistischen Appell verband: „Staaten werden zu sittlichen Machtstaaten, denen eine KoordinationsRechtsordnung ermöglicht wird, „die als spezifisches Gerechtigkeitsprin‐ zip den Satz fordert und zuläßt: nur, wer kann, darf!“22 Aber auch die innere Souveränität des Staates, die von Carl Heinrich Triepels „dualistischer Lehre“, die sich durch die Trennung von Völker‐ recht und Landesrecht, bei gleichzeitiger Anerkennung völkerrechtlicher Bindungen auszeichnete23, gestützt wurde (und in der man teilweise bis heute in ambivalenter Weise die „Freiheit zur Völkerrechtsverletzung“ sieht), war in der Hochphase des staatlichen Souveränitätsdenkens vor dem ersten Weltkrieg dafür verantwortlich, dass sich die deutsche Staatsund Völkerrechtswissenschaft einem engeren Zusammenspiel völkerrecht‐ licher Vorgaben mit der nationalen Rechtsordnung nicht weiter öffnen konnte. An eine „Einheit von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht“, wie sie später von Kelsen unter anderen Vorzeichen angedacht wurde24, war man in dieser Phase weit entfernt25.

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menfassung aller Kräfte gelungen ist, daß die höchsten Forderungen, die er stellt, auch wirklich erfüllt werden, und daß das Letzte seinem Bestehen in der Weltge‐ schichte geopfert wird. Es sind also beide Seiten des Staatsbegriffes, die hier die Probe abzulegen haben.“ (S. 146). „So stellt sich auch für das Koordinationsrecht der siegreiche Krieg als Bewährung des Rechtsgedankens, als die letzte Norm he‐ raus, die darüber entscheidet, welcher der Staaten Recht hat. (…). Aber, das kann man wohl sagen: der Staat, der nicht durch das Unglück eines Krieges so aufgerüt‐ telt wird, daß er aus ihm die Kraft gewinnt, seinen Platz in der Weltgeschichte neu zu erkämpfen und zu behaupten, hat damit auch das Recht verwirkt auf die von ihm beanspruchte Stellung: es hat sich dann doch ‚die wahre Natur der kämpfen‐ den Teile geltend gemacht (Friedjung, Der Kampf um die Vorherrschaft, Bd. I, S. 40), die wirkliche Leistungsfähigkeit ihrer Lösung des Kulturproblems offen‐ bart.“ (S. 153). Kaufmann, aaO., S. 231. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht (1899). Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 129 ff. Zu Triepel und Kelsen mit ausführlichen Textauszügen Fassbender/Aust (Hrsg.), Basistexte: Völkerrechtsdenken (2012), § 3 und § 4.

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III. Die Situation von 1914 bis 1933 1. Von Krieg und Frieden Voller Euphorie war man 1914 auf deutscher Seite in einen Krieg gezo‐ gen, den viele für unausweichlich hielten und in dem die hochgerüsteten europäischen Nationen ihre Bestimmung nun selbst in die Hand nehmen wollten. Als sich die Hoffnungen auf einen schnellen Siegfrieden aber nicht erfüllten, folgte ein jahrelanger Mensch und Material verzehrender Stellungskrieg, dem sich die Suche nach einem „ehrenvollen“ Ausweg an‐ schloss. Nachdem das Deutsche Reich den bis dahin geführten Zweifron‐ tenkrieg mit dem „Friedensvertrag von Brest-Litowsk“ beendet hatte, war man im Frühjahr 1918 auf deutscher Seite der Ansicht, mit einer alle letz‐ ten Kräfte mobilisierenden Großoffensive den Sieg auch im Westen er‐ zwingen zu können. In diese Phase fiel die von Woodrow Wilson am 18. Januar 1918 vor dem amerikanischen Kongress verkündete und auf dem Selbstbestim‐ mungsrecht der Völker beruhende Vision einer europäischen Friedensord‐ nung, die bei der anhaltenden Kriegslage aber zunächst keinen Nährboden fand. Die bekannten Geschehnisse nahmen stattdessen nun ihren Lauf. Hatte sich das Deutsche Reich nach dem Scheitern der Offensive im Wes‐ ten zumindest (auch) in der Erwartung, seine Zukunft weiter selber be‐ stimmen zu können, unter den vermeintlichen „Rettungsschirm“ der 14Punkte Wilsons begeben, sah man sich im Rahmen der Versailler Verhand‐ lungen doppelt enttäuscht. Nicht nur, dass man sich nun des Vorwurfs der Alleinschuld am Krieg gegenüber sah, wurde das signierte Vertragswerk vom rechten bis zum linken Rand des politischen Spektrums schnell als Hypothek für eine nachhaltige Friedensordnung in Europa gebrand‐ markt26. Auch die Akzeptanz, mit der man etwa innerhalb der 1917 ge‐ gründeten und dem Auswärtigen Amt nahe stehenden Deutschen Gesell‐ schaft für Völkerrecht die anfänglichen Bestrebungen zur Bildung eines Völkerbundes begleitet hatte, war damit am Schwinden. Nichts desto trotz überwog bei Kriegsende eine globale Friedenssehn‐ sucht. In dem heraufziehenden Jahrzehnt des Internationalismus waren die Tendenzen unübersehbar, das Dogma der äußeren Souveränität des Staa‐ 26 Siehe nur die ausgewählten „Quellen zum Politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert“, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Band VIII, Wei‐ marer Republik 1918-1933, hg. von Karl-Egon Lönne, Darmstadt 2002.

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tes zugunsten einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, zu der neben einer allgemeinen Kriegsächtung auch umfassende Abrüstungsrunden zählten, aufzuweichen. Hierzu gehörte auch die vorübergehende Bereit‐ schaft, sich internationalen Schiedssprüchen zu unterwerfen27. Auch die Völkerrechtswissenschaft zeigte sich diesem pazifistischen Trend zunächst durchaus aufgeschlossen. Aus diesem Grund wollen wir unsere weitere Kategorisierung auch mit der Gruppe der internationalistisch ausgerichte‐ ten Völkerrechtler um Walther Schücking und Hans Wehberg beginnen. 2. Die Internationalisten um Walther Schücking und Hans Wehberg: Völkerrechtsidee als Friedensordnung nach 1919 Die wieder erstarkende Völker(rechts-)gemeinschaft – welche freilich auch jetzt ihre exklusiven Mitgliedschaften weitgehend bewahrt hatte kann in dieser Zeit nicht nur als eine westliche Reaktion auf das politisch veränderte Russland gesehen werden. In besonderer Weise war sie von dem Wunsch nach einer dauerhaften Ächtung des Krieges getragen. Auf dem Weg dorthin wurde im Rahmen der Versailler Friedenskonferenz mit dem Völkerbund nun auch diejenige Organisation geschaffen, von der nach Ansicht des vielleicht bedeutendsten deutschen Völkerrechtlers sei‐ ner Zeit, Walther Schücking, nicht weniger als eine „universelle Friedens‐ ordnung“ erwartet wurde (die aus den bekannten Gründen später freilich zu keiner Zeit realisiert werden konnte)28. Neben Schücking gelten als

27 Letztlich überwogen aber auch hier die Ressentiments, die man aus nationaler Sicht einem internationalen Schiedsspruch entgegen brachte, Ziegler, Völker‐ rechtsgeschichte, S. 204. 28 Schücking, Walther/Wehberg, Hans, Die Satzung des Völkerbundes, 3. Auflage, Bd.1, Berlin 1931, S. 56, 59 f.; Schücking, Walther, Die Revision der Völkerbunds‐ satzung im Hinblick auf en Kelloggpakt, Wissenschaftliche Beiträge zu aktuellen Fragen, Heft 1, Berlin 1931, S. 7: „Der Kelloggpakt bedeutet an sich das revolutio‐ närste Ereignis in der Geschichte des modernen Völkerrechts. Zur Rechtsfertigung dieser Beurteilung genügt es, darauf hinzuweisen, welche Rolle seit dem Werke des Hugo Grotius: „De jure belli ac pacis“ das Recht des Krieges im System des Völkerrecht gespielt hat. Sicherlich war es aber von jeher nur ein Notbehelf, den Krieg dem Rechtssystem dadurch einzugliedern, daß man in ihm eine Art des völ‐ kerrechtlichen Prozesses und in dem Friedensvertrag dann sozusagen das Urteil sah, und schon in der Vorkriegszeit, als wir noch keinen Versailler Vertrag erlebt hatten, habe ich von meinem pazifistischen Standpunkt aus auf die inneren Schwä‐ chen dieser Theorie hingewiesen. Mittlerweile hat sich die ganze Welt von ihnen

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Vertreter einer solchen europäischen Friedensinitiative auf der Grundlage internationaler Vereinbarungen, etwa Theodor Niemeyer und Hans Weh‐ berg29 sowie in einem weiteren Sinne etwa auch Alfred Verdroß und Karl Strupp30, um hier nur einige zu nennen. In rechtlicher Perspektive spricht man in diesem Zusammenhang auch bisweilen vom Übergang des „klassischen“ in ein „nachklassisches“ Völ‐ kerrecht und meint damit die Ablösung der von staatlicher Souveränität geprägten Zivilisations-, in eine (idealer Weise) grenzenlose Rechtsge‐ meinschaft31. Geopolitisch ging mit diesem Wandel ein Übergang der bis dahin bri‐ tisch geprägten Interessen- und Einflusssphären, in eine anglo-amerika‐ nisch gefärbte Weltordnung einher. Dies wurde spätestens deutlich, als sich das System des Völkerbunds, dem die Vereinigten Staaten nicht bei‐ getreten waren, 1928 mit den Friedens- und Gewaltverbotspostulaten des Brian-Kellogg-Paktes verband, was auch dazu führte, dass sich die Verei‐ nigten Staaten nun aktiver als zuvor wieder in die weltpolitischen Ereig‐ nisse mit einschalteten. Dieser Wandel wurde von den kontinental-europä‐ ischen und später auch von den asiatischen Staaten, hier allen voran Japan, aber immer offener in Frage gestellt. Wir wollen es bei diesen allgemeinen Überlegungen jedoch zunächst belassen und wieder auf die wissenschaftliche Seite zurückblicken. Die deutsche Völkerrechtswissenschaft etwa war in dieser Zeit heterogener denn je. Gleich nachdem die Bedingungen des Versailler Vertrages nieder‐ geschrieben waren, hatten sich nicht zu überhörende Stimmen zu Wort ge‐ meldet, die eine Revision des Vertragswerkes forderten. Diesem Ruf konn‐ ten sich auf Dauer selbst diejenigen Völkerrechtler nicht entziehen, die über jeden Verdacht erhaben waren, in der Ecke der Revanchisten zu ste‐ hen. Auch Schücking und Wehberg reihten sich nun zu denen, die eine Re‐

überzeugt und die Folge dieser neuen Rechtsüberzeugung ist die Ausmerzung des Krieges durch den Kelloggpakt gewesen. (…)“. Schücking, Walther/Wehberg, Hans, Die Satzung des Völkerbundes, 3. Auflage, Bd.1, Berlin 1931, S. 56: Der Völkerbund sei eine „politische Organisation der Kulturwelt“ und will eine „inter‐ nationale Rechts- und Friedensgemeinschaft sein“. 29 Wehberg, Die Ächtung des Krieges, Berlin 1930. 30 Zu Strupp, Link, Sandra, Ein Realist mit Idealen – Der Völkerrechtler Karl Strupp (1886-1940), Baden-Baden 2003. 31 Grewe, Epochen, S. 686 ff.

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vision der Verträge für unerlässlich hielten, um zu einem dauerhaften Rechtsfrieden zu gelangen32. In diesem Zusammenhang sind im Übrigen auch die von Deutschland in den zwanziger Jahren unterzeichneten internationalen Verträge, insbe‐ sondere der Dawes-Plan und der Vertrag von Locarno sowie der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund zu sehen. Mit allen diesen Schritten war im Sinne der Politik Stresemanns nicht nur die Hoffnung auf eine Locke‐ rung der Versailler Bindungen, sondern vor allem – und zwar über alle po‐ litischen Schattierungen hinweg - die gleichberechtigte Rückkehr Deutschlands auf die Bühne der europäischen Politik verbunden gewe‐ sen33. Mit dem sich abzeichnenden Misserfolg der internationalen Abrüs‐ tungsverhandlungen verhärtete sich nach dem Tod Stresemanns 1929 dann allerdings nicht nur die deutsche Politik, sondern auch die Haltung in Tei‐ len der Völkerrechtswissenschaft gegenüber der bisherigen „internationa‐ len Friedensbewegung“ insgesamt34. 3. Der Rechtspositivimus, die Wiener Schule und Hans Kelsen Bevor wir diese Entwicklung weiterbeschreiben möchten, wenden wir uns in der gebotenen Kürze zunächst aber Hans Kelsen zu. Als einem „der Ju‐ risten des 20. Jahrhunderts“ kam diesem auch in der Völkerrechtsdebatte der Weimer Zeit eine herausragende Bedeutung zu. Die „Reine Rechtslehre“ erschien in ihrer ersten Fassung zwar 1934 und damit eigentlich außerhalb unseres Zeitfensters. Die Lehre war aber die Frucht langjähriger Arbeit, die vor allem in den zwanziger Jahren her‐ anreifte35. Da die Originalität der wissenschaftlichen Methode Kelsens es

32 Hierzu Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, The Rise and Fall of Inter‐ national Law 1870-1960 (2001), S. 237; Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts, Bd.3, S. 87 f. 33 Koskenniemi, S. 237; Strupp, Karl, Das Werk von Locarno, Berlin 1926, S. 92 ff. 34 Die freilich parallel hierzu – etwa in Person von Schücking - noch einige Zeit wei‐ terbestand; Koskenniemi, aaO., S. 238 ff. Vom Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre waren diese Positionen zwar nicht zu trennen. Dennoch wollen wir dieses Kapital der deutschen Rechtsgeschichte an dieser Stelle, die nur einen sehr kursorischen Abriss geben kann, nicht weiter vertiefen, da dies ihrem Stellen‐ wert nicht gerecht werden würde. 35 Kelsen, Reine Rechtslehre, Vorwort III.

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bis heute schwer macht, diesen einer bestimmten „Lehre“ zuzuordnen36, grenzte sich dieser mit seiner universalen Geltung beanspruchenden mo‐ nistischen Theorie des positiven Rechts, auch deutlich von anderen Prota‐ gonisten seiner Zeit ab37. Nachdem Kelsen von diesem ganzheitlichen Standpunkt aus konse‐ quenter Weise das Völkerrecht als einen gleichberechtigten Teil seines ge‐ schlossen-universalen Rechtssystems wahrnahm, musste auf diesem Wege auch der Gedanke der Staatssouveränität an Strahlkraft verlieren und die Stellung des Einzelnen an Wertigkeit gewinnen38. Die Legitimation ein‐ zelstaatlichen Handelns stellte Kelsen, wenngleich auch eher in einem „er‐ kenntnismäßigen“ als einem „organisatorischen“ Sinne, im Rahmen des entworfenen Rechtssystems dabei grundsätzlich in Frage: „In ihrem Gefüge wird der Einzelstaat als Rechtswesen aus der Abso‐ lutheit gelöst, in der ihn das Souveränitätsdogma erstarren lässt. Die Reine Rechtslehre relativiert den Staat. Sie erkennt ihn als rechtliche Zwischen‐ stufe und gewinnt so die Einsicht: dass von der alle Staaten umfassenden universalen Völkerrechtsgemeinschaft zu den dem Staat eingegliederten Rechtsgemeinschaften eine kontinuierliche Abfolge allmählich ineinander übergehender Rechtsgebilde führt“-39 An anderer Stelle klang Kelsen noch visionärer und auch für heutige Ohren durchaus modern: „In diesem Sinne darf gesagt sein, daß die Reine Rechtslehre, indem sie durch die Relativierung des Staatsbegriffs die erkenntnismäßige Einheit alles Rechts sicherstellt, eine nicht unwesentliche Voraussetzung für die organisatorische Einheit einer zentralisierten Weltrechtsordnung schafft.“40 Für die politisch zerrissenen zwanziger und frühen dreißiger Jahre ka‐ men diese staatstheoretischen Prämissen aufgrund der langjährigen Vorar‐

36 Hierzu Dreier, Horst, Rezeption und Rolle der Reinen Rechtslehre, Festakt aus Anlaß des 70.Geburtstags von Robert Walter, Schriftenreihe des Hans Kelsen-In‐ stituts, Wien 2001, S. 19. 37 Hierzu etwa Kleinschmidt, aaO., S. 437 ff. 38 Kelsen, Reine Rechtslehre. S. 141 ff., 150; hierzu auch Fassbender/Aust (Hrsg.), Basistexte: Völkerrechtsdenken, S. 50 f. 39 Kelsen, Reine Rechtslehre. S. 141 ff., 153. 40 Kelsen, Reine Rechtslehre. S. 154.

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beiten Kelsens41 zwar nicht überraschend. In dem sich nun entwickelnden politisch radikalen Klima, musste Kelsen aber früher oder später auf offe‐ ne Ablehnung stoßen. War Kelsen aufgrund seiner wissenschaftlichen Stellung über alle inhaltlichen Kontroversen hinaus in Wissenschaftskrei‐ sen bis dahin aber doch immer ein geschätzter Gegner, nicht Feind gewe‐ sen42, so verkehrte sich dies nach der Machtübernahme durch die Natio‐ nalsozialisten rasch in das Gegenteil43. 4. Die „Konservativen“ um Erich Kaufmann Wenden wir uns nun nochmals Erich Kaufmann zu, der allgemein den konservativen Völkerrechtlern seiner Zeit zugeordnet wird. Dessen Ab‐ handlung über „Das Wesen des Völkerrechts“ aus dem Jahr 1911, war auch in den zwanziger Jahren für die Vertreter einer unbegrenzten äußeren Staatensouveränität wegweisend geblieben; dennoch gab es nun Unter‐ schiede. Dem Leitbild des klassischen Völkerrechts verbunden und damit dem Grunde nach auf einer Linie mit der dualistischen Lehre Triepels, zeichne‐ te sich Kaufmann in den Jahren der Weimarer Republik nun eher durch eine realistische, den politischen Begebenheiten geschuldete und damit eher durch eine international ausgerichtete, als durch eine radikal (natio‐ nal-)staatsbezogene Haltung aus44. Insoweit unterschied sich Kaufmann45 auch von denjenigen, die - wie er - den Versailler Vertrag zwar als „Diktat‐ frieden“ ablehnten, die ihre ablehnende Haltung dann aber mit offen re‐ vanchistischen oder gar nationalistischen Forderungen verbanden. Hierge‐ gen setzte Kaufmann immer wieder Zeichen seiner anti-totalitären Gesin‐ nung, die sich etwa in seiner Funktion als Berater des Auswärtigen Amtes oder als Vertreter des Deutschen Reiches vor dem Ständigen Internationa‐ len Gerichtshofes in Den Haag zeigte.

41 Etwa Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, Tü‐ bingen 1920 und Nachdrucke; Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925; Kel‐ sen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1.Auflage, Tübingen 1911. 42 Dreier, aaO., S. 23. 43 Zu Kelsens „reiner“ Völkerrechtslehre etwa Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, S. 160 ff. 44 Siehe Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, S. 249 ff. 45 Etwa Kaufmann, Der Völkerbund (1932), in: Gesammelte Schriften, Bd. II, S. 224.

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Die völkerrechtliche Diskussion vor 1933

Wie eine ganze Reihe konservativer Völkerrechtlicher hatte sich Kauf‐ mann somit im Bestreben, die staatliche Gleichberechtigung Deutschlands innerhalb der Völkerrechtsgemeinschaft auf einer international ausgerich‐ teten Basis zu erlangen, mit den Realitäten der Weimarer Republik arran‐ giert. Andere konnten dies offensichtlich nicht. So mag es auch nicht über‐ raschen, dass die spätere Vertreibung Kaufmanns - eines evangelisch ge‐ tauften Juden - von der Berliner Universität nach der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten maßgeblich von einem seiner Kollegen be‐ trieben wurde, dessen Rolle wir abschließend nicht unbeleuchtet lassen wollen. 5. Der Dezisionismus und Carl Schmitt Der spätere „Kronjurist“ des Dritten Reiches, Carl Schmitt, hatte sich mit seinen Schriften „Der Begriff des Politischen“ (1927), „Verfassungslehre (1928), „Der Hüter der Verfassung“ (1931) und „Legalität und Legitimi‐ tät“ (1932) innerhalb der neuen Lehre des Verfassungsrechts schon vor 1933 an herausragender Stelle positioniert. Nicht nur ordnungspolitisch forderte Schmitt dabei den starken Staat. Mit seiner Kritik an Pluralismus und parlamentarischer Demokratie zeigte sich Schmitt früh rechts der gesellschaftlichen Mitte und rückte sich damit selbst in die Nähe reaktionärer Kräfte, von denen er sich allerdings erst ei‐ nige Zeit später völlig vereinnahmen lassen sollte46. So forderte Schmitt zum Ende der Weimarer Republik die Präsidialdiktatur und hatte dies mit einer grundsätzlichen Kritik am neukantianischen Rechtspositivismus wie er etwa von Gerhard Anschütz oder in einem etwas anderen Gewand von Hans Kelsen vertreten wurde, verbunden47. Wenngleich sich Schmitt auch in dieser Phase noch nicht völlig in den Netzen der nationalsozialistischer Ideologie verfangen hatte, war der Weg dorthin jetzt nicht mehr weit. Auf dem Gebiet des Völkerrechts verband Schmitt seinen Ruf nach dem starken Staat mit dessen originärem Recht des Kriegführens, was Schmitt zwangsweise in die Opposition zur Idee des Internationalismus, des Völ‐ kerbunds und einer auf die Verhütung von Kriegen ausgerichteten Politik

46 Zu Schmitt für viele, Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009; Fassbender/Aust (Hrsg.), Basistexte: Völkerrechtsdenken (2012), § 7, S. 161 ff. 47 Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 46 f.; Mehring, Carl Schmitt, S. 264 ff.

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rückte48. Zwar hatte Schmitt mit seiner Abwertung des Völkerbundes als eines imperialistischen Machtinstrumentes der Siegermächte des Weltkrie‐ ges dabei keinesfalls alleine gestanden. Kein anderer Jurist dieser Zeit ver‐ stand es nach 1933 aber wie Schmitt, seine Dienste den neuen Machtha‐ bern anzubiedern. Dass ihm dies nur einige Zeit gelingen sollte, ist be‐ kannt; die Gründe hierfür sind aber nicht mehr Gegenstand dieser Ab‐ handlung. IV. Schlussbetrachtung Unsere Schlussbetrachtung soll mit einem Zitat von Walther Schücking aus dem Jahr 1935 beginnen, der seine Hoffnung auf eine friedliche Ko‐ existenz der Nationen bis dahin noch nicht ganz aufgegeben zu haben schien: „Wir müssen an den Sieg der Vernunft glauben, um überhaupt etwas auf Erden leisten zu können. (…). Wo im politischen Zusammenleben der Menschen ein Fortschritt erreicht worden ist, haben ihn Erwägungen der Vernunft herbeigeführt“49. Die Hoffnungen Schückings und mit ihm einer ganzen Generation von Völkerrechtlern erfüllten sich bekanntermaßen in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht. Der nach Ende des ersten Weltkrieges unternom‐ mene Versuch, Kriege mit den Mitteln des (Völker-)Rechts zu unterbin‐ den, scheiterte nach 1933 kläglich. Die Gründe hierfür sind vielfältig und werden an anderer Stelle genannt. Der vorliegende Beitrag soll stattdessen mit einigen Denkanstößen zur Weiterentwicklung des Völkerrechts, wie sie sich zuletzt etwa in den groß angelegten Untersuchungen von Angelika Emmerich-Fritsche50 und aus einem eher philosophischen Blickwinkel bei Nils Lange-Bertalot finden51, enden. Beide Werke gehen dabei in eine ähnliche Richtung und beschrei‐ ben eine Akzentverschiebung von einem Völkerrecht mit internationalem 48 Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932, S. 41 ff.; ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles, 1940, S. 240. 49 Schücking, Was heißt Pazifismus?, Die Friedens-Warte 35 (1935), S. 1-6 (2), zitiert auch in: Fassbender/Aust (Hrsg.), Basistexte: Völkerrechtsdenken (2012), § 7, S. 103. 50 Emmerich-Fritsche, Angelika, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, Berlin 2007. 51 Lange-Bertalot, Nils, Weltbürgerliches Völkerrecht. Kantianische Brücke zwi‐ schen konstitutioneller Souveränität und humanitärer Intervention, Berlin 2007.

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Die völkerrechtliche Diskussion vor 1933

zwischenstaatlichem Zuschnitt hin zu einer allgemeingültigen Rechtssub‐ jektivität und eines unantastbaren Selbstbestimmungsrechts des Menschen. Hiermit einher geht der Vorrang der rule of law und des universellen Rechtsgedanken vor der althergebrachten staatlichen Souveränitätsdoktrin, wobei Völkerrecht und ein skizziertes Weltrecht sich nicht gänzlich aus‐ schließen sollen. Diese Überlegungen sind freilich nicht neu52. Ob dabei ganz am Ende die in zeitloser Abfolge immer wieder propagierte neue „Weltrechtsord‐ nung“ stehen wird und ob diese überhaupt wünschenswert wäre, bleibt freilich abzuwarten.

52 Siehe nur Kelsen, oben Fn. 40.

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Die Sumpfblüte des Völkerrechts im NS. Wechselnde Zwecke der Völkerrechtshistoriographie seit dem 16. Jahrhundert Mathias Schmoeckel

I. Einleitung Die Blüte der Völkerrechtsgeschichte im Dritten Reich, jedenfalls im Hin‐ blick auf die zahlreichen Veröffentlichungen und deren lange Nachwir‐ kung, ist bekannt1. Nur allmählich und spät hat uns die Erkenntnis einge‐ holt, in welchem Maße die deutsche Historiographie der letzten Jahrzehnte noch von diesen Publikationen der 30er und 40er Jahren abhing. Erst in den 1990er Jahren wurden verschiedene Anläufe unternommen, diese Ge‐ schichte des Völkerrechts aufzuarbeiten2. Schon daran erkennt man, wie unterschiedlich beliebt die Geschichte des Völkerrechts war. Ebenso liegt die politische Instrumentalisierung der Völkerrechtsgeschichte auf der Hand. Welche Rolle spielte also die Völkerrechtsgeschichte in der Vergangen‐ heit? Ohne hier eine umfassende Gesamtdarstellung anzustreben, möchte ich mit wenigen Beispielen aus der Völkerrechtsgeschichte darauf hinwei‐ sen, wie unterschiedlich die Rechtsgeschichte im Völkerrecht geschätzt und instrumentalisiert wurde. Da nach der bisher verbreiteten Meinung3

1 Z.B. Lothar Gruchmann, Nationalsozialistische Grossraumordnung. Die Konstruk‐ tion einer „deutschen Monroe-Doktrin“, Stuttgart 1962; Diemut Majer, Die Perver‐ sion des Völkerrechts unter dem Nationalsozialismus, Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte 14 (1985), 311-332; Dan Diner, Weltordnungen. Über Ge‐ schichte und Wirkung von Macht und Recht, Frankfurt a.M. 1993; Verf., Die Großraumordnung. Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtswissenschaft im Dritten Reich, insbesondere der Kriegszeit, Berlin 1994. 2 Ingo Hueck, The Discipline of the History of International Law - New Trends and Methods on the History of International Law, Journal of the History of International Law/Revue d'Histoire du Droit International 3 (2001), 194-217. 3 Anders Verf., Ius belli ac pacis protestantium. Die Reformation als Grundlage des modernen Völkerrechts, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=26390 24 [vom 3.8.2015]; auch in: M. Germann/ W. Decock (Hg.), Das Gewissen in den

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Suárez die Völkerrechtswissenschaft beginnt, bietet es sich an, mit ihm zu starten (dazu II.1). Danach sollen solche Autoren des 19. Jahrhunderts dar‐ gestellt werden, die als „gentle civilizers of Nations“4 das Völkerrecht zur Befriedung der Weltordnung heranzogen. Es erscheint sinnvoll, zunächst einen Vertreter der Romantik, dann des sogenannten Positivismus zu Wor‐ te kommen zu lassen, um den großen Bogen des 19. Jahrhunderts nach‐ vollziehen zu können und damit die Ausgangslage des Dritten Reiches zu kennen. Es bot sich an, zunächst Johann Ludwig Klüber (dazu II.2) und Lassa Oppenheim (dazu II.3) auszuwählen. Vor diesem Hintergrund soll dann als Beispiel nationalsozialistischen Schrifttums Norbert Gürke abge‐ grenzt werden (dazu II.4). Damit wird hier die Aufgabe gestellt, eine kurze Geschichte der Histo‐ riographie des Völkerrechts – jedenfalls durch einzelne Beispiele – als Er‐ kenntnishilfsmittel des Völkerrechts oder sogar als Völkerrechtsquelle zu skizzieren. II. Beispiele aus der Völkerrechtsgeschichte 1. Francisco Suárez Francisco Suárez (1548-1617)5 erklärte den Unterschied zwischen Naturund Völkerrecht damit, dass Ersteres zwar allgemein gelte und damit auch Inhalte des Völkerrechts vorgebe. Letzteres werde jedoch auch willkürlich durch besondere Verträge begründet und könne sich damit unterscheiden6. Institutionen des Völkerrechts erschienen Suárez nicht begründet von in‐ nerer Notwendigkeit. Durch den freien menschlichen Wille stelle sich das menschliche neben das natürliche Gesetz, und dieses gelte auch für die in‐

Rechtslehren der protestantischen und katholischen Reformationen, (Refo500), 2017 (noch nicht erschienen), der auf die Diskussion in Wittenberg ab 1529 und die ersten Definitionen durch Melanchthon in der Mitte der 1530er Jahre hinweist. 4 In Anlehnung an Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law 1870-1960, Cambridge 2001. 5 Zu ihm vgl. nur zuletzt in: Norbert Brieskorn, Franciso Suárez: On Laws and God the Legislator, in: S. Dauchy u.a. (Hg.), The Formation and Transmission of West‐ ern legal Culture. 150 Books that Made the Law in the Age of Printing, Cham 2016, 167-170. 6 Francisco Suárez, De legibus, II.17, ed. L. Pereña u.a., Band 3, (Corpus hispano‐ rum de pace), Madrid 1973, n.7 f, 106ff.

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Die Sumpfblüte des Völkerrechts im NS

ternationalen Beziehungen. Dadurch trete das Völkerrecht neben das Zi‐ vilrecht7. Ausschließlich Verträge und Gewohnheit sollten nach Suárez das positive Völkerrecht im Gegensatz zum Naturrecht begründen, dies sollte gleichermaßen für Kriegs- und Friedensrecht gelten8. Die Rechtsgeschichte scheint dabei direkt keine Quelle des Völker‐ rechts zu sein. Doch musste man erst ermitteln, welche Verträge und Ge‐ wohnheiten galten. Dafür war es unausgesprochen notwendig, in die Ver‐ gangenheit einzutauchen, die verschiedenen Traditionen zu ergründen und das noch Geltende von dem Überholten zu trennen. War das Völkerrecht insgesamt vergänglich9, konnten die geltenden Rechtsnormen nur in der Abgrenzung des Vergangen begründet werden. Eine historische Betrach‐ tung sollte damit ergeben, aus welchen Rechtssätzen sich das Völkerrecht zusammensetzt. Dabei diente die Rechtsgeschichte, wie damals üblich, als Hilfswissenschaft dazu, die Geltung von Normen zu belegen oder zu wi‐ derlegen10. Sie gilt allein der Frage, wann Normen entstanden, wie weit ihr Geltungsbereich reichte und ob durch nachfolgende Akte die Autorität wieder aufgehoben wurde. Diese Vorgehensweise gilt für die Erarbeitung der großen Rechtssammlungen ebenso wie für die einzelner Rechtssätze. Auf den Willen des Gesetzgebers kam es nicht an, vielmehr sollte es ein allgemeines Verständnis der Norm geben, das sich mit Hilfe des allgemei‐ nen Verstandes ermitteln ließ11. Eine solche Untersuchung schien Suárez hinreichend klar zu stellen, was der geltende Inhalt des Völkerrechts sein sollte12. Gewohnheit und Tradition, besonders aber das römische Recht sah Suárez als Grundlage des Völkerrechts, deren einzelne Normen allerdings erst wissenschaftlich in ihrer Gültigkeit zu bestätigen waren13. Dabei waren die Beachtung in der Praxis, die legitime Quelle und die inhaltliche Berechtigung der Rechtssätze zu prüfen. Durch Gewohnheit konnten auch schriftliche Nor‐ men wieder ihre Gültigkeit eingebüßt haben14

7 8 9 10 11

Suárez, De legibus (Fn.6), II.19, n.5, 129 f. Suárez, De legibus (Fn.6), II.19, n.8, 134 f. Suárez, De legibus (Fn.6), II.20, n.6, 145. Vgl. Verf., Recht der Reformation, Tübingen 2014, 67ff. Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500-1933), 2. Aufl. München 2012, 77. 12 Suárez, De legibus (Fn.6), II.19, n.7, 132 f. 13 Suárez, De legibus (Fn.6), nach II.20 Additiones, n.3 a.E., 155. 14 Suárez, De legibus (Fn.6), nach II.20 Additiones, n.9, 163.

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2. Johann Ludwig Klüber Johann Ludwig Klüber (1762-1837) veröffentlichte ab 1821 seine zwei‐ bändige Darstellung des Völkerrechts (Stuttgart). Es handelt sich um eine Übersetzung aus dem Französischen15, die der Heidelberger primus ordi‐ narius nach seinen Erfahrungen als Begleiter des Wiener Kongresses und Herausgeber dessen Akten nach seinen reichen theoretischen und prakti‐ schen Erfahrungen gestaltete16. In der theoretischen Grundlegung werden die verschiedenen Hilfswis‐ senschaften aufgezählt, wobei die Geschichte als grundlegend für viele an‐ dere angesehen wird17. Bei der Beschreibung von Grotius und Pufendorf wird zwar geschildert, wie das Völkerrecht dadurch entstand, dass es sich von den historisch überkommenen Materien etwa des römischen Rechts löste und mittels Scharfsinn und Systematik neue funktionable Inhalte ge‐ wann18. Die Geschichte spielt insoweit keine Rolle. Zu den Quellen des Völkerrechts zählte er nur Verträge, Gewohnheit und natürliches Völker‐ recht19. Doch nannte er die Geschichte wieder im Zusammenhang mit dem Fortschritt der Kultur und der Entwicklung der Kriegstechnologie sowie der Entwicklung des Geists der Zeit20. Martti Koskenniemi hat die Funkti‐ on der Geschichte in diesem Kontext bereits beschrieben21. Es ging darum, die Einheit des Völkerrechts angesichts der Mannigfaltigkeit der europäischen Nationen zu begründen. Angesichts offenkundiger Unter‐ schiede in Sprache und Sitten wurde die einheitliche Entwicklung der Kul‐ tur postuliert, um ein alle Nationen verbindendes Völkerrecht annehmen zu können. In der Gründung auf Grotius, Pufendorf und ihre Schüler sollte

15 Johann Ludwig Klüber, Droit des gens moderne de l'Europe, Stuttgart 1819, 2 Bände. 16 Wolfgang Mager, Art. Klüber, Johann Ludwig, in: NDB Band 12, Berlin 1980, 133 f. 17 Johann Ludwig Klüber, Europäisches Völkerrecht, 1. Band, Stuttgart 1821, § 7, 24. Zu diesem frühen Historismus vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft (Fn.11), 212. 18 Klüber, Europäisches Völkerrecht (Fn.15), § 13 f, 35. 19 Klüber, Europäisches Völkerrecht (Fn.15), §§ 3-6, 19ff; zum Gewohnheitsrecht aus der Perspektive der historischen Rechtsschule vgl. Schröder, Recht als Wis‐ senschaft (Fn.11), 196ff. 20 Klüber, Europäisches Völkerrecht (Fn.15), § 17, 40. 21 Martti Koskenniemi, From Apology to Utopia, Helsinki 1989, 118, 120.

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ein einheitliches Völkerrecht begründet werden22. Der aufkommende His‐ torismus und der Glaube an den Fortschritt der einen europäischen Zivili‐ sation führten hier dazu, die Möglichkeit eines europäischen Völkerrechts zu postulieren. Die Geschichte diente gerade nicht als Erkenntnisquelle, denn dies hätte zur Akzentuierung der verschiedenen Traditionen geführt, sondern ganz allgemein als Bestandsgarantie. 3. Lassa Oppenheim Der aus der Nähe von Frankfurt a.M. stammende Lassa Oppenheim (1858-1919) wurde zunächst Extraordinarius für Strafrecht in Freiburg und Basel, bevor er nach London emigrierte und sich erst dort dem Völ‐ kerrecht zuwandte. Durch sein zweibändiges Werk „International Law“ ab 1905, das bis heute fortgeführt wird, wurde vielleicht nicht er selbst, wohl aber sein Werk zu einer Institution in der angelsächsischen Welt23. Oppenheim war methodisch anspruchsvoll und scharfsinnig. Er wollte nur das als Völkerrecht anerkennen, was sich konkret nachweisen ließ. In die Praxis umgesetzte Verträge, allenfalls noch Gewohnheitsrecht und Ju‐ dikate internationaler Gerichte konnte er als Quelle des Völkerrechts aner‐ kennen. Alles andere erschien ihm eher als Wunschtraum. Für Geschichte war da allgemein kein Platz. Sie konnte ihm zwar helfen, die Entwicklung der Normen zu erkennen und das Heute vom Gestern zu trennen. Doch erst die Praxis sollte ergeben, was als geltendes Völkerrecht anzusehen sei. Der Unterschied zu Klüber ist erheblich. Auch wenn Oppenheim durch‐ aus an den Fortschritt der Zivilisation glaubte und so Kind seiner historis‐ tischen Zeit war, so führte ihn sein streng durchgehaltener methodischer Ansatz dazu, die Geschichte nicht mehr als Hilfsmittel der Erkenntnis an‐ zusehen.

22 Zu dieser Entwicklung vgl. Verf., Zum Ende konfessioneller Prägungen: Franz Schmier, Karl Anton v. Martini und die Pufendorf-Rezeption in Österreich, in: A. Kiehnle/ B. Mertens/ G. Schiemann (Hg.), Festschrift für Jan Schröder zum 70. Geburtstag, Tübingen 2013, 585-605. 23 Vgl. Verf., The Story of a Success: Lassa Oppenheim and his “International Law”, in: Michael Stolleis/ Masaharu Yanagihara (Hg.), East Asian and European Per‐ spectives on International Law, (Studien zur Geschichte des Völkerrechts, 7), Baden-Baden 2004, 57-138.

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Dabei spielte das historische Argument durchaus eine wichtige Rolle bei ihm, das mit zunehmendem Alter immer stärker wurde. Vor allem im und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg war er überzeugt, dass sich die Grundlage des Völkerrechts grundlegend gewandelt habe24. Damit legte er nicht auf das Alter Wert, sondern akzentuierte die grundlegende Wirkung der letzten Entwicklung. Schon vorher hatte er auf den Prozess der Kodifi‐ zierung des Völkerrechts aufmerksam gemacht. Damit meinte er ausge‐ hend von der Haager Landkriegsordnung, dass die Nationen zunehmend Gewohnheitsrecht durch internationale Verträge absicherten. Für ihn ver‐ gewisserten sie sich dadurch der normativen Grundlagen, diese wurden si‐ cherer und verlässlicher. Mit der Ächtung des Angriffskrieges durch die Alliierten und der Entstehung des Völkerbundes sah er geradezu eine Konstitutionalisierung des Völkerrechts im Gange. Man werde nicht mehr länger nach Gewohnheiten fahnden müssen, vielmehr sei das Wesentliche normativ bestimmt und der streitige Rest könne durch den Ständigen In‐ ternationalen Schiedsgerichtshof oder den neuen Internationalen Gerichts‐ hof geklärt werden. Damit nivellierten sich für ihn die Unterschiede zwi‐ schen nationalem und Völkerrecht zumindest graduell. Oppenheim schloss daraus, dass die alte Völkerrechtsordnung seit Gro‐ tius mit ihren klassischen Autoren durch ein modernes Völkerrecht abge‐ löst worden sei. Dieser Übergang vom klassischen zum modernen Völker‐ recht ermöglichte dabei, dem Völkerbund auch über den eigentlichen Wortlaut hinaus den Charakter einer grundlegenden Neuordnung der Welt zuzumessen, in dessen Licht alles Bestehende neu zu bewerten sei. Das historische Argument der vollkommenen Umordnung diente ihm dazu, so‐ zusagen Wilsons Geist des Völkerbundes als Maß der Dinge zu nehmen und zum Schwert zu gestalten, mit dem überkommenes Völkerrecht abge‐ schlagen werden konnte. Die Erkenntnis der Geschichtlichkeit bedeutet hier die fundamentale Bedeutung der letzten Entwicklung gegenüber al‐ lem alten Recht zu postulieren.

24 Verf., Consent and caution: Lassa Oppenheim and his reaction to World War I, in: Randall Lesaffer (Hg.), Peace Treaties and International Law in European History. From the Late Middle Ages to World War One, Cambridge 2004, 270-288.

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4. Norbert Gürke Norbert Gürke (1904-1941) veröffentlichte 1936 als Dozent der Universi‐ tät Breslau und Mitglied des Ausschusses für Völkerrecht der Akademie für Deutsches Recht (Berlin) 1936 seine nicht einmal 70 Seiten umfassen‐ den „Grundzüge des Völkerrechts“25. Es handelt sich also um ein Werk, das wie Suárez und Bluntschlis Schriften das geltende Völkerrecht erklä‐ ren will. Zum Zweck des Vergleichs wurde hier bewusst kein Werk der Völkerrechtshistoriographie herangezogen. Gürke wollte ausweislich des Vorworts die Bedeutung des Völkerrechts für das deutsche Volk aufzeigen und die internationalen Einrichtungen verständlich machen. Der Überblick über die Gliederung scheint diesen Eindruck zu bestätigten, insoweit nach der Klärung von Grundbegriffen und einer historischen Einleitung die In‐ stitutionen des Völkerrechts in Friedens- und Kriegszeiten abgehandelt werden. Dennoch wollte er nichts weniger als ein Portrait des geltenden Völker‐ rechts geben. Vielmehr schickt er sich an, ein eigenes Völkerrecht aus na‐ tionalsozialistischer Sicht zu entwickeln. Es handelt sich daher um einen der wenigen umfassenden wissenschaftlichen Entwürfe aus dem Gebiet des Völkerrechts in der Zeit des Dritten Reichs. Zunächst werden zwar die klassischen Lehren des Völkerrechts wiedergegeben. Selbst der Friedens‐ vertrag von Versailles wird zunächst durchaus nüchtern und neutral refe‐ riert, vor allem um Wilsons 14 Punkte als Grundlage des modernen Völ‐ kerrechts auszumachen (S. 28 f). Erst dann folgen die Wertungen, durch die eindeutig Partei ergriffen wurde. Eine besondere Rolle spielt dabei die Geschichte. Nur scheinbar wird sie eingangs mit nur wenig mehr als einer Seite abgetan (S. 8), so wie es heute oft Brauch ist. Sie stellt keine Quelle des Völkerrechts dar, zu denen er wie Suárez nur die Verträge und die Gewohnheit zählt (S. 14 f). Es ist sicherlich den Besonderheiten des Stoffs geschuldet, dass schon die Dar‐ stellung des geltenden Völkerrechts aus der Praxis und damit aus einer hi‐ storischen Entwicklung gewonnen wird. Gürke beschreibt diese Besonder‐ heit der Materie mit einem Schlagwort der Zeit als „Recht im politischen

25 Zu ihm s. Art. Gürke Norbert, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815– 1950, Band 2, Wien 1959, 102–240; Lothar Becker, „Schritte auf einer abschüssi‐ gen Bahn“: Das Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) und die deutsche Staats‐ rechtswissenschaft im dritten Reich, Tübingen 1999, 90; Michael Stolleis, Staatsund Verwaltungswissenschaft in Republik und Diktatur 1914-1945, 294.

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Sinn“, meint damit jedoch spezifischer die historische Bedingtheit des Stoffes, durch die sich das Völkerrecht erst bildet (S. 15 f). Insoweit weicht Gürke nicht grundlegend von Suárez ab, auch wenn dieser noch nicht selbst von der Geschichte sprach. Diese erhält dafür bei Gürke im Folgenden einen prominenten, geradezu zentralen Platz. Das liegt auch an den zu referierenden Änderungen durch Völkerbund und den Prozess der Konstitutionalisierung des Völkerrechts, z.B. mit der Haager Landkriegsordnung von 1906. Was im 20. Jahrhundert als geltendes Völ‐ kerrecht zu lehren sei, war damit oft erst vor kurzer Zeit in Kraft getreten. Es musste für Gürke daher überprüft werden, inwieweit das neue Völker‐ recht tatsächlich einen Anspruch auf universale Geltung habe. Doch selbst für das unbezweifelbar geltende, neue Völkerrecht dürfe es nicht als unan‐ gebracht erscheinen, auf den älteren Rechtszustand vor wenigen Jahrzehn‐ ten hinzu weisen, um so ein Verständnis für die Entwicklung und das Neue zu gewinnen. Die Kapitel erhalten dadurch ihre Struktur: Zunächst muss das alte Recht geschildert werden, dann sind die Neuerungen des 20. Jahrhunderts zu referieren und es muss überprüft werden, ob sie tatsächlich universell gelten. Die Ausführungen lesen sich daher wie Auszüge aus der allgemei‐ nen und politischen Geschichte, ausgewählt nach den Bedürfnissen zur Er‐ kenntnis des Völkerrechts. Zugleich wird eine gewisse Skepsis suggeriert, die jüngsten Änderungen ohne weiteres als Ausdruck des modernen Völ‐ kerrechts zu behandeln. Gürke nutzt diesen Affekt, um oft am Schluss eine deutsche Sicht, entweder der Regierung, der Wissenschaft oder seine eige‐ ne Einsicht, zu präsentieren. Die besondere Situation, in der sich das Völkerrecht befindet, macht es ihm leicht, die Entwicklung nicht als abgeschlossen und bindend, sondern als im Fluß und lenkbar aufzufassen. Die Geschichte dient nicht nur dazu, den Stoff zu sammeln und zu ordnen, sondern ebenso dazu, das Transitori‐ sche des status quo zu betonen. Indem er sowohl inkonsequente oder wi‐ dersprüchliche Regelungen des bisherigen Völkerrechts ausmacht, dane‐ ben die bessere Lösung aus deutscher Sicht vorstellt, hilft die historische Einleitung dabei, aus dem Strauß an Möglichkeiten jene Lösung herauszu‐ suchen, die aus der eigenen Sicht als politisch wünschenswert erscheint. Minderheitenschutz konnte es danach offenbar nur geben, wenn sich eine Volksgruppe selbst absondern und solche Rechte in Anspruch neh‐ men will. Die Esten hätten entsprechend ein Gesetz geschaffen, das Min‐ derheiten erst dann schütze, wenn diese es beanspruchten. Die Slowenen hätten in Südkärnten dagegen eine solche Sonderstellung entschieden ab‐ 302

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gelehnt. Falsch sei es daher, die ganz unterschiedlichen Fälle zu verein‐ heitlichen und etwa die verschiedenen Nationalitäten Europas mit dem Fall der Juden gleich zu behandeln (S. 49). Das Völkerbundsrecht könne schon deswegen nicht vollständig verbindlich sein, weil es international immer wieder von vielen Seiten kritisiert worden sei und die von Wilson selbst gesetzten Ziele nicht erreichen könne (S. 50). Das Versagen des Minderheitenrechts im Völkerbundsystem brauchte Gürke nicht einmal als Vorwand, um es aufzugeben. Vielmehr lehrt er nur, dass das defizitäre Recht ergänzt werden müsse. Vor diesem Hintergrund können dann die Ziele des Nationalsozialismus erläutert werden. Dieser bezwecke nicht die Assimilierung der verschiedenen Völker zu einem ein‐ heitlichen Staatsvolk, sondern der Respekt der unterschiedlichen Traditio‐ nen. Jede Gruppe müsse unterschiedlich behandelt werden, so etwa die nicht räumlich gebundenen Juden. Die Nürnberger Gesetze werden heran‐ gezogen um zu beweisen, dass im Reich jeder Volksgruppe ihre kulturel‐ len Organisationen und der Ausbau eines eigenen Schulwesens gestattet werde. Die legitimatorische Wirkung einer Völkerrechtsgeschichte wie die von Gürke, die nach Hegemonien in Epochen einteilt und damit die Herrschaft über andere zur Normalität und Richtschnur macht, liegt auf der Hand. Es kann auch nicht verwundern, warum Carl Schmitt kräftig geschichtsklit‐ ternd sein „ius publicum europaeum“ in Stellung brachte, um seine eige‐ nen Ziele in der Geschichte zu verankern, und daraus seinen „Nomos der Erde“ zu gewinnen, mit dem seine Wertungen dann einen überpositiven Geltungsanspruch gewannen. Seine historischen Ausführungen führten so zu seinem Grundgesetz der Völkerrechtsordnung, das mit der Hilfe seines Dezisionismus die Legitimation des Angriffskrieges und einer deutschen Hegemonie in Osteuropa begründen konnte. Während solche Entwürfe wie die von Schmitts Großraumordnung Mü‐ he hatten ihre rechtliche Verankerung in der Gegenwart nachzuweisen, diente die Völkerrechtsgeschichte bei Gürke viel stärker dem Nachweis ei‐ nes schon geltenden, nur besser zu erkennenden Völkerrechts der Gegen‐ wart. Die Geschichte dient also dazu, das geltende Recht nur als momenta‐ nen Ausdruck des Machtverhältnisses in eine unendliche Geschichte auf‐ zufassen. Der status quo wurde damit historisch relativiert und aus der ei‐ genen Sicht kritisiert und korrigiert, um damit die Geltung der eigenen Vorstellungen begründen zu können. Diese erscheinen damit weniger als ein Vorschlag zur Güte, sondern eher als unweigerliche Konsequenzen,

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ebenso wie die anderen Völkerrechtsentwürfe historisch überkommen und falsch erscheinen. III. Zur Rolle der Völkerrechtsgeschichte 1. Zusammenfassung Diese wenigen Beispiele haben ganz unterschiedliche Strategien im Um‐ gang mit der Völkerrechtsgeschichte aufgezeigt und beweisen, wie unter‐ schiedlich diese zur Legitimation des geltenden Rechts herangezogen wer‐ den kann. Bei Suárez erscheint sie als technische Möglichkeit, um das gel‐ tende Recht innerhalb der großen Rechts-corpora auszumachen. Für Klüber diente die Geschichte pauschal die Grundlage des Postulats einer einheitlichen europäischen Kultur und Rechtsanschauung, die gerade ent‐ gegen der historischen Wahrheit einer großen Vielfalt der Rechtsvorstel‐ lung im konfessionellen Zeitalter die umfassende Geltung eines europä‐ ischen Völkerrechts dokumentieren sollte. Die Bedeutung der Geschichte als Rechtsquelle wollte Oppenheim eigentlich gerade verneinen. Zur Beto‐ nung der umfassenden Bedeutung der Neuerungen vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg diente ihm die Geschichte jedoch dazu, das alte Recht als veraltet, das neue dagegen als einzige Grundlage für die Erkenntnis des geltenden Rechts zu postulieren. Eine wesentlich größere Bedeutung erhielt die Geschichte dagegen bei Norbert Gürke. Sie erbrachte ihm zunächst den Beweis der ideologischen Abhängigkeit des Völkerrechts. Das bestehende Völkerrecht stellte er da‐ mit dar als allein abhängig von dem Willen der Alliierten, also als Sieger‐ recht, das keine universelle Geltung beanspruchen könne. Ferner wollte er die inhaltlichen Fehler und Inkonsequenzen des modernen Rechts nach‐ weisen, um daraus die notwendigen Verbesserungen des geltenden Völker‐ rechts abzuleiten. Die Übersicht zeigt, wie unterschiedlich die Geschichte herangezogen wurde, um das Völkerrecht zu erkennen und zu begründen. Vor diesem hi‐ storischen Hintergrund zeigt sich die Blüte der (Völker-)Rechtsgeschichte besonders deutlich. Natürlich wurde die Rechtsgeschichte auch in den an‐ deren juristischen Disziplinen während des Dritten Reichs herangezogen, um Rechtsänderungen zu begründen. Die Umsetzung von Karl August Eckhardts rechtshistorischem Gutachten binnen drei Wochen lässt wohl je‐ den Juristen ob der unmittelbaren Umsetzung der Theorie in Praxis blaß 304

Die Sumpfblüte des Völkerrechts im NS

vor Neid werden, auch wenn es sich um das Gutachten zur Homosexuel‐ len-Verfolgung und die Umsetzung durch Himmler handelt. Doch im Völ‐ kerrecht führte die Abwesenheit von Kodifikationen dazu, dass der norma‐ tive Stoff noch viel stärker erst durch wissenschaftliche Postulationen ge‐ bildet und gestaltet werden kann. Deswegen konnte gerade die Völker‐ rechtsgeschichte besonders stark zur Ausrichtung der Materie nach den politischen Vorgaben der Machthaber dienen. 2. Folgerung Man kann verstehen, warum nach dem Zweiten Weltkrieg die Völker‐ rechtsgeschichte wieder an Bedeutung verlor. Martti Koskenniemi stellte verschiedene methodische Ansätze nach 1945 nebeneinander und charak‐ terisierte sie insgesamt trotz ihrer Unterschiede als „descriptivism“26. Es liegt auf der Hand, dass die Erfahrungen der 1930er Jahre noch heute prä‐ gen. Nicht zuletzt stellen sie eine abschreckende Erfahrung dar, welche die Blüte der Völkerrechtshistoriographie dieser Zeit nachhaltig kontaminiert. Man wird insofern allenfalls von einer „Sumpfblüte“ sprechen können. Doch reicht es, allein die Gefahr einer Völkerrechtshistoriographie mit den Erfahrungen des Nationalsozialismus zu belegen, um den heuristi‐ schen Wert insgesamt zu verneinen? Die Abkehr von der Geschichte ent‐ hält eine ganze Reihe von epistemologischen Gefahren. Zunächst gilt dies für den Umgang mit älteren Quellen, zumal ältere Verträge im Völkerrecht durchaus keine Seltenheit sind. Mit dem ehrwürdigen Alter, das inzwi‐ schen auch die ersten völkerrechtlichen Gerichtshöfe erreichen, sind auch ihre ältesten Judikate durchaus erst dann zu verstehen, wenn man ihren hi‐ storischen Kontext heranzieht. Und immer noch werden – sogar in nen‐ nenswertem Maße – historische Werke wie Grotius zur Legitimation von Entscheidungen herangezogen27. Schon im Interesse der unvoreingenom‐ menen Rechtsfindung ist hier eine historische Differenzierung erforder‐ lich, die nicht alles nach heutigem Vorverständnis einheitlich und gleich qualifiziert. Hier gilt es, ein Tabu zu überwinden.

26 Martti Koskenniemi, From Apology to Utopia, Helsinki 1989, 187. 27 Björn Florian Faulenbach, Rolle und Bedeutung der Lehre in der Rechtsprechung der Internationalen Gerichtshöfe im zwanzigsten Jahrhundert, (Rechtshistorische Reihe, 407), Frankfurt a.M. u.a. 2010.

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Mathias Schmoeckel

Sodann belegen Erfahrungen des Missbrauchs letztlich nur die Macht einer solchen Vorgehensweise. Die Vernachlässigung einer möglichst kriti‐ schen Völkerrechtsgeschichte öffnet nur denjenigen Tür und Tor, die es für ihre politischen Zwecke heranziehen wollen. Dies kann allenfalls eine um Objektivität bemühte Wissenschaft verhindern. Zeiten ideologischer Gegensätze wie unsere neigen dazu, die Gegner auch mit Vorwürfen aus der Geschichte zu delegitimieren. Gerade im Kampf gegen ideologisch be‐ einflusste Rechtsvorstellungen könnte die Bedeutung einer unabhängigen, kritischen und objektiven Völkerrechtsgeschichte kaum größer sein.

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Autorenverzeichnis

Prof. em. Dr. Wolfgang Benz Zentrum für Antisemitismusforschung Berlin Prof. em. Dr. Uta Gerhardt Berlin Dr. Klaus-Dieter Grunwald, Oberkirchenrat i.R. Darmstadt Prof. em. Dr. Heinz Holzhauer Münster Univ.-Doz. Dr. Martin Moll Karl-Franzens-Universität Institut für Geschichte Graz Prof. em. Dr. Thilo Ramm † Darmstadt Prof. em. Dr. Hubert Rottleuthner Berlin Prof. em. Dr. Dr. h.c. Bernd Rüthers Fachbereich Rechtswissenschaft Universität Konstanz Prof. Dr. Lucia Scherzberg Universität des Saarlandes Institut für Katholische Theologie Saarbrücken

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Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Mathias Schmoeckel Institut für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte Rhein. Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Dr. Christine Schoenmakers Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Fakultät IV – Institut für Geschichte Oldenburg PD Dr. Dieter Waibel Schwäbisch Hall

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Namen und Sachen

Akademie für Deutsches Recht 122, 125, 128 f., 151, 301 Anrich, Ernst (1906-2001) 265 Anschütz, Gerhard (1867-1948) 291 Arendt, Hannah (1906-1975) 55 Ausbürgerung 156 Barth, Karl (1886-1968) 229 Bauer, Fritz (1903-1968) 19 f. Bertram, Adolf (1859-1945) 210 f., 238 Binder, Julius (1870-1939) 48 f. Blomberg, Werner von (1870-1946) 157 Bolschewismus 218, 227 f. Bluntschli, Johann Caspar (1808-1881) 280 f., 301 Bonhoeffer, Dietrich (1906-1945) 21, 232 Bormann, Martin (1900-1945) 73, 88, 152, 175, 184, 194ff. Brauchitsch, Walther von (1891-1948) 158 Bumke, Erwin (1874-1945) 45 Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen 19, 260 Bydlinski, Franz (1931-2011) 17, 22 Canaris, Wilhelm (1887-1945) 21 Darré, Walther (1895-1953) 150 Delp, Alfred (1907-1945) 232 Deutsche Arbeitsfront 176 Deutsche Studentenschaft 247 f., 251 Dohnanyi, Hans von (1902-1945) 21 „Dolchstoßlegende“ 227, 256 „Doppelstaat“ 98 Eckhardt, Karl August (1901-1978) 304 Ehe, Eherecht – – – – –

Ehegesetz (1938) 115ff., 164 f. Eheideologie 121ff. Ehescheidung 117ff. Eheschließung 124ff. Mischehe 123, 139, 143

Ehrengerichte 38 Eichmann, Adolf (1906-1962) 55 Elser, Georg (1903-1945) 167 Eltz-Rübenach, Paul von (1875-1943) 150ff. Epp, Franz Ritter von (1868-1947) 188 Erinnerungskultur 11ff., 18 f., 28 Ermächtigungsgesetz (1933) 80ff., 147, 149, 152, 164, 214 f., 230, 237 Erzberger, Matthias (1875-1921) 206 Fraenkel, Ernst (1898-1975) 97 f. Frank, Hans (1900-1946) 38, 55 f., 122, 129, 151, 165 Freisler, Roland (1893-1945) 44, 52, 124 f., 126, 134, 165 „Fremdvölkische“ 42 Frick, Wilhelm (1877-1946) 97, 130, 149, 153, 164 Führer-Erlass 65ff., 190 Führerprinzip 81, 210, 229, 246, 256 „Führerstaat“ 83, 85, 88 f., 131, 145ff., 154 f., 255, 262 „Führerwille“ 50, 69 f., 74, 93, 152, 167 Fuller, Lon L. (1902-1978) 31 Gauleiter 104, 150, 154 f., 164, 168, 172ff. Geheime Staatspolizei 97, 155 Gehre, Ludwig (1895-1945) 21 Gemeinwohl, -formeln 37, 44 Generalklauseln 16, 37, 44, 86, 93, 100, 114, 133 Gesetz über die Staatsnotwehr (1934) 148, 155, 164 Gesetz zum Schutz des deutschen Blu‐ tes und der deutschen Ehre (1935) 39, 57, 124, 138, 159 f. Gesetz zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche (1934) Evangelische Kirche

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Namen und Sachen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach‐ wuchses (1933) 36 Gesetz zur Wiederherstellung des Be‐ rufsbeamtentums (1933) 12, 41, 110, 137 f., 147, 153ff. Gesinnungsstrafrecht Strafrecht „gesundes Volksempfinden“ 35, 39 f., 93ff. Goebbels, Josef (1897-1945) 140, 146, 150, 160, 174 f., 177, 182, 184ff., 186, 190, 195 Göring, Hermann (1893-1946) 87, 139 f., 146, 148, 150ff. Grynszpan, Herschel (1921-1941/45) 140 Gürtner, Franz (1881-1941) 122, 126ff., 133 f. Gürke, Norbert (1904-1941) 296, 301ff. Habilitation 14, 23 f., 28, 249, 259, 270 Hart, H.L.A. (1907-1992) 30, 32, 35 Hartshorne, Edward Y. (1912-1946) 243 ff. Heimtückeverordnung (1933), Gesetz gegen heimtückische Angriffe (1934), 34, 154 Heß, Rudolf (1894-1987) 71, 128, 130, 150, 175, 194 Heydrich, Reinhard (1904-1942) 140 Himmler, Heinrich (1900-1945) 18, 53, 97ff., 100, 130, 133, 143, 157, 182, 305 Hindenburg, Paul von (1847-1934) 81, 145ff., 154ff. Hitler, Adolf (1889-1945) 15, 20 f., 38, 44 f., 52, 57, 65ff., 73 f., 81, 83, 91ff., 121ff., 131ff., 140, 145ff., 165, 171ff., 211, 214, 227 Hitlerjugend 158 f., 267 Huber, Ernst Rudolf (1903-1990) 13, 47 f., 71, 80, 84, 88, 156 Hugenberg, Alfred (1865-1951) 149 f. Innitzer, Theodor (1875-1955) 216 Jaeger, Lorenz (1892-1975) 217 Johannes XXIII. (1881-1963) 223 Johannes Paul II. (1920-2005) 220

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Judenverfolgung 12 f., 20, 36 f., 42 f., 56, 102, 107, 137ff., 150ff., 162, 165ff., 182, 201, 215 f., 219, 223, 238, 246, 250, 253, 271, 303 Jung, Erich (1866-1950) 51 Kahl, Wilhelm (1849-1932) 121 Kaufmann, Erich (1880-1972) 223, 290 f. Keitel, Wilhelm (1882-1946) 88, 158 Kelsen, Hans (1881-1973) 29 f., 50 f., 58 f., 284, 288ff., 291 Kempner, Robert M. (1899-1993) 19 f. Kerrl, Hanns (1887-1941) 126 f., 129 f., 133, 150, 231 Kirchen im Nationalsozialismus –



Evangelische Kirche – Barmer Theologische Erklä‐ rung (1934) 229 f. 238 – Bekennende Kirche 225, 227ff., 231, 233ff., 238 f. – Darmstädter Wort (1947) 233 f. – Deutsche Christen 217, 225 f., 227ff., 235, 237 – Gesetz zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche (1934) 230 – Kirchenkampf 182, 228ff. – Kreisauer Kreis 232 – Landeskirchen 217, 225 f., 228 f., 230ff., 237 – Stuttgarter Schuldbekenntnis (1945) 233, 239 Katholische Kirche – Arbeitsgemeinschaft für den religiösen Frieden 216 – Arbeitsgemeinschaft katholi‐ scher Deutscher 213 – Bischofskonferenzen 211, 214, 217ff., 230, 238 – Bund katholischer Deutscher 213 – Hirtenworte 212, 239 – „Mit brennender Sorge“ (1937) 215, 238 – Modernismus 204

Namen und Sachen – – – –

Monistenbund 205 Reformkatholiken 209 f., 215 Reichskonkordat (1933) 38, 215, 237 Zweites Vatikanisches Konzil (1962/65) 223

Klüber, Johann Ludwig (1762-1837) 296, 298 f., 304 Koch, Erich (1896-1986) 177, 184, 187 f. Koellreutter, Otto (1883-1972) 254 f., 262 „Kraft durch Freude“ (KdF) 149, 166 Lammers, Hans-Heinrich (1879-1962) 73, 81, 88, 99 Larenz, Karl (1903-1993) 17, 22 f., 48 f., 57, 124 Meinecke, Friedrich (1862-1952) 244, 271 Methodenlehre, juristische 15, 17, 22ff. Mezger, Edmund (1883-1962) 17 f. Misch, Carl (1896-1965) 256 Mischehe Ehe, Eherecht Mordparagraph Strafrecht Münchener Abkommen (1938) 162 ff. Mussolini, Benito (1883-1945) 210, 219 Nagler, Johannes (1876-1951) 103 Nationalsozialistische Deutsche Arbei‐ terpartei (NSDAP) 39, 42, 67, 73, 91, 110, 121, 138ff., 147, 153, 159, 171ff., 174ff., 178, 181, 188, 194 f., 211, 213, 215, 228, 231, 237 f., 247, 270 Nationalsozialistischer Studenten‐ bund 158 f. Naturrecht 16, 19, 28ff., 32, 57 f., 297 Neurath, Konstantin Freiherr von (1873-1956) 152, 163 Niemeyer, Theodor (1857-1939) 287 Niemöller, Martin (1892-1984) 233 f. „Normenstaat“ und „Maßnahmestaat“ „Doppelstaat“ Nürnberger Prozesse (1945/49) 11 f., 20

Oppenheim, Lassa (1858-1919) 296, 299 f., 304 Oster, Hans (1887-1945) 21 Papen, Franz von (1879-1969) 146, 148, 150, 209, 212 Personelle Kontinuitäten nach 1945 13ff. Pius X. (1835-1914) 204 Pius XI. (1857-1939) 214 f., 238 Pius XII. (1876-1958) 219 „Pogromnacht“ (1938) 12, 140 f., 142, 160 Polenstrafrechtsverordnung (1941) Strafrecht Positivismus 19, 29 f., 32, 50, 280, 291, 296 Preysing, Konrad Graf von (1880-1950) 219 Radbruch, Gustav (1878-1949) 19, 30, 32, 51, 120 f. Ramm, Thilo (1925-2018) 5, 27, 145ff. „Rassenschande“ 34, 122, 138 Rath, Ernst vom (1909-1938) 140, 160 Rechtsgeschichte 15, 21, 23ff. Recht und Moral 29ff. Rechtspositivismus 19, 29 f., 32 Reichsbürgergesetz (1935) 39, 138, 143, 159 f. Reichsforschungsrat 257 f. Reichsregierung 78, 80ff., 86 f., 148, 152 f., 164, 188, 194, 214 Reichsstatthalter 153ff., 155, 164, 185, 214 Reichsstatthaltergesetz (1935) Reichsstatthalter Reichstag 45, 47, 70, 74, 80 f., 82ff., 86 f., 120, 121, 146 f., 149ff., 152, 159 Reichstagsbrand (1933) 146 Richterbriefe 45 Richtlinien für das Studium der Rechts‐ wissenschaft (1935) 260 Röhm, Ernst (1887-1934) 48, 52, 148ff., 155, 166 f. Rosenberg, Alfred (1892-1946) 78

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Namen und Sachen Rothenberger, Curt (1896-1959) 70, 104 Rust, Bernhard (1883-1945) 150, 158, 174, 185 f., 246 Saarabstimmung (1935) 161 Sack, Karl (1896-1945) 21 Salomon, Gottfried (1892-1964) 255 Sauckel, Fritz (1894-1946) 177, 180, 186 f. Sauer, Wilhelm (1879-1946) 49, 55 Schacht, Hjalmar (1877-1970) 152 Schaxel, Julius (1897-1943?) 256 Scheler, Max (1874-1928) 206 Schirach, Baldur von (1907-1974) 158, 177ff. Schlegelberger, Franz (1876-1970) 44 Schmitt, Carl (1888-1985) 156, 165, 195, 256, 261, 263, 291 f., 303 Speer, Albert (1905-1981) 183 Schriftleitergesetz (1933) 39 Schücking, Walther (1875-1935) 286 f., 292 Sombart, Werner (1863-1941) 243 Staatsrecht 15 f., 22, 46, 47 f., 60, 72, 82 f., 84 Stein, Edith (1891-1942) 215 Stengel, Karl Freiherr von (1765-1818?) 282 Strafrecht – – – – – –

Analogieverbot 40, 54 Gesinnungsstrafrecht 46 Mordparagraph 42 Polenstrafrechtsverordnung (1941) 109 Strafgesetzbuch 39 Tätertypus 46

Stresemann, Gustav (1878-1929) 288 Strupp, Karl (1886-1940) 287 Stuckart, Wilhelm (1902-1953) 83 Suárez, Francisco (1548-1617) 296 f., 301 „Substanzwerte“ 38 Sudetenland 162, 173 „Tag von Potsdam“ (1933) 47 f., 147 Tätertypus Strafrecht

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Thomas von Aquin (um 1225-1274) 209 Trennbarkeitsthese, Trennungsthese 29ff., 35 Triepel, Carl Heinrich (1868-1946) 283 f., 290 Universitäten 13, 138, 245ff., 260, 263, 266ff. Verbindungsthese(n) 29ff. „Verdrängungs- und Schweigespirale“ 14 f., 16, 25 Verdroß, Alfred (1890-1980) 287 Vereinigung der deutschen Staatsrechts‐ lehrer 16 f. (Polizei-)Verordnung über die Kenn‐ zeichnung von Juden (1941) 143 Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftleben (1938) 139, 141 Versailler Vertrag (1919) 156, 161, 163, 167 f., 234, 254, 277, 285, 287, 290, 301 Völkerrecht – – – – – – – – – – – – –

amerikanischer Bürgerkrieg (1861/1865) 276 f. Brüsseler Konferenz (1874) 277 „englische Epoche“ 274, 278 Freihandel 278 Genfer Konventionen 276 f. Haager Konferenzen (1899/1907) 277 f., 279, 282 Haager Landkriegsordnung (1906) 274, 300, 302 Kriegsführungsrecht 279, 282 Ständiger Schiedshof 279 Verträge von Locarno (1925/26) 161, 288 Völkerbund 147, 161, 206, 252, 285, 286 f., 288, 292, 300, 302 f. „Völkerrechtsgemeinschaft“ 278ff., 289, 291 Völkerrechtsgeschichte 278 f., 289, 291, 295 f., 303ff.

„völkische“ Rechtsanschauung 19, 21 f., 40, 49, 50

Namen und Sachen „Volksfeind“, „Volksschädling“ 46, 95, 99, 101ff., 105, 108 f., 112 „Volksgemeinschaft“ 37, 44 f., 46 f., 49, 52, 91ff., 181, 227, 250, 254 Volksgerichtshof 154, 262 Weber, Max (1864-1920) 243, 269 Wehberg, Hans (1885-1962) 286 f. Weimarer Republik 80, 85, 92, 101 f., 119, 123, 126,147, 207 f., 226ff., 247, 253, 290 f.

Weinkauff, Hermann (1894-1981) 19 f., 21 Wieacker, Franz (1908-1994) 124, 134 Wiedergutmachung 20 Wróbel, Walerjan (1925-1942) 106 f., 109 f., 113 Zeugen Jehovas 102 Zivilrechtslehrervereinigung 15ff.

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