Nada Brahma. Die Welt ist Klang 3499179490

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German Pages 310 Year 1985

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Nada Brahma. Die Welt ist Klang
 3499179490

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Zu diesem Buch

Erst seit kurzem wissen wir, daß die Teilchen - die Protonen und Neutronen - des Sauerstoffatoms in einer Dur-Tonleiter schwin­ gen, daß die Halme einer Bergwiese »singen» - jeder Hahn sein eigenes «Lied» - und daß alle diese «Lieder» der Millionen von Halmen harmonisch zusammenklingen, daß in der Photosyn­ these bei der Entstehung lebendigen Blattgrüns aus Licht und Materie Dreiklänge erklingen, daß Sexualität ein musikalisches Phänomen ist... Ganze Welten und Systeme scheinbar gesicherter Erkenntnis sind in unserem Jahrhundert zusammengebrochen. Zeit und Materie bilden das Fundament: exakt meßbar, wiegbar, be­ rechenbar - das Sicherste, was wir hatten. Heute stehen die Phy­ siker vor dem Trümmerhaufen dessen, was Zeit und Materie einmal gewesen sind. In dieser Situation ist der Klangcharakter der Welt eine der wenigen Sicherheiten, die wir besitzen: Die Welt ist Klang, ist Rhythmus und Schwingung. Berendts Buch ist eine Reise durch Asien und Europa, durch Afrika und Lateinamerika, aber vor allem ist es eine Reise durch die unerforschten Regionen des Unbewußten, das sich uns als eine Landschaft aus Klängen darstellt. P rof . h . c . Joachim-Ernst Berendt, 1922 in Berlin als Pfarrers­ sohn geboren, 1945 Mitbegründer des Südwestfunks, Autor von über 20 Büchern, darunter «Das Jazzbuch», das meistverkaufte Musikbuch, Gründer und Leiter vieler internationaler Jazzfesti­ vals (Berlin, Olympiade München, World Expo Osaka etc.), Produ­ zent zahlreicher Schallplatten, Repräsentant der Bundesrepublik in der International Jazz Federation (UNESCO). Er erhielt zahl­ reiche Auszeichnungen, darunter zweimal den Bundesfilmpreis, den Kritikerpreis des Deutschen Fernsehens, den Polnischen Kulturpreis u. a. 1983 veröffentlichte er sein vieldiskutiertes und erfolgreiches Buch «Nada Brahma - Die Welt ist Klang», das hier in einer gründlichen Neubearbeitung vorliegt. Ferner liegen vor «Die Story des Jazz» (rororo Nr. 7121) und «Das Dritte Ohr» (rororo Nr. 8414).

Joachim-Ernst Berendt

Nada Brahma Die Welt ist Klang

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rororo transformation Herausgegeben von Bernd Jost und Jutta Schwarz Umschlagentwurf Peter Keller

79.-84. Tausend April 1992 Überarbeitete Neuausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, November 1985 Copyright © 1983 by Insel Verlag, Frankfurt am Main Alle Rechte Vorbehalten Satz Trump Mediaeval (Linotron 202} Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 1290-ISBN 3 499 17949 0 Scan & OCR von Shiva2012

Inhalt

Intro 9

Nada Brahma - Die Welt ist Klang I. Was heißt Nada Brahma? 2,3 II. Nada Brahma - als Koan und als Mantra 28 Samt einem Exkurs über die Logik III. Im Anfang war das Wort 67 Über Laut, Logos und Rose IV. «Bevor wir die Musik machen, macht die Musik uns« 74 Vom Makro- zum Mikrokosmos V. Der Klang ruft 99 ... Sterne und Elementarteilchen • Fische und Pflanzen • Kristalle und Blattformen • den männlichen und den weiblichen Körper und die Se­ xualität Kathedralen und Kreuzgänge • den Aufbau der Erde und die Statue des Memnon im Niltal

VI. Klang ist gewisser als Zeit und Stoff 118 VII. Harmonie als Ziel der Welt 145 VIII. Sound im Bauch 167 Über «die» Klang und «die» Echo, über Amen und OM

IX. Tempel im Ohr 177 Über das Hören, die Stille - und die Wachheit X. Nada Brahma: Was sagen die Musiker? 197 Über indische Musik, Jazz, Rock, Minimal Music Samt einem Exkurs über Hermann Hesse XI. Die Legenden und Mythen der Völker haben es schon immer gewußt: Gott schuf die Welt aus dem Klang 224

Anhang Zen und das Japan von heute 239 Postskriptum über die Wissenschaft 257 Nachwort 270 Wie ich zu Nada Brahma kam und wem ich Dank schulde Quellen • Literaturhinweise • Anmerkungen 279 Namen- und Sachregister 299

Nada Brahma

Wer sich selbst und andre kennt, Wird auch hier erkennen: Orient und Okzident Sind nicht mehr zu trennen. Sinnig zwischen beiden Welten Sich zu wiegen, laß ich gelten; Also zwischen Ost und Westen Sich bewegen, sei's zum besten. Goethe

Offene Weite - nichts von heilig! Bodhidharma

Wie unfaßbar bescheiden sind die Menschen, die sich einer einzigen Religion verschreiben! Ich habe sehr viele Religionen, und die eine, die ihnen übergeordnet ist, bildet sich erst im Laufe meines Lebens. Elias Canetti

Das Universum und ich existieren zusammen, und alle Dinge und ich sind eins. Da alle Dinge eins sind, ist kein Grund mehr zur Rede. Da ich jedoch eben gesagt habe, daß alle Dinge eins sind, wie kann da Rede nicht wichtig sein? Hinter den Teilen ist immer etwas Ungeteiltes, hinter dem Bestreit­ baren etwas Unbestreitbares. Du fragst: Was? Der Weise trägt es in seinem Herzen. Dschuang-tse

Im Gedenken an John Coltrane Jean Gebser Hermann Hesse Sufi Hazrat Inayat Khan Hans Kayser

Intro

I. «Nada Brahma» begann im Funk - in der Reihe «Soireen» des Süd­ westfunks. Ich glaube, das ist spürbar geblieben: im Collage-Cha­ rakter. Viele Stimmen sprechen. Das gehört zum Radio, das wollte ich bewahren. Der Klang, von dem in diesem Buch die Rede ist, ist auch ein Zusammenklang. Ein Akkord aus vielen Stimmen. Von Lao-tse bis Niels Bohr. Von Pythagoras bis John Coltrane. Vom Psalmisten bis Hermann Hesse. Vom Zen-Meister Hakuin bis Heisenberg. Darüber wird von allein deutlich - und doch möchte ich es aus­ sprechen: Der Autor tritt zurück. Er ist - in bestimmten Kapiteln von «Nada Brahma» - «Kom-ponist»: Zusammen-füger. Es ist nicht ein Autor, der hier spricht. Es sind viele. Zu den Stimmen, die in diesem Buch sprechen, gehören nicht nur diejenigen der modernen Wissenschaft, sondern auch solche aus sehr alter Zeit. Alles - fast alles was in diesem Buch steht, hat die Menschheit seit je gewußt. Aber sie hat es verdrängt. Nicht mehr wissen wollen. Der Südwestfunk hat auf die «Nada Brahma »-Sendungen sehr viel Post bekommen, die höchste Anzahl von Zuschriften je im Bereich des Kulturprogramms; erstaunlich viele Hörer schrieben, sie hätten den Eindruck, daß sie all dies «immer schon geahnt», «immer schon in sich getragen» hätten und daß es ihnen «durch diese Sendungen lediglich bewußt gemacht» worden sei. «Nada Brahma» also - vielleicht - als Indiz: für einen Bewußtwerdungsprozeß, der sich in dieser Generation abspielt. 9

II. «Nada Brahma» handelt von einem Neuen Bewußtsein, dessen wachsende Präsenz in diesen Jahren selbst diejenigen spüren, die es ablehnen. Futurologen, Ökologen, Friedensforscher, kybernetisch den­ kende Wissenschaftler, die noch nicht in ihrem Spezialistentum erstickt sind, Ärzte, die über den Maschendraht ihrer Schulmedi­ zin hinaussehen, sagen uns immer wieder: Es ist 5 vor 12. In einer Zeit, in der die Menschheit pro Minute 2,3 Millionen Dollar für ihre mögliche Vernichtung ausgibt, ist unser aller Ende «machbar». Und das ist ja unsere Erfahrung: Was immer dem Menschen «machbar» ist, das tut er schließlich. Die Anzeichen, daß Furchtbares geschehen wird, häufen sich. Zuerst haben es nur die Einsichtigen gewußt, inzwischen weiß es fast jeder - und wer es nicht weiß, kann es nahezu jeden Tag in der Zeitung lesen oder spürt es in seiner Arbeit (oder daran, daß er sie verloren hat), am Geldbeutel, an Gesundheit und Lebensqualität, - an all den «Zei­ chen», die uns beständig gegeben werden (und die wir gleichwohl mißachten): Jährlich verwandelt sich auf dieser Erde eine Fläche von der Größe der Bundesrepublik in Wüste,- bis zum Ende des Jahrhunderts werden 60 bis 70 % der Wälder, die bisher unsere Landschaft geprägt haben, verschwunden sein; zwischen 437000 (mindestens!) und 1,4 Millionen biologischer Arten - gerechnet wird mit 60 % aller existierenden - werden bis zum Jahre 2000 unwiederbringlich ausgerottet sein (nachdem vom Anfang des 16. Jahrhunderts bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges nur 100 Säugetiere und 150 Vogelarten durch menschliche Einwirkung ge­ tilgt wurden!) - und es ist allenfalls ein Ausdruck des unverwüst­ lichen menschlichen Optimismus, im übrigen aber unbegreiflich, daß immer noch die Mehrzahl der Menschen glaubt, das allge­ meine Sterben werde ausgerechnet vor ihrer eigenen Gattung haltmachen - in einer Zeit, in der der Begriff der megacorpse 1000000 Tote! -, von den perversen Gehirnen der Militärs ge­ prägt, unaufhaltsam in das Denken der Politiker und Journalisten kriecht. «Sich den wirklichen Zustand der Welt vor Augen zu hal­ ten, ist psychisch unerträglich» (Christa Wolf). In den sechziger Jahren ging die Meldung durch die Weltpresse, daß Angehörige des amerikanischen Peace Corps in Tansania und anderen ostafrikanischen Staaten festgestellt hatten: Was sie auch taten, es schlug - trotz allen Geldes, trotz aller Mühe - zum 10

Schlechten aus. Ökonomisch, landwirtschaftlich, industriell, ge­ sellschaftlich, ökologisch verschlimmerte sich die Situation der Länder, denen zu helfen sie eigentlich gekommen waren, immer noch mehr. Die Peace Corps-Leute ließen Computer mit den Daten der Probleme und sämtlichen Hilfs-, Veränderungs- und Verbesse­ rungsvorschlägen füttern, zu denen Wissenschaftler und Politiker geraten hatten. Antwort der Computer zu jedem einzelnen Rat­ schlag: «Verschlechterung!» Ähnliche Antworten gaben Compu­ ter, die zu der wachsenden Unregierbarkeit amerikanischer, afrika­ nischer und asiatischer Großstädte befragt worden waren. Zu jeder wissenschaftlich empfohlenen Maßnahme sagten sie nein. Der Mathematiker, Physiker und Pädagoge Claudio Hoffmann schreibt in einem wesentlichen (und kämpferischen) Buch über die moderne Wissenschaft: «Die wissenschaftliche Denkweise hängt zwar unmittelbar zusammen mit der akuten Gefährdung der Menschheit durch ökologische Katastrophen, atomare Aufrü­ stung, ökonomische, soziale und psychische Verelendung. Es ist aber nicht möglich, im Rahmen der heutigen Wissenschaft wir­ kungsvolle Maßnahmen zur Abwendung dieser Gefährdung zu entwickeln. Vielmehr bringt uns jede Maßnahme, die mit den Mit­ teln heutiger Wissenschaft entwickelt und durchgesetzt wird, der Katastrophe näher.» Ich habe mich gleich damals, als ich die Meldung über die Ergeb­ nisse der Peace Corps-Leute las, gefragt, warum die Computer nicht auch mit «Bewußtseinsänderung» gefüttert worden waren mit jenem neuen Denken und Fühlen, das sich in unserer Zeit kristallisiert und das gewiß weniger «anti-» als «post-wissenschaftlich» ist. Ich bin sicher: Dazu hätten die Computer, gäbe es Menschen, die sie mit einer solchen Möglichkeit sinnvoll hätten programmieren können, als dem einzigen noch möglichen Ausweg ja gesagt. Inzwischen ist das Gespenst der Unregierbarkeit auch in den Industrieländern aufgetaucht, ja einige von ihnen haben heute grö­ ßere Probleme als die Dritte Welt. Mitte der achtziger Jahre liest man alle paar Wochen Äußerungen von maßgebenden Politikern, daß sie bereits fest mit einem Atomkrieg rechnen,- seine Vorberei­ tung schreitet zügig voran. Die bisher defensive - und auch als solche gewiß wahnwitzige - Rüstung der westlichen Welt wird zielstrebig und ohne daß die Öffentlichkeit darüber aufgeklärt würde, auf «Erstschlag-Kapazität»-also auf atomare Aggressionumgestellt. Und selbst dann, wenn uns der Atomtod erspart blei­ ben sollte, scheint die ökologische Katastrophe vorprogrammiert. 11

Wir alle haben es in diesen Jahren dutzendfach gehört und gele­ sen: Nur ein neues Bewußtsein kann uns noch retten. Aber wir haben auch die Frage gehört: Was kann es nutzen, wenn ich die­ ses Bewußtsein in meiner eigenen Seele entwickle - durch Um­ kehr und Umdenken und Meditation und alle die anderen Mög­ lichkeiten, von denen wir wissen -, was nutzt es, daß ich dies tue, mich abkapselnd, immer nur an mir selber arbeitend, wenn sich draußen und um mich herum die Verhältnisse in kaum mehr nachvollziehbaren Progressionen verschlechtern? Kommt es in dieser Situation nicht viel stärker darauf an, anderen zu hel­ fen, bevor ich mir selber helfe? Ist es nicht narzißtisch und ego­ istisch, mich immer nur mit mir selbst zu beschäftigen? Auch hierzu ist uns die Antwort gegeben - von vielen der weisen Men­ schen, die in diesem Buch zitiert werden, von den Denkern Asiens und den Zen-Meistern Japans bis zu Hermann Hesse, von Sokrates bis Erich Fromm: Wir sind die Welt. Das heißt: Wir können die Welt nicht verändern, wenn wir zuvor nicht uns sel­ ber verändert haben. Jeder andere Weg ist absurd. Er verbessert nicht, sondern verschlechtert, weil wir das, was in uns selber nicht in Ordnung ist, in jede politische, ökonomische, gesell­ schaftliche Lösung hineintragen, die wir durchsetzen wollen. Das ist der Grund, warum - wie Hans Magnus Enzensberger ein­ mal gesagt hat - «die Projekte des 19. Jahrhunderts von der Ge­ schichte des 20. samt und sonders falsifiziert worden» sind. Dut­ zende von Lösungsversuchen bestimmter Gefahrensituationen und Krisen seit dem 2. Weltkrieg, so erfolgversprechend sie zu­ nächst schienen, und all das Kümmerliche und Enttäuschende, was jeweils aus ihnen geworden ist, bestätigen den Befund. Sieg­ reiche Revolutionäre ähneln wenige Jahre später denen, die abzu­ schaffen sie angetreten waren. Wie gesagt, die Computer antwor­ ten: «Verschlechterung!» - inzwischen auch in der westlichen Welt. Inwiefern aber können wir die Welt verändern, wenn wir uns selber verändern? Jahrhundertelang war diese Frage nicht zu be­ antworten. Wir wußten nur, daß es so ist. Alle die großen Um­ brüche in historisch überblickbarer Zeit waren zuerst Umbrü­ che des Bewußtseins - leicht erkennbar etwa in Renaissance und Reformation, aber auch vorher schon der Umbruch der Zeiten­ wende, als aus der Welt der Antike eine neue und andere Welt entstand. Kriege, Revolutionen, neue Lebensstile, Gesellschafts­ formen, Entdeckungen - alles beginnt im Kopf. Was immer sich grundlegend verändert hat, hat sich zuerst 12

im Bewußtsein des einzelnen Menschen verändert. Erst danach veränderte sich die Welt, in der die Masse der Menschen lebt. Vielleicht wissen wir heute, warum das so ist - auch davon han­ delt dies Buch. - Alles ist Eins», haben die Weisen Asiens und die alten Ägypter gesagt. Man konnte das glauben oder auch nicht glauben. Inzwischen bestätigt die moderne Atomphysik - die Komplexe Relativitätstheorie Jean E. Charons, Erkenntnisse von Physikergruppen in Pasadena und Princeton, die sogenannte «Bootstrap-Physik», das Phänomen der Holographie und anderes, über das wir sprechen werden -, daß in der Tat «alles Eins» ist, auf eine unserem Intellekt nicht nachvollziehbare und gleichwohl wissenschaftlich, mathematisch, experimentell zu erhärtende Weise. Wenn aber «alles Eins» ist, dann ändert mein Bewußtseindann ändert das Bewußtsein von einem Menschen das Bewußt­ sein von tausend Menschen, und das Bewußtsein von einer Mil­ lion Menschen kann das Bewußtsein von 100 Millionen, das Be­ wußtsein von 100 Millionen das Bewußtsein von einer Milliarde Menschen verändern. Die wahren Träger des Geistigen, sagt der französische Atomphysiker Jean E. Charon, sind unsere Elektro­ nen und Photonen: «Wir sind unsere Elektronen.» «Was in uns denkt, das sind unsere Elektronen.» Ein Mensch von 60 Kilo Ge­ wicht besteht aus einer Zahl von Elektronen, die durch die Ziffer 4 gefolgt von 28 Nullen darstellbar ist. Das sind viel, viel mehr Elek­ tronen, als es Sterne im Universum gibt. Und wenn die Physiker errechnet haben, daß in jedem von uns immer noch Elektronen stecken, die Buddha und Jesus, Lao-tse und Mohammed ausgeat­ met haben, dann ist kein Zweifel: Deine «denkenden Elektronen» stecken in mir, und meine «denkenden Elektronen» stecken in dir. Es gibt also Indizien - physikalische, wissenschaftliche Indi­ zien - dafür, daß unser Bewußtsein tatsächlich die Welt verändern kann; ein Blick auf die Geschichte bestätigt dies ohnehin. Wenn aber ein anderer Weg nicht in Sicht ist, wenn Politiker, Wissen­ schaftler und Ökonomen ratlos sind (und die gewissenhaften un­ ter ihnen diese Ratlosigkeit auch zugeben), dann sollten wir den Weg des Neuen Bewußtseins zu gehen versuchen.

III.

Viele hervorragende Denker, Wissenschaftler, Psychologen, Phi­ losophen und Schriftsteller haben das Neue Bewußtsein beschrie­ ben und umschrieben. Es gibt eine ganze Literatur darüber. Aber noch nirgendwo ist gesagt, was auch zu seiner Kennzeichnung gehört: daß es ein Bewußtsein hörender Menschen sein wird, will sagen: Nicht mehr das Auge wird - wie allgemein heute Vorrang vor dem Ohr, sondern umgekehrt das Ohr Vorrang vor dem Auge haben. Das Hörbare, der Klang, wird wichtiger sein als das Sichtbare (und nur um die Relation geht es: um die Unverhält­ nismäßigkeit unserer Augen-Bevorzugung, denn beides - Auge und Ohr - sind edle, unverzichtbare Organe). Der sehende Mensch analysiert, er zerlegt in Teile - wie sofort deutlich wird, wenn man das Sehen auf die Spitze treibt: beim Blick durch Elektronenmikroskope. Da zerfällt sogar noch das, was «unteilbar» scheint. Das Auge ist etwas Wunderbares, aber je besser es ist, desto schärfer ist es, und Schärfe ist eine Qualität des Messers und des Schneidens. Der - vorrangig - sehende Mensch hat jenen Exzeß der Rationalität herbeigeführt, dessen Zusam­ menbruch wir gegenwärtig erleben. Im Zeitalter des Fernsehens führt sich der sehende Mensch selbst ad absurdum. Er sieht nicht mehr die Welt, sondern nur noch ihr Abbild - und ist damit auf eine unbegreifliche Weise zufrieden. Um es provozierend zu sagen (später in diesem Buch wird alles dies differenziert werden): Bewundernswertes, höchstes Ideal des Augenmenschen ist der «Adlerblick». Der Adler erspäht seine Beute, stürzt auf sie nieder und packt sie. Das ist ein Ideal, das zum westlichen Menschen paßt - dem Menschen, der sich daran ge­ wöhnt hat, die ganze Welt als seine Beute zu betrachten. Es ist ein schönes, aber ein aggressives Ideal, das heißt: in der heutigen Zeit ein gefährliches. Symbol des Ohres ist die Muschel, die ihrerseits das weibliche Geschlechtsorgan symbolisiert - ein Symbol des Empfangens und Aufnehmens; das Leben wird nicht analysiert, es wird als Gan­ zes in sich aufgenommen, es wird - im Sinne des Schweizer Phi­ losophen Jean Gebser- «wahr»-genommen. Aber das Ohr mißt auch - und tut dies genauer und sorgfältiger als Auge und Tastsinn -, wie physiologisch, physikalisch und ma­ thematisch nachgewiesen wurde (und wie wir in diesem Buch zei­ gen werden). Bereits für die Chinesen war das Auge ein Yang-Sinn: 14

männlich, aggressiv, herrschend, verstandesorientiert, die Ober­ fläche betrachtend, zerlegend - während das Ohr der Yin-Sinn ist: weiblich, empfangend, helfend, intuitiv und spirituell, ins Innere dringend, das Ganze als Eines wahrnehmend. Es ist eine Yin-Wahrnehmungs- und Darstellungsweise, die in «Nada Brahma» nicht nur gefordert, sondern auch schreibend zu geben versucht wird. Dieses Buch ist das Buch eines hörenden Menschen. Das Ganze ist ihm wichtiger als seine Teile. Synthese ist wichtiger als Analyse. Zusammenhang wichtiger als Spezialisation. Und doch müssen viele Teile bewußt sein, um «Ganzes» wahr­ nehmen zu können. Für «viele Teile» ist das Wissen eines einzel­ nen Menschen notwendig begrenzt. Ich muß das zugeben, aber das darf nicht - wie es gar zu oft in der Vergangenheit geschehen ist dazu führen, das Feld - wieder einmal! - den Spezialisten zu über­ lassen, samt ihrer häufig demonstrierten Fähigkeit, das Ganze aus den Augen zu verlieren. Auch unser Unvermögen darf uns nicht hindern, «das Ganze als Eines» verstehen und deshalb auch dar­ stellen zu wollen. «Hinter dem Teilen ist immer etwas Ungeteil­ tes. Hinter dem Bestreitbaren etwas Unbestreitbares.» Ein Ausgangspunkt war mein Interesse am Hören: meine Erfah­ rung, daß sich der moderne Mensch zu einer solchen Hypertro­ phie des Optischen verstiegen hat, daß er nicht mehr adäquat hö­ ren kann. Ich wollte ein Buch über das Hören schreiben, aber - und mich selber hat das zunächst gewundert - es ist auch ein spirituel­ les Buch geworden. Es wird deutlich werden, warum das so ist und zwangsläufig so sein muß. Der Verfall unseres Hörsinnes läuft auf fällig parallel mit der Säkularisierung - mit dem, was man die «Abkopplung des westlichen Menschen von Gott» genannt hat. Daß der moderne Mensch «nicht mehr auf Gott hört», ist eine Alltagsweisheit, die ich nicht hierher schreiben würde, wenn in diesem Satz die beiden Worte «auf Gott» nicht so auffällig leicht fortgelassen werden könnten. Der moderne Mensch hört nicht mehr auf Gott. Der moderne Mensch hört nicht mehr. Der erste Satz ist eine theologische Feststellung, der zweite kann sich zum Beispiel darauf beziehen, daß wir trotz fortgeschrittener Techno­ logien offensichtlich keinen Wert darauf legen, daß unsere Fern­ sehapparate einen den heutigen Möglichkeiten entsprechenden Ton haben. Trotzdem hängen diese beiden Sätze zusammen. Auch das wird deutlich werden. Wo immer Gott sich dem Menschen kundtat, wurde er gehört. Er mag im Lichte erschienen sein, aber um verstanden werden zu 15

können, mußte Seine Stimme vernommen werden. «Und Gott sprach» ist eine Standardformel aller Heiligen Schriften. Die Oh­ ren sind das Tor. Das Feld des Gesehenen ist Oberfläche. Der Bereich des Gehör­ ten ist Tiefe. Das Auge tastet Flächen ab. Nichts aber kann durch das Ohr wahrgenommen werden, was nicht eindringt. Ja, auch dann, wenn etwas nur oberflächlich gehört wird, muß es immer noch tiefer eindringen als der Blick, der in die Oberfläche, die allein er wahrnehmen kann, überhaupt nicht hinein kann. Der hörende Mensch also hat mehr Chancen, in die Tiefe zu dringen, als der sehende. Was immer in diesen Jahren über das Neue Bewußtsein gesagt worden ist, ist richtig und wesentlich, aber eines wurde vergessen: Der Neue Mensch wird ein hörender Mensch sein - oder er wird nicht sein. Er wird in einem Maße Klänge wahrnehmen, von dem wir uns heute noch keine Vorstellung machen können. Von diesen Klängen handelt «Nada Brahma». Diese Klänge sind «Nada Brahma». Freilich erinnern Hörer und Leser - mit Recht - daran: Wir müs­ sen auch wieder neu lernen zu sehen. Nur leiden wir bereits an einer Überzüchtung unseres Augensinns. Und es gibt in der west­ lichen Welt eine verehrungswürdige Tradition und Kultur des Au­ ges, des Sehens und des Lichtes: über die Renaissance bis zurück zu den Griechen. Es gibt nichts Vergleichbares in unserer Welt, was das Hören betrifft. Die tiefere Veränderung unseres Bewußtseins (und das ist wohl unbestritten: wir brauchen ein neues Bewußtsein, eine an­ dere Wahrnehmung von Welt)... die tiefere Veränderung wird da­ durch ausgelöst, daß wir uns endlich das Ohr und das Hören in dem Maße erschließen, in dem das Auge und das Sehen ohnehin in unserer Kultur erschlossen sind. Wenn wir wieder gelernt haben zu hören, dann werden wir auch unsere Hypertrophie des Auges korrigieren können. Dann werden wir verstehen können, daß - so hat Goethe, der Augenmensch, es gefordert - «die Geistesaugen mit den Augen des Leibes in stetem Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr gerät, zu sehen und doch vorbeizuschauen.»

IV. Auf drei großen «Nada Brahma»-Toumeen durch die Bundesrepu­ blik, die Schweiz und Österreich (s. den Kassetten-Hinweis in V.) haben mir viele Menschen gesagt, mein Buch sei «zu lang». Vor allem von jungen Menschen kam dieser Einwand - von denen also, die sich am stärksten von «Nada Brahma» betroffen fühlen. Schweren Herzens habe ich mich deshalb entschlossen, die bei­ den großen Kapitel «Der Musiker als Weltbürger» und «Indien und der Jazz» der gebundenen Ausgabe fortzulassen - Kapitel, die in besonderem Maße spezialisiert sind und ohnehin von vielen Lesern der ersten fünf Auflagen übersprungen wurden. Sie bleiben aber in der gebundenen Ausgabe erhalten. Versteht sich, daß der eigentliche «Nada Brahma»-Teil nicht ge­ kürzt wurde, im Gegenteil, er wurde durch viele neue Abschnitte, Korrekturen und Anmerkungen ergänzt. Für Verbesserungsvor­ schläge danke ich vor allem Rudolf Haase, dem Meister der Harmonikalen Grundlagenforschung in Wien. Ich habe, als ich «Nada Brahma» schrieb, nicht ahnen können, wie groß das Echo werden würde. Im Gegenteil, ich dachte, ich könnte mir nach den vielen Jazzbüchern, die ich geschrieben habe, auch einmal ein Buch leisten, das einen kleineren Leserkreis anspricht - ein Buch, das eine Frucht des spirituellen Weges ist, den ich seit dem Anfang der sechziger Jahre - seit meiner Begeg­ nung mit dem Jazzmusiker John Coltrane und seit meinen AsienReisen - gegangen bin. Ich war - und bin im Grunde noch immer überrascht, daß der Leserkreis von «Nada Brahma» dann schnell sehr viel größer wurde als der meiner Jazzbücher in den letzten Jahren. Besonderen Widerhall fand das Kapitel über das Hören: «Tem­ pel im Ohr». Keines wurde so oft besprochen, diskutiert, zitiert, referiert. Die Leser verstanden den Anruf: «Höre, so wird deine Seele leben!» (Jesaja). Höret, so werdet ihr überleben! Hier habe ich weitergearbeitet. «Tempel im Ohr» wurde das «Sprungbrett» zu einem weiteren Buch: «Das Dritte Ohr - Vom Hören der Welt» (Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1985). Ich habe hier versucht, Fra­ gen zu beantworten, zu denen «Nada Brahma» mich - und, wie ich weiß, viele Leser - geführt hat: Warum hat die Evolution unseren Hörsinn so sorgfältig diffe­ renziert? Warum hat sie die Meßfähigkeit - die Mathematik - gerade in 17

ihm verborgen? Und warum verbirgt sie - gleichzeitig! - in ihm die Fähigkeit zur Transzendierung? Und obendrein noch die zur Balance, zum Gleichgewicht? Warum sind die Aussagen unseres Ohres so viel genauer als die des Auges? Warum ist der range unseres Hörbereiches so viel brei­ ter- exakt um das Zehnfache! - als der Sehbereich? Was wird uns damit signalisiert? Warum haben wir - in den letzten dreihundert Jahren: seit Gali­ lei, Descartes, Bacon - diese Signale nicht mehr verstanden? Was können wir gewinnen, wenn wir die Signale wieder ver­ stehen lernen? Wenn wir - zum Beispiel in der Biologie, der Evo­ lutionslehre, der Anthropologie, der Sprachwissenschaft, der Soziologie - genauso sorgfältig und bewußt mit unseren Ohren arbeiten, wie es die Wissenschaftler nun schon seit Aristoteles mit den Augen tun? Was lehrt uns die Sprache? Was - zum Beispiel - bedeutet es, daß das Wort VERNUNFT - eines der gepriesensten unserer Zi­ vilisation - von VERNEHMEN kommt, also von einem Hörvorgang, während doch das exakt parallel gebildete Wort VERSE­ HEN eben ein Versehen - eine Täuschung - bezeichnet? Warum hören Männer Frauen nicht zu? Warum unterbrechen sie sie so viel häufiger - nach sorgfältigen Untersuchungen einer amerikanischen Universität: 25 mal öfter! - als Frauen Männer unterbrechen? Wie ist es dazu gekommen, daß der Satz «Du hörst mir ja über­ haupt nicht zu!» ein Standardvorwurf in unseren Beziehungen ge­ worden ist? Was würde sich ändern - in der Gesellschaft (was im­ mer auch heißt: in der Politik) -, wenn er seltener nötig wäre? Warum haben Frauen höhere Stimmen als Männer? Warum hat die herkömmliche Wissenschaft diesen Sachverhalt nicht unter­ sucht, wo es doch offensichtlich ist: Überall in der Natur und Mu­ sik haben höhere Stimmen Leit-Funktion. Hohe Instrumente Geigen, Flöten, Trompeten - tragen die Melodie, während tiefere - in «männlichen» Tonlagen - Celli, Bässe, Posaunen, Tuben meist nur eine Begleitfunktion haben und als Melodieträger nur dann wahrgenommen werden, wenn die höheren schweigen. Auch im Straßenverkehr wählen wir Signale in höheren, «weib­ lichen» Lagen: Polizeisirenen, Erste Hilfe-Wagen, Alarm-Signale, wenn dies wichtig für unser Überleben ist. Ja, selbst noch auf dem Kasernenhof zieht der Feldwebel, der doch traditioneller­ weise ein Sinnbild patriarchalischer Überlegenheit ist - seine Stimme in höhere Lagen, wenn er will, daß ihm gehorcht wird: 18

«Rechts um!» Das «um» liegt in den meisten Fällen sehr viel hö­ her als die «normale» Stimme des kommandierenden Offiziers oder Unteroffiziers. Was will uns die Natur, die Evolution damit sagen? Warum hat die männlich dominierte Wissenschaft derar­ tige Fragen über-hört - und über-sehen? Warum neigt sie über­ haupt dazu, Hörfragen zu übersehen, während sie optische Pro­ bleme nun schon jahrhundertelang mit Eifer untersucht? Warum hat die Sprache das Wort AUFHÖREN geschaffen? Warum identifiziert sie das Ende, den Schluß, das Fertig-Sein mit dem Aufhören zu hören, dem Ende des Hörens? Alle diese Fragen sind auch bereits die Fragen dieses Buches.

V. In einer Sammlung von Zen-Koans, die der japanische Mönch Genro im Jahre 1783 in Kyoto vorlegte, steht der Satz: «Eine Lehre, die das tägliche Leben nicht einbezieht, ist nicht die wahre Lehre.» Was dem einen oder anderen Leser im Hauptstück dieses Buches gar zu theoretisch erscheinen mag, das gewinnt Leben in den beiden Kapiteln des Anhangs. Wer es nicht schon vorher gemerkt hat, wird spätestens in «Zen und das Japan von heute» realisieren: «Nada Brahma» ist nichts Esoterisches. Es darf gelebt werden. Es muß gelebt werden. Auch für den Autor war der Weg zu «Nada Brahma» ein gelebter Weg. Erst später folgte dem Leben das Lesen, dem Er-fahren das Er-arbeiten. Zu unserem Leben gegen Ende des 20. Jahrhunderts gehört die Wissenschaft. Aber sie gehört zu sehr zu ihm. Inwiefern ihr An­ spruch zu relativieren ist, wird deutlich im «Postskriptum über die Wissenschaft». «Nada Brahma» ist ein sehr friedliches Buch, hier aber ist Aggressivität zu spüren. Wir brauchen Wissenschaft­ ler, aber wir brauchen sie nicht anders, als wir Klempner und Tischler brauchen. Was darüber ist, das ist vom Übel, denn wir haben begriffen: Wissenschaft kann auch gefährden. Sie darf nicht mehr die bestimmende Kraft unseres Lebens sein. Das «Darüber» kann aber auch zu einer neuen Wissenschaft führen, - einer ganzheitlichen und partizipierenden. Auf sie be­ ziehe ich mich. Die großen Physiker unseres Jahrhunderts waren 19

die ersten, die sie sichtbar gemacht haben. Deshalb ist mir Physik wichtig - aber auch noch aus einem anderen Grunde: Sie war die Wissenschaft, mit deren Studium ich als junger Mann, bevor ich mich der Musik zuwandte, begann. Musik und Klänge sind wichtig für dieses Buch. Gern hätte ich eine Schallplatte beigelegt. Zu viele Lizenz-Probleme stehen dem entgegen. Es gibt aber Kassetten: 1.) Die Dop­ pelkassette »Nada Brahma» (auf Wergo, Schott Verlag, Mainz), aufgenommen bei einer «Nada Brahma»-Veranstaltung in der Frankfurter Alten Oper - mit dem Obertonsänger und Saxopho­ nisten Roberto Laneri, dem indischen Sarod- und Tabla-Meister Kamalesh Maitra und Gert Westphal und mir als Sprechern, mit Musik von Bach, Händel, Coltrane, sowie Klängen von Planeten, Pulsaren etc., sowie 2.) die beiden Kassetten «Ur-Töne» (BauerVerlag, Freiburg i. B.) mit den Tönen der Erde, der Sonne, des Mondes, sowie dem Shiva-Shakti-Klang der indischen Überliefe­ rung; sie sind auch zur Meditation bestimmt (die letztere zur Paar-Meditation im tantrischen Sinn); ein ausführlicher Begleit­ text gehört dazu. Um das Lesen nicht durch eine Fülle von Anmerkungen zu bela­ sten, wurde auf bezifferte Fußnoten verzichtet. Trotzdem emp­ fehle ich, vom Quellen- und Anmerkungsteil regen Gebrauch zu machen. Nebenbei enthält dieser Teil auch ein Verzeichnis der «in-Bücher», das nahezu alles aufführt, was für «Nada Brahma» und seinen geistigen Umkreis lesenswert ist.

VI. An den Schluß dieser Intro möchte ich ein paar Sätze stellen, die ich seit fast zwanzig Jahren durch viele meiner Bücher schleppe: Ich kann nicht hoffen, allen Irrtümern entgangen zu sein, noch erwarte ich, daß meine persönlichen Auslegungen von jedermann übernommen werden. Ich glaube, daß gerade dieses Buch - mehr als irgendein anderes, das ich geschrieben habe - ein sehr persönli­ ches Buch ist. Ich bin denen dankbar, die mir folgen, aber ich re­ spektiere diejenigen, die es nicht tun.

Nada Brahma Die Welt ist Klang

I. Was heißt Nada Brahma?

Nada Brahma ist ein Urwort indischer Geistigkeit. Ein Urwort auch der großen klassischen Musik Indiens. Von dorther muß es erklärt werden. Aber bevor das geschieht, ist vorbeugend zu sa­ gen: Dieses Buch handelt nicht von Indien - oder doch nur inso­ fern, als die indische spirituelle Erfahrung zum Bestand der gei­ stigen Erfahrung der ganzen Menschheit gehört. Dieses Buch handelt von uns. Es betrifft den heutigen westlichen Men­ schen. Was immer hier von fremden Völkern und fernen Zeiten gesagt wird, deckt sich, sofern es recht verstanden wird, mit den Erkenntnissen moderner Wissenschaft: kosmologisch - morpho­ logisch - biologisch - mythologisch - harmonikal - astro- und atomphysikalisch. Allerdings haben die Weisen Asiens viele der Dinge, von denen wir sprechen werden (und deren Erkenntnis sich die moderne Wis­ senschaft zugute hält), bereits zwei- oder dreitausend Jahre vor uns gewußt. Also: Nada Brahma. Nada ist Sanskrit und heißt «Klang». In den Lexika steht auch: «lauter Ton, Geschall, Gedröhne, Rau­ schen, Brüllen, Schreien». Aber nadá heißt außerdem «Stier». Brüllender Stier. Über das Brüllen vollzog sich die Bedeutungser­ weiterung von «Klang» zu «Stier». Vorher hatte es noch einen an­ deren Bedeutungswandel gegeben. Verwandt nämlich ist nadi: «der Strom, der Fluß», aber auch: «rauschend, tönend, klingend.» Der Fluß rauscht, der Klang rauscht: auf diesem Wege ist aus «Fluß» «Klang» geworden. Deutsche Spuren von nadi finden sich in «naß» und in den Flußnamen Nidda und Nette. Nadi wird auch im Sinn von «Strom des Bewußtseins» gebraucht-bereits im Rigveda, dem ältesten der vier heiligen Veden-Bücher Indiens - vor vier Jahrtausenden. Die Beziehung von Klang und Bewußtsein, um die es in diesem Buch geht, ist also schon in der Sprache ange­ legt. Und der «Klang-Strom» ist eine menschliche Ur-Vorstellung, seit es Sprache gibt. In einem einzigen Satz sagt es Martin Buber: «Wir horchen in uns hinein - und wissen nicht, welchen Meeres Rauschen wir hören.» Wir haben «zusammengeworfen» - in einem einzigen Absatz: 23

Ton, Klang, Gedröhn, brüllende Stiere, rauschende Flüsse, das Rauschen des Meeres und die deutschen Flüsse Nidda und Nette. «Zusammenwerfen» heißt auf griechisch: symbállein. Dieses Wort heißt außerdem: zum Streit reizen, Geld ausleihen, einen Wechsel ausstellen, deuten, erklären, Zusammentreffen, zusam­ menfließen, ineinander fallen, handgemein werden, kämpfen und schließlich: verstehen. Das Wort Symbol kommt von sym­ ádllein. Also: Wir haben Symbole geschaffen. Symbole wofür? Die Antwort gibt das zweite Wort unseres Titels, das Wort Brahma. Brahma ist, neben Shiva und Vishnu, einer der drei Hauptgötter des Hinduismus; die anderen, die es neben und unter ihnen gibt, sind im Grunde nur Reinkarnationen dieser drei. Die Inder spre­ chen von der Trimuiti, der Trinität ihrer drei Hauptgötter. Reli­ gionswissenschaftler haben darin Parallelen zur christlichen Tri­ nität von Vater, Sohn und Heiligem Geist entdeckt. Von Trinität zu reden, ist - im Hinduismus wie im Christentum wie in anderen Religionen, in denen es Trinität gibt - nur insofern sinnvoll, als Dreiheit letztlich Einheit ist. Wer Christus sagt, meint Gott; wer Gott sagt, meint auch den Heiligen Geist; wer Heiliger Geist sagt, meint Christus und Gott. Wer Brahma sagt oder Shiva oder Vishnu - meint letztlich: das Höchste Göttliche Prinzip der hinduistischen Welt. In diesem Sinn ist auch der Hin­ duismus eine monotheistische Religion. Deutlich wird dies - un­ ter anderem - an der speziellen Form des «Ur-Hinduismus», die sich auf Bali erhalten hat; hier gibt es noch eine Ahnung davon, daß die Fülle der Haupt-, Neben- und Untergötter, die ja nicht nur hinduistischer, sondern auch animistischer Herkunft sind, dem Einen Gott «übergestülpt» wurden. In einem Lexikon finde ich: «Brahma (Sanskrit): ursprünglich indische Zauberformel, später als schöpferisches Urwort, Welt­ grund und heiliges Wissen verstanden, wurde das Brahma zum Zentralbegriff indischer Weltdeutung. Es ist eins mit dem geisti­ gen Selbst des Menschen.» Nada Brahma heißt also zunächst ein­ mal: Klang ist Gott; oder englisch (wir werden finden, daß die Übersetzung beziehungsvoll ist): Sound is God. Und umgekehrt: Gott ist Klang. Aber Brahma, der Alles-Erschaffer, ist mehr als Gott. Er ist iden­ tisch mit dem, was ER erschaffen hat und worin ER ständig an­ wesend ist. Deshalb wird ER so oft mit vier Häuptern dargestellt, die in je eine der vier Himmelsrichtungen schauen. Brahma also ist auch: die Welt. Brahma ist: die Welt. Brahma ist: der Kosmos. 24

Brahma ist als Prinzip - als das sogenannte Brahman - die Urkraft des Kosmos, das geistige Selbst des Menschen und alles Lebendigen. Die Upanischaden, die zusammen mit den Veden (als deren Bestandteil) die älteste und wichtigste Überlieferung indi­ schen Denkens bilden, haben ein einziges großes Hauptthema, das mit unerschöpflicher Ideenfülle immer wieder neu variiert wird: Brahman ist alles. «Brahman ist das Absolute. Alles, was ist, ist Brahman oder das Heilige Wort, das nicht erklärt werden kann. Es ist unbedingt und ohne Eigenschaften. Es ist die Weltseele, die alle Einzelseelen enthält, so wie das Meer alle Wassertropfen enthält, aus denen es sich zusammensetzt. Brahman ist Leben. Brahman ist Freude. Brahman ist Leere ... Freude, wahrhaftig, ist das gleiche wie Leere. Die Leere, wahrhaftig, ist das gleiche wie Freude.» Das Lexikon drückt es, unserer westlichen Rationalität entspre­ chend, folgendermaßen aus: «Das Brahman...: Innerlicher Grundstoff und Wirkungskraft aller natürlichen und geschicht­ lichen Dinge und Ereignisse.» Und Brahma über sich selbst (in den Upanischaden): «Ich bin der Schöpfer, der Schoß der Welt, bin aus dem eigenen Wesen erworben, bin der einzige Herr, bin anfangloses höchstes Wort. Wer mich als solchen verehrt, wird erlöst. Ich bringe alle Götter ins Werden und ende ihr Wirken, und nicht findet sich irgendwer in den Welten, der mich überragte.» Die Worte Brahma und Brahman leiten sich von der SanskritWurzel bri her, die «wachsen» bedeutet. Alles, was wächst - was 25

lebendig ist - und in den Kosmologien sowohl der alten brahmanischen Weisen wie der modernen Astrophysiker wächst auch das Universum - ist Brahma und Brahman: die unteilbare Einheit des Seienden. Nada Brahma heißt also nicht nur: Gott, der Schöpfer, ist Klang, sondern auch - und dies vor allem: Die Schöpfung, der Kosmos, die Welt ist Klang. Die Welt ist Sound. Und: Klang ist die Welt. Aber auch: Klang ist Freude. Und sogar: Die Leere ist Klang. Und schließlich: Der Geist und die Seele sind Klang. Das Wort Nada, Klang, ist dabei ebenso wichtig wie das Wort Brahma oder wie das kosmische Prinzip Brahman, will sagen: wie das Wort Gott. Das also ist bereits jetzt zu erkennen: Klang ist Zentralbegriff: Der Welt-Nada. Die Nada-Welt. Der Brahma-Klang. Das KlangWort. Das Wörtchen «ist- zwischen «Welt» und «Klang» könnte fortbleiben. Nada Brahma ist Eines: der Ur-Klang des Seienden. Das Seiende selbst. An dieser Stelle beginnt der «Trip» dieses Buches. Wir haben zur Kenntnis genommen - kaum mehr noch als dies -, was Nada Brahma ist, und wir begeben uns auf die Reise - durch Makround Mikrokosmos und durch die Welt, in der wir leben, und wir befragen Atomphysiker und Astronomen und Kosmologen und Mathematiker, Biologen und Evolutionsfachleute, Chemiker und Botaniker, Logiker und Kybernetiker, Mystiker und Rationa­ listen, Kenner des Buddhismus und des Zen, des Hinduismus, des Islam und des Christentums, wir fragen Musikwissenschaft­ ler und Musiker in Ost und West, Ethnologen und Sprachwissen­ schaftler und Kenner der Sagen, Mythen und Märchen der Völker der Welt, wir fragen Wissenschaftler und solche, die Wissen­ schaft ablehnen, ja für gefährlich halten, heutige Menschen und die Weisen und Wissenden der Vergangenheit in Orient und Ok­ zident, wir fragen auf Reisen in Japan und China, auf Bali und den Inseln Polynesiens, in Indien, Hinterindien und Tibet, in Persien und in Ägypten, in Nord- und Südamerika und in Afrika: Ist die Welt wirklich Klang? Und wenn ja, inwiefern ist sie Klang? Inwiefern ist sie ein einziges, unvorstellbar großes Kosmi­ sches Musikinstrument? Ist auch die Struktur des Mikrokosmos mit ihren Elektronen und Photonen zuallererst Klang? Und sind auch Blattformen und Kristalle, menschliche und tierische Kör­ per Klang? Ist auch das Wort und die Sprache vor allem anderen Klang? Ist auch das Wort und die Sprache vor allem anderen Klang? Sind wir selber Klang? Ist auch das, was wir als Geist und 26

als Seele bezeichnen, Klang? Und die Beziehung, die wir Liebe nennen - wird sie durch klangliche Progressionen gesteuert? Sind w i r die Spieler des Instrumentes? Oder ist es der Zufall? Oder wer sonst?

II. Nada Brahma - als Koan und als Mantra Samt einem Exkurs über die Logik

Die Welt ist Klang. Sofort stellt sich die Frage: Was für ein Klang? Das ist eine Schlüsselfrage, denn wenn die Welt Klang ist, wird diese Frage gleichbedeutend mit derjenigen nach der Ursubstanz der Welt - physikalisch gesprochen also nach Atomen, Neutronen und Positronen, nach Photonen, Quarks und Leptonen und all den anderen Elementarteilchen, aus denen der Atomkern, aus denen das Universum, aus denen wir bestehen. Wir werden sehen, daß es in der Tat zwischen diesen beiden Fragen eine enge Beziehung gibt. Die folgende Frage stellen japanische Zen-Meister ihren Schü­ lern: «Wenn du auslöschst Sinn und Tonwas hörst du dann?» Einer der großen Zen-Meister des 11. Jahrhunderts hat sie erdacht. In den Zen-Klöstern Japans wird sie seit Jahrhunderten gefragt, es ist also eine bewährte Frage. Die Japaner nennen sie ein Koan. Koan, chinesisch kung-an, heißt ursprünglich «Öffentliches Do­ kument», «Öffentliche Bekundung». Gewiß ist ein Koan, wie es im Zen verwendet wird, kein öffentlicher «Anschlag» mehr, aber es ist hilfreich, sich dieser Bedeutung bewußt zu bleiben: Koans sind matters of fact, sie werden dem Meditierenden mitgeteilt, und er hat sich nach ihnen zu richten. Er hat zu sehen, wie er mit ihnen zurechtkommt. Koans sind Formeln, Fragen, Aufgaben, die den Anschein der Rationalität erwecken und doch rational nicht lösbar sind. Gelöst werden können sie allein in der Meditation. Jeder kann sie nur für sich selber lösen. Keiner kann die Lösung von irgend jemand ande­ rem übernehmen. Wüßte ich also die Antwort und schriebe sie hierher: sie wäre bedeutungslos für andere - selbst dann, wenn sie 28

mein Leben bereits geändert hätte; denn das tut die Antwort auf ein Koan: ein Leben ändern. Man muß eine solche Frage - man muß sein Koan - viele Male fragen. Das Fragen ist wichtiger als das Beantworten. Das Fragen ist schon die Antwort. Zen-Meister sagen: Das Fragen ist der Weg. Das Wort «Weg», tao im Chinesischen, do im Japanischen, besitzt selber schon spirituelle Bedeutung - noch bevor gesagt ist, um welchen Weg es sich handelt und wohin der Weg führt. Man denke dem nach. Auf «den» Weg begibt sich der Zen-Schüler. Er fragt viele Male. Er sitzt in der Meditation - und in der dazugehörigen Haltung und meditiert das ihm aufgegebene Koan. Wenn er nur eine halbe Stunde sitzt (das tägliche Minimum), mag er sein Koan hundert, vielleicht hundertfünfzig Mal gefragt haben. Wenn er täglich vier Stunden sitzt - meist sitzt er aber länger -, hat er eintausend­ zweihundert Mal gefragt. Es gibt Meditierende, die ein Jahr oder auch viele Jahre - benötigen, um, wie man das nennt, ihr Koan zu «knacken». Um die bisherige Rechnung weiterzufüh­ ren: ein Jahr - das wäre rund eine halbe Million mal: «Wenn du auslöschst Sinn und Tonwas hörst du dann?» Das Fragen kann ein Leben dauern. Die Antwort benötigt, wenn man sie findet, wenige Sekunden. Oft wird sie als «Blitzschlag» beschrieben, ja eben das war jahrhundertelang ein Hauptstreit­ punkt zwischen den verschiedenen Sekten des Zen: ob man sich der Lösung allmählich in einem graduellen Näherungsprozeß oder schlagartig bewußt werde. Die «Blitzschlag»-Richtung hat sich durchgesetzt. Hakuin, der große, 1685 geborene japanische Zen-Weise, der die Koan-Technik zu ihrer heutigen Vollendung geführt hat, schreibt: «Wenn du ein Koan aufnimmst und es unaufhörlich unter­ suchst, dann wird dein eigener Geist sterben und dein Ich-Bewußtsein zerstört werden. Es ist, als ob ein unermeßlicher, leerer Abgrund sich vor dir öffne, und du findest mit Händen und Fü­ ßen keinen Halt. Du glaubst, dem Tod ins Auge zu sehen, und fühlst dein Herz in Flammen aufgehen. Dann bist du plötzlich eins mit dem Koan, und Leib und Geist sind abgelegt... Das ist die Schau in die eigene Natur. Du mußt unnachgiebig weiter vor­ 29

stoßen, und mit Hilfe dieser vollkommenen Sammlung wirst du unfehlbar zum Urgrund deiner Natur Vordringen...» Daisetz Suzuki, der in unserem Jahrhundert, besonders in den USA, so viel für das Verständnis des Zen getan hat, vergleicht das Koan mit einem glühenden Ball. Der Meditierende schluckt den Ball und will ihn - erschrocken - sofort wieder ausspucken, aber der Ball wächst und wächst und wird so groß, bis das Ego ein einzi­ ger glühender Ball geworden ist. «Das Ego ist endlich zum Koan geworden.» Darüber stirbt es den «großen Tod», der in der Fach­ sprache des Zen taishi heißt, und geht ein in die «Große Geburt» (japanisch daigo). «Das Ego platzt wie eine Wasserblase.» Weil Koans mit Erfahrung zu tun haben, möchte ich über ein Koan sprechen, mit dem ich selbst eine gewisse - mit den Ergeb­ nissen der großen erfolgreichen Zen-Meditierenden nicht ver­ gleichbare - Erfahrung gemacht habe. Mein erster Zen-Meister in Kyoto in Japan hat es mir gegeben: «Nichts Böses. Nichts Gutes. Mein Ur-Angesicht Jetzt!» Oder ausführlicher: «Denke an nichts Böses und auch an nichts Gutes. Versuche nur dies: Herauszubekommen, wie dein Ange­ sicht aussah, bevor du in diese Welt tratest. Vor deiner jetzigen Inkarnation. Versuche dies jetzt herauszubekommen.» Was geschieht - was kann geschehen -, wenn man sich dieser Aufgabe hingibt? Zunächst einmal ist es einleuchtend: Niemand soll an etwas Böses denken. Aber, so möchte man annehmen, man soll dies ja wohl deshalb nicht tim, um dadurch Raum zu schaffen für das Gute - um also desto mehr an Gutes denken zu können. Nein, sagt aber diese Aufgabe - und das ist der Beginn der Zen-Absurdi­ tät, freilich erst ihr Beginn: Du darfst auch an Gutes nicht denken. Die Gleichsetzung der beiden Wort-Paare «Nichts Böses/ Nichts Gutes» - man kommt zu diesem Schluß bei entsprechend langer Beschäftigung mit dem Koan ganz von allein auf «logische» und doch gleichzeitig auch auf völlig «außer-logische» Weise kann nur bedeuten: die Gleichsetzung von Bösem mit Gutem. Beides - so sagt das Koan - ist gleichermaßen unwichtig, gemes­ sen an dem, worauf es ankommt. Das Böse und das Gute bilden die - oder zumindest eine ganz wichtige - Ur-Polarität. Das also ist der nächste Schritt: Polaritä30

ten sind unwichtig. Es gibt sie nur scheinbar. Du hältst dich mit Unwichtigem auf, wenn du all den Spannungen, in die wir geraten sind, gar zu viel Bedeutung zumißt: Böses und Gutes. Helles und Dunkles. Gott und Teufel. Himmel und Hölle. Oben und Unten. Warm und Kalt... Vergiß das. Du sollst es vergessen, weil der zweite Teil der Aufgabe dich doch wohl? - weiterbringen wird: Dein Ur-Angesicht! Wie eigent­ lich sahst du früher aus? Und dann, zwangsläufig daraus folgend: Wie hast du noch früher und immer noch früher ausgesehen? Zuerst suchst du wirklich nach einem Gesicht. Monatelang vielleicht. Du tauchst immer weiter zurück. Du siehst viele Ge­ sichter. Du ahnst sie. Aber vor jedem Gesicht, das du siehst oder ahnst, muß es noch ein früheres gegeben haben. Bis die Gesichter aufhören. Du weißt ja, du hast das in der Schule gelernt: Mensch­ liche Gesichter gibt es erst seit soundso vielen Hunderttausenden von Jahren. Was war vorher? Gene? Zellen? Und vor diesen: Mole­ küle? Atome? Und vor den Atomen: Partikelchen? Elementar­ teile? Photonen? Das Ur-Licht, von dem die Kosmologie der mo­ dernen Physik, aber auch die Bibel spricht: Im Anfang war das Licht-? Die Photonen-Brühe. Der Licht-Brei. Du kannst diesen Weg gehen, aber natürlich auch einen ande­ ren. Wenn du ihn gehst, wird irgendwann-allmählich oder auch plötzlich - das Suchen nach Licht vorrangig. Wird Licht dein UrAngesicht? Du tauchst und tauchst und tauchst und suchst und suchst und suchst -Licht! Vielleicht suchst du es nur. Aber es ist auch möglich, daß du es erfährst. Vielleicht bist du nicht sicher und dein Ergebnis liegt irgendwo zwischen dem Suchen und dem Erfahren. Die Meister sind sicher. Du bist kein Meister. Aber du sagst dir: Wenn die Mei­ ster sicher sind, warum kann ich es nicht sein? Ich will auch si­ cher sein. Und du gibst nicht auf und machst weiter. Ich beschreibe also auch weiter. Aber was beschreibe ich? Im Grunde kann ich ja, abgesehen von den Schmerzen, die mir das Still-Sitzen bereitet, nur eines beschreiben: Was ich gedacht habe. Das aber ist es doch gerade, was gar nicht so wichtig ist. Das sollst du doch überschreiten! Du liegst in deinem Koan wie in einem Fluß. Das Koan treibt dich und nimmt dich mit. Du liegst auf dem Rücken-vom Wasser deines Koans umgeben. Nur Mund und Nase tauchen heraus, da­ mit du atmen kannst: Gedanken atmen. An allen übrigen Stellen deines Körpers - deines Wesens, deines Seins - umgibt dich das Koan-Wasser so dicht und so schmiegsam, daß Gedanken dich gar 31

nicht erreichen. Genau dies ist das Verhältnis zwischen den Ge­ danken und all dem anderen, was du nicht beschreiben kannst: das Verhältnis zwischen deiner Nasenspitze und dem Rest deines Körpers. Oder das Verhältnis zwischen den zehn Minuten, die man braucht, um das zu lesen, was ich hier versuche zu beschrei­ ben, und den zwei Jahren meiner Beschäftigung mit diesem Koan: drei Seshins, in denen nur gesessen und meditiert wird, täglich acht Stunden lang, eines in Kyoto, zwei in Deutschland, das eine in Frankfurt, das andere in Neresheim, in der übrigen Zeit täglich zweimal dreißig Minuten Meditation dieses Koans, nicht nur zu Hause in Baden-Baden, sondern auch auf allen Geschäfts- und per­ sönlichen Reisen zu Vorträgen und Konzerten, Festivals und Kon­ ferenzen, in Europa und in den USA und zwei Wochen lang auch in Brasilien: Nichtsbösesnichtsgutesmeinurangesichtjetzt. Irgendwann auf diesem Wege begreifst du, daß du etwas ganz Gewöhnliches tust. Der Zen-Meister ist im fernen Kyoto. Du kannst ihn vergessen. Du hast es als Kind von deinem Lehrer im Griechisch-Unterricht gehört - aber auch dann, wenn du nicht Griechisch gelernt hättest, kenntest du Sokrates' Forderung: Gnothi seautón. Erkenne dich selbst. Du hast sie gehört oder gele­ sen. Du denkst: zu oft. Du kannst auch Sokrates vergessen. Du erinnerst dich: Es ist ja auch eine moderne Forderung. Freud, Jung, Adler, Reich, Fromm, Fritz Perls - die ganze Psychologie und Psychoanalyse und Psychotherapie laufen darauf hinaus - ob sie dich auf die Couch legen oder auf den Stuhl der Gestalt-Therapie setzen oder in den abgedunkelten Raum der Urschrei-Therapeuten sperren: Erkenne dich selbst. Auch von hierher also kommst du, wenngleich von anderem Ausgangspunkt, zu der - nun schon monatelang gestellten - Frage: Wer bist du? Wie siehst du in Wirk­ lichkeit aus? Wie sahst du ursprünglich aus? Du kannst nichts antworten. Immer noch nichts. Ja, doch: Dies könntest du ant­ worten: Nichts. Gewisse Dinge denkst du. Du bist ja ein denken­ der Mensch. Du kannst nicht sein, ohne zu denken - und doch ist das Denken in der Meditation anders als das alltägliche, anders auch als das intellektuelle Denken. Es ist immer «er-sessen» und hat schon deshalb auch mit Erfahrung zu tun. Du denkst also: Nichts. Du denkst: Die Atome, aus denen du bestehst, sind-zu­ sammengepreßt - kleiner noch als ein Staubkorn. Abgesehen von diesem Staubkorn ist: Nichts. Aber auch das Staubkorn löst sich auf -: in Atome, und dann die Atome in Elementarteilchen und Schwingung und Energie und in Immer-noch-weniger. In nichts. 32

Wenn du schon ein wenig in Zen eingeweiht bist, erinnerst du dich: Auch das Nichts - japanisch Mu - ist eine Aufgabe. Wie auch das Licht eine Aufgabe ist - die Aufgabe des Tibetanischen Toten­ buches: -Mein Bewußtsein - leuchtend und rein - untrennbarer Bestandteil des Großen Strahlungskörpers - kennt weder Geburt noch Tod. Es ist das unveränderliche Licht.» Nichts. Nichts. Nichts. Licht. Licht. Licht. Ur-Angesicht. UrAngesicht; Ur-Angesicht. Du merkst, all diese Aufgaben laufen auf das gleiche hinaus. Als ich mich eine Weile mit dem tibetanischen Wort beschäftigt hatte, schlug mein christliches Erbe durch. Immer stärker mel­ dete sich das Wort aus dem Jesaja: »Mache dich auf. Werde Licht. Denn dein Licht kommt. Und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir.» Ich spürte, die beiden Worte - das tibetische und das alttestamen­ tarische - bedeuten letztlich das gleiche. Das Licht, das da zu dir kommt, ist der «Große Strahlungskörper». Es kommt zu dir, wenn du selber Licht wirst: wenn du dir bewußt wirst, daß dein eige­ nes Bewußtsein «leuchtend und rein» ist, «Bestandteil des Gro­ ßen Strahlungskörpers». Aber es kommt nur, wenn du dem An­ fang gehorchst, den ersten drei Worten: «Mache dich auf!» Du darfst nicht warten, daß irgend etwas von allein zu dir kommt. Mache dich selber auf, nur dann erfährst du das «unveränderliche Licht», das für den Propheten Jesaja die «Herrlichkeit des Herrn» ist. Dieses Licht - diese «Herrlichkeit» - kennt weder Geburt noch Tod, und mit einem Mal bist du wieder dort, wo du vorher schon warst: Das ist ja ein Teil deiner Aufgabe - die Schranke zwischen Tod und Geburt zu durchbrechen. Was ist vorher gewe­ sen? Dein Ur-Angesicht als Angesicht des Lichts? Aber deine Aufgabe hat noch einen dritten Teil: das Wort Jetzt! Jetzt sollst du dein Ur-Angesicht sehen. Im Grunde also kannst du aufhören. Du siehst es ja gar nicht jetzt. Du kannst doch nicht jeden Tag einer Lüge aufsitzen: Dir immer wieder «JetztJetzt-Jetzt» sagen, und jetzt geschieht gar nichts. So dumm kann doch dein Zen-Meister nicht sein, daß er glaubt, du fällst darauf rein. Was also ist gemeint mit dem Jetzt? Warum Jetzt? Warum nicht morgen, wo doch, wenn überhaupt, allenfalls morgen - oder 33

in ein paar Monaten oder fahren - etwas geschieht nach all dem zehntausendmal wiederholten N I C H T S B Ö S E S N I C H T S G U TESMEINURANGESICHTJETZTNICHTSBÖSESNICHTSGUTESMEINURANGESICHTJETZTNICHTSBÖSESNICHTSGUTESMEINURANGESICHTJETZTNICHTS ... JETZTJETZTJETZT... Längst ahnst du - machst du deshalb noch weiter? -, daß die­ ses Wort «Jetzt» das wichtigste an deiner Aufgabe ist. Nichtsbösesnichtsgutes JETZT! Vergiß alles andere. Tu nur dieses eine. Aber dies ganz und gar. Was es auch sei. Du hast das gelesen - in alten Zen-Schriften: Scheiße und pisse und liebe und iß und schlafe. Und fühl deine Schmerzen vom stundenlangen Sitzen im Buddha-Sitz: in den Beinen, im Kreuz - manchmal fühlst du sie überall - du bist nur noch Schmerz - fühl ihn und sonst gar nichts - und wenn du das eine Weile getan hast, dann fühlst du eben dies letztere: gar nichts. Die Schmerzen lösen sich auf. Tu immer nur eines - aber dies ganz und gar: Jetzt! Und du erfährst, daß Jetzt und Gestern und Morgen zusammenfallen. Daß es Zeit gar nicht gibt. Daß sie sich auflöst. Wie deine Schmerzen. Es bleibt nur das Jetzt. Jetzt fühlst du dein Bein. Deine Schmerzen. Jetzt meditierst du. Jetzt denkst du - nein, jetzt bist du: Jetztjetztjetztjetzt ... «Jetzt» sagst du auf dem Höhepunkt der Liebesvereinigung, und auch aus diesem «Jetzt» fällt alles andere heraus, es bleibt nur das Jetzt, und du erfährst: Unter allem, was du bisher erfahren hast, ist dies die einzige annähernd vergleichbare Erfahrung: Auch hier ist das Jetzt Alles. Und Eines. Und auch hier geht zumindest manchmal - das Jetzt in das Alles über. Aber du läßt auch dies hinter dir, denn der Vergleich stimmt nur annähernd. Und du erfährst: Auch das Jetzt läuft - wie das Böseundgute, wie das Ur-Angesicht und das Nichts und das Licht - auf das gleiche hinaus. Du hast ja schon erfahren: Wo es nur das Jetzt gibt, ist keine Zeit mehr. Also ist dein Ur-Angesicht gar nicht so lange her. Und auch das Nichts und das Licht nicht. Dies also ist Jetzt. Und im Jetzt ist all dies: Das Ur-Angesicht und das Nichts und das Licht und all das andere, zu dem dich dein Weg geführt hat. Vielleicht hat er dich irgendwann auch zu einem Klang ge­ führt. Zumal dann, wenn du dich ohnehin viel mit Klängen be­ faßt. Dein Koan wird selber ein Klang, wenn du es oft genug wie­ derholt hast. Die sieben Worte deiner Aufgabe sind wie sieben Noten einer Leiter - oder eines Akkordes. Du hörst - und du 34

sagst sie als Eines. Du brauchst die Worte nicht mehr. Der Klang genügt. Er erklingt immer und jetzt. Er ist jetzt. Er ist der glü­ hende Ball, den dein Ego verschluckt, und dann wächst er und wächst - und das Ego platzt. So kann sich das abspielen. Und gleichzeitig: Nein. So spielt es sich nicht ab. Denn es spielt sich nicht ab in Worten und Begrif­ fen und in Gedanken und Abstraktionen. Deshalb wurde es dir ja aufgegeben: um die Begriffe zu überschreiten. Wie beschreibt man die Überschreitung? Man umschreibt sie. Ungenügend und annähernd - wie ich es zu tun versucht habe. Lao-tse sagt dazu: «Das in Worten ausdrückbare tao ist nicht das ewige tao. Ein Name, der ausgespro­ chen werden kann, ist nicht der des ewigen tao.» Und im «Genro», dem bereits erwähnten Buch der Koans, heißt es: «Ein Koan ist ein seltsames Ding. Wer sich damit be­ schäftigt, wird in eine Welt der Erfahrung eingeführt. Je mehr Er­ fahrung, um so tiefer dein Einblick in die Buddha-Natur.» Man bedenke diesen letzten Satz. Der christliche Parallel-Satz dazu würde wohl lauten: «Je größer dein Glaube, um so tiefer dein Einblick in das Wesen Christi.» Erfahrung und Glauben ste­ hen einander gegenüber. Zen handelt nicht von Dingen, an die man glauben - oder dann eben auch nicht glauben - kann. Zen handelt von etwas, das einer erfährt. Und was einer erfahren hat, das weiß er. Daran ist nicht zu rütteln. Deshalb kommt das Wort «Glauben» in Zen-Texten nicht vor. Es wird nicht benötigt. Be­ nötigt wird es im Westen - zum erstenmal im frühen Christen­ tum, bei Paulus vor allem, und von da an ständig wachsend, je stärker sich der immer rationalistischer, immer «kopforientier­ ter» werdende Mensch den Weg zu eigenen religiösen Erfahrun­ gen verstellte. Für Luther steht der Glaube im Mittelpunkt - und das war auch nötig, denn mit der Reformation beginnt die Neu­ zeit: Die Hypertrophie der ratio bedarf - wenn das Religiöse in ihr überhaupt noch eine Chance haben soll - der Hypertrophie des Glaubens. Das Erstaunliche ist, daß der Zen-Meister überprüfen kann, ob der Schüler sein Koan wirklich «geknackt» - will sagen: die Lö­ sung selber erfahren - hat. Außenstehende wundern sich: Woher weiß er denn das? Jedenfalls geschieht es oft, daß ein Meditieren­ der beglückt zu seinem Rõshi, seinem Zen-Meister, eilt, ihm sagt, er habe das ihm aufgegebene Koan gelöst - aber der ZenMeister schickt ihn wieder fort: der Meditierende sei einer Scheinlösung aufgesessen, er solle weiter meditieren. Zen-Mei­ 35

ster sind streng. Sie können ärgerlich werden, wenn ihnen gar zu oft Scheinlösungen angeboten werden. «Schein» gibt es häufig in der Meditation - auch den «Schein des Schönen». Der Meditierende klammert sich an ihn wie an einen Strohhalm. Am Ende ergibt sich: Es war wirklich nur ein Strohhalm. «Wenn du auslöschst Sinn und Ton was hörst du dann?» Es geht, wie gesagt, nicht darum, eine Antwort hierherzuschrei­ ben. Aber es ist offensichtlich: Der Ton, nach dem dieses Koan fragt, ist ein Ton «jenseits von Sinn und Ton». Ein Ton auch jen­ seits aller Musik. Und doch der Ton, der aller Musik zugrunde liegt und dem alle Musik nachspürt. Wir erinnern uns an die im vorhergehenden Kapitel gegebene Erklärung von Nada Brahma: Der Ton, der übrig bleibt - jetzt übrig bleibt -, wenn man Sinn und Ton ausgelöscht hat, ist der nada, das Ur-Rauschen und das Ur-Gedröhn des Ur-nadis, des Ur-Flusses, der die Welt ist. Dieser Ton selbst ist die Welt. Wir werden immer wieder darauf zurück­ kommen müssen. Wir haben bereits gemerkt: Fast alle Koans laufen auf das glei­ che hinaus. Lies Groening, eine deutsche Atemtherapeutin, die vier Jahre im Kloster Shokoko-ji in Kyoto als einzige Frau unter Zen-Mönchen meditierte, bekam von ihrem Meister die Aufgabe, einen Glockenklang während seines Erklingens zum Stillstand zu bringen. Auch hier also ging es darum, Sinn und Ton auszu­ löschen. Was hörte sie dann? Lies Groening mußte sich fragen, ob sie je wirklich gehört hatte. Erst jetzt lernte sie hören. Sie wurde eins mit dem Klang der Glocke. Erst da hörte sie ihn wirklich. Sie mußte so «total hören», daß sie der Glockenschlag selbst wurde. Erst dann konnte sie ihn zum Stillstand bringen. Erst dann wurde Stille «das große Instrument, in das alle Chöre des Lebens ein­ münden». Viele meditieren nicht über ein Koan, sondern über ein Mantra (und natürlich - das ist das beste, wenn man es kann - über Nichts). Mantras sind Wort- und Silbenklänge. Wir werden se­ hen: Deshalb gerade - weil sie Klang sind - wirken sie. Was sagt das Wort Mantra? Die Silbe man heißt Verstand. Auch Denken und Fühlen. Alles, was den Menschen ausmacht. In man 36

steckt das englische man und das deutsche Mensch, auch das kleingeschriebene deutsche man. Tram ist die helfende und be­ schirmende Kraft, die «Fittiche» des Psalmisten: «ER breitet seine Fittiche über dir. Seine Wahrheit ist dein Schirm und dein Schild.» Das ist tram. Ein Man-tram breitet Fittiche über Ver­ stand, Denken und Fühlen. Über den Menschen. Lama Anagarika Govinda nennt Mantras «Geistige Werkzeuge» ... «Werkzeuge des Geistes». Mantras entstehen aus dem mantrischen Laut, der im Sanskrit bija heißt: Same. Mantras sind aufgehende Samenkörner. Aus Mantras sprießt Einswerden. Sie sind «Werkzeuge des Einswer­ dens». Das Wort bija ist wahrscheinlich mit der im I. Kapitel er­ wähnten Sanskrit-Wurzel bri = wachsen verwandt, von der sich der Gott Brahma und das Brahman, das kosmische Prinzip, her­ leiten. All dies gehört in einen einzigen sprachlichen Zusammen­ hang. Der Same, aus dem die Mantras sprießen, ist der gleiche, aus dem Gott Brahma wuchs. Der große Weise Govinda spricht vom «Mantra als Urlaut und als archetypisches Wortsymbol». Mantrische Formeln sind «vor­ sprachlich». Sie sind «Urlaute, welche Gefühle ausdrücken, aber keine Begriffe, Gemütsbewegungen, aber keine Ideen.» Aus den bijas, den Keimsilben der Mantras, ist Sprache entstanden. Aus den Mantras selbst entsteht Sprache. Das größte aller Mantras ist «OM». Besonders eindrucksvoll sa­ gen und singen es tibetische Mönche - wo immer sie heute in ihrer weltweiten Diaspora leben - in den Bergen Kaschmirs und der Schweiz, in den Tälern Colorados und Nordindiens. Zur tibe­ tischen Gesangsweise gehört es, daß eine einzelne menschliche Stimme ganze Akkorde singen kann - und was für Akkorde! Ak­ korde, die aus tiefsten Tiefen zu kommen scheinen und die dem Sinn dieses Wortes entsprechen: In accord steckt cor = Herz. Westliche Zuhörer bewundern die tibetischen Stimmen. Aber wunderbar sind sie in erster Linie für uns, weil wir den Ton - wie so vieles andere auch - abstrahiert und aus seinen natürlichen Zu­ sammenhängen gelöst haben. Wenn eine Saite schwingt - das Ur­ bild aller Klangerzeugung, dem auch unsere menschlichen Stimmbänder entsprechen-, dann schwingt ja nicht nur die ganze Saite, also der Grundton, es schwingt zwangsläufig auch die halbe Saite mit, das heißt die nächsthöhere Oktave, und es schwingen zwei Drittel der Saite, die Quinte, und drei Viertel, die Quarte, und drei Fünftel, die große Sexte, und vier Fünftel, die große Terz, und fünf Sechstel, die kleine Terz, und so fort, das heißt: es er­ 37

klingt die ganze Tonleiter, nur eben als Obertonreihe, aber die ist ja ohnehin die einzig »natürliche» Leiter - und deshalb auch die ein­ zige «wahre». In jedem Ton sind alle enthalten. Wie in der Perle Indras, obwohl sie nicht größer ist als alle anderen auch, alle Perlen der Welt stecken - und, nach neueren Vorstellungen der TeilchenPhysik, der sogenannten «Bootstrap-Theorie», in einem atomaren Vorgang alle atomaren Vorgänge der Welt enthalten sind. Es gibt nun gewisse Musikkulturen, die pointiert auf der Ver­ bundenheit aller Töne untereinander basieren. Es gibt Instru­ mente, die besonders obertonreich sind und deren Spieler von vornherein bestrebt sind, die Obertöne nicht etwa zu unterdrükken oder mehr oder minder unbeachtet mitschwingen zu lassen, sondern sie zu entwickeln, zu kultivieren und zu akzentuieren wie es zum Beispiel die Spieler der indischen Saiteninstrumente tun: der Sitar, des Sarod, der Veena, der Surbahar - oder ähnlich obertonreicher Blasinstrumente: des Shenai und des Nagaswaram - auf diese Weise ständig den Zusammenhang mit dem Ganzen, dem «Kosmos der Töne», herstellend, an ihn erinnernd, sich im­ mer wieder neu seiner bewußt werdend. («Kosmos der Töne»: Man kann die beiden Worte «der Töne» fortlassen.) Vor allem aber gibt es Sänger - etwa die tibetischen Mönche -, die die Obertöne kultivieren - und oft auch die viel weniger stark hörbaren, noch schwerer zu produzierenden Untertöne. Auf diese Weise entsteht ein Eindruck mehrstimmiger Akkorde - und oft auch von Polyphonie, weil verschiedene, unabhängige Melodiebewegungen entste­ hen. Hierzu ist eine völlige Entspannung von Gaumen, Rachen, Zunge, Lippen, Kehle und Brustraum erforderlich. Nirgendwo wurde so viel meditiert wie in Tibet, und gerade die Meditation fördert derartige Entspannungszustände. Auch bei dem in Sibirien lebenden mongolischen Stamm der Tuwans ist diese Art des Obertonsingens geborgen in religiöser Überlieferung. Sie wird von den Schamanen gepflegt, den magisch und medial begabten Priestern. Ansätze freilich zu mehrstimmi­ gem Singen gibt es in vielen Kulturen - bei südamerikanischen Indianern, auf Sardinien, in Bulgarien und inzwischen auch bei vielen jungen Musikern und Musikerinnen der zeitgenössischen westeuropäischen und amerikanischen Meditationskultur. In den alten Schriften des Tantra-Buddhismus heißt es über das OM: «Dieses Mantra ist das mächtigste. Seine Kraft kann allein schon Erleuchtung vermitteln.» Und die Upanischaden sagen: «Wer immer dieses Mantra fünfunddreißig Millionen mal sagt, das Mantra des heiligen Wortes, wird befreit von seinem Karma 38

und von all seinen Sünden. Er wird erlöst von allen Banden und erreicht absolute Befreiung.» Nada Brahma, die Welt ist Klang: die Weisen Indiens und des Tibet wie die Mönche von Sri Lanka meinen: Wenn es einen - für uns normale Sterbliche - hörbaren Klang gibt, der diesem Urklang, der die Welt ist, nahekommt, dann ist es der Klang des heili­ gen Wortes OM. Nochmals die Upanischaden: «Die Essenz aller Wesen ist die Erde, die Essenz der Erde ist das Wasser, die Essenz des Wassers sind die Pflanzen, die Essenz der Pflanzen ist der Mensch, die Essenz des Menschen ist die Rede, die Essenz der Rede ist das Heilige Wissen, die Essenz des Heiligen Wissens ist Wortlaut und Klang, die Essenz von Wortlaut und Klang ist OM.» Und an anderer Stelle: «Gott Brahma sprach: ‹Du bist der heilige Opferruf Svaha, du bist Lebenskraft, du bist der heilige Spenden­ ruf Vaschat - Schall ist dein Wesen. Trank der Unsterblichkeit bist du, Unvergängliche; dein Wesen liegt in den drei Zeiten der heiligen Silbe OM beschlossen, du bist in der Halbzeit beschlos­ sen, die dem Verklingen der Silbe OM als Schweigen nachfolgt, du Ewige, die vom Unterschiedlichen her nicht auszusagen ist.›» Swami Sivananda Sarasvati schreibt in «Der dreifache Yoga»: «OM ist der Bogen, der Geist ist der Pfeil, Gott oder Brahman ist die Zielscheibe ... Triff diese Scheibe!» Und etwas später: «OM ist die innere Musik der Seele... Verwirkliche dich durch OM. Denke immer an OM. Singe OM. Rezitiere OM. Übe OM. Meditiere OM. Betritt das Schiff OM. Segle sicher auf ihm... Und lande wohlbehalten in der wunderbaren Stadt des Ewigen Brahma.» 39

Das Sagen und Meditieren des OM ist unlösbar mit dem richti­ gen Atmen verbunden. OM «geschieht» auf dem Ausatmen. Das «M» muß lange nachschwingen - hinein in den möglichst weit ausgedehnten Raum zwischen Aus- und Einatmen: dem eigent­ lichen Moment der Leere und des Einswerdens. Auch insofern be­ zeichnet das Mantra OM genau die Stelle, an der aus dem «Atem» das «Wort» wird, und aus dem «Wort» der «Atem» mit allem, was zu diesen beiden Begriffen gehört: zum Atem das Atma, das Selbst, zum Wort der Logos der Griechen und die «Tat» Goethes. OM ist eines der vier großen Keim- und Samen-Mantras. Go­ vinda nennt drei weitere: AH, HUM, HRIH. In ihnen stecken die vier Basisvokale o, a, u und i, die «den vier Prinzipien entsprechen: einer kreisförmigen, alles einschließenden, einer horizontalen, einer nach unten und einer aufwärtsgerichteten Bewegung». Auf diese Weise kann man auch von den Ur-Mantras sagen, daß sie das Universum umfassen. Wie der in alle vier Himmelsrichtungen schauende Gott Brahma - wie das Prinzip Brahman. Govinda schreibt: «OM ist der Aufstieg zur Universalität, HUM der Abstieg dieses universellen Zustandes in die Tiefe des menschlichen Herzens.» HUM ist das mantrische Maß des Menschlichen. Deshalb ver­ band es sich mit dem man, das - wie wir bereits wissen - Verstand, Denken, Fühlen heißt, zu human: menschlich. Govinda: «OM und HUM verhalten sich wie der Kontrapunkt in der Musik.» Demgegenüber ist das Mantra AH «der Ausdruck des SichWundems und der unmittelbaren Wahrnehmung», des Staunens, der Lobpreisung und Anbetung, die uns ziemt, aber auch der Schrei des Schmerzes. Und der Laut der Liebe. Und von der Keimsilbe HRIH sagt Govinda, sie habe «die Na­ tur einer Flamme ... Sie hat deren Wärme, Intensität, ihre Auf­ wärtsbewegung, Strahlkraft und Farbe ... Im OM macht sich der Meditierende so weit wie das All... Die ihm innewohnende Be­ wegung ist vergleichbar dem Öffnen der Arme - als wolle er Raum schaffen für das unendliche Licht ... Im HRIH aber ent­ zündet er die aufwärtslodernde Flamme der Inspiration und Hin­ gabe ...» Weil die Vokale kosmischen Bezug haben, entsprechen sie den Planeten: das A dem Jupiter, das I dem Mars, das O der Venus, das U dem Saturn und das E dem Merkur, - will sagen: Zwischen den Schwingungsverhältnissen der Vokale und denen der Planeten 40

(wie Kepler sie aufgezeigt hat, Näheres darüber in Kapitel IV) be­ steht ein Zusammenhang. Immer mehr wird sich dieser Befund des Zusammenhangs aller Dinge mit allen verdichten, bis wir in Kapitel VI exakte Informationen darüber geben können. Auch das tun die großen Mantras OM, AH, HRIH und HUM: sie spüren diesem Zusammenhang nach. Aber es gibt auch das Mantra, das ein Meditierender für sich ganz allein hat. Sein Meister - oder derjenige, der ihn in die Meditation eingewiesen hat - hat es ihm gegeben. Und es würde die mantrische Kraft brechen, wenn der Meditierende je über sein Mantra spräche - außer, versteht sich, mit dem Meister. In jahrelanger Meditation eines solchen persönlichen Mantras entsteht eine nahezu vollkommene Synchronisation zwischen den Schwingun­ gen der dem Meditierenden gegebenen Silbe und den Schwingun­ gen des betreffenden Menschen. Auch darauf kommen wir zu­ rück: der Mensch ist Schwingung, wie alles andere auch: nicht nur in einem spirituellen, sondern auch in einem physikalischen Sinn. Der Meditierende meditiert sein Mantra - laut oder nur in der Vorstellung - jahrelang. Bis ihm sein Meister eine andere Aufgabe gibt. Oder bis er selbst eine andere findet. Eines der großen Mantras der indischen Mystik ist «O Mani Pad Me Hum» - von den Tibetern ausgesprochen: «O Mani Pay Mä Hung». Die Frage, was das bedeute, bringt nur indirekt weiter. Es bedeutet: «Heil dem Juwel im Lotus!» Oder: «Heil ihm, der das Juwel im Lotus ist». Die Lotusblume - die Schönheit, die aus Sumpf und Verwesung geboren wird - ist eines der wichtigsten Symbole asiatischer Spiritualität. Es kommt nicht darauf an, sol­ che Symbole zu übernehmen. Wir haben unsere eigenen. Zum Beispiel die Rose (deren Symbolik freilich ebenfalls ursprünglich aus dem asiatischen Raum stammt). Die Analyse eines Mantras - seine intellektuelle Deutung - hat immer nur «Krücken»-Funktion. Noch einmal Lama Govinda: «Wie eine geschriebene Partitur nicht den emotionalen und spiri­ tuellen Eindruck gehörter oder gespielter Musik vermitteln kann, ebenso kann... die intellektuelle Analyse eines Mantras nicht die Erfahrung eines Initiierten wiedergeben, noch jene tiefgehende Wirkung offenbaren, die es im Laufe einer langwährenden Übung hervorbringt.» Von dem mächtigen, sechssilbigen Mantra «O Mani Pad Me Hum», das «umarmt» wird von den Keimsilben der Ur-Mantras 41

«OM» und «HUM», sagt Govinda, es habe «ein Jahrtausend tibe­ tischer Geschichte mit übermenschlichen Idealen und Bestrebun­ gen erfüllt, in Millionen von Niederschriften auf Steine und in Felsen gemeißelt und auf Berghängen in riesigen Buchstaben dar­ gestellt, als Zeugen einer gewaltigen geistigen Erhebung...» Ein häufig benutztes Mantra der Zen-Meditierenden ist das japa­ nische Wort MU - zu deutsch: Nichts. MU signalisiert, was der Meditierende erst noch werden will: leer - auf daß die Fülle des Seins in ihn einbreche. Im MU schwingt der «Klang des Nichts» - jener Klang, den man hört, wenn man «auslöscht Sinn und Ton». Am MU, wenn es als Mantra benutzt wird, wird sinnfällig, daß Koan und Mantra ineinander übergehen können. Ursprünglich nämlich war MU ein Koan - sogar eines der berühmtesten: Ein Mönch fragte den Meister Joshu: Kann denn auch ein klei­ ner Hund die Buddha-Natur haben? Der Rõshi - so nennt man einen Zen-Meister - antwortete: MU. Zugrunde liegt folgende Überlegung: Wenn alles Buddha-Natur hat und Buddha in allem ist, dann müßte doch selbstverständlich auch ein Hund - oder ein Regenwurm oder eine Ratte - BuddhaNatur haben. Warum antwortete Joshu trotzdem mit «MU», also mit «Nein» und «Nichts» und «Nicht-Sein»? Warum sagte er nicht «U», also «Ja», zumal gerade Meister Joshu in anderem Zu­ sammenhang immer wieder auf die Buddha-Natur alles Lebendi­ gen hingewiesen hatte? Die Antwort liegt darin, daß Joshu die Frage des Mönches nicht etwa beantwortet, sondern ablehnt. Sein «MU» will sagen: Küm­ mere dich nicht um Metaphysik. Oder auch: Kümmere dich nicht um Dinge, die dich nichts angehen. Auch hier also wieder - wie schon vorhin: «Scheiße und pisse und iß und schlafe.» Dies ist tatsächlich eine überlieferte Anweisung eines Zen-Meisters an seinen Schüler. Und von einem anderen ist das Fragespiel überlie­ fert: «Wo wirst du nach dem Tode hingehen?» Antwort: «Ent­ schuldige mich einen Augenblick, ich muß zur Toilette.» Oder die Aufforderung: «Sage in einem Atemzug die Fünf Moralischen Prinzipien und die Fünf Kardinaltugenden» - eine Forderung, die im christlichen Zen variiert wird: «Sage in einem Atemzuge die Zehn Gebote.» Antwort: «Heute ist ein schöner Tag.» Die Hofdame Kasuga erlöste einen Geist aus der Welt des Lei­ dens, indem sie eine Teetasse mit Wasser füllte. Wie schaffte sie 42

das? Ganz einfach: Dadurch, daß sie die Tasse mit so unnachahm­ licher Vollendung füllte, daß nichts, auch Buddha nicht, hätte vollendeter sein können, und indem sie ihr ganzes Sein, all ihren Charme und ihre Schönheit, auch ihren Sex (denn kein Mensch spräche heute noch von der Dame Kasuga, wenn sie den nicht so glanzvoll gehabt hätte), ihre Energie und ihre Konzentration in diesem Akt des Tee-Einschenkens wie Lichtstrahlen in einem Prisma sammelte, so daß Zeit und Welt - und ganz gewiß auch die Polarität der Dame Kasuga und ihrer Teekanne aus kostbarer Ke­ ramik - in einem einzigen allumfassenden «Jetzt!» zusammen­ fiel. Das ist es, was Zen fordert, wenn gefordert wird, eine Sache und nur diese Eine zu tun, sie aber ganz und gar. Das ist es, was Meister Joshu sagen wollte: Es ist mehr wert zu pissen, dies aber mit Aufmerksamkeit, nur dieses Eine, als gleichzeitig zu meditie­ ren und außerdem noch über die eventuelle Buddha-Natur eines Schoßhündchens nachzudenken. Deshalb forderte er in der Wei­ terentwicklung seines Koans: «Übergib mir MU.» Und der Schü­ ler nahm irgendeinen Gegenstand, der gerade zur Hand war, und gab ihn dem Meister. Denn: Alles ist MU. Alles ist nichts. Form ist Leere. Und Leere ist Form. «Sage mir, wie groß MU ist», fragte Joshu. Und der Schüler gab seine eigene Größe an. Denn der Schüler ist MU ganz und gar - oder zumindest: Er muß MU werden. MU ist aller Dinge Maß, auch also das der menschli­ chen Größe. Ein Koan, das sich im Zwiegespräch zwischen Meister und Schüler entwickelt, nennt man ein Mondo. Der Meister fragt: «Wie alt ist Amida Buddha?» Der Schüler antwortet: «So alt wie ich.» Das ist ein Mondo. Verpaßt er die Antwort, muß er wieder fortgehen und weiter meditieren. Bis er sie gefunden hat - und wenn es Jahre dauert. Ich werde nie vergessen, wie ich zum ersten Mal MU hörte. Es war in Kyoto, der alten japanischen Tempelstadt. Vom MiyakoHotel, in dem ich wohnte, weil ich davon in einer Erzählung von Kawabata, dem japanischen Nobelpreisträger für Literatur, gele­ sen hatte, ging ich über die Straße zum Nanzen-ji, einem Haupt­ tempel der Rinzai-Sekte des Zen. Ich sah mir im Sammon, dem Tempeltor, ein in der japanischen Kunstgeschichte berühmt ge­ wordenes Gemälde von Engeln und Vögeln an, dachte darüber nach, was das Gemälde sagen will: daß nämlich die Vögel nichts anderes singen als die Engel und daß dies ihre Aufgabe ist: «eng­ lische» Botschaft hörbar zu machen - da erklang mit einemmal aus einem Seitengebäude alles andere als eine «englische» Bot­ 43

schaft: MU. Ich war erschrocken über den tiefen dröhnenden Klang, der aus vielen Männerkehlen über den Tempelbezirk tönte. Ich wußte damals noch nicht, was er bedeutet. Erst Jahre später, als ich begann, mich mit Zen zu beschäftigen, brach dieses MU mit seiner dunklen vibrierenden Kraft wieder in mir auf. Solch ein Klang ist es: man hört ihn einmal, versteht ihn nicht, müßte ihn also sofort wieder vergessen - wie so vieles, was man gerade mal hört und nicht begreift -, und doch bleibt er in einem: unvergeß­ lich. Für immer. Ein Ur-Klang. Was für Inder und Tibeter das Mantra und für Chinesen und Japa­ ner das Koan ist, das ist für die Sufis das Wazifa. Der erste mysti­ sche Sufi-Orden wurde im Jahre 923 in Persien gegründet. Die gro­ ßen persischen Dichter - Jelaluddin Rumi, Hafiz und andere - wa­ ren Sufis. Der Sufismus kann als die esoterische Seite des Islam bezeichnet werden, aber seine Naturverehrung geht auf den Ein­ fluß Zarathustras zurück; die Philosophie des Hinduismus und des Brahmanentums ist ebenso in ihn eingeflossen wie die der jü­ dischen Mystik und des Christentums (vor allem des JohannesEvangeliums). All dieser Einflüsse sind sich die Sufis bewußt. Von hier her kommt ihre Toleranz, die sie unterscheidet von der Mehr­ heit der Moslems. Sufis beten ebenso in Moscheen wie in christ­ lichen Kirchen, in einer Synagoge wie in einem Hindu- und Buddha-Tempel. Was die Sufis für unseren Zusammenhang wichtig macht, ist ihr hohes Bewußtsein von Klang und Musik. Beides nennen sie Ghiza-i-ruh: Nahrung der Seele. Der Übergang vom Klang zum Mantra und zum Wort und von dort weiter zur Musik und Dich­ tung ist für die Sufis bruchlos, ja, für den großen Sufi Hazrat Inayat Khan (der selber zunächst ein berühmter Virtuose der nordindi­ schen Musik gewesen ist, bevor er in den Westen ging, um den Sufismus in Amerika und Europa bekanntzumachen) beginnt diese Reihe noch früher, nämlich beim Atem: «Wenn wir die Wis­ senschaft über den Atem studieren, dann ist das erste, was wir feststellen, daß der Atem hörbar ist. Er ist ein Wort für sich selbst, denn was wir ein Wort nennen, ist nur eine ausgeprägtere Äuße­ rung des Atems, geformt durch Mund und Zunge. Durch die Fä­ higkeit des Mundes wird Atem zur Stimme, und deshalb ist der Urzustand eines Wortes der Atem. Wenn wir deshalb sagen: ‹Zu­ erst war der Atem›, dann bedeutet dies das Gleiche wie: ‹Im An­ fang war das Wort›.» «Das erste Lebenszeichen, das sich kundtat, ist der Klang - und 44

Klang ist auch Wort. Für die Vedanta-Philosophie Indiens sind beide - Klang und Wort - identisch. Durch alle Zeitalter haben die großen Yogis und Seher den Wort-Gott und Klang-Gott verehrt... Alle geheime Wissenschaft, alle mystischen Übungen begründen sich auf der Kenntnis von Wort und Klang... Es gibt Worte, die im Herzen wirken, und es gibt andere, die dies im Kopf tun. Und wie­ der andere haben Macht über den Körper.» Und Vilayat Inayat Khan - Sufi Hazrats Sohn, Fortführer seines Werkes und heutiges Oberhaupt der Sufis - fügt an: «Arbeite mit dem Klang, bis du vollkommen in Staunen gerätst, daß du einen solchen Klang hervorbringen kannst, und du dich wunderst, warum gerade du das Instrument bist, auf dem der göttliche Flö­ tenspieler seine Töne formt... Gebrauche die Folge der Obertöne als Jakobsleiter, um aufzu­ steigen. Laß diese Jakobsleiter dem Lauschen auf das Echo des Echos eines Echos gleichen... Werde du selbst reine Vibration jenseits des Raumes. Wenn der Laut, der durch deine Stimmbänder hervorgerufen wird, im vibra­ torischen Netzwerk des Universums die Fähigkeit hat, dich zu stimmen, dann ist das darum möglich, weil er dich verbindet mit der Symphonie des Kosmos. Die ständige Wiederholung eines physischen Lautes setzt eine Klangströmung frei, eine vibrierende Welle im Äther durch den Aufbau von Energie... Wir leben gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen. Im Hekhaloth, dem Buch der himmlischen Sphären der Juden, wird gesagt, daß jedesmal, wenn eine neue Seele sich manifestiert... sie eine Vibration erzeugt, die mit dem ganzen kosmischen Ozean kom­ muniziert ... Jedes Geschöpf ist die Kristallisation eines Teils die­ ser Symphonie der Vibrationen. So gleichen wir einem Klang, er­ starrt in solider Materie, der fortfährt, unaufhörlich zu klingenund das Wort ward Fleisch und das Wort ward Fleisch und das Wort ward Fleisch und...» «Du mußt reine Vibration werden, um fortzuschreiten zu der nächsthöheren Ebene - und immer weiter zu höheren.» Die Wazifas der Sufis werden meditierend wiederholt wie die Mantras der Inder. Ihre Wurzelsilben sind vorarabisch. Sie gehen auf die alte semitische Ursprache zurück, aus der sich sowohl das Hebräische wie das Arabische entwickelt haben. «Wazifas sind kosmische Schlüsselworte» (Jochen Quast). 45

Mantras spielen auch in der tantrischen Liebeskunst des indi­ schen Hinduismus eine Rolle, - jenen nun auch im Westen immer häufiger praktizierten Techniken, die es ermöglichen, «mehr Lust zu erfahren, mehr Lust zu geben als jegliche Lust, von der Sterb­ liche wissen» und Sexualität in geistige und spirituelle Bereiche zu transzendieren. Die Tantras - wörtlich heißt das: die «Ge­ webe» - sind ursprünglich in Sanskrit verfaßte Dialoge zwischen dem Gott Shiva als der höchsten Potenz männlicher Kraft und seiner Geliebten Shakti als Personifizierung höchster weiblicher Kraft. Die Mantras, die sie dabei gebrauchen, sind die sprachli­ chen Archetypen dieses Dialoges. Es gibt in der tantrischen Überlieferung drei Gruppen von Man­ tras: Die Wahrnehmungs-, die Kontroll- und die Kanalisierungsmantras. Die ersteren (Ommm Ahdi Ommm) steigern die Sensi­ bilität und Lustempfindungsfähigkeit. Sie können so mächtig werden, daß sie bereits zu wirken beginnen, wenn sie nur ausge­ sprochen oder nur gedacht werden, noch bevor irgendeine körper­ liche Berührung stattfindet. Denn, so Shiva: «Das Zentrum der Lust ist der Geist.» Die Kontrollmantras (Pahhh Dahhh O-Mahmmm) werden ge­ braucht, um die Selbstbeherrschung zu steigern: um den Orgas­ mus zu vermeiden und die «Ein-Stunden-Regel» der Tantriker einzuhalten: Orgasmus frühestens eine Stunde nach der Vereini­ gung. Wenn sie entsprechend oft praktiziert werden, wirken sie noch jenseits des point of no return, wo sie «die Körper zu solchen Höhen der Ekstase erglühen lassen, daß sie in einen traumartigen Zustand verfallen und stundenlang an der Grenze zum Orgasmus, der nicht stattfindet, festgehalten werden». Dies ist die schwierigste tantrische Technik: sich im Laufe der Zeit immer näher an den Punkt des Orgasmus heranzuwagen, aber mit Hilfe des Kontrollmantras diesen Punkt zu halten und den eigentlichen Orgasmus zu vermeiden. In der Sprache der Tan­ tras: «In die Tiefe des Meeres zu tauchen, ohne sich zu benetzen.» Oder: «Auf dem Tiger zu reiten» und sich selbst in den wildesten Sprüngen nicht abwerfen zu lassen, denn dann würde der Tiger den Reiter zerfetzen. Reiter und Tiger brüllen gemeinsam das Mantra, das aus dem Urschrei des Tigers entstanden ist. Für die Taoisten ist der Tiger Yin, ein Symbol also der Frau. Das Yang-Symbol des Mannes ist der Drachen: Er fliegt und fliegt und fliegt und kommt, wenn er das Kontrollritual beherrscht, nicht mehr herunter. Beherrscht er es nicht, stürzt er ab und zerschellt in der Tiefe - wo ihn der Tiger frißt. Tantriker brauchen nur diese 46

beiden Bilder zu evozieren - «den Tiger reiten», «den Drachen fliegen» - und der Eingeweihte weiß, was gemeint ist. Drittens gibt es das Kanalisierungsmantra (Ahhh Nahhh Yahhh Taunnn). Es transzendiert die sexuelle Kraft ins Geistige und Spi­ rituelle, «damit die Kraft nicht nach unten, sondern nach oben steigt» und schafft Eins-Sein zwischen dem sich liebenden Paar und dem Universum. Die Kanalisierungstechniken können nach vorhergehender, oft stundenlanger Praktizierung des Kontrollrituals - das sexuelle Bewußtsein bis in Bereiche steigern, in denen es in ein kosmisches Bewußtsein, wie es sonst nur in der Meditation erreicht wird, übergeht. Da es inzwischen auch in der westlichen Welt Tantra-Kurse und -Seminare gibt und tantrische Techniken nicht mehr so selten wie früher angewandt werden, ist gerade dies ein Bereich, in dem west­ liche Frauen und Männer die Wirksamkeit von Mantras mit einer nachprüfbaren, immer neu verifizierbaren Kraft erfahren können, - einer Kraft, die ihnen deren Infragestellung als irreal erscheinen läßt. Koans ... Mondos ... Mantras ... Wazifas ... Gebet... wohin wir auch schauen, gibt es das Wissen um die Kraft von Klang und Silbe und Wort. Bei den «Reine-Land-Buddhisten» Japans ist es das Namu Amida Butsu - wobei das Wort Namu die «Ich-Kraft» be­ zeichnet (das deutsche Wort Name kommt aus der gleichen Urwurzel) und Amida die «andere Kraft» ist, die göttliche. «Namu Amida Butsu symbolisiert die Vereinigung der Ich-Kraft mit der anderen Kraft» (Daisetz T. Suzuki). Das Mantra des Nichiren Shoshu Buddhismus, zu dem sich so viele zeitgenössische Musiker in Jazz, Rock und Konzertmusik bekennen, ist Nam Myoho Rengé Kyo, das «Röhren des Löwen», wie es genannt wird. Auch hier bezeichnet die Silbe Nam die kör­ perliche und geistige «Ich-Kraft» des Meditierenden; Myoho ist das Gesetz des Jenseitigen; Rengé heißt eine besonders edle Lotusblüte (aber das Wort steht auch für das karmische Gesetz von Ur­ sache und Wirkung); und Kyo ist Wort und Klang, Sprache und Stimme, Sutra, sound, vibration. Alle vier Worte zusammen - so hat es der japanische Priester Nichiren Daishonin im 13. Jahrhun­ dert gewollt - «umarmen» die gesamte buddhistische Sutra: acht Bände mit insgesamt 28 Kapiteln. Sie stehen stellvertretend für das Riesenwerk. Beachtenwert in unserem Zusammenhang, daß Sutra - also die heiligste Überlieferung des Shakyamuni, des Gau­ tama Buddha, die «Bibel» des Buddhismus - auf japanisch Kyo 47

bedeutet, - wie gesagt: Wort, Klang, Sprache, Stimme, sound, vi­ bration. Der «Nam Myoho Rengé Sound» also «umarmt» die Welt. Er ist Nada Brahma. Aber nochmals: Wir brauchen gar nicht so genau zu wissen, was ein Mantra bedeutet; es wirkt jenseits des bewußten Intellektes, nur deshalb kann es das «Überschreiten des mentalen, verstandes­ mäßigen Konzeptes erzwingen». «Du mußt nur reine Vibration werden» (Vilayat Inayat Khan], Aus dem China des 9. Jahrhunderts ist folgender Mondo überlie­ fert. Der Schüler fragt seinen Zen-Rõshi: «Wie muß ich recht hö­ ren?» Der Roshi: «Nicht mit den Ohren.» Der Schüler erbittet weitere Erklärungen, aber der Meister sagt nur noch: «Hörst du jetzt?» Jetzt! In diesem Moment findet der Schüler Erleuchtung. (Auch hier wieder das Zen-Jetzt!) Tozan, ein Zen-Weiser des 9. Jahrhunderts, dichtete: «Laß das Auge die Klänge fangen. Dann wirst du endlich verstehen ...» - was gewiß keine Bevorzugung des Auges gegenüber dem Ohr bedeutet. Tozan hätte ebensogut sagen können: «Laß dein Ohr die Farben einfangen. Dann wirst du endlich verstehen.» Worauf es ankommt - das ist das Transzendieren dessen, was alle tun: die attacca auf das Offensichtliche und Oberflächliche herkömm­ licher Verhaltensmuster. Das Unhörbare der Klänge. Das Unsicht­ bare der Farben. Das Sichtbare der Klänge. Das Hörbare der Far­ ben. Das Mu. Jahrhunderte hindurch haben die großen indischen und tibeti­ schen Weisen immer wieder auf die Kraft hingewiesen, die Man­ tras besitzen. Die Tibeter sagen, das gesamte Universum sei aus dem Urlaut OM entstanden - dem Ur-Mantra, der Ur-Silbe, die immer wieder neu «Es werde» spricht. Das ist eine Vorstellung, die auch von Menschen, die in der jüdischen und christlichen Überlieferung aufgewachsen sind, nachvollzogen werden kann. Denn auch für uns ist ja die Welt aus einem Mantra entstanden: aus dem «Es werde» Gottes. «Es werde»: Das ist ein Mantra - und ein Mantra ist: Wort! Des­ halb heißt es im Johannes-Evangelium: «Im Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott. Und Gott war das Wort.» Das Wissen um die mantrische Kraft von Gottes Wort gibt es nicht nur bei 48

Moses am Anfang des Alten Testamentes und dann wieder, viele hundert Seiten später, im Evangelium des Johannes. Die­ ses Wissen «trägt» die Heilige Schrift. Deshalb ist sie Gottes Wort. Weil Goethe Mantras nicht kannte, heißt es im «Faust»: «Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, ich muß es anders übersetzen.» Indem er das Wort durch die Tat ersetzte, hat Goethe das getrübte Verhältnis zu Wort und Mantra des wissenschaftlich-techni­ schen Zeitalters auf eine Formel gebracht, die zum Bildungsbe­ stand geworden ist. Getrübt ist vor allem das Verhältnis vieler Protestanten zum Mantra und zur Gebetswiederholung. Mit Un­ verständnis und Hochmut schauen sie auf die Gebetsmühlen der Tibeter und auf die 150 Ave Marias des Rosenkranzes der Katho­ liken herab. Für sie ist dies nur ein «gedankenloses Herunterplär­ ren und Nachplappern», ohne daß sie sich die Mühe machen, in das einzudringen, was hier wirklich geschieht, nämlich die be­ dingungslose Befolgung des Christus-Wortes «Betet ohne Unter­ laß» (Lukas 18,1). Mantras und Wazifas sind Symbole des Ur-Klangs. Wenn näm­ lich die Welt Klang ist und wenn dieser Klang, der die Welt ist, uns sterblichen Menschen rational letztlich unerreichbar ist, dann brauchen wir Spiegelungen, Symbole, Gleichnisse. Auch deshalb, um uns verständlich machen zu können. Uns selbst und anderen gegenüber. Mantras und ihre bijas, ihre Keimsilben, stehen nicht nur am Anfang der Sprache, sondern auch am Anfang der Musik - ja alle Musik, die sich ihrer spirituellen Herkunft bewußt ist, ist nichts als eine einzige große Variation des Ur-Mantras, des Ur-Lautes, den sie sucht - in allem, was in ihr erklingt. Die spirituelle Lite­ ratur ist voll einer solchen Deutung von Musik. Im Tibetani­ schen Totenbuch hört der Verstorbene auf seiner Wanderung durch das «Zwischen-Totenreich» «unzählige Arten musika­ lischer Instrumente, die ganze Weltensysteme mit Musik füllen und sie zum Vibrieren, zum Beben und Zittern bringen mit Tö­ nen, die so mächtig sind, daß sie einem das Hirn betäuben...» Immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht: Die Begriffe «UrLaut» und «Ur-Ton» gehören für zahllose Menschen so sehr zum 49

Bestand des Nachvollziehbaren, daß sie selbst dann, wenn sie das erste Mal verwendet werden - in unserem Kulturbereich hat dies meines Wissens der Dichter Christian Morgenstern getan -, nicht erklärt zu werden brauchen, wie auch Morgenstern sie nicht er­ klärte und wie sie gleichwohl auch bei ihm sofort verstanden wur­ den: sie sind «archetypische Begriffe». Die Upanischaden nennen den «Ur-Ton» das Sabda Brahman, den Laut des Gottes Brahma, den kosmischen Laut, dessen wir­ kende Kraft allen Worten, die Wesentliches aussagen, innewohnt. Für die Veden ist es das Anahàd: der «unbegrenzte Ton», für die Musiker und Weisen Indiens seit der Mogul-Zeit ist Nada Brahma der Ur-Klang, der als «Brahma-Klang» und «Welt-Klang» und «Gott-Klang» verstanden wird. Um ihn verstehen zu können, be­ darf es des Nada Yoga: der Zucht und Übung und Schulung durch Klang. Bei den Sufis heißt der Ur-Ton Saute Surmàd: der Ton, der den Weltraum erfüllt. Mohammed vernahm ihn in der Höhle von Gare-Hira, als er sein Erleuchtungserlebnis hatte. Auch hier also auch im Islam - gibt es den Ton, der «Es werde» spricht - und: Alles ward! Sufi Hazrat Inayat Khan sagt: «Dieser Ton ist die Quelle aller Offenbarung... Wer das Geheimnis dieses Tones kennt, kennt das Mysterium des Weltalls.» Und auch in der hebräisch-jüdischen Welt gibt es eine Ahnung von diesen Dingen. Die Posaunen, die die Mauern von Jericho einstürzen lassen, sind Symbole von Ur-Klang und Ur-Musik. Der «Posaunenengel» ist eine christliche Ur-Vorstellung. Der Engel bläst nicht Posaune, er bläst Ur-Klang. Mantras gibt es auch in der christlichen Welt. Amen, das mit dem Rosenkranz gebetete Ave Maria, Halleluja, Osanna, Kyrie Eleison - das alles sind Mantras. Das letztere, das Herr Erbarme Dich, ist das «Jesus-Gebet» der Ostkirche, das die Wandermön­ che, durchs Land ziehend, oft jahrelang vor sich hinmeditieren. Wer Mantra-Geschichten aus der asiatischen Welt skeptisch ge­ genübersteht, kann in den von Emmanuel Jungclaussen herausge­ gebenen «Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers» Wichtiges aus dem Umkreis unserer abendländisch-europäischen Welt über Methodik und Wirkungsweise von Mantras finden: «Da lehrte mich eine Pilgerin, die ich kannte, ich solle, wenn ich un­ terwegs bin, unabläßlich das Jesus-Gebet sprechen, und sie versi­ 50

cherte mir, daß mir unterwegs, sofern ich dieses Gebet verrichte, kein Unglück widerfahren könne ... So zog ich denn meines Weges und verrichtete unabläßlich das mündliche Gebet. Endlich fühlte ich nach nicht gar zu langer Zeit, daß das Gebet ganz von selbst ins Herz überzugehen be­ gann, das heißt, das Herz fing an, beim gewöhnlichen Schlagen, gleichsam innerlich, die Gebetsworte mit jedem Schlage auszu­ sprechen ... Ich hörte auf, das Gebet mit den Lippen zu sprechen, und horchte mit Eifer darauf hin, wie das Herz es sprach... Setz dich still und einsam hin, neige den Kopf, schließe die Au­ gen, atme recht leicht, blicke mit deiner Einbildung in dein Herz, führe den Geist, das heißt das Denken aus dem Kopf ins Herz. Beim Atmen sprich, leise die Lippen bewegend oder nur im Gei­ ste: ‹Herr Jesu Christus, erbarme Dich meiner.› Gib dir Mühe, alle fremden Gedanken zu vertreiben, sei nur still und habe Ge­ duld und wiederhole diese Beschäftigung recht häufig...» Bewußt oder unbewußt müssen die Übersetzer der Heiligen Schriften gespürt haben, daß Amen, Halleluja und Kyrie Eleison Mantras sind. Deshalb haben sie diese Worte unübersetzt gelas­ sen - was doch auffallen muß, da sie alles andere in die jeweilige Landessprache übersetzten. Mantrisch müssen aber auch viele der übersetzten Worte und Sätze der Heiligen Schrift - unserer wie jeder anderen - verstan­ den werden: das «Wort» des Johannes-Evangeliums, das «Friede auf Erden» der Weihnachtserzählung, und natürlich auch - wie schon erwähnt - das «Es werde» der Schöpfungsgeschichte. Und vor allem sind auch bei uns - wie überall - die göttlichen Namen Mantras: Gott, Jesus, Christus, Maria, Herr, Schöpfer ... Der Name - wir werden davon sprechen - hat magische Kraft. Nicht zuletzt deshalb ist nam eine Ur-Silbe; es gibt sie auf der ganzen Erde - bis hin zum namu des Amida Buddha in Japan. Ein Echo des mantrischen Ur-Klanges, des Nada Brahma, hallt auch in der deutschen Mystik des Mittelalters nach - sogar noch bei Jakob Böhme. Der schlesische Mystiker (und Schuhmacher­ meister) des frühen 17. Jahrhunderts nennt es den «Hall»: «Denn mit dem Hall oder Sprache zeichnet sich die Gestalt in eines an­ deren Gestaltnis ein, ein gleicher Klang fänget und beweget den ändern, und im Hall zeichnet der Geist seine eigene Gestaltnis, welcher in der Essenz geschöpfet hat, und hat sie im principio zur Form gebracht ...» - «Aus der Essenz urständet die Sprache oder der Hall...» - «Das Innere offenbaret sich im Halle des Wor­ 51

tes...» Gott hat «den Hammer, der meine Glocke schlagen kann», damit der «Hall im Menschen erklinge». Jakob Böhmes «Hall» ist Nada Brahma und Kyo: «Alles, was von Gott geredet, geschrieben und gelehrt wird, aber ohne Hall ist, das ist stumm und ohne Verstand.» Aber es gibt die Ahnung des Ur-Tones und Ur-Lautes in unserer eigenen Welt auch in neuerer Zeit. In der Romantik: bei E. T. A. Hoffmann und A. W. Schlegel, bei Brentano und Novalis (der wahrhaftig ein Eingeweihter gewesen ist) und bei Tieck. Jean Paul spricht von der Musik als «Nachklang aus einer entlegenen har­ monischen Welt», als «Seufzer des Engels in uns». Und von Ei­ chendorff stammt die Strophe, die viele von uns aus ihrer Kindheit kennen: «Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.» Dietrich Bonhoeffer dichtete in der Zelle des SS-Gefängnisses in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße, wenige Wochen bevor die Ge­ stapo ihn erhängte, vom «vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet» - jenem Klang, der allein in der Stille, sei es auch die der Gefangenenzelle, hörbar wird. Für Paul Celan ist der Ur-Klang ein «Dröhnen»: Es dröhnt, als sei «die Wahrheit selbst unter die Menschen getreten, mitten ins Metaphern-Gestöber». Und Rilke in der ersten «Duineser Elegie»: «Stimmen, Stimmen: Höre, mein Herz, wie sonst nur Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf aufhob vom Boden; sie aber knieten, Unmögliche, weiter und achteten's nicht: so waren sie hörend ... Aber das Wehende höre, die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet.» Vom «Zauberwort» ist in den Märchen und Sagen fast aller Völker der Erde die Rede. Auch in denen unserer eigenen Überlieferung. Das «Zauberwort» ist das Mantra. Es ist die Ur-Spannung, die die Welt schuf. Denn: der «Ton» schuf die Welt. Das griechische Wort 52

tónos und das lateinische tonus bedeuten nicht nur «Ton», son­ dern auch «Spannung». Teino, griechisch, heißt: «ich spanne». Tónos ist deshalb auch: das Seil, die Seide, Anstrengung, Kraft, Nachdruck, Emst. Es ist die Spannung der Saite, in deren einem Ton alle Töne schwingen. Auch in einem etymologischen Sinne also ist der Ur-Ton die Ur-Spannung. Wir werden das später in diesem Buch noch gründlicher tun: daß wir der Sprache - ihrem Klang und dem Sinn ihrer Ur-Silben und Ur-Worte - nachhorchen. Eindrucksvoll weist Heinrich Zimmer auf die Bruchlosigkeit des Übergangs vom Laut zum Mantra und vom Mantra zum Zau­ berwort und zur Kraft großer Dichtung hin: «Wie es im ersten Lautwerden beschwörender Zwang war, mit dem Unmittelbares den Seher-Dichter als Bild und als Wort überkam, Zwang, mit dem der Dichter Unmittelbares im Bild und im Wort bewältigte, so ist es für jede zukünftige Generation, die Mantra-Worte zu gebrau­ chen weiß, beschwörender Zwang, magisches Mittel, um unmit­ telbar Wirklichkeit - Erscheinung der Götter, Spiel der Kräfte - zu wirken. Das ist ja das Eigene am wahren Dichter, daß sein Wort unbestreitbare Wirklichkeit schafft, ein Wirkliches unmittelbar aufruft und entschleiert. Sein Wort redet nicht, es wirkt.» Die Bruchlosigkeit der Übergänge vom Klang und vom Laut zum Wort und zur Sprache spielt auch in dem Werk, das für Gene­ rationen von Germanisten zum Schlüsselwerk wurde, eine ent­ scheidende Rolle - in Herders «Über den Ursprung der Sprache» von 1770 mit seinem damals wie heute schockierenden ersten Satz: «Schon als Tier hat der Mensch Sprache.» Für Herder war das Ohr der «erste Lehrmeister der Sprache». Der «Mensch erkannte das Schaf am Blöken ... Was ist das anders als Wort?» «In allen Sprachen des Ursprungs tönen noch Reste dieser Naturtöne ...», «so daß sich die Laute aller uns bekannten Sprachen auf etliche zwanzig Buchstaben bringen lassen.» Sprache ist für Herder eine «Weiterführung der Schöpfung», es gibt für ihn eine «Identität von Sprache und Seele» (Karl König). Daß ein Mantra, daß ein einziger Wortklang, eine einzige Silbe, prägende, gestaltende, schöpferische Kraft besitzen soll: die ratio­ nalisierten Menschen des Westens haben lange darüber gelächelt. Es scheint, daß ihnen heute - in dieser Generation - das Lächeln vergeht. Inzwischen gibt es in der westlichen Welt mehr Meditie­ rende als in der östlichen. Sie haben die Wirkung von Mantras an sich und anderen erfahren. Und vor allem: Die moderne Wissen­ schaft besitzt physikalische, physiologische und psychologische 53

Erkenntnisse, welche die Kraft, die in Mantras steckt, plausibel machen. Mantras bestehen aus Schwingungen. Unsere Nerven, Gang­ lien, Zellen schwingen ebenfalls, was notwendigerweise - so for­ dert es das Resonanzgesetz - bedeutet: wir reagieren auf Schwin­ gungen - und zwar, wie man heute weiß, auf die allerfeinsten und allerschwächsten, sogar auf solche, die noch vor wenigen Jahren nicht meßbar waren - etwa die Gehirnwellen -, deshalb logischer­ weise auch auf solche, die vielleicht erst in der Zukunft meßbar sein werden (zumal doch die Tatsache, daß die Wissenschaft nun schon anderthalb Jahrhunderte lang ständig neue Wellen und Strahlen entdeckt, zu der plausiblen Schlußfolgerung führen muß: Es werden auch weiterhin Wellen und Strahlen und Schwin­ gungen entdeckt werden, ja die Entdeckung jeder neuen Schwin­ gungsart ist ein Indiz dafür, daß noch zahlreiche andere zu entdekken sind. Nur der Rationalist sieht das anders: Unbelehrbar wähnt er sich ständig und immer wieder - in jeder Generation neu - im Besitz des letzten und endgültigen Wortes, und es gelingt ihm ein­ fach nicht, sich bewußt zu machen, daß seine Söhne und Nachfol­ ger schon wieder ein anderes «letztes», noch «endgültigeres» Wort haben werden, das dann wiederum von deren Söhnen und Nachfolgern überboten oder widerlegt wird. Das gehört zum Ab­ surdesten am Gehabe der abendländischen Wissenschaft: daß sie sich ununterbrochen, jahrhundertelang, alle 20 oder 30 Jahre wie­ der neu in dem Bewußtsein spreizt, sie hätte den Endpunkt wis­ senschaftlicher Erkenntnis erreicht, und aus diesem Bewußtsein - das ein Bewußtsein des Hochmutes ist - ihre Erkenntnisse an Schüler und Nachfolger und an ihre Umwelt vermittelt). Kein Zweifel jedenfalls: Die Tatsache, daß bestimmte Schwingungen und Strömungen seit Jahrhunderten gefühlt werden, ist gewich­ tiger als deren - morgen vielleicht schon verifizierbare - Meßbar­ keit. Vilayat Inayat Khan: «Bei den Mantra-Übungen knetet man das wahre Fleisch unsres Körpers mit Klang. Die reinen Zellen dieses vollkommenen Bündels von Nervenfasern, die die Plexi oder Ganglien bilden ... sind einem ständigen Hämmern unterwor­ fen ... Es gibt eine Art von Inbesitznahme des Fleisches durch die Vibrationen des Klanges...» Die Tibeter sind ein praktisches Volk. Wären sie nur die Mysti­ ker, als die man sie in der westlichen Welt sieht, sie hätten nicht überlebt in der Unwirtlichkeit des Schnees und Eises ihrer Berg­ welt. Sie würden nicht ein halbes Leben lang Mantras rezitieren 54

und meditieren - nun schon jahrhundertelang -, wenn sie nicht immer wieder die Kraft solcher Silben und Klänge an sich selber erprobt und erfahren hätten. John Blofeld erzählt in seinem Buch -Die Macht des Heiligen Lautes» von einem alten Mönch, der auf die Frage nach dem Ur­ sprung der heiteren Ruhe, die er ausstrahle, geantwortet habe, daß es der Klang der Mantras sei, der es dem Geist ermögliche, auf geheimnisvolle Weise seine verborgene Übereinstimmung mit dem tao, dem Ur-Weg und dem Ur-Sinn des Seins, zu erfahren. Blofeld schreibt: «Ich selbst wurde schließlich fähig, die Überle­ genheit der mantrischen Form gegenüber dem Gebet zu erfahren. Da Gebete eine begriffliche Bedeutung haben und das durch sie heraufbeschworene Denken die Stille des Geistes beeinträchtigt, kann der Geist keinen ruhigen und ungestörten Zustand erlangen, in dem die Stille des Ursprungs widergespiegelt wird. Er bleibt an Dualismen hängen - wie ‹Ich, der Beter›, oder ‹Er, der Angebetete›. Das Gebet ist bestenfalls eine Vorform der mystischen Vereini­ gung. Und was Gebete betrifft, die eine Bitte enthalten, kann wohl kaum etwas unspiritueller, ungeistlicher sein, als um Sieg oder um ein bestimmtes Wetter oder um Glück zu beten, was doch letztlich immer nur auf Kosten anderer erreicht werden kann.» Auf die Überlegenheit des mantrischen gegenüber dem christ­ lichen Gebet weist auch Lama Govinda hin. Er vergleicht die Mu­ dras, die Gebetshaltungen Buddhas und der buddhistischen Welt - etwa die in Brusthöhe aneinander gelegten Handflächen und ihre nach oben weisenden und von oben her aufnehmenden Fin­ gerspitzen - mit den gefalteten Händen des Christentums: «Im Gegensatz zu dieser natürlichen (nämlich der asiatischen) Geste des Betens ... steht eine andere Geste, in der die Finger so ver­ schlungen werden, daß es scheint, als ob die betende Person gefes­ selt wäre oder sich bemühte, in einem Gefühl der Hilflosigkeit und Verzweiflung etwas durch die schiere Kraft des Willens zu erreichen. Es ist bezeichnend, daß diese Geste ... in den Ländern des Westens gang und gäbe ist. Es entsteht die Frage: Ist diese Ge­ betshaltung nicht ein Spiegelbild der verspannten, wenn nicht ge­ radezu verkrampften Haltung des westlichen Individuums?» Nachdem in unserer Zeit auch in der westlichen Welt ein Bewußt­ sein von der Kraft der Mantras entstanden ist - von Mantras als einer Spiegelung des Ur-Klanges -, sollte es nun auch wieder mög­ lich werden, den mantrischen Gehalt zum Beispiel eines Hallelu­ jas oder eines Osannas von Johann Sebastian Bach neu zu entdek55

ken und neu nachzuvollziehen. Wir werden begreifen müssen, daß ein solches Osanna - etwa eines der schönsten, dasjenige aus Bachs h-moll-Messe - völlig anders gehört werden kann, als es noch eben gehört wurde, wenn in allem, was darin erklingt, dem mantrischen Gehalt des Wortes Osanna nachgehorcht und der Ur-Klang erspürt wird. Ja, wir werden lernen müssen, eine solche Musik anders zu hören, wenn wir sie nicht im Lauf der kommen­ den Generation verlieren oder Gefahr laufen wollen, sie nur noch als Exotikum wahrnehmen zu können. Das ist die Negativ-Seite jener Bewußtseinsänderung, von der in diesem Buch die Rede ist. Was nicht mit-verändert wird, nicht - im Sinne eines bewußten, mit Anstrengung verbundenen Aktes - «mit-genommen» wird, was immer nur im Schlendrian einer bequem gewordenen Über­ lieferung weitergeschleppt wird, das wird uns verloren gehen. Im Koan - und im Mondo - begegnen einander die spirituelle Kraft des Buddhismus und die Rationalität des chinesischen Konfuzia­ nismus. Die ersten Koans im heutigen Sinn gab es bei den SungMeistem Chinas im 12. Jahrhundert. Aber es ist charakteristisch, daß es erst die Japaner gewesen sind, die, beginnend im 13. Jahr­ hundert, die Koan-Technik perfektioniert haben. Koans sind prak­ tisch und intensiv wirksam. Sie sind nicht denkbar ohne die prak­ tische Ader der Chinesen und ohne die Effizienz der Japaner. Daisetz Suzuki erinnert daran, daß die Absurdität, das Unsinnige vieler Koans - »Gehe zu Fuß, indem du auf einem Esel reitest», «Gebrauche den Spaten, den du in deinen leeren Händen hältst» zuallererst einmal den Verstand anspricht: indem es ihn nämlich herausfordert, ja geradezu beleidigt - und daß gerade rationale ja­ panische und chinesische Menschen hierauf ansprechen. Das ist ja eine Grundsituation des Zen-Meditierenden: Er sagt sich, wenn mein Röshi mir eine solche Aufgabe aufgegeben hat und behauptet, sie sei lösbar, dann muß sie lösbar sein, ich muß sie also lösen können. Es ist nun einmal menschlich - und zumal chinesisch und japanisch daß dieser Gedankengang automa­ tisch bedeutet, die Lösung habe mit dem Verstand - und mit Kraft und mit Wille und Klarheit - zu geschehen. Das ist der Trick des Koans: Indem der Verstand die ihm aufgegebene Frage tage-, wochen-, jahrelang abtastet, entdeckt der Schüler ganz von allein: Mit dem Verstand komme ich nicht weiter. Es gibt keine rationa­ lere Methode, die Grenzen der Rationalität zu erkennen und - was wichtiger ist-selbst zu erfahren als die Arbeit an einem Koan. Wer sie getan, wer ein Koan gelöst hat, mit dem ist nicht mehr darüber 56

zu diskutieren, denn er hat es nicht nur gelernt, er hat es selber erfahren: der Verstand reicht nicht aus, mit dem Verstand kommt man in eine Sackgasse. Suzuki, der in diesem Zusammenhang das Wort «Sackgasse» verwendet, schreibt: «Vom Verstand irgendeine endgültige Antwort zu erwarten, hieße ihn überfordern, denn das liegt nicht in seiner Natur. Die Antwort liegt tief unter der unter­ sten Schicht unseres Wesens vergraben ... Was wir auch über den Verstand sagen mögen, er ist schließlich nur oberflächlich. Er ist etwas, das auf der Oberfläche des Bewußtseins dahintreibt. Die Oberfläche muß durchbrochen werden ... Der Verstand wird be­ nötigt, um, wenn auch nur sehr vage, festzustellen, wo sich die Wirklichkeit befindet, aber die Wirklichkeit läßt sich nur erfas­ sen, wenn der Verstand seinen Anspruch auf sie aufgibt. Das Zen weiß das und gibt als Koan ... etwas, das sich so gibt, als erfordere es eine logische Behandlung, oder vielmehr, das so aussieht, als ob für eine solche Behandlung Raum wäre.» Den westlichen Menschen mag es überraschen, wenn er be­ merkt, daß im Buddhismus Chinas und Japans, im Konfuzianis­ mus und Taoismus Chinas, im Zen Japans das rationale Element dennoch in einem Maße eingebaut ist, das weit hinausgeht über alles Vergleichbare in der christlichen Welt. Zweifellos führt doch das Christentum schon viel eher an die Grenzen des Verstandes als die Spiritualität Ostasiens. Im Christentum steht man von An­ fang an an der Grenze. Christi Kreuzestod und Auferstehung und die dadurch ermöglichte Erlösung der Menschen übersteigt den Verstand. Der Buddhist Chinas und Japans, der Konfuzianer, der Zen-Anhänger kann mit Verstand sehr viel weiter gehen als der christliche Denker. Christentum und Rationalität schließen ein­ ander viel grundsätzlicher aus als Zen und Rationalität. Es ist wich­ tig, daran zu erinnern, weil die Rationalisten Europas natürlich das Gegenteil meinen. Sie meinen, ihre eigene christlich-abendländi­ sche Welt habe die Rationalität für sich gepachtet, während ihrer Ansicht nach Zen und Irrationalität unlösbar zusammengehören. Das ist die Reaktion von Leuten, die vor dem Irrationalen so viel Angst haben, daß sie darüber vergessen, genauer hinzuschauen wie es ja überhaupt zum Wesen des wissenschaftlichen west­ lichen Denkens gehört, daß es seine Rationalität, seine Disziplin, seine Sicherheit und seine Methoden sofort aufgibt, wenn es in Bereiche gerät, die sich ihm - und sei es nur scheinbar - entziehen. Ein solcher Bereich ist Zen. Das empört den Rationalisten ganz besonders: daß man mit den Mitteln der Logik und Rationalität deren Unangemessenheit um 57

so unabweisbarer erfahren kann. Da verzichtet er dann lieber gleich, wie im altvertrauten christlichen Glauben, von Anfang an auf Logik und Rationalität. Ein Weg, um die Bedingtheit und Begrenztheit von Logik und ratio zu erkennen, führt über das Bewußtsein, daß das, was der westliche Mensch «Logik» nennt, nur eine unter verschiedenen möglichen «Logiken» ist. Denn das eben kennzeichnet das LogikBewußtsein des westlichen Menschen und seinen Hochmut: «Lo­ giken» im Plural gestattet ihm nicht einmal die Sprache; für ihn gibt es nur die eine Logik, die seine, die aristotelische - und das eben ist falsch. Wenn ich erinnern darf: die aristotelische Logik beruht auf dem Satz der Identität (a gleich a), dem Satz vom Widerspruch (a kann nicht gleich nicht-a sein), und dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten (a kann nicht sowohl a wie nicht-a sein). Neben ihr gilt seit alters bekannt - die sogenannte paradoxe Logik. Sie postu­ liert, daß a und nicht-a gleichermaßen Prädikate von x sein dür­ fen. Der alte chinesische Weise Dschuang-tse sagte: «Was eines ist, ist eines. Was nicht-eines ist, ist ebenfalls eines.» Und Erich Fromm: «Die paradoxe Logik herrscht im chinesischen und indi­ schen Denken, in der Philosophie Heraklits und ferner unter dem Namen Dialektik in den Gedanken von Hegel und Marx vor.» Der rationale abendländische Mensch meint, daß die Welt «lo­ gischerweise» allein nach aristotelischer Logik funktioniere. Bhagwan nennt das die Aristotelitis, die «große Seuche». Der abendländische Mensch ist dieser Seuche so sehr verfallen, daß er nicht bemerkt, daß selbst in seinem nächsten Umkreis ständig auch paradoxe Logik herrscht. Freud hat den Begriff der Ambiva­ lenz geschaffen: Man kann zur gleichen Zeit für die gleiche Person Liebe und Haß empfinden. Wir meinen, dies sei «unlogisch», und doch tun viele von uns es täglich. Es ist «unlogisch» nur nach den Gesichtspunkten der aristotelischen, aber durchaus «logisch» nach denen der paradoxen Logik. Carl Friedrich von Weizsäcker weist in Anlehnung an die Ma­ thematiker und Physiker J. v. Neumann und Birkhoff darauf hin, daß die Quantenmechanik der modernen Atomphysik längst schon ihre eigene Logik, die «Quantenlogik», entwickelt hat, de­ ren Gleichungen und Sätze Weizsäcker in seinem Aufsatz «Quan­ tenlogik und mehrfache Quantelung» erläutert und seinerseits weiterentwickelt hat. Weizsäcker: «Der Verdacht eines Versagens der klassischen Logik stammt aus dem Versagen der klassischen Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Quantentheorie ... Was ver­ 58

sagt, ist das Additionstheorem der Wahrscheinlichkeiten ...» Weizsäcker weist darauf hin, daß die Quantenlogik -mit der ver­ änderten Einstellung der Quantentheorie zum methodischen An­ satz der Subjekt-Objekt-Trennung zusammenhängt», jener Tren­ nung also, die auch Zen als trügerisch erkannt hat. Ein Hauptsatz des Zen-Meisters Hakuin lautet: “Die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt gibt es nur so lange, als Ich-Bewußtsein vorhanden ist.» Jeder moderne Atomphysiker kann diesen Satz vorbehaltlos unterschreiben - nur daß Hakuin ihn bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts formulierte, während die Quan­ tenmechaniker erst unter dem Eindruck der Heisenbergschen Un­ schärferelation in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts (als der beobachtende Mensch, eben das »Ich-Bewußtsein», in den Mi­ krokosmos drang) zu ähnlichen Erkenntnissen kamen. Wieder eine andere Art von Logik-de facto mehrere »Logiken» erfordert die Mehrdimensionalität, wie sie sich unter dem An­ spruch der Relativitätstheorie und der Minkowskischen Glei­ chungen ergeben hat, so daß Govinda zwar vereinfachend, aber letztlich richtig folgern darf: «Es gibt ebensoviel verschiedene Ar­ ten von Logik, wie es Dimensionen gibt.» Der Lama Govinda weiß sich einig mit dem Atomphysiker Heisenberg, wenn er die «Überwindung jener eindimensionalen, gradlinigen Logik» for­ dert, «die mit dem Messer des Entweder-Oder die Welt zerschnei­ det und aus ihrem zerstückelten Leichnam einen abstrakten Be­ griffskosmos aufzubauen versucht.» Govinda erinnert daran, daß es ähnliche «Logiken», wie sie durch die moderne theoretische Physik unabweisbar geworden sind, schon vor Jahrtausenden im Hinduismus und Buddhismus Indiens gegeben hat: Die indische Logik «baut sich nicht auf dem Satz vom Widerspruch und dem ausgeschlossenen Dritten auf, sondern auf einer vierfachen Logik, die folgende Aussagen über ein Objekt zuläßt: 1. es ist, 2. es ist nicht, 3. es ist und ist nicht, 4. es kann von ihm weder gesagt werden, daß es ist, noch daß es nicht ist. Mit anderen Worten, die indische Logik postuliert vier Mög­ lichkeiten: 59

1. Sein oder Existenz eines Objektes, 2. Nicht-Sein oder Nicht-Existenz, 3. Sein sowohl als Nicht-Sein, 4. Weder Sein noch Nicht-Sein. Unser westlicher Logik-Begriff ist nicht zuletzt durch die west­ lichen Sprachen konditioniert. Es kann kein Zufall sein, daß die aristotelische Logik im alten Griechenland entstand, also in der Sprache, die das Subjekt-Objekt-Denken, das all unsere west­ lichen Sprachen trägt, zum erstenmal klar ausprägt und gleich da­ mals so großartig und bildhaft realisiert hat wie keine spätere. C. F. v. Weizsäcker spricht von der «Sprachbezogenheit der Denk­ systeme der großen Kulturen». Er weist darauf hin, «daß die Philo­ sophien ... eng mit den grammatischen Strukturen ihrer Sprache Zusammenhängen. Das Subjekt-Prädikat-Schema der aristoteli­ schen Logik entspricht der grammatischen Struktur des griechi­ schen Aussagesatzes.» Bereits Nietzsche merkte an, daß sich die «wunderliche Fami­ lienähnlichkeit» westlichen Philosophierens «einfach genug» er­ kläre: nämlich durch die «unbewußte Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen». Demgegenüber bewegt sich das chinesische und japanische Sprachdenken nicht geradlinig vom Subjekt mit Hilfe des Verbs auf das Objekt zu, es umkreist seinen Gegenstand und kreist ihn ein, bis er - und das setzt ein inneres Geschehen voraus - ge­ nauso präzisiert ist wie die Gegenstände in unseren westlichen Sprachen, ja Kenner meinen: Er ist dann sogar noch stärker präzi­ siert, weil er nicht einfach «objektiviert» wird, sondern Subjekt und Objekt in ihm «eins werden», Aktiv und Passiv zusammen­ fallen. Das beginnt - eindringlich genug - mit dem Ich, dem «Subjekt aller Subjekte». Die japanische Sprache hat zehn verschiedene Möglichkeiten, es auszudrücken - was freilich nicht dazu führt, daß der Reichtum dieser Möglichkeiten genutzt wird; im Gegen­ teil: sie werden unterdrückt. Und nicht nur das Ich, das Subjekt, sondern auch das Du, das Objekt, wird vermieden. Keine Japane­ rin wird ihrem Geliebten sagen: Ich liebe dich. Sie sagt: «Aishiteru.» Zu deutsch: Lieben. Das «Ich» und das «Du» wird nicht benötigt, es bildet eine Einheit im «Lieben». Nicht einmal eine entsprechende Endung am Verb ist erforderlich. Dabei ist unsere Japanerin, wenn sie «Aishiteiu» sagt, schon ungewöhnlich mo­ 60

dem und direkt. Meist findet sie noch viel vorsichtigere - wie ge­ sagt: umkreisende, Einheit schaffende - Formen, um ihr Gefühl «Ich liebe dich» auszudrücken. Der japanische Philosoph Ryogi Okochi, der auf diese Dinge hinweist, gibt ein Beispiel aus einer alten japanischen Gedicht­ sammlung, dem aus dem 8. Jahrhundert stammenden Manyoshu. Das betreffende Gedicht lautet in deutscher Übersetzung folgen­ dermaßen: «Wenn ich Melonen esse, muß ich an meinen Sohn denken. Er ist gestorben. Wenn ich Maronen esse, bin ich seiner um so mehr eingedenk. Maronen liebte er noch mehr als Melonen. Woher kommt mir so eindringlich das Gesicht meines Kindes? Sein Antlitz hängt ständig vor meinen Augen, so daß ich auch nachts keinen Schlaf finden kann.» Im japanischen Original steht aber viel weniger - nämlich: Uri hameba kodomo omohoyu zu deutsch: Wenn Melonen essen, Sohn denken. kuri hameba masthite shinobayu Wenn Maronen essen, um so mehr. izuku yori kitarishi monozo Woher kommen? managaini motona kakarite Vor Augen hängend immer. yasuishi nasanu Kein ruhiger Schlaf. Man bemerkt: Fast alle Subjekte und Objekte fehlen. Aber das Seltsame ist: Sie fallen nicht heraus, sie fallen zusammen. Beson­ ders auffällig ist dies gleich im ersten Satz: In «Sohn denken» ist auch das «Sohn» kein Objekt mehr. Es bildet eine Einheit mit dem «denken», und da auch das Wort «ich» in diese Einheit gleichsam 61

hineinschlüpft, entsteht eben das, wovon hier die Rede ist, als vollkommenes Bild: die Einheit des Vaters mit dem Denken mit dem Sohn. Wir bemerken: Das Eins-Werden, das Zen fordert, ist sprach­ lich vorgeprägt. Einem Menschen, der diese Sprache spricht, muß es sehr viel leichter fallen, «Eins-Sein» zu erreichen, als je­ mandem, der von Kind auf durch seine Sprache dazu erzogen wird, auch den einfachsten Vorgang in Subjekt, Prädikat, Objekt auseinanderzunehmen. Aber nicht nur Subjekt und Objekt fallen zusammen, auch Ak­ tiv und Passiv erübrigen sich. Japaner sagen: «Yama ga mieru.» Und Deutsche übersetzen: «Der Berg ist gesehen.» Oder: «Ich sehe den Berg.» Aber «Yama ga mieru» bedeutet einfach nur: «Berg sehen.» Die deutsche Sprache ist darauf angewiesen, den Satz entweder aktiv oder passiv zu übersetzen. «In Wirklichkeit jedoch», so schreibt Ryogi Okochi, «spricht er weder im Aktiv noch im Passiv, sondern das Sagen und das Gesagte geschieht jenseits der Spaltung von Tun und Erleiden, das heißt in reiner Bewegung ‹von sich aus› ... Das Sehen und das Gesehenwerden, das Erblicken und das Sich-zeigen des Geschauten gehören un­ trennbar zusammen ... Der Berg ist kein Objekt im europäischen Sinn, sondern das Thema, das einem zu verstehen gibt, worum es sich jetzt (!) handelt. Das Deutsche gebraucht darüber hinaus die Akkusativ-Form ‹den Berg›. Der japanischen Sprach- und Den­ kensweise entsprechend ist aber ‹Berg› ebenso Thema wie ‹sehen›, das zweite im Satz ... Der Akt ‹sehen› enthält beide Momente, den Sehenden und das Gesehene, in sich. Tun und Er­ leiden, Sehen und Gesehen-werden sind ununterscheidbar in die­ sem Akt eines.» Ein Lieblingssymbol des Zen ist der Kreis. Viele Rõshis schen­ ken ihren Schülern zum Abschluß eines Seshins, eines Medita­ tionskurses, einen Kreis, den sie in japanischer Tuschtechnik auf ein erlesenes Blatt Reispapier zeichnen. Der Kreis ist Symbol: Alles ist eins. Symbol der westlichen Sprechweise und Logik ist die gerade Linie, gewiß nicht aus der freien Hand mit Tusche «ge­ schrieben», sondern mit dem Lineal gezogen: eine Linie, für die Herbert Achternbusch eine eindringliche Metapher gefunden hat: «Die Autobahn in den Gehirnen» - in der Tat so gewaltsam und unsensibel in die Gehirnwindungen geschlagen wie Auto­ bahnen in unsere Landschaften. Die argumentative und diskursive westliche Sprech- und Denkweise läßt sich durch zwei übereinander liegende Lineal-Li­ 62

nien symbolisieren - mit Pfeilen an ihren Spitzen, der eine Pfeil weist nach rechts, der andere nach links. Beide Pfeilrichtungen widersprechen einander, streiten miteinander. Kampf gehört zur Idee der Aristotelitis. Der Kreis rundet einander Widerspre­ chendes, gleicht Gegensätze aus und umschließt sie. Frederic Vester hat gezeigt, daß auch die Prozesse und Denkwei­ sen der zeitgenössischen Kybernetik unserer herkömmlichen Lo­ gik zuwiderlaufen. Sie entwickeln sich nicht auf der Linie der ari­ stotelischen Logik, die geradlinig Ursache und Wirkung, Vergan­ genheit und Zukunft verbindet, sondern kreisförmig, in soge­ nannten «Regelkreisen», auf denen durchaus auch die Wirkung zur Ursache werden und Vergangenheit durch Zukunft (!) gesteu­ ert werden kann. Die Ursache liegt an beliebiger Stelle - dort näm­ lich, wo man in den «Regelkreis» eintritt. Dort liegt auch die Ver­ gangenheit. Wirkung und Zukunft sind ebenso beliebig; sie liegen dort, wo der «Regelkreis» wieder verlassen wird. Ein anderer mag ihn an dieser Stelle betreten. «Meine» Wirkung kann «seine» Ur­ sache, «meine» Zukunft «seine» Vergangenheit werden. Was wir bisher nur von Kindern gewußt haben - daß sie, miteinander strei­ tend, von eben dem Kind sagen, es habe «angefangen», das seiner­ seits glaubwürdig behauptet, zweifellos habe doch das andere «an­ gefangen» -, gewinnt in der Kybernetik wissenschaftlichen Rang. Die Kinder haben recht: Ursache und Wirkung sind nichts «Ob­ jektives»; sie hängen von meinem «Einstieg» ab, davon, wo ich «angefangen» habe - und das ist zweifellos eine andere Stelle als der «Anfang» des anderen. Das Denken und Planen in «Regelkreisen» ist in Ökonomie und Ökologie, Medizin, Biologie, Stadt- und Verkehrsplanung etc. sehr viel effizienter, kosten- und energiesparender, wirkt langfristig sehr viel organischer als im Sinne der herkömmlichen Logik ge­ plante Prozesse und Abläufe, die immer nur einzelne Symptome steuern, aber das Gesamtsystem langfristig zerstören. So ist zum Beispiel die Idee des unbeschränkten Wachstums eine «logische» Idee. Kybernetisches Denken weiß, daß Systeme immer nur bis zu einer gewissen Grenze wachsen können. Wach­ sen sie darüber hinaus, zerstören sie sich selbst - und meist auch noch gleich die benachbarten Systeme mit. Es ist ein wesentlich «logisches» Denken, das viele der Probleme, die heute fast unlös­ bar erscheinen, bedingt hat - das Chaos auf unseren Straßen, die Unregierbarkeit unserer Städte, die Kostenexplosion in der Schul­ medizin, die Ineffizienz unseres Umweltschutzes, die Gleichzei­ tigkeit von Inflation und Arbeitslosigkeit, die Fehlkalkulationen 63

der Energie-Industrie, die zwangsläufig falschen Voraussagen der Wirtschaftsfachleute, die nahezu regelmäßig eintretende Ver­ schlechterung der Ausgangssituation durch Großbauprojekte, die doch geschaffen wurden, um die Lage zu verbessern (Musterbei­ spiele: die großen Staudämme in Assuan und am Cabora-Bassa im Sambesi-Fluß, die Erschließung des Okawango-Beckens, die Milliarden-Fehlinvestitionen in den drei europäischen Uran-Anreicherungswerken, etc.) Frederic Vester gibt in seinen Veröffentlichungen Hunderte von Beispielen dafür, daß das herkömmliche logische Denken die mit­ einander «vernetzten» Probleme der heutigen Welt, auch etwa in der Medizin - besonders verheerend in der Behandlung von Krebs! - nicht löst, sondern verschlimmert. Er berichtet eine Erfahrung, die er auf einem kybernetischen Kongreß in Japan gemacht hat: Japanern - nicht nur japanischen Wissenschaftlern, sondern den Durchschnittsmenschen - erscheint das Denken in «Regelkrei­ sen», wie es die Kybernetik fordert, völlig natürlich. Es fällt ihnen viel leichter als Europäern, die immer noch in geradlinigen Abläu­ fen zu denken gewohnt sind: weil eben das Denken und Sprechen in Kreisen der japanischen Sprache, Tradition und Spiritualität von jeher vertraut ist. Aber nicht nur das Denken in Regelkreisen kann an die Stelle des Kausaldenkens treten, auch ein analoges (vergleichendes) und schließlich sogar ein teleologisches (auf Ziele ausgerichtetes) Denken kann dies tun. Wir werden später bemerken, daß das Ana­ logiedenken für die harmonikalen Zusammenhänge, auf die es in diesem Buch ankommt, sehr viel ergiebiger ist als das Kausalden­ ken. Seine Ergebnisse sind wissenschaftlich genauso korrekt wie die in kausal-gesteuerten Denkabläufen gefundenen Ergebnisse, was natürlich auch für das teleologische Denken gilt. Das letztere ist sehr oft sinnvoller, relevanter als die Kausalsteuerung. Wenn ich von einem Tisch sage, daß seine «Ursache» das Holz, oder von einem Briefe, daß seine «Ursache» der Kugelschreiber sei, denke ich in der Tat schulmäßig kausal im Sinne der allein an der Mate­ rie orientierten Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Derartige Denkabläufe gibt es immer noch überall in den Wissenschaften (mit besonders verheerendem Erfolg in der modernen Schulmedi­ zin). Wenn ich aber Tisch oder Brief «teleologisch» bestimmte im Hinblick auf beider «Ziel», darauf also, wofür sie da sind oder was sie bewirken sollen -, kann ich viel relevantere Aussagen über sie machen. Es ist notwendig, daß wir uns vergegenwärtigen, wie sehr sich der westliche Mensch und seine Wissenschaft selbst 64

beschränkt, wie sehr sie ihr Blickfeld verengt haben, indem sie die aristotelische Logik und das kausale Denken weitgehend allein und ausschließlich verwandten, ja jede andere Form der Wirklich­ keitserfassung mit Geringschätzung abtaten. Ich halte diesen Exkurs in das Umfeld der Logik - der verschie­ denen «Logiken» - gerade im Zusammenhang mit dem, was in diesem Kapitel über die Technik und Wirkungsweise des Koans gesagt wurde, für notwendig. Das Argument des westlichen Ratio­ nalisten, das, was wir da gesagt hätten, könne nicht «stimmen», denn es sei «unlogisch», zieht nicht mehr. Nicht nur Koans sind absurd. Die Aussagen der Neuen Physik sind es auch. Und zwi­ schen beider Absurditäten bestehen - wie wir sehen werden - ex­ akte Parallelen. Der Rationalist muß sich sagen lassen: Er ist nicht informiert, er lebt immer noch im vergangenen Jahrhundert, er weiß nicht, daß gerade die höherentwickelte westliche Wissen­ schaft, auf die er sich doch beruft, inzwischen zu paradox-logi­ schen Systemen gefunden hat, die denen entsprechen, die es in Asien seit Jahrtausenden gibt. Ich komme später noch einmal auf diesen Satz zurück: «Die Quantenmechanik ist das Zen-Koan un­ serer Zeit.»

Musik zum Hören des zweiten Kapitels The Music o f Tibet - The Tantric Rituals («OM»), in: «An Anthology of the World's Music» 6 (Anthology AST 4005, Antho­ logy Record and Tape Corporation, 135 West 41st St., New York, N. Y. 10036) The Religious Sound of Tibet - Collection of Buddhist chants and hymns recorded at various Tibetan monasteries (Teldec TST 76965) Tibetan Ritual Music - chanted and played by Lamas and Monks (Lyrichord LLST 7181) The Songs of Milarepa - Mahayana Buddhist Nunnery, Tilokpur-Tibetan Sacred Music (Lyrichord LLST 7285) Padmasambava Chopa - A Tibetan Buddhist Rite From Nepal (Lyrichord LLST 7270) Tibetan Songs of Gods and Demons (Lyrichord LLST 7291) 65

Tibetan Mystic Songs (Lyrichord LLST 7290) Tibetan Bells II by Henry Wolff and Nancy Hennings (Celestial Harmonies CEL 005, Vertrieb Teldec) Chris Hinze: «Flute and Mantras», recorded live at the Ellora Caves, Aurangabad, India (Keytone Records KYT 703) Shomyo-Buddhist Ritual from Japan (Zen-Gesänge und Zen-Sourids, aufgenommen in verschiedenen Klöstern der Shingon-Sekte) (Holl. Philips 65 86021) Zen: Inner Gates - (Zeremonien, Gesänge und Sounds, aufge­ nommen in vier Tempeln der Rinzai-Sekte, darunter dem Daitoku-ji in Kyoto) (Japan. Philips PH 1513/14, Doppelalbum mit ausführl. Text) Zen: Head Sounds (wie vorstehend) (Japan. Philips CD-4) Buddhist Chant - a recorded survey of actual temple rituals Zen - Shomyo - Goeika - Nembutsu - Yamabushi (Lyrichord LLST 7118, 2 LPs) Japanese Temple Music Chants (Lyrichord LLST 7117)

Zen,

Nembutsu

and

Yamabushi

Buddhist Drums, Bells and Chants-Recorded at actual ser­ vices in the temples of Kyoto, Japan (Lyrichord LLST 7200) Zen, Goeika & Shomyo Chants (Lyrichord LLST 7116) Peter Michael Hamel: Buddhist (Harmonia Mundi, Doppelalbum)

Meditation

East-West

Johann Sebastian Bach: Messe in h-moll (BWV 232) - Concentus Musicus Wien, Wiener Sängerknaben, Nikolaus Harnon­ court (Telefunken 6.35019 FK- 3 LPs) Jochen Vetter-Helmuth Scherner: Inner Voices (m. Sitar, Zen-Klangschalen, Flöte, OM-Gesang) (Silent Sun/Trion Sound Frankfurt SS 1101)

III. Im Anfang war das Wort Über Laut, Logos und Rose

Der Leser würde sich das Verständnis erleichtern, wenn er sich ent­ schließen könnte, die wenigen Seiten dieses Kapitels laut zu lesen dem Sprachklang der Worte nachhorchend. Es macht auch mehr Spaß. «Turn up the volume!» Wenn das auf Rockplatten steht, dann macht es mindestens so viel Sinn, es hierher zu setzen.

En àrrchên en ho lógos - «Im Anfang war das Wort», heißt es im Johannes-Evangelium. «Im Anfang war OM», sagen die Tibeter. Dies sind verwandte Vorstellungen. Im vorhergehenden Kapitel wurde deutlich, daß die Übergänge zwischen dem mantrischen Klang und dem gesprochenen Wort fließend sind. Wo mensch­ licher Sound mental faßbaren Sinn gewinnt, wird er Wort. Kandinsky empfand: «Das Wort ist ein innerer Klang.» Und Jean Gebser schreibt: «Sobald wir uns der magischen Struktur nähern, verblassen die Bilder ... Es gibt nur ein letztes Mittel, sich ihr anzunähern: den Klang. Oder, wenn wir so wollen: wir müssen versuchen, gewisse sehr differenzierte ‹Ur-Klänge› hörbar zu ma­ chen ... Wo aber finden wir sie? Es dürfte nicht verfehlt sein, sie im Klang der Wurzeln zu suchen.» Bei dem Sprachforscher Arnold Wadler, der mir und so vielen anderen den Einblick in die geheimnisvollen Urgründe der Spra­ chen erschlossen hat, heißt es: «Der Anfang des Johannes-Evange­ liums ‹Im Urbeginn war das Wort, und das Wort war bei Gott› bedeutete der Menschheit der Urzeit noch eine durchaus reale Wahrheit, Wesen wie Heimat des Wortes waren ihr noch bewußt.» Im Schöpfungsbericht lesen wir: «Und Gott sprach ...» Das Wort, das Gott sprach, war das Wort «Licht»: «Und es ward Licht.» (Es ist mir unmöglich, an diese Bibelstelle zu denken, ohne nicht sofort das strahlende Dur-Fortissimo zu hören, mit dem Haydn in seiner «Schöpfung» das Wort «Licht» feiert. Was dieser Akkord als sei er nadi : der aus einer Enge ins Freie und Helle durchbrechen­ de Strom - ausdrückt: das ist die mantrische Kraft von «Licht».) 67

Dieses Wort Licht - und die Worte Laut und Logos - gehen auf die gleiche Ur-Wurzel zurück: auf l-e-g. Der immer wieder zu zi­ tierende Jean Gebser hat die zentrale Bedeutung dieser Ur-Wurzel aufgezeigt. Hier sind einige wenige der zahllosen Worte, die sich aus ihr herleiten: Lux, Licht, Logos, lychne (griech. Leuchte), lucere (leuchten), auch das deutsche Wort leuchten natürlich, lex (das Gesetz), lesen, das griechische legein (reden, lesen, zählen), das seinerseits die Wurzel das lateinischen Wortes religio - der Religion - geworden ist ... wie gesagt, all dies - und noch viel mehr - hat sich aus der Silbe l-e-g entwickelt. Aus ihr ist aber auch - Lug entstanden: die Lüge! Man muß sich das deutlich machen: Das Licht und der Logos und der Laut und die Lüge entstammen der gleichen Ur-Wurzel. Und diese Wurzel wirkt quer durch die Sprachen und Kontinente. Liuhat heißt es gotisch, L’ikhuta bei den indianischen Aymara von Peru, Laki in Melanesien, Lang in Mikronesien, Langit bei den Khmer in Kambodscha, Langgit im Malayischen, Lucidus im Lateinischen und - über die L-R-Vertau­ schung - Rucit im Sanskrit Indiens, Langi und Rangi in Polyne­ sien, Ra im alten Ägypten und schließlich La'atu im Assyrischen, Larang-ai in einer der australischen Ursprachen, Lagat im Kornisch-Keltischen, Llygad im Kymrischen (engl, look!) - und alle diese Worte stehen für Licht und Leuchten und Himmel und Sonne, für Blitz und Blick und Auge. Viele Ur-Wurzeln, so haben die Sprachforscher gezeigt, haben auch eine sogenannte Spiegelwurzel, die die Ur-Wurzel nicht etwa nur einfach negiert, sondern deren Bedeutung in andere Dimen­ sionen hineinspiegelt - in unserem Falle konkretisiert sie das Licht. Die Spiegelwurzel nämlich von l-e-g ist r-e-g-h. Aus ihr ist rex, der König, regula, die Regel, Recht und rechts und richten entstanden, aber auch das griechische oregein, sich strecken, zie­ len, trachten, das seinerseits mit dem Wort ärche, Anfang, ver­ wandt ist. Also: En àrchèn en ho lögos, im Anfang war das Wort: etymolo­ gisch gesehen ist das ein «weißer Schimmel». Das Wort ist der Anfang. Die beiden Bestandteile dieses Satzes, auf die es an­ kommt, gehen auf l-e-g und seine Spiegelwurzel r-e-g-h zurück: Anfang = griechisch àrché (von o-reg-ein) und Wort = griechisch lógos, dem Licht und dem Leuchten und dem Sonnengott Ra ver­ wandt. Aber auch dem Laut, der mantrischen Keimzelle. Wir müssen die Sprache nur wörtlich nehmen; sie hat es von Anfang an gewußt: das Wort ist das Licht ist der Laut ist der Anfang - auch in anderen Wortfamilien. Nicht nur «Licht» und 68

«Laut» gehören zusammen, sondern auch »hell» und »Hall», auch dies wieder quer durch die Sprachen: h-l-l im Semitischen (= hell, Mond, Morgenstern, aber auch rufen), kal im Griechischen: als kaleo = ich rufe, als kalos = schön, ursprünglich jedoch: leuch­ tend. Die Verschiebung von H zu K, so weiß die Sprachforschung, gibt es so häufig wie die von K zu L und von L zu R. Was wir hier tun, entspricht einem Wissen, das die Geschichte der Menschheit durchzieht, so lange Menschen sich mit dem Ge­ heimnis der Sprache beschäftigen - von Konfuzius bis Goethe. »Wörter», so die amerikanische Sinologin Sukie Colegrave, «ha­ ben in der Erkenntnis von Konfuzius eine wahre Bedeutung, die bestimmte absolute Wahrheiten des Universums widerspiegelt. Die meisten Menschen haben allerdings den Kontakt mit diesen Wahrheiten verloren und benutzen deshalb Sprache nach Gutdün­ ken. Das führt - so Konfuzius - zu ‹ungenauem Denken› und dies wiederum zu ‹falschen Urteilen›, ‹wirren Handlungen› und am Ende dazu, daß ‹die falschen Leute politische Macht gewinnen›.» Aus einer anderen Wort-Quelle mündet das folgende Beispiel ebenfalls in unser Thema. Lateinisch cantare wird im allgemei­ nen mit singen übersetzt; ursprünglich aber heißt es: zaubern, durch Zauber schaffen. Man spürt den Übergang, den es da irgend­ wann einmal gegeben haben muß: indem der Mensch durch den Laut - den Ur-Laut - zauberte, Veränderungen bewirkte, begann er, die Ur-Laute musikalisierend, zu singen. Carmen, das Gedicht, war früher der Zauberspruch - und ist es in vielen Kulturen noch heute. Die Huicholes-Indianer Mexikos haben das ursprünglich aus dem Lateinischen stammende, spanische Wort Cantor über­ nommen und meinen damit: den Zauberer und Schamanen. Sie haben es also dorthin zurückgebracht, wo es bei den alten Latei­ nern schon einmal gewesen ist. Sie, ganz gewiß, haben der Spra­ che, dem Ur-Sinn ihrer Worte, nachgehorcht. Die Worte für Dichter, Sänger, Zauberer gehen nicht nur im La­ teinischen, sondern in vielen Sprachen auf die gleiche Wurzel zu­ rück; oft sind sie gleichbedeutend - was verständlich wird, wenn man sich das Hauptwerkzeug des Zauberers vergegenwärtigt: Sprache. Genauer: das Wort. Mehr als Zaubertränke und Zauber­ mittel, als Gesten und Kräuter ist es das Wort, das den Zauber bewirkt. Und weil es eben nur ein einziges Wort ist - meist kein zusammenhängender Satz -, wirkt es als Wort in seinem Ur-Sinn: als Klang und als Mantra. Auch unter diesem Aspekt ist es der Klang, der die wirkende Kraft besitzt: in den Hochreligionen als Logos und Mantra, bei den Zauberern und Schamanen einfach als 69

Zauberwort und als Zauberformel - mit allen nur denkbaren Übergängen und Schattierungen zwischen den Extremen des weltschaffenden, göttlichen Wortes und der den Liebes- oder Jagd­ zauber bewirkenden Laute des Medizinmannes oder Schamanen. Wie gesagt, all dies gilt quer durch die Wortstämme und Spra­ chen, zum Beispiel auch in bezug auf das deutsche Wort «Name» mit all seinen Verzweigungen. Auch in ihm - wie in der gänzlich anderen Wurzel cantare - steckt die verändernde, «zaubernde», schöpferische Kraft des Wortes: Nam ist im Hebräischen nicht nur «sprechen», sondern auch das feierliche Verkünden des Ora­ kels,- Nabha und Nawa war noch das prophetische Wort, die Weis­ sagung, die schöpferische Schau. Numen ist im Lateinischen nicht nur das Himmelszeichen, sondern auch das an den Himmel geschriebene, menschliches Schicksal verändernde «Numinose». Nebo war im Altslawischen der Himmel. Und noch in der germa­ nischen Edda heißt nef-na nicht einfach nennen, sondern feierlich verkünden. Der Wortstamm nam, nef, mim findet sich auch in Sprachen des Femen Ostens, für unseren Zusammenhang am ein­ dringlichsten in dem berühmten Begriff Nembutsu des japani­ schen Buddhismus. Er bezeichnet genau das, wovon hier die Rede ist: das Nennen, das Beschwören des Buddha - durchaus auch in dem Sinne, daß bereits das Aussprechen des göttlichen Namens genügt. Das Wort als solches hat Kraft - um so mehr, wenn es das Wort Buddha - Butsu - ist. Auch in uns Heutigen schwelt ein Rest des Bewußtseins, daß «Name» nicht einfach besagt, wie jemand heißt: daß dem Akt der Namensgebung etwas Bedeutungs- und Geheimnisvolles, Schöp­ ferisches innewohnt. Spuren davon stecken im Akt der Taufe selbst dann, wenn sie nicht kirchlich vollzogen wird. Keiner Mut­ ter, keinem Vater ist es egal, ob die Tochter Maria oder Sabine oder sonstwie heißt, obwohl der Name, interpretierte man ihn rationa­ listisch, doch nun wirklich keine andere Aufgabe hat, als ein Kind von anderen Kindern zu unterscheiden. In Wirklichkeit hat er eben doch einen dahinter verborgenen Sinn: kaum jemand kennt ihn noch, aber Eltern spüren ihn, wenn sie die Frage ernst nehmen und immer wieder diskutieren: Wie soll unser Kind heißen? Carl Friedrich von Weizsäcker: «Es genügt nie, über Sprachen zu sprechen. Man muß mit der Sprache über das sprechen, wovon die Sprache spricht.» Tun wir dies. Sprechen wir mit dem deut­ schen Wort «Sprache». Noch im Lateinischen ist pieces das Gebet (und auch dessen Gegenteil: der Fluch, die Verwünschung). Piayer ist es im Englischen, Brihaspati in Sanskrit, damit verwandt ist 70

Brahma, der Alles-Schöpfer; zu dem gebetet wird: Brahman = Das Heilige Wort! «Sprache» also weiß: Gott erschafft durch das Wort. «Brahma ist lautlich verwandt dem Namen Bragi, dem Odin-Sohn, dem Gott des Wortes und der Dichtung in der germanischen My­ thologie» (Wadler). Beracha wurde es im Hebräischen: Segens­ spruch! Sprache also betet. Beide Worte dieses Satzes - Sprache und beten - gehen auf die gleiche Wurzel zurück. Bereits das Wort si­ gnalisiert: Sprache sollte mit Ehrfurcht behandelt und nicht ein­ fach «geplappert» werden. Schelling nennt Sprache die «verbli­ chene Mythologie». Kein Mensch lasse sich einreden - wie es immer noch die beeng­ teren unter den Sprachforschern versuchen, ihre Kollegen dabei als «unwissenschaftlich», diskriminierend-, daß solche Wort-Reihen (die Wadler bis zu den Azteken, nach Australien und in die Südsee verfolgt hat) «zufällig» entstanden seien. So viele Zufälle gibt es gar nicht. Ob etwas Zufall sein kann, läßt sich, seit es Computer gibt, wahrscheinlichkeitsmathematisch nachprüfen, und dann ergibt sich: Der Zufall hat einfach noch nicht genug Zeit gehabt. Sprache ist noch nicht alt genug. Dinosaurier bereits müßten Sprache menschliche Sprachlaute - gehabt haben, lange bevor es den homo sapiens gab, Millionen Jahre noch vor dem Neandertaler, damit «Gott Zufall» genug Möglichkeiten hätte haben können, um derar­ tige Reihen - also nicht etwa nur vereinzelte Bildungen mal hier und mal dort auf diesem Planeten - schaffen zu können. Lauschen wir also weiter- im Sinne Konfuzius' - den Ur-Worten nach. Und zwar wirklich dem Wort: W-o-r-t. Woher kommt es? Verblüffenderweise führt die Beantwortung dieser Frage zu dem gleichen Ergebnis, das wir vorhin bei der Verfolgung der Reihe Lo­ gos - Licht- Laut - Anfang (- Lug) gefunden haben. Zwei von den drei Schicksals-Nornen der alten Germanen tru­ gen Namen vom gleichen Stamm: Urd und Verdandi. Gotisch Wairth, angelsächsisch Weordh, altnordisch Verdh gehen auf die Sanskrit-Wurzel v-r-t zurück. Alle diese Worte bedeuten: sich ent­ rollen, werden, entstehen. Aramäisch Varda, arabisch Vard be­ zeichnet die Rose, hebräisch Wered ist beides: Knospe (also das noch Werdende) und Rose (das bereits Gewordene), und diesem hebräischen Wered - wie all den anderen genannten Worten - ist unmittelbar das deutsche Wort «werden» verwandt. Auch auf diese Beziehung hat Arnold Wadler hingewiesen; er schreibt: «Kein schöneres tieferes Bild konnte der Sprachgeist der alten Germanen wählen, um das Werden auszumalen, als das Laut- und Sinnbild der Rose.» 71

In einem «wörtlichen» Sinne ist also das Wort: Rose, Knospe, Blüte - die werd-ende und gc-word-ene, Wort-ge-word-ene Rose. Das Wort ist Urd: Schicksal. Und Verdandi: Zukunft. Und in allem, was ich da eben geschrieben habe, steckt, als hätte ich nur immer das gleiche Wort wiederholt, die indische Wurzel v-r-t. So unwahrscheinlich dies klingen mag: sie steckt sogar im deut­ schen Wort Rose. Rhódos ist es im Griechischen. Die V-Abschleifung und die damit verbundene Vorziehung des R führt zu jenem arabischen Vaid = Rose, von dem vorhin schon die Rede war, samt seinen aramäischen, hebräischen, gotischen und altnordischen Verwandten. Denken wir folgendem Satz nach: «Aus der Knospe wird die Rose.» Wenn wir Präposition und Artikel fortlassen, besteht der Satz aus drei Worten: «Knospe - wird - Rose.» Alle drei Worte sind ursprünglich eines: die Ur-Wurzel v-i-t. Und das ist ja wirklich die Idee der Knospe: sie muß erst noch werden - nämlich Rose werden. Woraus wird sie? Aus der Wurzel. Voilà: sogar dieses Wort Wurzel entstammt derselben «Wort-Wurzel» (= zweimal v-r-t!), wie man noch nachempfinden kann, wenn man sich an die Schicksals-Norne Urd erinnert, die Nome der Vergangenheit, die Wurzel-Norne; versteht sich, in Urd steckt ebenfalls «Wurzel». Arnold Wadler schließt sein bahnbrechendes Werk über die UrWorte mit folgendem Satz: «Als tiefster, machtvollster Ausdruck dieses Ur-Stammes, weitester Inbegriff ewigen Lebens, ewigen Seins krönt ein anderer deutscher Name diese Reihe, die geistige Rose: das W-o-r-t.» Ich denke an den Spruch auf Rilkes Grab bei der Kirche von Raron im Wallis: «Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern.» Und variiere - und bleibe gleichwohl Rilke ganz nahe: Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Wort zu sein in so vielen Wandlungen.

Musik zum Hören des dritten Kapitels Joseph Haydn: «Die Schöpfung» - Wiener Singverein, Berli­ ner Philharmoniker, Herbert von Karajan (Deutsche Grammo­ phon DG 2707 044)

IV. «Bevor wir die Musik machen, macht die Musik uns» Vom Makro- zum Mikrokosmos

Unsere Zeit ist voll großer Entdeckungen, über die in den Medien - in Zeitungen und Zeitschriften, in Funk und Fernsehen - stän­ dig berichtet wird. Aber über eine der größten Entdeckungen un­ serer Generation spricht kaum jemand: daß sich uns nämlich die Welt in einer eben noch unvorstellbaren Weise als Klang darstellt. Und daß auch und gerade jene Bereiche der Welt, die jahrhunderte­ lang als Inbegriff von Stummheit und Stille erschienen, voller Klänge sind. Professor Dr. Kippenhahn vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching bei München schreibt: «Um das Jahr 1960 bat ich in einem Vortrag meine Zuhörer, sich einmal vorzu­ stellen, es gäbe ein Gerät, das die gesamte aus dem Weltall kom­ mende Strahlung in hörbaren Schall umwandelt. Neben dem gleichmäßigen Rauschen des Sternlichts und den Radioausbrü­ chen der Sonne würde man das Rauschen der damals bekannten Radioquellen hören, anschwellend und abebbend im Rhythmus des Auf- und Untergangs dieser sich mit dem gesamten Himmels­ gewölbe an uns vorbeidrehenden, gleichmäßig strahlenden Ob­ jekte. Es wäre eigentlich eine recht langweilige Sache gewesen. Heute, zwanzig Jahre später, muß ich das Bild revidieren. Neben der damals bekannten Strahlung würden nun die inzwischen neu entdeckten Quellen das Hörbild vom Weltall bestimmen. Über dem gleichmäßigen Rauschen hört man das sich gegenseitig über­ lagernde Ticken der Pulsare, den tiefen Brummton des Krebs-Pulsars, dessen Pulse das Ohr nicht mehr einzeln hören kann, und dazwischen schießen andere Röntgenquellen ihre Garben ab, wie etwa die Quelle MXB 1730-335, die aus einem Kugelsternhaufen heraus sehr energiereiche Pulse aussendet, vielleicht ein Dut­ zend, mit Abständen von 10 bis 20 Sekunden aufeinanderfolgend, dann wieder für Minuten aussetzend, bis die neue Sequenz abge­ feuert wird. Es rauscht nicht nur im Weltall, es tickt und trom­ melt, es summt und knattert. Wahrscheinlich sind es vor allem 74

die Neutronensterne, die für diesen Lärm verantwortlich sind, den unser gedachter Apparat aus der vom Weltall kommenden Strahlung an unser Ohr weitergibt.» Daß der Kosmos voller Klang, voller Sound ist - diese Entdekkung verdanken wir der modernen Radioteleskopie. Die Amerika­ ner J. Lichtman und Robert M. Sickels bemerken dazu in ihrem «Amateur Radio Astronomer's Notebook»: «Die Wissenschaft der Radioteleskopie hat eine ganz neue Dimension des Univer­ sums enthüllt. Die Tiefe des Kosmos ist dadurch ein lautstarkes Gezisch und Gezischei von Sounds geworden - Sounds, die durch plötzliche Veränderungen der molekularen und atomaren Energie explodierender Gase - zum Beispiel von neugeborenen Sternen entstehen ... Aber auch der riesige Planet Jupiter ... produziert seine ganz besonderen Geräusche, riesige, schnelle Seufzer wie das intensive Röhren einer fernen Brandung - Stürme wahrhaftig, die in ihrer Intensität des Gottes würdig sind, dessen Name der Planet trägt. Auch die Sonne macht ihre Geräusche... zischende, krachende Klänge, wenn sie im Zustand relativer Ruhe ist, aber brüllende Laute von beängstigender Intensität, wenn sie ... riesige Mengen von Materie in den Raum spuckt.» Die interessantesten Klangerreger im Kosmos sind die Pulsare auch pulsierende Sterne oder Neutronensterne genannt. Der erste wurde erst 1967 entdeckt - von Radioastronomen der Universität Cambridge -, und doch wissen wir inzwischen schon eine ganze Menge über diese «Miniatursternchen», die gerade nur einen Durchmesser von zehn bis zwanzig Kilometern haben, aber von so ungeheurer Dichte sind, daß sie die Masse riesiger Weltkörper mühelos erreichen und oft übertreffen. Ein Mensch von etwa 170 cm Größe, so hat Isaac Asimov errechnet, wöge an der Ober­ fläche eines Pulsars rund 113 Milliarden Tonnen. Ein auf die Erd­ oberfläche treffender Pulsar würde sofort bis zum Erdkern durch­ schlagen und auf der anderen Seite wieder herausschießen. In der Tat hat es wahrscheinlich ein solches Ereignis in jüngerer Ver­ gangenheit gegeben: bei den rätselhaften, nie aufgeklärten Verwüstungen am 30. Juni 1908 in der Tunguska-Region in Zen­ tralsibirien. Keinesfalls nämlich können sie, wie man zunächst angenommen hat, durch den Aufprall eines gewaltigen Meteoriten verursacht worden sein; trotz jahrelangen Suchens hat man weder einen Einschlagkrater noch Meteoritentrümmer finden können. Die Wissenschaftler neigen deshalb immer mehr zu der An­ nahme, daß ein Pulsar diese Katastrophe ausgelöst habe. Träte sie 75

heute ein, schreibt Isaac Asimov, «würde die betroffene Super­ macht sofort den atomaren Vergeltungsschlag auslösen, noch ehe man die wahre Natur des Ereignisses erkannt hätte, und die ganze Erde könnte verwüstet werden». Pulsierende Sterne bestehen aus sogenannter «degenerierter Materie». Sie besitzen unvorstellbar starke Magnetfelder und sind ständig umgeben von wilden elektrischen Wirbelstürmen. Manche Pulsare klingen wie Bongotrommeln, andere wie Kasta­ gnetten, wieder andere wie die ausrutschende Nadel eines Plat­ tenspielers. Die meisten tacken und ticken einfach vor sich hinseit Millionen von fahren -, einige auf seltsame Weise rhythmi­ siert. Es sind «lebende Klänge», die sich oft von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde verändern - schrumpfend oder wachsend, sich zusammenziehend oder sich ausdehnend, als stammten sie von lebendigen Wesen. Einer der interessantesten Pulsare befindet sich in der Kassiopeia - 500 Millionen Lichtjahre von uns ent­ fernt -, Überrest einer riesigen Supernova, aber so stark ge­ schrumpft, daß er selbst in den größten Teleskopen der Welt kaum gesehen werden kann,- doch seine Sounds sind so kräftig, daß auch die einfache Radioausrüstung eines Amateurs sie leicht empfangen kann. Einige Pulsare strahlen in rasenden Rhythmen, die allerdings zu schnell sind, als daß sie vom menschlichen Ohr als Rhythmus wahrgenommen werden können. Nachvollziehba­ rer Rhythmus entsteht erst, wenn man eine solche Sternbot­ schaft, die da aus einer Entfernung von Millionen von Lichtjahren zu uns getrommelt wird, mit reduzierter Bandgeschwindigkeit ab­ spielt - wie es Lichtman und Sickels mit ihren Aufnahmen getan haben. Das also ist neu in den Umkreis unseres Wissens getreten: Der Kosmos ist voller Klänge und Rhythmen - von Pulsaren und Qua­ saren, von Supernovae (explodierenden Sternen), von sogenann­ ten «Roten Riesen» und «Weißen Zwergen», von entfliehenden und kollidierenden Sternsystemen - und auch von unserer eige­ nen Sonne. Angesichts dieses Befundes, der, wie wir sehen wer­ den, ein musikalischer ist, gewinnt das Wort Kosmos - im Licht der neuesten Forschung - viel von seiner ursprünglichen Bedeu­ tung zurück. Griechisch ϰόσμοϛ heißt: Schmuck. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, daß der Kosmos ein Inbegriff des Schweigens war - der Stille schlechthin. Kein Sound, kein Klang schien aus seinen unendlichen Weiten zu uns zu drin­ gen. Wer damals von der «Harmonie der Sphären» sprach, wie Plato in seinem Dialog «Politeia» - von der «harmonia mundi», 76

wie Pythagoras im 6. Jahrhundert vor, oder von der «Harmonie der Welt», wie Johannes Kepler im 17. Jahrhundert nach Christus -, der wurde allenfalls metaphorisch verstanden. Erst jetzt wissen wir: All dies ist wörtlich zu nehmen (wie im Folgenden deutlicher werden wird). Goethe im Prolog zum «Faust»: «Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang, und ihre vorgeschriebne Reise vollendet sie mit Donnergang. Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke, wenn keiner sie ergründen mag; die unbegreiflich hohen Werke sind herrlich wie am ersten Tag.» Goethe hat es geahnt: die Sonne tönt ... Wir Heutigen wissen es. Der römische Astronom Claudius Ptolemäus schrieb über den Kosmos unter dem Titel «Harmonia». Keplers berühmtestes Werk heißt «Harmonices mundi libri V» (= Fünf Bücher über die Weltharmonie), als handle es von Musik und nicht von Planetenin der Tat fühlte sich Kepler nicht nur als Astronom, sondern auch als Musiker,- und es gibt Hinweise darauf, daß ihm das letztere wichtiger war als das erstere. Pythagoras und Ptolemäus haben Beziehungen geahnt, die zwischen den Umlaufbahnen der Plane­ ten und den Klangverhältnissen bestehen, die es auf einer ge­ spannten Saite gibt - dem sogenannten Monochord. Kepler ging als erster von elliptischen Planetenbahnen aus. Erst dadurch wurde deutlich, wie exakt die harmonikalen Beziehun­ gen in unserem Sonnensystem sind. Gott wurde zum kosmischen Tonmeister. Er habe, so Kepler, die Planeten bewogen, die zu­ nächst ja doch auf der Hand liegenden einfachen Kreisbahnen zu verlassen und ihre so auffällig komplizierten elliptischen Bahnen zu wählen, um auf diese Weise um so schönere Klänge produzie­ ren zu können. Auffällig ist in der Tat nicht nur, daß die Planeten sich in elliptischen Bahnen bewegen, sondern daß sie aus der unendlichen Fülle möglicher Bahnen genau solche gewählt ha­ ben, die in ganzzahligen Proportionen unserer «irdischen» Musik schwingen und klingen. Die Obertonreihe, die entsteht, wenn man ein auf C gestimm­ tes ventilloses Horn anbläst oder wenn man den Flageolett-Tönen 77

der C-Saite einer Bratsche nachhorcht, entspricht bestimmten Verhältnissen in den Umlaufbahnen der Planeten. Dies ist die Obertonreihe - die eigentlich «natürliche» Leiter aller Musik: Verhältnisse der Saitenlängen

Verhältnisse der Schwingungszahlen

Das an dieser Leiter immer wieder neu Überraschende liegt in den darunter bzw. darüber gesetzten Ziffern. Sie nämlich machen deutlich, daß der jeweils folgende Ton der Leiter um jeweils genau eine Zahl schneller schwingt als der vorangehende. Das heißt also, um ein Beispiel zu geben, der fünfte Ton der Leiter - ein e macht fünfmal soviel Schwingungen wie das C, mit dem die Lei­ ter beginnt. Entsprechend sind auch die räumlichen Verhältnisse auf dem Monochord: um den fünften Ton, das e, zum Erklingen zu bringen, wird nur ein Fünftel der vollen Saitenlänge benötigt - bis hin zum hohen C, das nur ein Sechzehntel der Saite braucht. Wenn wir also eine Saite in 12 gleiche Abschnitte teilen und diese Saite auf die Längen 6, 8 und 9 verkürzen (Verkürzung 1 2 : 6 = 2 : 1 , 1 2 : 8 = 3 : 2 , 1 2 : 9 = 4 : 3 ) , dann erhalten wir bei der Verkürzung um die Hälfte: die Oktave, um zwei Drittel: die Quinte und um drei Viertel: die Quarte etc. Das ist gemeint, wenn im Folgenden im­ mer wieder von den «ganzen Zahlen» der Obertonreihe die Rede sein wird. Nach der Obertonreihe wollen wir uns gleich auch mit den In­ tervallproportionen bekannt machen (denn auch sie werden wir im Verlauf dieses Buches immer wieder benötigen) (s. Abb. S. 7 9 ) . Sofort fällt eine Grundregel auf: Je niedriger die Zahlenverhält­ nisse, um so stärker die Konsonanz, um so «harmonischer» der Zusammenklang. Die gestrichelte Linie bezeichnet in etwa die Grenze, an der konsonante in dissonante Klänge übergehen (ver­ steht sich, daß dies ein gleitender Übergang ist). Wir werden bemerken, daß in den Proportionen des Makrokosmos, des Mikro­ kosmos und unserer irdischen Welt die konsonanten Zusammen­ klänge - Proportionen also vorwiegend aus niedrigen ganzen 78

Oktave Quinte Quarte Große Sexte Große Terz Kleine Terz Kleine Sexte

1:2 2:3 3:4 3:5 4:5 5:6 5:8

Kleine Septime Große Sekunde Große Septime Kleine Sekunde Tritonus

5:9 8:9 8 : 15 15 : 16 32 : 45

Zahlen - bei weitem überwiegen, ja der weitaus häufigste Zusam­ menklang ist auch der «harmonischste»: die Oktave, das Verhält­ nis 1 : 2, einer Proportion, die seit je auch benutzt wird, um die Polarität der Welt zu bezeichnen: Yang und Yin, männlich und weiblich, himmlisch und irdisch etc. Diese «Ur-Polarität» ist also gleichsam «an den Himmel geschrieben». Aber sie ist auch «in unsere Ohren geschrieben». Alle die Klänge und Klangverhältnisse, die wir in so überwältigender Fülle in Makro- und Mikrokosmos und in unserer menschlichen Welt und Musik! - finden werden, entsprechen (wie Rudolf Haase ge­ zeigt hat) der natürlichen Disposition unseres Gehörs. Unser Ohr bevorzugt Konsonanzen, Dur-Proportionen etc. Insgesamt gibt es sieben harmonikale Grundgesetze, die glei­ chermaßen «in unsere Ohren» wie «in Makro- und Mikrokosmos geschrieben» sind und die wir in allem, was in diesem und in dem nächsten Kapitel aufgezeigt wird, wiedererkennen werden: 1. Die Obertonreihe 2. Die Intervallproportionen 3. Die Teilung des Oktavraumes in zwölf Halbstufen 4. Die Unterscheidung von Konsonanz und Dissonanz, wobei die Konsonanz um so größer ist, je niedriger die Zahlenverhält­ nisse sind 5. Die Unterscheidung von Dur und moll, wobei Dur-Proportio­ nen bei weitem überwiegen 6. Die Dominanz der 1:2-Polarität - der Oktave 7. Das Gesetz des Lambdomas (einer in Form des griechischen Buchstabens Lambda angeordneten Zahlenkolonne, deren rechter Schenkel jeweils um eine ganze Zahl von 1 bis unendlich steigt, 79

während der linke Schenkel jeweils die Brüche dieser gleichen ganzen Zahlen enthält, so daß die Koordinaten des offenen gleich­ schenkligen Lambda-Dreiecks der Ober- bzw. Untertonreihe fol­ gen). Hans Kayser und Rudolf Haase sind den Verzweigungen des Lambdomas in den verschiedensten Bereichen nachgegangen, ha­ ben sie exakt berechnet und Entsprechungen zu ihm in Physik, Akustik, Arithmetik, Geometrie, Kristallographie, Kybernetik, Religionswissenschaft und Philosophie gefunden. Rudolf Haase hat diese Entsprechungen auf das System des chinesischen I Ging und des genetischen Codes ausgedehnt, so daß sich nachgerade der Eindruck einer Allgegenwärtigkeit des Lambdomas bestätigt. Es ist hier nicht der Ort für mathematische Darlegungen: vor allem Hans Kayser und Rudolf Haase haben sie geleistet - in einem umfangreichen, von Tabellen, Graphiken und Berechnun­ gen überquellenden Lebenswerk. Wichtig für unseren Zusam­ menhang ist vor allem zweierlei: daß die sieben genannten Ge­ setze auf dem Ur-Gesetz der ganzzahligen Quanten (wie es einerseits die Obertonreihe, andererseits die Quantentheorie der theoretischen Physik deutlich macht) basieren. Und daß alle sie­ ben Gesetze auf verhältnismäßig einfache Weise am Monochord demonstriert werden können, also auf dem aus einer einzigen Saite bestehenden Musikinstrument, an dem bereits die Pythagoräer im alten Griechenland ihre Versuche gemacht haben und auf das sich auch Platon bezog, als er in seinem Dialog «Timaios» erkannte, daß die Weltseele eine Tonleiter ist. Hans Kayser hat zum Beispiel gezeigt, daß es aufgrund der harmonikalen Verhält­ nisse am Monochord hätte möglich sein können, eben jene Plane­ ten zu entdecken, die den Griechen und Römern und den Astrono­ men des Mittelalters noch nicht bekannt waren: Uranus, Neptun, Pluto und die Schwärme der Planetoiden (Näheres darüber später). Der 1964 in Bern verstorbene Hans Kayser ist der Begründer der harmonikalen Lehre als Wissenschaft, von der in diesem Buch noch oft die Rede sein wird. Eines seiner bekanntesten Werke, 1946 erschienen, heißt «Akróasis» - von griechisch «Anhörung» -im Gegensatz zur «Aisthesis», der «Anschauung». Die Welt, wie sie wirklich ist, so Kayser, ist eher durch Hören als durch Sehen zu erfassen. In diesem Werk schreibt Kayser: «Der Begriff der Sphä­ renharmonie ist so alt wie die Bewußtwerdung des Menschen. Zu­ erst Mythos, dann Astralsymbolik und integrierender Bestandteil fast der gesamten Menschheitsdichtung, wird er zur Vorausset­ zung der Astrologie und der beginnenden astronomischen For­ schung aller alten Völker. Erst mit Kepler erhält er jedoch jene Fun­ 80

damentierung, die ihn des bloßen Glaubens enthebt und in das moderne wissenschaftliche Denken einordnet. In seinem Haupt­ werk, ‹De Harmonice Mundi›, einem Werk, welches Kepler als sein wichtigstes bezeichnete und welchem er zeitlebens seine be­ sondere Liebe zuwandte, weist er mit einem umfangreichen, heute noch im wesentlichen gültigen Material nach, daß zwi­ schen den Geschwindigkeiten der Planeten untereinander eine große Anzahl musikalischer Harmonien bestehen ... Es ist aber für Kepler bezeichnend, daß gerade diese, von uns heute als einzig Wertvolles der ‹De Harmonice Mundi› noch anerkannte Entdekkung nur als eine neben vielen anderen ‹Harmonien› in seinem Werke genannt wird. Wir tun Kepler völlig unrecht und verbauen uns selbst das tiefere Verständnis für ihn und sein Wollen, wenn wir seine Harmonik nur als eine Anregung bezeichnen, über wel­ che wir eigentlich möglichst rasch zur Tagesordnung überzuge­ hen hätten... Wer das Werk Keplers gelesen und sich von seiner Begeisterung hat mitreißen lassen, für den sind seine harmonikalen Proportio­ nen seelische Wirklichkeiten, und er weiß: Hier geht es nicht um ... praktische Nutzanwendungen, sondern um das wahrhaft erschütternde Erlebnis eines ‹Tat twam asi›: Das bist Du, da oben sind Kräfte und Gestalten an den Himmel geschrieben, die in dei­ ner eigenen Seele tönen, die dich innerlich aufs stärkste angehen und ebenso wie dein ureigenstes Ich der Gottheit angehören!» Und Johannes Kepler selbst: «Gib dem Himmel Luft, und es wird wirklich und wahrhaftig Musik erklingen. Es gibt einen ‹Concentus Intellectualis›, eine «geistige Harmonie», an der reine Geistwesen und in gewisser Weise auch Gott selbst nicht weniger Genuß und Ergötzen empfinden als der Mensch mit seinem Ohr an musikalischen Akkorden. » Eine besonders interessante Überlegung Kaysers betrifft die Schwärme der Planetoiden, die zwischen Mars und Jupiter auftreten. Die Wissenschaft nimmt an, daß sie einem zertrümmerten Planeten entstammen, und die harmonikale Lehre kann dies nicht nur bestätigen (weil an dieser Stelle ein Planet «gebraucht» wird; die Planetoiden laufen in der wichtigen Terz-Bahn des Dur-Akkordes; undenkbar, daß diese Bahn unbesetzt geblieben wäre!)-, sie kann darüber hinaus auch zeigen, w a r u m der Planet, der sich an dieser Stelle befunden haben muß, notwendigerweise zerborsten ist. Kayser hat errechnet, daß die Bahn dieses mythi­ schen «Planeten X» «inmitten der beiden aufgespaltenen enharmonischen Töne 8/9 d und 9/10dv» liegt: «Dieser Planet X stand 81

an der bevorzugtesten, sozusagen ‹schönsten› Stelle der gesamten Planetenkombination. Denn er bildete die Terz des einzig hier kontinuierlich vorkommenden Dur-Akkords b-d-f ... Für den Harmoniker liegt es nun außer allem Zweifel, daß es gerade die enharmonische Spaltung der beiden d-Töne war, welche dem Planeten X zum Verhängnis werden sollte,- denn sein Bahnort lag mitten in der gefährlichen Spaltungszone, während Jupiter, der ebenfalls einer solchen enharmonischen Zone nahe liegt, so war - möchte man fast sagen -, seine Bahn außerhalb dieser ge­ fährlichen Zone zu legen ... Durch die Elimination dieser Terz verschwand der Dur-Akkord und damit das optimistische Zen­ trum der gesamten Planetenkonfiguration...» Aber, so weiterhin Kayser: «... eine Analyse der eben gegebenen Art ist selbstverständlich für die heute übliche wissenschaftliche Begriffsbestimmung im höchsten Grade ungewöhnlich.» Nicht nur die Planetenbahnen selbst, sondern auch die Verhält­ nisse innerhalb der Umlaufbahnen gehorchen harmonikalen Ge­ setzen - und zwar in einer Fülle, die weit hinausgeht über das statistisch Wahrscheinliche. Francis Warrain hat berechnet, daß von den 78 Tönen, die durch die verschiedenen Planetenproportio­ nen gebildet werden, 74 der Dur-Tonleiter angehören (und zugleich der Diatonik) - wahrhaftig ein überwältigendes Ergebnis, das durch keinen wie auch immer gearteten «Zufall» erklärt werden kann. Besonders interessant ist es, daß auch, wenn sich die Pla­ netenbahnen verändern (was ständig der Fall ist), die Winkelge­ schwindigkeiten an den sogenannten Aphels und Perihels, den Extrempunkten der elliptischen Planetenbahn, zur Sonne nahezu unverändert erhalten bleiben. Aus diesen Winkelgeschwindig­ keiten aber errechnen sich die harmonikalen Verhältnisse. Abge­ sehen von geringfügigen Verschiebungen (auf die ich in anderem Zusammenhang zu sprechen kommen werde) tönt also das Plane­ tensystem über die Jahrtausende hinweg in den gleichen überwie­ gend harmonischen Dur-Klängen. Es ist mehr als metaphorische Ausschmückung, wenn Dichter - und überhaupt sensiblere Men­ schen - beim Anblick des gestirnten Himmels immer wieder und über die Jahrhunderte hinweg ein «inneres Klingen» empfunden haben. Ein «inneres Klingen» ist es um so mehr, als es tatsächlich auch unser eigenes Klingen ist - einerseits in dem bereits angedeuteten Sinn, daß es die Disposition unseres Gehörs ist, in die alle diese Klänge «eingeschrieben» sind, zum anderen aber auch insofern, als alle die «Aspekte», die sich harmonikal-mathematisch erge82

ben, auch astrologische Aspekte sind. Bernward Thiel, Astrologe und Therapeut an Graf Dürckheims existential-psychologischer Begegnungsstätte in Rütte im Hochschwarzwald, macht mich darauf aufmerksam, daß die Aspekte der klassischen Astrologie «selbstverständlich auch harmonikal verstanden werden kön­ nen». Danach ist - wie ein einfaches Rechenexempel auf einem kreisförmigen Horoskop ausweist - die Konjunktion eine Ok­ tave, die Opposition eine Quinte, das Trigon eine Quarte, die kleine Terz ein Quintil, die kleine Sexte ein Biquintil usf. Das Horoskop eines Menschen - oder eines Ereignisses - ist also letztlich ein System aus Akkorden und Klängen. Der Mensch klingt: Das ist - auch unter astrologischen Gesichtspunkten mehr als poetische Metapher. Wo Menschen einander begegnen, wo also ihre Gestirnstände aufeinander zugleiten, sich wieder voneinander lösen und neue Aspekte, Konjunktionen und Oppo­ sitionen entstehen, in sich ständig verändernden Übergängen, entsteht Musik - nochmals: nicht in gleichnishafter Aus­ schmückung, sondern so real, daß sie im Notenbild niederge­ schrieben werden kann. Thomas Michael Schmidt schreibt: «Die antike Vorstellung, daß die irdische Musik nur Abglanz und gleichsam Stellvertrete­ rin der Harmonie des Himmels sei, erhält (auf diese Weise) einen konkreten Sinn, denn hier wie dort sind es die gleichen mathe­ matischen Verhältnisse, die einerseits den Tönen, andererseits den Planetenbewegungen zugrunde liegen. Lange bevor hier auf der Erde menschliche Musik ertönte, strahlten die mathemati­ schen Urbilder der Töne in wahrhaft kosmischen Dimensionen vom Himmel. Den akustischen Verhältnissen ist deshalb ein universaler Charakter zu eigen. Als Ordnungsprinzipien gestal­ ten sie sowohl die Planetenwelt, den Makrokosmos, als auch die menschlich-irdische Musik ... So offenbart sich durch die uni­ versale Geltung der Tonverhältnisse ein umfassender kosmi­ scher Zusammenhang...» Nochmals Johannes Kepler: «Darum wird man sich nicht weiter wundern, daß die schöne, zweckmäßige Folge der Töne in den musikalischen Tongeschlechtern von den Menschen ge­ funden wurde, wenn man sieht, daß sie dabei nichts anderes ge­ tan haben als Gottes Werk nachzuahmen, um nur sozusagen das Schaustück des himmlischen Bewegungsbildes herunterzuspie­ len...» «Dicunt astrologi vel musici ...» begann das Werk von David Blaesing, einem Astronomen des Mittelalters: Es sagen die 83

Astrologen oder die Musiker ... Und danach wird vom Kosmos gesprochen, als sei er Musik. Der Dichter Christian Morgenstern: «Die Sterne lauter ganze Noten. Der Himmel die Partitur. Der Mensch das Instrument.« Und Plotin, der Philosoph des Hellenismus: «Alle Musik, wie sie auf Melodie und Rhythmus beruht, ist der irdische Stellvertre­ ter der himmlischen Musik...» Hermann Graf Keyserling summiert: «Seitdem es Menschen gibt, ist der Musik eine Vorzugsstellung unter den Künsten zuge­ standen worden. Bewußter- oder unbewußtermaßen hat sie von jeher als Ausdruck und Vermittlerin von Kosmischem gegolten.» Es ist in unserer Zeit möglich geworden, den «Gesang der Plane­ ten» hörbar zu machen. Willie Ruff und John Rodgers, Professoren an der Yale University in den USA, haben die Umlaufbahnen der Planeten in einen Synthesizer gespeist - ein modernes, compute­ risiertes, elektronisches Musikinstrument, wie es in der Rockund Jazzmusik häufig verwendet wird. Sie sind dabei nicht - wie noch Pythagoras und Kopernikus - von kreisförmigen, sondern von elliptischen Bahnen ausgegangen und haben sich genau an die Angaben Keplers gehalten. Wie Kepler es errechnet hatte, haben sie dem Planeten Saturn das Kontra-G zugeordnet (das tiefe G, das dem unteren Ende der normalen Pianotastatur am nächsten liegt). Von daher definieren die Keplerschen Gesetze zwangsläufig die Töne aller anderen Planeten - über Jupiter, Mars, Erde, Venus bis zum sonnennächsten, dem Merkur, der das hohe viergestrichene e ist, fast schon am Ende der Pianotastatur. Auf der Schallplatte, die auf diese Weise entstanden ist, klingt das «moll-gestimmte Duett», in dem Erde und Venus miteinander «konzertieren», besonders bewegend; dabei «tanzt» die Venus um das dreigestrichene e, während die Erde - eine Sext tiefer - zwi­ schen dem zweigestrichenen g und dem gis «tändelt». Kepler empfand diese Tonbeziehung als «das unendliche Lied vom Elend der Liebe auf Erden». Auch sonst entsprechen die Klänge der Planeten, wie Ruff und Rodgers sie realisiert haben, den Vorstellungen, die traditioneller­ weise mit den verschiedenen Himmelskörpern verbunden wer­ den. Der Merkur, dem das Element Quecksilber zugeordnet ist, hat einen schnellen, geschäftigen, zirpenden, in der Tat «queck­ silbrigen» Klang. Mars rutscht aggressiv und «rücksichtslos» über mehrere Noten hinauf und hinunter. Jupiter hat einen majestäti­ schen, orgelartigen Ton, Saturn ein tiefes, unheimliches Dröhnen. Auf diese Weise umfaßt der Tonbereich der sechs sichtbaren 84

Planeten, einschließlich der Erde, acht Oktaven, deckt sich also fast mit dem Normalumfang des menschlichen Hörvermögens. Nach Keplers Tod wurden drei weitere Planeten entdeckt - Ura­ nus, Neptun, Pluto -, deren Umlaufbahnen sich den Keplerschen Gesetzen - wie nicht anders zu erwarten - widerspruchslos einge­ fügt, ja diese Gesetze bestätigt haben. Da diese Planeten sehr lang­ sam umlaufen - Pluto etwa hat eine Umlaufperiode von 2,48 Jah­ ren -, würde ihre Umsetzung in Tonhöhen die menschliche Hörfähigkeit überschreiten. Die Professoren Ruff und Rodgers haben aber entdeckt, daß die Umlaufellipsen dieser äußeren Planeten für das menschliche Ohr als Rhythmen hörbar gemacht werden kön­ nen. Ruff, der nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Jazzmusi­ ker ist, sagt: «Ich wußte von Anfang an: Es muß da draußen doch auch Rhythmus geben.» So ergibt sich: Die sechs sichtbaren Planeten formen in ihren elliptischen Bahnen einen - dieser Ausdruck stammt von Kepler, dem Musiker Johannes Kepler! - «sechsstimmigen Motetten­ satz», während die drei äußeren Planeten - die Formulierung ist von Ruff - die rhythm section, die «Rhythmusgruppe», bilden, in der Pluto, der fernste, die kosmische «Baßtrommel» schlägt. Interessant, wie sich im Trilog der drei «Rhythmusplaneten» Uranus und Neptun gegeneinander verschieben. Wenn Uranus sich langsam bewegt, ist das Verhältnis zu Neptun ziemlich genau 1:2½, aber die schnelleren Rhythmen der beiden Planeten sind fast identisch. Auf diese Weise entsteht ein Netz interessanter Po­ lyrhythmen, das sich an Plutos Baßtrommel orientiert. Diese Orientierung besitzt nichts Metronomisches, denn auch der Baß­ rhythmus verschiebt sich - allerdings in Zyklen von etwa sieben Minuten, so daß die rhythmischen Umschichtungen, die dadurch entstehen, kaum wahrzunehmen sind. Sie laufen ähnlich langsam wie die Veränderungen in der sogenannten «Minimal Music». Willie Ruff und John Rodgers haben auf ihrer Platte die Umlauf­ bahnen der Planeten für einen Zeitraum von rund 250 Jahren als Klänge realisiert - beginnend in Keplers Geburtsjahr 1571. Ange­ regt zu ihrer Arbeit wurden sie durch Hindemiths Oper «Die Har­ monie der Welt» (die ihrerseits von Leben und Werk Johannes Keplers inspiriert wurde]. Ruff selbst ist ein Schüler von Hinde­ mith, der nach seiner Emigration aus Deutschland an der Yale University gelehrt hatte und in intensivem Kontakt mit Hans Kayser stand.

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Gottfried Wilhelm Leibniz, der große Philosoph und Mathemati­ ker des 17. Jahrhunderts, schrieb: «Die Musik ist eine verborgene arithmetische Übung der Seele, die dabei nicht weiß, daß sie mit Zahlen umgeht, denn vieles tut sie in Gestalt von unmerklichen Auffassungen, was sie mit klarer Auffassung nicht bemerken kann. Es irren nämlich diejenigen, welche meinen, daß nichts in der Seele geschehen könne, dessen sie sich nicht selbst bewußt sei. Daher bemerkt die Seele, obschon sie nicht erkennt, daß sie rechnend tätig ist, dennoch die Wirkung dieses unmerklichen Zahlenbil­ dens, entweder als ein daraus hervorgehendes Wohlbehagen bei Zusammenklängen oder als Unbehagen bei Mißklängen.» «Wie oben so unten» lautet das Grundprinzip der Weisen Asiens und des alten Ägyptens. Die Klang-Struktur «oben» - nämlich im Kosmos - kennen wir seit Pythagoras und Kepler - und die mo­ derne Astronomie und Kosmologie entdeckt ständig neue, faszi­ nierende harmonikale Beziehungen, weit über den Raum unseres Planetensystems hinaus. Wie aber steht es mit «unten» - mit der Welt der Gene und Zellen, der DNS und RNS, der Atome und Ele­ mentarteilchen? Gibt es auch hier harmonikale Strukturen? Hier mehr als irgendwo anders müßte es sie geben, wenn das, wovon in diesem Buch die Rede ist, einen Sinn hat. Jahrzehntelang hat man es sich einfach gemacht: Das Bohrsche Atommodell schien bestimmte Umlaufbahnen der Elementar­ teilchen um den Atomkern zu postulieren, und man nahm an, daß diese Bahnen - ähnlich denjenigen, die die Planeten um die Sonne ziehen - harmonikalen Gesetzen gehorchen,- in Wirklichkeit ge­ horchen sie statistischen, und «Umläufe» im Sinne der ellipti­ schen Bahnen der Sonnentrabanten gibt es hier nicht. Es gibt aber sogenannte «Schalen», die im Atomkern annähernd der Bedeutung entsprechen, die die «Bahnen» im Sonnensystem haben. Die Schalen füllen sich mit Elektronen auf, und diese Auf­ füllungszustände stehen in Beziehung zur Ordnungszahl der Atome im Periodischen System der Elemente; die Ordnungszahl entspricht der Größe der Kernladung. Hier - in den Schalen, den Auffüllungszuständen, in Ordnungszahl, Kernladung, Anzahl von Elektronen und Protonen und in den sogenannten spin-Zuständen (der Ausdruck wird weiter unten erklärt) - liegen die harmonika­ len Proportionen, - und zwar in einer Dichte und Auffälligkeit, die auch den reservierten Beobachter zum Staunen bringt. Die diesbezüglichen Erkenntnisse wurden fast um die gleiche Zeit aus den beiden in erster Linie zuständigen und gleichwohl entgegen­ 86

gesetzten Bereichen, nämlich einerseits aus der Musikwissen­ schaft, andererseits aus der Teilchenphysik - einander auf faszi­ nierende Weise bestätigend und ergänzend - zusammengetragen von dem Musikwissenschaftler Wilfried Krüger und dem französi­ schen Atomphysiker Jean E. Charon. Krüger hat an den für die Entstehung des Lebens entscheiden­ den Punkten der Mikrowelt - im Sauerstoff-, Stickstoff-, Kohlen­ stoff- und Phosphoratom und in den Nukleinsäurefäden der RNS und DNS - in besonders überwältigender Fülle harmonikale Strukturen entdeckt. Der Sauerstoff ist das Grundelement, die Dur- die Grundtonlei­ ter, und in der Tat: Die acht Protonen des Sauerstoffatoms bilden eine Dur-Tonleiter, wobei die spins der Protonen exakt die Haib­ und Ganztöne markieren. Der spin - ½ ist der Halbton, der spin + ½ der Ganzton, und wirklich sitzt der Minus-spin auf der vierten und achten Stufe, dort also, wo in der Dur-Tonleiter das f und das c' den Halbtonschritt signalisieren. Noch überraschender wird die Übereinstimmung, wenn man bemerkt, daß das Sauerstoffatomkern-Protonen-Modell zwölf Stufen hat - so viele also, wie die Tonleiter, die es ja tatsächlich bildet, Halbtöne besitzt. Im Normalzustand sind sieben gefüllt und fünf leer - wie bei der Tonleiter, die aus sieben «leitereige­ nen» Tönen besteht und die übrigen fünf Halbtöne unbenutzt läßt. Nun werden in der Musik gelegentlich - vor allem dann, wenn moduliert wird - auch «nicht-leitereigene» Töne verwen­ det; genau das geschieht auch in den verschiedenen Auffüllungs­ zuständen des Atomkerns, die freilich immer nur Übergangsfunk­ tion haben - wie die Modulationen in der Musik. Ähnliche Entdeckungen hat Krüger in den Kernen anderer Atome gemacht - wie gesagt um so häufiger, je wichtiger die be­ treffenden Atome für die Entstehung organischen Lebens sind. So ergibt «die Elektronenhülle des Kohlenstoffatoms, nach den Re­ geln der Atomphysik und in den Stufen des Grundtheorems aufge­ füllt, die Tonleiter c-d-e-f-g-a», das ist der Hexachord der Gregoria­ nischen Musik, ja es gibt sogar, je nach dem Auffüllungszustand des Atoms, alle drei Hexachorde der Gregorianik im Kohlenstoffden sogenannten Hexachord durum, den Hexachord molle und den Hexachord naturale. Das Phosphoratom, das größte der DNS, hat die Grundzahl 15, also 15 Protonen im Kern, die in Form einer 15 stufigen Tonleiter vom tiefen g bis zum fis' angeordnet sind, wobei auch hier wieder die positiven und negativen spins exakt die Halbtöne markieren. 87

Die ganze Mikrostruktur ist voller harmonikaler Beziehungen. Die Nukleinsäurefäden der DNS werden in ihrer ganzen respekta­ blen Länge exakt durch die pythagoräische Tetraktys - die Vierfaltigkeit des Oktavraumes (Oktave, Quinte, Quarte und große Se­ kunde) - strukturiert. Die Pythagoräer haben der Tetraktys magi­ sche Gewalt zugesprochen und sie als «heilig» bezeichnet, und in der Tat ist sie in den geheimnisvollen Prozessen, die anorganische Strukturen in organisches Leben überführen, nahezu allgegenwär­ tig. Die vier Sauerstoffatome zum Beispiel, die das Phosphoratom umgeben, schwingen in der Tetraktys! Es ist wörtlich zu nehmen, wenn Lama Govinda - lange vor Krügers Entdeckungen - gesagt hat: «Jedes Atom singt ständig ein Lied, und es ist dieser Ton, der in jedem Augenblick dichte oder feine Formen von größerer oder geringerer Materialität schafft.» Eine ähnliche Schlüsselstellung wie die Tetraktys besitzt der geheimnisumwitterte Tritonus, der diabolus in musica, der Teu­ fel in der Musik: die übermäßige Quarte oder verminderte Quinte, die weder konsonant noch eindeutig dissonant ist und in der Mi­ krowelt genau das bewirkt, was sie auch im Jazz - in der Musik des Bebop der vierziger Jahre - bewirkte: einen «Hauch von Freiheit». Man spricht, zumal im Jazz, von der «springenden» Quinte, «springend» aber wirkt sie auch in der Zellkernteilung. Die Ener­ gie, die für den Sprung benötigt wird, entsteht durch Aufnahme von Photonen, den, wie wir weiter unten sehen werden, «Kom­ munikationsträgern». Der «Segen der Photone» - so Krüger - geht «pfingstlich in großer Schar herab hauptsächlich auf die Tonre­ gion des Tritonus» - nämlich auf f, fis, g - und zwar besonders stark immer gerade kurz vor der Mitose, der Zellteilung, wenn zwei identische Kerne mit gleicher genetischer Information ent­ stehen. In diesem Prozeß - und auch bei zahlreichen anderen Pro­ zessen im Mikrokosmos, die von Krüger ausführlich analysiert wurden - ist die verminderte Quinte wirklich noch das, was sie für die Alchimisten gewesen ist: die quin ta essentia-die Quintes­ senz. Sie ist «Schaukel» und «Wippe» und «Angel», weil sie offen nach allen Seiten ist - sie bringt, wie gesagt, Freiheit. Krüger hat die Parallelität der Tritonus-Position im Mikrokosmos einerseits und im Bebop des Jazz andererseits bis in Einzelheiten ausgeführt. Franz Schubert empfand das eingestrichene fis als «grüne Note». Ich weiß nicht, wie Schubert das hören konnte, aber eben jenes fis', ein Tritonus (auf C bezogen), bildet die Schlüsselspan­ nung im Geschehen des Stickstoffatoms bei der Photosynthese, dem Prozeß, in dem aus Sonnenlicht Chlorophyll, lebendiges 88

Grün also, entsteht. Aus Sonne wird lebende Materie. Das Wort ward Fleisch: Gerade an dieser Stelle besitzt der Tritonus die ent­ scheidende «Wirkkraft», die quinta essentia - zusammen übri­ gens mit zwei weiteren Proportionen, die ebenfalls harmonikal von besonderer Bedeutung sind und bei den Pythagoräern, in der Kabbala und in anderen Geheimwissenschaften des Ostens und Westens seit je als magisch und als heilig gelten: der Sieben der Dur-Tonleiter und der Zwölf als der Zahl der in der Oktave verfüg­ baren Halbtöne. Tatsächlich besitzt das Magnesiumatom, das in der Mitte des Chlorophylls schwingt, die Grundzahl 12, umgeben aber ist es von vier Stickstoffatomen mit der Grundzahl 7. Bereits bevor Lothar Meyer und Dimitrij Mendelejeff das Perio­ dische System der Elemente entdeckt haben, wies John Newlands darauf hin, daß Elemente der gleichen Gruppe in musikalischen Intervallen erscheinen: «Es ist zu erkennen, daß die Nummern analoger Elemente sich allgemein um die Zahl 7 oder ein Vielfa­ ches von 7 unterscheiden ... Ich schlage vor, diese Beziehung vor­ läufig als ‹Gesetz der Oktaven› zu bezeichnen.» Prof. Dr. Rudolf Haase, der an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Wien harmonikale Grundlagenforschung lehrt und das Wiener «Hans-Kayser-Institut» leitet, hat dieses Ge­ setz erhärtet. Nach seinen Untersuchungen basiert das ganze Pe­ riodische System der Elemente auf den Tönen c', c'", d"" und c'"", also vorwiegend auf höheren Oktaven des Grundtones. Haase weist darauf hin, daß das aus der Chemie bekannte «Ge­ setz der konstanten und multiplen Proportionen» zu harmonikal deutbaren Zahlenverhältnissen führt. Da es «die Grundlage für die chemischen Formeln bildet», läßt sich «die chemische For­ melsprache als ein riesiger Katalog von Proportionen auffassen..., dessen harmonikale Erschließung noch aussteht». Wir haben uns damit aus dem Bereich der Atome und ihrer Teil­ chen in den der Moleküle begeben. Rudolf Haase hat gezeigt, daß ihrem Aufbau «ein Streben nach höchster Symmetrie zugrunde liegt, das sich vor allem in Gruppierungen auswirkt, die uns unter dem Namen der ‹platonischen Körper› bekannt sind» - nämlich Tetraeder, Oktaeder, Hexaeder (Würfel), Ikosaeder, Pentagondode­ kaeder; nur diese fünf gibt es, und sie alle sind aus regelmäßigen Vielecken zusammengesetzt. In der Anzahl der Ecken, Flächen und Kanten der fünf Körper kommen folgende Zahlen - und nur diese Zahlen! - vor: 4 - 6 - 8 - 12 - 20 - 30; in einer Obertonreihe auf c bilden sie die folgenden Töne: c", g", c"', g'", e"", h"". L. Wolf hat nach Untersuchungen von Hunderttausenden von 89

chemischen Verbindungen festgestellt, daß die Dur-Dominanz noch durch die Koordinationszahlen (die die Anzahl der in einem Molekül unmittelbar benachbarten Atome angeben) unterstri­ chen wird. Hier gibt es nämlich die gleichen Zahlen, nur die 30, das viergestrichene h, fehlt, ausgerechnet der Ton, der als einziger der genannten nicht in den Dur-Dreiklang hineinpaßt! R. Haase, der all diese Erkenntnisse in jahrelangen Untersuchungen erarbei­ tet hat, bemerkt noch, daß, wenn man die genannten Zahlen in Intervall-Verhältnisse überträgt, ausschließlich und nur die konsonantesten Intervalle entstehen, nämlich Oktave, Quinte, Quarte, große Sexte und große Terz. Wahrhaftig ein überwältigen­ des Indiz für den gleichermaßen «harmonikalen» wie «harmoni­ schen», klingenden, musikalischen Aufbau unserer Welt. Ich habe erwähnt, daß die Forschungen des Musikwissenschaft­ lers Wilfried Krüger durch die des Physikers Jean E. Charon er­ gänzt werden. Bevor ich die Ergebnisse von Charon mitteile, muß der bereits mehrmals erwähnte Begriff spin erklärt werden. Er ist das Produkt aus Rotationsenergie und Rotationsperiode von Neu­ trinos, Photonen und Elektronen und muß grundsätzlich ein ganzzahliges Vielfaches der wichtigsten Naturkonstante des Mi­ krokosmos, nämlich des Planckschen Wirkungsquantums sein, auch Plancksche Konstante genannt. Der Ausdruck «ganzzahli­ ges Vielfaches» signalisiert von vornherein schon - also noch be­ vor die Detailfunde Krügers berücksichtigt werden - einen har­ monikalen Befund. Und in der Tat soll Max Planck, der ein starkes musikalisches Interesse besaß, durch das Springen der Töne in der Obertonreihe von einer ganzen Zahl zur nächsten zu seiner Quan­ tentheorie angeregt worden sein. Darauf läuft ja die Quantentheo­ rie hinaus: die Energie der Teilchen im Atom verändert sich nicht gleitend, sondern in ganzzahligen Sprüngen. (Seltsam dieses gleichstarke Interesse an Musik und Physik bei den beiden großen Wissenschaftlern, die einerseits unser makro- und andererseits unser mikrophysikalisches Weltbild geprägt haben: Johannes Kepler und Max Planck!) Was nun den Begriff spin betrifft, so ent­ sprechen spin-Zahlen in der Mikro-Physik den Intervall-Verhält­ nissen der Musik auf dem Monochord - ½, 1, ½, 2 usw. jeweils bezogen auf die Einheit der Planckschen Konstante (dividiert durch 2). Besonders wichtig für unseren Zusammenhang ist - wie wir se­ hen werden - der spin der Photonen. Was sind Photonen? Krüger: «Wenn die Atomphysik feststellt, daß die Zeit stillsteht, der Ort 90

nirgends und überall ist und die Masse gleich Null ist für ein Teil­ chen, das sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt - solches Teil­ chen ist ein Photon -, so tritt sie von außen auf eine Schwelle, auf die von anderer Seite her Mystiker traten und treten.» Wer einem unvoreingenommenen Menschen die Frage stellt: Was ist das - der Ort ist nirgends, die Masse gleich Null, es bewegt sich mit Lichtgeschwindigkeit und ist ununterbrochen wirksam und aktiv? -, der könnte die Antwort erhalten: ein Gedanke. Krü­ ger: «Die Photonen sind die springenden Punkte des Geistes.» Ge­ nau das bestätigt die moderne Teilchenphysik - im Werk von Cha­ ron. Einen entscheidenden Anstoß für die wachsende Berücksichti­ gung des geistigen Moments in der theoretischen Physik bildeten die immer wieder gemessenen Abweichungen von den rein physi­ kalischen Gesetzmäßigkeiten, die sich rechnerisch ergaben und gleichwohl oft nicht ganz genau mit den gemessenen Ergebnissen übereinstimmten. Immer wieder stießen Physiker und Mathema­ tiker auf minimale und unvorhersehbare «Zwischenwerte». Sie begannen sich deshalb zu fragen: Wo sind die Energien, die Im­ pulse, die durch sie abgedeckt werden? Was ist es, was uns da stän­ dig durch das Netz unserer immer genauer werdenden Meßmög­ lichkeiten schlüpft? Einen weiteren Anstoß bildete die in eine ähnliche Richtung weisende Entdeckung von Lee und Yang - zwei amerikanischen Physikern chinesischer Herkunft -, daß das für die rohe Materie gültige Prinzip der Erhaltung der Parität im Zuge schwacher Wech­ selwirkungen verletzt wird. Für bestimmte Gruppen amerikani­ scher Physiker bedeutete diese Entdeckung einen Durchbruch. Untermauert auch durch andere Forschungen, die vorzutragen hier zu weit führen würde, ließ sich der Gedanke immer weniger von der Hand weisen, daß sich geistige und psychische Elemente in der - oft minimalen - Differenz zwischen den errechneten, aufgrund der Naturgesetze «verbindlichen» und den de facto gemessenen Ergebnissen in die bisher «gültigen» Konzeptionen der Mikrowelt gleichsam «einschlichen». Sie waren da, diese geistigen und psy­ chischen Elemente, ungerufen und ungewollt, allen herrschenden physikalischen Theorien zuwider - und konnten gleichwohl im­ mer weniger abgewiesen werden. Lee und Yang erhielten sofort den Nobelpreis, noch im Jahre ihrer Entdeckung, 1957 (Charon weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Einstein immerhin 17 Jahre lang auf den Nobelpreis warten mußte!). 91

Auch die Entdeckung der »Wahlmöglichkeit» der Elektronen, die die Option haben, zwischen verschiedenen -Taten» zu wäh­ len, und diese Option auch beanspruchen und ausnutzen, spricht - nach Charon - für ein geistiges oder psychisches Element, denn das ist ja der Geist per definitionem: ein Wählendes! Neuere mikro-physikalische und kosmologische Modelle sind überhaupt nicht mehr denkbar ohne ständige Berücksichtigung von Wahlmöglichkeiten. Die Physiker machen nicht einmal mehr den Versuch (den sie doch Generationen hindurch unter­ nommen haben), mit Hilfe physikalischer Manipulationen diese «Möglichkeiten der Freiheit» aus der Welt zu schaffen oder ein­ fach zu leugnen. Sie akzeptieren sie und erkennen in wachsendem Maße: die Akzeptanz der Wahl bedeutet die Akzeptanz des Geisti­ gen. Eine ständig wachsende Gruppe von Physikern - um den Fran­ zosen Jean E. Charon und um die in den USA führenden For­ schungsanstalten in Pasadena und Princeton (die sogenannten «Gnostiker von Princeton») - meint, die Urheber geistiger und psychischer Impulse im Elektron und im Photon entdeckt zu haben. Charon schreibt: «Das Elektron umschließt innerhalb seines Mikro-Universums einen Raum, der erstens Informationen zu speichern vermag, zweitens mit Hilfe einer Art von •Erinnerungs­ system- diese Information in jeder Pulsationsperiode seines Zyklus wieder verfügbar machen kann und drittens die Fähigkeit besitzt, komplexe Operationen durch Kommunikation und Zu­ sammenarbeit mit den anderen Elektronen des zu bildenden Sy­ stems zu steuern.» Das Elektron nämlich ist eine Art «Mikro-Schwarzes Loch»; es besitzt eine ähnliche Struktur wie die Schwarzen Löcher des Kos­ mos und, bis zu einem gewissen Grade, wie deren Vorstufe, die Pulsare, die schweren, pulsierenden Sterne, von denen wir gespro­ chen haben. Wie Schwarze Löcher und Pulsare verfügt das Elek­ tron über eine sehr, sehr hohe Temperatur zwischen 60 Millionen und 650 Milliarden Grad - man muß sich das vorstellen: in der unvorstellbaren Kleinheit des Mikrokosmos! - sowie über eine ungeheure Dichte - zwischen Tausend Milliarden und einer Mil­ lion Gramm pro Kubikzentimeter! - und, damit zusammenhän­ gend, einen im Sinne der Einsteinschen Theorie völlig in sich ge­ krümmten Raum und eine völlig in sich gekrümmte Zeit. Die Zeit der Elektronen und Schwarzen Löcher ist also nicht unsere «materielle Zeit», die von der Vergangenheit in die Zukunft führt. 92

Sie ist eine -geistige Zeit», die «zyklisch rückwärts läuft», so daß alles, was einmal gespeichert wurde, bei jedem Zyklus erneut ab­ gerufen werden kann. Deshalb, so Charon, sind die Elektronen die «Ur-Speicher» der Erinnerung. Sie gehören zu den wenigen Ele­ mentarteilchen, die nicht zerfallen, das heißt, sie bestehen von Beginn des Kosmos an bis zum Ende der Zeit und des Universums. Charon: «Ein Elektron, das nacheinander Teil eines Baumes, eines Menschen, eines Tigers und wieder eines Menschen war, wird sich also für immer an alle in diesen verschiedenen Leben gesammelten Erfahrungen erinnern. Von nun an vereint es in sich alle Erfahrungen, die es als Baum, als Mensch Nr. i, als Tiger und als Mensch Nr. 2 erlebte, dessen Organismus es zu bestimmten Zeiten angehörte.» Angebahnt hat diese Erkenntnisse bereits in den zwanziger Jah­ ren der Züricher Physiker Wolfgang Pauli, aus dessen sogenann­ tem «Pauli-Prinzip» hervorgeht, daß Atome «wissen» und «behal­ ten» können, ob sie einem anderen Atom schon einmal begegnet sind oder nicht, und daß sie «wissen», in welchem Zustand sich andere Atome befinden. Das Erinnerungsvermögen der Elektronen wird durch den spin seiner Photonen gesteuert. Jede Steigerung des spins führt zu einem Mehr an Information, und diese Steigerung erfolgt - und das eben ist für unseren Zusammenhang das Überraschende und Wunderbare - in harmonikalen Progressionen. Photonen steuern aber nicht nur die Erinnerung, sondern auch den Erkenntnisprozeß: «Bei ihm verschwindet ein Photon des Außenraumes und stellt dadurch seinen Impuls, seine Energie und seinen spin einem Photon des Elektronenraumes zur Verfü­ gung ...» - wodurch das innere Photon von nun an eben über das Potential verfügt, über das bisher nur das äußere Photon verfügte - und auch dies wiederum geschieht in ganzzahligen harmonika­ len Progressionen! Es ist, als ob sich die Teilchen gegenseitig ihre «Töne» mitteilten! Das ist die Sprache, in der sie miteinander kommunizieren - eine Sprache in Tönen, in Harmonien! Drittens gibt es die «Tat» der Elektronen. Charon: «Das Elek­ tron hat hierbei eine rein motorische Aufgabe zu erfüllen; es muß sich in den Außenraum, den Raum der Materie, hinausbewe­ gen ...» um dort durch seine Anwesenheit atomare und chemische Prozesse auslösen zu können - was auch wieder durch die spinZustände, in harmonikalen Progressionen also, bewirkt wird. Charon: «Zuletzt gibt es noch den spin-Austausch zwischen den Photonen zweier benachbarter Elektronen. Diesem Aus­ 93

tauschprozeß wollen wir den Namen ‹Liebe› geben. Es kann bei­ spielsweise geschehen, daß ein Photon innerhalb des ersten Elek­ trons von spin + 1 auf spin + 2 übergeht, während gleichzeitig im benachbarten Elektron ein Photon von spin - 1 auf spin - 2 über­ geht ... Zur Kommunikation durch Liebe gehören jedoch immer zwei: Beide müssen sich zu dieser Wechselwirkung entschließen und beide den spin-Austausch annehmen. Der Elektronenraum jedes der beiden Beteiligten (das -Gedächtnis- dieses Raumes) muß imstande sein, eine solche Erhöhung des spin-Zustandes, von spin 1 auf spin 2 beispielsweise, eines seiner Photonen zu akzeptieren. Anders ausgedrückt: es muß eine gewisse ästhetische Über­ einstimmung zwischen jenen beiden ‹Gedächtnissen› herr­ schen, die versuchen, sich zu paaren, um ihre Information zu be­ reichern ... Jedes ist Spender und Empfänger zugleich, und damit dieser auf Gegenseitigkeit beruhende Vorgang stattfinden kann, müssen die beiden neuen geistigen Konfigurationen gewisserma­ ßen ‹zusammenpassen›. » Ein Elektron, das sich bisher nur in toter Materie auf gehalten hat, besitzt gegenüber einem, das sich schon lange in einem Tier oder Menschen befindet, ein völlig verschiedenes Informationsniveau; die beiden haben gleichsam eine andere «Ausbildung» durchlau­ fen, und es ist nicht wahrscheinlich, daß zwischen ihnen ein spinAustausch - «Kommunikation», «Paarung», «Liebe» -geschehen wird, ein Befund, der exakt menschlichen «Usancen» entspricht. Der Psychologe Oscar Ichazo: «Die Liebe ist das Wiedererkennen des gleichen Bewußtseins bei sich und beim anderen.» Und Jean E. Charon: «Ich bin übrigens der Überzeugung, daß eine bestimmte Affinität auf der Stufe des Lebendigen (und nicht mehr des Elemen­ taren), die auf Verwandtschaft (wie der Mutterliebe), aber auch auf gegenseitiger Ergänzung (wie der Liebe zwischen Mann und Frau) beruhen kann, jene Art der Kommunikation zwischen Elektronen erleichtert, die wir in Analogie dazu auch auf der Ebene des Elemen­ taren als Liebe bezeichnet haben. Im Gegensatz zu den Ansichten, welche die meisten organisierten Wesen sich darüber zurechtge­ legt haben, sind es nämlich eigentlich ihre Elektronen, die Liebe verströmen oder Liebe hervorrufen. Das organisierte Wesen selbst ist nur das ‹Vehikel› dieser Liebe, und auch das nur in einem eng begrenzten Teilgebiet von Raum und Zeit.» Wir können danach den oben zitierten Satz von Oscar Ichazo variieren - und präzisieren: Die Liebe ist das Wiedererkennen der gleichen spin-Zustände, will sagen: gleicher harmonikaler Ver­ hältnisse, gleicher Schwingungen, - letztlich: gleicher Harmo­ 94

nien - weshalb ja auch die Umgangssprache von «harmonischen» Verhältnissen zwischen Liebenden spricht. Die Liebe also als Akkord. Je «harmonikaler» sie im wörtlichen Sinn ist, desto «har­ monischer» ist sie auch im übertragenen Sinn - womit auch offen­ sichtlich ist, daß die Vorgänge der Liebe, ihre «Taten» - Zärtlich­ keiten, Vereinigung, Orgasmus - durch harmonikale Verhältnisse gesteuert werden und ihrerseits wiederum - in einer Art «feed­ back» im Sinne der «Regelkreise» der Kybernetik - ein harmoni­ kales Geschehen von wachsender Kraft und Intensität auslösendurchaus so, wie es die Dichter aller Zeiten, Shakespeare etwa, empfunden haben: Die Liebe als Musik... Der spin steigert sein Niveau aber nicht nur in harmonikalen Progressionen, er «geschieht» auch in der Zeit - und zwar in der gekrümmten, zyklischen Zeit der Elektronen (die auch die der Schwarzen Löcher des Makrokosmos ist). Zeitliche Progressio­ nen in ganzzahligen Verhältnissen sind Rhythmen. Spins er­ scheinen in diesem Licht als die Ur-Rhythmen des Kosmos, und auch diese Rhythmen also «swingen» in ganzzahligen Verhält­ nissen. Und schließlich: Das Photon ist die kleinste Einheit des Lich­ tes. Photonen tragen das «Ur-Licht». Sie sind «mikrokosmische Lichtblitze». Photonen sind Licht in der totalen Bedeutung des Wortes, gleichermaßen der materiellen wie der «übertrage­ nen» geistigen. Ohnehin lassen sie sich geistig einfacher und zwangloser definieren als physikalisch-materiell - weshalb denn auch die Schul-Wissenschaft zugeben muß: «Es ist bisher noch nicht gelungen, sie (die Eigenschaften dieser Teilchen) aus allgemeineren theoretischen Ansätzen in befriedigender Weise abzuleiten.» Carl Friedrich von Weizsäcker räumt ein, daß «von dieser Physik aus gesehen, nichts der Behauptung im Wege (steht) - die allerdings auch nicht aus ihr folgt -, daß, wenn ich einmal klassische Begrifflichkeiten benutzen darf, die Sub­ stanz, das Eigentliche des Wirklichen, das uns begegnet, Geist ist.» Was nun die Frequenz des Lichts betrifft, das ein Photon «ist», so hängt auch sie von seinem spin ab, das heißt wieder: von har­ monikalen Progressionen. Von den Gesetzmäßigkeiten der Ober­ tonreihe! (Wir werden in dem Kapitel «Harmonie als Ziel der Welt» auf diese Dinge zurückkommen müssen, aber wir begreifen schon jetzt, warum Musik und Physik einander so nahestehen, von Anfang an, und warum gerade die Musiker so oft von physika­ 95

lischen Ergebnissen fasziniert sind und in ihrem Schaffen beein­ flußt werden - und umgekehrt.) Die Überlieferung der biblischen Genesis jedenfalls, wonach Gott im Anfang das Licht geschaffen habe, wird von der modernen Kosmologie voll bestätigt. Denn die Kosmologen behaupten heute, gestützt auf die allgemeine Relativitätstheorie, daß das Universum am Anfang von sehr heißer elektromagnetischer Strahlung - und nur von solcher - erfüllt war: von Photonen, also - von Licht. Charon: «Wie aus der Bibel, so erfahren wir auch von den Astrophysikern, daß die Materie erst nach der Erschaf­ fung des Lichtes entstanden ist.» Dieses Licht aber, das Photon, läßt sich leichter als Geist und Gedanke denn als Materie oder Energie bestimmen. Im Anfang also - auch das bestätigt die moderne Physik - war der Geist, der Logos. (Und gerade an dieser Stelle sollte daran erinnert werden, daß das Wort λόγοϛ im Griechischen auch «Proportion» bedeu­ tet!) Im übrigen ist nun wohl der Punkt erreicht, an dem man sich eine Vorstellung von dem ungeheuren Verdrängungsakt machen kann, dessen sich die Schul-Wissenschaft befleißigt hat. Genera­ tionenlang hat sie versucht, die Grundvorgänge des Kosmos und des Mikrokosmos und sogar die des Lebens allein physikalisch und chemisch, also materiell zu erklären. Immer wieder ist sie dabei auf die Dimension des Geistigen, des Seelischen, des Meta­ physischen gestoßen, aber sobald dies geschah, hat sie allergisch die Augen geschlossen, als gäbe es diese Dimension nicht. Es war ein asketischer Krampf: Menschen, die selber denken und fühlen und für die ja, wie für jeden Menschen, ihr eigenes Denken und Fühlen das Wichtigste auf der Welt ist, versuchten, die Welt zu erklären, als gäbe es Denken und Fühlen nicht. Der französische Psychoanalytiker Pierre Solié hat einmal die Frage gestellt: «Glauben Sie denn, die Physiker hätten je die Ge­ setze des Atoms entdecken können, wenn sie nicht selbst aus die­ sen Atomen bestünden?» Entsprechend darf gefragt werden: Kann man denn glauben, die Menschen hätten je schöpferischen und tätigen, liebenden und erkennenden Geist bewiesen, wenn sie nicht aus Geist bestünden? Deshalb sind es gerade die schöpferischsten Wissenschaftler ge­ wesen, die genialsten, diejenigen, die am meisten von Geist durchdrungen sind, die - in Medizin, Physik, Biologie und Che­ mie - die geistigen, psychischen und metaphysischen Kräfte nicht etwa geleugnet und ausgeklammert, sondern im Gegenteil in ihre 96

wissenschaftliche Arbeit einbezogen haben - oder in den Worten Charons: «... die metaphysische Betrachtung (ist) mit den größten wissenschaftlichen Leistungen untrennbar verbunden ... (und stellt) eine starke Antriebskraft für den Fortschritt der Erkenntnis dar... - mit oder ohne die Approbation der Herren ‹Wissenschaftsgläubigen›.» Und schließlich Max Planck, der Mann, der die Quantenme­ chanik und die Teilchen-Physik, wie sie sich heute darstellt, be­ gründet hat und auf den sich die «Schul-Wissenschaft» in ihrem Materie-orientierten Denken beruft - zu Unrecht, wie das fol­ gende Zitat deutlich macht: «Es gibt keine Materie an sich! Nicht die sichtbare, aber vergängliche Materie ist das Reale, Wahre, Wirkliche, sondern der unsichtbare, unsterbliche Geist ... Da aber Geistwesen nicht aus sich selbst sein können, son­ dern geschaffen worden sein müssen, so scheue ich mich nicht, diesen geheimnisvollen Schöpfer ebenso zu nennen, wie ihn alle alten Kulturvölker der Erde früherer Jahrtausende genannt ha­ ben: - Gott!»

Klänge und Musik zum Hören des vierten Kapitels Pulsar-Klänge: Bandaufnahmen der amerikanischen Astrono­ men Jeff Lichtman und Robert M. Sickels, dazu gehörig: «Ama­ teur Radio Astronomer's Notebook», copyr. 1975 (Max-PlanckInstitut für Radioastronomie Bonn) The harmony of the world - A Realization for the Ear of Johannes Kepler's Astronomical Data from Harmonices Mundi 1619, Realized by Willie Ruff and John Rodgers (Plattenveröffent­ lichung der Yale University LP 1571, Adr. W. Ruff, School of Mu­ sic, Yale University, New Haven, Conn. 065 20) Earth's magnetic field - Realizations in computed sound by Charles Dodge, produced at the Columbia Computer Center (Nonesuch Records H-71250) (Computerisierte, elektronisch realisierte «Musik», Schwingungsgefüge zwischen den Solar-Winden und gnetischen Feld der Erde entsteht. Dodge: «Die Musik 97

electronic University die im dem ma­ auf dieser

Platte entsteht dadurch, daß die Sonne auf dem magnetischen Feld der Erde «spielt».») Dna music - a musical translation of DNA sequences by Dr. Da­ vid Deamer (Kassette von Science and the Arts, 144 Mayhew Way, Walnut Creek, Ca. 94 596, USA)

V. Der Klang ruft

... Sterne und Elementarteilchen • Fische und Pflanzen • Kristalle und Blattformen • den männlichen und weiblichen Körper und die Se­ xualität • Kathedralen und Kreuzgänge • den Aufbau der Erde und die Statue des Memnon im Niltal...

Nada Brahma. Die Welt ist Klang. Sie ist Klang in Pulsaren und Planetenbahnen. Und im spin der Photonen und Elektronen. In den Quanten der Atome und in der Struktur der Moleküle. In Ma­ kro- und Mikrokosmos. Aber sie ist auch Klang im Bereich dazwi­ schen - in der Welt, in der wir leben. Davon handelt dieses Kapitel. Auch hier wieder werden wir Klang zuallererst dort entdecken, wo man ihn noch eben zuallerletzt erwartet hätte. Unter den Tieren war der Fisch seit je ein Symbol ewiger Stummheit. «Stumm wie ein Fisch», sagt man. Heute wissen wir, daß das Meer - insbesondere die Tiefsee - voller Klänge ist. Da gibt es Pfeifen und Grunzen, Klappern und Schnarchen und Klin­ geln, Sägen und Knarren und elektronisch wirkende Geräusche, Schnappen und Schnalzen und Knattern, Trommeln von Baß­ trommeln und Tomtoms und Tamburins, Schreien und Pfeifen, Stöhnen und Ächzen, und die Fische, von denen diese Laute kom­ men, heißen Fleckentrommler, Papageienfische, atlantische und pazifische Welse, weiße Grunzer, Kofferfische, Thunfische, atlan­ tische Lippfische, Austernfische, Schwarzgrundeln, Schnappgarnelen, Bastardforellen, Knurrhähne, Umbernfische ... Viele von ihnen haben Antennen und andere elektrische Sendeanlagen. Sie überziehen die Meere mit einem Netz von Signalen zusätzlich noch zu denen, die sie mit ihren «Sound-Werkzeugen» hervor­ bringen. Die Erforschung der Klänge der Tiefsee befindet sich erst in ih­ ren Anfangsstadien. Die Vorfahren der Wale und Delphine, der Säugetiere des Meeres, die sogenannten Cetacea, lebten auf dem Lande. Das Meer - bis in Tiefen hinunter, in denen es kein Licht mehr gibt - konnten sie sich erst dadurch erschließen, daß sie die Fähigkeit, Klänge zu schaffen, entwickelten: Sounds auszusenden und zu empfangen und zu verstehen. Dabei arbeiten sie - und an­ 99

dere Fische - mit Echo-Effekten und können auf diese Weise Part­ ner, Ziele, Objekte und Gegner lokalisieren und die Tiefe des Mee­ res messen. Die Wissenschaftler wissen noch nicht genau, wie und wo bei vielen dieser Meerestiere die Sounds erzeugt werden; man nimmt an, daß es in der Hirn-Region geschieht und daß dort auch die Antwort-Signale empfangen werden. Wale zum Beispiel können auf Hunderte von Kilometern buch­ stäblich miteinander reden. Computeranalysen haben eine Infor­ mationsdichte zwischen einer und zehn Millionen Bits pro halbstündigem Walgesang ergeben, das ist etwa die Informations­ menge der »Odyssee»! Schon lange bevor die Menschen das Radio und die Schallüber­ mittlung durch elektrische Wellen erfunden hatten, «sendeten» die Fische - ohne Röhren und Transistoren! So ist auch die Erfin­ dung des Radios - wie viele große Erfindungen - nur eine nach­ trägliche technische Realisation dessen, was die Natur vorher «gewußt» und gekonnt hat. Und natürlich spielt es für unseren Zusammenhang keine Rolle, ob wir die Klänge der Fische unmit­ telbar hören können oder ob wir sie, um sie hörbar zu machen, erst aus dem UKW-Bereich transponieren müssen. Auch Rudolf Haase weist darauf hin, daß die Transponierbarkeit ein Grundprinzip harmonikalen Weltverständnisses ist. Wir haben gesehen: Es kommt auf die Proportionen an - gleichgültig in welchem Schwingungsbereich. Musik - wir sprechen ja hier von der Musik des Kosmos und der Natur - ist nicht denkbar ohne ständiges Transponieren. Die Beziehung würde nicht stimmen, wenn es Transponierbarkeit nur in unserer menschlich-irdischen Musik gäbe, aber nicht in der anderen Musik, die Kosmos, Mikrokosmos und Natur machen. (Die amerikanische Plattenfirma Folkways hat «Sounds of the Sea» auf zwei Schallplatten herausgebrachtaufgenommen sowohl unmittelbar unter der Meeresoberfläche, wie auch in Tiefen bis zu 600 Metern an der Küste von Florida und beim Point Lobos am Pazifik südlich von San Francisco.) Ähnlich wie für die Fische galt bis vor wenigen Jahren: auch die Pflanzen schweigen. Sie wachsen in Stille. Kein Leben ist ge­ räuschloser als das ihre. Inzwischen weiß man, daß es auch hier Klänge gibt. In Israel, England und den USA hat man den Klang einer Rose in dem Augenblick, in dem aus der Knospe die Blüte bricht, mit den Mitteln der modernen fotoakustischen Spektro­ skopie hörbar gemacht: ein orgelartiges Dröhnen, das an die Klänge einer Toccata von Bach oder an die der «Ascension», der 100

«Auferstehung» für Orgel, von Messiaen erinnert - an genau das also, was man in der abendländischen Orgelmusik als eine «aufbrechende» Folge von Akkorden empfände. Dr. David Cahen am Weizmann Institute of Science in Rehowot/ Israel und Dr. Gordon Kirkbright am Imperial College, London, haben die Möglichkeiten fotoakustischer Spektroskopie besonders sorgfältig erforscht und angewandt. Sie nennen das «Listening to Cells» - ein Hören auf die Zellen. Durch ihre For­ schungen weiß man, daß auch ein Halm - ein einfacher Getreide­ halm auf einem Acker - einen Klang hat. Man muß sich das vor­ stellen: Viele solcher Halme nebeneinander wachsend - jeder mit seinem eigenen Sound. Es ist eine Sinfonie von Klängen, die da wogt. Gewiß, keines Menschen Ohr kann sie hören, und doch gäbe es diese Sinfonie nicht, wenn nicht irgendein Sensorium vor­ handen wäre, das sie wahrnähme. Versuchen Sie, wenn Sie das nächste Mal vor einer Bergwiese stehen, dieses Sensorium in sich zu erwecken. Sehen Sie die Tausende von Halmen und Blumen und Gräsern, die da wachsen, und dann stellen Sie sich vor: Jede dieser Pflanzen hat ihren eigenen Klang. Und während sie wächst - und sie wächst in jeder Minute und in jeder Sekunde-, verändert sich dieser Klang. Es ist der Gesang des Lebens schlechthin. Ein ungeheurer Chor. Millionen, Milliarden von Klängen, die in einer alles menschliche Vorstellungsvermögen überschreitenden Har­ monie, in einer gewaltigen Polyphonie miteinander verschmelzen. Aber auch das haben neuere Forschungen ergeben: Pflanzen auf einer Wiese, auf einem Feld, im Wald verkümmern, wenn sich ihre Schwingungen - will sagen: ihre Klänge - disharmonisch zu den in ihrer Nachbarschaft wachsenden Pflanzen verhalten. Blu­ menfreunde wissen seit je: Bestimmte Pflanzen gedeihen nicht unmittelbar nebeneinander - sogar dann nicht, wenn sie grund­ sätzlich die gleichen Boden- und Klimaverhältnisse bevorzugen. Inzwischen wissen wir den Grund. Sie vertragen sich nicht, weil sich ihre Schwingungen nicht vertragen, ihre Sounds nicht zu­ sammenpassen, ihre Klänge disharmonisch zueinander stehen, harmonikal ausgedrückt: nicht niedrigen ganzen Zahlen entspre­ chen. Besonders aufsehenerregend sind diesbezügliche Forschungen in der Sowjetunion. Die Prawda, offizielles kommunistisches Par­ teiorgan, schrieb im Oktober 1970: «Pflanzen sprechen ... ja, sie schreien. Es sieht nur so aus, als ob sie sich geduldig in ihr Schick­ sal fügten und stillschweigend alle Pein erdulden. Der PrawdaReporter V. Tschwertkow berichtete ausführlich, wie er Zeuge 101

dieser außerordentlichen Vorgänge wurde, als er in Moskau das Laboratorium für künstliches Klima an der bekannten Timirjasew-Hochschule für Agrikultur besuchte. Er schrieb: Vor meinen Augen schrie ein Gerstensprößling buchstäblich auf, als man seine Wurzeln in kochendes Wasser tauchte.» Sowjetische Wissenschaftler haben einen Film unter dem Titel «Sind Pflanzen empfindungsfähig?» gedreht. Der amerikanische Arzt William McGarney, der diesen Film gesehen hat, berichtet: «Zeitrafferaufnahmen ließen das Wachsen der Pflanzen wie einen Tanz erscheinen. Blumen öffneten und schlossen sich, als seien sie Wesen, die in einer anderen Zeitdimension lebten.» In der westlichen Welt ist die Empfindungsfähigkeit der Pflan­ zen als «Backster-Effekt» bekannt geworden - nach dem amerika­ nischen Wissenschaftler Cleve Backster, einem international bekannten Experten für Lügendetektoren. Als Backster in den sechziger Jahren zur Abwechslung einmal nicht Menschen, son­ dern die in seinem Arbeitsraum wachsenden Zimmerpflanzen an seine Detektoren - sogenannte Polygraphen - anschloß und un­ tersuchte, wie Pflanzen reagieren, wenn man ihre Blätter oder Blü­ ten mit einer Kerze anbrennt, stellte er fest, daß die Meßapparate bereits in dem Augenblick aufs stärkste ausschlugen, als er nur den Gedanken hatte, eine Pflanze anzusengen. Pflanzen verstehen also Gedanken. In weiteren Versuchen konnte Backster erhärten, daß Topfpflanzen die Gedanken von Menschen, die sie «kennen» (weil die betreffenden Personen sich oft im gleichen Zimmer auf­ halten), noch auf Tausende von Kilometern Entfernung emp­ fangen und darauf reagieren können. Es ist danach nicht verwunderlich, daß Pflanzen auch Musik «hören» und verschiedene Arten von Musik durchaus voneinan­ der unterscheiden können. Der indische Botaniker Dr. T. C. Singh ließ der asiatischen Mimosenart Hydrilla virticillata täglich meh­ rere Stunden lang Ragas - also indische Musik - Vorspielen. Die amerikanischen Autoren Peter Tompkins und Christopher Bird berichten in ihrem Buch «Das geheime Leben der Pflanzen»: «Nach vierzehn Tagen entdeckte Singh, daß die Anzahl der Spalt­ öffnungen pro Flächeneinheit bei den Versuchspflanzen um Sechsundsechzig Prozent höher lag, die Epidermiswände dicker und die Palisadenzellen bis fünfzig Prozent länger und breiter waren als bei den Kontrollpflanzen, die keiner Musik ausgesetzt waren. Durch diese Erfolge zu weiteren Experimenten ermutigt, ließ Singh einen Lehrer der Annamalai-Musik-Schule, Gouri Kumari, 102

bestimmten Balsampflanzen einen Raga Vorspielen, der als ‹Kaiahara-priya› bekannt ist. Kumari, ein virtuoser Musiker, impro­ visierte jeden Tag fünfundzwanzig Minuten auf einem lauten­ ähnlichen Instrument, der Veena. Im Laufe der fünften Woche überholten die Versuchspflanzen allmählich ihre ‹Artgenossen›, denen keine Musik vorgespielt wurde. Nach einigen Monaten hatten jene durchschnittlich zweiundsiebzig Prozent mehr Blät­ ter entwickelt, die zwanzig Prozent höher gewachsen waren als die Kontrollpflanzen.» Daß die Kraft von Klängen gegebenenfalls auch vernichtende Wirkung haben kann, stellte die amerikanische Biologin Dorothy Retallack fest. Sie spielte einer Anzahl von Philodendren, Mais, Radieschen und Geranien jeden Tag acht Stunden unablässig den Ton F vor - und einer genau gleichen Gruppe von Pflanzen diesen gleichen Ton F jeweils drei Stunden lang, aber von längeren Unter­ brechungen gefolgt. In dem ersten Gewächshaus waren sämtliche Pflanzen nach zwei Wochen tot. Im zweiten - so berichten Tomp­ kins und Bird - waren sie gesünder als die Kontrollpflanzen, die überhaupt keinen Tönen ausgesetzt worden waren. An demselben biologischen Institut im amerikanischen Bun­ desstaat Colorado, an dem Mrs. Retallack arbeitet, ließen junge Biologen in zwei verschiedene Gewächshäuser, in denen Kürbisse gezogen wurden, die Musik zweier Radiosender aus Denver, Colo­ rado, übertragen, der eine war eine sogenannte «Rock Station», der andere war auf klassische Musik spezialisiert. Bird und Tomp­ kins berichten: «Die Kürbisse zeigten sich keineswegs gleichgül­ tig: Die Pflanzen, die Musik von Haydn, Beethoven, Brahms, Schubert und anderen Komponisten aus dem Europa des 18. und 19. Jahrhunderts ausgesetzt waren, wuchsen dem Transistorradio entgegen, ja, eine Pflanze schlang sich sogar liebevoll um den Ap­ parat. Die ‹Rock-Kürbispflanzen› dagegen mieden den Lautspre­ cher in auffälliger Weise. Sie bogen sich von ihm fort und wollten lieber an den glatten, keinerlei Halt bietenden Wänden ihres Glas­ käfigs emporranken, wenn diese Wände nur weit genug von der Musik entfernt waren, als den Halt bietenden Lautsprecher und seine Kabel und Befestigungen zu benutzen.» Noch überzeugender geriet ein Experiment, das Mrs. Retallack selbst ausführte. Sie pflanzte drei Gruppen von Gewächsen an die gleiche Art, auf den gleichen Böden, unter den gleichen Tem­ peraturen, mit der gleichen Bewässerung. Der ersten spielte sie Musik von Bach vor, der zweiten Sitar-Musik, gespielt von Ravi Shankar, dem großen Meister der klassischen indischen Musik, 103

der dritten überhaupt keine Musik. Bird und Tompkins: «Die Pflanzen zeigten deutlich, daß sie Bach mochten, indem sie sich um bisher noch nie dagewesene fünfunddreißig Grad den Prälu­ dien entgegenneigten. Aber selbst diese starke Zu-Neigung wurde noch bei weitem von der Reaktion auf Ravi Shankar übertroffen: Die Pflanzen legten sich in ihrem Bestreben, die Quelle der indi­ schen Musik zu erreichen, fast in die Horizontale - mit extremen Winkeln von bis zu sechzig Grad -, und wieder umarmte die dem Lautsprecher am nächsten wachsende Pflanze beinahe den Appa­ rat. Mrs. Retallack experimentierte auch mit verschiedenen ande­ ren Musikarten. Bei Folk- und Country-Musik verhielten sich die Pflanzen wie in der Kontrollkammer ohne Musik ... Bei Jazz von Duke Ellington und Lotus Armstrong neigten sich mehr als die Hälfte der Pflanzen fünfzehn bis zwanzig Grad dem Lautsprecher zu, und ihr Wachstum war üppiger als das der Kontrollpflanzen.» Die harmonikale Forschung weiß: Jede organische Form - eines Fisches, einer Blume, eines Blattes, einer Frucht, eines Käfers, überhaupt jedes Lebewesens -, ja auch die «schönsten» Formen der anorganischen Welt, etwa die der Kristalle, sind Klang, das heißt in ihrem Aufbau kommen vorzugsweise solche Zahlen vor, aus denen Konsonanzen gebildet werden können. «Oder anders formuliert: die harmonikale Forschung weist nach, daß in der Na­ tur solche Quantitäten eine große Rolle spielen, die im Menschen in Qualitäten umgewandelt werden können . . . » (R. Haase). Hans Kayser hat die «Entsprechungen von Blattspektren und Tonspek­ tren» bis in Einzelheiten hinein aufgezeigt: «Zeichnet man sämt­ liche Töne innerhalb einer Oktave - das ist übrigens dieselbe Oktavoperation, die Johannes Kepler in seiner berühmten De Harmonice Mundi anwandte - mit ihren Winkeln graphisch auf, so erhält man die Form eines Urblattes. Was ja nichts anderes heißt, als daß das Rahmenintervall der Oktave, also die Möglichkeit des Musizierens und Musikempfindens schlechthin, die Form des Blattes in sich birgt. Man bedenke, was es heißt, wenn eine Pflanze innerhalb einer Blüte eine exakte Drei- und gleichzeitig eine Fünfteilung durchführt. Wenn man nicht einen logisch rech­ nenden Verstand annehmen will, so wird man sich wohl damit abfinden müssen, daß in der Pflanzenseele bestimmte gestalt­ trächtige Prototypen - und zwar hier eine Terz- und dort eine Quintform - am Werke sind, die - wie in der Musik - als Intervalle die Blütenform gestalten.» 104

In seiner «Harmonia Plantarum» gibt Kayser eine Tabelle wie­ der, aus der hervorgeht, daß praktisch alle Pflanzen, die er und andere Wissenschaftler untersuchen konnten, harmonikale Gestalten und Proportionen besitzen - in Kelch, Blattkrone, Staubgefäßen, Fruchtknoten, Frucht, Stengel und Blattstellung. Die Tabelle enthält so verschiedene Pflanzen wie Roßkastanie, Milchstern, Esche, Kürbis, Rose, Pfaffenhütchen, Taubnessel, Bal­ drian, Wegerich, Waldmeister, Berberitze, Wiesensalbei, Brom­ beere, Linde und Mauerpfeffer. Vieles, was wir als «schön» empfinden - in der Natur, in der Kunst, am menschlichen Körper -, gehorcht den Gesetzen des Goldenen Schnittes. Im Lexikon findet sich folgende Definition: «Goldener Schnitt: Teilung einer Strecke so, daß die ganze Strecke a zum größeren Teil b sich wie der größere Teil b zum kleineren ( a - b ) verhält. Also a: b = b: (a - b ) . » Das klingt ziemlich trocken, gewinnt aber sofort Leben, wenn man sich vorstellt, daß der Goldene Schnitt ein Sext-Phänomen ( 3 : 5 u n d 5 : 8 ) ist, - ein in der Musik wie im Kosmos besonders wichtiges Intervall. Verfolgen wir einmal die Gesetze des Golde­ nen Schnittes in bezug auf den menschlichen Körper. Als erster hat der im 16. Jahrhundert lebende niederländische Arzt Agrippa von Nettesheim die Proportionen unseres Körpers in ein Netz aus Kreisen und Dreiecken eingezeichnet. Der Organist und Musiktheoretiker Andreas Werckmeister schreibt in seinem 17 0 2 erschienenen Werk «Harmonologia Musica»: «Ist nun die große Welt als (makrokosmos) beschaffen, so muß der Mensch als [mikrokosmos] auch eine Verwandtschaft mit derselben haben: Daher Pythagoras und Platon gesagt haben: Die Seele der Men­ schen sei eine Harmonie; dieses wird nicht allein von vielen Philosophiis bekräftigt und erwiesen, sondern man hat es auch erfahren, daß an eines wohlproportionierten Menschen Leibe und Gliedern die proportiones musicä - musikalische Proportionen zu finden seien.» Thomas Michael Schmidt beschreibt den wohlproportionierten Körper folgendermaßen: «Der Bauchnabel teilt die Körperlänge im Verhältnis des Golde­ nen Schnittes ... Die Brustwarzen teilen die Gesamtbreite eines Menschen mit ausgestreckten Armen im Verhältnis des Golde­ nen Schnittes. Der Beinansatz teilt die Höhe der Brustwarzen im Verhältnis des Goldenen Schnittes ... Das Knie teilt das ganze Bein im Verhältnis des Goldenen Schnittes ... Die Augenbrauen 105

teilen den Kopf im Verhältnis des Goldenen Schnittes ... Das Armgelenk teilt den ganzen Arm einschließlich Hand im Verhält­ nis des Goldenen Schnittes ... Den menschlichen Körperbau, insofern er vom Goldenen Schnitt, also von musikalischen Verhältnissen gegliedert wird, kann man deshalb als ein klingendes Kunstwerk bezeichnen, sind es doch ... gerade die vollkommensten mathematischen Verhält­ nisse, die ihn gestalten. Mit vollem Recht kann man deshalb sa­ gen, daß der Mensch zumindest seinem Körperbau nach auf die Vollkommenheit hin angelegt sei.» Versteht sich, daß sich bei Tierkörpern - überhaupt in der gan­ zen organischen Welt-ähnliche Proportionen nachweisen lassen, - und doch gibt es sie nirgendwo in solcher Dichte und Fülle wie am menschlichen Körper. Th. M. Schmidt fährt fort: «Es kann nach dem vorher Gesagten - kaum noch überraschen, daß die ge­ nannten Verhältnisse des menschlichen Körpers Entsprechungen in den mathematischen Beziehungen der Planetenumläufe haben ... Für jede Proportion des menschlichen Körpers, die einem musi­ kalischen Intervall entspricht, läßt sich ein entsprechendes Ver­ hältnis zwischen zwei oder drei Planetenumläufen angeben. Die beiden scheinbar so weit auseinanderliegenden Welten der Töne und Planetenbewegungen finden also im menschlichen Körper einen unmittelbar sichtbaren Ausdruck. Verbindungsglieder zwi­ schen Mensch und Kosmos sind dabei die musikalischen Verhält­ nisse, die daher im wahrsten Sinne des Wortes ein universales Ordnungsprinzip darstellen.» Weil der gesunde menschliche Körper nach harmonikalen Ge­ setzen gebildet ist, kam man schon früh auf den Gedanken, menschliches Leiden und Krankheiten durch Musik zu heilen. Agrippa von Nettesheim schrieb zu Beginn des 16. Jahrhunderts: «Wer krank ist, stimmt nicht mehr mit dem Universum überein. Er kann aber die Harmonie wiederfinden und gesund werden, wenn er seine Bewegungen nach denen der Gestirne richtet.» Und Johannes Kepler: «Es pflegen etliche Ärzte ihre Patienten durch eine liebliche Musik zu kurieren. Wie kann die Musik in eines anderen Menschen Leib wirken? Also daß die Seele des Men­ schen wie auch etlicher Tiere die Harmonie versteht, sich darüber erfreuet, erquicket und in ihrem Leib desto kräftiger wird. So dann nun auch die himmlische Wirkung in. den Erdboden durch eine Harmonie und stille Musik kommt . . . » - eine Erkenntnis, die durch die moderne Musiktherapie voll bestätigt wird. Novalis, der Dichter und Mystiker der Romantik, der ein beson­ 106

ders hoch entwickeltes Sensorium für all diese Zusammenhänge besaß, schrieb lapidar: «Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem.» Hans Kayser hat auch die Sexualität - als treibende Kraft organi­ schen Lebens - als musikalisches Phänomen gedeutet. Nicht um­ sonst sprechen wir ja auch in der Musik von Ton-Geschlechtern einerseits Dur, andererseits moll. Das erstere wird mehr mit «Männlichem», das letztere eher mit «Weiblichem» assoziiert. Wenn es auch die Trennung von Dur und moll in erster Linie in der europäischen Musik gibt, so muß es doch gestattet sein, sich dar­ auf ebenso zu beziehen, wie wir uns an anderer Stelle auf Phäno­ mene indischer oder afrikanischer Musik beziehen; latent gibt es im übrigen Dur- und moll-«feelings» in den meisten Musikkultu­ ren - wie überhaupt die Proportionen, auf die es unter den harmonikalen Gesichtspunkten dieses Buches ankommt, allen Völkern gemeinsam sind; letztlich begründet sind sie in der Disposition des menschlichen Gehörs. So hat es beispielsweise schon im alten China - R. Haase erinnert daran - die Chromatik, also die Zwölfzahl der Intervalle, und den Quintenzirkel gegeben. Und auch in der indischen Musik gibt es Diatonik und die spürbare Dominanz von Dur. Hans Kayser schreibt: «In jedem Akkord ist die Terz der Ge­ schlechtston - je nachdem er als große Terz den Dur-Akkord oder als kleine Terz den moll-Akkord verkörpert. Die Terz aber wird durch die fünfte Schwingung - beziehungsweise Saitenlänge einer angenommenen Einheit - verwirklicht. Diese -Fünf» ist nun aber im Pflanzenreich nicht nur insofern von Bedeutung, als eine große Anzahl von Blüten eine fünfblättrige Rationierung zeigt, sondern als morphologisches Moment auch insofern, als die Fünf im Pflan­ zenreich gegenüber den Mineralien als morphologische Konstanz überhaupt erst auf taucht...» Und an anderer Stelle: «In der inneren Struktur der Kristall­ achsen fehlt die Fünf als Rationenbild. Die Fünf tritt also im Pflan­ zenreich erstmalig als Formkonstanz auf. Sie ist harmonikal der Geschlechtston, und wir haben in dieser Betonung der Terz und deren Spaltung in Dur- und moll-Terz zumindest einen der bisher unbekannten prototypischen Gründe zu erblicken, warum die Se­ xualität im Bereich der Pflanzen zum erstenmal in Erscheinung tritt...» An dem von Rudolf Haase geleiteten «Institut für harmonikale Forschung» in Wien wurde beim Vergleich von männlichen und weiblichen Schädel- und Gesichtsformen festgestellt, daß bei 107

Frauen moll-Proportionen - kleine Terzen und kleine Sexten vorherrschen, beim männlichen Geschlecht dagegen die entspre­ chenden Dur-Intervalle. Noch bemerkenswerter ist, daß der weibliche Körper in beson­ ders auffälliger Weise - und häufiger als der männliche - von mollProportionen beherrscht wird. Was man die «Urproportion der Weiblichkeit» genannt hat - das Dreieck, das zwischen den Brü­ sten und dem Punkt, an dem die Schenkel einander begegnen, ent­ steht -, entspricht in statistisch weitaus größerer Häufigkeit als beim männlichen Körper einem Terz-Sext-Akkord in moll. Dich­ ter und Liebende mögen es oft schon empfunden haben - als poeti­ sche Metapher -, aber es ist mathematische Realität: Dieses Dreieck - diese Ur-Proportion - ist Musik. Horchen wir auch hier wieder der Sprache nach. Der Geigenspie­ ler spricht vom «Körper» seiner Violine. Seit Jahrhunderten gibt es - vielen Gitarristen bewußt, von vielen Dichtem besungen - die auffällige Ähnlichkeit zwischen dem « Gitarrenkörper» - nicht zufällig wird er ja so genannt - und dem weiblichen Körper. Man spricht von «Klang-er-zeugern». Der Klang-er-zeuger zeugt auf dem Klangkörper, diesen er-regend, den Klang. So etwas kann ein Gitarrist sagen - oder ein Geiger -, um seinem Schüler den Vor­ gang der Klangentstehung zu erklären. Aber mit fast den gleichen Worten kann man auch den Liebesakt beschreiben. Hier wie dort bedarf es des Körpers und dessen Er-regung, damit Zeugung statt­ findet. In vielen Kulturen der Erde werden gitarrenähnliche Instru­ mente als weiblich, Flöten - vor allem Längsflöten - als männlich empfunden. Gott Krishna bläst die Flöte - das musikalische Pe­ nis-Symbol par excellence-, während er sich mit seiner Geliebten Radha vereinigt. Der Gott Pan der alten Griechen - auch er ein UrImage von Männlichkeit - ist Flötenspieler und Liebender zu­ gleich. Bei den Azteken und Inkas gab es den Flötenspieler als Symbol des Liebenden und Zeugenden, und damit es auch jeder verstand, gab es Miniaturplastiken, die den Liebenden - ähnlich wie Gott Krishna in Indien - während des Liebesaktes flötespie­ lend darstellen. Andererseits: Im Hinduismus und Buddhismus - zum Beispiel in den Tempeln von Angkor Vat in Kambodscha - gibt es die gitar­ respielenden Apsaras: die «Mädchen der Himmlischen» als Sinn­ bild höchster erotisierter Weiblichkeit. Immer wieder, wenn man im Urwald von Angkor die von fromagiers, von Käsebäumen, überwucherten und umwachsenen, von Schlingpflanzen buch­ 108

stäblich umarmten Apsara-Statuen und -Reliefs aufspürt, ge­ winnt man den Eindruck: Das sind ja zwei Körper - sich an­ einander haltend, einander addierend, sich überbietend: der Mädchenkörper der Apsaias und der - ebenfalls weibliche - der gitarrenartigen Instrumente, die die Mädchen vor sich her tragen und auf denen sie spielen; beide zusammen sind - durchaus auch im Sinne der tantrischen Liebeskunst - gesteigerte Metaphern je­ ner berückenden «Sexualität der Seligen», die diese «Engel» der indischen Mythologie den Bewohnern himmlischer Welten ver­ sprechen. Und natürlich gibt es auch in unserer christlichen Kultur - ver­ steht sich: viel stärker gefiltert - Kunstwerke, auf denen Liebe und Musik eines sind. Zum Beispiel bei den sinnenhaften, von Liebe erfüllten musizierenden Engeln von Luca della Robbia in Santa Maria del Fiore in Florenz. Und vor allem: Nirgendwo in der europäischen Kunst ist Musik so großartig Bild geworden wie auf den Meisterwerken der Venezianischen Schule des 14. und frühen 15. Jahrhunderts - bei Paolo und Lorenzo Veneziano, bei Carpac­ cio, Stefano di San Agnese, Nicolo di Pietro, Giovanni Bellini und - besonders bewegend - bei Jacobello del Fiore, auf dessen «Krö­ nung der Jungfrau im Paradies» die Seligen ganze Orchester und vielfältige Chöre bilden und dies eben das Paradiesische ist: Mu­ sikmachen. Was auch immer geschieht auf den Bildern des alten Venezia - selbst Jesu Präsentation im Tempel, das Martyrium des Heiligen Sebastian sogar -, es geht nicht ohne Gitarren und Lau­ ten, ohne Flöten und trombas, ohne Zimbeln und Violinen und Harfen, ohne große und kleine Orgeln und Mundorgeln. Es paßt dazu, daß damals - oder richtiger: wenig später - die Stereophonie-sogar die Quadro- und «Multiphonie»! - eigentlich entdeckt wurde. In der venezianischen Vielchörigkeit (die um 1530 begann) klangen die Teile und Abschnitte der Musik - klang das, was ein Solist sang und was ein anderer ihm antwortete, klan­ gen Chöre und Gegen-Chöre und die ihnen gegenüberstehenden Instrumentalparts - von den verschiedenen Emporen, Rängen und Balustraden etwa San Marcos, aber auch der anderen Kirchen Venedigs, auf die Zuhörer in einer Art von «Super Stereo» herab. Aber noch bevor die Musik in den Kirchen erklang, ist deren Architektur selber Klang. Immer häufiger werden präzise mathe­ matische Entsprechungen entdeckt - etwa zwischen der Ba­ rockkirche von Vierzehnheiligen und gewissen Stücken in Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier. Oder - durch Marius Schneider - zwischen den 72, Doppelsäulen im Kreuzgang von San 109

Cugat in Katalonien und dem gregorianischen Cucuphatus-Hymnus, der den Märtyrer feiert, dem eben dieses Kloster geweiht ist. Oder in den Kapitellen der romanischen Kreuzgänge von Ripoll, Gerona und Cluny, die «gelesen» werden können, als seien es Rhythmen: «als eine verborgene, verschlüsselte Notenschrift». Sensibleren Architekten (die freilich selten sind, da ja, von Aus­ nahmen abgesehen, die eigentliche Verwüstung unserer Städte nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges noch ein zweites Mal stattfand - bleibender und unkorrigierbarer: durch die Archi­ tekten) ist seit je bekannt: Länge, Breite, Höhe eines Raumes müs­ sen in den ganzzahligen Verhältnissen der Obertonleiter zueinan­ der stehen, wenn Menschen sich in ihm wohlfühlen sollen. Es ist auffällig, daß diese Beziehungen gerade in unserer Zeit - neu entdeckt werden. Auch das ist ein Ausdruck des in dieser Genera­ tion erwachenden harmonikalen Bewußtseins. Wenn erst einmal die architektonischen Meisterwerke der Menschheit systematisch auf ihren «musikalischen» Grundcha­ rakter untersucht sein werden, dann werden all diese Bauten auch für unseren Verstand so zu klingen beginnen, wie sie für unser Unterbewußtsein schon seit Jahrhunderten klingen, und wir wer­ den begreifen: Sie hätten als Gipfelpunkte architektonischer Kunst überhaupt nicht empfunden werden können, wenn sie nicht von allem Anfang an «Klang» wären - ein Klang, der den musikalischen Meisterwerken der jeweiligen Epoche präzise ent­ spricht: die romanischen Kapitelle und die Gregorianischen Ge­ sänge, die Barockkirchen und die Fugen und Präludien der Ba­ rockkomponisten oder auch das Tadj Mahal und die große Musik Indiens in der Mogul-Zeit. Wenn schon Planetenbahnen, Blatt- und Körperformen, Kirchen und Kreuzgänge harmonikalen Gesetzen gehorchen, dann muß dies auch für die Erde selbst gelten. Auch sie ist ein harmonikales Gebilde. Dazu Hans Kayser: «Eines der eigenartigsten Phäno­ mene innerhalb der Geologie ist der schalenförmige Aufbau des Erdinneren. Der Erdkörper besteht ja nicht, wie man früher ange­ nommen hat, aus einer dünnen, festen und einer restlichen flüssigen Masse, sondern ist nach seiner Dichtigkeit ... in ver­ schiedene, ziemlich scharf voneinander getrennte Stufen geglie­ dert. Man kam auf diese Entdeckung durch die Beobachtung der Erdbebenwellen und fand verschiedene Zonen im Erdinnern, wo sich die Wellen in verschiedener Weise brechen. Vergleicht man nun die Abstandsverhältnisse in diesen Zonen mit den Saitenlän­ 110

genmaßen des primären Dur-Akkordes der Obertonreihe... so er­ hält man eine Dreiklangstruktur des Erdinneren, wobei die Maße der verschiedenen Erdschalen eine merkwürdige Übereinstim­ mung mit denen der Akkordzahlen zeigen und die feste Erdkruste in die siebente Oktave fällt, also morphologisch als «Verdichtung’ verständlich wird ... Die Erde: Ein gewaltiger Akkord! Eine Vor­ stellung, die unserem Verstand vielleicht nur wenig sagt, dafür aber um so mehr zu unserem Herzen spricht!» Besonders sorgfältig hat Hans Kayser die harmonikale Struktur von Bergkristallen erforscht, die er in der Schweiz, wo er lebte, in reichem Maße vorfand. «Man kann», so schreibt er, «die verschie­ denen Zonen eines Kristalls in Zahlen ausdrücken und diese wiederum, da sie ja harmonikalen Ursprungs sind, in Töne über­ setzen. Das beifolgende Notenbeispiel (s. S. 112) zeigt das Tonma­ terial einiger Zonen bestimmter Kristalle ... Alle diese Beispiele hier sind auf C transponiert. In Wirklichkeit hat auch jeder Kri­ stall eine eigene Tonart, nur müßte man sich dann vorher über den kristallographischen ‹Kammerton› einigen, das heißt, ein Achsen­ verhältnis als den Ton ‹a› normieren, auf welches dann die ande­ ren Verhältnisse bezogen werden. Aber jeder, der sich diese Bei­ spiele vorspielt, wird hören, wie individuell, ja, wie die Flächenskalierung bei einzelnen Kristallen ist. Oft sind es gera­ dezu grandiose Tonfolgen, welche da zum Vorschein kommen, und wer weiß, welche Überraschungen uns noch bevorstehen, wenn sich einmal jemand die Mühe nimmt und all diese Kristall­ themen und Kristallakkorde herausnotiert. Es gäbe das sicher eine Sammlung von den einfachsten, monumentalsten bis zu den dif­ ferenziertesten und interessantesten musikalischen Gebilden, eine unerschöpfliche thematische Fundgrube für Kontrapunkt und Polyphonie.» Harmonikale Entsprechungen sind Entsprechungen in doppelter Hinsicht: quantitative, da sie errechnet, und qualitative, da sie gehört und empfunden werden können. Bereits insofern, als wir «Qualitatives» und «Quantitatives» unterscheiden, muß es «Ab­ weichungen» geben. Sie «kriechen» gleichsam hinein in die Lücke zwischen der Qualität und der Menge. Es gibt eine Fülle von ihnen - minimale «Abweichungen» zwischen dem errechneten, wünschbaren Ergebnis und dem de facto gemessenen Befund. Um den Leser nicht mit mathematischen Berechnungen zu be­ lasten, muß in diesem Buch auf die Darstellung solcher «Abwei111

chungen» verzichtet werden. Vor allem freilich geschieht dies deshalb, weil das Ohr die Abweichungen «zurecht hört». Unsere temperierte Stimmung, die ja ohne eine gewollte Ver-stimmung der einzelnen Töne gar nicht funktionieren würde, könnte sonst nicht als «stimmend» akzeptiert werden. Rudolf Haase weist darauf hin, daß dieses Phänomen schon seit der Barockzeit bekannt ist und als «Zurechthören» bezeichnet wird. Die «Zurechthörbereiche» sind groß. Sie können bis zu 40 % der betreffenden Halbtonbereiche betragen. Nun aber ist offen­ sichtlich: Wenn es in der Musik «Zurechthörbereiche» gibt, muß es sie - davon handelt ja dieses Buch - auch in der Natur geben. Es wäre schlechterdings absurd, von der Natur eine Genau­ igkeit zu verlangen, die von der Musik, die ja ebenfalls «Natur» ist, nicht verlangt wird (und die, da es sich hier wie dort auch um seelische Qualitäten handelt, gar nicht wünschenswert ist). Wir müssen uns in aller Deutlichkeit vergegenwärtigen: Die Tatsache der «Abweichungen» ist geradezu eine Bestätigung für den harmonikalen Charakter des Universums. Wenn Musik nicht denkbar ist ohne «Abweichungen», dann kann logischerweise auch die «Musik» des Universums - des Makro- und Mikrokos­ mos und unserer irdischen Welt - nicht denkbar sein ohne die entsprechenden «Abweichungen». Wenn das Universum Musik «ist» - wenn die Welt Klang ist, wenn Nada Brahma gilt -, dann muß es in Planetenbahnen und in Atom-Strukturen, in Blatt- und Körperformen und all dem anderen, wovon wir gesprochen haben, genau jene «Zurechthörbereiche» geben, die es auch in der Musik gibt. Und in der Tat gibt es sie in einer der Musik entsprechenden Fülle. Zum Beispiel haben sich seit Kepler Aphel und Perihel der meisten Planetenbahnen verändert, aber doch eben nur um jene äußerst geringfügigen Differenzen, die «zurechtgehört» werden können. Gerade an diesem Beispiel wird deutlich: Hätten sie sich nicht verändert, könnte von lebendiger «Musik» nicht gespro­ chen werden. In die gleiche Richtung weist die Tatsache, daß immer wieder - zum Beispiel in der Molekül- und Atom-Struktur­ vereinzelte Töne Vorkommen, die nicht in den betreffenden DurDreiklang oder in die betreffende Tonleiter hineinpassen. Auch unsere irdische, hörbare Musik wäre langweilig, wenn es keine «leiterfremden» Töne in ihr gäbe und immer nur reine Drei klänge hinauf- und hinunterkadenziert würden. Auch insofern bestätigen also die «Abweichungen» den harmonikalen - den musikalischen - Charakter des Universums. Sie bestätigen Nada Brahma. Sogar zwischen dem Goldenen Schnitt und der exakten harmo113

nikalen Beziehung gibt es eine «Abweichung», auf die schon Eu­ klid hingewiesen hat - um die minimale Differenz von 0,007, auch sie also in den Bereich der «Zurechthörbarkeit» fallend. Die «Abweichungen» häufen sich, je mehr sich die Musik der Natur menschlicher Musik nähert, am meisten im Gesang der Vö­ gel. Nicht zuletzt deshalb kann er vom Menschen auch ganz un­ mittelbar als Musik empfunden werden. Fachleute haben gezeigt, daß die «Gesetze» der Vogelmusik denen der menschlichen Mu­ sik entsprechen. Es gibt aber Vögel, die - wie der Mensch - «mo­ derne Konzertmusik» machen, in deren Musik sich also die «Ab­ weichungen» häufen, zum Beispiel im Gesang der Amsel, des «Komponisten schlechthin unter den Vögeln». Sie singt «hoch­ komplizierte Melodien, die nahezu atonal sind, wobei von großer Wichtigkeit ist, daß es Aufzeichnungen von Amselgesängen aus dem 19. Jahrhundert gibt, die bereits eine Kompliziertheit aufwei­ sen, wie sie viel später erst, etwa in der von Richard Strauss, in der menschlichen Musik zu verzeichnen ist» (R. Haase). Seit wir Quarz- und Atomuhren haben, wissen wir, daß nicht einmal die genauesten kosmischen Prozesse, nach denen noch vor 30 Jahren das Zeit- und Uhrensystem der Menschheit korrigiert wurde, ohne «Abweichungen» ablaufen. Wenn Jean E. Charon und verschiedene amerikanische Physiker in den «Abweichun­ gen» von vorberechneten Prozessen den Einfluß des Geistigen und Psychischen sehen, so steht dies mit unserer Auffassung - daß sich in ihnen der Einfluß des Geistes der Musik spiegele keineswegs in Widerspruch. Haase erinnert in diesem Zusammenhang an Theodor Lipps' «ästhetischen Grundsatz, daß in der bildenden Kunst und in der Musik minimale Abweichungen von den exakten Proportionen notwendig sind, damit diese besonders schön und reizvoll wir­ ken». Aber der Grundsatz ist zu erweitern. Er bezieht sich nicht nur auf Kunst und Musik, sondern auf den gesamten Kosmos. Er ist ganz offensichtlich ein künstlerisches Gesetz, und es wird an dieser Stelle besonders eindringlich deutlich, daß auch die Natur - oder der Schöpfer - künstlerischen Gesetzen folgt, und zwar wie wir sehen werden - in um so stärkerem Maße, je mehr sich die Entwicklung von Kosmos und Leben bestimmten «Zielen» nähert. Im Grunde verhält sich unser Ohr und das ganze Universum, wie sich die Menschen tagtäglich zu Maß und Zeit verhalten. Wir werden gefragt, wie spät es ist, schauen auf die Uhr, sehen, daß es 114

11.56 Uhr ist, und antworten: zwölf. Oder es mag 10.23 Uhr sein, und wir antworten: halb elf. Oder ein Wegweiser bezeichnet eine Distanz als «4 Kilometer», es sind aber 3700 Meter. Auch wir Menschen neigen also dazu, ganzzahlige Verhältnisse herzustel­ len. Wie die Natur dies tut - vom Makro- zum Mikrokosmos mit uns mittendrin! Wir brauchen jetzt nur noch einen Schritt weiter zu gehen, um zu der tröstlichen Erkenntnis zu kommen, daß im Grunde das ganze Universum jenes Verhältnis zu Genauigkeit und Pünktlich­ keit besitzt, das auch wir Menschen haben - nämlich ein getrüb­ tes. Die Idee absoluter Genauigkeit ist eine jener sich selbst ad absurdum führenden Ideen des rationalisierten westlichen Men­ schen, - will sagen sie ist Verfalls- und Dekadenzindiz. Wer im Einklang mit der Natur lebt, lebt auch in Einklang mit dem, was wir ihre «Abweichungen» genannt haben, - mit ihrer Ungenauig­ keit und Unpünktlichkeit. Der amerikanische Psychologe George Leonard schreibt: «An der Wurzel jeglicher Kraft und Bewegung im lodernden Zentrum der Existenz ist Musik und Rhythmus: das Spiel geordneter Frequen­ zen in der Matrix der Zeit. Vor mehr als 2500 Jahren sagte der Philosoph Pythagoras seinen Schülern: Ein Fels sei zu Stein ge­ wordene Musik - eine intuitive Erkenntnis, die durch die mo­ derne Wissenschaft voll bestätigt wird. Wir wissen heute, daß jede Partikel im physischen Universum ihre Eigenschaft durch Fre­ quenz, Muster und Obertöne ihrer speziellen Schwingungen, also durch ihren «Gesang» erhält. Dasselbe gilt für alle Formen von Strahlung, alle starken und schwachen Naturkräfte und für alle Informationen. Bevor wir Musik machen, macht die Musik uns... Die Art und Weise, wie Musik entsteht, ist auch die Art und Weise der Entstehung der Welt... Die Tiefenstruktur der Musik ist iden­ tisch mit der Tiefenstruktur aller Dinge.» Und Kandinsky, der große Maler des Expressionismus, der im «Almanach des Blauen Reiter» einen «Generalbaß» und eine «Harmonielehre der Malerei» entworfen hat, bemerkt: «Die Welt klingt. Sie ist ein Kosmos der geistig wirkenden Wesen.» Wir sagen in diesem Buch: Die Welt ist Klang. Wir sagen nicht einfach: Die Welt ist Schwingung. Physikalisch gesehen nämlich gibt es Milliarden von Schwingungsmöglichkeiten. Aber der Kos­ mos, das Universum wählt aus diesen Milliarden von Möglichkei­ ten mit überwältigender Präferenz die wenigen tausend aus, die 115

harmonikalen - was letztlich immer auch heißt: musikalischen Sinn ergeben: Proportionen der Obertonreihe, der Dur-, seltener schon der moll-Tonleiter, des Lambdomas (s. S. 79) und bestimm­ ter Kirchentonleitern und indischer Ragas. Und das gilt für nahezu alle Proportionen im Kosmos - Planeten­ bahnen, DNS-Gene, Blatt- und Kristallformen, die Verhältnisse im Periodischen System der Elemente, Körperformen, die Quan­ telung im Atomkern, die spins der Elektronen und all die anderen Proportionen, von denen in diesem Buch die Rede ist. Es ist ein Verhältnis von 1:1 Million, mit dem sich das Univer­ sum in der unendlichen Vielzahl von Schwingungsmöglichkeiten für harmonikale Schwingungen - und das heißt: für Klänge - ent­ scheidet, ein Verhältnis, das selbst bei der großzügigen - und ganz gewiß nicht «wissenschaftlichen» - Auslegung des Begriffes «Zu­ fall», den sich die positivistische Wissenschaft zugelegt hat, als «Zufall» gewiß nicht rubriziert werden kann. Damit das Wort «Klänge» in diesem Zusammenhang vollends klar wird, muß realisiert werden: «Klang» existiert für das wissen­ schaftliche Denken durchaus auch als Abstraktum. So empfinden ihn auch die Musiker: Bevor sie ihn spielen, lesen sie ihn in der Partitur. Schon dort ist er Klang. Oder sie hören ihn klingen in ihrem Inneren. Erst dann «speisen» sie ihn ein in ihr Instrument. In genau diesem Sinn «speist» das Universum ständig Klänge in jedes einzelne seiner «Instrumente» - vom Atom und vom Gen bis zum Planeten und zum Pulsar. Vielleicht erinnert man sich noch an die Chladnischen Klangfigu­ ren, mit denen uns die Physiklehrer in der Schule verblüfften: wie sich da wahllos auf eine Glasplatte gestreute Sandkörner und Staubpartikelchen durch einen Strich mit dem Geigenbogen schnell und zügig zu den schönsten und symmetrischsten Gebil­ den ordneten. Es schien immer, als «riefe» der Klang die Staubkör­ ner zu Ordnung und Symmetrie. Als Kinder konnten wir wenig mit diesem Phänomen anfangen. Inzwischen aber verstehen wir: Was dort geschieht, geschieht überall. Überall ist es der Ton, der die Welt ordnet und der ihr Schönheit gibt. Vor seiner Kraft und Mächtigkeit sind auch die «Partikel» des Kosmos, sind auch Planeten und Sterne nur Staubpartikelchen, die der Klang «ruft». Wozu ruft er sie? Wir haben erkannt: zu Ordnung und Struktur und Schönheit. Er ruft Sterne und Elementarteilchen, Kristalle und Blattformen, Pflanzen und Menschen- und Tierkörper (und deren Sexualität), architektonische Formen und die Erd-Struktur, 116

die Elemente und ihr periodisches System, den spin der Photo­ nen und Neutronen, die Struktur der Atome und Moleküle und Nukleinsäuren und vielerlei mehr, was wir noch nicht wissen, denn die meisten dieser Forschungen befinden sich erst in ihren Anfängen. Und doch wissen wir genug, um folgern zu dürfen: Klang ruft die Welt. Die Welt ruft in Klängen. Die Welt ist Klang. Nada Brahma.

Klänge und Musik zum Hören des fünften Kapitels Sounds

of the

Sounds 125)

of sea animals

Songs 620)

of the

Sea (Folkways Records, Science Series, FPX 121) (Folkways Records, Science Series, FPX

Humpback Whale (Lieder der Wale) (Capitol ST

Olivier Messiaen: «L'Ascension» (Schwann Studio 518) Roberto

Detree:

«Architectura

-

Meditationen

celestis»

(Wergo

für

Orgel

Spectrum)

Ravi Shankar: siehe «Musik zum Hören» Kap.X. Claudio Monteverdi: Produktion 2533137)

Geistliche

Claudio Monteverdi: Festliche (Schwann AMS 4521, 2 LPs)

Konzerte Vesper

in

(DGG

Archiv

San

Marco

VI. Klang ist gewisser als Zeit und Stoff

Ganze Welten und Weltgebäude scheinbar gesicherter Erkenntnis sind in unserem Jahrhundert zusammengebrochen. Zeit und Ma­ terie bildeten das Fundament: exakt meßbar, wiegbar, berechen­ bar - das Sicherste, was wir hatten. Unsere Welterkenntnis war darauf begründet, alle Erkenntnisprozesse gingen davon aus. Heute steht die theoretische Physik vor den Trümmerhaufen des­ sen, was Zeit und Materie einmal gewesen sind. Seit Einstein - seit zunächst der speziellen (1905), dann der all­ gemeinen (1916) Relativitätstheorie - wissen wir um den illusori­ schen, den «krückenhaften» Charakter von Zeit. Wir wissen, daß es Ereignisse gibt, die von einem bestimmten Standpunkt aus als gleichzeitig erscheinen können, während sie sich von anderen Be­ obachtungspunkten aus als Folgeerscheinungen darstellen, die von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft führen. Um dies zu verdeutlichen, wird in der einführenden Literatur über die Relativitätstheorie gern ein Vergleich verwendet, dessen fol­ gende Version ich Lyall Watsons Buch «Geheimes Wissen» ent­ nehme: «Stellen wir uns vor, wir sitzen in einem Eisenbahnwagen und blicken seitwärts durch das Fenster auf die Gegenwart, wäh­ rend die Zeit vorbeifliegt. Es wird, wenn wir das Verstreichen der Zeit in immer kleineren Einheiten messen, immer schwieriger zu entscheiden, was die Gegenwart ist und wann sie anfängt und wo sie endet. Unabhängig von der Fahrgeschwindigkeit des Zuges er­ fassen wir mit einem Blick alles, was das Fenster einrahmt. Der Reisende uns gegenüber hat das Rollo ein Stück heruntergezogen und sieht einen kleineren Ausschnitt. Zur gleichen Zeit schaut jemand in einem Wagen weiter vom, gleich hinter der Lokomo­ tive, aus einem Fenster und erhält ein etwas anderes Bild, und ein blinder Passagier oben auf dem Waggondach, dessen Gesichts­ kreis nicht durch ein Fenster eingeengt ist und der in derselben Richtung wie alle anderen Passagiere seitwärts blickt, erfaßt ein weit größeres Feld, das auch ein Stück der Bahnlinie weiter vorn mit einschließt. Wer von allen diesen Beobachtern sieht nun die Gegenwart? Die Antwort muß offensichtlich lauten: Alle sehen sie, und die unterschiedlichen Ansichten, die sie von ihr gewin­ 118

nen, gehen nur auf die Beschränkung ihres Gesichtsfeldes zurück. Der Passagier auf dem Dach sieht nicht in die Zukunft. Er hat lediglich eine bessere Aussicht auf die Gegenwart und macht von seinen Sinnen volleren Gebrauch. In der Hindu-Philosophie gibt es seit jeher die Vorstellung einer ewig fließenden Gegenwart, und die moderne Physik ist im Begriff, dieses Bild zu übernehmen.» Stellen wir uns die Beobachtung eines fernen Spiralnebels in den Tiefen des Kosmos vor- Beobachtungen, wie sie in der moder­ nen Astronomie täglich gemacht werden -, etwa im Bereich der Kassiopeia, 500 Millionen Lichtjahre entfernt. Was geschieht, wenn wir die Kassiopeia zu sehen meinen? Was sehen wir? Doch offensichtlich etwas, was vor 500 Millionen Jahren dort war; viel­ leicht gibt es die Kassiopeia überhaupt nicht mehr? Aber wir se­ hen doch - ganz offensichtlich - «jetzt». Kein Zweifel also: Wir sehen rückwärts, aus der Gegenwart in die Vergangenheit hin­ ein-, und beide sind «jetzt». Die entferntesten bekannten Systeme im Kosmos sind fünf Mil­ liarden Lichtjahre entfernt. Wenn wir sie beobachten, beobachten wir «jetzt» etwas, das es gegeben hat, bevor unsere Erde sich über­ haupt gebildet hatte. Diese Überlegung erhellt, daß Raum in Zeit und - wie wir spä­ ter sehen werden - Zeit in Raum Umschlägen können. Ein Licht­ jahr ist bekanntlich die Strecke, die das Licht in einem Jahr zu­ rücklegt. In der Sekunde legt es 300000 km zurück, in der Minute also 300000 x 60 km. In einer Stunde diese Summe mal 60, an einem Tage diese Summe mal 24, in einem Jahr diese Summe mal 365: insgesamt die unvorstellbare Strecke von 946 Billionen km. Das an der Zeit sich messende Lichtjahr ist also eine für die prakti­ sche Arbeit relativ brauchbare Metapher für eine Strecke, deren räumliche Maße stärker noch als die zeitliche Umschreibung jegliche «normalen» Vorstellungsmöglichkeiten sprengt. Wir werden bemerken: Fast alle Begriffe der modernen Physiker sind «Metaphern» - auch die, auf die es in diesem Kapitel ankommt: Zeit und Materie. Offensichtlich gibt es das Aufeinanderbezogensein von Raum und Zeit auch in den kleineren Dimensionen unserer Erde; nur wird es da nicht bemerkt. Eine einfache Überlegung macht deut­ lich: Je länger eine Saite, je größer also das räumliche Moment, desto tiefer der Ton, desto langsamer folglich die Schwingungen, will sagen: desto niedriger das zeitliche Moment. Umgekehrt: Je kürzer eine Saite, je niedriger das räumliche Moment, desto höher der Ton, desto schneller die Schwingungen, will sagen: desto grö­ 119

ßer das zeitliche Moment. Hans Kayser formuliert die Regel: «Wenn das räumliche Moment, die Saitenlänge, sich verkleinert, so vergrößert sich das zeitliche Moment, die Schwingungszahl, und umgekehrt.» Auch die Zeitebenen - Vergangenheit, Gegenwart und Zu­ kunft - können nahtlos in räumliche Vorstellungen übergehen, wie sowohl am Beispiel des fahrenden Zuges wie an der Kassiopeia-Beobachtung deutlich wird. Zeitbegriffe also können defi­ nieren, was nach gängigen Vorstellungen normalerweise durch Raumbegriffe beschrieben wird: Distanzen, Strecken, Entfernun­ gen. Für gewisse Denk- und Rechenvorgänge in der theoretischen Physik können Raum und Zeit praktisch nicht voneinander un­ terschieden werden. Die Worte «Raum» und «Zeit» werden in solchen Zusammenhängen bedeutungslos. Und vor allem: Es ist mathematisch ohne Belang, ob wir die beiden miteinander ver­ wechseln, einander gleichsetzen oder ineinander übergehen las­ sen - oder schließlich auch im herkömmlichen Sinn sorgfältig voneinander trennen. Bereits Bernhard Riemann, der große Mathematiker des ver­ gangenen Jahrhunderts, neigte dazu, mathematisch Zeit in Raum zu wandeln. Später, als sich nicht mehr von der Hand weisen ließ, daß die eine Zeit- und die drei Raumdimensionen, die sich unseren Sinnen darbieten, nicht ausreichen für ein der Realität entsprechendes Weltbild und daß diese Welt mindestens vier, wahrscheinlich noch viel mehr Dimensionen hat, wurden die verschiedensten Theorien entwickelt, die - etwa - von zwei Zeit- und drei Raumdimensionen ausgehen (wie es die engli­ schen Physiker Sir Arthur Eddington und Adrian Dobbs taten) oder Zeit überhaupt nur für eine mißverstandene Raumdimen­ sion halten. Fünf-, sechs- und mehrdimensionale Welten funk­ tionieren mathematisch einwandfrei - ja, es gibt Physiker, die darauf hinweisen: sie funktionieren rechnerisch besser als die unseren Augen und unserem Tastsinn erkennbare Dreidimensio­ nalität. P.D. Ouspensky erinnert in diesem Zusammenhang daran, daß es unmöglich ist, die Dreidimensionalität mathematisch zu bestimmen: «Wie sollen wir verstehen, daß die Mathematik Dimensionen nicht fühlt - daß es unmöglich ist, den Unterschied zwischen Dimensionen mathematisch auszudrücken? Dies kann man nur dadurch verstehen und erklären, daß dieser Unterschied nicht existiert ... (Man erkennt auf diese Weise), daß keine wie 120

auch immer gearteten Wirklichkeiten unseren Begriffen von Dimensionen entsprechen ... Die Darstellung der Dimensionen durch Potenzen ist völlig willkürlich...» Um das «Illusionsträchtige» unserer Raum- und Zeitauffassung verständlich zu machen, ist es üblich geworden, die Annahme zweidimensionaler Wesen - solche etwa, die sich der Flachheit einer Wanze nähern - gleichsam als «Verständnisbrücke» zu Hilfe zu nehmen. Denn wenn wir uns schon Mehrdimensionalität nicht vorstellen können, so kann man sie doch bis zu einem ge­ wissen Grade über die «Geringer-Dimensionalität» begreiflich machen. Man stelle sich also ein Wesen vor, das auf einer Fläche lebt, sagen wir: auf einer Tischplatte. Es kennt nur zwei Dimen­ sionen, Höhe und Breite. Einem solchen Wesen «wird ein Kreis oder ein Quadrat, das sich um seinen Mittelpunkt dreht, wegen seiner doppelten Bewegung ein unerklärbares und unglaubliches Phänomen sein - wie eine Erscheinung des Lebendigen es für einen modernen Physiker ist ...» Wenn ein vielfarbiger Würfel durch die Fläche, auf der das zweidimensionale Wesen lebt, hin­ durchgeht, «wird das Flächenwesen, wenn eine blaue Linie an die Stelle einer roten tritt, die rote Linie als ein vergangenes Ereignis betrachten. Es wird nicht in der Lage sein, die Idee zu begreifen, daß die rote Linie noch irgendwo existiert» - so P. D. Ouspensky in «Tertium Organum» über die Mehrdimensionalität unserer Welt. Und derselbe Autor weiter: «Für das Wesen, das auf der Fläche lebt, wird alles, was sich ober- oder unterhalb befindet... in der Zeit - in der Vergangenheit oder in der Zukunft - existieren... Deshalb wird das Flächenwesen, obwohl es die Form seines Universums nicht begreift und dieses als unendlich in allen Richtungen be­ trachtet, nichtsdestoweniger unwillkürlich die Vergangenheit als etwas denken, das irgendwo auf einer Seite von allem gelegen ist, und die Zukunft als irgendwo auf der anderen Seite dieser Gesamtheit. Auf diese Weise wird das Flächenwesen die Idee der Zeit begreifen. Wir sehen, daß diese Idee entsteht, weil das zweidimensionale Wesen nur zwei von drei Dimensionen des Raumes empfindet; die dritte Dimension empfindet es nur, nach­ dem ihre Wirkungen auf der Fläche bemerkbar werden, und des­ halb betrachtet es sie als etwas von den zwei ersten Dimensionen Verschiedenes und nennt sie Zeit. Wir wissen, daß die Phänomene der Bewegung oder die Erschei­ nungsformen der Energie mit Aufwand von Zeit verbunden sind, und wir sehen, wie bei dem allmählichen Überschreiten des niedri­ geren Raumes in den höheren die Bewegung verschwindet und 121

in die Eigenschaften unbeweglicher Körper umgewandelt wird; das heißt der Zeitaufwand verschwindet - und die Notwendigkeit der Zeit. Für das zweidimensionale Wesen ist die Zeit notwendig zum Verständnis der einfachsten Phänomene - eines Winkels, eines Berges, eines Grabens. Für uns ist die Zeit zum Verständnis solcher Phänomene nicht notwendig, aber sie ist notwendig zur Erklärung der Bewegungsphänomene und physikalischer Phäno­ mene. In einem noch höheren Raum würden wahrscheinlich un­ sere Phänomene der Bewegung und die physikalischen Phäno­ mene, unabhängig von der Zeit, als Eigenschaften unbeweglicher Körper betrachtet werden,- und biologische Phänomene - Geburt, Wachstum, Fortpflanzung, Tod - würden als Bewegungsphäno­ mene betrachtet werden. Somit sehen wir, wie die Idee der Zeit mit der Erweiterung des Bewußtseins zurückweicht. Wir sehen ihre vollständige Bedingtheit. Wir sehen, daß mit Zeit die Merkmale eines Raumes bezeichnet werden, der jeweils höher als ein gegebener Raum ist -, das heißt die Merkmale der Wahrnehmungen eines Bewußtseins, das jeweils höher als ein gegebenes Bewußtsein ist... Mit anderen Worten, das Wachsen des Raumsinnes geht auf Ko­ sten des Zeitsinnes vor sich. Oder man kann auch sagen, der Zeit­ sinn sei ein unvollkommener Raumsinn (das heißt ein unvoll­ ständiges Vorstellungsvermögen, das, wenn es vervollkommnet ist, in den Raumsinn übergeht, in das Vermögen der Vorstellung durch Formen). Wenn wir die hier erläuterten Prinzipien als eine Grundlage nehmen und versuchen, uns das Universum sehr abstrakt vorzu­ stellen, ist es klar, daß dieses ganz anders sein wird als das Univer­ sum, das wir uns gewöhnlich vorstellen. Alles wird in ihm immer existieren. Dies wird das Universum des ewigen Jetzt der hinduistischen Philosophie sein - ein Universum, in dem es weder ein Vorher noch ein Nachher geben wird ...» «Anders ausgedrückt», so der bereits an früherer Stelle zitierte Lama Govinda: «wir leben nicht in der Zeit, sondern die Zeit lebt in uns ... Oder: Raum ist die nach außen verlegte, nach außen projizierte, objektivierte Zeit; und Zeit ist der verinnerlichte, subjektivierte Raum ... Zeit und Raum entsprechen einander wie das Innen und Außen derselben Sache ...» Ähnlich sieht es der Philosoph Jean Gebser: «Der Körper ... ist nichts anderes als erstarrte, geronnene, dichtgewordene, mate­ 122

rialisierte Zeit...» Gebser schreibt dies in seinem bahnbrechen­ den Werk «Ursprung und Gegenwart», das - kaum beachtet von Medien und Feuilletons - zum in-book einer ganzen Genera­ tion geworden ist und das den «integralen Menschen» postuliert, der «zeitfrei» ist. Noch einen Schritt weiter in der Relativierung von Zeit ist die moderne Teilchenphysik gegangen. Bei der Deutung gewisser Streuungsprozesse in der Quantenmechanik kann es geschehen, daß sich die Teilchen in dem einen Prozeß zeitlich vorwärts, in dem unmittelbar benachbarten Prozeß aber rückwärts bewegen, ja noch absurder (es scheint hier angebracht, Absurdität zu stei­ gern): Wenn man ein beobachtetes Teilchen als Positron interpre­ tiert, geschieht der Ablauf in der Zeit vorwärts; interpretiert man es als Elektron, läuft die Zeit rückwärts. Beide Interpretationen sind physikalisch schlüssig, beide sind mathematisch «richtig». Noch vor zehn Jahren haben die Physiker geglaubt, derartige Phänomene seien auf die Welt der Quantenphysik mit ihren un­ vorstellbar kleinen Dimensionen beschränkt. Inzwischen haben sie errechnet, daß Situationen denkbar sind - und logisch denkbar sein müssen -, in denen Prozesse der Mikrowelt auf die Makro­ physik durchschlagen; ja, der aus der Sowjetunion stammende, in Belgien lebende Physiker Ilya Prigogine hat nicht zuletzt für diese Erkenntnis 1977 den Nobelpreis erhalten. Bereits von Heisenberg wissen wir, daß - mathematisch gese­ hen - die Feldgleichung für elektromagnetische Felder nicht nur für eine zurückliegende Zeit, sondern auch für eine jeweils künf­ tige Zeit gelöst werden kann. Das aber bedeutet, daß ein Feld be­ obachtet werden kann, noch bevor es da ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich, daß die vertraute Abfolge von Ursache und Wirkung - von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - sich unter gewissen Umständen umkehren kann. Die Wirkung kann eher da sein als die Ursache, die Zukunft eher als die Vergangen­ heit. Ja, all diese Worte - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Ur­ sache und Wirkung - haben mittlerweile etwas Absurdes bekom­ men - wie ähnlich übrigens auch (wir haben in unserem Exkurs über die Logik davon gesprochen) in den «vernetzten» Regelkrei­ sen der Kybernetik. Weissagen - wenn ich dieses von soviel Skepsis umgebene Wort physikalisch umschreiben will, dann kann ich es nicht besser tun als mit dem Satz: Ich beobachte ein Feld, noch bevor es da ist. Die Teilchenphysik hat gezeigt, daß dies de facto möglich ist. Und es ist - ich komme nochmals auf diesen Einwand zurück - nicht 123

erheblich, wenn an dieser Stelle eingeworfen wird, das gelte nur für den Mikrokosmos. Die Auffassung von Zeit als einer für unsere Sinne nicht nach­ vollziehbaren Raumdimension erklärt zahllose Psi-Phänomene, die in der Literatur so erhärtet sind, daß auch skeptische Wissen­ schaftler nicht an ihnen zweifeln - Präkognition, Wahrsagen, Hellsehen, de/a-vu-Phänomene. Zum Beispiel die oft beobachtete Tatsache, daß Tiere bei Waldbränden oder Erdbeben-Katastrophen das gefährdete Gebiet vorher verlassen - besonders eindrucksvoll bei den Waldbränden in Norddeutschland 1973 oder beim Aus­ bruch des Mount St. Helens 1980 in den USA: Nur ganz wenige Tiere kamen ums Leben,- die meisten waren buchstäblich «weg» - vorher geflohen -, als hätten sie gewußt, was geschehen würde,nur die Menschen blieben. Offensichtlich haben Tiere (wohl auch, wie Jean Gebser annimmt, der «archaische» Mensch der Vorzeit | eine Fähigkeit, die unter uns rationalisierten und «mentalisierten» Menschen nur noch wenigen Begnadeten - oder Ver­ fluchten? -gegeben ist: Zeit als eine Raumdimension wahrzuneh­ men, einfach als Strecke, die vor uns liegt und die «eingesehen» werden kann. In diesem Sinne haben die großen Hellseher aller Zeiten ihre Gabe immer wieder als das Sehen einer sich vor ihnen auftuenden Strecke beschrieben - also als Distanz und als Raum. Wie gesagt: Auch die mathematische Realisierung dieser Konzep­ tion bereitet keinerlei Schwierigkeit; sie «stimmt». Ich habe dieses Kapitel so angelegt, daß sich die Zeit- und später die Materie-Vorstellungen der modernen Physik und der asiati­ schen Welt als eine Art «patchwork» zu einem Ganzen fügen. Lama Govinda schreibt: «Wenn wir vom Raumerlebnis der Medi­ tation sprechen, so haben wir es mit einer gänzlich anderen Dimension zu tun ..., in der das zeitliche Nacheinander zum Ne­ beneinander, das räumliche Nebeneinander zum Ineinander, das Ineinander zum lebendigen Kontinuum wird, jenseits von Sein und Nicht-Sein in der Einschmelzung von Raum und Zeit.» Und der alte japanische Zen-Meister Dogen erkannte schon sie­ benhundert Jahre, bevor die theoretische Physik es wußte: «Die meisten glauben, daß die Zeit vergeht. In Wirklichkeit bleibt sie stehen, wo sie ist. Die Vorstellung des Verstreichens von Zeit... ist eine falsche Vorstellung, denn da man die Zeit nur im Verstrei­ chen sieht, begreift man nicht, daß sie stehenbleibt, wo sie ist...» wozu Daisetz T. Suzuki, der zeitgenössische Vermittler des Buddhismus, anmerkt: «In der spirituellen Welt gibt es keine Zeiteinteilungen wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, 124

denn diese haben sich zu einem einzigen Augenblick der Gegen­ wart zusammengezogen, und dort vibriert das Leben in seinem wahren Sinn...» Genau das meinte auch Einstein, wenn er statuierte: «Für uns gläubige Physiker hat die Trennung zwischen Vergangenheit, Ge­ genwart und Zukunft den Wert einer bloßen - wenn auch sehr hartnäckigen - Illusion.» Es ist offensichtlich: Zwischen den Zeit-Interpretationen der modernen Physiker einerseits und denen des Buddhismus und der Mystik andererseits gibt es keinen Widerspruch. Ja, je weiter die Entwicklung der Physik fortschreitet, desto ähnlicher werden die Auffassungen. Auf diesen letzteren Punkt werden wir zurück­ kommen müssen. Für das Durchschnittsverständnis wird Zeit, wo sie unendlich lang wird, zur Ewigkeit; so jedenfalls denken die meisten: Zeit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - bildet letztlich nur einen Ausschnitt aus der Ewigkeit. Steckt aber nicht in einer sol­ chen Interpretation der - unbewußte - Versuch, Ewigkeit so weit wie möglich aus unserem menschlichen Umkreis und Bewußt­ sein herauszuschieben - einerseits in eine unendlich weit zurück­ liegende Vergangenheit, andererseits in eine ebenso unendlich fern vor uns liegende Zukunft? Es geht hier nicht darum, den psychologischen Implikationen eines solchen Versuches nachzu­ denken - so interessant das sein mag -, aber es ist daran zu erin­ nern, daß die spirituelle Weisheit des Ostens und des Westens über die Jahrhunderte hinweg gewußt hat, daß Ewigkeit jetzt ist-in diesem Moment. Nochmals Daisetz T. Suzuki: «Ewigkeit ist absolute Gegen­ wart.» Saichi, der Weise des japanischen «Reine-Land-Buddhismus», sagt: «Das Wiedergeborenwerden meint diesen gegenwärti­ gen Augenblick...» Das gleiche Wissen gab es in der europäischen Mystik - denn, so Erich Fromm, der Buddhismus und die christlichen Mystiker Europas sprechen «in Wirklichkeit nur zwei Dialekte der gleichen Sprache». Ein Schlüsselwort im Denken Meister Eckeharts, des großen rheinischen Mystikers des 13. Jahrhunderts, lautet «Nun» - und «Nun» ist beides: das Jetzt und die Ewigkeit. «Denn, das Nun, darin Gott den ersten Menschen schuf, und das Nun, darin der letzte Mensch vergehen wird, und das Nun, darin ich spreche, die sind gleich in Gott und sind nichts als ein Nun.» «Die Kraft der Seele weiß nichts vom Gestern noch vom Vorge­ stern, vom Morgen noch vom Übermorgen, denn in der Ewigkeit 125

gibt es kein Gestern noch Morgen, da gibt es nur ein gegenwärti­ ges Nun. Was vor tausend Jahren war und was nach tausend Jahren kommen wird, das ist so gegenwärtig wie das, was jenseits des Meeres ist.» Dasselbe meint Jakob Böhme, der schlesische Mystiker im frü­ hen 17. Jahrhundert: «Wem Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit, der ist befreit von allem Streit.» - ebenso wie Angelus Silesius in der Ausgabe des «Cherubini­ schen Wandersmannes» von 1675: «Gott schafft die Welt annoch: Kommt dir dies fremde für, so wiss, es ist bei IHM kein Vor noch Nach wie Hier.» Oder schließlich ein moderner «Mystiker» - als welcher Franz Kafka nicht nur im Licht des folgenden Zitats bezeichnet werden darf: «Nur unser Zeitbegriff läßt uns das Jüngste Gericht so nen­ nen, eigentlich ist es ein Standrecht.» Zum Standrecht gehört es, daß die Tat, das Ertappen, das Urteil und seine Vollstreckung so eng zusammenfallen, daß die Zeit zwi­ schen ihnen herausfällt: sie «fällt aus», es gibt sie nicht mehr. Und zum Verständnis des Begriffes «Jüngstes Gericht» sollten wir überlegen, was dieses ungewöhnlich gewordene Adjektiv «jüngst» wirklich bedeutet. Man sagte früher: Etwas fand «jüngst» statt, und man meinte: Es fand eben erst statt. Man sagte: Der Tag ist noch «jung» - wenn es früh am Morgen war. Wenn ein Tag also der «jüngste» ist, wird Frühe gesteigert, es ist noch frü­ her als am frühen Morgen, der Tag hat gerade eben erst begonnen,deshalb ist er der «jüngste» - der «allerjüngste» - Tag. Den Satz «Dieses Kind ist sein jüngster Sohn» versteht man dahingehend, daß die Geburt des gemeinten Sohnes dem gegenwärtigen Augen­ blick näher liegt als die der anderen Söhne. Das «Jüngste Gericht» ist also wirklich - so allein kann die Sprache es meinen - ein Standrecht. Wir sind schon verurteilt. Was jetzt stattfindet, ist nur noch der Vollzug.

Den «Jüngsten Tag» auf die Zukunft - gar auf eine unvorstellbar ferne - zu projizieren, ist genau dies: Projektion im Sinne der Psychoanalyse. Schuld ist immer der andere. Er trägt die Verant­ wortung. In diesem Fall: Wir hüllen die Zukunft in den dichtestmöglichen Nebel. Nichts ist «nebliger» als eine Ewigkeit, die so weit von uns fortrückt, daß wir beruhigt sein können: Uns kann nichts passieren. Die Sprache jedenfalls - das Wort «jüngst» - weiß: Zukunft ist jetzt. Ja, sie ist sogar schon gewesen, gerade eben war sie. Die Zukunft ist unser «jüngster Sohn». Nichts, was wir zeugen, nichts, was wir gebären, ist jünger als sie. Also: Der Jüngste Tag ist jetzt. Über das Wissen, daß Ewigkeit «jetzt» ist, gibt es einen alten Zen-Mondo, der in den verschiedensten Formen überliefert und verschiedenen Zen-Meistern zugeschrieben wird - ein Zeichen dafür, daß er Gemeinbesitz geworden ist: «Es ist Frühling. Zen-Meister und Schüler arbeiten im Garten. Da - ein Schwarm Vögel am Himmel! Der Schüler zum Meister: ‹Nun wird es warm werden - die Vögel kommen zurück.› Darauf der Meister: ‹Die Vögel sind von allem Anfang an hier gewesen.›» Man spürt: Buddhismus - vor allem Zen - und europäische My­ stik sind in wesentlichen Punkten einer Meinung. Professor Gorbach von der Kopenhagener Universität schreibt: «Die Mysti­ ker sprechen im Grunde zu allen Zeiten das gleiche aus, ja, es be­ steht eine so große Übereinstimmung unter ihnen, daß sie oft die­ selben Worte und Bilder gebrauchen. Man findet bei den Indern, die Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung lebten, Schriftstellen, die fast gleich lauten wie die von europäischen Mönchen des spä­ ten Mittelalters, und sogar die sprachlichen Schöpfungen der mo­ dernen Dichter lassen uns unmittelbar an die alten Schriften den­ ken. Der Grund für die Übereinstimmung liegt darin, daß sie alle eine gemeinsame Erfahrung besitzen, die in sich selbst so klar und überzeugend ist wie die Wahrnehmungen eines Durch­ schnittsmenschen in seiner materiellen Welt. Für Träume und Phantasien ist hier kein Raum. Der Mystiker hat es mit einer Er­ fahrung zu tun, die sein ganzes Leben bestimmt.» Spürt man in all diesen Zitaten - bei Jakob Böhme und Angelus 127

Silesius, bei Suzuki und dem Zen-Meister Dogen und bei Lama Govinda - ein Moment von Freiheit? Wir alle werden von Zeit geknechtet - vom zwingenden Schritt ihrer Herrschaft. «Die Vö­ gel sind immer schon hier gewesen.» Der Mann, der das gesagt hat, ist frei von der Tyrannei der Zeit. Man erinnere an dieser Stelle das - immer wieder neu zu bestau­ nende - Phänomen, das Augenzeugen der Französischen Revolu­ tion übereinstimmend berichtet haben: Am Abend des ersten Kampftages im Juli 1789 schlugen die Kämpfer an den verschie­ densten Stellen der Stadt, unabhängig voneinander und ohne vor­ herige Absprache, die Turmuhren entzwei. Ich glaube, man kann das nur so erklären: Spontan empfanden sie die Uhren als Symbole der Tyrannei, der sie unterworfen waren. Zeit und Tyrannei wur­ den ihnen in diesem wahrhaft «hellsichtigen» Augenblick gleich­ bedeutend. Jetzt, da sie frei zu sein meinten, brauchten sie keine Uhren mehr. Jetzt galt für jeden die eigene Zeit. Wie auf den Bil­ dern Salvador Dalis. Zeiger sind da nicht nötig. Zeit ist j e t z t . «Die Vögel waren schon immer da.» Daß «Zeit-Freiheit», wie Jean Gebser es nennt, Freiheit per se impliziert und daß Uhren mit Unfreiheit zu tun haben, wird deut­ lich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie angelegentlich - sobald es nur technisch machbar war - sich das mittelalterliche Europa mit einem Netz von Uhren überzogen hat - auf so beflissentliche, unmerkliche Weise, daß die Chronisten kaum mithalten konn­ ten. So weiß man nicht einmal genau, wer der Erfinder der ersten auf einem Kirchturm angebrachten Räderuhr gewesen ist, noch wo diese gestanden hat. Vielleicht war es der Archidiakon von Verona, Pazificus (†846), vielleicht war es Gerbert von Aurilac (etwa 950-1003), der 996 die berühmte Magdeburger Uhr gebaut hat und später als Papst Sylvester II. berühmt wurde, vielleicht der Abt Wilhelm von Hirschau (heute: Hirsau, Württemberg) (†1091). All dies verliert sich im Dunst der Geschichte. Sicher ist nur, daß es der Klerus war, der dafür gesorgt hat, «daß die Räderuhr ein brauchbarer Zeitmesser wurde» (Anton Lübke). Nachdem es um 1300 eine erste öffentliche Uhr in Paris, run 1306 eine solche in Mailand gab und Caen, Padua, Nürnberg, Straßburg und andere Städte folgten, wurde das 14. Jahrhundert das «Jahrhundert der Gewichtsräderuhren». Und noch bevor das 15. Jahrhundert vorüber war - mit erstaunlicher Schnelligkeit also, wenn man die damaligen Verkehrsprobleme bedenkt -, ver­ stand es sich fast von selbst, daß jeder noch so kleine Kirchturm seine eigene Turmuhr hatte, - auch dann, wenn mehrere Kirchen 128

dicht beieinanderstanden. Jede - oder fast jede - dieser Uhren hatte auch ihren eigenen Stundenschlag, der alle 60 Minuten auf Zeit insistierte. Und bald folgten Uhren, die alle 30 und alle 15 Minuten ertönten, damit selbst diejenigen, die die Uhren nicht sehen konnten, in beständiger Vergegenwärtigung ihres mahnen­ den Fingers der Zeit und ihrer Tyrannei inne blieben. Kaum ein Glockenschlag im Lande, dem nicht in Hörweite der Ruf einer benachbarten Kirche antwortete - ein paar Sekunden oder Minu­ ten eher oder später, die allgemeine Zeit-Insistenz auf diese Weise noch erhöhend. Die Glockenschläge der Stadtuhren tönten hin­ über in die Vorstädte und von dort über das Land in die Dörfer, und weiter von einem Dorf zum nächsten. Das Abendland hatte sich von Sizilien bis Skandinavien, vom Westen Frankreichs bis hinein nach Polen und Rußland eine gigantische Kapuze aus Turmuhren und Glocken übergestülpt. Und für den unwahrscheinlichen Fall, daß doch womöglich der eine oder andere schlafende Bürger des Nachts der dröhnenden Zeit-Kapuze nicht gewahr wurde, gab's Nachtwächter in den Städten, die alle Stunden durch die Straßen zogen und in ödem Singsang daran erinnerten, was die Uhr ge­ schlagen hatte: Hört Ihr Leut' und laßt Euch sagen ... In keiner Kultur gibt es etwas Vergleichbares. Der Ruf der Muezzins von den Moscheen der islamischen Welt, ohnehin nur wenige Male am Tage erklingend, ist nichts im Vergleich mit der «Zeitverge­ genwärtigung» in den Städten und Dörfern des Abendlandes. Und es ist wichtig, sich daran zu erinnern, daß es die Mönche und Prie­ ster, die Instanzen des Christentums also, gewesen sind, die zu­ gleich mit ihrer Lehre das Fangnetz der Zeit über Europa warfen, als hülfen ihnen die Uhren - und das taten sie auch -, «Bauer, Bürger und Edelmann» zu kontrollieren - in nie ruhender, ekla­ tanter Beleidigung ihres Herrn und Gottes, von dem doch gesagt war, daß er «zeitfrei» ist: Tausend Jahre sind vor ihm wie der Tag, der gestern vergangen ist. Und wie eine - Nachtwache! Und dann das Mißverhältnis: Millionen von Uhren und welch ein Ergebnis! Keine einzige mißt Zeit. Sie tun alle nur so, als ob. Der Dichter Manfred Hausmann hat das einmal hübsch ausge­ drückt: «Wer die Entfernung von Hamburg nach Berlin nach Kilo­ grammen bemessen wollte und das Gewicht eines Korbes mit Äp­ feln nach Metern, würde ausgelacht werden ... Jedes Kind weiß, daß die Maßeinheit dem Objekt, das vermessen werden soll, ent­ sprechen muß. Darüber braucht weiter kein Wort verloren zu wer­ den. Daß wir aber die Zeit mit dem Raum messen, der ihr ebenso­ wenig entspricht wie das Kilogramm der Entfernung zwischen 129

zwei Städten, scheint niemand lächerlich zu finden. Eine Stunde sei dann vergangen, wenn der große Zeiger einer Uhr die Fläche eines Kreises durchwandert habe. Wir messen also tatsächlich die Zeit mit dem Raum . . . » Die meisten Zeitphilosophen unterscheiden zwischen «gelebter» und «gemessener», zwischen «subjektiver» und «objektiver» Zeit. Die gemessene gilt als die unverbrüchlich exakte, die für je­ den Menschen gleiche und verbindliche. Die gelebte ist die per­ sönliche Zeit des einzelnen Individuums, die in Momenten der Glückseligkeit viel zu schnell und in den Stunden des Leides zu langsam verfliegt. Nach heutigem Wissensstand aber müssen für den, der Relativitätstheorie und Unschärferelation zu Ende denkt, die beiden Zeitarten fast umgekehrt bewertet werden wie noch vor zwanzig oder dreißig Jahren: Die gelebte Zeit, die eben noch als die «relative» erschien, ist nun doch wenigstens in einem rela­ tiven Sinn verläßlicher geworden als jene Zeit, die eben noch die «objektive» war und die nun so weitgehend relativiert wurde, daß wenig «Objektivierbares» von ihr übriggeblieben ist. Unsere per­ sönliche, «gelebte» Zeit können wir wenigstens fühlen, während uns doch die Physiker von der «objektiven» Zeit sagen, daß sie nicht einmal mehr zuverlässig gemessen werden und Sicherheit über sie überhaupt nicht erzielt werden kann. Der Unterschied zwischen gemessener und gelebter Zeit muß schon den alten Griechen «unbewußt bewußt» gewesen sein. Sie hatten zwei Zeit-Gottheiten: Chronos und Kairos. Urvater Chronos war der Gott der absoluten, der «ewigen» Zeit. Für Kairos aber, den jüngsten Sohn des Zeus, lief Zeit nur einfach auf die günstige Stunde, den rechten Augenblick, hinaus. Penelope Shuttle und Peter Redgrove haben gezeigt, daß im Kairos mehr weibliches Zeitempfinden steckt, im Chronos mehr männliches. Das männ­ liche sei starr, spreize sich im Stolz, Zeit «objektiv» erfassen zu können, das weibliche sei relativ, «zu- oder abnehmend», weil die Frauen von zyklischen Prozessen gelenkt werden: «Im weib­ lichen Bewußtsein beugt sich die Zeit dem Kairos und weniger dem Chronos des männlichen Bewußtseins, die natürlich beide in derselben Person erlebt werden können.» Die «gelebteste» aller Zeiten ist der weibliche Zyklus. Die Frau lebt ihn jeden Monat. Mehr als alles andere ist dieser Zyklus «ihre» Uhr. Ja, es gibt Forscher, die der Ansicht sind, daß der Ur­ mensch Zeit überhaupt zum erstenmal über den weiblichen Zy­ klus erfahren habe. Das war s e i n Maß, das eigentliche Urmaß, 130

das Metrum - und siehe da: Das griechische Wort metra bedeutete ursprünglich: die Gebärmutter. Sie war das Maß, es gab kein anderes: metre, die ionische Urform, kennt keinen Plural, das heißt: keine verschiedenen Maße. Mater, Mutter, ist damit ver­ wandt. Fast alle Worte für Maß, dieses selbst eingeschlossen, kom­ men von daher: Messung, Mensur, meßbar, ange-messen, Dimen­ sion, Unermeßlichkeit, Meter, Diameter, Parameter, Meteor und so weiter - quer durch die Sprachen - bis ins Sanskrit; auch dort ist matr die Mutter und matra das Maß. Man mache sich dies deut­ lich - es ist ja fast unvorstellbar für den rationalisierten Men­ schen: Die «Keimzelle» für all diese verschiedenen Worte steckt in der metra, in der Gebärmutter. Sie gebar - Maß! Sie war Maß. Indem der Mensch aus der Gebärmutter hervorgeht, geht er aus dem Maß hervor, wird er Mater-ie! Die rational bestimmte europäische Zivilisation hat den Kairos verdrängt. Ihre Zeit wird nur noch mit Uhren, mit - man beachte das Wort - Chrono-metern gemessen; ihre Zeit kommt vom Urva­ ter Chronos, dem Patriarchen: Sie ist männlich, patriarchalisch, rational und funktional. In urtümlicheren Kulturen aber - etwa denen Afrikas - ist auch heute noch die Zeit des Kairos wichtiger als die Uhrenzeit, die nur für das männlich dominierte Denken gleich «Ur-Zeit» ist. Inzwischen ergibt sich auf fast ironische - und durchaus auch ein wenig auf «ionische» - Weise: Die moderne Teilchenphysik, obwohl sie doch nicht ohne Maß und Messung und Uhren - ohne Chronos also - zu denken ist, steht dem Gott Kairos gar nicht mehr so fern, wie es bisher schien. Wie gesagt, für Kairos ist Zeit der rechte Augenblick, die günstige Stunde, die gute Gelegenheit, der Blick für das rechte Maß und das rechte Verhältnis. Und genau das ist sie auch für die Quantentheorie und Heisenbergs Unschär­ ferelation. Für Photonen und Elektronen und für Tohus und Wohus - die neuesten atomaren Kleinteilchen (wie lange die neue­ sten?) - existiert Zeit überhaupt nur noch als «gute Gelegenheit» oder «rechter Augenblick» und jedenfalls nicht mehr als Uhren­ zeit und schon gar nicht als die angebliche «Ur-Zeit» des Chronos. Den Kairos zum Sohn des Zeus zu machen, zu seinem jüngsten gar, und dem Urvater Chronos die gemessene Zeit anzudichten, muß gleichermaßen logisch wie mythologisch, physikalisch wie evolutionsgeschichtlich als Umkehrung des wirklichen Ablaufs durchschaut werden - als Fälschung mithin. Damit beginnt doch eigentlich Zeitempfinden: daß jemand den rechten Augenblick wahrnimmt. Erst gab es das Maß der Gebärmutter, die Zeit der 131

Frauen; erst gab es gelebte Zeit - den rechten Moment. Später kam die gemessene Zeit des Patriarchen Chronos, der sich ausgerech­ net - so wollten es die alten Griechen - es ist wirklich zum La­ chen! -mit der Anánke paarte: dem Zwang - im Sinne von «Not­ wendigkeit», ja oft genug von Gewalt und Unterdrückung. Man kann sich das gut vorstellen: die muß er geliebt haben! Und daß seine Nachkommen den Kairos so gründlich «mordeten», daß ihn fast nur noch die Altphilologen kennen, war eine wahrhaft «ödipale» Tat, deren Analyse überfällig ist - und die gewiß längst geschehen wäre, wenn die Psychologie nicht so fest in Männer­ händen läge. Warum das der Fall ist - mit allem, was es in ihr an verräterischer Liebe zum Zwang, zur Anánke, gibt: auch darüber sollte nachgedacht werden. Wie gesagt, das Ganze ist eine Fäl­ schung, und es ist offensichtlich, wann sie geschehen sein muß: im Prozeß der Umpolung vom Ur-Matriarchat auf das Patriarchat. Es steckt Humor in der Fälschung - ionisch-griechischer Humor. Als habe da jemand hinter vorgehaltener Hand odysseisch-verschmitzt gegrinst - wie Odysseus und seine Mannen bei ihren diversen Bübereien (die in der Tat nur von männlichen Wesen aus­ gefressen werden konnten). Ich wüßte eine hübsche Überschrift für die ganze Geschichte: «Das Griechische Bubenstück mit der Zeit.» Nun die Materie. Sie hat sich unter dem Zugriff der modernen Physik fast noch radikaler aufgelöst als die Zeit. Dabei war es doch so: Für den westlichen Menschen gab es nichts Sichereres als sie: den Stuhl, auf dem ich sitze; den Tisch, auf dem ich schreibe; die Schreibmaschine, auf die ich nächtelang hämmere ... Jetzt aber bestätigen die Atomphysiker, was Buddha und die Weisen Asiens seit je gesagt haben: Materie ist Leere. Stoff ist «nicht». Beginnen wir diesen Abschnitt über die Materie mit einem Zitat aus dem Buch «Der Rhythmus des Kosmos» des bereits er­ wähnten amerikanischen Psychologen George Leonard - ein Werk, das ich jedem, der tiefer in die hier behandelten Zusammen­ hänge eindringen möchte, wärmstens empfehle: «Das Elektronen­ mikroskop eröffnet uns Einblicke in den Körper, der in seiner Schönheit und Schrecklichkeit so grenzenlos wirkt wie das Meer ... Je mehr die Vergrößerung zunimmt, desto mehr beginnt sich das Fleisch aufzulösen. Die Muskelfasern gewinnen einen kristal­ linen Aspekt. Wir sehen, daß sie aus langen, wohlgeordneten Mo­ lekülspiralen bestehen. Und all diese Moleküle schwanken wie Weizen im Wind durch unsichtbare Wellen, die viele Billionen mal in der Sekunde pulsieren ... Woraus bestehen die Moleküle? 132

Könnten wir mit unserem Elektronenmikroskop noch weiter in die Welt des Allerkleinsten Vordringen, sähen wir Atome, winzige schattenhafte Kugeln, die in den Molekülen um ihren festen Platz tanzen, dabei manchmal in vollkommenem Rhythmus mit ihren Partnern die Position tauschend. Und jetzt sehen wir uns eines dieser Atome an: Sein Inneres ist durch eine Wolke von Elektro­ nen verschleiert. Wir kommen näher, verstärken die Vergröße­ rung, die Schale löst sich auf, wir blicken ins Innere und sehen dort... nichts! Irgendwo in dieser Leere, das wissen wir, ist ein Kern. Wir sehen uns im Raum um, und da ist er: Ein winziger Punkt. Endlich ha­ ben wir etwas Greifbares und Festes, einen Bezugspunkt entdeckt, aber nein - sobald wir uns dem Atomkern nähern, beginnt auch er, sich aufzulösen. Auch er ist nichts anderes als ein oszillierendes Feld, rhythmische Wellen. Innerhalb des Kerns sind andere orga­ nisierte Felder: Protonen, Neutronen, sogar noch kleinere Teil­ chen. Sobald wir uns einem dieser Partikel nähern, löst es sich in Schwingungen auf. Die Wissenschaftler suchen immer noch nach den primären Bausteinen der materiellen Welt. In unseren Tagen sind sie auf der Suche nach den Quarks, merkwürdigen subatomaren Einheiten, deren Eigenschaften sie mit Begriffen wie Obensein, Untensein, Charme, Fremdartigkeit, Wahrheit, Schönheit, Farbe und Ge­ schmack beschreiben. Aber wie dem auch sei, wenn wir an diese merkwürdigen Quarks nahe genug herankommen, schmelzen auch sie weg. Auch sie können keinen Anspruch auf Festigkeit erheben. Selbst ihre Geschwindigkeit und ihre Position ist unklar, und es bleiben von ihnen nur Beziehungen und Schwingungsmu­ ster. Woraus also besteht der Körper? Er besteht aus Leere und Rhythmus. Im Innersten des Körpers, im Herzen der Welt gibt es keine feste Materie: Es gibt nur den Tanz.» Lao-tse hat gesagt: Was ein Rad eigentlich zum Rad macht, ist die Leere zwischen den Speichen. In diesem Sinne ist das, was ein Atom zum Atom macht, die Leere zwischen den Elementarteil­ chen - eine Leere, die sich uns in wachsendem Maße als immer noch «leerer» auftut. Wenn wir ein Atom auf die Größe des Em­ pire State Building in New York ausdehnten, dann hätte sein Kern gerade die Größe eines Salzkörnchens. So also muß man sich Ma­ terie vorstellen - von solcher Leere: ein Salzkörnchen, das durch das riesige Empire State Building wirbelt - mit einer Geschwin­ digkeit von 60000 km pro Sekunde. Oder umgekehrt: Preßten wir einen Menschen auf das zusammen, was - allenfalls noch - «Ma­ 133

terie» an ihm genannt werden kann, er wäre dem Auge unsichtbar, er hätte die Größe eines Atoms. Und noch eine Vorstellungshilfe in den Worten von Isaac Asimov: «Wollte man das ganze Volu­ men eines einzigen Atomes mit Kernen ausfüllen, so brauchte man dazu eine Billiarde Atomkerne.» Das also ist die Relation, bezogen auf den Kern, mithin auf das, was man, wie gesagt, gerade noch - aber auch hier wieder nur unter Einschränkungen - als «Materie» bezeichnen darf: ein «Billiardstel» dessen, was Leere und «Nichts» sind! Doch auch der «Kern» löst sich bei näherer Betrachtung immer weiter in immer noch kleinere Teile, in immer noch «leerere» Dimensionen auf! Das geht nun schon ein halbes Jahrhundert so: Wann immer ein äußerstes, «letztes», kleinstes, «unteilbarstes» Teilchen entdeckt worden ist, wird ein paar Jahre später ein noch kleineres entdeckt. Am Anfang stand das Atom (griech. άτομος = das «Unteilbare», aufschlußreicherweise auch das «den Göttern Heilige», das ur­ sprünglich nicht materiell, sondern harmonikal verstanden wurde - als das kleinste, musikalisch sinnvolle Intervall 45:46!), dann folgten Elektronen, Neutronen und Protonen (griech. = das «Erste», weil man auch da wieder geglaubt hatte, man habe das «erste» und kleinste aller Teilchen entdeckt), darauf in atem­ beraubender Folge immer kleinere Partikel - bis hinab zu den Photonen und Quarks und Leptonen, Gluonen, Tionen und Myonen - und neuerdings den Rischonen, den Tohus und Wohus (von israelischen Physikern 1980 entdeckt und nach den beiden Be­ standteilen des hebräischen Wortes Tohuwabohu benannt: Tohu = wüst, Wohu =leer). Inzwischen hat man mehr als zweihundert derartige Teilchen gefunden, und die Physiker wissen, daß das Wort «Elementarteil­ chen» nur noch ironisch gebraucht werden kann. Nichts ist weniger «elementar» als das, was man sich angewöhnt hat, «Ele­ mentarteilchen» zu nennen. Viele dieser längst nicht mehr «ele­ mentaren» Teilchen existieren nur noch für tausendstel Bruch­ teile von Sekunden und zerfallen sofort in noch kleinere oder in Wellen oder in Energie. Und - wie gesagt - sie bewegen sich glei­ chermaßen von der Vergangenheit in die Zukunft wie von der Zu­ kunft rückwärts in die Vergangenheit, so daß es das tatsächlich gibt - wie in den Märchen und Mythen der Völker: ein Leben nach rückwärts - aus dem Kommenden ins bereits Gewesene. Was «morgen» gewesen ist, wird «gestern» sein. Und weil jedes der genannten Teilchen sein Anti-Teilchen hat, 134

wissen wir auch, daß es «Anti-Materie» und - dementsprechend eine «Anti-Welt» gibt. In ihr hat jedes Teilchen die entgegenge­ setzte Ladung wie in unserer «realen» (man kann das Wort ja wirk­ lich nur noch in Anführungszeichen setzen) Welt. Ein Elektron also ist dort nicht mehr negativ, sondern positiv, und umgekehrt ein Proton nicht mehr positiv, sondern negativ geladen. Es ist be­ reits gelungen, Anti-Materie, wenn auch in kleinster Menge, künstlich im Laboratorium herzustellen, und Physiker fragen: «Wo ist die Anti-Materie geblieben, die zu Beginn des Universums gleichzeitig mit der Materie entstanden sein muß? ... Vielleicht gibt es Milchstraßen, die ganz aus Anti-Materie bestehen ...» (Isaac Asimov). Der amerikanisch-österreichische Atomphysiker Fritjof Capra merkt dazu an: «Die Erzeugung von Materieteilchen aus reiner Energie ist sicher der spektakulärste Effekt der Relativitätstheorie ... Die Unterscheidung zwischen Materie und leerem Raum mußte endgültig aufgegeben werden, als entdeckt wurde, daß vir­ tuelle Teilchen spontan aus der Leere entstehen und wieder in die Leere verschwinden können.» Einer der ersten, der begriffen hat, was die Auflösung der Mate­ rie «in Nichts» impliziert, war- bereits in den zwanziger JahrenNiels Bohr, einer der Begründer der modernen Atomphysik: «Um zur Leere der Atomtheorie eine Parallele zu finden... müssen wir uns den Überlieferungen eines Buddha und eines Lao-tse zuwen­ den ...» Und wir müssen uns daran erinnern, daß es Hindu-Mathemati­ ker waren, die die Idee der «Null» bereits im 6. Jahrhundert einge­ führt haben. Aus der indischen Mathematik kam sie in die ara­ bische - erst von dort in die europäische. Ohne die «Null» wäre das ganze mathematische Denken des Abendlandes - jenes Den­ ken, auf dem die moderne Physik beruht - unmöglich. Die «Leere», das «Nichts» in der Philosophie des Hinduismus und Buddhismus stand dabei Pate, denn aus dem philosophischen und spirituellen Wissen um das «Nichts» haben die Hindu-Wissen­ schaftler das mathematische Konzept der «Null» abgeleitet. Des­ halb kann in der Differentialrechnung o: o jede beliebige Zahl sein - null, eins oder unendlich groß. Zen-Weise haben bereits im 14. Jahrhundert die Formel des Shikisokuseku entwickelt, die besagt: «Materie ist Leere.» Und: « Leere ist Materie.» Hierzu noch einmal Fritjof Capra: «Wir müssen sehen, wie die beiden Fundamente der Physik des 20. Jahrhunderts - Quanten­ 135

theorie und Relativitätstheorie - uns zwingen, die Welt auf sehr ähnliche Weise zu sehen, wie ein Hindu, Buddhist oder Taoist sie sieht... Die moderne Physik führt uns zu einer Anschauung von der Welt, die den Ansichten der Mystiker aller Zeitalter und Tradi­ tionen sehr ähnlich ist... Zum Beispiel wird dem Hindu durch den kosmischen Tanz des Gottes Shiva dieselbe Vorstellung von der Materie vermittelt wie dem Physiker durch gewisse Aspekte der Quanten- und Feldtheo­ rie ... In einer berühmten buddhistischen Sutra, die Buddha per­ sönlich zugeschrieben wird, heißt es: «Form ist Leere, und Leere ist Form. Leere unterscheidet sich nicht von Form, Form unter­ scheidet sich nicht von Leere. Was Form ist, das ist Leere, was Leere ist, das ist Form.» Zwischen den Naturwissenschaften und den Institutionen der christlichen Kirchen herrscht seit Jahrhunderten Spannung, oft genug Feindschaft; Galilei, Giordano Bruno, Kepler und andere große Wissenschaftler wurden verfolgt, eingekerkert, verbrannt, Darwin und Einstein diskriminiert und bekämpft. Aber zwischen den Naturwissenschaften und der Weltauffassung Asiens herrscht weitgehend Übereinstimmung. Was Einstein über die Zeit gesagt hat und was die Quantenphysiker über die Materie entdecken konnten, hat Buddha vor Jahrtausenden auf seine Weise in Worte gefaßt. Ja, bereits vor Buddha wird in der hinduistischen Philo­ sophie der Raum mit akasa umschrieben - ein Wort, das sich von der Sanskritwurzel kas = leuchten, strahlen herleitet. Und jedem Kenner hinduistischen und buddhistischen Denkens ist der Be­ griff der sunyata, der Leere, geläufig, - einer Leere, die voller ist als die Fülle, so daß auch hier wieder gilt: «Leere ist Fülle.» Und: «Fülle ist Leere.» Viele moderne Physiker, die nach Asien gereist sind, haben die Parallelität ihrer eigenen Erkenntnisse mit denen der asiatischen Spiritualität erfahren. Als Niels Bohr 1937 in China war, fiel ihm die Ähnlichkeit der chinesischen Ch’i-Vorstellungen mit Heisen­ bergs Unschärferelation auf. Er sagte: «Das Ch’i ist das Äquiva­ lent des modernen Quantenfeldes.» Und als er wieder daheim in Kopenhagen war, nahm er das chi­ nesische Yin- und Yang-Symbol in sein dänisches Familienwap­ pen auf. Auf die Ähnlichkeit des chinesischen Ch'i mit den Feldvorstel­ lungen der theoretischen Physik hat auch der in diesen Zusam­ menhängen immer wieder zu erwähnende Fritjof Capra hingewie­ sen: «In der chinesischen Philosophie ist die Feldidee nicht nur in 136

der Vorstellung vom ‹Leeren› und ‹Formlosen› enthalten, sondern wird auch im Begriff des Ch’i ausgedrückt. Dieser Begriff spielt eine wichtige Rolle in fast jeder Schule der chinesischen Natur­ philosophie...» Capra macht darauf aufmerksam, wie auffällig sich die folgende Beschreibung des Feldbegriffes der modernen Physik von Walter Thirring mit den Vorstellungen des chinesischen Ch'i deckt: «Die moderne theoretische Physik hat unser Denken vom Wesen der Materie in neue Bahnen gelenkt. Sie hat den Blick von dem zu­ nächst Sichtbaren, nämlich den Teilchen, weitergeführt zu dem, was dahinterliegt, dem Feld. Anwesenheit von Materie ist nur eine Störung des vollkommenen Zustandes des Feldes an dieser Stelle, etwas Zufälliges, man möchte fast sagen, nur ein ‹Schmutz­ effekt›. Dementsprechend gibt es auch keine klaren Gesetze, welche die Kräfte zwischen Elementarteilchen beschreiben ... Ordnung und Symmetrie sind in dem dahinterliegenden Feld zu suchen...» Capra hat gezeigt, daß sich die Erkenntnisse der Relativitäts­ theorie und der Quantenmechanik lesen, als seien sie Koans im Sinne des Zen: scheinbar absurde Meditationsaufgaben, wie sie die Zen-Meister ihren Schülern stellen. Er sagt: «Die Quantenme­ chanik ist das Zen-Koan unserer Zeit.» Und der Physiker James Hopwood Jeans resümiert: «Heutzu­ tage herrscht weitgehend Übereinstimmung, die auf der Straße der Physik beinahe an Einstimmigkeit grenzt, daß der Strom des Wissens einer nicht-mechanischen Realität entgegenfließt; das Universum beginnt mehr einem mächtigen Gedanken als einer Maschine zu gleichen. Der Geist scheint nicht länger mehr ein zufälliger Eindringling in den Bereich der Materie zu sein. Wir be­ ginnen zu mutmaßen, daß wir ihn eher als Schöpfer und Lenker des Bereichs der Materie begrüßen sollten...» Der bedeutende englische Physiker Sir Arthur Stanley Eddington gehört zu den Wegbereitern der zeitgenössischen Erkenntnis vom «Geist der Materie», über die ich im vierten Kapitel berichtet habe. Bereits Anfang der dreißiger Jahre schrieb er: «Der Stoff der Welt ist Geist-Stoff. Der Geist-Stoff ist nicht ausgebreitet in Raum und Zeit ... Wir müssen aber annehmen, daß er, auf eine andere Art oder von einem anderen Gesichtspunkt aus gesehen, sich in Teile differenzieren kann. Nur da und dort erhebt er sich zur Höhe des Bewußtseins, doch von solchen Inseln kommt alles Wissen ... Dieses umschließt unser Wissen von der physikali­ schen Welt.» 137

1964 wies der Physiker J. S. Bell darauf hin, daß «keine Theorie der Realität, die mit der Quantentheorie kompatibel ist, davon ausgehen kann, daß räumlich getrennte Ereignisse voneinander unabhängig sind». Wer in der spirituellen Tradition Asiens aufge­ wachsen ist, stockt voller Erstaunen, denn dieser Satz - inzwi­ schen als «Bell's Theorem» in der theoretischen Physik weltweit akzeptiert - läuft auf genau das hinaus, was die Weisen Asiens seit je gewußt haben: Nichts im Kosmos, so weit seine Grenzen auch sein mögen, ist von etwas anderem getrennt. «Alles ist Eins.» «Tat Twam Asi.» Ich zitiere noch einmal George Leonard: «Damit die Quanten­ theorie wirklich funktioniert, muß jedes Elektron, umgangs­ sprachlich formuliert, ‹wissen›, was all die anderen Elektronen im Universum tun, um selbst zu ‹wissen›, was es tun soll. Es ist, als ob sich an jedem Punkt jedes elektromagnetischen Feldes ein win­ ziger Supercomputer befände, der ständig alles berechnet, was im Universum vor sich geht... In einem solchen Universum stehen die Informationen über das Ganze an jedem einzelnen Punkt zur Verfügung. Diese Implikationen der Quantentheorie entsprechen der tief­ sten Intuition früherer Zeitalter, der unmittelbaren Erfahrung der angesehensten spirituellen Meister und den Gedanken von Philo­ sophen wie Leibniz, Spinoza und Whitehead.» Der Physiker Ilya Prigogine sieht einen ersten Schritt in diese Richtung bereits in der Entwicklungslehre Darwins: «Die Lehre Darwins bedeutet, daß wir mit allen Formen des Lebens Zusam­ menhängen; das expandierende Universum bedeutet, daß wir mit dem gesamten Kosmos Zusammenhängen.» Genau das gleiche hat der chinesische Zen-Meister Ch'an-sha Ching-ts'en im 9. Jahrhundert gesagt: «Das ganze Universum ist dein Auge. Das ganze Universum ist deine eigene Lichtquelle. Das ganze Universum ist innerhalb deiner eigenen Lichtquelle. Im ganzen Universum gibt es niemanden, der nicht dein eigenes Selbst ist.» Auch an dieser Stelle wieder denkt man an die berühmte Perle des Gottes Indra, die alle anderen Perlen der Welt widerspiegelt und gleichzeitig in jeder anderen Perle der Welt enthalten ist. Den alten Brahmanen galt sie als ein Symbol des Universums. Indische Weise stellen sie als Meditationsaufgabe: Dring in die Absurdität der Perle Indras, sie spiegelt alle Perlen der Welt und steckt doch gleichzeitig in jeder Perle. Begreif dies! Für einen Rationalisten mag die Perle eine Metapher sein (auch 138

die Physiker haben ja nur Metaphern!), aber die Metapher ent­ spricht exakt den Aussagen der aus der Quantenmechanik ent­ wickelten sogenannten Bootstrap-Physik. (Bootstrap heißt Schnürsenkel.) Sätze der «Bootstraper» lauten: «Jedes Teilchen besteht aus allen Teilchen.» Oder: «So hilft jedes Teilchen andere Teilchen zu erzeugen, die wiederum es selbst erzeugen.« Man liest das und denkt, es seien buddhistische Sutras. Es sind aber Sätze der modernen Teilchen-Physik. Worauf die Heisenbergsche Unschärferelation eigentlich hin­ ausläuft, das ist die Gewißheit Buddhas und der Zen-Weisen: daß unser Betrachten der Dinge die Dinge erst zu dem macht, was sie sind. Ein Teilchen ist Welle, wenn ich es als Welle ansehe. Es ist Materie, wenn ich es als Materie ansehe. Das Teilchen kann auf dem Mond sein, aber wenn ich es als Welle beobachte, ist es Welle. Und wenn ein anderer - gleichzeitig! - es dort oben als Materie beobachtet, ist es für ihn Materie. Wenn ich es als Positron beob­ achte, ist es Positron. Beobachte ich es als Elektron, ist es Elektron - und die Zeit dreht sich um. Meine Beobachtung also kann Zeit umdrehen - Vergangenheit in Zukunft und umgekehrt. Positives in Negatives - und umgekehrt. Das ist es, was die Unschärferela­ tion eigentlich besagt. Was auch immer wir über die Welt aussagen, wir selbst sind mittendrin; wir können nicht daraus heraus; wir sind «in» den Dingen - im kleinsten Teilchen. Im «Kern der Perle». Und die Unschärferelation war nur die erste dieser Entdeckun­ gen. Inzwischen gibt es ein Dutzend ähnlicher, alle paar Jahre wer­ den neue gemacht, die uns signalisieren: Wir sind die Dinge. Das ist die eigentliche Botschaft der Neuen Physik: Der Kosmos sind wir. Und es ist seltsam verwirrend, daß diese Botschaft nun schon seit länger als einem halben Jahrhundert ertönt und gleichwohl immer nur von den Fach-Physikern vernommen wird. Die ande­ ren betrachten sie wie ein Exotikum. Wie eine Kunde von fernen Sternen. Dabei müßte sie doch unser ganzes modernes Wissen­ schaftsdenken längst völlig revolutioniert haben. Erst dann wäre dieses Wissenschaftsdenken wirklich wieder «modern». Solange es die Botschaft der Neuen Physik nicht verstanden hat, ist es antiquiert. Ein vor-modernes Denken. Ein Denken des 19. Jahr­ hunderts. Zum Beispiel die Schul-Medizin: Ohne die Berücksich­ tigung der Unschärfe-Relation wird sie selber: «Unschärfe-Medi­ zin» ! Vielleicht hat Heisenberg mit seiner Unschärferelation ein fun­ damentales Prinzip entdeckt, das nicht nur in der Mikro-Physik 139

gilt. Wie gesagt: Wir beobachten ein Teilchen als Welle - und es ist Welle. Und wir beobachten es als Materie - und es ist Materie, will sagen: Die Relation der Schärfe ist eine Relation des Gesichts­ punktes. Wären wir uns der «Objektivität» unserer Standpunkte nicht so trügerisch sicher, müßten die Menschen längst bemerkt haben: Sie leben schon seit Jahrtausenden mit der Unschärferela­ tion. Fast jeder Mensch macht diese Erfahrung: Er sieht die Sache von seinem Gesichtspunkt aus und erkennt seine Sehweise als zweifellos richtig, aber ein anderer - Vater vielleicht oder Freund oder Geliebter - betrachtet sie von einem anderen Gesichtspunkt und kommt zu einem entgegengesetzten Ergebnis, das für diesen anderen ebenso zweifelsfrei richtig ist. Es ist also unser Gesichtspunkt, unsere Betrachtungsweise, die die Wirklichkeit zu der macht, die sie ist. Im 19. Jahrhundert war die Idee des «Kampfes ums Dasein» der Mehrheit der Menschen des Westens bewußt. Die Staaten des kleinen Europa hatten den größeren Teil der Erde unterworfen und beuteten ihn rücksichts­ los aus; die Industrialisierung machte von Jahr zu Jahr Fort­ schritte; Kapitalisten beuteten Arbeiter, Arbeiter ihre Frauen, Familien ihre Kinder aus; Erziehung war ganz und gar daraufhin ausgerichtet, von Anfang an - nicht erst auf der Schule - jene Art patriarchalischer und autoritärer Strukturen zu etablieren und immer noch stärker zu befestigen, die die allgemeine Ausbeutung legitimieren. Industrialisierung und Kapitalismus führten zu im­ mer phantastischeren Gewinnen; sie funktionierten bewunde­ rungswürdig, und es war offensichtlich: was da funktionierte und immer noch weiter maximiert wurde, basierte auf Ausbeutung. Ausbeutung also muß sein; jeder ist des anderen Feind; jeder kämpft gegen jeden; je rücksichtsloser der Kampf, desto schneller der Fortschritt. Darwins Theorie vom «Kampf ums Überleben» samt jener Konzeption der Evolutionslehre, die wir alle noch auf der Schule gelernt haben, fügte sich zwanglos ins Bild. Wahrhaf­ tig: Sie wurde gebraucht - und die Wissenschaft lieferte sie. Heute ist deutlich: Die Idee der Evolution durch Kampf, Ver­ nichtung, Ausbeutung und durch das Überleben des Stärkeren ist eine Sache des Gesichtspunktes. Sie entsprach exakt dem Stand­ punkt der damaligen europäischen - zumal der englischen - Men­ schen. Heute wissen wir, daß das, was uns die Wissenschaft damals als parasitäre Ausbeutung erklärt hat, in Wirklichkeit sym­ biotische Kooperation ist. Wir wissen, daß es Parasiten in der Natur nur in Ausnahmefällen gibt, daß sie uncharakteristisch sind und daß im Gegenteil zur Idee der Evolution die symbiotische 140

Hilfe gehört: Daß die Mehrzahl der Lebewesen auf irgendeine uns unverständliche Weise «verstanden» hat, daß alles Lebendige zu­ sammenhängt und der Tod eines Partners - sogar eines feind­ lichen - oder einer Art immer auch eine Gefahr für alle anderen Partner und Arten und für das System des Lebendigen als Ganzes ist. Wir wissen, daß jene Art von Räuber-Beute-Beziehungen, von denen uns unsere Großväter, auch noch die Väter, beibringen wollten, sie seien «typisch für die Natur», Ausnahmen sind und daß es - verglichen mit den Milliarden kooperativer und symbio­ tischer Beziehungen - nur ganz wenige «mörderische» gibt, daß uns die «mörderischen» eben deshalb so aufgefallen sind, weil sie so selten sind, und daß gerade sie - wie es das Beispiel der großen Raubtiere deutlich macht - mit einer Noblesse und Vorsicht prak­ tiziert werden, die dem Menschen meist fremd sind. Wir haben verstanden: Der Mensch mußte das partnerschaftliche Verhalten, welches in der Natur dominierend ist, in ein räuberisches verfäl­ schen, um sein eigenes Verhalten rechtfertigen zu können. Damals hat die Wissenschaft den «Kampf uns Dasein» «gefei­ ert». Heutige Biologen wissen, daß Kämpfe in der Natur oft nur als Ritual angedeutet werden - offensichtlich etwa beim Kampf brün­ stiger Hirsche, miteinander konkurrierender Hähne oder in einer Kolonie von Pavianen: Sobald deutlich ist, wer der Stärkere ist, hört der Kampf auf - oder wird ins Spielerische abgebogen; der Schwächere wird nicht vernichtet; er zieht sich zurück. Das «Arrangement» ist häufiger als die Vernichtung - sogar bei Bakte­ rienkulturen, Korallenarten, bestimmten Vegetationsformen etc. Capra resümiert: «Übermäßige Aggression, Wettbewerb und zer­ störerisches Verhalten herrschen nur bei den Menschen vor und müssen eher im Zusammenhang mit kulturellen Werten behan­ delt werden, statt pseudowissenschaftlich als angeborene Natur­ erscheinung «erklärt» zu werden.» Ich referiere dieses Beispiel nicht nur deshalb so ausführlich, weil es das neue, für dieses Buch wichtige Bewußtsein kennzeich­ net, sondern gerade an dieser Stelle, weil es eklatant deutlich macht: Die Phänomene der Teilchenphysik sind nicht unbedingt auf den Mikrokosmos beschränkt. Auch in unserer angeblich so «objektiven» Wissenschaft ist «Schärfe» eine Relation des Ge­ sichtspunktes - oder des Bewußtseinsstandes. Wir sollten uns deutlich machen, daß dies sogar für die Religion und die Bereiche des Spirituellen gilt. Wir würden dann toleranter werden. An die Stelle der «Schärfe» als Ideal - denn das ist ja ein Ideal: man soll «scharf» nachdenken und «scharf» sehen (Schärfe 141

ist eine Eigenschaft des schneidenden und verletzenden Messers)träte die «Unschärfe», deren Sehweise nicht mehr Einzelheiten analysiert, aber dafür das Ganze in einer Weise «wahr» nimmt, die sich der «scharfen», ins Detail dringenden Rationalität entzieht. Betrachten wir also noch das Beispiel von Religiosität und Spiri­ tualität. Europäer beten zu einem Gott als dem christlichen - und er ist eben dies: Jesus Christus. Der Allmächtige Gott. Araber be­ ten zu einem Gott als dem Allah der Moslems - und er ist Allah. Der Allmächtige Gott. Inder beten zu Brahma - und er ist Brahma. Der Schöpfer. Der Allmächtige Gott. Das also ist er in jedem Fall: Der Allmächtige Gott. Es ist nicht möglich zu entscheiden, wer recht hat. Jeder hat recht. Und in jeder der drei Kulturen gibt es Menschen, die über jeden Zweifel hinaus erfahren haben, daß sie recht haben. Ist dies nun eine Relativierung? Geradezu eine Aufhebung des göttlichen Prinzips? Ist es nicht dessen Gegenteil? Die verbind­ liche Sicherheit, daß nicht etwa nur die gläubigen Menschen einer der genannten Kulturen - welcher auch immer - «recht» haben, sondern alle? Wir heben auch das Teilchen nicht auf, wenn wir es mal als Welle und mal als Materie betrachten. Das Teilchen i s t . Aber es ist auch abhängig von uns. In demselben Sinne ist Gott. Aber er ist auch abhängig von uns. Meister Eckehart und Angelus Silesius haben das gewußt: Gott ist nicht außerhalb von uns, er ist in uns. Die Entdeckung der Laserstrahlen hat die Holographie möglich gemacht - eine Art Photographie mit Laserstrahlen. Das Überra­ schende ist Folgendes: Keines der durch Holographie entstande­ nen «Bilder» läßt sich teilen. Wenn man es teilt, «springt» es so­ fort wieder ins volle Bild. Teilungen - Ausschnitte - lassen sich nicht erzielen. Auch das kleinere Format zeigt - lediglich ein we­ nig schwächer - sofort wieder das holos, das Ganze [όλος, griech. = ganz). Theoretisch kann man immer weiter teilen - bis in mikrokosmische Dimensionen, ein Ausschnitt gelingt nicht. Das Bild bleibt das Bild. Bis das Bild selber Elementar-Teilchen wird - was doch bedeutet: In jedem Elementarteilchen steckt das Ganze - das Universum. Buddhas Erkenntnis - die Erfahrung von Generationen von Zen-Meditierenden: «Alles ist Eins» - können die Holographie-Physiker bedenkenlos unterschreiben. Auch von dieser Seite her also gelangen wir an einen Punkt, der - im ersten Teil dieses Kapitels - von der Zeit her bereits sichtbar wurde: Physiker diskutieren heute die Frage, ob nicht die Psi-Phä142

nomene der Parapsychologie unter den Gesichtspunkten der Quantenmechanik «natürlich« erscheinen könnten - Phäno­ mene wie Präkognition, Materialisation, Dematerialisation, Sichtbarmachung der Aura, Telekinese etc. Wenn alles eins ist, stecken auch die entferntesten Dinge im Hier und Jetzt. Wolfgang Büchel schreibt unter dem Titel «Physik und Para­ psychologie» in der Zeitschrift «Psi und Psyche«: «Wenn auch eine Einordnung der Psi-Phänomene in die gegenwärtigen physi­ kalischen Kategorien nicht möglich ist, so sind doch gewisse Ana­ logien zwischen Parapsychologie und moderner Physik unver­ kennbar. Wie schon erwähnt, sieht sich die Quantenphysik mit der Tatsache konfrontiert, daß die Objekte der Mikrophysik sich nicht mehr eindeutig in die als grundlegend angesehenen Katego­ rien von Raum, Zeit und Kausalität einordnen lassen. Das hat einerseits Bestürzung und Kritik bei führenden «traditionellen» Physikern wie Einstein, Schrödinger, Planck, de Broglie und ande­ ren hervorgerufen: aber bis in die neueste Zeit hinein hat sich ge­ rade in der Auseinandersetzung mit dieser Kritik die Auffassung der Quantenphysik immer wieder bestätigt. Auf der anderen Seite hat die Entwicklung bei führenden Quantenphysikern, wie Jordan und Pauli, dazu geführt, Psi-Phänomene nicht mehr a priori als unmöglich abzutun, sondern unvoreingenommen ihre Tatsäch­ lichkeit zu prüfen und der durch sie bedingten erkenntnistheore­ tischen und naturphilosophischen Problematik Interesse entge­ genzubringen. Die Tatsache, daß bei Hellsehen und Präkognition die kategorialen Schranken von Raum und Zeit durchbrochen werden, kann jedenfalls nicht mehr als durchschlagender Ein­ wand gegen die Möglichkeit einer Einordnung der Psi-Phänomene in eine zukünftige physikalische Begrifflichkeit anerkannt wer­ den.« Resümee: Das, was uns eben noch als das Unerschütterlichste und Gesichertste erschien, ist illusorisch geworden - Zeit und Stoff. Dafür (und damit schließe ich an die beiden vorausgehenden Kapitel an) wurde uns eine neue, um so sicherere Erkenntnis ge­ schenkt - und ich gebrauche mit Absicht die Formulierung: sie wurde uns «geschenkt«: Kosmos und Erde, Anorganisches und Organisches, Pflanzen und Tiere und Menschen sind Schwin­ gung, und Schwingung ist Klang. Im zweiten Kapitel dieses Buches haben wir das alte Zen-Koan kennengelernt: 143

«Wenn du auslöschst Sinn und Ton was hörst du dann?» Jetzt können wir dieses Koan variieren: «Wenn du auslöschst Zeit und Stoff was hörst du dann?» Das ist die eigentliche Frage, um die es geht, und es ist besser - und aussichtsreicher -, sie als Koan zu lösen, als die Lösung von theo­ retischen Erwägungen zu erwarten. Was auf diesen Seiten gesche­ hen kann, ist nicht mehr, als die Frage bewußt zu machen, einen Anstoß zu geben. Was wirklich geschieht, geschieht nicht auf dem Papier. Es geschieht in uns. Man denke dem Wort von Dschuangtse nach, das diesem Buch als Motto vorausgestellt ist.

VII. Harmonie als Ziel der Welt

Wer Harmonielehre gelernt hat, weiß: Jede Disharmonie strebt danach, sich in eine Harmonie aufzulösen. Wenn nun die harmo­ nischen Verhältnisse in der Musik Abbilder und Spiegelungen sind der harmonikalen und mathematischen Verhältnisse im Planetensystem wie im Kosmos und Mikrokosmos, in der Biolo­ gie wie in all den anderen Bereichen, von denen wir gesprochen haben, dann muß auch außerhalb der Musik gelten: Jede Dishar­ monie strebt danach, sich in eine Harmonie aufzulösen. Ein dikkes Buch wäre erforderlich, um diese These durch all die verschie­ denen Bereiche zu verfolgen und darzustellen. Dieses Kapitel muß sich auf wenige Indizien beschränken. Was zunächst die Musik betrifft, so läßt sich ihre Geschichte auch unter dem Gesichtspunkt schreiben, daß sie eine ständige Entdeckung von Harmonien - von neuen harmonischen Mög­ lichkeiten und Wohlklängen - ist. Am Anfang menschlichen Mu­ sikempfindens wurden nur einstimmige melodische Linien als «wohlklingend» empfunden. Der erste Schritt in Richtung auf die Entwicklung zur Harmonie bildete die Entdeckung der Oktave. Im abendländischen Raum wurde er in der Zeit des Hellenismus getan. Er bedeutete die bahnbrechende Möglichkeit, den Ton der melodischen Linie mit einem weiteren Ton zu verbinden und darin Wohlklang zu empfinden. Darauf folgte die Entdeckung von Quinte und Quarte. Noch im Mittelalter galt die Terz als ausge­ sprochen mißtönendes - die mittelalterlichen Musiker meinten: teuflisches - Intervall. Die ersten Naturterzen (und übrigens auch Natursexten: die «umgekehrte» Terz!), die als Wohlklang verstan­ den werden können, finden sich um das Jahr 1300. Sie haben damals - zuerst in der englischen, später auch in der niederländi­ schen und französischen Musik - geradezu avantgardistisch gewirkt und wurden heftig diskutiert. Für uns Heutige ist die Terz ein Inbegriff konservativen Wohlklangs. Im Lauf des 15. Jahrhunderts setzte sich die Dur-Tonleiter durch - zunächst in der Form des aus dem System der Kirchenton­ arten abgeleiteten C-Modus, der sämtliche fünf «natürlichen» Konsonanzen enthält. Die stärkere Beliebtheit von Dur gegenüber 145

moll wird auch heute noch mit dem größeren Konsonanz-Reichtum der Dur-Tonleitern erklärt. Von Bach an läßt sich die ganze abendländische Musik-Ent­ wicklung interpretieren als ein immer entschiedeneres Entdekken von Wohlklängen in dem, was eben noch als «unharmonisch» und «mißtönend» empfunden wurde. Mehrfach in dieser Ent­ wicklung - auch bereits von Bach selbst, in seinem Hang zur Chromatik - wurde die Linie, die wir im IV. Kapitel zwischen die mehr konsonanten und die mehr dissonanten Klänge gezogen ha­ ben, überschritten. Schließlich - im 19. Jahrhundert - waren nur noch Sekunden und Septimen, vor allem kleine Sekunden und große Septimen als «Intervalle des Mißvergnügens» - übrigge­ blieben. Debussy hat auch in ihnen chromatischen «Wohlklang» gefunden - sogar im kritischsten dieser Intervalle, der kleinen Se­ kunde. Und auf den so besonders heiklen Tritonus kann bereits seit dem späten Beethoven, mindestens aber seit Richard Wagner nicht mehr verzichtet werden. Hindemith räumt ihm in seiner «Unterweisung im Tonsatz» eine Schlüsselstellung ein. Daß er sie auch im Jazz, zumal seit dem Bebop, besitzt, haben wir bereits erwähnt. In der Entwicklung der modernen Konzertmusik gab es während der fünfziger Jahre eine Situation, in der die Komponi­ sten nur noch in sogenannten Clusters - im gleichzeitigen An­ schlägen sämtlicher Töne über den ganzen Bereich der Tastatur hinweg - Mißklänge schaffen zu können meinten, aber sogar diese wurden nach einigen Jahren, zumindest ansatzweise, in «Wohlklang» verwandelt - etwa von dem polnischen Komponisten Pen­ derecki, dem Deutschen Bernd-Alois Zimmermann und vor allem von dem Ungarn György Ligeti - besonders in dessen Orgelwer­ ken. Seine «Volumina» sind ein wahrhaft bedrängendes Beispiel für die irisierende Schönheit, die aneinandergereihte kleine Se­ kunden auszustrahlen vermögen. György Ligeti über seine «Volu­ mina»: «Akkordik, Figuration und Polyphonie wurden verwischt und unterdrückt, bleiben aber unterhalb der klanglichen Oberflä­ che der Komposition, wie tief unter einer Wasserfläche, im Gehei­ men, doch wirksam. Es entsteht eine gleichsam leere Form. Es erwachsen Gestalten ohne Antlitz wie in Chirico-Bildern, gewal­ tige Weiten und Fernen, eine Architektur, die bloß aus Gerüstung besteht... Alles andere verschwindet in den weiten, leeren Räu­ men, den ‹Volumina› der musikalischen Form.» In diesen Zusammenhang gehört die seit der Entstehung der modernen Konzertmusik immer wieder aufgetauchte Frage, warum große Musik in allen Kulturen, in denen Musik eine Rolle 146

spielt - und das heißt: in allen -, sich auf ein vergleichsweise ge­ ringes Arsenal von Tönen beschränkt. Richard Norton hat an der University of Illinois in Chicago experimentell festgestellt, wie umfangreich das Reservoir von Tönen ist, die von menschlichen Ohren deutlich unterschieden wahrgenommen werden können: «Wir entdeckten, daß je nach Tondauer, Zeitabstand zwischen den Tönen und psychologischer Ermüdung der Zuhörer Musiker und Nicht-Musiker gleichermaßen bis zu weit über tausend ‹eben merkliche Unterschiede› (von den Akustikern JNDs (=just noti­ ceable differences] genannt) zwischen den Tönen, von den tiefsten bis zu den höchsten wahrnehmbaren, hören. Ein exaktes Experi­ ment ergab Unterscheidungen von 1378 ‹gerade noch merklichen Unterschieden› zwischen diesen musikalischen ‹Rohtönen›. Wir schließen aus diesem einfachen, aber vielleicht ermüdenden Experiment, daß das menschliche Ohr ein erstaunliches Organ mit Möglichkeiten ist, die musikalisch noch nie ganz realisiert worden sind. Denken wir an die Musik des Westens oder irgendei­ ner anderen Kultur, wird uns bewußt, daß wir als Musiker oder Musikhörer ziemlich träge sind, wenn es darum geht, mit dem riesigen Potential an Tonunterscheidungen, das das Ohr soeben vorgeführt hat, Musik zu machen. Selbst das moderne Klavier hat nur 88 Tasten, und das scheint sowohl die Komponisten als auch die Zuhörer vollauf zufriedenzustellen. Aber was sind (mehr oder weniger) achtundachtzig Töne von eintausenddreihundert? Müs­ sen wir nach Tausenden von Jahren Menschheitsgeschichte leicht verlegen zugeben, daß wir nur fünf Prozent dessen verwenden, was tonal nutzbar gemacht werden könnte, um Musik zu schaf­ fen? Warum haben wir es bei den zwölf Tönen der chromatischen Skala bewenden lassen, die wir in Oktaven genannten Reihen ... immer wieder verdoppeln, um das mit Bedeutung und Emotionen befrachtete Objekt zu schaffen, das wir als Musik bezeichnen?» Die Frage beantwortet sich zunächst einmal - wir haben davon gesprochen - aus der Gehördisposition des menschlichen Ohres. Aber sie beantwortet sich auch, insofern wir die «Musik», von der im IV. und V. Kapitel die Rede war - die «Musik» des Makro- und Mikrokosmos -, auf unsere menschliche Musik beziehen können (und müssen!). Wir wissen inzwischen: Musik ist mehr als Musik. Sie ist Kosmos und atomare Mikrostruktur, Erde und Fluß, Pflanze und Blattform, menschlicher und tierischer Körper - so weitgehend, daß der Komponist und Musikwissenschaftler Dane Rudhyar schreiben konnte: «Die physische Welt menschlicher Er­ fahrung gleicht einem ungeheuren Klangkörper.» Überall auf die­ 147

sem Klangkörper - diesem Instrument mit seinen wahrhaft kos­ mischen Dimensionen - gibt es die gleichen harmonikalen Pro­ portionen - und es sind diese Proportionen, die der Musik im en­ geren Sinn dieses Begriffes - der hörbaren Musik menschlicher Kulturen - zugrunde liegen und das Arsenal ihrer Töne definieren. Wo die Töne nicht genau getroffen werden, werden sie - in dem Sinne, in dem wir dies am Ende des V. Kapitels erklärt haben «zurechtgehört». Jene Bereiche, die nicht «zurechtgehört» wer­ den können, werden ausgeschieden. Das ist der Grund, so vermu­ tet Rudolf Haase, warum sogenannte Vierteltöne, die genau in die Lücken zwischen den «zurechthörbaren» Bereichen fallen, «sich in der Musik nie durchsetzen konnten». Was ist Tonalität? fragt Richard Norton. Und er antwortet: «Die Tonalität ist eine Entscheidung gegen das Chaos der Töne jener eintausenddreihundert JNDs, die wir im akustischen Labor ent­ deckt haben.» Will sagen: Musik ist nicht denkbar ohne einen Akt der Aus­ wahl: Aus der Fülle der «möglichen» Töne, aus dem, was Norton das «Chaos der Töne» nennt, werden - um eben das Chaos zu vermeiden - nur wenige gewählt, und zwar genau die, die es auch im Kosmos und in den organischen Formen der Natur gibt. Es ist jener Akt der Wahl, den wir im IV. Kapitel als Prärogativ des Gei­ stes kennengelernt haben. Man kann diesen «Akt der Wahl» auch, um einen Ausdruck der Atomphysik zu verwenden, als «Quantelung» bezeichnen. Wir - die Natur, der Geist - wählen in Quanten. Auch dies wird bereits am Monochord und an der Obertonreihe deutlich. Beim Hinauf­ gleiten des Fingers auf einer Saite erklingen bevorzugt nur ganz bestimmte Töne: «Die Natur trifft also von selbst eine Auswahl. Die Töne springen sozusagen von einer Stelle zur anderen - sie sind quantenmäßig und nicht kontinuierlich angeordnet . . . » (Kayser). Das Entsprechende geschieht auf einem ventillosen Horn. Es «ist dem Bläser schwer möglich, dazwischenliegende Töne rein herauszubekommen. Die Töne springen tatsächlich zuerst vom Grundton auf die Oktave, dann auf die Quinte, dann wieder auf eine Oktave usw.» Die Natur macht also nicht, «was wir wollen, sondern was sie selber will; denn ich kann mit meinem Finger noch so vorsichtig tasten - wenn er eine Stelle berührt, wo die Saite ‹nicht will›, ist alle Liebesmühe vergebens. Es ist also offenbar, daß die Natur aus­ wählt oder, wie wir auch sagen können, ‹normiert›...» (Kayser). 148

Kayser weist überdies darauf hin, daß sich Max Planck, der Schöpfer der Quantenmechanik der modernen theoretischen Phy­ sik, eingehend mit Monochordversuchen und akustischen Proble­ men beschäftigt hat. In einem 1893 veröffentlichten Aufsatz über «Die natürliche Stimmung in der modernen Vokalmusik» schreibt Planck: «Aus den diskreten Eigenwerten der Energie ergeben sich nach dem Quantenpostulat bestimmte diskrete Eigenwerte der Schwingungsperiode, ebenso wie bei einer gespannten, an den En­ den festgeklemmten Saite, nur daß bei der letzteren die Quantisie­ rung durch einen äußerlichen Umstand, nämlich durch die Länge der Saite, hier dagegen durch das in der Differentialgleichung sel­ ber enthaltene Wirkungsquantum bedingt wird.» Wilfried Krüger gelang es (und damit rundet sich das Bild), die temperierte Stimmung atomphysikalisch zu begründen. Es ist ja eine alte Streitfrage: Welche der verschiedenen möglichen Stim­ mungen ist die richtige? Und es hat sich eingebürgert, auf die «gleichschwebende Temperatur» herabzusehen, weil sie «künst­ lich» und «gewaltsam» und «mathematisch konstruiert» sei. Aber die Grundidee der temperierten Stimmung liegt in der Tei­ lung des Tonraumes in exakt gleiche Abstände, und diese Idee ent­ spricht der Quantenmechanik Max Plancks, wonach Wirkungen nur im Vielfachen einer kleinsten, nicht mehr zu teilenden Ein­ heit ausgelöst werden können. Der «Quantenmechanik» des Mi­ krokosmos entspricht also die «Quantenharmonik» der gleich­ schwebenden Temperatur. «Der Tonraum ist in Wirklichkeit ein Atomraum.» Erst durch die temperierte Stimmung wurde das Wunder der Modulation möglich. Erst durch sie können Transpositionen rei­ bungslos geschehen, - und wir wissen ja bereits: Überall im Uni­ versum gibt es die Möglichkeit der Transposition. Aber vor allem: Erst nach Einführung der gleichschwebenden Temperatur im 17. Jahrhundert kam es - in einem wahrhaft explosionsartigen Prozeß - zu jenem ungeheuren Aufschwung der abendländischen Musik, der zu den größten Phänomenen in der Geschichte des menschlichen Geistes zählt. Es ist wichtig zu sehen, daß die Tendenz zur Harmonie, die es in der Musik gibt, gleichsam nur eine Spiegelung derselben Ten­ denz außerhalb der Musik ist - durch nahezu alle Bereiche hin­ durch. Zitieren wir noch einmal George Leonard: «Im Jahre 1665 fiel dem holländischen Wissenschaftler Christian Huygens auf, 149

daß zwei Pendeluhren, die man nebeneinander an die Wand hängt, in genau demselben Rhythmus schlagen. Sie behalten diesen glei­ chen Pendelschlag bei, weit über das Maß hinaus, mit denen sich zwei Uhren mechanisch einander angleichen lassen. Es ist, als ob sie im selben Rhythmus schlagen ‹wollten›.» Dieses Phänomen - so weiß die Wissenschaft - ist universal gültig. Wenn zwei oder mehr Oszillatoren im selben Feld f a s t im gleichen Rhythmus pulsieren, neigen sie dazu, «einzurasten», so daß sie schließlich genau synchron schwingen. Man nennt die­ ses Phänomen Resonanz. «Resonanz ist so allgegenwärtig, daß wir sie ebenso wie die Luft, die wir atmen, kaum bemerken. Doch sie zeugt auf verblüffende Weise von der Tendenz zur vollkomme­ nen Harmonisierung des Rhythmus, der wir jedesmal begegnen, wenn wir zu den Wurzeln unserer Existenz Vordringen...» «Was es mit der Resonanz auf sich hat, das erfahren wir zum Beispiel, wenn wir mit den «vertikal» und «horizontal» bezeichneten Knöpfen eines alten Fernsehgerätes spielen. Diese Geräte ent­ hielten Oszillatoren zur periodischen Horizontal- und VertikalAblenkung des Elektronenstrahls, der das Fernsehbild erzeugt. Die Oszillatoren müssen mit den Signalen des Senders sehr genau im Gleichklang schwingen, sonst verschiebt sich das Bild seit­ wärts oder «läuft» vertikal. Indem man an zwei Knöpfen dreht, stellt man die Frequenz der Oszillatoren des Gerätes auf die Fre­ quenz der Oszillatoren des Senders ein. Zum Glück muß man dabei keine vollkommene Abstimmung erzielen. Wenn sich die Frequenzen nämlich einander annähern, dann gleicht sich die Frequenz der Oszillatoren des Gerätes mit einem plötzlichen Sprung der des Senders an, so als «wollten» sie im gleichen Takt pulsieren...» «Lebewesen sind insofern mit Fernsehgeräten vergleichbar, als auch sie Oszillatoren enthalten. Man könnte sogar sagen, daß Le­ bewesen Oszillatoren sind; das heißt, daß sie rhythmisch pulsie­ ren, beziehungsweise sich verändern. In dem Film «The Incredible Machine» gibt es einen elektrisierenden Augenblick, in welchem man zwei separate Muskelzellen des menschlichen Herzens durch ein Mikroskop sieht. Jede pulsiert in einem anderen Rhyth­ mus. Dann nähern sie sich einander. Bevor sie sich berühren, erfolgt eine sprungartige Veränderung ihrer Rhythmen - sie pul­ sieren plötzlich vollkommen synchron im gleichen Takt.» William Condon von der medizinischen Fakultät Boston hat gezeigt, daß diese «Harmonisierung» - wie man es genannt hat auch eintritt, wenn zwei Menschen ein gutes Gespräch miteinan­ 150

der führen. Plötzlich schwingen ihre Gehirnwellen synchron. Ja, Condon konnte sogar nachweisen, daß Studenten, die in einem Vortragssaal ihrem Professor zuhören, ihre Gehirnwellen weitge­ hend mit denen des Vortragenden «in-eins-schwingen» lassen. Nur wenn dies geschieht, wird die Arbeitsatmosphäre im Hörsaal als «gut» empfunden. In besonders beeindruckender Weise hat Leonard eine solche «Harmonisierung» bei den Auftritten bedeutender Prediger zwi­ schen Redner und Gemeinde beobachtet - etwa bei Martin Luther King, einem der größten und erfolgreichsten Prediger unseres Jahrhunderts. Eine Predigt kann erst dann als «gelungen» bezeich­ net werden - als «elektrisierend» und «mitreißend» und «begei­ sternd» -, wenn die Gehirnwellen der Zuhörenden mit denen des Predigers synchron schwingen. Ähnliche Beobachtungen konnten bei Mutter und Kind, bei Ehemann und Ehefrau, kurz in den verschiedensten mensch­ lichen Gruppen, in deren Beziehungen Harmonie erwünscht ist, gemacht werden. Ein anderer Wissenschaftler, Paul Beyers von der Columbia University in New York, hat menschliche Interaktionen in den verschiedensten Kulturen - bei Amerikanern, Eskimos, afrikani­ schen Buschmännern und den Eingeborenen Neuguineas - ge­ filmt und analysiert. In jedem einzelnen Fall hat er Rhythmusan­ gleichungen festgestellt. Und bei George Leonard lesen wir: «Es wurde von einer Synchronisierung der Herzschläge von Psych­ iater und Patient berichtet. Studentinnen, die eine Wohnung mit­ einander teilen, stellen manchmal fest, daß ihre Menstruations­ zyklen synchron oder annähernd synchron verlaufen... In der Musik wird das Wunder der rhythmischen Resonanz offensichtlich. Jede Geste und jede Mikrobewegung muß syn­ chron mit dem Pulsschlag der Musik erfolgen, wenn die Darbie­ tung nicht soll. Man beobachte die Mitglieder eines Kammermusikensembles - sie bewegen sich als Einheit, sie werden zu einem einzigen Kraftfeld. Wir haben uns an solche Wunder bereits gewöhnt: Die uner­ hörte Fähigkeit von Jazzmusikern, Tonhöhen und Tonbewegun­ gen während der Improvisation gleichsam ... Das Wunder entspringt weniger der Virtuosität einzelner ... als vielmehr der Fähigkeit eines großen Kollektivs... wie ein Körper zu empfinden, zu fühlen und sich zu bewegen.» Wie ein Körper zu empfinden und sich zu bewegen: diese Ten­ denz können wir auch bei großen Vogel- und Fischschwärmen be­ 151

obachten. Der Schwarm verändert sich ständig - und bleibt doch auf eine faszinierende Weise wohlgeordnet, in «harmonisch» wir­ kender Form. Jahrzehntelang nahm die Wissenschaft - dem funk­ tional-mechanistischen Denken des abendländischen Menschen entsprechend - an, es müsse in einem solchen Schwarm notwen­ digerweise ein «Leittier» geben. Heute weiß man: «Leittiere» gibt es allenfalls, wenn zwei oder drei Fische oder Vögel gemeinsam schwimmen oder fliegen. Wo eine größere Anzahl von Fischen oder Vögeln sich zusammen bewegen, wird der Schwarm selbst zum «Wesen». Professor Brian L. Partridge von der University of Miami, der das Tierverhalten in Fisch- und Vogelschwärmen jahrelang untersucht hat, schreibt: «In gewisser Weise ist der gesamte Schwarm der Führer, jedes Einzelwesen Teil der Gefolg­ schaft.» Der Schwarm gleicht «mehr einem einzelnen Organis­ mus als einer Ansammlung von Individuen». «Aller Wahrschein­ lichkeit nach weiß sozusagen jedes Mitglied der Schule, wohin sich die übrigen bewegen ... Zu dieser Hypothese paßt es, daß sie (die Mitglieder) niemals Zusammenstößen.» Die Befehle gehen vom Kollektiv als Ganzem aus, nicht von einem einzelnen Tier. Deshalb ist das Kollektiv «das Wesen» - und so, in der Tat, sind große Vogelschwärme einfachen, der Natur verbundenen Men­ schen seit je erschienen: als ein Wesen, das sich - sich ständig verändernd und doch in bestechender Weise «Form» wahrend am Himmel bewegt. Es lohnt sich in diesem Umfeld, dem Phänomen nachzuspüren, daß Zusammenstöße in der Natur tatsächlich unverhältnismäßig selten geschehen. Selbst im Gewühl eines Ameisenhaufens, eines Termitenbaus oder eines Bienenstocks, in dichten Bakterienkul­ turen, in den Blutbahnen des Menschen und der Säugetiere oder in den «kompakt» wirkenden Vogelschwärmen, die mit rasender Geschwindigkeit dahinfliegen und plötzlich - gleichsam «schlag­ artig» - ihre Richtung ändern, sind sie, gemessen an der Häufig­ keit des Phänomens «Zusammenstoß» unter Menschen, überra­ schend selten - so selten, daß gefolgert werden darf: Vor allem Menschen sind es, die zusammenstoßen und die durch ihre Art zusammenzuleben die Erscheinung «Zusammenstoß» zu einer Gefahr gemacht haben, mit der gerechnet werden muß. Auch die­ ser Tatbestand gehört unter das rubrum «Harmonisierung» und «Resonanz». Man hat Resonanz-Phänomene, «Harmonisierungen» und ver­ wandte Erscheinungen in den verschiedensten Bereichen ent­ deckt - in Architektur und Statik, in Elektrik und Akustik, in 152

Psychologie und Psychotherapie, in Biologie und Chemie, in Me­ dizin und Pharmakologie, in Physik und Astronomie. Harmonische Beziehungen einzugehen ist jedenfalls nicht nur das Ziel der Musik. Es ist das Ziel von Atomen und Molekülen, von planetaren Umlaufbahnen, von Zellen und Herzen, von Gehirnwellen und Bewegungen, von Fisch- und Vogelschwärmen, und vor allem: von Menschen. Sie alle - will sagen: der Kosmos, die Schöpfung - streben letztlich zur Harmonie, das heißt: Sie streben zum Klang - zum Nada Brahma! Die in diesem und in Kapitel V aufgezeigten Phänomene der Harmonisierung und Synchronisation können auch rhythmisch verstanden werden. Rhythmus ist «Harmonie in der Zeit». Wenn man von der «Rhythmisierung der Welt» gesprochen hat, so steht diese Rhythmisierung der «Harmonisierung» nicht gegenüber, sondern ergänzt sie. Ja, in der Rhythmisierung ist die Harmonisie­ rung schon enthalten. Gunther Hildebrandt, Direktor des Institutes für Arbeitsphy­ siologie an der Universität Marburg, schreibt: «Der Organismus ist nicht nur nach harmonikalen Prinzipien konstruiert, sondern er funktioniert auch mit ihnen.» Ähnlich Rudolf Haase: «Hat man doch festgestellt, daß die Rhythmik des menschlichen Orga­ nismus geradezu harmonikal funktioniert - also die Frequenzen von Puls, Atmung, Durchblutung usw., sowie deren Zusammen­ wirken. Es zeigt sich nämlich eine strenge Koordinierung dieser Rhythmen, die vorwiegend durch die Zahlen i bis 4 gekennzeich­ net ist, aus denen sich die Intervalle Oktave (1:2), Quinte (2:3), Quarte (3:4), Duodezime (1:3) und Doppeloktave (1:4) bilden las­ sen.» In anderem Zusammenhang weist Haase darauf hin, daß das Unterbrechen der Rhythmen im menschlichen Organismus mit ihren ganzzahligen Proportionen Krankheit zur Folge hat, so daß «insbesondere im Falle von Krebs eine völlige Regellosigkeit aller Rhythmen festzustellen ist und die Krebszelle offenbar ein Aus­ scheiden aus der zeitlichen Harmonie der Körperfunktionen bewirkt.» Auch Haase also nennt den Rhythmus «zeitliche Harmonie». Und es bleibt letztlich der Interpretation überlassen, ob wir die Zahlenverhältnisse, die wir in Kapitel V in so vielen Erscheinun­ gen der organischen und anorganischen Welt gefunden haben, als Harmonie oder als Rhythmus empfinden. Die Harmonie ist der Rhythmus i s t die Harmonie i s t der Rhythmus. 153

Rudolf Haases Ansprechen des Krebses als eines Zustandes chao­ tischer Rhythmen gewinnt um so größere Bedeutung, wenn man das Phänomen Krebs auf dem Hintergrund der Tatsache sieht, daß die Krankheit Krebs, die das einzelne Individuum hat, nur Aus­ schnitt eines viel umfassenderen krebsartigen Befundes ist, dem wir in der heutigen Welt allenthalben begegnen - in Gesellschaft, Städtebau, Ökonomie, Ökologie, Politik, Rüstung, im Gesund­ heitswesen und in Dutzenden von anderen Bereichen. Das krebs­ artige Wuchern ist ein Geisteszustand. Weil es im Kopf geschieht, produziert es in allen Gebieten, auf die das Bewußtsein des Men­ schen Einfluß hat, seinerseits Wucherungsprozesse. So sagen wir beispielsweise von einer Stadt, sie »wuchere wie ein Krebsgeschwür». Wer Lagos, São Paulo, Mexico City, Kal­ kutta, Djakarta, Tokio kennt, weiß, daß dies nicht nur eine Meta­ pher ist. Aber es gibt Beispiele für diese Wucherungsprozesse auch in kleineren Kommunen - in jeder zweiten oder dritten. Ein in der Bundesrepublik oft bemühtes Beispiel ist... aber nun scheue ich mich, den Namen der Stadt, an die ich denke, hierher zu setzen; ich denke: es wohnen Menschen dort - Menschen, denen ich dann sagen würde: Ihr wohnt in einem Krebsgeschwür. Und ich be­ merke: Wir haben den krebsartigen Wucherungen in unserem öf­ fentlichen Leben gegenüber die gleiche Einstellung wie gegenüber der Krankheit Krebs: Man vermeidet, darüber zu sprechen. Wer viel im Flugzeug unterwegs ist, kann beobachten, wie das krebsartige Wuchern der Städte und Vorstädte, der Industriege­ biete und Siedlungen die Erde wie eine Krankheit befallen hat: eine schorfartige, weißliche Kruste, die über die eben noch grünen Flächen kriecht. Noch offensichtlicher sind die krebsartigen Prozesse in der Ökonomie. Die Weltwirtschaft der 70er und 80er Jahre wird gera­ dezu beherrscht von ihnen. Das ist der Grund, weshalb die alten, erprobten ökonomischen Rezepte versagen und die Vorhersagen selbst der erfahrensten ökonomischen Fachleute, Politiker und Wissenschaftler sich fast immer als falsch erweisen. Prozesse, die einander nach den überlieferten, kausalen Erwägungen ausschlie­ ßen müßten, laufen aufeinander zu und steigern sich aneinander: wachsende Investitionen und trotzdem Arbeitslosigkeit. Oder: geringer werdende Kapitalmittel und gleichwohl wachsende In­ flation. Oder: Wachstum und gleichzeitig Schrumpfung. Das ge­ hört ja zum Wesen von Wucherungsprozessen: Sie können nicht gesteuert und auch nicht vorhergesagt werden. Sie wuchern ein­ fach. 154

Auch in den großen Industriekonzernen gibt es krebsartige Wu­ cherungsprozesse. Wer Berichte über den gigantischen Verwal­ tungsapparat der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel liest wie da jede einzelne Abteilung ständig neue Abteilungen gebiert und diese Unterabteilungen sich zu immer noch weiteren, neuen aufspalten, sich gegenseitig in Frage stellen, einander bekriegen und aufheben, so daß nicht einmal mehr die Chefs wissen, wie die Verwaltungsstrukturen ihrer eigenen Häuser funktionieren, und deshalb ständig neue Strukturen, Abteilungen, Organisationen und Organisationsformen einrichten der braucht nur ein paar Vokabeln auszutauschen, um aus der Beschreibung des bürokrati­ schen Wucherns in einer Verwaltung eine solche des Krebswucherns im menschlichen Körper zu machen. Aus erster Hand kann ich einen solchen «Wucherungsprozeß” in dem Haus schildern, in dem ich täglich arbeite, - einer südwest­ deutschen Rundfunk- und Fernsehstation, in der - zum Beispiel die Intendanz innerhalb weniger Jahre explosionsartig gewachsen ist - ohne Relation, ja durchaus im Widerspruch zu den übrigen Wachstumsprozessen im Haus -, so daß die Angestellten inzwi­ schen empfinden: Wir haben zwei Verwaltungen: die Intendanz und die eigentliche Verwaltung, und beide verwalten sich gegen­ seitig und haben so viel damit zu tun, daß die eben noch übersicht­ lichen Kommunikationswege im Hause blockiert wurden. Zum Beispiel gibt es nur noch eine Minimal-Kommunikation zwi­ schen Intendanz und den Programmabteilungen, - und dies trotz der Tatsache, daß Rundfunk- und Fernsehanstalten doch eigent­ lich nur deshalb existieren, um Programme zu produzieren. Kom­ munikation wurde ersetzt durch zahlreiche Formulare, mit denen Abteilungsleiter, Sachbearbeiter, Redakteure, Sekretärinnen oft viel stärker beschäftigt sind als mit ihrer eigentlichen Arbeit, Formulare, die in vielen Fällen, kaum daß sie ausgefüllt sind, in irgendwelchen Ablagen verschwinden. Computergeschriebene Schriftstücke und Tabellen, deren Sprache und Schreibweise die meisten Menschen nicht zu verstehen vermögen, wandern über die Schreibtische, als hätten sie ein Eigenleben, - als seien sie Ge­ spenster. Und Eingeweihte zwinkern einander - Einverständnis erheischend - zu: Schreib irgend etwas, es kommt ja doch nicht drauf an, mach dir nichts draus, wenn du es nicht verstehst, wir verstehen es auch nicht, die Prozesse, auf die es ankommt und die wir trotz allem auch selber gern erhalten wollen, steuern sich selbst; wer seinen gesunden Menschenverstand gebraucht, kommt ohnehin zurecht. Was sich also in Wirklichkeit abspielt, 155

ist genau jener Kampf zwischen der Wucherung und der Gesund­ heit, den wir aus dem Krankheitsbild des Krebses kennen. Ich bin sicher: Fast jeder, der im heutigen Berufsleben steht, kennt ähnliche Wucherungsprozesse. Es gibt die Krankheit Krebs nicht nur im menschlichen Körper; es gibt sie überall - was besa­ gen will: Wir können sie nicht bekämpfen, wenn wir sie nur im menschlichen Körper bekämpfen. Ich erinnere an den kyberneti­ schen Ausdruck «vernetzt». Der Krebs hat ein Netz aus Ursa­ chen - und dieses Netz reicht weit über das Medizinische hin­ aus. Bis in den Bereich des Bewußtseins. Eine Medizin, die im­ mer noch im Sinne des 19. Jahrhunderts kausal denkt - die meint, eine Krankheit müsse eine, und nur eine einzige, Ursa­ che haben, kommt, wie inzwischen offensichtlich ist, nicht wei­ ter. Wir müssen das «Netz» erkennen. Nicht nur das Krebs-Netz im menschlichen Körper, sondern das wuchernde Gewebe in un­ serem Bewußtsein. Die chaotischen Rhythmen. Ich habe Novalis zitiert: «Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem.» Die Erkenntnis, daß Krebs mit Störungen von Rhyth­ men, Resonanz, Schwingung und harmonikaler «Stimmigkeit» zu tun hat, ist nicht nur eine ästhetisch-philosophische. Sie liegt auf der Linie modernen kybernetischen Wissensstandes. «Harmonie als Ziel der Welt»: die fünf Worte, die über diesem Kapitel stehen, haben mit einer teleologischen (von griech. τέλος = Ziel) Idee - mit der Idee der Finalität - zu tun: die Harmonie ist das Ziel, und um dieses Ziel zu erreichen, muß sie wachsen. Wir haben unsere Überlegungen (im IV. Kapitel) mit der harmonikalen Struktur unseres Planetensystems, wie Kepler sie erkannt hat, be­ gonnen. Schon da wurde deutlich: diese Struktur war ein Ziel. Welche Vorstellung man auch haben mag von der Entstehung unseres Sonnensystems, offensichtlich ist, daß die Planeten, als sie eingefangen oder aus der Urmasse der Sonne herausgeschleu­ dert oder aus «kosmischer Urbrühe ausgebrütet» wurden, noch nicht in harmonikalen Bahnen um die Sonne gekreist sein kön­ nen. Sie haben diese Bahnen erst nach Millionen oder Milliar­ den von Jahren «gefunden», was bedeutet: die Harmonie der Bahnen war ein - schließlich erreichtes - Ziel. Und eben dies ist das Wunderbare: daß dieses Ziel angesichts Milliarden ande­ rer Möglichkeiten so - im genauen Sinne dieses Wortes - «ziel­ strebig» erreicht wurde. In die gleiche Richtung weist der anthropologische Befund. Ru­ dolf Haase konstatiert, «daß harmonikale Gesetze in der Anthro­ 156

pologie offensichtlich am häufigsten Vorkommen». Der Mensch muß zwar nicht das endgültige Ziel der Entwicklung sein, aber er ist insofern ein, wenn auch vielleicht vorläufiges, Ziel, als er in der Ära, in der wir leben, das am höchsten entwickelte Lebewesen ist, das wir kennen. Für uns also ist er das Ziel; wenn es einmal ein anderes geben wird, werden wir nicht mehr da sein. Und da ist nun auffällig: Es gibt zwar überall harmonikale Strukturen und Ge­ setze, aber je mehr sich die Entwicklung dem Menschen nähert, desto häufiger werden sie - bis schließlich der Mensch erreicht ist: Da sind sie am häufigsten! Die Harmonie also hat finale Quali­ tät. Sie ist Ziel. Wir können das in den verschiedensten Bereichen beobachten, - natürlich auch dort, wo das Wort «Harmonie« zunächst einmal angesiedelt ist: in der Musik. Wir haben gezeigt: Harmonien muß­ ten «entdeckt» werden. Das war ein jahrhundertelanger Prozeß, in dessen Verlauf verschiedene musikalische und harmonische Systeme gefunden, eine Weile bewahrt und wieder verlassen wur­ den, bis - um die Zeit Johann Sebastian Bachs - das im wesent­ lichen noch heute gültige «abendländische» System erreicht wurde, das sich in diesem Lichte als «Ziel» darstellt. Fast alle Kul­ turen und Völker übernehmen es ganz oder ansatzweise, sobald deren Musiker es kennenlernen. Man denkt oft, dies geschehe im Zuge einer - wenig wünschenswerten - «Verwestlichung», gar einer «Amerikanisierung» unter dem Druck amerikanischer PopMusik. Oberflächlich gesehen mag das stimmen, aber dahinter steht etwas ganz anderes: Die Musiker - und die Ohren! - der Welt begreifen den teleologischen Charakter des westlichen harmoni­ schen Systems. (Und sie tun das um so leichter, als die entschei­ denden Charakteristika dieses Systems, wie wir ausgeführt haben, ohnehin in aller Musik der Welt - gleichsam «keimhaft» angelegt sind.) Bleiben wir bei diesem Wort «Keim». In Keimen, Wurzeln, Samenkörnern, Knospen gibt es nichts Harmonikales. Erst wenn sich eine Pflanze entfaltet hat, steht die harmonikale Schönheit vor unseren Augen - in der Blattform und in der Blüte. Der Wachs­ tumsvorgang einer Pflanze führt es uns gleichsam ständig vor Au­ gen: Die Harmonie ist ein Ziel, nach dem gestrebt werden muß. Zur Idee des Ziels gehört die der Konstanz. Man erreicht ein Ziel - und dort bleibt man, wenigstens so lange, bis man sich für ein neues Ziel entscheidet. Im Periodischen System der Elemente sind diejenigen Elemente am wenigsten konstant - zerfallen also am ehesten -, die einen Überschuß an Protonen und Neutronen 157

haben, und dieser «Überschuß» bedeutet, harmonikal gesehen, daß die betreffenden Elemente Teilchen besitzen, die nicht - oder nur noch ganz entfernt - einer harmonikalen Struktur entspre­ chen,- sie haben gleichsam zuviel «leiterfremde» und »Dur-Drei­ klang-fremde» «Teilchen-Töne». Deshalb zerfallen sie in radioak­ tiven Prozessen, zielen also auf einen anderen, stabileren Zustand hin, und «stabiler» ist ihr Zustand dann, wenn er «harmonikaler» geworden ist. Je weniger harmonikal diese Elemente (zum Bei­ spiel Plutonium, Uran, Actinium, Thorium etc.) sind, desto radio­ aktiver sind sie, was übrigens auch bedeutet: desto gefährlicher sind sie für den Menschen. Je geringer die Harmonie in der atoma­ ren Struktur, desto größer die Gefahr für das Leben. Auch unser Krebs-Befund wies in diese Richtung. Wir werden am Ende dieses Kapitels sehen, welche wahrhaft erstaunlichen Konsequenzen die Idee der harmonikalen Finalität haben kann. Bevor wir aber in die­ ser Richtung weiterdenken, muß von der Gegenkraft, der Entro­ pie, die Rede sein. Der Harmonisierung entgegen steht der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik: Nicht die Harmonie - nicht Struktur, Ordnung, Differenziertheit - wächst, sondern im Gegenteil Unordnung und Chaos: die Entropie. Sie, so errechnen die Thermodynamiker, werde den Endzustand kennzeichnen, zu dem das Universum strebe, - zum Tod im niedrigstmöglichen Energiezustand: zum «Wärmetod» und zum Versinken in einem undifferenzierten «Wärmebrei». Immer häufiger allerdings stellt sich der Wissenschaft die Frage, warum denn - wenn die Entropie so unwiderstehlich wachsen soll - nicht längst schon der Endzustand des allgemeinen Chaos erreicht worden ist; ja, nach gewissen Rechenmodellen hätte er bereits vor Millionen von Jahren erreicht sein müssen. Zahlreiche Biologen haben sich zu ausgesprochenen Gegnern der Thermody­ namiker entwickelt, und in der Tat lassen sich die Erkenntnisse der Entwicklungslehre - die «einfache» Tatsache der Existenz des Lebens und seiner ständigen Differenzierung und Höherentwick­ lung - einerseits und die Entropie andererseits nur schwer mit­ einander vereinen. Die Gedankenkunststücke, mit denen die Thermodynamiker dies gleichwohl versuchen, wirken wenig überzeugend. In den Forschungen und Überlegungen von Jean E. Charon und den amerikanischen Physikergruppen in Princeton und Pasadena, über die wir in Kapitel IV gesprochen haben, spielt die Negentro158

pie eine bedeutende Rolle. Entropie - wie gesagt - bedeutet Verfall von Ordnung und Differenziertheit, Negentropie aber, die Nega­ tive Entropie, ist die ihr entgegenwirkende kosmische Kraft. Sie verheißt wachsende Ordnung und Differenzierung, eine stetige Höherentwicklung nicht nur des Lebendigen, sondern des Univer­ sums - sowohl des Mikro- wie des Makrokosmos. Wir haben davon gesprochen, daß sich das Elektron den erwähn­ ten Forschergruppen als die Urzelle des Geistigen darstellt und daß es im Bereich des Mikrokosmos der Erscheinung entspricht, die man in der Astrophysik das Schwarze Loch nennt. Beide Elektron und Schwarzes Loch so haben wir erkannt, sind ge­ kennzeichnet durch einen ganz und gar in sich gekrümmten Raum und eine entsprechend in sich gekrümmte Zeit, was bedeu­ tet, daß die Zeit der Elektronen und der Schwarzen Löcher unserer «materiellen» Zeit, die geradlinig von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft läuft, entgegengesetzt wirkt. Das aber wiederum impliziert: Wenn in der «materiellen» Welt die Entro­ pie wächst, muß in der Welt der Elektronen (und der Schwarzen Löcher) genau die entgegengesetzte Kraft wachsen - nämlich die Negentropie. Dort also wachsen Ordnung und Differenziertheit, es herrscht das Prinzip der Höherentwicklung (welche letztlich eine Höherentwicklung des Bewußtseins ist). Man hat bisher geglaubt, daß das Wachsen der Negentropie ein Charakteristikum des Lebendigen sei. Kein Zweifel - im Innern einer lebendigen Zelle, in den Genen und DNS-Molekülen wächst sie. Jetzt aber meint man zu wissen, daß dieses Wachsen ein viel umfassenderes Prinzip ist: ein Prinzip der Elektronen und der Photonen. Es kann keinesfalls auf die Welt des Lebendigen be­ schränkt werden. Charon schreibt: «Erst wer diesen Standpunkt eingesehen und akzeptiert hat, beginnt auch zu verstehen, wie das geistige Niveau des gesamten Kosmos sich progressiv erhöht: dies geschieht im Durchlauf vieler aufeinander folgender 'Lebens­ erfahrungen- der elementaren Materie, die für mehr oder weniger kurze Zeitspannen einmal dem Mineralischen, dann wieder dem Lebendigen oder dem Denkenden angehört und den im Zuge die­ ser sukzessiven Lebenserfahrungen angesammelten Informa­ tionsschatz nie wieder verlieren kann.» Charon hat gezeigt, daß «Erkenntnis, Liebe, Reflexion und Tat» die «Hauptachse» der geistigen und psychischen Entwicklung des Universums darstellen. Er sagt: «Alles in allem stehen dem Geist neben den vier materieabhängigen Möglichkeiten der Wechsel­ wirkung (starke, schwache, elektromagnetische und gravitative 159

Wechselwirkungen) noch vier ‹psychische› Möglichkeiten der Wechselwirkung (Reflexion, Tat, Erkenntnis und Liebe) zur Verfü­ gung. Die vier erstgenannten stehen unter dem Gesetz nicht ab­ nehmender Entropie, die vier letztgenannten unter dem Gesetz nicht abnehmender Negentropie.» Die Elektronen - gemeinsam mit den Photonen, die in ihnen und um sie herum wirken - steuern Erkenntnis, Reflexion, Tat und Liebe durch Matrizen, welche etwa denjenigen entsprechen, die der Idee des Computers zugrunde liegen - wozu Charon an­ merkt, «daß die Analogie zwischen dem Denken des Elektrons und dem ‹Denken› des Computers so groß ist, daß das Elektron seine schöpferische Phantasie nicht besonders anstrengen mußte, um uns die Grundprinzipien des Computers zu suggerieren!» In der «Ur-Matrix» noch nicht differenzierter und «beeindruckter» Elektronen, die es am Anfang der Geschichte des Universums ge­ geben haben muß, als noch nichts oder kaum etwas geschehen war, was gespeichert werden konnte, bestanden die Zellen der Ma­ trizen aus einem Wechsel von Zuständen, die man jeweils durch die Zahlensymbole 0 und 1 bezeichnet hat. Jene Stellen, an denen sich kein Photon befindet - wo also noch nichts gespeichert ist werden mit dem Zahlensymbol o gekennzeichnet, die Stellen, an denen es Photonen gibt, zeigen diese in ihrem Grundzustand, das heißt mit dem spin 1; sie werden dementsprechend mit einer 1 bezeichnet. Die «Ur-Matrix» wird natürlich um so differenzierter, je mehr Informationen gespeichert werden. Erkenntnis und Tat schaffen zusätzliche Differenziertheit, das heißt: Immer mehr Zellen der elektronischen «Ur-Matrix» werden von Photonen be­ setzt, und diese Photonen steigern sich zu immer höheren spinZuständen. Ihre höchstentwickelte Differenzierung findet die spin-Matrix durch Liebe. Zur Liebe gehört nicht einfach Kommunikation zwi­ schen zwei beliebigen Elektronen. Ich darf erinnern: Elektronen, die einander nichts zu geben haben, können auch nicht miteinan­ der kommunizieren, das heißt sie können einander nicht «he­ ben». Ein Elektron zum Beispiel, das bisher nur in mineralischen Stoffen gewirkt hat, und ein anderes, das bereits in tierischen oder gar menschlichen Körpern «anwesend» war, sind so weit vonein­ ander entfernt, daß jene eigentümliche Affinität, die wir Liebe nennen und die in der Tat der Liebe zwischen Lebewesen ent­ spricht, zwischen ihnen nicht möglich ist. «Liebe» zwischen Elektronen ist um so intensiver, je differenzierter die spin-Matrizen der beiden einander «liebenden» Elektronen sind, je stärker 160

also sich diese Matrizen «ineinander verhakein» können. Liebe hat auch in der Welt des Mikrokosmos mit gegenseitiger Bereiche­ rung und mit einem Wachsen an seelischer Information zu tun. Der Evolutionstendenz der Elektronen entspricht die mensch­ liche. Wir alle spüren, gleich welcher Kultur und welchem Bil­ dungsstand wir angehören, daß wir um so «richtiger» leben, je mehr wir unser Leben in den Dienst von Erkenntnis und Liebe stellen. Die Evolution hat uns in diesem Sinne «programmiert». Allerdings hätte ich eben nicht von «Entsprechung» reden sollen. Genaugenommen gibt es keine Entsprechung. Wir sind unsere Elektronen. Charon: «Mein Denken ist das Denken meiner Elek­ tronen, es herrscht also nicht bloß Analogie, sondern Identität.» Man darf sich die elektronische «Ur-Matrix» - also den Raum innerhalb eines Elektrons - als ein System aus Waben vorstellen. Jede einzelne Wabe ist entweder «leer» oder sie enthält ein Photon - mit der den Photonen eigenen Tendenz zur Erhöhung ihrer spin-Zustände. Die Tatsache, daß die Elektronen dem Mi­ krokosmos angehören, also unvorstellbar klein sind, hindert nicht daran, daß ihre Speichermöglichkeiten gleichwohl unvor­ stellbar groß sind. Man bedenke die Dichte der Masse im Innern eines Elektrons! Wir haben davon gesprochen, daß sie derjenigen der Schwarzen Löcher entspricht, also der Masse der Sonne, kon­ zentriert auf ein Objekt von etwa 6-10 Kilometern Ausdehnung. Man bedenke auch ihre Temperatur - Millionen, oft gar Milliar­ den von Grad! Und dann ihre Anzahl! In einem Kubikmeter Luft sind mehr Elektronen enthalten, als es Sterne im Universum gibt. Wie gesagt, ein Mensch von 60 Kilo Gewicht besteht aus einer Zahl von Elektronen, die durch die Ziffer 4 gefolgt von 28 Nullen darstellbar ist. In ihnen allen gibt es Speicherungsmöglichkeiten, die ein Millionenfaches dessen betragen, was in unserem norma­ len Raum vorstellbar ist. Vorstellbar ist ohnehin nichts. Auch die Bienenwaben sind eine Hilfskonstruktion; in einem in sich selbst zurückgekrümmten Raum ist keine Struktur denkbar, die den Vorstellungen des dreidimensionalen menschlichen Raumes ent­ spräche. Die Waben müssen viel dichter, viel vielschichtiger, viel komplexer sein, als sie es je in einem Bienenstock sein könnten. Noch ungeheurer werden die Möglichkeiten der Speicherung auch deshalb, weil die Photonen die Masse Null haben, es also praktisch unbegrenzte Photonen-Möglichkeiten in der - anderer­ seits - so unvorstellbar dichten Elektronen-Masse gibt. Man denke der Anzahl der Elektronen nach, die wir genannt haben. Eine einfache, von Charon ausgeführte, Berechnung macht 161

deutlich, daß jeder von uns noch im Jahre 1985 mit jedem Atem­ zug ein paar Dutzend der Elektronen ein- oder ausatmet, die - zum Beispiel - Julius Cäsar im Jahr 44 vor Christus im Augenblick sei­ ner Ermordung mit seinem «letzten Seufzer» ausstieß. Wenn wir davon ausgehen können, daß ein Elektron speichert, was sich von Anbeginn des Universums an ereignet hat, so betrifft das also nicht irgendwelche Elektronen, die fern von uns durch den Kos­ mos schwirren. Ein paar dieser «ältesten» Elektronen stecken in jedem von uns. Und jeder besitzt folglich Elektronen, die - ich möchte auch das noch einmal bewußt wiederholen - in Jesus oder Buddha oder anderen großen heiligen und wissenden Menschen der Geschichte gewirkt haben und durch sie mit Photonen-Information, Photonen-Erkenntnis und Photonen-Liebe aufgeladen wurden. In jedem von uns arbeiten aber natürlich auch Elektro­ nen, die in Hitler und Stalin, in Himmler und Eichmann und den großen Verbrechern der Menschheitsgeschichte gewirkt haben und von ihnen programmiert wurden. Wahrhaftig, auch unter die­ sem Gesichtspunkt kommen wir der Erkenntnis der Wissenden Asiens und des alten Ägyptens näher: Alles ist eins - derselben Erkenntnis, die auch die Bootstrap-Physik und die Holographie und die anderen Phänomene, von denen wir gesprochen haben, nahelegen. Strapazieren wir weiter unser Vorstellungsvermögen: In jedem der Millionen von Matrizenkästchen, die das Elektron bilden, ih­ rer Millionen von Waben, sofern sie «gefüllt» sind - und je weiter die Zeit fortschreitet, je mehr Information angesammelt wird, de­ sto mehr von ihnen sind «gefüllt» -, befindet sich ein Photon jedes mit seinem eigenen spin, und alle diese spins schwingen miteinander in den ganzzahligen Verhältnissen der Obertonreihe! Das also ist das Ur-Muster des Geistes -, das Ur-Muster von Er­ kenntnis, Reflexion, Tat und Liebe: ein gewaltiger Akkord - «ge­ stimmt» sozusagen auf den «Grundton» des Planckschen Wir­ kungsquantums. Die der Entropie entgegenwirkende Negentropie wächst nun aber nicht nur dadurch, daß die spin-Matrizen der Elektronen durch Erkenntnis, Tat, Reflexion und Liebe immer differenzierter werden. Sie wächst auch insofern, als die Anzahl der Schwarzen Löcher - und, nach bestimmten Theorien, der Elektronen im Kos­ mos - ständig wächst. Die Astronomen sind schon lange der Mei­ nung, daß die Schwarzen Löcher mit ihren der Entropie entgegen­ gerichteten Zeitabläufen im Laufe der Entwicklung zahlreicher werden. Ihr Auftreten kennzeichnet ein Spätstadium, ja, es gibt 162

eine kosmologische Theorie, nach der alles, was in die Nähe eines Schwarzen Loches gerät und von ihm angesaugt werden kann, auf Nimmerwiedersehen verschwindet und in einer «Gegenwelt» wiederauftaucht. Man kann ein Schwarzes Loch als das Embryo eines neuen Universums sehen, - eines Universums der Negen­ tropie: des Geistigen! Jean E. Charon hat die allgemeine Relativitätstheorie Einsteins zu einer «Komplexen Relativitätstheorie» weiterentwickelt. Das aus ihr errechnete Modell des Endzustandes unseres Universums postuliert, daß am Ende der Zeit «keinerlei Materie mehr übrig­ bleiben wird, zumindest nicht in der Form, wie wir heute Materie definieren - das heißt in Form mehr oder minder großer Zusam­ menballungen von Kernteilchen (Protonen und Neutronen). Es werden nur Elektron-Positron-Paare bestehen bleiben, die in schwarzer Strahlung mit einer konstanten Temperatur von etwa 60000 Grad ‹baden›...»: «Hier sind wir an einem hochinteressan­ ten Punkt angelangt: das ‹Jüngste Gericht› wird nicht über aus Materie bestehende Wesen hereinbrechen, denn solche wird es dann nicht mehr geben. Am Ende der Zeiten werden nur noch Elektronen und Positronen anzutreffen sein.» Die Elektronen aber, die Träger des Geistes, werden bis dahin in einem unvorstellbaren Maße Information gespeichert haben und durch Erkenntnis, Tat, Reflexion und Liebe aufgeladen sein. Um «Taten» vollführen zu können, müssen die Elektronen sich bewegen können. Sie brauchen dazu ein bestimmtes thermisches Milieu von ausreichend hoher Temperatur. Dieses Milieu können sie im derzeitigen Entwicklungszustand des Universums nur in sehr begrenztem Maße schaffen, indem sie die Topologie des Rau­ mes verändern. «Am Ende der Zeiten aber wird dieses für die Elek­ tronentaten unentbehrliche Milieu durch die Evolution des mate­ riellen Universums geschaffen worden sein: Die Elektronen werden nach Belieben darüber verfügen - und sich daher ungehin­ dert an jeden Ort des Universums begeben können. Wie sehr ver­ setzen die Mechanismen der Natur uns doch immer von neuem in bewunderndes Staunen!» «Das Endziel der Evolution ... ist also ein Zustand, in dem das Universum vom Volk der denkenden Elektronen ... bewohnt ist, die jedes ein Mikrouniversum einschließen, dessen Negentropie sich über die gesamte Lebenszeit des Universums der Materie hin­ weg unaufhörlich erhöht hat.» Es kann jedenfalls keine Rede mehr davon sein, daß die Entropie der Thermodynamiker das alleinige Sagen hat. Sie hatte es nur so 163

lange, als es eben nur die Thermodynamiker mit ihrem dedukti­ ven, allein an materiellen Prozessen orientierten Denken waren, die das Sagen hatten. Sobald das «Geistige» als eine eigene Weltoft sogar als eine «Gegenwelt» - neben die materielle tritt, mit ihrem eigenen «zyklischen Prozeß immerwährender Rückkehr der Zeit», wird deutlich: Mit fortschreitender Entwicklung muß sich im kosmischen Wettlauf zwischen Entropie und Negentropie die Waagschale zugunsten der letzteren senken. Und desto klarer ergibt sich, daß die Überschätzung der Entropie - ihre nachgerade alleinige Berücksichtigung - ein Musterbeispiel par excellence ist für die Fehlleistungen einer allein am analytischen Denken und an der Materie orientierten Wissenschaft, die auf beiden Augen blind ist, sobald negentropische, geistige und psychische Kräfte in ihren Gesichtskreis treten - obwohl diese mindestens ebenso offensichtlich für uns alle sind wie die materiellen. Zusammenfassend nochmals das Entscheidende stärker her­ ausgearbeitet: Alle Vorgänge, von denen wir gesprochen haben die wachsende Differenzierung und Höherentwicklung der Elektronen-Matrizen, ihre Taten, Reflexionen, Erkenntnisse und Lieben und ihre zyklischen Zeitabläufe, die ständige Höherent­ wicklung des Bewußtseins nicht nur des Lebens, sondern des Uni­ versums -, werden durch Photonen und ihre spins gesteuert, das heißt - und das ist der eigentliche Grund, warum ich in diesem Kapitel über das Wachsen der Harmonie noch einmal darauf zu­ rückkommen mußte - durch harmonikale Progressionen. Ja, fol­ gendes kosmologisches Modell rückt in den Bereich des Mög­ lichen: Wir haben gesehen, daß jeder spin ein Ton der Obertonleiter ist. In jedem spin sind alle vorhergehenden ganzzahligen spins mit­ enthalten - wie ja auch in jedem Ton der Obertonreihe alle anderen Töne mitenthalten sind. Nach dem kosmologischen Modell der Komplexen Relativitätstheorie ist denkbar, daß erst am Ende der Zeit-ein Zustand, der nach den Berechnungen Charons in etwa 20 Milliarden Jahren erreicht sein wird- alle spins die höchsten spinZustände erklommen haben. Das eben ist der Prozeß der Differen­ zierung und Höherentwicklung: je höher die spins, desto höher die Bewußtseinszustände. Gewiß gibt es schon jetzt Photonen mit spins der höchsten Kategorie, aber doch eben nur wenige. Auch so also läßt sich die Evolution sehen, daß, je weiter sie fortschreitet, desto mehr spins auf der höchsten Sprosse der spin-Leiter anlan­ gen und daß das Ende der Entwicklung erreicht sein wird, wenn alle spins auf der höchsten Sprosse der Leiter angekommen sein werden! Teilhards «Punkt Omega» - das Erreichen des höchsten 164

kosmischen Bewußtseins - also als harmonikaler Prozeß? Als «Erklimmen» der Obertonleiter? Man beachte die Fragezeichen. Es ist zu früh, all dies zu postulieren, aber fragen müssen wir, denn die Entwicklung der Teilchenphysik und speziell der Kom­ plexen Relativitätstheorie von Charon weist in genau diese Rich­ tung. Immer wieder verwenden wir den Begriff «harmonikal». Für uns alle war er ursprünglich bezogen auf die Harmonik der Musik, in einem gewissen Sinne sogar auf die Harmonielehre; das legt schon die sprachliche Bildung «harmonikal» nahe. Aber ist nicht längst schon, spätestens seit dem Schluß unseres IV. Kapitels, ein Punkt erreicht, an dem das Wort «harmonikal» differenziert werden muß? Der Kosmos bis hinein in die Tiefen der Pulsare und Schwarzen Löcher, die atomare Welt bis hinab zu den Elektronen und Photonen, die Welt, in der wir leben, Pflanzenblätter, Tierund Menschenkörper und die Mineralien - das alles soll nach den Gesetzen der musikalischen Harmonielehre strukturiert sein und in ihr schwingen? Ist nicht eher anzunehmen, daß es sich umge­ kehrt verhält: daß die Harmonik der Musik nach den Strukturge­ setzen unserer Welt und des Makro- und Mikrokosmos gebildet wurde? Wirkt also nicht der Ausdruck «harmonikal» gar zu ein­ engend, gar zu sehr auf die Musik bezogen? Kein Zweifel, das Wort « harmonikal» muß im Sinne dieses Kapitels verstanden werden, - nicht nur als die Strukturiertheit der Welt nach den Gesetzen musikalischer Harmonik, sondern als ein Wachsen der Harmonie im gesamten Kosmos, wobei das Wort «Harmonie» in seinem wei­ testen Sinne zu fassen ist, einem Sinn, der sich ebensosehr an «harmonischen» Beziehungen orientiert, wie sie unter Menschen wünschenswert sind, wie an der Harmonik der Musik oder der Photonen-spins. Diese Interpretation macht «Harmonie» - etwa diejenige menschlicher Beziehungen - zu einem Auftrag an uns alle. Je stärker wir diesem Auftrag gehorchen, desto entschiedener sind wir auf dem Weg zu dem «Ziel», das in diesem Kapitel deut­ lich wurde - zu einem «Finale» (was ja ein musikalischer Aus­ druck ist] von wahrhaft kosmisch-musikalischer Dimension. Mehrfach haben wir in diesem Buch von der jahrtausendealten Erkenntnis der Weisen Asiens gesprochen - jener Erkenntnis, die durch Bootstrap-Physik, Komplexe Relativitätstheorie, Hologra­ phie und durch so viele andere Entdeckungen bestätigt wird: «Alles ist Eins» - oder wie es in den Upanischaden heißt: «Der Geist, der hier unten im Menschen ist, und der Geist, der dort in 165

der Sonne ist, ist in Wahrheit nur ein Geist und es gibt keinen anderen.» Die harmonikale Struktur des Universums - letztlich das, was die beiden Worte Nada Brahma sagen wollen - ist das sinnfälligste und am meisten überzeugende Indiz für die Einheit der Welt, das sich dem forschenden Menschen mit seinem be­ grenzten Wahrnehmungsvermögen erschließen kann. Darüber hinaus führt nur noch ein einziger Weg, - der Weg, den die Wissen­ den des Ostens und der Mystik gewiesen haben und weiter wei­ sen: die Einheit selber zu erfahren. Nada Brahma selber zu hören. «Wenn du auslöschst Sinn und Ton, was hörst du dann?» Du hörst Ur-Klang, du hörst Nada Brahma. Irgendwann - in irgendei­ nem Stadium auf dem Wege zum Ziel - wirst du es hören. Denn wir haben ja gesehen: Nada Brahma ist da - auch unter den Ge­ sichtspunkten der westlichen, rationalen Wissenschaft. Muß es nicht irgendein Sensorium geben, das all diese Klänge, von denen das Universum erfüllt ist, wahrnehmen kann? Warum sollten sie sonst klingen? Musik - und das ist unlösbar mit ihr verbunden wird für Ohren gemacht, seien es auch Ohren, die das überschrei­ ten, was links und rechts an unseren Köpfen gewachsen ist. Un­ sere «Ohren» - nunmehr in Anführungszeichen - müssen ihre Grenzen überschreiten, denn auch die «Musik», von der hier die Rede ist, überschreitet. Wer Ohren hat zu hören, der höre!

VIII. Sound im Bauch Über «die» Klang und «die» Echo, über Amen und OM

Nada Brahma: die Welt ist Sound. Mehrfach mußten wir dieses englische Wort gebrauchen. Sound hat - ähnlich dem indischen nada - eine breitere Bedeutung als das deutsche Wort Klang. Es umfaßt Hörbares schlechthin, tönt auch hinüber in den Bereich des Geräusches. Auch impliziert es Klangvorstellungen, die durch das deutsche Wort Klang zwar lexikalisch, aber nicht gefühlsmä­ ßig abgedeckt werden. Das Wort Sound ist in den vierziger und fünfziger Jahren aus dem Bereich des Jazz in den Sprachgebrauch der westeuropäischen Völker gedrungen. Wie so viele Begriffe und Phänomene des Jazz wurde es von den Rock-Freunden übernommen - in einem jener durch die Medien lancierten Prozesse, der dazu führte, daß dem jungen Rockpublikum gar nicht bewußt wurde, daß Wort und Sache aus dem Jazz stammen. Sound wird im Vokabular von Jazz und Rock in leicht abgewan­ delter Bedeutung gebraucht. Ein Jazzmusiker muß Sound haben einen ganz persönlichen Sound, an dem er schon nach wenigen Takten erkennbar ist. Eben darin unterscheidet sich das Klang­ ideal des Jazz von dem der europäischen Musik: hier gibt es - im Grunde und cum grano salis-für alle Musiker eines Orchesters in einem bestimmten Stilbereich ein verpflichtendes Klangideal; im Jazz aber muß ein Musiker, wenn sein Spiel wirklich etwas bedeuten soll, seinen unverwechselbar individuellen Sound ha­ ben. Wynton Marsalis - Trompeter von Weltklasse in beiden Be­ reichen, sowohl in der klassischen Musik wie im Jazz - sagt: «Im Jazz muß man, um gut zu sein, ein Individualist sein - was in der klassischen Musik nicht notwendigerweise der Fall ist.» Nicht zufällig habe ich im ersten Satz der eben formulierten Gegenüber­ stellung das deutsche Wort Klang, im zweiten das englische Sound verwendet: dies, in der Tat, ist der Punkt, an dem sich die beiden Worte für das Sprachgefühl junger Menschen unterscheiden. 167

Klang ist viel stärker mit abendländischer Tradition, Sound stär­ ker mit dem Lebensgefühl heutiger junger Menschen besetzt. Noch deutlicher wird dies, wenn Sound auf eine Gruppe bezogen wird: im Rock und in der Popmusik. Im Jazz hat der Einzelne sei­ nen persönlichen Sound; im Rock hat eine Gruppe - also eine Ge­ meinschaft - ihren (so jedenfalls ist es wünschenswert) unver­ wechselbaren Gruppen-Sound. Klang ist mehr männlich besetzt, Sound mehr weiblich. Der Klang wächst, erhebt sich, sucht dich, erreicht dich, dringt ein ... Sound aber - zum Beispiel der Sound einer Rock-Gruppe - ist ein Körper, der ein musikalisches Geschehen in sich aufnimmt und von dem der Hörer seinerseits aufgenommen wird. Es gibt RockSounds, von denen es heißt, sie seien «so groß wie eine Kathe­ drale». Indem der Hörer sie hört, befindet er sich in einem Innen­ raum. Wenn eine Rock-Gruppe einen wirklich originellen und eigenen Sound hat, dann ist alles, was sie spielt, im Grunde nur «Variation über den Sound». Um es überspitzt auszudrücken: Der Klang bringt seinem Hörer eine Melodie. Aber die Melodie bringt dem Hörer den Sound. Ein Mantra ist also viel mehr ein Sound als ein Klang. Es ist - wie die «Kathedrale» des Rock-Sounds - ein Raum, in dem der Meditierende fortan lebt und den er, wo immer er sich aufhalten mag, mit sich trägt. Der «Klang», der nada, von dem dieses Buch handelt, ist also eigentlich mehr der weibliche Sound als der männliche Klang. Daß wir uns mit diesen Gedanken auf der richtigen Fährte be­ finden, macht die Neutralisierung des Wortes Echo deutlich. Wir sagen im Deutschen «das» Echo - aber daß das Echo weiblich ist empfangend, aufnehmend, antwortend, reagierend -, daß es also «die» Echo heißen müßte, sollte jeder, der Sprachgefühl besitzt, nachempfinden können. Bei den Griechen war Echo denn auch ein weibliches Wesen, d i e Nymphe Echo - mit der beneidenswer­ ten Fähigkeit, jeweils das letzte Wort zu behalten. In der Tat ist das Echo so offensichtlich weiblich, daß selbst unser patriarchalisch­ männlicher Sprachgeist es beim besten Willen nicht maskulinisieren konnte. So hat er «die» Echo wenigstens neutralisiert. In dieser grammatischen Kleinigkeit - in «der» Klang und in «das» Echo - steckt das ganze Problem der Klangneurose der west­ lichen Menschheit. Von ihr wollen sich die jungen Menschen heute befreien. Verständlich deshalb, daß die Neurose nachgerade umgeschlagen ist in eine Verherrlichung des Sounds, wie sie vor allem im Rock gefeiert und von der Musikindustrie merkantilisiert wird. 168

Es ist aufschlußreich, der Etymologie der beiden Worte Sound und Klang nachzuspüren. Sound hängt mit dem deutschen Wort Ton zusammen, wie sofort ersichtlich wird, wenn man die franzö­ sische Form dieses Wortes beachtet: Son, das auf dem Wege über die der Sprachforschung geläufige Vertauschung von T und S auf das lateinische tonus und das griechische tónos zurückgeht, aus dem eben auch das deutsche Ton entstand. Sound ist eine Anglisierung von Son. Deshalb gehört auch der Song, das Lied, in den etymologischen Umkreis des Sound - wie das alte Sanskrit-Wort sangeet, das in Indien die ursprüngliche Einheit von Sprache, Ge­ sang, Tanz und Musik - ähnlich der griechischen musiké - be­ zeichnet. Arnold Wadler vermutet, daß tonos, Ton, son, sound, song, sangeet sogar in einen noch größeren Sprachzusammenhang gehören, der auch das Wort Sonne miteinbezieht! Goethes «Die Sonne tönt» also als Pleonasmus! Im Deutschen ist Sound nirgendwo so offensichtlich präsent wie in gesund - was ja, wenn man der Sprache nachhorcht, sagen will: Der ist ge-sund, der «im Sound» ist. Man sollte dieser Ver­ wandtschaft von Sound und Ge-sundheit nachdenken. An diese Stelle gehört auch die Verwandtschaft von Sound und singen - die um so deutlicher wird, sobald man das Perfekt bildet: ge-sungen. Singen also ist - ge-sund, nicht bloß in dem oberflächlichen Sinn, der diesen Satz als Reklame-Slogan für Fischer-Chöre geeignet er­ scheinen läßt, sondern in dem wahrhaft «ur-sprünglichsten», den unsere Sprache besitzt: dem nämlich ihrer Wurzeln und UrWorte. Nun zum Klang. Er ist der - lauttönenden - Klage verwandt, dem klingenden Gesang der Klageweiber. Aber auch dem Lachen! Das ist es ja, was beide vereint - Klage und Lachen: beide sind klang-voll. Wir sprechen vom glockenhellen Lachen, und in der Tat: auch die Glocke gehört in diese Reihe: Wadler verfolgt sie bis zu den Mandschus in der Mongolei, wo Kalang der Metallklang und Kialang der Glockenklang ist. Noch bei den Griechen war klänge: Schall, Klang, Gesang, Geschrei, Lärm. Klagcor (=Lärm) gibt es in Tibet, Clangor im Italienischen, Glagol im Russischen, wo kolokol die Glocke ist! Klegeti (= lärmen, laut lachen) ist es im Litauischen. Und noch im Althochdeutschen war es, nach der über das H laufenden K-L-Wandlung, hlahhan ( = lachen). Der Übergang von der Klage und dem Klang über die Glocke zu unse­ rem Wort lachen und zum englischen laugh ist also bruchlos - so weit die Wörter auch zunächst voneinander entfernt scheinen, wenn man «Klage» und «Lachen» einfach so nebeneinander setzt. 169

Lahat ist lachen auf hebräisch. Irgendwo in der Mitte dieser Ent­ wicklung sitzt die Glatze: die ist klar und hell. Und in der Tat: auch klar gehört hierher. Wie Glanz und Glas. Kilara heißt es bei den Mandschus. Hilaris war heiter und hell im Lateinischen. Wir haben also eine Reihe vor uns, die genauso eindrucksvoll ist wie die im III. Kapitel gezeigte Laut-Logos-Licht-Lug-Verwandtschaft. Arnold Wadler nimmt an, daß beide sogar zusammengehören. Ge­ rade die Lach-Reihe - lahat, to laugh, hlahhan - wirkt wie ein Verbindungsglied, und ist es ja auch ihrer Bedeutung nach. Lachen ist laut und klingt und singt und leuchtet und ist klar und hell. So gesehen wäre dieses ganze Buch ein einziger großer «Pleonas­ mus»; (fast) alle Worte, die uns wichtig sind, erweisen sich als untereinander verwandt: Klang - Logos - Licht und Laut - Sonne und Song und Sound - Klage und Lachen ... Das Wort «Pleonas­ mus » klingt übrigens in diesem Zusammenhang zu Unrecht nega­ tiv, denn die Kommunikationstheorie weiß, daß jede Information, jeder «Code», über eine gewisse Redundanz verfügt, also Pleonas­ men enthalten muß, wenn er vom Rezipienten als «stimmig» empfunden werden soll. Eben diese Stimmigkeit ergibt die Sprachprobe in (fast) jedem Fall. Wir denken ja zuerst in vermeint­ lich voneinander getrennten, sprachlich nicht zusammenhängen­ den Begriffen, und erst dann stoßen wir auf die Sprachbeziehungen - beziehungsweise werden durch Sprachforscher vom Range Jean Gebsers und Arnold Wadlers auf sie gestoßen. Zurück zur Klang-Unterreihe. Überall in ihr steckt Onomatopöie - Lautmalerei - bis hin zu Lachen und Glocke. Im Deutschen wird das deutlich, wenn man sich die i-Formen vergegenwärtigt: Klingen und Klingel. Kinder sagen: Kling-ling-ling. Die Sprachfor­ scher sind sich noch nicht darüber einig - sie sind sich ohnehin selten einig -, ob solche onomatopoetischen Bildungen unabhän­ gig voneinander in den verschiedenen Sprachen entstehen oder ob nicht vielmehr gerade in ihnen, wie Wadler annimmt, die Ur-Sprache waltet. Im Balinesischen ist der Gusti Kliang der Chef des Klanges, also der Leiter eines Gamelang-Orchesters. Klar, daß auch das Wort Gamelang hierher gehört. In seinem zweiten Teil l-a-n-g - steckt der gleiche K-l-a-n-g wie im deutschen Klang. Bereits im Zusammenhang mit der Gesangstechnik tibetischer Mönche und zentralasiatischer Schamanen haben wir gezeigt, daß der Sound im Bauch entsteht und von dort durch den Körper wan­ dert. Diese Vorstellung des Bauches als eines Zentrums musikali­ scher - und überhaupt geistiger, gestalterischer, schöpferischer Kraft befremdet den westlichen Menschen. In Asien ist sie selbst­ 170

verständlich. Wir Europäer mögen unsere Geliebte «aus vollem Herzen» lieben. Der Balinese - auch der Japaner - liebt sie (und in der Tat gibt es die entsprechenden Redewendungen) «aus ganzem Bauch». Der Japaner, wenn er sich tötet, sticht sich nicht ins Herz, sondern er begeht Hara-kiri: Hara heißt Bauch. Und in der japani­ schen Kunstgeschichte gibt es den Begriff des Hara-Gei, den der Musikkritiker Shoichi Yui folgendermaßen erläutert: «Hara-Gei bedeutet wörtlich: An den Bauch denken und vom Bauch hermit anderen kommunizieren. Der Ausdruck < An den Bauch denken» im Zusammenhang mit einer künstlerischen Tätigkeit wird von je­ dem Japaner verstanden. Für Europäer und Amerikaner ist es schwer nachvollziehbar, daß Har a - der Bauch - irgend etwas mit Kunst zu tun haben könnte. In der Philosophie und Dichtung des Westens wird Herz anstelle von Bauch gebraucht. Aber es ist offen­ sichtlich, daß es einen großen Unterschied ausmacht, ob eine Kunst aus der höher gelegenen Brustgegend - dem Sitz des Herzens - oder aus der Tiefe des Bauches entsteht. In diesem Sinn darf gesagt werden, daß es unter den Künstlern des Westens gewiß nicht aus­ schließlich, aber doch vorrangig die Jazzmusiker sind, die in besonderem Maße aus dem Bauch heraus schöpferisch sind ...» ... wie sich sofort erkennen läßt, wenn man einer Jazzimprovi­ sation einmal im Hinblick darauf zuhört, aus welchen Regionen des Körpers sie kommt: genau nämlich aus jenen, aus denen die tibetischen Mönche singen - aus dem Bauch. Besonders offen­ sichtlich ist dies bei den großen «Sound Creators» unter den Blä­ sern des Jazz - Ben Webster etwa oder Cootie Williams oder Johnny Hodges oder Eric Dolphy: sie spielen aus dem Bauch - und finden auf diese Weise in einem einzigen Ton so viel Expression, als sei er eine ganze Melodie. Es ist seltsam, daß gerade Rudolf Steiner eine solche Entwicklung geahnt hat. In einem seiner frü­ hen Dornacher Vorträge spricht er davon, daß das «musikalische Erleben der Gegenwart immer mehr dahin geht... den einzelnen Ton gewissermaßen zu befragen, inwiefern er selbst schon eine Melodie ist». Es werde, so vermutete Steiner bereits 1920, sich ein anderes, ein neues Tonerlebnis anbahnen, in dem «die Mög­ lichkeit, beim Ton in die Tiefe hineinzugehen», stärker als bisher in der Musik genutzt werde. Asiatische Musiker - etwa die japanischen Shakuhachi-Flöti­ sten - wissen, was im Westen vorrangig die Jazzmusiker wissen: Der Sound aus dem Bauch ist der eigentliche Sound. Der amerika­ nische Jazz-Klarinettist Perry Robinson, der in den siebziger Jah­ ren so viel dafür getan hat, daß sein einstmals - zur Zeit Benny 171

Goodmans - mit so viel Glanz umgebenes, dann aber verdrängtes Instrument wieder ein wenig auf die Szene zurückkehrte, sagt: «Die Klarinette ist zu leise. Auch das ist einer der Gründe, warum sie verschwunden ist. Aber du kannst das ändern. Du mußt groß denken und aus dem Bauch spielen. Dann bekommst du einen Ton - so groß, als bliesest du ein Tenorsaxophon.» «Der Mensch lebt durch den Kopf», läßt Bert Brecht in der «Drei-Groschen-Oper» singen. Heute sind immer mehr Men­ schen auch in der europäisch-amerikanischen Welthälfte davon überzeugt: Das Nur-aus-dem-Kopf-Leben hat unser Leben ärmer gemacht. In asiatischer Vorstellung sitzt das Zentrum mensch­ lichen Seins im Bauch. Von dorther steigt die Energie auf. Wenn der Yoga-Lehrer seine Schüler auffordert, sich zu «zentrieren», dann heißt das: sie sollen sich ihres Bauches bewußt werden, den Schwerpunkt in die Bauchregion verlegen. Die Japaner - in ihrer Genauigkeit - haben den Bereich lokalisiert: Zwei bis drei Finger­ breit unter dem Bauchnabel. Das ist auch der Punkt, aus dem her­ aus meditiert wird. Der Meditationslehrer und Psychologe Karl­ fried Graf Dürckheim hat seinem Hauptwerk den Titel gegeben: «Hara - Die Erdmitte des Menschen.» Asiatische Meditationslehrer mahnen seit langem: Der Kern westlicher Schwäche liege darin, daß wir unser Zentrum zu stark nach oben verlagert haben - in die Brustregion und den Kopf; des­ halb kippen wir so leicht um - im wörtlichen und im übertrage­ nen Sinn. Yoga-Lehrer machen gern ein Experiment mit ihren Schülern: Sie bitten sie, sich so hinzustellen, wie westliche Men­ schen meist stehen - dann stößt der Yoga-Lehrer sie nur eben ein­ mal an, und schon verlieren sie das Gleichgewicht. Darauf fordert der Lehrer sie auf, alle Konzentration und alles Gewicht aus dem Kopf- und Brustraum herauszunehmen und in den Bauchraum zu verlegen. Wenn jetzt der Lehrer den Schüler anstößt, dann bleibt er stehen. Wie ein Baum. Verwurzelt im Boden. Nichts kann ihn umwerfen. Wer «im Hara ruht», sagt Graf Dürckheim, «ist uner­ schütterlich». Wer aber im Brust- oder gar Kopfraum zentriert ist, ist labil, unsicher und beeinflußbar. Das soldatische «Brust raus!» decouvriert - wie alles militärische Denken - Schwäche. Der Feldwebel - der «Spieß»-, der seine Leute anschreit «Brust raus!», tut es letztlich, damit er mit ihnen machen kann, was er will. Das brauchen ja diese Herren: ihre Untergebenen zum Umfallen schwach, ohne die Kraft des Hara, die gleichermaßen eine körper­ liche wie eine psychische, geistige und moralische ist. Eine Verlagerung des Schwerpunktes von unten nach oben hat 172

es auch in der Entwicklung des asiatischen Mantras «OM» zu dem christlichen Mantra «Amen» gegeben. Die Sprachwissenschaft weiß: Das christliche Amen ist in einer graduellen Wandlung aus dem Ur-Mantra OM entstanden. Sprechen Sie laut und langsam die beiden Worte aus, und Sie werden bemerken: Das OM schwingt viel tiefer als das Amen nach unten - bis in den Bauch­ raum und seine Nachbarbereiche, also auch in die Geschlechtszo­ nen hinein, die in der Sprache der Yogis aus gutem Grund «Sakral­ bereiche» heißen und selbstverständlich mitschwingen sollenmindestens so sehr wie alles andere auch, aber womöglich noch stärker. Wenn Sie das OM richtig sagen, den Sound aus dem Kopf durch den Brustraum in den Bauch hinunterführend, dann gerät der ganze Körper ins Schwingen; zumal das M, wenn es kraftvoll ge­ sprochen wird, kann den Körper lange noch nachschwingen las­ sen. Ja, er schwingt auch dann noch weiter, wenn das Mantra - von neuem mit dem O beginnend - ein weiteres Mal im Kopfraum gleichsam «eingefädelt» und erneut nach unten geführt wird; und inzwischen schwingen nicht nur Brust, Magen und Bauch, es vibrieren auch Kopf und - beim Geübten - sogar Arme und Beine. Mit dieser Technik, OM zu sagen und zu singen, ist die mehrstim­ mige Gesangsweise der tibetischen Mönche verwandt. Und wenn man in dieser Weise OM sagt, versteht man auch, daß sich aus dem Wort OM das hebräische und christliche Amen entwickelt hat. Amen - das ist einfach ein stärker gedehntes und nasaliertes OM. Amen: wie man es auch aussprechen mag, es bringt in erster Linie Kopf-, Kehl- und Brustraum zum Mitschwingen: jene Berei­ che also, in denen der abendländische Mensch vorwiegend lebt, denkt und fühlt. Arnold Wadler sagt in seinen immer wieder zu zitierenden Arbeiten über die Ur-Sprache: «Klangverschiebun­ gen, die sich ergeben, wenn bestimmte Worte durch verschiedene Sprachen wandern, haben oft ihren tiefen Sinn.» In der Verschiebung des Klanges von OM auf Amen werden zwei völlig verschiedene Seins-Weisen offenbar. Amen ist ein ge­ gliedertes OM: das OM in seine Bestandteile zerlegt - in O und in M - und jeder dieser Bestandteile für sich weiter ausgeführt. Wohl­ gemerkt, dies geschah, als das OM nach Westen wanderte - zu­ nächst nach Israel, dann weiter in den christlichen Raum nach Europa. Auf diesem Wege also wurde es gegliedert, in seine Be­ standteile aufgeteilt - wie alles, was in den Westen dringt, geteilt und gegliedert, und das heißt ja analysiert und seziert wird. Es wirkt wie der Eröffnungszug einer wahrhaft königlichen Schach­ 173

partie - wie eine Ouvertüre für all das, was später geschah, wenn man sich vergegenwärtigt: Dieser Gliederungs- und Zerlegungs­ prozeß hat sich bereits vor Jahrtausenden angekündigt - damals, als aus dem OM das Amen entstand. Noch deutlicher wird der Wandel, wenn man sich die Beziehung vergegenwärtigt, die die Vokale seit alters zu den Planeten haben. Das O wird der Venus, das A dem Jupiter, das E dem Merkur zuge­ ordnet (und weiter, um die Reihe zu vervollständigen: das I dem Mars und das U dem Saturn). Im OM schwingt also die Venus mit: Liebe, Wärme, Verbundenheit, Eins-Sein. Im A und im E von «Amen» schwingen Jupiter und Merkur: Erfolg, Aktivität, Extra­ vertiertheit; Verstand, Denken, Geschäftigkeit. Wahrhaftig, der Wandel vom OM zum Amen wird auf diese Weise zu einer Formel für das, was Westen und Osten voneinander trennt - aber auch verbindet! Er ist beides: ein gedanklicher und ein klanglicher, ein musika­ lischer Prozeß; ersterer wird durch letzteren um so deutlicher: Man höre ein OM, von tibetischen Mönchen gesungen, und gleich darauf ein Amen aus dem Raum der christlichen und abendländi­ schen Musik - vielleicht das machtvollste: dasjenige aus Händels «Messias» -, und man wird begreifen, was sich auf diesem Wege (eine Zwischenstation etwa wäre das «Amen» eines Gregoriani­ schen Chorals) an ständig reicher werdender Differenziertheit, aber auch an einem ständig größer werdenden Verlust an «Ein­ heit» und «Eins-Sein» ereignet hat. Der Weg führte weiter, bis ihm nicht nur das OM, sondern - in unserer Zeit für die Mehrheit der rationalisierten Menschen des Westens - auch das Amen selbst, das sich doch eben diesem Wege verdankt, zum Opfer fielen und nun beide - OM und Amen - neu entdeckt werden müssen. Das geschieht im Wandel zu dem Bewußtsein, von dem in diesem Buche die Rede ist. Mehrfach - am eindringlichsten vielleicht bei der Wandlung von OM zu Amen - ist deutlich geworden: Der Sound, den wir mei­ nen, ist nicht einfach ein Klang, der erklingt und dann vorbei ist. Sound steht für Ur-Klang. Sound ist Ausdruck und Symbol, ist hörbarer Stellvertreter des - unhörbaren - nada. «Wenn du auslöschst Sinn und Ton, was hörst du dann?»

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Das, was du dann hörst: davon ist der Sound aus dem Haia ein Echo. Unter den großen Musikern der klassischen Musik weiß ich niemanden, bei dessen Sound dies in so beeindruckender Weise deutlich würde wie bei dem wunderbaren und weisen Cellisten Pablo Casals. Selbst Jazzmusiker, die doch in ihrem eigenen Be­ reich wahrhaftig eine Fülle bedeutender Sound-Schöpfer besitzen, sprechen mit atemloser Bewunderung von ihm - so der öster­ reichische Tenorsaxophonist Hans Koller in einem Interview: «Als Tenorsaxophonist hat man es ja eigentlich einfach: Man braucht nur auf die großen Tenorsaxophonisten der Jazztradition zu hören. Die haben wirklich Sound. In Europa weiß ich nur einen, den man damit vergleichen könnte - Pablo Casals.» Und dann ließ Koller - in einer Rundfunksendung Anfang der sechziger Jahre - die unbegleitete Solo-Improvisation «Picasso» des Jazz-Tenorsaxophonisten Coleman Hawkins auflegen und un­ mittelbar darauf Casals' Cello-Sound in Bachs Solo-Suite in c-moll. Die Übereinstimmung wirkte frappant, aber noch ein zu­ sätzliches Phänomen wurde deutlich: Bei einem Bläser - in die­ sem Fall einem Saxophonisten - kann man sich ja vorstellen, daß er aus dem Bauch bläst. Da gibt es die direkte Luftsäule. Bei Pablo Casals aber gibt es nur eine «spirituelle» Säule - doch gerade auf sie kommt es an,- selbst wo außerdem noch die Luft-Kolumne wirkt, ist die spirituelle die stärkere. Es war wie eine Wiederent­ deckung, als ich - viele Jahre später - in einem Buch von Silvia Ostertag die folgenden Sätze las: «Als ich das erste Mal den Celli­ sten Pablo Casals spielen hörte, ist etwas Seltsames in mir vorge­ gangen: Es war bei den Zermatter Meisterkursen, und zu jedem Unterricht waren auch Teilnehmer zugelassen, die nur zuhören wollten. Zu denen gehörte ich, eine von vielen. Casals unterrich­ tete, und ich erinnere mich an den Augenblick, in dem er seinen Bogen in die Hand nahm und einen Ton vorspielte, einen einzigen Ton. Es war sicher nicht so, daß ich vorher geschlafen hätte. Aber im Augenblick, da dieser Ton erklang, war es mir, als würde ich erwachen,- schlagartig und sanft zugleich ... Es war so, als habe dieser Ton ein Ohr in mir erreicht, das es bisher noch gar nicht gab. Es war mir, als habe dieser Ton alle Höhen durchdrungen und mich im Innersten getroffen. In einem Innersten, das ich bis dahin nicht wahrgenommen hatte. Und doch war mir dieses Innerste mit einem Male mehr vertraut als alles, was ich an mir kannte; sonst würde ich es nicht mein Inner­ stes nennen. 175

Als dieser eine Ton verklungen war, fand ich mich für einen Augenblick unsicher, ob Casals ihn überhaupt gespielt hatte oder ob es nur gerade ganz still im Raum war. Und wenn ich ihn be­ schreiben wollte ... es war ein Ton, in dem alle Töne klangen und in dem zugleich alle Stille war... Daß ich Casals zum ersten Mal hörte, ist jetzt viele Jahre her. Ich habe nicht nur jenen Ton nicht vergessen, sondern von jenem Erlebnis an danach gesucht, selbst so zu werden, daß mein Hören und mein Tun sich für diesen ‹Ton› in allem Leben öffne ... (Da­ mals ist mir) etwas begegnet, das den Horizont unseres Begreifens überschreitet: Etwas Unbegreifbares, Unbedingtes, etwas Ewi­ ges ... der Ton, in dem alle Töne klangen - der Ton, in dem alle Stille war.»

Musik zum Hören des achten Kapitels Ben Webster Meets Don Byas (MPS 15 159 ST) Ben Webster: Ben and Sweets - mit Harry Edison (ColumbiaCBS PC 37036 Stereo) Coleman Hawkins: The essential schließlich «Picasso») (Verve V-8568)

Coleman

Hawkins

(ein­

Johnny Hodges: Blues Pyramid - mit Wild Bill Davis (Verve V 6-8635) Pink Floyd: Atom Heart Mother (EMI SHZE 297) Händel: Der Messias (Edition Eterna ST 8 26 636-638 u. zahl­ reiche andere Aufnahmen) OM tibetischer Mönche: s. «The Music of Tibet» in «Musik zum Hören des zweiten Kapitels», s. S. 65 Hommage a Pablo Casals - Schubert, Beethoven, Haydn, Bach u. a. (Philips 6747103, 3 LPs) Pablo Casals: trola E 80496)

Bach-Suiten

für

Violoncello

solo

(Elec-

IX. Tempel im Ohr Über das Hören, die Stille und die Wachheit

Insofern wir vom Ton handeln, handeln wir vom Hören. Experi­ mente haben gezeigt, daß kein anderes Organ auf so minimale Im­ pulse anspricht wie das Ohr. Reize gleich geringer Stärke wären von anderen Sinnen - etwa dem Auge - gar nicht mehr wahrzu­ nehmen. George Leonard schreibt: «Unser Gehörsinn ist in der Tat ein Wunder und übertrifft das Sehvermögen in vielerlei Hin­ sicht. Wenn ein Maler beispielsweise drei Farbtöne miteinander vermischt, kann unser Auge das Resultat nur als eine einzige neue Farbe wahrnehmen. Wenn Klarinette, Flöte und Oboe zusammen erklingen, kann unser Ohr die resultierende Mischung sowohl als neuen Klang wahrnehmen, wie auch die drei Instrumente, die die­ sen Klang hervorbringen, voneinander unterscheiden.» Hans Kayser weist auf die erstaunliche Tatsache hin, daß das Ohr der einzige menschliche Sinn ist, der gleichermaßen die Zahlgröße wie auch den Zahlwert erkennen kann: «Das Ohr hört nicht nur genaue Zahlverhältnisse, also Zahlgrößen wie 1:2 als Oktave, 2:3 als Quinte, 3:4 als Quarte usw., sondern es hört... zugleich Werte, welche es als Töne C, G, F usw. apperzipiert... In der Tonzahl verschmelzen also zwei Elemente zu einer Einheit: das Element der Empfindung, der Ton, mit dem Element des Den­ kens, der Zahl, und zwar: auf exakte Weise, so daß der Wert des Tones genau an der Größe der Zahl, und die Größe der Zahl genau am Wert des Tones kontrollierbar ist... Unter allen menschlichen Sinnen besitzen wir nur ein Sinnesorgan, welches diese Ver­ schmelzung zustande bringt: das Ohr... Die Empfindung kontrol­ liert somit das Denken, oder anders ausgedrückt: Unsere Seele ist auf diese Weise imstande, die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer intellektuellen Größe festzustellen. Umgekehrt haben wir durch das Phänomen der Tonzahl aber auch die Möglichkeit, Proportio­ nen und Maßzahlen im seelischen Bereich zu entwickeln.» Es ist wichtig, daß man sich die besondere Befähigung des Oh­ 177

res, nicht nur Werten, sondern auch messen zu können, mit aller Konsequenz deutlich macht. Selbst der unmusikalische Mensch kann h ö r e n, ob eine Oktave stimmt oder nicht; das Ohr mißt also, daß der höhere Ton doppelt so schnell schwingt wie der tiefere. Niemand aber kann sehen, daß eine Farbe doppelt so schnell schwingt wie eine andere. Entsprechend genau ist, was das Ohr betrifft, unsere Sprache (entsprechend ungenau ist sie, wie wir se­ hen werden, in bezug auf das Auge). Wir können eine bestimmte Tonschwingung als «C>> oder «D» oder «E» bezeichnen und haben sie damit mathematisch genau fixiert. Nichts Vergleichbares gibt es im Bereich der Farben. Wir können zwar «gelb» oder «blau» oder «rot» sagen, aber nichts ist damit über die Schwingungszahl aus­ gesagt. Das Auge vermittelt immer nur Annäherungsinformatio­ nen. Es gibt überaus viele verschiedene Gelb- oder Blau- oder Rot­ töne - schon müssen wir ein Wort aus dem Bereich des Hörens, eben das Wort «Töne», zu Hilfe nehmen -, und doch ist es unmög­ lich, Präzision zu beanspruchen, wenn man Farben beschreibt. Selbst wenn wir viele verschiedene Blautöne unterscheiden - Preu­ ßischblau, Marineblau, Himmelblau und Dunkelblau oder gar un­ ter großem Aufwand erklärender Worte, noch ein halbes Dutzend weiterer Blaus -, ist nicht annähernd die Genauigkeit geschaffen, über die wir im Bereich des Hörbaren verfügen, wenn wir nur ein­ fach «F» oder «G» oder «H» sagen. Die meisten Musiker haben erlebt, daß ein hochentwickeltes Ohr sogar noch genauer «funktionieren» kann als eine Stimmga­ bel. «Lassen Sie morgen Ihre Stimmgabel zu Hause», sagte Hans Rosbaud dem Sänger eines Chores, den er mit dem SWF-SinfonieOrchester zu begleiten hatte. «Die Stimmgabel stimmt nicht!» Der Sänger war beleidigt, aber als wir hinterher nachprüften, stell­ ten wir fest, Rosbaud hatte recht. Nochmals: Es ist unvorstellbar, daß das Auge ähnlich genau «Maß nehmen» könnte. Und doch ist damit erst die eine der beiden wunderbaren Fähig­ keiten des Ohres gekennzeichnet - seine mathematische. Wir können Zahlen hören. Aber das Ohr gilt seit alters auch als «Tor zur Seele». Zu seiner Meßfähigkeit hinzu kommt die Empfin­ dungsfähigkeit, und auch sie ist unzweifelhaft größer als die des Auges. Das Wunderbarste freilich ist, wie die beiden Fähigkeiten miteinander gekoppelt sind, ja, es scheint, daß in dieser Kopplung die größte Fähigkeit des Ohres liegt - nämlich die Begabung, Ma­ thematisches in Sinnliches, Bewußtes in Unbewußtes, Meßbares in Unmeßbares, Abstraktes in Seelisches - und natürlich jeweils auch umgekehrt - mit unfaßbarer Exaktheit zu überführen. Ja, das 178

Ohr stellt ständig - einfach dank seiner Existenz - die Forderung, diese beiden, für unsere anderen Sinne so gänzlich verschiedenen Bereiche miteinander in Beziehung zu setzen. Und noch mehr: Es macht uns unabweisbar deutlich, daß eine Beziehung besteht. Demgegenüber ist das Auge «vager» und «ungefährer». Ein Mensch, der vorwiegend durch seine Augen lebt, lebt nicht nur reduzierter in bezug auf seine seelischen Qualitäten, er lebt auch weniger «genau» als der Ohrenmensch. Das Ungefähre-und hier­ mit verwandt ist das Wort: das Ge-fähr-liche - zeitgenössischer Existenz wird unmittelbar deutlich, wenn man realisiert: Der mo­ derne Mensch ist vorwiegend Augenmensch! Auf seine Weise sagt es Jacques Lusseyran: «Unsere Augen ge­ hen über die Oberfläche der Dinge. Sie bedürfen nur einiger ver­ streuter Punkte, und blitzartig füllen sie die Zwischenräume. Sie erahnen viel mehr, als sie sehen, und niemals, oder fast niemals, prüfen sie die Dinge. Sie geben sich mit den Erscheinungen zufrie­ den, und in diesen gleitet die Welt schimmernd dahin und verbirgt ihren wesentlichen Inhalt.» Man beachte das Wort «Erscheinung» oder die Redewendun­ gen «Es scheint mir so» und «Ich bilde mir ein» - alles Aus­ drücke aus dem Bereich des Optischen. Diesen Bereich also be­ nötigt die Sprache, um die Möglichkeit der Illusion, des Irrtums und der Selbsttäuschung in Worte zu fassen. Wenigstens die Spra­ che durchschaut den strahlenden Glorienschein, mit dem der abendländische Mensch das Auge umgeben hat, als trügerisch «schimmernd» und «schillernd» - und es kann kein Zufall sein, daß auch diese beiden Worte wieder der optischen Sphäre ent­ stammen. Ich habe trotz monatelangen Suchens in keiner mir be­ kannten Sprache einen Ausdruck oder ein Sprachbild für Vages, Ungenaues, Scheinbares oder Trügerisches gefunden, das dem Ohr und dem Bereich des Akustischen verhaftet wäre - und wenn möglicherweise dennoch ein solcher Ausdruck existierte, würde er in der Überzahl der entsprechenden «optischen» Begriffe und Formulierungen verschwinden. Wir haben - im VI. Kapitel - erfahren, daß unser Zeitsinn krückenhaft ist. Aber auch die anderen menschlichen Sinne sind Krücken. Wir sollten erkennen - das würde zu unserer Beschei­ denheit beitragen -, daß die Evolution keinen Grund gehabt hat, uns Sinne zu schaffen, mit denen wir die Wirklichkeit als solche erkennen können. Die Evolution hat immer nur ein Ziel: Das Überleben! Und es ist schon viel - und ist wunderbar, wenn und 179

wie sie das schafft. Auch bei den anderen Lebewesen stellen wir fest: Ihre Sinne, ihre Organe, ihre biologischen, physischen und «geistigen» Möglichkeiten ermöglichen ihr Überleben in der ih­ nen zugefallenen Umwelt. Nicht weniger. Aber auch nicht mehr. Wer deshalb glaubt - und das glaubt ja gerade die rationalistische Wissenschaft im Sinne des vergangenen Jahrhunderts -, er könne mit Hilfe seiner Sinne «Wahrheit» erkennen, denkt nicht einmal logisch, denn gerade die Evolutionslehre hat doch plausibel ge­ macht, daß wir nur das erkennen, was wir erkennen müssen, um auf diesem Planeten überleben zu können. Derjenige unserer Sinne, der uns noch - relativ am meisten «Wahrheit» vermittelt, ist der Gehörsinn. Er tut das auch deshalb, weil er - als einziger unserer Sinne - nicht an Dimensionen ge­ bunden ist. Wir haben im Abschnitt über die Zeit im VI. Kapitel von der Überzeugung der modernen theoretischen Physik gespro­ chen, daß die Welt, in der wir leben, mehr Dimensionen enthält als die drei bzw. - mit der Zeit - vier Dimensionen, die uns unser Auge, unser Tastsinn und unsere Bewegungswerkzeuge zu er­ schließen scheinen. Wir leben in einer Welt, die anders ist, als sie aussieht. Unsere Sinne - vor allem der Seh-Sinn-informieren uns falsch über die Dimensionalität unserer Welt. Aber: Der GehörSinn ist (wenn man einmal von seiner Ortungsaufgabe absieht) «dimensionsunabhängig». Auch dies gehört in den Umkreis der unverhältnismäßig größeren Genauigkeit und «Kompetenz» un­ serer Ohren. Wir haben es in diesen Jahren oft gehört und gelesen: Der moderne Mensch ist im Zeitalter des Fernsehens ein vorwiegend sehender Mensch geworden. Kaum jemand, der das konstatiert, macht sich die Mühe, zu fragen: Was sieht er? Und: sieht er auch das, was er sieht? Sieht er nicht nur noch Bilder und Abbilder? Sind es nicht sie, die er für Wirklichkeit hält? Er verwechselt das Bild von der Welt, das ihm die Medien ins Haus liefern, mit der Welt selbst. Daher die Befunde von Wirklichkeitsverlust, die - zumal bei jun­ gen Menschen - so oft festgestellt werden, und von verkümmerter Erlebnisfähigkeit, die die Psychologen bei den Älteren diagnosti­ zieren. Mit Wirklichkeitsverlust meine ich - um ein einziges Bei­ spiel zu geben: Die Kinder, die im Keller ihres Hauses einen Spiel­ gefährten ermordeten und, als Psychologen sie untersuchten, sag­ ten: «Die im Fernsehen machen das doch auch so.» Sie konnten nicht mehr unterscheiden zwischen Wirklichkeit und Fernsehen. TV ist «ihre» Wirklichkeit. Mit Verlust von Erlebnisfähigkeit 180

meine ich: die täglich ins Haus gelieferten Greuel - aus Vietnam, aus Afghanistan, aus El Salvador, aus Kambodscha, aus Guate­ mala, aus dem Sahel - eine Inflation des Grauens. Je mehr Grauen, desto weniger Hähne krähen danach. Die «Trennung des Men­ schen vom Menschlichen» nennt Botho Strauß es, die «Endsta­ tion der sinnlichen Wahrnehmung». In dieser Situation ist Hören wichtig. Es war immer schon wich­ tig. Jetzt ist es noch wichtiger. Mehr als je zuvor ist durch das Fernsehen deutlich geworden, wie überlegen der Hör- dem Ge­ sichtssinn ist. Die Jugend- und Kinderpsychologie hat erkannt, daß ein Märchen, im Fernsehen gesehen, allenfalls Unterhaltung ist. Es löst nichts aus. Was geschieht, geschieht ja schon auf dem Bildschirm - und vorher im Studio. Was das Kind sieht, ist nur noch Information über ein Geschehen, das sich anderswo ab­ spielt. Das «äußere» Bild macht das «innere» überflüssig; das «äu­ ßere» mag farbiger, bewegter, reizvoller sein - und vor allem: robuster. Aber gerade deshalb verdrängt es das «innere». Ein Mär­ chen hingegen, das dem Kinde erzählt wird, muß, um überhaupt verstanden zu werden, in «innere» Bilder umgesetzt werden. Und diese «inneren» Bilder sind es, die Erfahrung, Erlebnis, Bereiche­ rung bewirken; die «äußeren» «transportieren» nur Information und Reiz. Wann immer ein Roman verfilmt wird, ist es gängige Klage der Feuilletonisten, das Buch sei so viel besser als der Film - egal wie gut der Film ist. Die Klage suggeriert immer ein wenig, daß grund­ sätzlich eine Verfilmung möglich sein müßte, die dem RomanKunstwerk adäquat, vielleicht gar ihm überlegen sei. Sie ist aber nicht möglich, weil die Rezeption durch das Ohr - Lesen ist verin­ nerlichtes Hören - so ungleich differenzierter und vielschichtiger ist als die durch das Auge. Deshalb muß alles, was für das Auge dargestellt wird, derber sein, weniger subtil als das, was dem Ohr geboten wird. Seit wir nicht mehr auf Bäumen leben - seit unsere Vorfahren auf die Erde herunterstiegen, um in Bodensenken und Höhlen zu schlafen-, ist das Ohr, mehr als jedes andere Organ, der Sinn un­ seres Überlebens geworden. So hat ihn die Evolution program­ miert. Wenn wir schlafen, schließen wir Augen und Mund, das Gefühl stellt sich (fast) ab, aber: Die Ohren bleiben offen. Ja, unsere Ohren sind geöffnet, noch bevor wir geboren werden. Bereits in dem der Geburt vorausgehenden Stadium ist das Ohr wichtiger als unsere anderen Sinne. Mit ihm beginnt unser Be­ wußtsein: Das Kind hört im Mutterleib den Herzschlag der Mut181

ter - und später hört es die Geräusche der Außenwelt -, was doch bedeutet: Ehe der Mensch mit irgendeinem anderen Sinn «Welt» wahrnehmen kann, nimmt er sie mit dem Ohr wahr. Bevor wir diese Erde betreten - und unser ganzes Leben hin­ durch, auch dann, wenn in der Stunde des Todes bereits alle ande­ ren Sinne versagen -, hören wir. Wir können unsere Ohren nicht schließen. Ja, die ständig wiederkehrenden Anweisungen des Tibetanischen Totenbuches «Höre, Edelgeborener» machen deutlich, daß auch danach noch gehört wird, will sagen: unsere Ohren sind es eigentlich, die uns einerseits aus dem vorgeburt­ lichen Zustand in den unserer irdischen Existenz und andererseits auch aus diesem letzteren in den Zustand nach dem Tode überfüh­ ren - mehr zumindest, als irgendein anderer Sinn dies tut... was doch heißt (und niemand könnte einen ähnlichen Satz mit ver­ gleichbarer Ausschließlichkeit über einen anderen Sinn sagen): Mit keinem unserer Sinne sind wir so sehr, wie wir hörend sind! Hören heißt sein! Ist das der eigentliche Grund dafür, daß wir un­ sere Ohren nie und nimmer schließen können, so lange wir leben? Weil Hören = Sein ist? Und wir die Verbindung zum Ur-Grund des Seins verlieren, wenn wir aufhören zu hören. Deshalb können wir die Ohren nicht schließen - wie wir die Augen schließen kön­ nen. Und doch lassen Millionen von Menschen diesen unseren edel­ sten Sinn verkümmern. Sie hören kaum noch. Unfaßbar zum Bei­ spiel, daß die Mehrheit der westlichen Menschheit im Zeitalter bis aufs äußerste gesteigerter High-Fidelity-Möglichkeiten mit dem kümmerlichen Ton zufrieden ist, der ihnen allabendlich aus dem Fernseher entgegenschallt. Die meisten merken gar nicht, wie schlecht dieser Ton ist. Ihre Augen ergänzen, was ihre Ohren nicht bringen. Oder - noch schlimmer und häufiger: Die Ohren werden überhaupt nur noch benutzt, wenn die Augen nicht aus­ reichen, sie verkümmern zum Hilfs- und Ergänzungsorgan. Es ist dann fast ein Reflex: Die Funktion der Ohren wird nur noch dann abgerufen, wenn die Information durch die Augen beim besten Willen nicht ausreicht. In dieser Situation hat Radio Bedeutung. Wenn, wie McLuhan gezeigt hat, «das Medium die Botschaft ist», dann ist die eigent­ liche Botschaft des Radios: Hören! Das ist es, was wir Radio-Leute in Wirklichkeit tun: Mit allem, was wir machen, bitten wir nur immer die Leute, ihre Ohren zu öffnen - die Welt wieder stärker durch ihr Gehör wahrzunehmen. Besonders schön hat dies die junge, so früh verstorbene österreichische Dichterin Ernie Lipp in 182

einem Gedicht ausgedrückt, das unter dem Eindruck der Rund­ funksendungen «Nada Brahma» entstand, die diesem Buch vor­ ausgingen: NADA BRAHMA Geh dichte Geh fühle Geh danke Geh schichte Geh schenke Geh wühle Geh brumm Gehör auf! Es gibt eine wunderbare urchristliche Legende: Maria hat Jesus durch ihr Ohr empfangen. Warum wohl durch das Ohr? Weil es das reinste unserer Organe ist - dasjenige, das zum Sein, zum UrGrund, zum Ur-Ton und zur Ur-Spannung die unmittelbarste Be­ ziehung besitzt. Vielleicht können sich noch einige ältere Leser daran erinnern, wie in den zwanziger Jahren Radio begann: Wie man da nächte­ lang an kleinen Kristall-Empfängern saß - noch nicht einmal röh­ renbestückt, von Transistoren zu schweigen - primitive Kopfhö­ rer übergestülpt - glücklich, wenn man Musik überhaupt als Mu­ sik - kreischend und krächzend - wiedererkennen konnte - noch glücklicher, wenn man ferne Länder hörte - spanische oder italie­ nische Wortfetzen ... Meine eigene Hör-Erfahrung begann auf diese Weise. Es war wie ein Abenteuer - wie eine Expedition in unbekanntes Land: Eine Expedition mit den Ohren! Am nächsten Morgen sprach man beim Frühstück darüber - mit aufgeregter, begeisterter Stimme. «Ihr klingt selber wie Radio, wenn ihr vom Radio sprecht», pflegte unser Vater zu sagen. Es gibt eine ganze Generation - Stefan Zweig hat über sie geschrieben -, die durch Radio-Hören - durch Hören also - die Welt erfahren hat - in einem Zustand, den Zweig als -Trunkenheit» beschrieb. Es ist gut, sich dessen zu erinnern: Weil wir dadurch ermessen können, wie sehr unsere Hörsensibilität inzwischen gelitten hat. Die Entwicklung vom Hörfunk zum Fernsehen, die wir alle in un­ serer Generation und der unserer Eltern erlebt haben, ist also ein Rückschritt - als hätten sich Menschen, die bereits das Niveau einer Boden- und Bauernkultur erreicht hatten, wieder rückwärts 183

entwickelt - auf den Stand von Nomaden. Ich wähle diesen - be­ wußt ironischen - Vergleich nicht zufällig. Vom Auge hat man gesagt, daß es «ständig unterwegs» sei - auf Beutezügen - noma­ denhaft schweifend. Nichts Vergleichbares ließe sich vom Ohr sa­ gen. Ein Mensch kann einen «stechenden Blick» haben, aber gewiß kein «stechendes Ohr» - und auch nichts anderes, womit das Ohr der Qualität des Stechens nahekäme. Inbegriff höchster Augenqua­ lität ist der Blick des Adlers, der aus schwindelnder Höhe sein Opfer erspäht und bereits im Moment des Erspähens das Zupacken mit den Krallen und das Zustechen mit dem Schnabel vorausnimmt. Dies ist eine einzige Sache: Erspähen und Zupacken. Nicht nur für den Adler. Für das Auge. Auch für das menschliche. Es kann kein Zufall sein, daß der Adler so beliebt ist als nationales Symbolin Wappen und Emblemen von machtbewußten Staaten und Städ­ ten. Wo immer aber für das Ohr umschreibende und beschreibende Attribute gesucht werden, stammen sie aus dem Umkreis des Emp­ fängern, des Aufnehmens und des Sich-Öffnens, des Ge-hörens und Ge-horchens. Das Ohr gleicht einer Muschel; mit ihr wird auch das weibliche Geschlechtsorgan verglichen: Beide empfangen. Ein Mensch, der unter seinen Sinnen dem Ohr den ersten Platz einräumt, vorwiegend also ein hörender und zuhörender Mensch ist, wird - das ergibt sich aus dem Gesagten - sehr viel weniger aggressiv sein als einer, der die Welt vorwiegend oder zuerst durch seine Augen wahrnimmt. Aus diesem Grund ist die moderne Fern­ sehkultur eine Brutstätte für Aggressivität. Allabendlich wird in Millionen bürgerlicher Wohnstuben Aggressivität ausgebrütet- in all der «Gemütlichkeit» - der «Nestbezogenheit» -, die zu dem Vorgang des «Brütens» gehört. Dieser «Gemütlichkeit» wider­ spricht es nicht, sondern es ergänzt sie, daß das Fernsehen in seiner Berichterstattung Szenen der Aggressivität so offenbar vorzieht. Gewiß, dies tun auch die Nachrichten in Radio und Presse - aber auch dies ist ein Befund der Ergänzung: Augenmenschen ziehen Aggressivität vor. Selbst dann, wenn sie hören und lesen - was viele von ihnen ja ohnehin nur noch als Ersatz für das vielleicht gerade nicht vorhandene Fernsehen tun. Bhagwan hat in der ihm eigenen Prägnanz einen schönen Aus­ druck für unser Erkranktsein an der Hypertrophie des Auges gefun­ den. Er empfindet diese Hypertrophie als einen «Wahnsinn» und nennt sie «Kodakomanie»: «Achtzig Prozent eurer Energie ist den Augen gewidmet. Andere Sinne leiden sehr, weil nur zwanzig Pro­ zent für sie übrig bleiben. Das Auge ist zum Adolf Hitler geworden. 184

Die Demokratie eurer Sinne ist verlorengegangen ... Interessiert euch nicht zu sehr für Bilder. Sonst verliert ihr nach und nach die Fähigkeit, die Wirklichkeit wahrzunehmen.» Man erwäge: Welche Sinne sind wichtig für Liebe? Zunächst einmal: alle. Aber man spüre der Rangordnung nach. Das Auge ist vor allem wichtig am Anfang - in der Begegnung, wenn alles noch ungewiß ist. Danach wird Hören wichtig - dann Fühlen. Dann beobachten wir etwas Seltsames: Je intensiver Liebe wird, desto öfter neigen wir dazu, die Augen zu schließen. Wir fühlen und hören. Was fühlen wir? Was hören wir? - und nun die ganz wich­ tige Antwort: Wir fühlen - auch und gerade, indem wir den ande­ ren fühlen - vorrangig und überwältigend die eigene Lust. Aber wir hören: den anderen. Mit den Ohren nehmen wir «wahr», wo der andere «ist» auf dem Wege, auf dem Liebe geschieht: ob er ihn schnell oder langsam geht, intensiv oder rezeptiv, ob er uns folgt oder gar schon voraus ist, ob beide auf gleicher Wegstrecke sind... Das also ist das Ohr: Die Brücke der Liebe zum Du. Die Brücke mag schwindelnd hoch sein, der Fluß darunter reißend stark, aber die Augen brauchen wir nicht. Ja, es ist geradezu paradox: Je höher, kühner, weiter die Brücke, je wilder der Strom, desto fester schlie­ ßen wir die Augen. Es ist aufschlußreich, daß die Frau die Brücke des Sounds in der Liebe häufiger und intensiver beschreitet als der Mann. Warum sie das tut, wird in den folgenden Abschnitten deutlich. Die Dimension des Auges ist eher männlich, die des Ohres mehr weiblich - beides im übertragenen wie im wörtlichen Sinn. Die amerikanischen Psychologen Robert May und Anneliese Korner haben «Sex Differences in Newborn» - Geschlechtsunterschiede bei Neugeborenen - untersucht, und May resümiert: «Männliche Babies reagieren eher auf visuelle Reize, während weibliche leich­ ter auf Reize ansprechen, die sie durch das Ohr wahrnehmen; dies gilt nicht nur für Menschen, sondern auch für junge Affen und Ratten, und bleibt ein Geschlechtsunterschied auch bei erwach­ senen Männern und Frauen.» Entsprechend kommunizieren Mütter mit Baby-Töchtern sehr viel leichter und statistisch häufiger, indem sie ihnen Klänge vor­ machen und die Geräusche des Babys imitieren, während sie ihren männlichen Babys Bewegungen zeigen - mit den Händen oder mit Gegenständen, um Aufmerksamkeit auf dem Weg über das Auge zu finden. Weil «Sounds» für das Mädchen wichtiger sind als für den Jungen, fangen Mädchen auch früher an, «Sounds» zu produ­ 185

zieren - und beginnen deshalb auch, statistisch gesehen, früher zu sprechen. Das Wort «statistisch» ist wichtig: Natürlich reagieren beide - Mädchen und Jungen - auf beides: auf akustische und visu­ elle Reize. Aber mehr Mädchen reagieren eher, leichter und häu­ figer mit dem Gehör, mehr Jungen mit den Augen. Das «männ­ liche» Element, das in der Dominanz des Visuellen steckt, und entsprechend - das «weibliche», das zur Bevorzugung der Wahr­ nehmung durch das Ohr gehört, könnte nicht schlagender deut­ lich werden als durch diese Untersuchungen, die von anderen Psychologen und Anthropologen in den USA und Europa bestätigt wurden. Der Befund ist um so gewichtiger, als er auch bestehen bleibt, wenn aus den Kindern Erwachsene werden. Die Psycholo­ gen Camilla Persson Benbow und Julian C. Stanley von der JohnsHopkins-University in Baltimore haben in jahrelangen Tests er­ härtet: «Männer leisten gewöhnlich mehr im visuell-räumlichen, Frauen im sprachlichen Bereich. Beide sind verhältnismäßig schwach auf dem Gebiet, auf dem der andere seine Stärke hat.» Die Fachleute haben ihre Tests so «gegengeprüft», daß sicher ist, daß es sich nicht um erworbene, sondern um angeborene Unter­ schiede handelt. Es ist die stärkere Wahrnehmung durch das Ohr, die das weibliche Wesen von Anfang an zu seiner - vergleichs­ weise - stärkeren rezeptiven - und wohl auch zu einer stärkeren sprachlichen - Begabung führt. Interessanterweise ist auch in der chinesischen Überlieferung das Ohr ein Yin-, also ein mehr weibliches, das Auge aber ein Yang-, also ein mehr männliches Organ. Der Bezug auf die Weis­ heit der alten Chinesen macht freilich auch besonders deutlich, daß wir keine Wahl zwischen dem Ohr und dem Auge haben - so wenig wie zwischen ausschließlich Männlichem und ausschließ­ lich Weiblichem, zwischen ausschließlich Yang und ausschließ­ lich Yin. Nur gilt eben der westliche Mensch - zumal der moderne - in der chinesischen Interpretation traditionellerweise als zu stark Yang-betont. Er müßte lernen, die seit Jahrhunderten ver­ nachlässigten - oft auch verdrängten - Yin-Elemente stärker in den Vordergrund zu rücken. Als - vorrangig - hörender Mensch würde er es wieder lernen. Alles, was in diesem Kapitel gesagt wird, würde simplifiziert, wenn es als die - gewiß groteske - Alternative mißverstanden würde: nur noch zu hören und nicht mehr zu sehen. Wir müssen beides tun. Wichtig ist aber, daß die Präferenzen deutlich werden: Der «Ohren-Mensch» muß notwendig rezeptiver, der «AugenMensch» ebenso notwendig aggressiver sein. 186

Und nun blenden wir rückwärts: Wir haben über die - ver­ gleichsweise - geringere Genauigkeit des Auges, über seine Ten­ denz zum Ungefähren-und «Ge-fähr-lichen»-gesprochen. Diese Tendenz wird auf um so «ge-fähr-lichere» Weise durch die (eben­ falls bereits besprochene) relativ größere Aggressivität des Augen­ menschen ergänzt. Es gibt eine Fülle von Evidenzen für diesen Prozeß. Hier nur eine einzige - die allergefährlichste: Nach allem, was in diesem Kapitel gesagt wurde, ist es offensichtlich: Man muß Augenmensch sein, um den Gedanken denken zu können, durch Rüstung und immer weitere Rüstung ließen sich Kriege vermeiden - ein Gedanke, in dem sich das Ungenau-Spekulative, das Vage und Ungefähre des Augenmenschen mit dessen Aggressi­ vität paart und beide sich aneinander steigern. Für den - genaue­ ren - Ohrenmenschen dagegen ist völlig plausibel und bedarf kei­ ner weiteren Ausführung: Wer rüstet, rüstet zum Krieg, und je mehr Waffen man aufschichtet, desto zerstörerischer wird der Krieg. Man beachte nur, wie vieler Worte die Politiker bedürfen, wie - wahrhaft - spekulativ (in dem Wort steckt speculari: sich umsehen, anschauen, spähen) alle die Überlegungen der herr­ schenden Augenmenschen sind, mit denen sie uns die simple und schlüssige Einsicht aus den - ohnehin durchs Fernsehen verdorbe­ nen, immer noch ungenauer hinschauenden - Augen wischen wollen, daß Waffen zum Krieg führen. (Es scheint mir wichtig, gelegentlich in diesem Buch auf solche Evidenzen zu verweisen, damit nicht der eine oder andere sich in dem Gefühl wähnt, wir bewegten uns auf diesen Seiten weit entfernt von jeglicher aktuel­ len Realität.) Die Verherrlichung des Auges, des «glücklichen» (Goethe), in der Literatur und Dichtung der westlichen Welt - eine Verherrlichung und Idealisierung, durch die wir alle gefühlsmäßig von Jugend auf geprägt sind - steht nicht etwa im Gegensatz zu unserem Befund; sie bestätigt ihn. Wir bedurften dieser Idealisierung - als Legitima­ tion und als Basis -, um die Betonung des optischen Elementes, die es in der geistigen und kulturellen Entwicklung des Abendlan­ des gibt und die im Lauf der Jahrhunderte immer noch stärker her­ ausgebildet wurde, verständlich zu machen, sie gleichsam zu be­ gründen. Auch sind ja alle unsere Sinne lobens- und preisenswert - in den höchsten und schönsten Worten der Dichter und Künst­ ler, nur kommt es eben - noch einmal - auf die Präferenzen und auf die Verhältnismäßigkeit oder vielmehr Unverhältnismäßig­ keit der Akzente an. 187

Unverhältnismäßig sind die Akzente auch deshalb, weil sich unser optisches Sensorium auf seltsame Weise mit dem Hapti­ schen verbündet hat. Wir wollen uns mit einem Problem »be­ fassen» (als ob man das könnte), wollen Gedankengänge «be­ greifen», haben sie «hand-fest» darzustellen, müssen sie «in den Griff kriegen», wollen «zu-packen» können, haben Tatsachen «fest-zustellen» (als seien sie ein Hebel oder ein Rad) oder - am schlimmsten - «fassen sie ins Auge», lauter Sprachbilder, die ge­ rade wegen ihrer Ungenauigkeit so verräterisch sind. Man könnte in ähnlicher sprachlicher Bedenklichkeit (aber dadurch um so iro­ nischer) formulieren: «Unser Gefühl hat dem Auge die Hand ge­ reicht.» Das Bündnis von Auge und Hand, das wir, so absurd es ist, doch gleichwohl täglich in seiner dominierenden Bedeutung be­ obachten können, wirkt besonders seltsam, wenn man sich verge­ genwärtigt, daß unser Tastsinn auf viel natürlichere Weise ein Partner unseres Gehörsinnes ist - oder doch jedenfalls sein könnte. Leider ist er dies aber (fast) nur noch bei Blinden. Sie öff­ nen sich der Welt hörend und tastend, wobei das Hören dem Ta­ sten und umgekehrt das Tasten dem Hören hilft. Der blinde Uni­ versitätsprofessor Jacques Lusseyran beschreibt, wie er sich als Kind seine Umwelt erschloß: «Als ich noch meine Augen hatte, waren meine Finger steif und am Ende der Hände halb abgestor­ ben, gerade recht, die Bewegung des Greifens auszuführen ...» Nun aber, nachdem der junge Lusseyran erblindet war, begann er zu spüren: «Die Objekte leben, selbst die Steine. Mehr noch, sie vibrieren, sie erzittern. Meine Finger fühlten deutlich dieses Pul­ sieren ... Wenn jeder meiner Finger verschieden stark gegen die Rundung eines Apfels drückte, wußte ich bald nicht mehr, ob der Apfel schwer war oder meine Finger... Ich war ein Teil des Apfels geworden und der Apfel ein Teil von mir. Das war es, wie die Dinge - für mich - existierten.» Ich zitiere Lusseyran deshalb so ausführlich, weil seine Worte deutlich machen, daß wir, die Sehenden, ein ganz anderes Verhält­ nis zum Taktilen haben als die Nicht-Sehenden - die vorrangig Hörenden. Unsere Finger sind «gerade recht, die Bewegung des Greifens auszuführen» - im Sinne eines «Be-greifens» (ein Wort, in dem ja auch das schwingt, was der Dialekt das «Begrabschen» nennt, das ungelenke und unsensible Be-tasten und Be-fassen). In der Dimension des Taktilen aber, von der Lusseyran spricht, gibt es ein Fühlen, das nicht auf der Oberfläche des «Be-fühlens» bleibt, sondern Einswerdung herstellt. Die Möglichkeiten der Haptik sind fast so groß wie die des Opti188

sehen oder des Akustischen. An ihrem einen Ende gibt es das «hand-feste» «Zu-packen», an ihrem anderen Ende das fühlende Einswerden des Liebenden. Der moderne Mensch spielt vorwie­ gend nur noch auf dem einen Ende der haptischen Klaviatur, - auf dem Ende, auf dem er dem Auge dienen kann. Auch unter diesem Gesichtspunkt also lassen wir die volle Bandbreite unseres Sensoriums verkümmern - wie ein musizierender Anfänger, der gerade nur über ein oder zwei Oktaven und jedenfalls nicht über die ganze Tastatur (darin steckt das Wort «tasten») verfügt. Auf der vollen Tastatur des Haptischen können unter den Sehenden fast nur noch die Liebenden spielen, wenn der Körper des geliebten Menschen in der sexuellen Begegnung zum Instrument wird. Es mag ein schöner Gedanke sein, daß es die Liebenden und die Blin­ den sind, denen sich die «orchestrale» Fülle, Breite und Tiefe des Taktilen erschließt, aber weniger befriedigend ist die ergänzende Feststellung, daß es eben fast nur noch sie - die Blinden und die Liebenden - sind, die diese Möglichkeit ausschöpfen. Wilfried Fischer weist in einem lesenswerten Aufsatz unter dem Titel «Fernsehen bedroht die Wahrnehmungsfähigkeit» dar­ auf hin, daß heute «für das Kind die optischen Stimuli dominie­ ren ... es von daher die Fähigkeit zur akustischen Analyse ver­ nachlässigt ...» Deshalb ergibt sich «die ernsthafte Gefahr einer einseitigen Belastung des Nervensystems, die zu Störungen des psychischen Gleichgewichts führen kann». So weit also ist die Entwicklung schon fortgeschritten. Wie gesagt, Botho Strauß nennt das Stadium, in dem wir uns befinden, «Endstation der sinnlichen Wahrnehmung». Wir haben über die «Defizienz» der Entwicklung vom Hörfunk zum Fernsehen, von der Wahrnehmung vorwiegend durch das Ohr zur Präferenz des Auges gesprochen. Aber längst hat eine Gegen­ bewegung begonnen - und auch dieses Buch ist ein Indiz für sie: eine Gegenbewegung, deren Wachsen in diesen Jahren fast von Monat zu Monat beobachtet werden kann. Immer mehr Men­ schen wollen - und werden - die Welt (wieder) als Klang erfahren, gewiß nicht mehr an altertümlichen Radios, durch Wort- und Mu­ sikfetzen und Morsezeichen aus fernen Ländern, sondern auf noch - dieses Wort ist angemessen - abenteuerlichere Weise, nämlich als Klänge jener Welten, die eben noch ein Inbegriff des Schwei­ gens waren: des Kosmos, der Tiefsee, der Pflanzen, der Leere, des Nichts ... der Stille und der Meditation ... Es ist verwunderlich, daß bisher niemand darauf hingewiesen 189

hat, daß schon im Titel eines der wichtigsten (und viel zu wenig bekannten) Bücher der Menschheit - des «Tibetanischen Toten­ buches» -das Wort «Hören» vorkommt. In seiner eigenen Sprache heißt dieses Buch «Bardo Thödol», zu deutsch: «Befreiung durch Hören im Zwischenzustand», will sagen: auf der Stufe unmittel­ bar nach dem Tode. Wenn man den Titel wörtlich übersetzt, kommt heraus: «Zwischenzustand-Hör-Befreiung». Wie schon erwähnt, beginnen fast alle Ratschläge, die dem Verstorbenen in diesem Buche gegeben werden, mit den Worten: «O Edelgebore­ nen ... höre zu!» An einer Stelle heißt es: «Wenn der Leser dies sagt, soll er seine Lippen nahe an das Ohr des Sterbenden bringen und es deutlich wiederholen und es ihm klar einprägen, um zu verhindern, daß seine Gedanken auch nur für einen Augenblick abschweifen.» Louise Goepfert-March schreibt zur deutschen Übersetzung des «Tibetanischen Totenbuches»: «Der erste Schritt ist hören ler­ nen, hören wollen, das Durcheinander in sich selber fallen lassen, es abtun, wie man beim physischen Tod den Körper abtut. Dieser Schritt bedeutet, daß man nicht mehr länger dazwischenfahren will, nichts ändern will... (zunächst auch nicht sich selber), nicht streiten will, keine Meinung äußern will, nichts, was gehört wird, in die übliche automatische Tagessprache übersetzen will... be­ deutet, daß man neben dem Millionenheer aufstürmender Denk-, Gefühls- und physischer Assoziationen ruhig verweilt. Hören können ist eine schwere Sache, auch wenn die meisten Europäer dies nicht glauben wollen.» Wenn wir in dieser Generation den Klangcharakter der Welt entdeckt - wieder-entdeckt! - haben, dann ist es notwendig, auch ein gesteigertes Sensorium für das Hören zu entwickeln. Das Hö­ ren beginnt im Schweigen. In der Stille. Dichter sprechen von der «Musik der Stille», der «Orgel des Schweigens». Wer Klang erfah­ ren will, muß zuvor gelernt haben, Stille zu erfahren. Martin Bu­ ber: «Wo keine Stille ist, da ist die Notwendigkeit wie eine Stimme der Willkür. - Beschütze mich, Schweigen!» Dies ist eine Übung. Wenn Sie können, machen Sie sie JETZT. Nachdem Sie das folgende gelesen haben. Gewiß, Sie könnten sie auch morgen machen. Aber wenn Sie sie jetzt machen, könnte morgen bereits der nächste Schritt, die Wiederholung, getan wer­ den. Vielleicht können Sie im Lotussitz sitzen. Versuchen Sie es. Für alles, was ich im folgenden schreibe, ist schon der Versuch sehr 190

viel wert, denn der Versuch ist der Weg. Und-wir haben davon gesprochen - «derwegistderwegistderweg». Da wir zwangsläufig imm er nur auf dem Weg sein können, nie über ihn hinausgelangen, kommt es eben auf den Weg an. Wie auch immer man «Tao», das japanische «Do», übersetzen mag, zuallererst heißt es: Der Weg. Wenn Sie den Lotussitz nicht einnehmen können, genügt seine Andeutung. Wichtig ist nur: Die Knie müssen tiefer sein als der Bauchnabel. Sitzen Sie aufrecht. Aber nicht «Brust raus!», son­ dern Bauch raus, ohne Ausrufezeichen dahinter - ohne Anspan­ nung. Sie sitzen im «Hara»... Werden Sie stille... Atmen Sie, wie Ihr Atem fließt. Nicht flach und oberflächlich, aber auch nicht übertrieben tief. Lassen Sie einfach den Atem durch Ihren Bauch wandern. Pusten Sie ihn nicht in sich herum. Lassen Sie ihn wan­ dern. Das muß in Ihrem Bewußtsein, nicht freilich in Ihrem Den­ ken sein: Ihr Atem ist das, was Sie am intensivsten mit der Welt und dem Sein verbindet-in einem ständigen Austausch-Prozeß, einem ständigen Geben und Nehmen. Kein Schauen, kein Reden stellt diesen Austauschprozeß (der -bewußt erlebt - Identifika­ tion bedeutet) intensiver her als das Atmen. Atma: das Selbst. Das also ist Atmen: Ihr Selbst. (Nicht Ihr Ich: eine Unterschei­ dung, die ich hier nur andeuten kann.) Hören Sie auf Ihren Atem ... Wenn Sie das eine Weile getan haben, hören Sie durch den Atem hindurch ... Sie hören den Raum, in dem Sie sitzen. Nehmen Sie sich nicht vor, ihn unbe­ dingt hören zu wollen. Wenn Sie lange genug hören - dann wer­ den Sie ihn hören ... Hören Sie jetzt durch den Raum ... Viel­ leich t gibt es Glockenschläge von ferne... Schritte... Ein Auto... Vogelstimmen ... Radiomusik von irgendwo her ... Belegen Sie nichts davon negativ ... Hören Sie hindurch. Raum, Glocken­ schlag, Schritte, Auto, Vögel: Es ist alles ein Schleier. Dahinter ist: Stille. Sie weitet sich - weiter und weiter. «Offene Weitenichts von heilig.» Das hören Sie: Weite öffnet sich. Später hören Sie vielleicht das Klopfen des Blutes in Ihren Adern. Oder Sie werden wieder auf das Kommen und Gehen Ih­ res Atems aufmerksam. Gedanken kommen. Aber die «hören» Sie nicht. Sie hören hindurch. Seien Sie Ihren Gedanken, auch wenn Sie sie jetzt nicht brauchen können, niemals feindlich ge­ sonnen. Sehen Sie gute Freunde in ihnen - und das sind sie ja wirklich. Gute Freunde dürfen jederzeit kommen. Sie merken von allein, wenn sie nicht gebraucht werden - und gehen dann wieder. Nach einer Weile - vielleicht erst nach Wochen zweimal täg­ 191

licher Übung- bemerken Sie: Nichts ist so laut wie die Stille. Es gibt das Dröhnen der Stille. Hören Sie auch da hindurch. Mit Oh­ ren so groß wie Segel auf einem Meer. Sie sind Ihre Ohren. Das Meer ist das Sein. Auf ihm segeln Sie - mit und durch Ihre Ohren. Es ist beglückend, das zu tun. Wie Segeln an einem Sommertag. Wenn Sie dann Sinn und Ton auslöschen Was hörst Du dann? Was hörst Du dann? Diese Übungist eine Zen-Übung. Zen-Übungen sollte man zwei­ mal täglich machen. Zweimal zwanzig Minuten. Sagen Sie nicht: Das kann ich nicht. Tun Sie es einfach. Jeder kann es. Millionen tun es. Und weil diese Millionen es einfach tun und nicht darüber reden, ahnen die Außenstehenden nicht, daß schon Millionen meditieren. Wenn Sie es tun, wird es Ihr Leben verändern. Mehr noch, als die Liebe es kann. Es sei die «Erlangung einer zunehmend vertieften intuitiven Wahrnehmung des wahren Wesens der Wirklichkeit», die uns die Meditation erschließe, sagt John Blofeld. Diese Wahrnehmung führe uns «unweigerlich zu größerer Weisheit und Lebensfreude ... und zu der Fähigkeit, den Sinn des Lebens besser zu verstehen. Andere Ziele, die man vielleicht als Nebenprodukte... betrachten kann, sind eine Verlängerung oder Wiederherstellung jugend­ licher Kraft, eine ausgezeichnete Gesundheit und eine Verlänge­ rung des Lebensalters auf bis zu hundert Jahre, wobei man sich bis zum Ende guter Gesundheit und einer glücklichen Gemütsverfas­ sung erfreut. Ein langes Leben allein mag nicht imbedingt als wünschens­ wert erscheinen, aber in diesem Fall ist es wahrscheinlich nicht nur von strahlender Gesundheit begleitet, sondern auch von einer heiteren Ruhe, die jeden Augenblick lebenswert macht, da die ne­ gativen Auswirkungen von Langeweile, Frustration, Verlust, Angst und Furcht gebannt sind. Außerdem wird ein Mensch, der frei ist von diesen Auswirkungen, mit aller Wahrscheinlichkeit geliebt und geschätzt, und sei es nur, weil er keine Sorgen hat, die er anderen aufzubürden versucht, die ihrerseits das Gefühl haben, mit den eigenen Sorgen genügend belastet zu sein. Bei alledem kann er sicher sein, daß er sich zu einem glücklichen Menschen 192

entwickelt, der frei ist von Neid und Abneigung und den man darum gern zum Freunde hat. Ich zweifle nicht daran, daß alle diese Ziele im Bereich des Mög­ lichen liegen. In vielen abgelegenen Einsiedeleien an den Hängen eines der zahllosen heiligen Berge Chinas traf ich taoistische Ere­ miten, die außergewöhnlich glücklich, gesund und aktiv für ihre Jahre waren; sie waren von einer erstaunlichen, fast athletischen Agilität und bewiesen oft auch große Geschicklichkeit in Kün­ sten wie dem Heilen, der Kalligraphie, Dichtkunst, Musik und Malerei, dem Selbstverteidigungskampf oder in der gärtnerischen Gestaltung von Miniaturlandschaften. Sie waren stets von einer Atmosphäre des Friedens und der Fröhlichkeit umgeben; nur ein paar Tage bei ihnen genügten schon, um in einem Menschen den Glauben an den Wert des Lebens wiederherzustellen und neue Möglichkeiten des Glücks zu eröffnen. All dies rührte von einer Weisheit her, die der inneren Stille entspringt.» Der durch Medita­ tion gewonnenen inneren Stille, die Eins-Sein schafft. In der Welt, die sich unseren Sinnen erschließt, gibt es kaum ein Bild, das Eins-Sein, Einheit so sehr vermittelt wie das einer Mut­ ter, die ihr Kind an die Brust nimmt. Was tut sie? Sie stillt ihr Kind. Auch dort also hat Eins-Sein mit Stille zu tun. Und auch in dem anderen Eins-Werden, an das man in diesem Zusammenhang denken mag, in der Vereinigung der Liebenden, hat die Sprache Stille entdeckt: Sie stillen einander. Rilke evoziert in den «Sonetten an Orpheus» «Tiere aus Stille»: Wesen, die leise sind, um hören zu können. Ihnen gelte es, eine Stätte im eigenen Sensorium zu schaffen. Rilke hat für diese Stätte das unvergeßliche Bild eines «Tempels im Gehör» gefun­ den (den wir hier zum «Tempel im Ohr» variieren). Diesen «Tempel im Ohr»; Du mußt ihn dir schaffen. Und er muß wirklich ein Tempel sein. Ein Tempel in dir, den du rein hältst. Du bist dieser Tempel. Nochmals: Niemand kann Klänge so hören, daß er sie als die wahre Natur der Welt erfährt, wenn er nicht zuvor gelernt hat, Stille zu hören und Stille zu erfahren. Man kann das nicht in weni­ gen Minuten oder nur an einem Tag oder in einer Woche lernen. Die großen Meditierenden - Asiens sowohl wie der Mystik des europäischen Mittelalters und auch die unserer Zeit - wenden ihr Leben daran und haben dadurch ein reicheres, erfüllteres, wache­ res Leben gefunden, - jetzt schon - in jedem Augenblick. Zu Zen gehört Wachheit. Auch die Wachheit durch Schock. Zen muß schockieren. Immer wieder geschieht es, wenn man mit 193

einem Zen-Meister - einem Zen-Kundigen - spricht, daß der plötzlich in die Hände schlägt. Diese Menschen können klat­ schen, wie ich nie zuvor jemanden klatschen gehört habe. Es ist, als ob ein Schuß fällt. Man zuckt zusammen, bleibt für den Rest des Gespräches «getroffen» - von diesem Schuß. Man ist hell­ wach. Oder es geschieht, daß der Rõshi, der Zen-Meister, plötzlich los­ lacht. Wo Sie doch gerade dachten, es sei alles so ungeheuer ernst. Wer das Gelächter der Zen-Leute ein paarmal gehört hat, findet alle übrige menschliche Lache im abwertenden Sinne dieses Wor­ tes «lächer-lich». Das am meisten schockierende Wort des Zen lautet: «Wenn du Buddha triffst, schlag ihn tot!» Buddha soll man totschlagen? Ge­ wiß, Buddha im Buddhismus und Jesus im Christentum haben eine verschiedene Position, aber auch Buddha wird geliebt - mit allen Fasern des Herzens - des Bauches, des Hara! - buddhistisch­ gläubiger Menschen. Übertragen Sie also ruhig, was diese Auffor­ derung zum Totschlag bedeutet, in unsere Vorstellung - nämlich: Wenn du Jesus triffst, schlag ihn tot! Seien Sie ruhig schockiert darüber. Zen will schockieren. Auch Meister Eckehart hat dar­ über nachgedacht: «Warum wir sogar Gottes ledig werden sollen.» Nämlich deshalb: Wenn Buddha - oder Jesus oder Gott - Dich bei der Meditation, bei Stille, Schweigen und Eins-Werden stören: dann schlage sie tot! Der chinesische Weise Li Pu We sagt: «Alle Menschen brauchen eine Übung des Geistes, um richtig hören zu können. Wer diese Übung nicht besitzt, der muß sie sich verschaffen durch Lernen. Daß jemand ohne zu lernen richtig zu hören vermöchte, ist in al­ ter und neuer Zeit noch nie vorgekommen.» Wie gesagt: Zu Zen gehört Wachheit. Zum Hören von Stille gehört Wachheit. Wer nicht ganz wach ist, hört nur die Abwesenheit von Geräusch, - das Fehlen von all den Lauten, die man hört, wenn es nicht still ist, - also lediglich etwas Negatives. In Luthers Übersetzung der biblischen Schöpfungsgeschichte (1. Mose 2,21) steht der Satz: «Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen. Und er schlief ein...» Wir verste­ hen das im allgemeinen so: Der Mensch wurde in Schlaf versenkt - in fast so etwas wie eine frühe «Narkose» -, damit Gott ihm die Rippe herausoperieren konnte, aus der Er die «Männin» schuf. Da­ nach wachte Adam auf und erblickte - Eva. Wir haben aber von C. G. Jung, Walter F. Otto, Heinrich Zimmer 194

und den anderen Mythen-Deutem gelernt: Wir sollen die Mythen wörtlich nehmen. An keiner Stelle steht: Adam wachte auf. Also: Adam schlief weiter. Wir schlafen immer noch-was doch besagen will: Wach war der Mensch vorher, als er androgyn warin jenem Eins-Sein, von dem die Mythen so vieler Völker der Erde berichten - Plato im « Gastmahl», aber auch die Bibel selbst, und beide offensichtlich auf noch viel ältere Mythen zurückgreifend. So alt war der Mythos, daß der Erzähler der Genesis ihn nicht im­ mer verstehen konnte. Deshalb berichtet er zwar - ganz im Sinne des Ur-Mythos: «Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn, er schuf ihn als Mann und als Weib» |i. Mose 1,27), aber mißversteht diesen Satz als Schöpfungsakt zweier geschlechtlich getrennter Wesen, obzwar doch ganz offen­ sichtlich (so interpretiert es auch Julius Evola in seiner bedeuten­ den «Meta-Physik des Sexus») die Einheit gemeint ist. Gott schuf ein androgynes Wesen. Deshalb ist ja auch - ein oft beanstandeter Widerspruch - erst im nächsten Kapitel von der Erschaffung der Eva aus der Rippe Adams die Rede. Die Spaltung der «Ur-Rasse» (dieses Wort gebraucht Plato) in Mann und in Frau, die ein Ausdruck ist-vielleicht ihr elementar­ ster - für all die anderen Polaritäten, in die der «schlafende» Mensch, der rationalistische zumal, gespannt ist, ist der eigent­ liche, der allererste Sündenfall (so sah es auch Jakob Böhme). Wach - Zen würde sagen: erweckt - ist der Mensch erst wieder, wenn er die Polarität überwunden hat. Wenn Eins-Sein wiederher­ gestellt ist. Im hebräischen Original steht an der zunächst zitierten Stelle (1. Mose 2) das Wort tardemah, das sich von radam herleitet: Ver­ stopftsein. Erst später trat die Bedeutung «Schlaf» hinzu. Gott (diese Urbedeutung schwingt mit) «verstopfte» also den Adam. Luther hat durchaus richtig mit «tiefem Schlaf» übersetzt, aber die Septuaginta, die griechische Bibel, wählte an dieser Stelle έκστασίς - das Heraustreten des Menschen aus sich selbst, das durchaus unserem heutigen Wort «Ekstase» entspricht. Man könnte sagen: Das war ein Übersetzungsfehler, aber auf diesem Niveau werden keine Fehler gemacht (wie ja auch der frühe isra­ elische Schriftgelehrte, der den Genesis-Mythos nicht genau ge­ nug niedergeschrieben hat, in diesem Sinn keinen Fehler gemacht hat). Ranke befand: «19 Jahrhunderte können nicht mißverste­ hen.» Ich möchte deshalb eher von «Schaltstellen des Bewußt­ seins» sprechen: Luther hat - fast anderthalb Jahrtausende spä­ ter - wieder zurückgeschaltet. Versteht sich, der «tiefe Schlaf» war 195

nicht nur richtiger, er war ihm auch lieber als die -Ekstase» der Griechen. Offenbar gehörte für die hellenistische Welt zur Vorstellung der Trennung des Menschen in Mann und Frau zwangsläufig Ekstase, - so zwangsläufig, daß die griechischen Übersetzer das Original korrigieren zu müssen meinten. Die Ekstase, als die sie tardemah verstanden, findet ihren Schatten - ihre Spiegelung, ihr Relikt - in der Ekstase der Liebesvereinigung, die die polare Gespaltenheit, wenn auch nur für kurze Zeit, rückgängig zu machen versucht. Plato spricht im «Gastmahl» von der -an Kraft und Stärke ge­ waltigen ... Ur-Rasse», in der Männliches und Weibliches noch eine Einheit bildeten, und dann heißt es: «Von so langem her also ist die Liebe zueinander den Menschen angeboren, um die ur­ sprüngliche Natur wieder herzustellen, und versucht, aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur wieder ganz zu ma­ chen ...» Und etwas später: «Nun liegt aber der Grund für das Streben nach Vereinigung und Verschmelzung mit dem Geliebten darin, daß dies gerade unsere ursprüngliche Natur war, in der wir eine noch unversehrte Einheit bildeten; das Verlangen und Trach­ ten nach dieser Einheit trägt den Namen Liebe.» Liebe also als eine ferne Erinnerung an das ursprüngliche Eins-Sein des Men­ schen, - eine Erinnerung, die immer wieder aufgefrischt werden muß - in einer verzweifelten Trotzdem-Haltung -, damit wir ihrer nicht ganz verlustig gehen. Das wahre Eins-Sein ist ein anderes. Wir besitzen viele Be­ schreibungen des Zustandes der Erleuchtung, und wenn auch of­ fensichtlich ist, daß sie alle nur Näherungen sein können, so darf doch wohl gesagt werden: Es gibt keine präzisere als: Eins-Sein in Wachheit. Nicht mehr gespalten sein im Zustand des tiefen Schla­ fes, des hebräischen tardemah. Nicht mehr bedürftig sein der έκστασίς und ihrer ständigen Erneuerung. Durchlässig sein in Wachheit. Das ist die Wachheit, auf die Zen zielt. Die Wachheit, in der das Schweigen zur dröhnenden Orgel des Kosmos wird - wirklich: zum lautesten Klang des Universums (dieses Wort bedeutet wört­ lich: In-Eins-wenden, Eins-Sein-schaffen). Zur Orgel des Nada Brahma. Es ist die Wachheit, in der sich unsere Frage beantwortet: Wer hört all die Klänge, von denen wir gesprochen haben, wo sie doch so offensichtlich keines normalen Menschen Ohr je hören wird? Wo ist das Sensorium, für das die Evolution oder Gott - was ja das gleiche ist - sie geschaffen haben?

X. Nada Brahma: Was sagen die Musiker? Über indische Musik, Jazz, Rock, Minimal Music Samt einem Exkurs über Hermann Hesse

Nada Brahma: Wir haben kosmologisch und physikalisch, mor­ phologisch und biologisch, mythologisch und harmonikal gefragt, jetzt fragen wir diejenigen, die die Feststellung, die Welt sei Klang, in besonderem Maße angeht: die Musiker. Es ist unserer Generation auch in dieser Hinsicht etwas Er­ staunliches passiert. In den gleichen Jahren, in denen uns der Klangcharakter des Universums bewußt wurde, haben wir ein neues Verhältnis zur Musik gewonnen. Wir haben Musiken ent­ deckt - oder doch wiederentdeckt -, die eben diesem Klangcha­ rakter auf faszinierende Weise entsprechen. Hans Kayser, als Schöpfer der modernen harmonikalen Wissenschaft mehrfach in diesem Buch zitiert, war jahrelang ein Außenseiter- kaum jeman­ dem bekannt. Heute gibt es eine ganze Generation junger Musiker und Komponisten, die sich auf ihn bezieht. Es gibt das neue musikalische Bewußtsein in zweierlei Hin­ sicht. Einerseits insofern, als die westliche Welt die Musik Asiens für sich entdeckt hat, besonders diejenige Indiens, und anderer­ seits insofern, als es eine neue Musik in der westlichen Welt gibt, die - erstmalig seit der Gregorianik, also seit rund tausend Jahren - dem Bewußtsein der asiatischen Musik entspricht und gleich­ wohl ganz und gar zeitgenössisch und westlich ist und nichts mehr weiß und wissen will von dem schrecklichen Wort Adornos, die Unmenschlichkeit der Kunst müsse die Unmenschlichkeit der Welt überbieten. Zunächst einmal sind einige der großen Meister der klassischen indischen Musik - der Sarod-Spieler Ali Akbar Khan, der SitarSpieler Ravi Shankar, der Sänger Pandit Pran Nath, der Tabla-Spieler Alla Rakha, die Geiger L. Shankar und L. Subramaniam «Stars» des europäischen und amerikanischen Musikbetriebes geworden, die die Konzertsäle ähnlich füllen wie ein Daniel Baren­ 197

boim oder ein Pinchas Zukerman. Schon diese Tatsache erhellt eindrucksvoll die Wandlung des Bewußtseins, ist es doch kaum zehn oder fünfzehn Jahre her, daß die Musik Asiens - und gerade die indische - westlichen Ohren unerträglich und als monotones Lamentieren erschien. Noch wichtiger freilich als die «Stars» sind die Hunderte von indischen Musikern, die sich in Städten der westlichen Welt nicht nur in New York und Los Angeles, sondern auch in Mün­ chen und Berlin, in Paris und Lyon, in London und Edinburgh, in Wien und Salzburg und inzwischen bereits in der Provinz - nieder­ gelassen haben und von dort unser Musikleben durchdringen. Es ist mittlerweile in der westlichen Welt kaum schwieriger, einen indischen Tabla- oder Sitar-Spieler zu finden als einen guten Celli­ sten oder Waldhornisten. Auf den Parties junger Menschen kann man heute Platten mit indischer Musik fast mit der gleichen Selbstverständlichkeit hö­ ren wie die neuesten Rock-Aufnahmen. Der jungen Generation geht indische, aber auch arabische, balinesische, japanische KotoMusik ein, als entstamme sie ihrem eigenen Lebensraum - ja sie ist jener Sphäre zugehörig, die ihre eigene neue Kultur umfaßt. Alain Danielou, jahrelang Leiter des Instituts für Vergleichende Musikwissenschaft in Berlin, erkannte schon vor Jahren: «Der Westen hat den Indern ihre Musik gerettet. In dem Moment, in dem die klassische indische Musik in Indien zugrunde zu gehen drohte, hat der Westen sie entdeckt. Dadurch haben nun auch die Inder wieder ein neues Bewußtsein ihrer eigenen Musiktradition gewonnen.» Indische Musiker, die im Westen wohnen, leben in erster Linie davon, daß sie Unterricht geben. Man muß sich das vergegenwär­ tigen: Da sind Tausende, ja Zehntausende junger Menschen in der westlichen Welt, die indische Musik und indische Instrumente spielen lernen! Und natürlich lernen sie nicht nur die Musik und die Instrumente. Denn das ist nicht möglich. Schon Ravi Shankar stellte fest: «Du kannst indische Musik nicht lernen, ohne nicht auch in die indische Denkweise einzudringen. Beides gehört zu­ sammen. Eines geht nicht ohne das andere.» Eben deshalb lernen ja die meisten dieser jungen Menschen in­ dische Musik: weil sie von indischer Spiritualität betroffen sind. Hermann Graf Keyserling wies bereits 1921, also lange bevor die heutige Welle asiatischer Spiritualität und Musik um die Erde ging, darauf hin, daß «indische Musik eine weite, unermeßliche 198

Welt» umfange: «Man erlebt nichts Bestimmtes, nichts Greifba­ res, indem man ihr lauscht, und doch fühlt man sich aufs intensiv­ ste leben. Man hört, indem man dem Wechsel der Töne folgt, in Wahrheit sich selber zu.» Ravi Shankar schreibt in seiner Biographie: «Unsere Tradition lehrt uns, daß der Klang Gott ist - Nada Brahma. Das bedeutet, daß der Klang von Musik und musikalische Erfahrung Schritte zur Selbstverwirklichung sind. Wir betrachten die Musik als eine Art geistiger Disziplin, die das innere Wesen eines Menschen zu gött­ lichem Frieden und Glückseligkeit erhebt. Wir lernen, daß eines der fundamentalen Ziele, die der Hindu in seinem Leben anstrebt, die Kenntnis der wahren Bedeutung des Universums ist - sein un­ veränderliches, ewiges Wesen -, und dies erreicht man zuerst durch eine völlige Kenntnis seiner selbst und seiner eigenen Na­ tur. Das höchste Ziel unserer Musik besteht darin, das Wesen des Universums zu enthüllen, das sie widerspiegelt, und die ragas ge­ hören zu den Mitteln, mit denen dieses Wesen erfaßt werden kann. So ist es möglich, durch die Musik Gott zu erreichen.» An anderer Stelle desselben Buches heißt es: «Es mangelt nicht an schönen Geschichten, die berichten, wie große oder heilige Musiker wie Bajiu Bavare, Swami Haridas oder Mian Tan Sen Wunder vollbrachten, indem sie bestimmte ragas sangen. Es heißt, daß manche Feuer oder Öllampen anzünden konnten, wenn sie einen raga sangen, oder Regen herbeirufen, Steine zum Schmelzen und Blumen zum Blühen bringen, gefährliche wilde Tiere anlocken - sogar Schlangen und Tiger-, die sich im Wald zu einem ruhigen, friedlichen Kreis um den singenden Musiker ver­ sammelten. In unserem modernen, mechanischen, materialisti­ schen Zeitalter erscheint all das wie eine Sammlung von Mär­ chen, doch ich glaube fest daran, daß all diese Geschichten wahr sind und möglich waren, vor allem, wenn man in Betracht zieht, daß diese großen Musiker nicht einfach Sänger oder Interpreten waren, sondern auch große Yogis, deren Geist die völlige Kon­ trolle über ihren Körper hatte. Sie kannten alle Geheimnisse des Tantra, Hatha Yoga und anderer Formen okkulter Macht, und sie waren reine, heilige Gestalten. Das ist die wundervolle Tradition unserer Musik.» Und der Musikwissenschaftler Gerhard Nestler erklärt: «Ein­ stimmige Musik, auf nicht festgelegter Tonhöhe, mit ihrer breiten Skala von Zwischen- und Obertönen, hat eine breitere Ausdrucks­ basis als mehrstimmige mit ihren fixierten Tonhöhen und als in­ tervallmäßig geordnete Musik, als also letztlich die herkömm199

liche abendländische Musik. Solche Musik ist letztlich unhör­ bar. Was wir hören, ist ihr Symbol. Das Symbol sind Töne, die der Mensch aus der Fülle dessen, was der Kosmos bereitstellt, aus­ wählt. Solche Musik entsteht aus der polaren Spannung zwi­ schen Hörbarem und Unhörbarem.» Stärker als irgendeine andere ist diese Musik dadurch geprägt, daß sie Ausschnitt ist aus einer ewigen Musik. Sie besitzt Stell­ vertreter-Funktion für das Unhörbare. Sie ist anahata nad - im Gegensatz zum ahata nad. Anahata heißt «nicht angeschlagen», ahata nad ist also der Klang, der durchs Anschlägen - durch ma­ terielle Klangerreger - entsteht, während der anahata nad der ewige Klang ist: der «Klang des Universums», der Nada Brahma. In einem der alten Bücher des japanischen Buddhismus, dem «Shoji Jisso-gí» - zu deutsch etwa: Der wahre Sinn menschlichen Gesanges - finden wir folgende Passage: «Buddhas Stimme kön­ nen wir nicht mehr hören. Und doch können wir immer noch Stimmen hören, die der seinen nahekommen. Wenn alle Dinge in dieser Welt, die eine Stimme haben, zusammen ihre Stimme erhe­ ben, indem sie zwar ihren persönlichen Charakter bewahren, aber sich in einem einzigen großen Klang verbinden, dann kommen wir dem Klang von Buddhas Stimme am allernächsten.» Wenn Zen-Mönche beim sogenannten Shomyo-Ritual in einem der Klöster der buddhistischen Shingon-Sekte singen, dann spürt man in überwältigender Weise, daß sie diese Anwei­ sung des «Shoji Jisso-gí» wörtlich nehmen. Sie wollen dem Buddha-Klang nahekommen - der identisch ist mit dem BrahmaKlang, dem Nada Brahma. Pandit Pran Nath, der große in New York lebende Sänger der indischen Kirana-Gesangsweise, sagt oft bei seinen Konzerten und zu seinen Schülern: «Nada Brahma. Sound ist Gott. Klang ist Gott. Mache das durch Gesang deut­ lich. Meditiere darüber. Wasche dadurch dein Karma rein. Singe so, daß die Menschen dies verstehen - auch wenn du es ihnen nicht vorher sagst: Klang ist Gott. Nada Brahma.» Und Allauddin Khan, einer der bedeutendsten Musiker der nordindischen Musik, erzählt, daß sein Vater 22 Jahre lang «ohne Unterbrechung» geübt habe, und er fügt hinzu: «Natürlich war das ein Üben nicht nur von Musik, sondern auch ein geistiges Üben. Es war wie Meditation. Aber es war auch Musik. Mein Va­ ter, Ustad Hafiz Ali Khan, war ein tief religiöser Mann. Er lehrte mich, daß Musik nicht zur Unterhaltung da ist, sondern daß sie ein Gebet darstellt. Er glaubte fest daran, daß durch Musik ‹Taseer› entstehen kann, jene unbeschreibliche Qualität, die die in­ 200

nerste Seele des Hörers erreichen kann. Aber nur dann, wenn sie auch wirklich für Gott gespielt wird.» In den großen Musiker-Familien Indiens gibt es die seit Jahr­ hunderten gepflegte «Zeremonie des Bindens der Ganda»: einer Schnur, die Schüler und Guru - oft sind das Sohn und Vater - auf Lebenszeit symbolisch aneinander bindet. Dazu muß der Sohn ge­ loben, daß er seine Kunst niemals entweihe und sie nicht zu leichtfertiger Unterhaltung verwende oder gar an UnterhaltungsSängerinnen und Tanzmädchen weitergebe. Weil das Spielen indischer Musik ein Anders-Denken und ein Umdenken impliziert, ist es so langwierig, indische Musik zu ler­ nen. Ustad Allauddin Khan («Ustad» bedeutet Lehrmeister und ist - in etwa - ein Moslem-Äquivalent zu dem Hindu-Ausdruck «Pandit», auch zu «Guru») erzählt, daß er zwölf Jahre lang nichts anderes als sargana, palta und muichana (Solfeggien, Tonleitern und Übungen) gelernt habe. Täglich habe er sechzehn bis zwanzig Stunden geübt. «Manchmal band ich beim Üben mein langes Haar mit einer Kordel an einen Ring in der Zimmerdecke. Wenn ich dann einnickte, spannte sich die Kordel an meinem Haar, sobald mein Kopf sich vorneigte, und weckte mich.» Ravi Shankar hat an seinen ersten Ragas vier Jahre lang geübt: «Heute würde ein Schü­ ler schon murren, wenn er vier Wochen damit zubringen müßte!» Ali Akbar Khan erzählt, daß er täglich vierzehn bis sechzehn Stun­ den üben mußte. Weil er als Kind gerne fortgelaufen sei und ge­ spielt habe, hätte sein Vater ihn oft mit einem Seil festgebunden. Ravi Shankar berichtet über seine Ausbildung bei Allauddin Khan: Von morgens vier bis gegen sechs mußte er Grundtonleitern üben, dann badete er, hielt seine Morgenandacht, aß zwei ge­ kochte Eier und ein Stück indisches Brot. Um sieben erschien er beim Ustad und hatte bis zehn oder elf Uhr Unterricht; Shankar weist ausdrücklich darauf hin, daß «völlige Demut und Hingabe an den Guru verlangt» wurde, «ein vollkommenes Abstreifen des Ego. Der Schüler ist nur der Empfangende.» Dann nahm er ein Mahl, ruhte sich kurz aus und übte für sich allein weiter - wieder drei bis vier Stunden. Nachmittags rief der Ustad erneut zum Un­ terricht - der mindestens drei Stunden dauerte. «Meine einzige Unterhaltung waren Spaziergänge am Fluß mit Ali Akbar Khan ...» - «Gegen halb acht nahmen alle das Abend­ essen ein; dann übten wir wieder einige Stunden.» - «Wenn wir Unterricht hatten, verloren wir jeden Zeitbegriff. Oft weinten wir wegen der intensiven Schönheit der Musik, und keiner wäre auf die Idee gekommen, den Zauber zu stören.» - « Daher würde ich sa­ 201

gen, daß von den ersten Anfängen an mindestens zwanzig Jahre dauernder Arbeit und Übung nötig sind, um in unserer klassi­ schen Musik Reife und Vollendung zu erreichen.» Das Gefühl, in dem der Schüler und Student indischer Musik aufwächst, ist - in stärkerem Maße noch als bei anderen Musikar­ ten- das der Verantwortung: Falsche Töne, ungenaue Rhythmen, verwischte Verzierungen, Unaufmerksamkeit, fehlende Konzen­ tration, Mangel an vinaya - an Demut, Respekt, Bescheidenheit, Hingabe - stiften Verwirrung und führen letztlich zum Chaos, nicht nur in der Musik, sondern auch in der Welt. Als Narada, der wohl früheste der großen Musiker Indiens, dessen Geschichte im Dunst des Mythos versinkt, nach jahrelanger Arbeit davon über­ zeugt war, ein Meister geworden zu sein, führte Gott Vishnu ihn zur Wohnstätte der Götter. Dort «sah er viele Männer und Frauen mit gebrochenen Gliedern. Alle weinten über ihren Zustand. Vishnu ging zu ihnen hin und fragte sie, was ihnen fehle. Sie ant­ worteten, sie alle seien Geister von Ragas und Raginis ... aber ein gewisser Narada, der Musik weder richtig spielen noch verstehen könne, habe durch seinen Gesang ihre Glieder verrenkt und gebro­ chen. Und sie sagten weiter, wenn nicht ein wirklich großer und geübter Musiker käme, um ihre Tonfolgen noch einmal richtig zu singen, würden sie nie wieder ihre unbeeinträchtigte Ganzheit und Gesundheit erlangen. Als Narada das hörte, war er tief be­ schämt, und in aller Demut kniete er vor Vishnu nieder und bat um Vergebung». An dieser Stelle ist ein Einwurf zur musikhistorischen Ortung asiatischer Musikkulturen - vor allem derjenigen Indiens, aber auch der arabischen Welt sowie derjenigen Balis und Javas, Chinas und Vietnams, Koreas und Japans - notwendig. Sie alle sind k l a s ­ s i s c h e Musiken, und es verrät - im genauen Sinne dieses Begrif­ fes - «kolonialistisches» Denken, wenn jemand sie als «Folklore» bezeichnet. Man hört das ja oft, wenn irgendwo klassische indi­ sche Musik erklingt: da spiele jemand - etwa Ravi Shankar - «in­ dische Folklore». Das ist ein wenig so, als bezeichne man ein Di­ vertimento von Mozart als Salzburger Folklore, eine Oper von Verdi als Mailänder oder ein Schubert-Lied als Wiener Folklore. Klassische indische Musik - auch die alte Musik Persiens oder die große Beduinen-Musik des Magrebh - Folklore zu nennen, ist Hochmut. Es klingt so, als gäbe es musikalische Klassik aus­ schließlich bei uns, im altehrwürdigen Abendland. All die ande­ ren haben: Folklore. (Natürlich gibt es auch in Indien Populär-, 202

leichte Unterhaltvings- und Schlagermusik und wirkliche Folk­ lore.) Viele der großen außereuropäischen Musikkulturen sind der unseren nicht nur ebenbürtig, sondern in bestimmten Bereichen überlegen. Rhythmisch zum Beispiel sind afrikanische und indi­ sche Musiken reicher als nahezu alles, was es in Europa gibt. Selbst die längsten tâlas - die rhythmischen Reihen der indi­ schen Musik -, tâlas etwa von achtzig oder hundert Schlägen, die auf die komplizierteste Weise untergliedert werden - können nicht nur von indischen Musikern, sondern auch vom Publikum derartiger Musikdarbietungen in jedem Schlag nachvollzogen werden, während doch das westliche Publikum bei allem, was über Dreier- oder Vierer-Metren, und die westlichen Musiker bei dem meisten, was über Fünfer- und Siebener-Metren hinausgeht, unsicher werden. Im Nahen Osten, in Indien, in Afrika, in Indone­ sien kann man auf der Straße junge Burschen sehen, die auf selbstgebastelten Perkussionsinstrumenten - aus Eimern, Kannen, Benzinkanistern, Metallfässern, Kochtöpfen, Konservenbüchsen sinnvoll zusammengefügt - mit Armen und Beinen die kompli­ ziertesten Polyrhythmen mit absoluter Genauigkeit anschlagen, sieben oder acht verschiedene Rhythmen einander überlagernd. Um etwas annähernd Ähnliches im Raum der westlichen Musik zu realisieren, bräuchte man ein halbes Dutzend verschiedener, hoch-studierter Perkussionisten, von denen dann jeder einzelne seinen Part stur durchschlagen würde, - wobei, versteht sich, der Schwung und die Vitalität der orientalischen Darbietung gar nicht erst aufkämen. Auch in tonaler Hinsicht ist die indische Musik reicher als un­ sere europäische, weil sie über Mikrotöne verfügt; die Anzahl der Töne ist um etwa das Doppelte größer als bei uns. Indische Ohren sind noch nicht durch die Annäherungswerte unserer «wohltem­ perierten» Skala verdorben. Sie hören die Töne, die für uns durch einen langen Abschleifungsprozeß «gleich» geworden sind - also zum Beispiel ein dis und ein es oder ein fis und ein ges - als durch­ aus verschiedene. Zur westlichen Vorstellung von musikalischer Kultur gehört Geschichte. Auch in dieser Hinsicht sind viele der außereuropäi­ schen Musikkulturen uns überlegen. Die große Musik der Bedui­ nen und des westarabischen Magrebh war im n. Jahrhundert in ihrem ganzen Reichtum fertig ausgeprägt - zu einer Zeit also, als die europäische Musikgeschichte noch kaum begonnen hatte. Und die klassische indische Musik läßt sich bis ins 7. Jahrhundert 203

vor Christus zurückverfolgen - so daß es heute eine ungebrochene Überlieferung gibt, die sich über einen Zeitraum von fast drei Jahr­ tausenden erstreckt. Es ist an der Zeit, daß sich westliche Musik­ hörer dies vergegenwärtigen, damit sie bescheidener werden in ih­ rem seit Generationen gedankenlos nachgeplapperten Anspruch, Musikkultur - zumal das, was wir «Klassik» nennen - für sich gepachtet zu haben. Das neue musikalisch-spirituelle Bewußtsein äußert sich freilich nicht nur insofern, als wir die Musik Asiens hören und diese Mu­ sik in den Philharmonien Europas und Amerikas erfolgreich ge­ worden ist - noch offensichtlicher wird es in der Tatsache, daß zahlreiche Musiker der westlichen Welt es praktizieren. Der erste war ein Jazz-Musiker, der große 1967 verstorbene Tenor- und So­ pransaxophonist John Coltrane. Seine Wirkung strahlte bis in die Rock- und Pop-Musik aus, ja überhaupt in das Bewußtsein junger Menschen (auch, wenn viele von ihnen den Namen Coltrane noch nie gehört haben). John Coltranes bekanntestes Stück ist «Love Supreme», 1965 entstanden - mit einem Text, den er selbst ge­ schrieben hat. Hier ein Ausschnitt daraus: «Ich will alles tun, was ich kann, um Deiner, Oh Herr, wert zu sein. Alles, was ist, hat mit Dir zu tun, Danke Dir, Gott. Gott ist. Er war seit je. Er wird immer sein. Worte, Klänge, Sprache, Menschen, Erinnerung, Gedanken, Angst, Zeit: Es ist alles miteinander verwandt... Es ist alles durch Einen gemacht, Alles in Einem gemacht, Gesegnet sei Dein Name. Gedankenwellen - Herzwellen - alle Schwingungen alle Wege führen zu Gott. Danke Dir, Gott. Die Tatsache schon, daß wir existieren, ist Beweis Deiner Gegenwart, oh Herr. Gott atmet durch uns so vollständig Und doch so zart, daß wir es kaum fühlen. Er ist alles, was wir sind. Danke Dir, G o t t . . . 204

Mögen wir niemals vergessen, Auch im Sonnenschein unseres Lebens, im Sturm und im Regen: Überall ist Gott. Er ist auf allen Wegen und immer da. Alles Lob sei Dir, oh Gott. Danke Dir, Gott, Amen.» Man kann heute die revolutionäre Bedeutung eines solchen Tex­ tes in einem J a z z-Stück kaum mehr nachvollziehen. Denn inzwi­ schen sind wir daran gewöhnt, daß Jazz-Musiker derartige Gedan­ ken äußern und Texte dieser Art schreiben und vertonen. Wir ha­ ben uns damit vertraut gemacht - eben durch John Coltrane. Vor 1965 ging es in den Texten der Stücke, die man von Jazz-Musikern hörte, um Liebe, Treue und Lust, und man konnte schon dankbar sein, wenn sie sprachlich einigermaßen in Ordnung waren. John Coltrane, so der amerikanische Kritiker Ralph Gleason in einem oft zitierten Ausspruch, hat «das musikalische Bewußtsein der jungen Menschen der westlichen Welt von Amerika nach Asien verlagert». Mittlerweile gibt es ganze Generationen junger Jazz- und Rock-Musiker in den USA und Europa, die - von Col­ trane herkommend - die asiatische Musik, vor allem die Indiens, aber auch die der arabischen Welt, so genau - oder fast so genau wie ihre eigene musikalische Tradition kennen und souverän dar­ über verfügen. Das, was all diese Musiker spielen - die asiatischen wie die westlichen -, unterscheidet sich von der traditionellen europäi­ schen Musik dadurch, daß es «modal» ist, das heißt, es basiert nicht auf den ständig wechselnden Akkordgerüsten, die unserer abendländischen Musik unterliegen, sondern auf einer «Skala» einer mode - letztlich auf einem einzigen Akkord -, will sagen: es ist sehr viel ruhiger, sehr viel weniger «nervös» (wenn ich dieses Wort einmal ohne Wertung, einfach auf das menschliche Nerven­ system bezogen, verwenden darf) als unsere Musik, die ja dies eben ist: auf Nerven bezogen. Modale Musik hat mit einer be­ stimmten geistigen - einer spirituellen - Haltung zu tun. Der deutsche Musiker Karl Berger, der in Woodstock im Staate New York eine bekannt gewordene Schule für «Weltmusik» leitet, sagt: «Modal spielen ist eben nicht nur ‹modales Spielen›. Du kannst nicht einfach anstelle der bisherigen Akkordgerüste mo­ dale Skalen verwenden und darüber improvisieren und glauben, 205

daß auf diese Weise sinnvolle Musik entstehen kann. Wenn du nicht anders denkst, dann entstehen nur Etüden.» Als ich bei einem Symposium in Washington über den kulturel­ len Beitrag Amerikas in der Welt die Diskussion auf das Thema der Modalität in der heutigen amerikanischen Musik lenkte, stand der schwarze Tenorsaxophonist Nathan Davis, Universi­ tätslehrer an der Pittsburgh University, auf und sagte: «ModalSpielen hat mit Spiritualität zu tun, - und was wir wirklich mei­ nen, wenn wir Spiritualität sagen, das ist Religiosität. Wir ver­ wenden nur nicht dieses Wort, weil wir nicht das meinen, was die christliche Welt unter Religiosität versteht.» Was junge Musiker heute unter Spiritualität verstehen, wird in dem Text von John Coltrane, den ich zitiert habe, beispielhaft deutlich. Es gibt diese Spiritualität inzwischen in vielen Arten westlicher Musik, längst auch außerhalb des Jazz, - zum Beispiel im Rock. Als Beispiel sei Santana, die Gruppe eines in San Fran­ cisco lebenden Gitarristen mexikanischer Abstammung, ge­ nannt. Eines seiner erfolgreichsten Werke heißt «Caravanserai», und Santana hat deutlich gemacht, daß die «Karawanenreise», von der die Musik handelt, ein Gleichnis ist für eine Reise der Seele in neues, noch unerschlossenes Land. Es ist auffällig, daß es solche «Seelenreisen» seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre immer häufiger in der westlichen Musik gibt. Der Jazz-Musiker Wayne Shorter sagt von seiner «Odyssey of Iskra»: «Das Stück handelt von der Odyssee eines westafrikanischen Odysseus na­ mens Iskra. Vielleicht kannst du diese Musik auf die Reise deiner eigenen Seele beziehen.» Und ein anderer Jazz-Musiker, der Pianist McCoy Tyner, nannte eine seiner Kompositionen «Sahara» und zitierte dazu den ara­ bischen Historiker Ibn Khaldoun: «Diese Wüste ist so groß, daß es ein Leben dauert, sie von einem Ende zum anderen zu durchque­ ren. Und selbst an ihrer schmälsten Stelle braucht man noch eine Kindheit dazu.» Es ist offensichtlich: die Wüste, die Karawane, die Odyssee sind Symbole für die Reise, die uns in dieser Generation auferlegt ist die Reise in die Welt eines neuen Bewußtseins. «Eternal Caravan of Re-incarnation» heißt der Eröffnungssatz von Santanas «Cara­ vanserai» : die ewige Karawanenreise der Wiederverkörperung. Von Sufi Hazrat Inayat Khan (die Sufis sind - wir erinnern uns die zumeist aus Persien stammenden Mystiker des Islam) gibt es einen Text, der seit dem Ende der sechziger Jahre unter vielen Mu­ sikern der westlichen Welt zirkuliert. Vollständig erscheint er nur 206

in einem wenig verbreiteten Privatdruck der Sufi-Mission in Lon­ don. Aber gekürzt und vervielfältigt in Tausenden von Abzügen, zitiert in Artikeln und Interviews, begegnet man ihm überall; Mu­ siker legen ihn gelegentlich ihren Weihnachts-Glückwünschen oder Geburtstagsgrüßen bei. Dieser Text umreißt das musika­ lische und spirituelle Bewußtsein der jungen Musiker-Generation präzise und repräsentativ wie kein anderer. Hier einige Abschnitte daraus: «Was wir in unserer Alltagssprache Musik nennen, ist nur ein miniaturhafter Ausschnitt - aus der Musik und der Harmonie des Universums, die hinter allem wirkt und die die Quelle und der Ursprung der Natur ist. Deshalb haben die Weisen aller Zeitalter Musik als heilige Kunst betrachtet. In der Musik kann der, der zu sehen versteht, das Bild des Universums erkennen... Viele Religionen der Welt haben uns gelehrt, daß der Ursprung der Schöpfung Klang ist. Aber es ist kein Zweifel: Die Art, in der dieses Wort Klang in unserer Alltagssprache gebraucht wird, ver­ schleiert die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes, wie es in den alten Schriften verwendet wird. Die Musik des Universums ist der Hintergrund jenes so viel kleineren Phänomens, das wir auf dieser Erde als «Musik» empfin­ den. Unser Gefühl für Musik - die Art, in der sie uns anspricht zeigt uns, daß die wahre Musik in der Tiefe unseres Seins ruht. Musik ist im Wesen des Universums. Musik ist nicht nur das eigentliche große Objekt des Lebens, sie ist dieses Leben selbst. Was uns hinzieht zur Musik, ist die Tatsache, daß unser inner­ stes Wesen Musik ist. Unser Geist und unser Körper und die Na­ tur, in der wir leben; die Natur, die uns gemacht hat; all das, was über uns und unter uns und um uns herum ist: all dies ist Mu­ sik ... Wir sagen, daß wir die Natur lieben. Aber was an der Natur lie­ ben wir? Ihre Musik. Es ist etwas in uns, das berührt wird von der rhythmischen Bewegung und der vollkommenen Harmonie, die wir in unserem Alltagsleben so selten finden... Wenn man den Kosmos betrachtet, die Bewegungen der Sterne und Planeten, das vollkommene und ewige Gesetz der Schwin­ gungen und Rhythmen, dann wird uns bewußt, daß das kosmi­ sche System nach dem Gesetz der Harmonie, das heißt: nach dem der Musik funktioniert. Wann immer die Harmonie des kosmischen Systems gefährdet wird, kommen Katastrophen über die Welt. Wir spüren das an den 207

vielen zerstörerischen Kräften, die es um uns herum gibt. Die Weisheit des astrologischen Gesetzes, die Weisheit von Magie und Mystik basieren auf Musik. Deshalb ist das Leben der erleuchte­ ten Menschen, die auf dieser Erde gelebt haben - das der großen Propheten Indiens zum Beispiel - Musik gewesen. Aus der Minia­ turmusik, die wir verstehen, leiteten sie die kosmische Musik des Universums ab. Das hat sie inspiriert zu ihren großen geistigen Leistungen... Jeder Mensch ist Musik - ewige Musik - Tag und Nacht erklin­ gend. Intuitive Wesen können diese Musik hören. Aus diesem Grunde gibt es Menschen, die dich abstoßen, und andere, die dich anziehen. Was dich in Wirklichkeit abstößt oder anzieht, ist die Musik, die in einem Menschen schwingt. Die folgende Geschichte handelt von Omar, dem großen Kalifen Arabiens. Jemand wollte ihm etwas Böses antun und suchte nach ihm. Omar wohnte, obwohl er ein König war, nicht in seinen Palä­ sten, sondern in der Natur. Das wußte der Mann, der Omar verlet­ zen wollte, und er war froh darüber, denn er dachte, dies würde seine Aufgabe erleichtern. Aber als er sich dem Platz, an dem Omar saß, näherte, bemerkte er: Je näher er kam, desto mehr ver­ änderte sich seine Einstellung. Und als er Omar erblickte, fiel ihm sein Dolch aus der Hand, und er sagte: ‹Ich kann dich nicht verlet­ zen. Sage mir, was ist die Kraft in dir, die mich daran hindert, das zu tun, um dessentwillen ich gekommen bin?› Und Omar antwor­ tete: ‹Mein Eins-Sein mit Gott›. Was meinte Omar mit diesem Eins-Sein mit Gott? Er meinte: Eingestimmt sein auf die Unendlichkeit. In Harmonie sein mit dem Universum. Mit anderen Worten: Omar empfing die Musik des Universums ... Das Charisma, das die Persönlichkeit der Heiligen zu allen Zei­ ten umgeben hat, liegt darin, daß sie empfänglich sind für die Mu­ sik des Seins. Darin liegt ihr Geheimnis ... Der Unterschied zwischen der materialistischen und der spiri­ tuellen Sehweise liegt darin, daß der materialistische Gesichts­ punkt zuerst die Materie sieht und glaubt, daß Intelligenz und Schönheit und alles andere sich daraus entwickelt hätten. Aber der spirituelle Gesichtspunkt verrät uns, daß Intelligenz und Schönheit zuerst kommen - und aus ihnen hat sich alles andere entwickelt. Deshalb liegt Musik im Wesen des Seins, - auf dem Grunde von allem, was existiert. Jeder weiß, daß der Samen einer Rose seiner Essenz nach die Rose selbst ist. Ihr Wohlgeruch, ihre Form, ihre Schönheit sind in ihm enthalten. Und selbst wenn das 208

Samenkorn nicht aufgeht, die Essenz der Rose ist gleichwohl in ihm... Die Erfahrung der Harmonie und des Eins-Seins kann ein Mensch überall machen: in der Schönheit der Natur, in den Far­ ben der Blumen, in allem, was er sieht, und in allem, dem er begeg­ net. In den Stunden der Meditation und der Einsamkeit. Und in den Stunden, in denen er inmitten der Welt ist. Überall spürt er Musik. Erfährt er voll Freude ihre Harmonie ... Indem er die Mau­ ern, die ihn umgeben, niederbricht, erfährt er das Eins-Sein mit dem Absoluten. Dieses Eins-Sein ist eine Manifestation der Mu­ sik der Sphären.» Der zeitgenössische westliche Musiker, der zum erstenmal auf diesen Text hingewiesen hat - für mich jedenfalls war er der erste, aber ich weiß, daß er es auch für viele andere gewesen ist -, ist der Trompeter Don Cherry. Er hat eine für diese ganze Generation von Musikern beispielhafte Entwicklung durchgemacht: vom Jazz mit seiner Bindung an die Blues-Musik der schwarzen Ghettos und die Gospel-Klänge der Baptistengemeinden zu immer größe­ rer musikalischer und spiritueller Offenheit, in der sich die Kultu­ ren der ganzen Welt zu einem Mosaik zusammenfügen, das Eines ist - ein einziges großes Ganzes. Don Cherry lebt, wie inzwischen Tausende von Musikern in der ganzen Welt, in einer musika­ lischen und geistigen Überlieferung, in der es ihm unmöglich ge­ worden ist, nachzuvollziehen, daß irgendein kultureller Strom oder Zweig esoterischer, abgelegener, «exotischer» sein könnte als ein anderer. «Für wen exotisch», fragte er einmal, «sie für dich oder du für sie?» Don Cherrys musikalischer Weg ist eng mit meinem eigenen verknüpft. In Amerika hatte er nur mit kleinen Gruppen spielen können - in Trios und Quartetten. Deshalb bot ich ihm seit der Mitte der sechziger Jahre in Konzerten und Produktionen im Rah­ men des New Jazz Meetings Baden-Baden, der Berliner Jazztage und der Donaueschinger Musiktage die Möglichkeit, seine Ideen in einer Reihe großorchestraler Werke zu realisieren. In der von Cherry für die Donaueschinger Musiktage 1971 ge­ schriebenen Suite «Humus - The Life-Exploring Force» gibt es den Satz «Siddhartha» - nach Hermann Hesses gleichnamigem Buch -, und damit ist nun endlich ein anderer Name gefallen, der fallen muß, wenn von dem Neuen Bewußtsein die Rede ist. John Coltrane und Hermann Hesse: das sind die beiden, die dieses Be­ wußtsein zwar nicht begründet haben - es ist Jahrtausende alt -, von denen es aber die jungen Menschen der westlichen Welt neu 209

gelernt haben, und zwar in den sechziger Jahren, dem Jahrzehnt, das man das interessanteste unseres Jahrhunderts genannt hat. Für das Verständnis des «feuilletonistischen Zeitalters» (Hesse) hat es ein neues politisches und gesellschaftliches Selbstverständ­ nis gebracht; aber es hat auch den Weg zu einer neuen geistigen und spirituellen Sensibilität bereitet - und inzwischen scheint es, daß diese bleibender ist als jenes. Es war das Jahrzehnt, an dessen Anfang -1961-John Coltrane mit «My Favourite Things» seinen ersten großen Erfolg hatte und in dem, eben noch als schwäbischer Biedermann von der Literaturkritik mißachtet, Hermann Hesse zum meistgelesenen Schriftsteller deutscher Zunge avancierte. In einem seiner «Märchen» spricht Hesse von einem Weisen der Vorzeit, der «die Einheit der Welt als einen harmonischen Zusam­ menklang der Himmelsräumevernommenhabe».Bereits 1925 fin­ det sich bei ihm das Bild von der «weitschwingenden Weltmusik der Sterne». Und über sein «Glasperlenspiel» sagt er, daß in ihm «der Kultus der Musik und des Meditierens aufs innigste zusam­ menhängt». Dem jungen Josef Knecht, dem Helden dieses Buches, verwandelt sich beim Meditieren die Welt in Töne, verwandelt sich der Gang der Noten in mathematische Figuren, in rhythmische Ornamente. Man könnte sagen, die Musiker der zeitgenössischen Minimal Music - mehr über sie später - haben einfach die An­ weisungen des «Glasperlenspielers» Josef Knecht befolgt und sind dadurch zu ihrer Musik gekommen - wie zum Beispiel der Kompo­ nist Peter Michael Hamel. Hamel hat eine in jeder Hinsicht ingeniöse musikalische Reali­ sation von Hesses Gedicht «Orgelspiel» geschaffen, das zu den poetischen Vorstufen des «Glasperlenspiels» gehört. Ich kenne keinen Literaten, keinen Literaturwissenschaftler, der diesen Text so genau, so liebend erfaßt hätte wie der Musiker Peter M. Hamel. Er - und die Mitglieder seiner Gruppe Between - ordnen den drei Ebenen des Textes drei verschiedene Klangebenen zu. Zum ersten Teil von Hesses Text gehört die Orgelmusik der alten Meister aus Johann Sebastian Bachs Zeit, auf einer Kirchenorgel gespielt; der zweite Teil, swingend auf elektronischen Keyboards gespielt, nach wie vor über das gleiche Thema, handelt von den «anderen Klängen» und den «anderen Festen» der jungen Men­ schen von heute, und der dritte Teil hebt beides, Tradition und Moderne, auf eine «zeitlose» Ebene. Wer Hamels Musik zu Her­ mann Hesses «Orgelspiel» hört, erlebt und erfährt diese drei Ebe­ nen - und das heißt: er erfährt diesen Text - unmittelbarer, als es je beim bloßen Lesen möglich sein könnte. Hier einige Abschnitte 210

aus Hesses Gedicht (im übrigen verweise ich auf die Schallplat­ tenangabe am Ende dieses Kapitels):

Orgelspiel

Seufzend durchs Gewölbe zieht, und wieder dröhnend, Orgelspiel. Andächtige Gläubige hören, Wie vielstimmig in verschlungenen Chören, Sehnsucht, Trauer, Engelsfreude tönend, Sich Musik aufbaut zu geistigen Räumen, Sich verloren wiegt in seligen Träumen, Firmamente baut aus tönenden Sternen, Deren goldene Kugeln sich umkreisen, Sich umwerben, nähern und entfernen, Immer weiter schwingend sonnwärts reisen, Bis es scheint, es sei die Welt durchlichtet, Ein Kristall, in dessen klaren Netzen Hundertfach nach reinlichsten Gesetzen Gottes lichter Geist sich selber dichtet. Daß aus Blättern voll von Notenzeichen Solche weitgeschwungenen, geistdurchsonnten, Solche Welt- und Sternenchöre werden konnten, Daß ein Orgelpfeifenchor sie in sich banne, Ist es nicht ein Wunder ohnegleichen? Daß ein Musikant am Manuale Sie mit Eines Menschen Kraft umspanne? Daß ein Volk von Hörem sie verstehe, Mit erschwinge, töne, mit erstrahle, Mit hinauf ins tönende Weltall wehe? Arbeit war's und Ernte langer Zeiten, Zehn Geschlechter mußten daran bauen, Hundert Meister fromm es zubereiten, Viele tausend Schüler sie begleiten. 211

Und nun spielt der Organist, es lauschen Im Gewölb die Seelen hingegangener Frommer Meister, mit vom Bau umfangener, Den sie gründen halfen und errichten. Denn derselbe Geist, der in den Fugen Und Toccaten atmet, hat einst die besessen, Die des Münsters Maße ausgemessen, Heiligenfiguren aus den Steinen schlugen ... Auf dem Zauberpfad der Notenzeichen, Dem Geäst der Schlüssel, Signaturen, Auf dem Tastwerk, das die Füß' und Hände Eines Organisten bändigen, entweichen Gottwärts, geistwärts alle höchsten Strebungen, Strahlen, was an Leid sie je erfuhren, Aus im Ton. In wohlgezählten Bebungen Löst der Drang sich, steigt die Himmelsleiter, Menschheit bricht die Not, wird Geist, wird heiter. Denn zur Sonne zielen alle Erden Und des Dunkels Traum ist: Licht zu werden... Doch indes die alten Klanggebäude Weiter aus dem Pfeifenwalde streben, Voll von Frömmigkeit, von Geist, von Freude, Hat sich draußen dies und das begeben, Was die Welt verändert und die Seelen. Andre Menschen sind es, die jetzt kommen, Eine andre Jugend wächst, ihr sind die frommen Und verschlungenen Stimmen dieser Weisen Nur noch halb vertraut, ihr klingt veraltet Und verschnörkelt, was noch eben heilig War und schön, in ihrer Seele waltet Neuer Trieb, sie mag sich nicht mehr quälen Mit den strengen Regeln dieser greisen Musikanten, ihr Geschlecht ist eilig, Krieg ist in der Welt, und Hunger wütet. Kurz verweilen diese neuen Gäste Hier beim Orgelklang, zu wohlbehütet Finden sie, zu priesterlich-gemessen 212

Die Musik, so schön und tief sie sei, sie wollen Andre Klänge, feiern andre Feste, Fühlen auch in halb verschämter Ahnung Dieser reich gebauten, hoheitsvollen Orgelchöre unwillkommene Mahnung, Die so viel verlangt. Kurz ist das Leben, Und es ist nicht Zeit, sich hinzugeben So geduldig komplizierten Spielen... Manchmal aber bleibt ein Mensch beim Dome Lauschend stehen, öffnet sacht die Pforte, Horcht entrückt dem fernen Silberstrome Der Musik, vernimmt aus Geistermunde Heiter-ernster Väterweisheit Worte, Geht davon mit klangberührtem Herzen, Sucht den Freund auf, gibt ihm flüsternd Kunde Vom Erlebnis der entrückten Stunde Dort im Dom beim Duft erloschener Kerzen. Und so fließt im unterirdisch Dunkeln Ewig fort der heilige Strom, es funkeln Aus der Tiefe manchmal seine Töne; Wer sie hört, spürt ein Geheimnis walten, Sieht es fliehen, wünscht es festzuhalten, Brennt vor Heimweh. Denn er ahnt das Schöne. Das «Glasperlenspiel» - das «Spiel der Spiele», wie Hesse es nannte - ist nicht denkbar ohne die Überzeugung, um die es in diesem Buch geht: Die Welt ist Klang: «Zu allen Zeiten stand das Spiel in engem Zusammenhang mit der Musik und verlief mei­ stens nach musikalischen oder mathematischen Regeln. Ein Thema, zwei Themen, drei Themen wurden festgestellt, wurden ausgeführt, wurden variiert und erlitten ein ganz ähnliches Schicksal wie das Thema einer Fuge oder eines Konzertsatzes. Es konnte ein Spiel zum Beispiel ausgehen von einer gegebenen astronomischen Konfiguration oder vom Thema einer Bach-Fuge oder von einem Satz des Leibniz oder der Upanischaden, und es konnte von diesem Thema aus, je nach Absicht und Begabung des Spielers, die wachgerufene Leitidee entweder weiterführen und ausbauen oder auch durch Anklänge an verwandte Vorstellungen ihren Ausdruck bereichern. War der Anfänger etwa fähig, durch 213

die Spielzeichen Parallelen zwischen einer klassischen Musik und der Formel eines Naturgesetzes herzustellen, so führte beim Könner und Meister das Spiel vom Anfangsthema frei bis in unbe­ grenzte Kombinationen ... Es bedeutete eine erlesene, symbol­ hafte Form des Suchens nach dem Vollkommenen, eine sublime Alchimie, ein Sichannähern an den über allen Bildern und Viel­ heiten in sich einigen Geist, also an Gott.» Hermann Hesse nennt das «Glasperlenspiel» eine «Weltspra­ che, die aus allen Wissenschaften und Künsten gespeist war, sich spielend und strebend dem Vollkommenen entgegen, dem reinen Sein, der voll erfüllten Wirklichkeit». «Was die Menschheit an Erkenntnissen, hohen Gedanken und Kunstwerken in ihren schöpferischen Zeitaltern hervorgebracht hat, was die nachfolgenden Perioden gelehrter Betrachtung auf Be­ griffe gebracht und zum intellektuellen Besitz gemacht haben, dieses ganze ungeheure Material von geistigen Werten wird vom Glasperlenspieler so gespielt wie eine Orgel vom Organisten, und diese Orgel ist von einer kaum auszudenkenden Vollkommen­ heit, ihre Manuale und Pedale tasten den ganzen geistigen Kos­ mos ab, ihre Register sind beinahe unzählig, theoretisch ließe mit diesem Instrument der ganze geistige Weltinhalt sich im Spiele reproduzieren.» Und Volker Michels in seinem Essay «Zur Entstehung des Glas­ perlenspiels»: «Am fruchtbarsten für die Entwicklung des Glas­ perlenspiels war schließlich die Integration der Mathematik und Musik, äußerster Abstraktion mit unmittelbarster Sinnlichkeit, die sich nicht mehr als unvereinbare Antagonismen, sondern als verwandte Bereiche erwiesen. Erst durch sie erreichte das Spiel eine Elastizität, welche die Ergebnisse fast aller übrigen Wissen­ schaften mit einbeziehen konnte und die zuletzt eine Versöhnung der Wissenschaften nicht nur mit den Bereichen der Kunst, son­ dern am Ende sogar mit denen der Religion herbeigeführt hat... Daß die Vision und Hypothese, der Hesse den Namen ‹Glasperlenspiel› gab, potentiell schon lange existiere, hat er immer wieder betont. Gleich in der Einführung weist er darauf hin: ‹Wie jede große Idee hat es eigentlich keinen Anfang, sondern ist der Idee nach immer da gewesen.› Vorgebildet als Ahnung findet man es bereits bei Pythagoras, in den platonischen Akademien Griechenlands, in der Philosophie des alten China, in hellenistisch-gnostischen Kreisen, zur Zeit der Höhepunkte der arabisch-maurischen Kultur, der Scholastik und des Humanismus, in den Mathematiker-Akademien des 17. und 214

18. Jahrhunderts, bei Mystikern wie Nikolaus Cusanus und Ro­ mantikern wie Novalis. Auch Geister wie Abälard, Leibniz und Hegel haben ohne Zweifel den Traum gekannt, ‹das geistige Uni­ versum in konzentrische Systeme einzufassen und die lebendige Schönheit des Geistigen und der Kunst mit der magischen Formu­ lierkraft der exakten Wissenschaft zu vereinigen›.» Volker Michels erinnert auch an die Widmung zum Glasperlen­ spiel. Sie lautet (und Millionen junger Menschen haben sie wört­ lich genommen): «Den Morgenlandfahrern»: «Das ist die Chiffre Hesses für alle Wissenschaftler, Künstler, Philosophen, für alle Menschen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die unter­ einander darin verwandt sind, daß sie, unabhängig von den Moden und Parolen des Tages, ihre eigene Veranlagung konsequent ver­ wirklichen, nicht aus Selbstzweck, sondern aus Notwendigkeit, und somit beitragen zur Objektivierung des Geistes, der Wissen­ schaft und Humanisierung des Menschen, die über allen Be­ schränkungen der Geschichte, Nationalismen, Konfessionen und Ideologien steht. Diese Menschen überleben ihre eigene Genera­ tion.» «Glasperlenspiel-Musik» in einem gesteigerten Sinne machen die Komponisten und Spieler der Minimal Music oder, wie man sie gelegentlich auch nennt, der Periodischen Musik. In ihr vereinen sich die Ströme der westlichen und der asiatischen Musik. Mini­ mal Music ist ebensosehr Musik für die Aura wie für die Ohren. Oft hat man den Eindruck, als würden ständig die gleichen Tonbe­ wegungen wiederholt, aber im Zuge der Wiederholungen gesche­ hen kaum merkliche Veränderungen. Und am Ende eines Stückes wird in minimalen Fortschreitungen - in einem Kreisen, das bewußt oder unbewußt - die Kategorie des Unendlichen assozi­ iert - etwas Neues, Anderes erreicht, ein anderes Ufer, eine andere Welt. Die musikalischen Phrasen und Bewegungen der Minimal Music, ihr Kreisen, entsprechen auf faszinierende Weise den Man­ tras der asiatischen Religiosität, die sich in der Meditation, kaum spürbar für den Meditierenden, weiterentwickeln und nach eige­ nen Gesetzen zu wachsen und zu wirken beginnen. Die ersten Komponisten von Minimal Music waren drei Ameri­ kaner: La Monte Young, Terry Riley und Steve Reich. Alle drei haben Jazz-Musiker genannt, die sie entscheidend geprägt haben: den Schlagzeuger Max Roach, den Trompeter Miles Davis und vor allem John Coltrane. Terry Riley, der seine Musik viel lieber «Ma­ ximal Music» oder - ironisch - «Country 'n Eastern» genannt wis215

sen würde: «In einem gewissen Sinn bezieht sich meine Musik sehr stark auf die klassische indische Musik, deren Interpreten unendliche Folgen von Tönen und Linien aus demselben Thema... entwikkeln können. Bei diesem Konzept bleiben die komponierten Teile unverändert, aber der Musiker ist frei, sie in den Grenzen seiner Imagination fortzuspinnen ... Wenn man diese Bedingungen ge­ genwärtig hat, steht es einem frei, über die allmähliche Auffäche­ rung eines musikalischen Universums zu meditieren ... Musik sollte der Ausdruck vornehmer spiritueller Objekte sein: der Philosophie, des Wissens und der Wahrheit - der edelsten Fä­ higkeiten des Menschen. Um ihnen Raum zu geben, muß Musik muß der Musiker - notwendig Ruhe und Ausgeglichenheit besit­ zen.» In Deutschland ist der bereits erwähnte Peter Michael Hamel der hervorragende Vertreter dieser «neuen» Neuen Musik geworden. Hamel schreibt in der Einleitung zu seinem Buch «Durch Musik zum Selbst»: «Der geistig neuen Musik geht es darum, aus allen Musiktraditionen zu lernen, vergessene Hintergründe aufzuspü­ ren und die ursprüngliche Funktion der Musik, ihre Bindung an tiefste menschliche Erfahrungen, wieder ins Licht zu rücken, ohne dabei einem naiven Eklektizismus zu erliegen. Es herrscht gegen­ wärtig ein Drang, die verschütteten Urquellen der Musik freizule­ gen, die allein den Weg zu einem neuen, den Menschen in seiner Ganzheit erfassenden Musik-Erleben weisen können... In der Avantgarde, im Jazz und in der Popmusik manifestiert sich gleichermaßen eine Hinwendung zu mehr geistigen, nach in­ nen gewendeten Klängen. Das zunehmende Interesse der Öffent­ lichkeit an außereuropäischer und an dieser neu entstandenen Musik ... deutet darauf hin, daß auch bei uns Musik in Zukunft nicht nur eine einseitige, auf eine bestimmte Dimension des Menschseins beschränkte Funktion haben wird. Es handelt sich hierbei selten um Entdeckungen unserer Zeit, vielmehr um eine Wiederentdeckung dessen, was alten Kulturen und Völkern längst bewußt und durch die vorwiegend rationalisti­ sche Entwicklung des Abendlandes lediglich in Vergessenheit ge­ raten war. Es ist unsere Aufgabe ... diese Zusammenhänge neu zu entdecken und auch in das Musikbewußtsein des zwanzigsten Jahrhunderts zu integrieren.» Hamel zitiert den Musikwissenschaftler Gerhard Nestler: «Diese neue Musik erfordert ein «reines Hören», das heißt, ein Hö­ ren, welches von allen bisher gewohnten Verstandes- und gefühls­ mäßigen Zutaten frei ist. In diesem reinen Hören des Tones und 216

seiner Dimensionen an sich liegt das starke Erregungsmoment dieser Musik. Klangfarbenmusik ist die musikalischste Musik, weil sie Musik des elementaren Seins des Tones ist.» Minimal Music ist inzwischen «modisch» geworden und ge­ wann dadurch - wie so vieles, was die Vermarktungsmechanis­ men «in den Griff» bekommen - einen «haut goût». Musiker, In­ terpreten, Dirigenten begannen Minimal Music zu «machen», auch wenn sie von dem spirituellen Bewußtsein, das diese Musik trägt, keine Ahnung hatten. Sie spielen und dirigieren einfach Pe­ riodische Musik, weil sie wissen: Damit schaffen sie sich im Au­ genblick Erfolg. Musik aber hat mit Bewußtsein zu tun. Große Interpreten werden eben deshalb «groß» genannt, weil sie nicht nur in die Musik, sondern auch in die Denkweise, die geistige An­ schauung und oft genug - wenn man etwa an Johann Sebastian Bach denkt - in die Religiosität der Meister eingedrungen sind, deren Werke sie interpretieren. Wer Minimal Music ohne Spiri­ tualität spielt, macht Fingerübungen, spielt leere Musik. Pandit Patekar, ein Meister der klassischen indischen Musik, hat seinem Schüler Peter Michael Hamel einige «unbedingt not­ wendige Verhaltensregeln» gegeben. Hier sind sie: «1. Löse dich mit deinen Gedanken zeitweise von der üblichen Art des Denkens und konzentriere dich auf die höheren geistigen Aspekte des Lebens. Musik liefert die beste Art zu solcher Kon­ zentration. 2. Stelle das Universelle in den Vordergrund deiner Betrachtun­ gen und versuche, die Gewohnheit, Teilaspekte zu betrachten, ab­ zulegen und zu vergessen. 3. Versenke dich in eine Stimmung der Meditation und Kon­ templation. 4. Stelle eine Verbindung her zu den übernatürlichen Aspekten der Wirklichkeit. 5. Laß alle innere Voreingenommenheit beiseite. 6. Versuche dich in den Künstler einzufühlen, das heißt, versu­ che mit ihm zu fühlen und eins zu werden - mit Künstler und Thema. 7. Sei still und vergeistigt - innerlich und äußerlich.» Die Musik, von der hier die Rede ist - die klassische indische Musik; die Musik John Coltranes und derer, die von ihm herkommen in Jazz und Rock; und die Minimal Music -, weist in die Rich­ tung einer Erfahrung, die in der Überlieferung des Ostens das «Eins-Werden» genannt wird. Gewiß - diese Musik allein schafft 217

noch kein Eins-Werden. Das kann keine Musik. Das kann nur jah­ relange Meditation. Aber sie bereitet den Weg - und dieses Wort Weg darf dabei auch hier wieder in seiner soviel weiteren chinesi­ schen und japanischen Bedeutung verstanden werden: als tao und als do. Es ist eine Musik, in der Zeit auf eine nicht in Worte zu fassende Weise aufgehoben wird. Musik ist ja als «Die Kunst in der Zeit» definiert worden, - und doch kann diese neue Musik (die, wie wir wissen, eine ganz alte ist, mit Ahnherren auch in unserem Raum - nämlich der Gregorianik) Zeit transzendieren. Mehrfach haben wir vom Illusorischen unseres Zeitverhältnis­ ses gesprochen. Dieses Illusorische wird für den heutigen Men­ schen vor allem an zwei Stellen deutlich: in der Relativitätstheo­ rie und - unmittelbarer noch, sinnlicher - in dieser «neuen, al­ ten» Musik. Zeit ist - so ein Bild Hermann Hesses - der Fluß, der gleichzeitig an seinem Anfang, in seiner Mitte und in seiner Mündung einfach «der Fluß» ist. Es ist der Fluß, an dessen Ufern Siddhartha jahrelang meditierend Erleuchtung gefunden hat. Le­ sen wir ruhig die ganze Stelle, weil sie - stärker als ein kurzer Auszug es könnte - in der wunderbaren Sprache Hermann Hes­ ses das Zeitgefühl vermittelt, um das es uns geht: «Siddhartha blieb bei dem Fährmann und lernte das Boot be­ dienen, und wenn nichts an der Fähre zu tun war, arbeitete er mit Vasudeva im Reisfelde, sammelte Holz, pflückte die Früchte der Pisangbäume. Er lernte ein Ruder zimmern, und lernte das Boot ausbessern, und Körbe flechten, und war fröhlich über alles, was er lernte, und die Tage und Monate liefen schnell hinweg. , so fragte er einst den Fährmann, ‹hast auch du vom Flusse jenes Geheime gelernt: daß es keine Zeit gibt?›... «Ja, Siddhartha-, sprach er. «Es ist doch dieses, was du meinst: daß der Fluß überall zugleich ist, am Ursprung und an der Mün­ dung, am Wasserfall, an der Fähre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge, überall zugleich, und daß es für ihn nur Ge­ genwart gibt, nicht den Schatten Zukunft?«Dies ist es-, sagte Siddhartha. ‹Und als ich es gelernt hatte, da sah ich mein Leben an, und es war auch ein Fluß, und es war der Knabe Siddhartha vom Manne Siddhartha und vom Greis Sid­ dhartha nur durch Schatten getrennt, nicht durch Wirkliches. Es waren auch Siddharthas frühere Geburten keine Vergangenheit, und sein Tod und seine Rückkehr zu Brahma keine Zukunft. Nichts war, nichts wird sein; alles ist, alles hat Wesen und Ge­ genwart.›... Und wieder einmal, als eben der Fluß in der Regenzeit geschwol­ 218

len war und mächtig rauschte, sagte Siddhartha: «Nicht wahr, o Freund, der Fluß hat viele Stimmen, sehr viele Stimmen?.. .> ‹Es ist so›, nickte Vasudeva, ‹alle Stimmen der Geschöpfe sind in seiner Stimme.› ‹Und weißt du›, fuhr Siddhartha fort, «welches Wort er spricht, wenn es dir gelingt, alle seine zehntausend Stimmen zugleich zu hören?» Glücklich lachte Vasudevas Gesicht, er neigte sich gegen Sid­ dhartha und sprach ihm das heilige OM ins Ohr. Und eben dies war es, was auch Siddhartha gehört hatte.» Es ist dieser Fluß - der nadi des OM - nach dem eines der großen Mondos des Zen fragt: «Der Meister: ‹Hörst du das Rauschen des Flusses?» - ‹Ja, Meister›, antwortet der Schüler. Darauf der Mei­ ster: ‹Das ist der Weg!›» Es ist ein Weg, auf dem sich wiederholt, was geschah, als aus dem nadi das nada wurde: die Weitung des Fluß-Rauschens zum kosmischen Rauschen des Nada Brahma. Der Fluß - und die Musik, von der hier die Rede ist - sind JETZT. Sie können nicht auseinandergenommen, getrennt wer­ den: weder in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, noch - was den Fluß betrifft - in Quelle, Bach, Fluß, Strom und Mündung, noch - was die Musik betrifft - in Struktureinheiten, wie etwa in der klassischen Musik Exposition, Durchführung und Reprise. Diese Musik «geschieht» so sehr im Raum wie in der Zeit, welch letztere für sie - durchaus so wie für die theoretischen Physikernur eine Dimension des Raumes ist. Es ist ein Raum, in dem man «ist»: JETZT ist. Auffällig viele heutige Musiker sprechen von räumlichen Vorstellungen, viel häufiger als Musiker der klassi­ schen und romantischen europäischen Musik. Paul Horn, ein aus dem Jazz hervorgegangener Flötist, beschrieb das Raumerlebnis, das er hatte, als er seine berühmt gewordenen Aufnahmen in der Gruft des Tadj Mahal, des wunderbaren Mausoleums bei Agra in Nordindien, machte, wie folgt: «Der Raum kam zu mir zurück wie tausend Engelchöre. Was ich eigentlich tat, war: Ich saß da unten in der Gruft und hörte dem Raum zu. Ich antwortete ihm. Ich musizierte mit ihm. Viel mehr als meine Flöte war der Raum das Instrument, auf dem ich musizierte.» Auch im nada des nadi, im Rauschen des Flusses, ist der Klang Raum geworden - ein Raum wie ein Tempel, wie eine Kathedrale. Diesen «Raum-Tempel» betritt, wer Musik aus jener spirituellen Haltung heraus macht und hört, auf die es den Musikern, die ich zitiert habe, ankommt. 219

In allen Meditationskulturen der Welt spielt Musik eine beson­ dere Rolle - Musik mehr als jede andere Kunst. «Als der Spiel­ mann auf den Saiten spielte, kam des Herren Hand auf ihn- heißt es in der Bibel von dem Propheten Elias im 2. Buch der Könige. Und sogar die nüchterne Welt des Zen ist voller Musikbezüge. Die in diesem Buch mehrfach zitierte Koan-Sammlung des Mönchs und Zen-Meisters Genro aus dem fahre 1783 heißt auf japanisch «Tetteki Tosui». Genro erläutert in seiner Vorrede, daß ein alter chinesischer Einsiedler namens Ryu mit seinem Flötenklang Wol­ ken durchbohren und Felsen zerbrechen konnte, aber auch ein sol­ ches Spielen habe nur hörbare Töne. Erst wenn man die Flöte um­ gekehrt blasen würde, würde sie mit ihrem unhörbaren Klang die Leere zerreißen. «Tetteki Tosui» heißt die «umgekehrt zu bla­ sende eiserne Flöte» und ist - da niemand eine Flöte umgekehrt blasen kann - ein Gleichnis der Absurdität der Welt. Sie ist selbst ein Koan. Symbol einer unspielbaren, unhörbaren Musik, Symbol jenes Klanges, der in der - auch hier wieder zu zitierenden - ZenFrage gemeint ist: «Wenn du auslöschst Sinn und Tonwas hörst du dann?» Im Zen gibt es nicht nur die umgekehrt zu blasende, eiserne Flöte, sondern auch eine «saitenlose Harfe», und es gibt ein Koan, das dem Schüler die Aufgabe stellt, sich vorzustellen, welcher Klang entstünde, wenn er «mit einer einzigen Hand in die Hand klatscht». Ja, es gibt sogar einen Zen-Fachausdruck für die unhör­ bare Stimme der einen Hand: Sekishu. Hsüeh Too, ein chinesischer Zen-Meister des 10. Jahrhunderts, sagt: «Gewiß, eine alte Melodie kann dich zu Tränen rühren. Aber Zen-Musik geht über das, was du hören und was du erfassen kannst, hinaus. Mache deshalb keine Musik, bis du nicht den gro­ ßen Ton Lao-tses gefunden hast...» - wozu bei Lao-tse in dessen nüchterner Sprache nachzulesen ist: «Große Werkzeuge brauchen viel Zeit zu ihrer Herstellung ... Der Große Ton ist der Ton, der alle gewöhnlichen Vorstellungen übertrifft.» Der Große Ton ist der Ton des Seins oder, wie die Inder sagen, der Ton des Selbst, des Atma. Der Große Ton ist Nada Brahma der Ton, aus dem Gott die Welt geschaffen hat und der am Grunde der Schöpfung weiterklingt und durch alles hindurchtönt. Hin­ 220

durchtönen heißt, lateinisch, personale. Voilà: Der Idee der Per­ son - der Idee dessen, was einen Menschen erst eigentlich zum Menschen macht, zur unverwechselbaren einmaligen Per-sönlichkeit - liegt eine klangliche Vorstellung zugrunde: «durch den Ton». Wo nichts hindurchtönt aus dem Grunde des Seins, da ist der Mensch allenfalls biologisch ein Mensch; person ist er nicht. Denn er lebt nicht durch den son - den Ton, den Sound lebt nicht durch den Klang. Er lebt nicht den Klang, der die Welt ist. Als Buddha nach seiner Erleuchtung zurück in die Realität des Alltags kam, sprach er als erstes über einen Klang. Buddha nannte ihn «die Trommel der Unsterblichkeit». Auch hier wieder ist es Hermann Hesse gewesen, der diese Erfahrung im Bereich unserer Kultur in Worte gefaßt hat. In seiner Novelle «Klein und Wagner» macht der «Held» im Moment des Todes - des Ertrinkens - die folgende Erfahrung: «Aus dem Gesang der Seligen und aus dem endlosen Qualschrei der Unseligen baute sich über den Weltströ­ men eine durchsichtige Kugel oder Kuppel aus Tönen, ein Dom von Musik, in dessen Mitte saß Gott, saß ein heller, vor Helle unsichtbarer Glanzstern, ein Inbegriff von Licht, umbraust von der Musik der Weltchöre, in ewiger Brandung ... Jetzt vernahm Klein seine eigene Stimme. Er sang. Mit einer neuen gewaltigen, hellen, hallenden Stimme sang er laut, sang er laut und hallend Gottes Lob, Gottes Preis. Er sang in rasendem Dahinschwimmen, inmitten der Millionen Geschöpfe, ein Prophet, ein Verkünder. Laut schallte sein Lied, hoch stieg das Gewölbe der Töne auf, strahlend saß Gott im Innern. Ungeheuer brausten die Ströme dahin.»

Musik zum Hören des zehnten Kapitels The Genius s 67 269)

of

Ravi Shankar - mit Chatur Lal, Tabla (CBS

Ravi Shankar and Ali Akbar Khan in Concert Alla Rakha, Tabla (Apple Records Sapdo 1002, 2 LPs)

1972-with

India's Master Musician - Ravi Shankar - mit Chatur Lal, Tabla (World Pacific Records st 1422) Ravi Shankar at the Monterey International val- mit Alla Rakha, Tabla (Liberty lbs 83091)

Pop

Ali

Raga

Bhai-

Hussain

u.a.

Akbar Khan: Raga Chandranandan ravi (His Master's Voice ealp. 1268) L. Shankar: (ECM 1195)

Who's

to

Know

-

mit

L. Subramaniam: auf: Stu Goldberg mit Larry Coryell (MPS-Metronome 0068-202)

und Zakir

Festi­

Solos-Duos-Trios

-

Shomyo-Buddhist Ritual: siehe II. Kapitel Pandit Pran Nath - India's Master Vocalist (Shandar Re­ cords 83 514) Ustad alla rakha: Indian Drums (Polydor 2480117) John Coltrane: A Love Supreme (Impulse Stereo A-77) Santana: Caravanserai (CBS S65 299) Wayne Shorter: Odyssey of Iskra (BlueNote BST-84363) McCoy Tyner: Sahara (Milestone msp 9039) Don Cherry: 1010)

Humus

-

The

Life

Exploring

Force

(Wergo

Hesse Between Music, Texte von Hermann Hesse (darunter «Orgelspiel» sowie Ausschnitte aus «Siddhartha» und «Klein und Wagner»), gesprochen von Gert Westphal, Musik von Peter Mi­ chael Hamei und der Gruppe Between, zusammengestellt und produziert von Joachim-Emst Berendt (Wergo sm 1015) La monte Young: dar 83 510)

The

Theatre

Terry Riley: In C (Columbia ms 7178) Terry Riley: Shri Camel (CBS 73 929) 222

of

Eternal

Music

(Shan­

Terry Riley: Shri Camel (CBS 73 929) Terry Riley: 047/Teldec)

Descending

Steve Reich: Drumming Voices and Organ, Six phon2563 301 / 2 / 3, 3 LPs)

Moonshine

Dervishes

(Kuckuck

Music for Mallet Instruments, Pianos (Deutsche Grammo-

Steve Reich: Music for 18 Musicians (ECM 1129) Steve Reich: Music for Large Orchestra (ECM 1168) Peter Michael Hamel: Bardo (Kuckuck 048/Teldec) Peter dec)

Michael

Hamel:

Colours

of

Time

(Kuckuck

046/Tel-

Peter Michael Hamel: Aura (Wergo Spectrum sm 1009) Peter Michael Hamel: Nada (Wergo Spectrum sm 1013) Between: Silence Beyond Time (Wergo Spectrum sm 1023) Paul Horn: Inside-recorded live in Tadj Mahal (Kuckuck/Teldec 062) Paul Horn: Inside the Great Pyramid-recorded live in Che­ ops Pyramid/Egypt (Kuckuck/Teldec 060/1, 2LPs)

XI. Die Legenden und Mythen der Völker haben es schon immer gewußt: Gott schuf die Welt aus dem Klang

Hafiz, einer der großen Poeten des alten Persiens, berichtet die folgende Legende: «Gott machte eine Statue aus Ton. Er formte den Ton nach seinem Bilde. Er wollte, daß die Seele in diese Statue eingehe. Aber die Seele wollte nicht gefangen sein. Denn es liegt in ihrer Natur, daß sie fliegend ist und frei. Sie will nicht begrenzt und gebunden sein. Der Körper ist ein Gefängnis, und die Seele wollte dieses Gefängnis nicht betreten. Da bat Gott seine Engel, Musik zu spielen. Und als die Engel spielten, wurde die Seele ekstatisch bewegt. Sie wollte die Musik noch klarer und unmittel­ barer erfahren, und deshalb betrat sie den Körper.» Hafiz sagt: «Die Leute sagen, daß die Seele, als sie dieses Lied hörte, den Kör­ per betrat. Aber in Wirklichkeit war die Seele selbst das Lied.» «Dies» - so Sufi Hazrat Inayat Khan - «ist eine wunderbare Le­ gende. Aber noch wunderbarer ist das, was sie bedeutet. Denn sie erklärt uns zwei Gesetze. Das eine liegt darin, daß die Seele ihrer Natur nach frei ist und daß die Tragödie des Lebens in der Abwe­ senheit dieser Freiheit liegt. Und die andere Bedeutung der alten persischen Legende liegt darin, daß der einzige Grund, aus dem die Seele den Körper aus Ton und toter Materie betrat, eben der war, daß sie die Musik des Lebens erfahren wollte.» Immer wieder haben wir gefunden: Die Sprache «weiß» mehr, als die, die sie sprechen. Die beiden ersten Sätze der Legende des weisen Dichters Hafiz lauten: «Gott machte eine Statue aus Ton. Er formte den Ton nach seinem Bilde.» Da ist es also auch hier wieder: das Wort «Ton» - in seiner Viel­ deutigkeit. Der Töpfer formt den Ton - und es entsteht: eine Sta­ tue. Der Musiker formt den Ton - und es entsteht: Musik. Gott 224

formt den Ton - und es entsteht: die Welt. Jedesmal ist «Ton» UrStoff, Ur-Bestandteil, Ur-Materie dessen, was wir Schöpfung nen­ nen: Ur-Spannung. Nochmals: τόνος, griechisch, bedeutet auch: Spannung. Im Anfang war der Ton. Der Ton als lógos. Wir haben davon gesprochen: Das «Es werde» Gottes am Anfang der jüdisch­ christlichen Schöpfungsgeschichte war zuerst einmal Ton und Klang. Die Sufis, die Mystiker des Islam, wissen: Gott schuf die Welt aus dem Klang. Sagen und Mythen, Legenden und Märchen, in denen die Welt als Klang begann, gibt es bei vielen Völkern der Erde, bei Azteken und Eskimos, bei Persern und Indern und Malayen - in solcher Fülle, daß hier nur wenige genannt werden können (zumal einige bereits in den vorausgehenden Kapiteln erwähnt wurden). In Ägypten war es die «singende Sonne», welche die Welt durch ihren «Lichtschrei» schuf. In einem alten ägyptischen Text heißt es, daß es «die Zunge des Schöpfers» gewesen ist, durch die «alle Götter und alles, was ist, geboren wurden ... Atum und alles, was göttlich ist, manifestieren sich selbst im Gedanken des Herzens und im Laut der Zunge...», wobei es aufschlußreich ist, daß in der ägyptischen Hieroglyphen-Schrift das Zeichen für «Zunge» auch «Wort» bedeutet. Die Zunge ist es ja, die den Klang formt, der seinerseits wiederum das Wort trägt. Hier findet man sie also schon in der Schrift: die fließenden Übergänge zwischen dem mantrischen Klang und dem gesprochenen Wort, über die ich im II. und III. Kapitel gesprochen habe. In einer anderen ägyptischen Überlieferung war es Thoth, der Gott des Wortes und der Schrift, des Tanzes und der Musik, welcher die Welt durch sein siebenmal wiederholtes «lachendes Wort» schuf. «Unhörbar und unbewegt - so sagt die Mythologie der Azteken Mexikos - war der Schöpfer. Ein Eisberg! Stumm wie ein Stein. Doch eines Tages warf er den Berg von sich, er brach sein Schwei­ gen, weil er seinem tiefsten Wunsch, Welt und Menschen zu er­ schaffen, nicht mehr widerstehen konnte. Da sang er: Diese Welt soll sein! Und die Welt entstand» (Marius Schneider). Bei fast allen Völkern der Erde stehen Musik und Göttliches in engem Zusammenhang. Viele Ragas - die Skalen der indischen Musik - haben einen religiösen Sinn, einige sind exakt auf be­ stimmte Götter und deren Wiederverkörperungen bezogen. Ähn­ lich ist es bei den Rhythmen der meisten afrikanischen Kulturen, etwa denen der westafrikanischen Yorubas, deren Rituale in den in Brasilien weitverbreiteten Macumba- und Candomblé-Kulten lebendig geblieben und deren Musik die Basis der brasilianischen 225

Samba- und Karnevals-Rhythmen geworden ist. Auch heute noch wissen viele brasilianische Schlagzeuger und Perkussionisten sogar solche, die in den Studios der Fernseh- und Rundfunk-Sta­ tionen arbeiten -, welcher Rhythmus welchem -Gott» «gehört». Diesen Ausdruck gebrauchen sie: Der Rhythmus «gehört» dem Gott. Als ich Mitte der sechziger Jahre mit den brasilianischen Perkussionisten Rubens und Georghingho Aufnahmen machte, fingen die beiden mit einem Mal an, zu jedem der verschiedenen Rhythmen, die sie gerade trommelten, den Namen des Gottes zu rufen, der durch den betreffenden Rhythmus beschworen wird (siehe Musik zum Hören dieses Kapitels): Zuerst Xango, den gro­ ßen Gott des Donners und des Krieges, den Wodan am Götterhim­ mel der Yorubas - dann Nana, die Göttin der Liebe (deren Name von Georghingho mit besonderer Zärtlichkeit ausgesprochen wurde) - darauf Ogum, den Gott des Dschungels und der Wälder­ und zuletzt Omulu, den Gott der Kranken (von Rubens To-to ge­ nannt). Ich war erschrocken über die Intensität, mit der sie das taten. Jeder im Studio spürte: das war ihnen jetzt wichtig. Das mußte jetzt sein. Es war ein Ritual, wenn auch ein kleines: nur noch gleichsam die Chiffre eines Macumba-Ritus, den sie - zu­ mindest als Chiffre - j e t z t brauchten. Und danach machten sie, professionelle Musiker, die sie sind, sachlich und zügig weiter, wenngleich mit einer Gelöstheit, die sie vorher - so schien es uns - in so spürbarer Weise nicht besessen hatten. In Indien war Prayapati, der vedische Schöpfergott, letztlich selbst Hymnus und Lied. «Die Rhythmen», so heißt es, «sind seine Glieder», das heißt die Glieder des Gottes, der die Welt ge­ schaffen hat! «Die ersten Opfergaben und die ersten Götter waren Metren, und auch die sieben Urväter der Menschheit waren Rhythmen» (Marius Schneider). In der Aitareya-Upanischade werden Rhythmen mit Pferden verglichen: Wie man auf Erden mit Pferden und Ochsen reist, um sein Ziel zu erreichen, so braucht man Rhythmen und Metren, um himmlische Ziele zu er­ reichen. Von Gott Brahma wird gesagt: «Er meditierte hundert­ tausend Jahre, und das Ergebnis der Meditation war die Erschaf­ fung von Klang und Musik.» Der erste Schöpfungsakt also war die Erschaffung des Klanges. Alles weitere folgte danach und dadurch. In Platos berühmtem Dialog «Timaios» heißt es: Der Welt­ schöpfer habe die Weltseele - und das heißt bei Plato: die Idee des Kosmos - nach musikalischen Zahlenfolgen und Proportionen zusammengefügt. Und der göttliche Sänger Orpheus, der selbst 226

Gott war, konnte durch seine Musik sogar die ungeformte Materie in Formen gießen (und Form - das heißt für die Griechen: gestal­ tete Schönheit). Im polynesischen Raum - auf Samoa, Tahiti, Hawaii - gab es ursprünglich - bevor all die anderen Gottheiten hinzukamen drei große Götter. Sie erschufen die Welt: Tane, Tu und Rongo (beziehungsweise auf Hawaii Lono); auch hier eine Trinität-, alle drei haben mit Klang zu tun. Tanes Sinnbild war das Horn, dasje­ nige Tus die Tritonmuschel, und Rongo war der eigentliche Gott von Klang und Laut, der - eben deshalb! - Menschenopfer verab­ scheute und als der mildeste und beliebteste der Götter galt. In der Vorstellung vieler Völker der Erde war es Gott - oder meh­ rere Götter -, die ursprünglich die Musik geschaffen und auf dem einen oder anderen Wege an die Menschen weitergegeben haben, meist durch einen besonders begnadeten Mittler. Für den afrikani­ schen Stamm der Ibuzo in Nigeria war dieser Mittler ein Sänger namens Orgadie. Der hatte sich im Walde verirrt und hörte die Klänge der Musik von den Geistern und Göttern der Bäume im Dschungel. Sie machten Musik auf Zweigen und Ästen und Stäm­ men, in Halmen und Gräsern, im Laub und in Lianen. Orgadie versteckte sich, hörte zu, versuchte nichts zu vergessen und brachte alles mit in sein Dorf. Theo Meier und Ernst Schlager haben nach der Erzählung eines alten Brahmanen-Priesters die folgende balinesische Legende auf­ gezeichnet: «Gott Shiva saß einst auf dem Berge Mahameru ... Da hörte er aus der Ferne sanfte Töne, wie sie ihm nie zuvor begegnet waren. Er rief den Weisen Narada zu sich und sandte ihn nach den Einsiedeleien des Himalaya mit dem Auftrag, zu erforschen, wo­ her die Töne kämen. Narada machte sich auf den Weg und kam schließlich zur Einsiedelei des Weisen Dereda. Dort klangen die Töne stärker. Er trat ein. Der Einsiedler erklärte ihm, daß die wun­ dersamen Töne in der Tat ihren Ursprung auf seinem Gelände hät­ ten. Die Einsiedelei sei von einem Bambushag umgeben. Er habe die Bambusrohre durchlöchert und miteinander verbunden. Wenn der Wind in die Löcher blase, erklängen die verschiedensten Töne. Er sei so entzückt von seiner Entdeckung gewesen, daß er eine ganze Reihe durchlöcherter Bambusrohre als sunari - als Äolsharfen-artige Klangkörper - auf einem Baum befestigt habe - zu kei­ nem anderen Zweck als dem, fortwährend Wohllaut zu erzeugen. Narada kehrte zum Gott Shiva zurück und berichtete ihm, was er erfahren hatte. Shiva beschloß, daß diese Bambus-Klangkörper die Grundlage der Musik auf Bali werden sollten. Durch sie werde 227

den Menschen die Möglichkeit gegeben, auf eine neue Weise den Göttern Verehrung entgegenzubringen und sie zu erfreuen. Dies vernahmen alle balinesischen Priester. Und während früher die Musik chaotisch war, wurde sie nun­ mehr durch den Gott Shiva in ein geordnetes System gebracht.» Eine besonders bewegende Legende darüber, wie Klang, Musik und Tanz das Chaos, das nach der Erschaffung der Welt eingetre­ ten war, wieder in Ordnung und Harmonie bringen, kommt aus Japan. Sie erzählt, wie Amaterasu, die Göttin der Sonne, sich in eine Höhle einschloß. Die Welt wurde dadurch immer kälter und unwirtlicher, es gab kein Sonnenlicht mehr, alles schien in Chaos zu versinken. Da nahm Gott sechs riesige Bögen, band sie zusam­ men und schuf auf diese Weise die erste Harfe. Auf ihr spielte er wunderschöne Melodien. Von ihnen angelockt, erschien die rei­ zende Nymphe Ameno-Uzume. Hingerissen von der Harfenmu­ sik begann sie zu tanzen - und schließlich auch zu singen. Die Sonnengöttin Amaterasu wollte die Musik, die von ferne zu ihr drang, besser vernehmen. Deshalb schaute sie aus ihrer Höhle her­ vor, und im gleichen Moment erstrahlte die Welt im Licht. Die Sonne wurde sichtbar und spürbar - und Blumen und Pflanzen und Bäume begannen zu wachsen. Und Fische und Vögel, Tiere und Menschen betraten die von Licht erfüllte Erde. Die Götter aber beschlossen, fortan Gesang und Tanz zu pflegen, damit die Sonnengöttin nie mehr in ihre Höhle zurückkehre, denn sie wuß­ ten: Es war zwar die Sonne, durch die das Leben begonnen hatte, aber ohne die Harfenmusik der sechs großen Bögen und ohne den Ge­ sang der Nymphe Ameno-Uzume hätte sich Amaterasu, die Göt­ tin der Sonne, nie auf ihrem himmlischen Thron niedergelassen. Sie wäre ewig in ihrer Höhle geblieben. Und also war es der Klang, waren es Musik und Tanz, mit denen die Welt begann. Weil Gott die Welt aus dem Klang erschaffen hat und weil Klang und Musik den Menschen von Göttern gegeben wurden, ist es im­ mer wieder die Musik, in deren Klängen der Mensch Aufschluß über den Willen Gottes und die tiefsten Geheimnisse der Schöp­ fung findet. In China gibt es die Geschichte des großen Taoisten Huan Yi, der nicht nur ein erleuchteter Weiser, sondern auch ein wunderbarer Flötenspieler war. Ein taoistischer Würdenträger hatte erfahren, daß Huan Yi in seiner Nähe vorbeireisen würde, und sandte einen Boten mit der Bitte, doch zu ihm zu kommen und ihn an seiner Weisheit teilhaben zu lassen. Da «stieg Huan Yi von seinem Wagen, setzte sich auf einen Stuhl und spielte dreimal 228

die Flöte. Danach stieg er wieder auf den Wagen und fuhr davon.» Die beiden sprachen kein einziges Wort miteinander, aber der Würdenträger - so berichtet die Überlieferung - war von nun an ein Wissender. Es gibt auch eine Zen-Version dieser Geschichte. Als Kakua, einer der frühen Pioniere des Buddhismus in Japan, aus China zu­ rückkehrte, bat ihn der Kaiser, ihm alles, was er in China an Weis­ heit erfahren habe, zu erzählen. Kakua holte seine Shakuhachi eine Bambus-Flöte - hervor, spielte eine Melodie, verneigte sich höflich und ging davon. Der Kaiser aber hatte erfahren, was er wis­ sen wollte. Im Islam gibt es bestimmte rituelle Zeremonien, die keinerlei Musik zulassen. Sufi Hazrat Inayat Khan berichtet ein wunderba­ res Ereignis aus dem Leben des Heiligen Khwajas von Ajmir. Eines Tages wurde der Heilige von Khwaja Abdul Kadr Gilani besucht, auch er ein großer und geistig fortgeschrittener Meister, der aus Bagdad nach Ajmir gereist war. Der Heilige hielt sehr genau auf Einhaltung der religiösen Vorschriften, und sein Gast wollte diese Vorschriften respektieren. Er verzichtete deshalb auf seine täg­ liche musikalische Übung. Aber er konnte nicht auf die tägliche Meditation verzichten. Als jedoch die Zeit zum Meditieren kam, erklang die Musik ganz von selbst, und der ganze Hof lauschte ihr. So blieb es auch in den folgenden Tagen. Kadr Gilani griff kein einziges Mal zu seinem Instrument, aber jedesmal, wenn er zu meditieren begann, erklang die Musik. Denn, so kommentiert Hazrat Inayat Khan die Geschichte, «Musik ist Meditation. Und Meditation ist Musik. Und die Erleuchtung, die wir in der Medita­ tion finden, können wir auch in der Musik erfahren.» Ähnlich eine andere Geschichte, die ebenfalls von Sufi Hazrat Inayat Khan erzählt wird: «Eines Tages sagte Kaiser Akhbar, der große Mogul-Herrscher, zu seinem nicht minder berühmten Hof­ musiker Tansen: «Sage mir, o großer Meister, wer war dein Leh­ rer?» Der antwortete: «Majestät, mein Lehrer ist ein sehr großer Musiker, aber mehr als das: ich kann ihn nicht ,Musiker' nen­ nen, ich muß ihn,Musik' nennen.» Der Kaiser fragte weiter: «Kann ich ihn singen hören?» Tansen erwiderte: «Vielleicht, ich werde es versuchen. Aber Sie können nicht daran denken, ihn hier an den Hof rufen zu lassen.» - «Kann ich dorthin gehen, wo er ist?» Der Musiker sagte: «Sein Stolz mag sogar dort revoltieren, wenn er denkt, daß er vor einem König singen soll.» - «So kann ich als dein Diener gehen.» - «Ja, dann gibt es eine Hoffnung», meinte Tansen. So wanderten sie beide hinauf in den Himalaya, in die hohen 229

Berge, wo der Heilige seinen Tempel in einer Höhle hatte, inmit­ ten der Natur lebend in Harmonie mit dem Unendlichen. Als sie ankamen, war der Musiker auf dem Pferderücken, während Akhbar zu Fuß ging. Der Heilige sah, daß der Kaiser sich selbst ernied­ rigt hatte, um seine Musik zu hören, und willigte ein, für ihn zu singen. Sein Gesang war groß. Es schien, als ob alle Bäume und Pflanzen des Waldes vibrierten; es war der Gesang des Univer­ sums. Der tiefe Eindruck, den er auf Akhbar und Tansen machte, war mehr, als sie ertragen konnten,- sie gerieten in einen Zustand des Friedens und der Erleuchtung. Und während sie sich noch in diesem Zustand befanden, verließ der Meister die Höhle, und als sie ihre Augen öffneten, war er nicht mehr da. Der Kaiser sagte: «Was für ein seltsames Wunder! Wo ist der Meister hingegangen?» Tansen erwiderte: «Sie werden ihn niemals in dieser Höhle Wie­ dersehen; denn wenn ein Mensch einmal hiervon einen Ge­ schmack verspürt hat, wird er dem zu folgen versuchen, auch wenn es ihn sein Leben kostet. Es ist größer als irgend etwas sonst im Leben.» Nachdem sie heimgekommen waren, fragte der Kaiser den Mu­ siker eines Tages: ‹Sage mir, welcher Raga es war, den der Meister sang?› Tansen nannte ihm den Namen des Ragas und sang ihn für ihn, aber der Kaiser war nicht zufrieden. «Ja, es ist dieselbe Musik, aber es ist nicht derselbe Geist. Warum ist das so?» Tansen erwi­ derte: «Der Grund liegt darin, daß ich für Euch, den Kaiser dieses Landes, singe, während mein Meister für Gott singt; das ist der Unterschied.»» «Meister des Tons» wurde ein weiser, alter Mann genannt, den Alexandra David-Neel in einem abgelegenen Kloster, irgendwo im chinesisch-tibetischen Grenzgebiet der Himalayas, traf. In einem Tempel des Klosters spielte der Meister - er trug den Na­ men Bönpo - ein Tschang, das uralte tibetische Klangbecken mit seinen nach oben gebogenen Rändern. Mit einem Mal «durchzit­ terte ein unirdischer Klang, einem verworrenen Geschrei ähnlich, die Halle und bohrte sich mir ins Hirn». Die anwesenden Bauern und die Begleiter der europäischen Reisenden schrien entsetzt auf - und es gab keinen einzigen unter ihnen, der nicht ganz sicher war, eine feurige Schlange gesehen zu haben: «Die Schlange ist aus dem Tschang gekommen, als der Lama daraufschlug», sagte einer von ihnen - und die anderen bestätigten dies. Hinterher er­ klärte der Lama den Reisenden: «Ich bin der Meister des Tons. Durch den Ton kann ich Lebendes töten und Totes auferwekken ... Alle Wesen, alle Dinge, selbst die unbelebt scheinenden, 230

geben Töne von sich. Jedes Wesen, jedes Ding bringt einen beson­ deren, ihm eigentümlichen Ton hervor, doch wandelt sich dieser entsprechend den verschiedenen Zuständen, durch die das Wesen oder Ding, das ihn erzeugt, hindurchgeht. Wieso? Wesen und Dinge sind Zusammenballungen kleinster Teilchen, sogenannter rdul phra-, diese tanzen und bringen durch ihre Bewegungen die Töne hervor. Dies sagt die Lehre: Im Anfang war der Wind. Durch sein Wir­ beln bildete er die Gjatams, die Urformen und den Urgrund der Welt. Dieser Wind tönte, und also war es der Ton, der den Stoff geformt hat. Durch das Tönen dieser ersten Gjatams entstanden weitere Formen, die ihrerseits kraft ihres Tönens neue Gestalten hervorbrachten. Und das ist nicht etwa nur eine Mär aus vergange­ nen Tagen, es ist immer noch so. Der Ton bringt alle Formen und alle Wesen hervor. Der Ton ist das, wodurch wir leben.» Legenden und Mythen kommen für unsere Vorstellungen aus fernen Zeiten. Aber sie kommen nur deshalb dorther, weil wir sie dorthin verbannt haben. In Wirklichkeit sind sie jetzt. Sie entste­ hen, weil Menschen sie brauchen. Der Rationalist meint, er könne auf Mythen verzichten. Er will nicht verunsichert werden in seinem -Glauben» daran, daß der Verstand alles kann. Aber vielleicht gehört auch das zu der Bewußtseinswandlung, in der wir stehen: Der heutige Mensch will wieder Mythos und Mythi­ sches. Ein Indiz dafür ist der Erfolg von J. R. R. Tolkien, Michael Ende und anderer, ähnlicher Autoren, und die Begeisterung, mit der junge Menschen ihre Bücher verschlingen. Ohne den gering­ sten Werbeaufwand sind sie zu Bestsellern geworden (die Werbung begann nachweislich erst, als der Welterfolg schon da war, und die Verleger zu ihrer eigenen Überraschung merkten, daß der Auf­ wand sich lohnte). Sowohl bei Tolkien im «Silmarillion» wie auch bei Ende in «Momo» gibt es zentrale Passagen, in denen Klang eine entschei­ dende Rolle spielt. Ich möchte hier nicht mißverstanden werden: Die jungen Leute lesen diese Bücher gewiß nicht wegen dieser Passagen, aber die betreffenden Stellen gehören auf selbstver­ ständliche Weise zu ihrem Lebensgefühl. Rock-Gruppen nennen sich nach Titeln und Gestalten Tolkiens und Endes. Bei Tolkien, gleich auf den ersten Seiten seines Mythos vom «Silmarillion», beginnt die Welt mit dem «Lied». Als Urvater Ilúvatar den Ainur - den Elben und Urahnen der Menschen - die «lichten Gefilde» der «Leere» zuweist, in denen sie wohnen sol­ len, sagt er: «‹Sehet, dies ist euer Lied!... Aus dem Thema, das ich 231

euch gewiesen, machet nun in Harmonie gemeinsam eine Große Musik. Und weil ich euch mit der Unverlöschlichen Flamme an­ gefacht habe, so zeiget eure Kräfte und führet mir dies Thema aus, ein jeder nach seiner Art und Kunst, wie's ihm beliebt. Ich aber will sitzen und lauschen und froh sein, daß durch euch solche Schönheit zum Liede erwacht.» Da begannen die Stimmen der Ainur zu erschallen wie Harfen und Lauten, Flöten und Posaunen, Geigen und Orgeln, und sie machten aus Ilúvatars Thema eine große Musik; und ein Klang stieg auf von endlos ineinander spielenden Melodien, harmonisch verwoben, und verlor sich in den Höhen und Tiefen jenseits allen Gehörs, und die Räume, wo Ilúvatar wohnt, quollen über, und die Musik und ihr Echo hallten hinaus in die Leere, und sie war nicht mehr leer. Nie wieder haben seither die Ainur eine Musik gleich dieser gespielt, doch heißt es, eine noch schönere solle vor Ilúvatar nach dem Ende aller Tage erklingen, von den Chören der Ainur und der Kinder Ilúvatars. Dann werden die Themen Ilúvatars rechtens gespielt werden und das Sein erlangen in dem Augen­ blick, da sie erklingen, denn alle werden dann ganz verstanden haben, welches für ihr Teil Ilúvatars Absicht ist, und jeder wird wissen, was jeder weiß, und Ilúvatar wird ihren Gedanken das ge­ heime Feuer geben, und er wird sein Wohlgefallen haben.»» Auch das Böse manifestiert sich bei Tolkien zuerst musikalisch - ja, letztlich ist es der musikalische Mißklang, der den Miß­ klang der Schöpfung schafft: «Jetzt aber saß Ilúvatar und lauschte, und lange schien es ihm, daß es gut sei, denn die Musik war ohne Fehl. Wie aber das Thema weiterging, kam es Melkor in den Sinn, Töne einzuflechten, die er selbst erdacht hatte und die nicht zu Ilúvatars Thema stimmten, denn er strebte nach mehr Glanz und Macht für die ihm zugewiesene Stimme ... Manche von diesen Gedanken flocht er nun in sein Lied, und Mißklang wuchs um ihn auf, und viele, die nahe bei ihm sangen, wurden unmutig; ihre Gedanken verwirrten sich, und ihr Gesang stockte; manche aber begannen sich auf ihn einzustimmen und von ihrem ersten Gedanken abzuweichen. Nun breitete sich Melkors Mißklang noch weiter aus, und die Melodien, die man zuvor gehört, scheiterten in einem Meer wirrer Töne. Ilúvatar aber saß und lauschte, bis daß es schien, ein Sturm dunkler Wasser tobe um seinen Thron, die in endlosem, unversöhnlichem Haß einander bekriegten.» Und in «Momo» gibt es die schöne Geschichte vom «Sternenpendel», das immer wieder neue Knospen und Blüten und Blumen 232

schafft - bei jedem Pendelschlag schönere. Was aber das «Sternenpendel» und die »Lichtsäule», die aus der Kuppel des Himmelsge­ wölbes herniederstrahlt, eigentlich antreibt, das ist ein Klang: »Anfangs war es wie ein Rauschen, so wie von Wind, den man fern in den Wipfeln der Bäume hört. Aber dann wurde das Brausen mächtiger, bis es dem eines Wasserfalls glich oder dem Donnern der Meereswogen gegen eine Felsenküste. Und Momo vernahm immer deutlicher, daß dieses Tosen aus unzähligen Klängen bestand, die sich untereinander ständig neu ordneten, sich wandelten und immerfort andere Harmonien bil­ deten. Es war Musik und war doch zugleich etwas ganz anderes. Und plötzlich erkannte Momo sie wieder: Es war die Musik, die sie manchmal leise und wie von fern gehört hatte, wenn sie unter dem funkelnden Sternenhimmel der Stille lauschte. Aber nun wurden die Klänge immer klarer und strahlender. Momo ahnte, daß dieses klingende Licht es war, das jede der Blü­ ten in anderer, jede in einmaliger und unwiederholbarer Gestalt aus den Tiefen des dunklen Wassers hervorrief und bildete. Je länger sie zuhörte, desto deutlicher konnte sie einzelne Stim­ men unterscheiden. Aber es waren keine menschlichen Stimmen, sondern es klang, als ob Gold und Silber und alle anderen Metalle sangen. Und dann tauchten, gleichsam dahinter, Stimmen ganz anderer Art auf, Stimmen aus undenkbaren Femen und von unbeschreibbarer Mächtigkeit. Immer deutlicher wurden sie, so daß Momo nun nach und nach Worte hörte, Worte einer Sprache, die sie noch nie vernommen hatte und die sie doch verstand. Es waren Sonne und Mond und die Planeten und alle Sterne, die ihre eige­ nen, ihre wirklichen Namen offenbarten. Und in diesen Namen lag beschlossen, was sie tun und wie sie alle Zusammenwirken, um jede einzelne dieser Stunden-Blumen entstehen und wieder vergehen zu lassen. Und auf einmal begriff Momo, daß alle diese Worte an sie ge­ richtet waren! Die ganze Welt bis hinaus zu den fernsten Sternen war ihr zugewandt wie ein einziges, unausdenkbar großes Ge­ sicht, das sie anblickte und zu ihr redete!» Weil Gott die Welt durch den Klang schuf, deshalb weist alle Mu­ sik zurück auf Gott und die Götter. Deshalb ist alle Musik - zuerst einmal - ein Lob Gottes. Auch dieser Gedanke durchzieht die Mu­ sikvorstellungen fast aller Völker der Erde. Die altindische Mythologie sagt, daß «der Wagen der Sonne eine Deichsel hätte, die nur aus Lobgesängen besteht». Und im Rig233

veda des alten Indiens vereinen sich die Ur-Rhythmen und UrKlänge zu einem «rauschenden Lobgesang», der «die Schöpfung zum Wachsen und Gedeihen ermutigte» (Marius Schneider). Am schönsten hat diesen Gedanken der Sänger in Worte gefaßt, der am Anfang christlicher und jüdischer Dichtung - und Musik! - steht: der Psalmist. Vor drei Jahrtausenden dichtete er in den vier letzten Gesängen der Psalmen - vom 147. bis zum 150. - die folgenden Verse, die Musiker und Komponisten über die Jahrhunderte hin­ weg - von Johann Sebastian Bach bis zu Duke Ellington - immer wieder zu Lob-, Preis- und Dank-erfüllten Vertonungen inspiriert haben: «Singet dem Herrn ein neues Lied ... Sie sollen loben den Namen des Herrn in Tänzen. Mit Pauken und Harfen sollen sie ihm spielen... Lobet den Herrn in seinem Heiligtum!... Lobet Ihn in seinen Taten! Lobet Ihn in seiner großen Herrlichkeit! Lobet Ihn mit Posaunen! Lobet Ihn mit Psalter und Harfe! Lobet Ihn mit Trommeln und Tänzen! Lobet Ihn mit Saiten und Pfeifen! Lobet Ihn mit hellen Becken! Lobet Ihn mit wohlklingenden Cymbals! Alles, was Odem hat, lobe den Herrn! Halleluja!»

Musik zum Hören des elften Kapitels Folklore e Bossa Nova do Brasil - produced by J. E. Berendtmit dem im Text erwähnten Stück «Macumba» der beiden brasi­ lianischen Perkussionisten Rubens und Georghingho (MPS/Me­ tronome 15102 st) Johann Sebastian Bach: Singet (Harmonia Mundi 29 29 146-8)

dem

Herrn

ein

neues

Lied

Duke Ellington: «Praise God» aus Second Sacred Con­ cert - mit der Ellington Big Band und Alice Babs (Sopran) (Bella­ phon-Fantasy BLST 6504, 2 LPs)

Anhang

Zen und das Japan von heute

I. Ein Freund - ein Amerikaner - kommt nach Japan, um in einem Zen-Kloster zu meditieren. Nach vielerlei Irrwegen wird er an einen Tempel am japanischen Meer westlich von Tokio verwiesen. Dort spreche der Abt - der Zen-Meister - englisch. Dort würden auch Ausländer angenommen. Im Kloster-Bezirk angekommen, findet mein Freund zunächst nur einen einzigen Menschen. Der arbeitet im Garten, karrt Mist in einem kleinen Wagen herum... Er möchte gern den Meister sprechen, sagt der Ankömmling, ob sich das wohl einrichten ließe? Der Gärtner: Man möchte ihm doch bitte folgen. In der Vorhalle läßt man ihn warten. Länger als eine Stunde. Dann bittet ein anderer Mönch ihn herein, mein Freund sieht sich dem auf einem erhöhten Podest sitzenden Zen-Meister gegenüber - und siehe: es ist der Mist-karrende Gärtner. Das japanische Wort «Zen» kommt von dem chinesischen ch’an, und dieses wiederum aus Indien: von dem Sanskrit-Wort dhyäna, das «Lehre» und «Meditation» bedeutet. Der Philosoph Jean Gebser weist auf die geheimnisvolle Weis­ heit der Sprache hin, in der Begriffe, die der rational denkende west­ liche Mensch als unvereinbare Gegensätze empfindet, auf die glei­ che Wurzel zurückzuführen sind. So gehen derart konträre Worte wie «Stimme» und «Stumme», «Muße» und «Muß», «Hölle» und «Heiligkeit», «Kälte» und das italienische Wort «calda» (das warm bedeutet), «Logos» - das Wort und der Geist, die «im Anfang wa­ ren» - und «Lüge», unser Wort «Teufel» und das französische Wort «dieu» (vom Sanskrit «deva» = Gott, aber englisch «devil» = Teu­ fel) auf dieselben «Ur-Worte» zurück. In diesem Sinne gehören auch Lehre und Leere zusammen. Was uns als «Zweiheit» er­ scheint, ist in Wirklichkeit-so sagt Zen - «Nicht-Zweiheit». Und es ist nur eine «leere» Übereinkunft der «Lehrer», die «Lehre» mith und die «Leere» mit Doppel-e zu schreiben. Wenn wir es auch nicht mehr wissen, die Sprache hat es bewahrt: Beide stecken in dhyänaund im Zen: die Fülle der Leere und die Lehre des Nichts. 239

Die japanischen Worte ku - Leere - und mu - Nichts - sind Hauptworte des Zen. «Mu! Mu! Mu!» sagen die Meditierenden vor sich hin - in Gedanken oder auch laut psalmodierend, gegen Ende langer Meditationen gar schreiend -, stundenlang, tagelang, wo­ chenlang, um leer zu werden: leer von all dem Nichtigen, womit wir Menschen uns anfüllen, damit Raum wird für die einzige Fülle, die zählt - die Fülle des Seins, welche die Fülle des Nichts ist. Die Lehre, die Leere will: auf rationale europäische Menschen wirkt das absurd. Aber das gerade ist es: Zu Zen gehört Absurdi­ tät - und zum Absurden das Gelächter darüber. «Was ist das Grundprinzip des Zen?» fragte ein Schüler den Zen-Meister Joshu. Antwort: «Der Zypressenbaum im Hof.» Oder: «Die Göttin Kannon (die von den Japanern besonders geliebte Göttin der Barmher­ zigkeit) hat tausend Hände, und jede Hand hat ein Auge, welches ist das wahre Auge? Nun sag es mir schnell!» Eine berühmte ZenÜbung: Morgens in die Berge zu gehen und die gegenüberliegende Felswand dröhnend und schallend anzulachen. (Versuchen Sie's mal! Sie lachen innerlich weiter - den ganzen Tag - und alle Pro­ bleme werden unwichtig.) Bereits in der Bhagavadgita, einem der großen Bücher indischer Weisheit aus der Zeit, lange bevor Zen nach Japan kam, wird vom Gelächter als der «Quelle der Meditation» gesprochen: Man solle meditieren über das schallende Lachen, das Gott Vishnu hören läßt und von dem man sich vorstellt, daß es in der Bauchhöhle des Meditierenden weiterdröhne.

II. Im Norden Tokios werden wir in eine Fabrikhalle geführt. 3032 Arbeiterinnen (die genaue Zahl gehört dazu,- in Europa hätte man wohl gesagt: «mehr als dreitausend») setzen - mit Lupen arbei­ tend - kleinste Teilchen in streichholzschachtelgroße Gehäuse auf elektronische Druckschaltungen. Nach jeder Stunde ist fünf Minuten Pause. Die 3032 weißbekittelten Frauen und Mädchen erheben sich und machen - nach Anweisungen, die aus einem Lautsprecher ertönen - Atemübungen: auf einen hellen Ton einund auf einen dunklen Ton ausatmen. Danach verbeugen sie sich und wünschen - im Chor sprechend - der Firma, für die sie arbei240

ten, große Erfolge, setzen sich hin, klemmen die Lupe wieder ins Auge und arbeiten weiter. Zen mag so wenig mit dem heutigen Japan zu tun haben wie die Lehre Christi mit dem modernen Europa. Wer durch Japan reist, findet in den Hotels, in denen er wohnt, in den Firmen, die er be­ sucht, unter den Menschen, denen er begegnet, kaum jemanden, der etwas von Zen versteht. Und doch - Eshin Nishimura, Profes­ sor für Zen-Wissenschaften an der Hanazono-Universität in Kyoto, weist darauf hin - «gab es wohl noch nie eine Zeit, in der Zen so verbreitet war wie heute.» Ein Generalmanager, der jeden Morgen seine Fahrt ins Büro in einem Zen-Kloster unterbricht und dort eine Stunde meditiert, ist durchaus nichts Ungewöhn­ liches. 25 Minuten meditiert er im Za-Zen, im «Sitzen», dann 10 Minuten gehend, im sogenannten kinhin, langsam Fuß vor Fuß setzend und dabei weitermeditierend, und dann noch einmal 25 Minuten sitzend. Danach fährt er in seine Firma und ist den ganzen Tag über voller Konzentration und Genauigkeit, Schlag­ fertigkeit und Schnelligkeit, wie sie so auffällig im wirtschaft­ lichen und industriellen Leben Japans sind. Und der Manager ist überzeugt: All diese Eigenschaften hat er vom Meditieren. Ein Freund sagte mir: «Du ahnst gar nicht, wie viele das tun. Es sind die Besten.» Ein Haiku von Basho, dem Meister des japanischen Kurz-Gedichtes im 18. Jahrhundert, lautet: «Sieh genau hin, Dann entdeckst Du die Nazuna-Blüte Unter der Hecke.» Die «Nazuna» ist eine sehr kleine Blume. Man übersieht sie leicht, denn sie wächst versteckt in Hecken und Gräben, unter Büschen und Steinen. Sie blüht immer nur wenige Tage lang. Man muß wirklich genau hinschauen, um sie zu finden. Basho will sagen: Das mühevolle Suchen nach der Nazuna-Blüte, die Auf­ merksamkeit, das genaue Hinsehen lohnen sich, denn die Nazuna ist wunderschön. Bashos Gedicht ist ganz und gar Zen. Aber es ist auch ganz und gar: heutiges Japan. Ein japanischer Universitätsprofessor, mit dem ich über die Lebensbedingungen in Tokio, der größten, laute­ sten, wirrsten, turbulentesten, unübersichtlichsten, hektischsten Stadt der Welt, spreche, sagt: «Die zwölf Millionen Menschen, die 241

in den engen Gassen, in den kleinen verbauten Häusern mit ihren Wänden aus Pappmache leben, lieben die kleinen Dinge: Eine ein­ zelne Blume - oft nicht einmal das: einen dürren Zweig, vielleicht ein einzelnes Blatt daran, oder einen gemusterten Stein, eine aus wenigen Strichen bestehende Tusch-Zeichnung, oft nur ein einzi­ ges chinesisches Schriftzeichen - in einem leeren Zimmer ... Die Blüte steht für den Frühling, der Zweig für den Wald, der Stein für das Meer oder die Berge, das Schriftzeichen für die Weisheit der Welt ... Diese Menschen können nur überleben in ihrer Stadt, weil ihnen das Kleinste das symbolisiert, was im täglichen Leben den meisten von ihnen unerreichbar fern gerückt ist.» Tokio - ich weiß nicht, ob man sich im Westen vergegenwärti­ gen kann, was das bedeutet: 15 000 Menschen pro Quadratkilome­ ter, die größte Menschenansammlung der Welt, 0,4 Quadratmeter Lebensraum im Durchschnitt pro Kopf - was doch heißt, daß die Mehrheit noch viel weniger hat. Kaum einer der Menschen, die in diesem «größten Elendsviertel der Welt» (so die japanische Zeitung «Asahi») leben, weiß etwas von Zen. Aber der Zweig in einem leeren, möbellosen Zimmer das ist Zen: die Schönheit der Leere - und die Lehre von dieser Schönheit; die Lehre auch davon, daß das ganz Kleine für das ganz Große steht: daß Kleines und Großes, Detail und Ganzes, letzt­ lich eines sind. Die Lehre der Leere.

III. Wenn Christentum das bedeutet, was in der Bergpredigt steht, dann sind nur ganz wenige Europäer Christen. Und doch: Was die­ ses Europa denkt und fühlt und tut, ist nicht denkbar, nicht ver­ ständlich ohne zweitausend Jahre Christentum. Ja, Philosophen und Soziologen haben darauf hingewiesen, daß auch der Marxis­ mus eine christliche «Gegen-Welt» ist - nicht denkbar ohne christliche Ideale und Grundsätze, die gerade in der Idee des Mar­ xismus ständig gegenwärtig sind - viel mehr als in der des Kapita­ lismus. So auch - und in noch viel stärkerem Maß - ist Japan nicht denkbar ohne Zen. Daisetz Suzuki, der japanische Schriftsteller und Philosoph des Buddhismus, sagte einmal: «Ob es die Japaner 242

nun wissen oder nicht: Zen ist überall gegenwärtig. Wer Zen kennt, begegnet in Japan ständig seinen Spuren.» Und EnomiyaLassalle, der so viel für das Verständnis des Zen in Deutschland getan hat, schreibt in «Zen - Weg zur Erleuchtung»: «Es gab und gibt auch heute wohl kaum einen Japaner, der nicht in seinem tiefsten Fühlen vom Zen beeinflußt ist.» Und dann spricht er von all den berühmten japanischen «Wegen», den sogenannten Dos: dem «Weg des Tees», bekannt geworden in der Teezeremonie,• dem «Weg des Bogens», dem Kyû-dô der Bogenschützen; dem «Weg des Schreibens» (Sho-dô, der alten japanischen Kunst der Kalligraphie); dem «Weg der Blumen» (Ka-dô); dem «Weg des Rin­ gens» (Ju-dô) oder dem «Weg des Fechtens» (Ken-dô): «In all die­ sen Wegen lebt ein Geist, und das ist der Geist des Zen.» Die «Dos» - dazu haben die alten chinesischen und japanischen Weisen sie erdacht - sind Wege des Zen in den Alltag. Man fahre hinaus in eine der klassischen japanischen Landschaften - nach Matsushima etwa, einen halben Tag nördlich von Tokio: ein In­ sel-Meer aus Hunderten von Fels-Eilanden in schillernden Farben, auf jeder - oder fast jeder - gerade nur ein oder zwei von Wetter und Wind verbogene Fichten: der Archetyp einer japanischen Landschaft. Tausende von Touristen strömen dorthin, auch Euro­ päer und Amerikaner, und doch liegt etwas anderes in der Art, wie die Japaner das anschauen: in Versenkung, ja - in Verehrung. Manchmal gibt es einen, der sich verbeugt. Man hat das Gefühl: In Gedanken verbeugen sich alle. Vor den Inseln. Vor den knorrigen Fichten. Und im Frühling vor den Sakuras, den Kirschblüten ... Indem ich dies schreibe, begehe ich eine der typisch europäischen Ungenauigkeiten. Jeder Japaner weiß: Es gibt vier Sakura-Perio­ den. Jede hat ihren Namen, und jeder Japaner - auch der moderne, gehetzte Großstadtmensch - verbindet mit jedem KirschblütenStadium genaue Vorstellungen: Ob die Blüte vier oder acht Blü­ tenblätter hat, welchen Farbschimmer sie besitzt, ob die Blätt­ chen durch den Wind fortgeblasen oder durch nachstoßende Triebe abgestoßen werden, welche Form sie haben und - auch dies ist wichtig - was alles dies symbolisiert. Ganze Bücher sind über Kirschblüten geschrieben worden. Kommt der westliche Gast am Abend nach Tokio zurück und erzählt seinen japanischen Freunden, er sei zur Sakura draußen auf dem Land gewesen, dann wird er gefragt: nach Anzahl und Form und Schimmer der Blättchen, nach dem Blütenfall und den Namen der Baumarten. Alles dies sind Themen für lange Gesprä­ che. Und wenn er darauf so ungenau antwortet, wie westliche 243

Leute das eben tun, dann denken die Japaner: Vielleicht war er gar nicht draußen und erzählt's nur, um uns eine Freude zu machen. Denn daß man all dies - wenn man es wirklich gesehen hat nicht mit Genauigkeit wahrnehme und sich merke, das können sie sich nicht vorstellen. Was ist es denn wirklich, wodurch die japanische Industrie so erfolgreich ist? Ist es nicht auch hier die Liebe zum Detail? Die Genauigkeit? Die Aufmerksamkeit? Die Sorgfalt in jeder einzel­ nen Kleinigkeit? In der «Tüfteligkeit», die dazu gehört, die schwierigsten Konstruktionen und Schaltungen auf kleinstem Raum zu realisieren: darin sind die Japaner Meister. Nicht um­ sonst wurden die «IC's» - die «Chips», die integrierten Schaltele­ mente, die 1ooooo(!)-und bald noch mehr! - elektronische Funk­ tionen auf der Fläche eines halben Quadratzentimeters bewälti­ gen (und die in einem heute noch gar nicht zu ermessenden Maße die Industriegesellschaften der Welt verändern werden) - zwar nicht in Japan erfunden, aber dort schneller und entschlossener weiterentwickelt und eingeführt als irgendwo sonst, und zwar mit einer Begeisterung, als handle es sich um ein ureigenes japani­ sches Anliegen (wie vorher schon Transistoren, Druckschaltun­ gen, Quarzuhren etc., überhaupt alles, was technische Prozesse auf kleinsten Raum konzentriert). Daß Kameras, Blitzlichtgeräte, Kassettenspieler, Radios, optische und Haushaltsapparate immer noch kleiner und handlicher und raffinierter werden - inzwi­ schen auch bei den Herstellern in der westlichen Welt -, das haben die Japaner uns vorgemacht - mit ihrer ungeheuren Konzentra­ tionsfähigkeit auf Kleinstes und Allerkleinstes. In jeder Kultur sind es die Frauen, die die Tradition bewahren. Daß Genauigkeit und Liebe zum Detail zum großen Erbe Japans gehören, bemerkt man nirgendwo überraschter, als wenn eine Ja­ panerin einen Kimono - zumal einen kostbaren, der zu festlichen Anlässen getragen wird - anzieht. Für westliche Menschen scheint ja nicht viel dazuzugehören: der eigentliche Kimono (der nur das Oberkleid ist) und der Obi (der Gürtel). Ich habe einmal gezählt: 38 - in Worten: achtunddreißig! - Teile, einschließlich Schärpen, Bändern, Bändchen und Schnüren, Strümpfen und Sokken, gehören zu einem Kimono. Wenn er billig ist, kostet er dreibis viertausend Mark. Es dauert zwei bis drei Stunden - oft län­ ger-, ihn kunstgerecht anzuziehen. Und immer wieder hält es die Trägerin an irgendeiner Stelle für notwendig, für absolut unerläß­ lich, von neuem anzufangen; sie zieht fünf, sechs, sieben Teile wieder aus, weil sie irgendwo - angeblich - einen «Fehler» ge­ 244

macht habe, bei einem der Untergewänder, das doch niemand je anschauen wird, bei einem Bändchen oder Schnürchen, das, fiele es fort, von niemandem, auch von der Trägerin selbst nicht, ver­ mißt werden könnte, beim Legen einer Falte, die ohnehin von einem halben Dutzend weiterer überdeckt wird. Und wenn sie dann fertig ist - nach Stunden nicht etwa des Vor-sich-hin-Trödelns, sondern rastloser Aktivität -, dann kann sie keinesfalls schon auf die Party oder den Empfang gehen, um deretwillen sie ihren Kimono angelegt hat, denn sie ist so erschöpft, daß es nun wirklich notwendig ist, sich erst einmal eine Stunde, mindestens eine, auszuruhen. Es ist a hard day’s work, eine Tagesarbeit, den Kimono anzulegen. Aber wenn sie ihn dann austrägt und einen Abend lang lächelt und lacht, redet und zwitschert und kichert, ist alles vergessen. Jede ihrer Geschlechtsgenossinnen in gleich wel­ chem anderen Land wäre nach solcher Tortur - wenn es denn denkbar ist, sie ließe sich darauf ein - einen Abend lang grantig. Bei einer japanischen Fernseh-Gesellschaft hatte ich eine Sen­ dung zu produzieren - als Co-Produktion mit dem Baden-Badener Südwestfunk. Nachdem schon alles in tagelangen Besprechungen und in typisch japanischer Detailfreudigkeit geklärt war, bat mich der Regisseur noch zu einem weiteren Gespräch. Sein ganzer Stab war dazu geladen. Thema: Wie soll diese Sendung von einer japa­ nischen Ansagerin in Japanisch und von mir in Deutsch präsen­ tiert werden? Man weiß, in der westlichen Welt dauert so etwas zehn bis fünfzehn Minuten. Das Gespräch in Japan über dieses winzige Problem dauerte sieben Stunden. Nach drei Stunden wurde ich müde, nach fünf Stunden war ich ärgerlich und gereizt, nach sieben Stunden erschlagen. Es gab kein Detail, an das nicht gedacht und das nicht beredet - und zerredet - worden wäre. Und alle beteiligten sich daran, mehr als ein Dutzend Personen, jeder in äußerster Ausführlichkeit und Genauigkeit. Viele machten kleine Zeichnungen und Skizzen, wie ja in Japan alles grafisch erfaßt wird. Am nächsten Tag bat mich Domei-san - Herr Domei, so hieß der Regisseur - erneut zu einer Besprechung, die wiederum als «abschließend», und «leider unbedingt notwendig» bezeichnet wurde. Ich kam widerwillig und ließ ihn das auch spüren. Es gab ja nun wirklich nichts mehr zu besprechen. Nach einer Stunde ent­ schuldigte ich mich. Da wurde er seinerseits ärgerlich, auf jene traditionell japanische Weise, die beherrscht bleibt und eben da­ durch Ärger und Zorn auf viel wirksamere Weise ausstrahlt, als dies in den Streitereien und Schreiereien der westlichen Welt ge­ 245

schieht. In den nächsten Tagen spürte ich, daß ich ihn verletzt hatte. Aber erst Jahre später, nachdem ich lange genug in Japan gewesen war, verstand ich warum. Ich hatte die Form verletzt. Und zur Form gehört ein uraltes, in den meisten Japanern leben­ diges und wirksames Bewußtsein, daß Kleinigkeiten entschei­ dend sind. Dieses Bewußtsein hat mit der Ordnung der Dinge und sie wiederum mit -Stil» zu tun: mit der Art, richtig zu leben. Des­ halb war Domei-san ärgerlich: weil er die Gefährdung der Ord­ nung empfand. Aber es ist möglich, daß ihm das selbst nicht be­ wußt wurde, denn er ist ein moderner, großstädtisch denkender Fernseh-Regisseur.

IV. Kein Volk fotografiert so viel wie die Japaner. Wo immer sie sind, tragen sie ihre Kameras mit sich und knipsen und knipsen ... Der durchschnittliche Filmverbrauch ist viermal so hoch wie im We­ sten. Was aber machen sie nur mit all diesen Fotos? In einem Kreis japanischer Freunde diskutierten wir einen Abend lang über die­ ses Thema. Ich, der Mann aus dem Westen, sage: Die Industrie manipuliert die Menschen. Ich weise auf die gewaltigen Werbean­ strengungen der japanischen Foto- und Filmindustrie hin. Aber meine Freunde haben schon recht: Die Manipulation durch die Industrie, die Flut der Werbung gibt es auch im Westen. Nach lan­ gem Hin und Her erwägen wir Folgendes: Die Fotografie bewahrt den Moment - den einen, unwiederholbaren, keinem anderen ver­ gleichbaren Moment, der anderenfalls jetzt schon - jetzt! - verges­ sen wäre, für immer verloren... Das Klick der Millionen von foto­ grafierenden Japanern überall in der Welt scheint ständig zu sagen: Jetzt! Jetzt! Jetzt! Das «Jetzt» ist für Zen ebenso wichtig wie das Nichts und die Leere, das Mu und das Ku. Daß man alles tun soll, als ob man es nur ein einziges Mal täte, mit äußerster Konzentration auf dieses Tun in eben diesem jetzigen Moment - ohne Gedanken an die Vergangenheit oder die Zukunft - ist praktische Zen-Weisheit. Ja, mehr noch: Es ist aktives, alltägliches Meditieren. Daß Ewigkeit «jetzt!» ist - nicht, wie die Christen meinen, etwas jenseits der gerade noch vorstellbaren Zukunft und jenseits des Todes Liegen­ des, in das man irgendwann einmal eintreten mag -, ist tief ver­ 246

wurzelte Zen-Überzeugung. Allein das Jetzt zählt. Das Vergan­ gene ist vergangen, sei es auch nur um Sekunden, das Zukünftige ist noch nicht da. Der Mensch, der nicht im Jetzt lebt, lebt nir­ gendwo. Im Garten des Moos-Tempels, des berühmten «Kokedera» in Kyoto - aber auch in anderen Zen-Gärten überall in Japan - gibt es an kleinen Bächen das Bambusrohr, das voll Wasser läuft, dann umkippt und sich entleert. Dabei entsteht ein Sound - ein hohler, hölzerner Bambus-Klang, der weit hinweg tönt über den Zen-Gar­ ten und den Tempelbezirk - seit Jahrhunderten in ewigem Gleich­ klang, der allenfalls durch den Wasserstand variiert wird. «Wissen Sie, was der Bambus sagt, jedesmal wenn er klick macht?», fragte uns der Zen-Mönch, der uns durch den Garten führte, und beant­ wortete die Frage gleich selbst: «Jetzt! Jetzt! Jetzt!» Kaum nötig hinzuzufügen, daß der Christ den Bambus-Ton ganz anders emp­ findet: Uns, die Europäer, erinnert er an das Verrinnen der Zeit, daran, daß wir älter werden und sterben müssen und vielleicht an das Jenseits. Aber nicht an das «Jetzt»! Immer wieder liest man in japanischen Zeitungen davon, daß Liebende gemeinsam sterben - in einem Moment, in dem ihre Liebe am größten ist. Sie betrachten etwa eine Landschaft - einen Wasserfall, einen Fels im Meer, einen Vollmond- eine Nacht lang, um dann nicht etwa zu sagen: Jetzt könnte ich sterben! Die­ ser Gedanke des «Zum-Sterben-schön» wäre Romantik, wäre Eichendorff und Bettina, generationenlang als Volkslied gesun­ gen: «Ich möcht' am liebsten sterben, dann wär's auf einmal still» - und doch stirbt niemand. Bei den Japanern ist es umgekehrt: Sie sprechen - und singen erst recht - nicht darüber. Sie tun es. Sie sterben. Als eine Möglichkeit, um das «Jetzt» zu bewahren. In der Art, in der sie es tun, liegt etwas Alltägliches: «Es ist nicht der Rede wert» - wozu auch die Bemühung gehört, anderen möglichst wenig Umstände zu machen. Wenn sie etwas Schriftliches hinter­ lassen, dann allenfalls einen Zettel mit der Entschuldigung, daß gewisse Umstände - das Abspülen des Blutes, das Fortbringen des Leichnams - eben doch leider unvermeidlich seien... Westlichen Beobachtern wurde die japanische Bewahrung des «Jetzt» eindringlich deutlich in Oshimas mit Recht immer wieder gezeigtem Film «Nur wir» - so heißt er ja eigentlich, und der deut­ sche Titel «Im Reich der Sinne» fügt der beschämenden Reihe «eindeutschender» Filmtitel nur ein weiteres jämmerliches Bei­ spiel hinzu. Das «Nur wir» - das «Jetzt!» - dieses Films kulmi­ niert im Schluß: als Tod im Augenblick des Orgasmus, damit das 247

äußerste «Jetzt!», das Menschen zu erleben möglich ist, bewahrt werde, für immer, «so daß nur der Tod, der restlose Verzehr der Sinnenbeute als letzte Steigerung übrigbliebe ... Nicht der Sieg des einen über den anderen wurde erzielt, sondern der Sieg der Liebe über die Zeit.» Botho Strauß, der dies in «Paare, Passanten» schreibt, hätte auch formulieren können: der Sieg des «Jetzt» über die Zeit. Die Liebe ist immer das «Jetzt». Deshalb muß sie immer wieder neu getan werden. Weil es um das «Jetzt» geht: deshalb vor allem wirkt dieser Film so japanisch.

V. Noch einmal: Mit der jahrhundertelangen Schulung, eine Sache ganz und gar zu tun - sie jetzt zu tun, mit äußerster Konzentration auf dieses «Jetzt» -, hängen zusammen: Präzision, Hingabe, Aus­ dauer, Genauigkeit, der stoische Gleichmut, die Detail-Freude alles Eigenschaften, die Millionen von Arbeitern und Angestell­ ten der japanischen Industrie - die alle von Zen nichts wissen kennzeichnen und denen diese Industrie ihre Kraft, ihre Über­ legenheit und Krisenfestigkeit verdankt. Denn das haben ja die Zen-Meister ihre Schüler jahrhunderte­ lang gelehrt: Tue eine Sache. Nur eine einzige. Immer wieder. Ganz und gar. In jedem Augenblick. Denke an nichts anderes - an nichts, was vorher war, und an nichts, was sein wird. Denke an: Jetzt! Wie sehr unterscheidet sich diese Lebensauffassung doch von unserer abendländisch-europäischen, in der man ständig gehalten ist, Verschiedenes gleichzeitig zu tun, ja um so «besser» ist, je mehr Dinge man nebeneinander «erledigen» kann. In allem, was wir tun, steckt ein Bewußtsein von Geschichte, von Vergangen­ heit und von Zukunft und von etwas Weiterem, das die betref­ fende Angelegenheit «außerdem noch» bedeuten mag ... Nicht also das «Jetzt», sondern immer noch etwas anderes dazu. Deshalb-weil es allein auf das «Jetzt!» und auf das «Immer-nurEines-Tun» ankommt - ist Meditation das zentrale Zen-Anliegen: Nirgendwo mehr als in ihr ist der Mensch so bedingungslos gefor­ dert, ganz «da» zu sein - «klar, offen, wolkenlos», wie es in einem Gesang des chinesischen Zen-Patriarchen Seng-ts' an heißt. 248

Die Konzentration auf das «Jetzt!», das «Eine-Sache-ganz-undgar-Tun», das «Leerwerden, damit Fülle eintritt» - dies alles macht aktiv. Ich habe keinen Zweifel, daß dies der eigentliche Grund ist für die ungeheure, faszinierende, ameisenhafte Aktivi­ tät der Japaner. «Der Leib eines einzigen wahrhaften Menschen erschöpft die zehn Richtungen des Alls», sagt Zen-Meister Dogen. Und Kakichi Kadowaki, ein zeitgenössischer japanischer Jesuit, fügt hinzu: «Daraus ergibt sich, daß Leib und Geist, die vom absoluten Nichts durchdrungen sind, von Aktivitäten überströmen ...» Und dann erzählt er die Geschichte einer jungen katholischen Schwester, die acht Tage lang täglich acht bis neun Stunden Zen-meditiert hatte und darauf eine Reihe sportlicher Wettkämpfe, an denen sie vorher nie wesentlich interessiert gewesen war, mit weitem Ab­ stand vor allen anderen gewann. Die Schwester: «Da ich Zen ge­ lernt hatte, konnte ich mich selbst vergessen und ohne Hemmun­ gen aktiv an den verschiedenen Wettbewerben teilnehmen.» Und Kadowaki: «Die Schwester war im üblichen katholischen Ordensleben aufgewachsen ... Aber bevor sie an dem Medita­ tionskurs teilnahm, hatte sie nichts von solch sprühender Leben­ digkeit erkennen lassen. Sie führte eher ein unauffälliges, solides Leben, wie Schwestern christlicher Orden dies eben tun, und man hatte kaum den Eindruck, daß sie aus vollen Kräften und mit gan­ zem Herzen lebte.» Was Kadowaki hier schildert, ist das Erfolgsrezept der vielen japanischen Sportarten, die mit Zen Zusammenhängen: Bogen­ schießen, Judo, Karate, Aikido und die diversen Fecht- und Schwertkampf-Techniken - auffälligerweise alles Sportarten, bei denen man «ganz und gar eins» werden muß mit dem Ziel oder dem Gegner, sich in das Ziel oder den Gegner hineinversetzend, sich letztlich mit ihnen identifizierend.

VI. Lassen Sie mich berichten, wie ich Anfang der sechziger Jahre auf meiner ersten Japan-Reise - als ich von all diesen Dingen noch nichts wußte - meine erste japanische Freundin kennenlernte. Es war im Tempelbezirk von Nikko, nördlich von Tokio. Wir - die 249

Touristen, vorwiegend Japaner, nur wenige Amerikaner, wohl kaum weitere Europäer darunter - zogen am Tempeleingang Wahrsage-Stäbchen aus einem Gefäß. Auf jedem Stäbchen befan­ den sich ein paar Zeichen, aus denen der Mönch, der das Gefäß für uns schüttelte, die Zukunft deutete. In einer Gruppe, die den Mönch und seine Stäbchen-Gefäße umstand, war unmittelbar vor mir eine junge Frau an der Reihe. Der Mönch sagte ihr, was das Stäbchen bedeutete. Sie lachte. Danach zog auch ich ein Stäbchen. Der Mönch sprach japanisch zu mir. Ich verstand nicht, sie übersetzte. Es hatte mit Frauen und mit Liebe zu tun. Bei ihr vorher offenbar mit Männern und Liebe. Wir mußten beide lachen. So lernten wir uns kennen. Wir redeten, gingen spazieren, tranken Tee, gingen wieder spa­ zieren, redeten weiter, hörten Musik an einem High-FidelityStand, gingen zum Essen und danach ins Kino - alles Dinge, die auch junge Menschen im Westen tun würden. Danach allerdings übernahm sie die Initiative - und die sah anders aus: Eine ganze Nacht lang - ich präzisiere, weil es unglaublich klingt: von elf Uhr abends, als das Kino vorbei war, bis morgens tun fünf oder halb sechs, als die Sonne aufging - saßen wir am Chuzenji-See bei Nikko und sahen den Vollmond und eine vom Licht des Mondes bestrahlte Felsinsel mit einer Zeder an: die klassische japanische Moon Watching Party. Jeder saß auf einem Stein, etwa anderthalb Meter vom anderen entfernt. Kein einzi­ ges Mal haben wir uns berührt. Ich wundere mich noch immer, warum ich das mitgemacht habe. Vielleicht dachte ich, es sei reizvoll, einmal etwas ganz und gar Japanisches zu erfahren. Wir haben fast nichts gesprochen - sieben Stunden lang, nur immer den Vollmond und den See und den Fels und die Zeder angese­ hen. Gegen Morgen begriff ich: Das war ein Test. Vielleicht begriff ich es mehr als die Japanerin selber, die einer Sitte folgte, ohne groß darüber nachzudenken. Von da an war sie meine Freundin. Und es ist offensichtlich, daß sie (obwohl sie von Zen nichts wußte) mir einen Zen-Test auferlegt hatte. Schwieriger, ergiebi­ ger, genauer, erfüllender als das endlose Gerede, mit dem junge Männer im Westen ihre Mädchen «bequatschen». Natürlich war diese Nacht eine Tortur für mich, den Mann aus Europa. Aber je länger wir dort saßen, desto spürbarer trat etwas anderes neben die Strapaze: Ich fühlte - und dieses Gefühl be­ gann schon nach ein, zwei Stunden und wuchs während der Nacht wie der Mond mich erfüllte, wie ich - so nur kann ich es 250

sagen - «eins wurde» mit ihm. Noch Tage danach hatte ich ein anderes Körpergefühl - leichter, transparenter, klarer, beschwing­ ter, von Licht erfüllt...

VII. Ich habe dafür Verständnis, wenn der eine oder andere sagt: Was in diesem Beitrag als Wirkungen von Zen dargestellt worden ist, seien nur noch Reste. Es seien oft auch Entartungen und Verfall wie bei den japanischen Todesfliegern des Zweiten Weltkrieges, sei - wie Jean Gebser das nennt - «defizient». Nur meine ich: Wenn selbst die Defizienz noch so e/fizient ist, so stark Leben und Lebensstil in all ihren Äußerungen durchdringend und so produk­ tiv: wie stark muß dann das Erbe des Zen auch heute noch sein! Der Gedanke, daß dieses Erbe durch Japans -Schwenk zum We­ sten» verdrängt werde, ist naheliegend, hält aber keiner ernst­ haften Prüfung stand. Das Gegenteil ist der Fall. Wie ja überhaupt die Vorstellung, Japan verliere durch die moderne Technologie seine eigene Tradition, gar zu westlich empfunden ist. Japan ist nicht nur eines der «modernsten», sondern gleichzeitig auch eines der «konservativsten» Länder der Erde - im wahren und ursprüng­ lichen Sinn dieses Wortes «konservativ». Immer wieder bestätigt sich der Eindruck, daß beides - die «Modernität» und die «Konservativität» - sich aneinander steigern in einer Dialektik, die als typisch «japanisch» bezeichnet werden darf (für die es jedenfalls in der westlichen Welt keinen Vergleich gibt). Kenner der japanischen Kunst- und Geistesgeschichte haben darauf hingewiesen, daß Neuentdeckungen in der japanischen Kulturgeschichte - etwa in der Glanzzeit der buddhistischen Skulptur von der Nara-Epoche bis zur Kamakura-Zeit - das Über­ lieferte niemals verdrängt, sondern es immer nur ergänzt und be­ reichert haben. Ähnliche Befunde lassen sich von der Entwick­ lung der japanischen Malerei und Literatur ablesen: Fast niemals tritt - wie bei den Kunstentwicklungen Europas - das Neue an die Stelle des Alten: fast stets wirkt das Neue im Sinne einer Öffnung und Erweiterung. Ähnlich war es bei den Begegnungen mit China und Korea. All das, was die Japaner mit seltener Adaptionsfähigkeit übernom­ men haben, diente letztlich nur dazu, eigene japanische Lösungen 251

zu entwickeln. Je stärker «chinesisiert» die japanische Kunst wirkte, um so stärker kehrte sie jeweils schon wenige Jahre später charakteristisch «japanische» Züge heraus: als steigere sich das japanische Element geradezu an den Einflüssen des Auslandes. So führte zum Beispiel die Sättigung mit chinesischer Bildung und konfuzianischer Moral bei den Dichtem der Nara-Zeit (8. Jahr­ hundert) bereits zwei Generationen später - am Hof in Kyoto - zur Destillation eines hochentwickelten Ästhetizismus, der sich von allem Vergleichbaren, das es in China gegeben haben mag, grund­ legend unterscheidet. Noch offensichtlicher ist dies im Bereich der großen japanischen Skulptur: Die Nara- und die frühe HeianPeriode standen unter einem geradezu überwältigenden chinesi­ schen Einfluß, aber während der späteren Heian-Periode - um 940- begann das Pendel in die entgegengesetzte Richtung zu schla­ gen,- bis - um 118 5 - die Kamakura-Zeit begann, hatten die Künst­ ler die chinesischen Einflüsse so vollkommen absorbiert, daß sie gerade noch als Anregungen spürbar blieben, ihre Kunst aber wie­ der «rein japanisch» wirkte. Auch in der Architektur findet man Beispiele: zweimal gab es den chinesischen Schub - im 7. / 8. Jahr­ hundert und dann wieder im 13. -, jedesmal mit dem gleichen Ergebnis: unmittelbar darauf wurde der japanische Charakter um so offensichtlicher... wobei noch nichts über das - unvergleichlich japanische - Element der Verfeinerung gesagt ist, das der Über­ nahme ausländischer Anregungen nicht erst folgte, sondern meist mit ihr parallel lief (was ja auch bei der Übernahme moderner west­ licher Technologien durch die Japaner spürbar wird). Es ist ein Ele­ ment, das mit der Freiheit von «Botschaften» zusammenhängt und das charakteristisch für die japanische Kunst ist. Die chinesische Kunst tendiert dazu, eine «Botschaft» zu trans­ portieren: eine Moral, eine Lebensweisheit, eine zu beherzigende Anweisung. Die japanische Kunst will nichts als sich selbst trans­ portieren. Kennzeichnend hierfür ist die Tee-Zeremonie, die Chanoyu. Fast alles, was zu ihr gehört, kam aus China, und doch ist die Zeremonie, wie sie sich im 15. Jahrhundert unter dem Patro­ nat Yoshimaras herausgebildet hat, so sehr japanisch, daß ihre chinesischen Quellen allenfalls noch historische Bedeutung be­ sitzen. Worauf es nämlich ankommt - trotz allem, was kluge Leute in sie hineindeuten - Wa (Friede), Kei (Respekt), Sei (Rein­ heit), Jaku (Einsamkeit) -, ist allein: die Zeremonie selbst. Auch insofern wird die Zen-Forderung deutlich, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun - nur diese eine Sache, aber sie ganz und gar. Für «Botschaften» ist da kein Platz. (Ich weiß, auch diese Forde252

rung kommt ursprünglich aus China, aber dort wurde sie von der konfuzianischen, Praktisches «bezwecken» zu wollen, über­ deckt.) Die Öffnung Japans gegenüber Portugiesen und Holländern im 16. Jahrhundert trug alle Charakteristika der Begeisterung - einer scheinbar unbegrenzten Resorptionsbereitschaft. Aber wenige Jahre später folgte die Abkapselung und - damit zusammenhän­ gend - die um so stärkere Betonung «japanischer» Elemente. Es spielt keine Rolle, ob sich dieser Prozeß - wie im letzteren Bei­ spiel - bewußt abgespielt hat oder ob er sich - wie in den erstge­ nannten Beispielen - unbewußt vollzog. Im Gegenteil, die Tat­ sache, daß er manchmal in der japanischen Geschichte mehr unbewußt ablief, während er in anderen Epochen bewußt in Gang gesetzt wurde, läßt ihn um so elementarer erscheinen. Und es ist wichtig zu sehen, daß es für eine derartige kulturgeschichtliche Reaktionsweise in dieser Breite und Grundsätzlichkeit keinen europäischen Vergleich gibt. Wer europäische Kunst- und Geistes­ geschichte betrachtet, darf durchaus davon ausgehen, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einer bestimmten Gegend beispielsweise - die Gotik an die Stelle der Romanik oder das Barock an die Stelle der Renaissance trat. Wer bei der Betrachtung der japanischen Entwicklungen von ähnlichen Vorstellungen aus­ geht, macht sich schwerwiegender Vereinfachungen schuldig. Da­ nielle und Vadime Elisseeff resümieren in ihrem umfassenden Werk über «Japan - Kunst und Kultur»: «Vielleicht muß man be­ sonders darin eine der Ursachen des außerordentlichen Reich­ tums der japanischen Kunst sehen: niemals hat man eine Manier ausschließlich zugunsten der Einführung von Neuerungen aufge­ geben. Die Erfindung bereichert, zerstört aber nichts.» Es ist nicht plausibel, anzunehmen, daß eine solche Art und Weise, geistesgeschichtlich zu reagieren, zumal sie sich über einen so langen Zeitraum (gewiß nicht immer in der gleichen, aber doch in vergleichbarer Weise) wiederholt hat - nämlich vom 6. bis zum 19. Jahrhundert! -, nun plötzlich, in unserem Jahrhun­ dert, zum Stillstand gekommen sein soll. Das Phänomen, das mit Fug und Recht als «das» japanische par excellence bezeichnet werden darf, bleibt auch spürbar und wirksam in der Begegnung Japans mit dem Westen - und auch, das war ja unser Ausgangs­ punkt, im Aufeinandertreffen von Zen und westlicher Technolo­ gie. Auch hier gibt es die japanische Dialektik des Sich-aneinander-Steigerns viel eher als die Verdrängung. Übrigens hat die Tatsache, daß der jeweils folgende Künstler 253

und die jeweils folgende Epoche in der japanischen Kunst das Vor­ ausgehende weniger verdrängt als ergänzt, einen ethischen - fast könnte man sagen: einen moralischen - Grund, der mit Zen (und freilich auch mit Konfuzius) unmittelbar zusammenhängt. Dieser Grund liegt im Giri. Ich zitiere wieder Danielle und Vadime Elisseeff: «Giri drückt den von Dankbarkeit begleiteten Respekt aus, ein gleichzeitig bereicherndes und zwingendes Gefühl, Wesen auch des Bandes, das den Schüler mit dem Meister verbindet ... Aufgrund des Giri kann der Schüler niemals ohne Unschicklich­ keit die Fertigkeiten des Meisters ignorieren...» Giri hat zu der « erstaunlichen Kontinuität» innerhalb der japani­ schen Kunst geführt. Giri ist auch im heutigen Japan lebendig, sogar in der Art, in der sich Fabrikarbeiter ihrem Vorarbeiter, Ange­ stellte ihrem Chef, die amerikanisierten Musiker des japanischen Jazz ihrem Bandleader voller Respekt verbunden fühlen. Giri sorgt dafür, daß alle diese Bereiche - und zahllose andere -, selbst wenn sie auf den oberflächlichen Beobachter noch so «verwestlicht» wir­ ken mögen, spürbar japanisch bleiben. Das Vorbild der Giri-Bezie­ hung ist das Verhältnis des Schülers zu seinem Roshi, seinem ZenMeister.

VIII. Längst mag der eine oder andere fragen: Wie kommt es, daß man immer wieder hört, die Japaner seien allem Religiösen abgeneigt? Ich kann ziemlich genau sagen, woher das kommt, denn ich habe ein paarmal miterlebt, wie diese Ansicht entsteht - zuletzt 1975 beim Besuch einer Gruppe protestantischer Kirchenleute aus den USA, die Japan bereisten. Immer wieder wurden Japaner mit pein­ licher Direktheit befragt: Glauben Sie an Gott? Und fast immer bekamen sie eine ausweichende Antwort - oder rundheraus: Nein. Keiner der Besucher machte sich klar, daß die Frage, ob man an Gott glaube, doch eigentlich nur aus dem Blickwinkel dreier Weltre­ ligionen gestellt werden darf - der christlichen, der jüdischen und des Islam - mit ihrer Fixiertheit auf den sogenannten «persön­ lichen Gott». Wer falsch fragt, bekommt falsche Antworten. Auch der gläubigste Buddhist - und gerade er - kann auf die Frage nach Gott nur indirekt antworten - oder rundheraus «nein» sagen. 254

Dem Wort von Elias Canetti, das diesem Buch als eines seiner Motti vorangestellt ist, wird in keinem Land der Erde mehr ent­ sprochen als in Japan. Nirgendwo sonst haben so viele Menschen das, was man eine «eigene Religion» nennen könnte. Von dem Jazz-Gitarristen John McLaughlin habe ich einen groß­ artigen Ausspruch Vivekanandas gelernt: «Gott kommt auf die Erde, um eine neue Religion zu gründen, und sie ist wunderbar und hilft vielen Menschen. Aber der Teufel kommt gleich hinter­ her und macht eine Kirche daraus.» Auch das ist zu sehen: Es gibt - von zwei oder drei «New Religions» abgesehen - kaum eine «Kirche» in Japan. Viele der westlichen Reisenden, die Religion vermissen, verwechseln diese mit der Institution der Kirche - wie sie das ja auch in ihren eigenen Ländern tun und dadurch ihre ei­ gene Religion, die christliche, immer weiter beschädigen. (Das ist eines der größten Wunder an Jesus Christus: daß selbst noch der Rest von ihm, der nach zwei Jahrtausenden des Mißbrauchs durch die bestallten Vertreter der diversen christlichen Kirchen übrig ge­ blieben ist, so vielen Menschen hilft und in der ganzen Welt im­ mer noch Segen stiftet.) Die Frage, ob einer an Gott glaube, hat etwas Indiskretes, Boh­ rendes, die Intimität Verletzendes. Fast so, als ob man fragt: Mit wem haben Sie letzte Nacht geschlafen? Eine Gesellschaft, die das Private und Persönliche mit so viel Behutsamkeit schützt wie die japanische, ist diesbezüglich empfindlich. Auch sind die Japaner ja wirklich ein «diesseitiges» Volk. Nichts, wovon in diesem Beitrag die Rede war, widerspricht dem. Auch nicht die zahlreichen sogenannten «New Religions» - die Neuen Religionen -, zu denen sich Millionen von Japanern beken­ nen - Millionen, die «gleichzeitig» auch noch Buddhisten oder Shintoisten oder - oft genug - beides sind. Wir müssen begreifen, daß das Wort «Religiosität», wie es in Europa verwendet wird, zu sehr mit christlichen Vorstellungen befrachtet ist. Es ist nicht an­ gemessen für andere Weltgegenden. Deshalb wird es ja auch im­ mer mehr durch den Begriff «Spiritualität» ersetzt. Zen ist gewiß keine Religion; aber Zen ist «spirituell».

IX. In seinem Buch «Die Drei Pfeiler des Zen» erzählt Philip Kapleau eine Geschichte, in der jeder, der öfter mit Japanern zu tun hat, das heutige Japan wiedererkennen wird: Eines Tages bat ein Mann den Zen-Meister Ikkyû, ihm einige Grundregeln höchster Weisheit aufzuschreiben. Ikkyû griff zum Pinsel und schrieb: «Aufmerk­ samkeit.» - «Ist das alles?» fragte der Mann. «Wollt Ihr nicht noch etwas hinzufügen?» Ikkyû schrieb daraufhin zweimal hinterein­ ander: «Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit.» - «Nun», meinte der Mann ziemlich enttäuscht, «ich sehe wirklich nicht viel Tie­ fes oder Geistreiches in dem, was Ihr da geschrieben habt.» Dar­ aufhin notierte Ikkyû das gleiche Wort dreimal hintereinander: «Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit.» Verär­ gert fragte der Mann: «Was bedeutet dies Wort überhaupt?» Ikkyü antwortete sanft: «Aufmerksamkeit bedeutet Aufmerksamkeit.»

Postskriptum über die Wissenschaft

«Wer beweisen will, ist nicht gut. Die Gelehrten wissen nicht!» Lao-tse

Zu sprechen ist über die Rolle, die die Wissenschaft in «Nada Brahma» spielt: eine Frage also des Verfahrens. Solche Fragengehö­ ren nicht in den Text, und zu «Nada Brahma» passen sie schon gar nicht. Dennoch beziehe ich mich ständig - positiv und negativ - auf Ergebnisse der Wissenschaft. Ich nehme an, daß die Ambivalenz, die hier herrscht, dem aufmerksamen Leser bewußt geworden ist. Diese Ambivalenz muß geklärt werden. Wir brauchen Wissenschaft. Wir bewundern viele ihrer Ergeb­ nisse. Wir können nicht leben ohne sie. Wir wollen nicht zurück­ fallen in einen vor-wissenschaftlichen Zustand. Aber der bereits in der «Intro» zitierte Physiker und Mathematiker Claudio Hoff­ mann hat unter dem hübschen Titel «Smog im Hirn» ein Buch über die «notwendige Aufhebung der herrschenden Wissen­ schaft» gemacht. Hoffmann weist nach: Wissenschaft dient nicht zur Verständigung, sondern zur Herrschaft. In der Physik verdop­ pelt sich die Zahl der bisher in der Geschichte der abendländi­ schen Menschheit geschriebenen Veröffentlichungen alle drei­ zehn bis fünfzehn Jahre; die Forschungsintensität, die sich auf die Vernichtung von Leben konzentriert, ist zehnmal intensiver als diejenige, die auf die Erhaltung von Leben zielt: «Der Todestrieb, einst von einem Wissenschaftler als theoretischer Begriff unter das Volk gebracht, wird nun von Wissenschaftlern als reales Ver­ nichtungspotential über das Volk verhängt.» Sogar ein Mann von so konservativem Zuschnitt wie Carl Fried­ rich von Weizsäcker, selbst Atomphysiker, fragt, ob das, was die Wissenschaftler «der Welt antun, nicht vielleicht objektiv verbre­ cherisch ist». Paul Feyerabend - einer der Begründer der modernen Wissen­ schaftskritik - weist darauf hin, daß die wichtigsten Entdeckun­ gen, die sich die Wissenschaft zugute hält, nicht von Wissen­ schaftlern, sondern «fast immer von Außenseitern gemacht» 257

wurden. Den Wissenschaftlern, so Feyerabend, »reichen die lä­ cherlichsten Argumente und ein Minimum von Studien aus, um einem Mythos oder einer nichtwissenschaftlichen Kosmologie den Garaus zu machen. Die Argumente ... bestehen etwa in der Bemerkung, daß die kritisierten Ideen nicht auf wissenschaftliche Weise gewonnen wurden und daher unbrauchbar sind ... Die Be­ hauptung der Wissenschaftler, allein brauchbare Methoden und Erkenntnisse zu besitzen, erweist sich als ein Zeichen nicht nur ihrer Einbildung, sondern auch ihrer Ignoranz.» Der französische Biologe Joel de Rosnay zeigt in seinem Buch «Das Makroskop», daß die Verfahrensweisen herkömmlicher wissenschaftlicher Arbeit nicht geeignet sind, Wirklichkeit zu er­ fassen, sondern im Gegenteil zwangsläufig Wirklichkeit verzer­ ren. So lautet beispielsweise ein seit Generationen weiterge­ schleppter, nie mehr durchdachter und gleichwohl immer noch befolgter Grundsatz wissenschaftlichen Arbeitens - etwa in Me­ dizin und Chemie: «Die Bewertung der Tatsachen erfolgt durch experimentellen Beweis im Rahmen einer Theorie.» De Rosnay weist nach, daß dieser Satz längst schon durch den folgenden hätte ersetzt werden müssen: «Die Bewertung der Tatsachen erfolgt durch Vergleich der Funktion eines Modells mit der Realität.» Weil analytisches Denken für die Wissenschaft wichtiger ist als vergleichendes, igelt sich Wissenschaft ein. Sie tendiert eher zu Enge und Starrheit als zu Weite und Beweglichkeit. Deshalb hal­ ten die meisten Wissenschaftler sogar noch in einer Zeit, in der uns Logistik und Kybernetik auf die größere Zweckmäßigkeit nicht-aristotelischer logischer Systeme und auf unkausale De­ duktionsmöglichkeiten hinweisen, stur an der aristotelischen Lo­ gik und dem rationalistischen Kausaldenken fest (siehe hierzu den Exkurs über die Logik am Ende des II. «Nada Brahma»-Kapitels). Es ist diese Starrheit, die dazu geführt hat, daß Wissenschaft­ ler zwar jene Erkenntnisse, die ihrer eigenen Art zu denken ent­ sprossen sind, innerhalb weniger Jahre - oft in wenigen Monaten akzeptieren, daß sie aber an Erkenntnissen, die ihre schulmäßigen Verfahrensweisen gefährden, etwa der Relativitätstheorie oder der Unschärferelation, noch ein halbes Jahrhundert, nachdem sie ge­ macht wurden, vorübergehen, als ginge sie das alles nichts an (siehe hierzu Kapitel VI). Besonders offensichtlich wird das Versagen wissenschaftlicher Arbeit in der Medizin. Kaum eine einzige bahnbrechende medizi­ nische Entdeckung in den letzten hundertfünfzig Jahren, die nicht von den beamteten Universitätsprofessoren als «unwissenschaft­ 258

lich» verketzert wurde - von Semmelweis (Einführung der Asep­ sis) über Robert Koch (der die moderne Bakteriologie gegen den nahezu geschlossenen Widerstand seiner Standesgenossen be­ gründete) und Werner Forssmann (der 192,9 die Herzkatheterisie­ rung erfand, an sich selbst erprobte und noch bis in die fünfziger Jahre hinein als «Scharlatan» diskriminiert wurde) bis zu Louis Pillemer (der das für das menschliche Immunsystem so wichtige Properdin entdeckt hat und 1954, nachdem er jahrelang von sei­ nen Kollegen verteufelt worden war, in seinem Labor Selbstmord beging; wenige Monate später - zu spät! - begann die «herr­ schende Wissenschaft» seine Forschungen zu akzeptieren). Es gibt eine Straße der Scham und der Schande, auf der die medi­ zinische Wissenschaft sich spreizt und sich bläht, als schritte sie auf einer Straße der Wahrheit. Und statt - nach den zahllosen Fäl­ len fälschlicher Diskriminierungen - endlich zu lernen, künftig vorsichtig zu sein, überhebt sie sich immer noch weiter - sogar über das seit Jahrhunderten Bewährte dessen, was sich aus Angst vor der Wissenschaft und ihrem überheblichen Ton selbst mit dem Ausdruck «Erfahrungsmedizin» disqualifizieren mußte (-als ob nicht jede Medizin - auch also die Schulmedizin - zuallererst Erfahrungsmedizin wäre!) Die Aggressivität des abendländisch-westlichen Denkens, das «Vereinfacherische» einer nur rationalen Auffassung biologi­ schen Geschehens spiegeln sich in den Behandlungsmethoden einer Schulmedizin, für die sich die positiven Begriffe «Helfen» und «Heilen» in wachsendem Maße auf die negativen Vorstellun­ gen von «Kämpfen» und «Krieg führen» gegen bestimmte Krank­ heiten, von «Ausrotten» und «Ausmerzen» bestimmter Krank­ heitserreger reduziert haben. Wir haben eine Medizin - oder sagen wir richtiger: eine Schulmedizin (denn es gibt ja auch andere me­ dizinische Möglichkeiten, denen sich die von der etablierten Me­ dizin im Stich gelassenen Menschen in wachsendem Maße zu­ wenden) -, die in diagnostischer Hinsicht zwar noch fortschreitet, aber in dem Bereich, auf den es ankommt, im Therapeutischen nämlich, mit den längst überholten Keulen eines derben, mate­ rialistisch-chemischen Positivismus um sich schlägt - jenes Posi­ tivismus, den Karl Popper schon vor fünfzig Jahren widerlegt hat; dabei stiftet sie oft mehr Schaden als Heil, ja einen wirklichen Heil-Begriff, wie ihn die großen schöpferischen Ärzte der Vergan­ genheit geschaffen haben - einen Begriff des Heilens, der mit «heil» und «ganz» und «heil-ig» zusammenhängt -, hat sie unter den Schutthalden ihres mechanistischen Denkens verschüttet. 259

Von hier leitet sich die Absurdität her, daß diejenige Wissen­ schaft, die es am meisten mit lebendigen, hochdifferenzierten Or­ ganismen zu tun hat - nämlich die Medizin -, ihren «Gegen­ stand», den Menschen, immer noch als eine «Maschine»-als eine einzige große chemische Fabrik - betrachtet, während die Physik, deren Erkenntnissen in der beginnenden Neuzeit sich die Erfin­ dung und Entwicklung von Maschinen verdankt, das mechanisti­ sche Denken in wachsendem Maße aufgibt und die Welt, sogar die scheinbar «tote», als jenes System sich ständig verändernder Or­ ganismen ansieht, das die herrschende Medizin beim Menschen als Basis einer ganzheitlich orientierten Behandlungsweise noch immer nicht akzeptieren will. Wir wissen aus Physik, Biologie und Kybernetik von der Bedeu­ tung finaler Prozesse, - was letztlich bedeutet: Wir wissen von der Steuerungsmöglichkeit der Vergangenheit durch die Zukunft. Trotzdem gibt es in der Schulmedizin noch nicht einmal Denkan­ sätze, in denen hieraus Konsequenzen gezogen werden. Und dies trotz der Tatsache, daß in der Evolution des Menschen Finalität besonders offensichtlich ist! Es ist soweit gekommen, daß das Wort «wissenschaftlich» nicht nur in der Medizin, dort freilich vor allem - nur noch das Selbst- und stillschweigende Ein-Verständnis derer designiert, die sich dieses Attribut zulegen - also nicht mehr ein Qualitäts-, son­ dern viel eher eine Art von «Vereinssignum» darstellt: diejenigen dürfen sich damit schmücken, die so denken wie die Kaste. Was «Vorurteil» ist: genauer könnte es nicht bezeichnet werden. Das Wort «wissenschaftlich» ist damit jenen Termini ähnlich gewor­ den, mit denen sich Medizinmänner im Busch über die in ihren Kreisen «zugelassenen» und «erklärbaren» Behandlungsmetho­ den verständigen. Feyerabend folgert mit Recht: Für die Untersuchungen, auf die es heute ankommt, ist niemand «besser geeignet als ein Außen­ stehender, das heißt ein kluger und lemwilliger Laie». Besonders verheerend hat das positivistische Denken der Wis­ senschaft in der Evolutionslehre gewirkt. Dabei hatte schon deren Begründer Charles Darwin 1859 gewarnt: «Sich vorzustellen, daß das Auge mit all seinen einzigartigen Vorrichtungen zur Akkomo­ dation, Adaptation, zur Korrektur der sphärischen und chromati­ schen Aberration durch «natürliche Auslese» entstanden sein könnte, scheint, wie ich frei gestehe, im höchsten Maße absurd.» Robert Kaspar, der diesen Auspruch zitiert, gibt ein einfaches Bei­ spiel: «Nehmen wir an, es soll ein Wirbeltierauge entstehen, und 260

betrachten wir es (vereinfacht) als aus fünf Teilstrukturen beste­ hend: Hornhaut, Linse, Iris, Glaskörper und Netzhaut. Jede ein­ zelne Struktur soll dabei durch Mutation entstehen, wobei die ge­ genwärtige Evolutionstheorie annimmt, daß sich Substrukturen unabhängig voneinander entwickeln. Nun wissen wir, daß eine Mutation etwa in jedem zehntausend­ sten (104) Reproduktionsschritt auftritt und daß höchstens jede hundertste (102) Mutation einen Erfolg bringt. Es sind daher im Durchschnitt eine Million (106) Mutationen erforderlich, um eine Struktur zu 'verbessern». Das gilt für ein Merkmal. Für zwei Merkmale wären schon eine Billion (106 x 106= 1012) Mutatio­ nen notwendig usw. Wenn wir nun die großzügige Annahme machen, daß für jede Teilstruktur des Auges nur eine einzige (positive) Mutation erforderlich ist, so benötigte die Evolution, um alle fünf Strukturen zusammen entstehen zu lassen, 106 x 106 x 106 x 106 x 106 = 1030 Versuche. Das wäre nur mög­ lich gewesen, wenn seit der Entstehung des Universums (vor etwa io17 Sekunden) etwa jede Sekunde 1013 Mutationen am Auge ge­ bastelt hätten. Man muß sich klarmachen, daß diese Absurdität nichts anderes als eine Konsequenz der in unseren Lehrbüchern dargestellten Evolutionstheorie ist.» Wir haben an früherer Stelle (gegen Ende des EL Kapitels von «Nada Brahma») ausgeführt, daß das logisch-analytische Denken und das Kausalgesetz, mit deren Hilfe Wissenschaftler zu derart absurden Ergebnissen kommen, zwangsläufig zu Fehlleistungen führen müssen. Bereits vor 50 Jahren nannte ein Schüler des gro­ ßen Physikers Emst Mach, M. H. Baege, das Kausalgesetz «einen Pharmazeutenstandpunkt, der nicht mehr aufrechtzuerhalten ist». Den «Begriff der Ursache» bezeichnete er als einen «letzten Überrest der animalisch-fetischistischen Denkweise des Ur­ menschen ... als «Gespensterglauben äußerster Verdünnung›». Daisetz Suzuki schlägt vor, endlich von der «Anti-Wissen­ schaftlichkeit» zur «Meta-Wissenschaftlichkeit» vorzudringen. Er schreibt: «Die wissenschaftliche Methode, die Wirklichkeit zu untersuchen, besteht darin, einen Gegenstand vom sogenannten objektiven Standpunkt aus zu betrachten. Nehmen wir beispiels­ weise an, eine Blume hier auf dem Tisch sei Gegenstand wissen­ schaftlicher Untersuchung. Die Wissenschaftler werden sie allen möglichen botanischen, chemischen und physikalischen Analy­ sen unterziehen und uns mitteilen, was sie von diesen verschiede­ nen Blickwinkeln aus über die Blume gefunden haben, und sie 261

werden sagen, daß die Untersuchung über die Blume abgeschlos­ sen und nichts weiter über sie zu sagen sei, wenn nicht zufällig im Verlauf anderer Untersuchungen etwas Neues entdeckt werde. Das Hauptmerkmal, das die Einstellung der Wissenschaft zur Wirklichkeit auszeichnet, besteht darin, daß sie einen Gegen­ stand beschreibt, über ihn spricht, um ihn herum geht... Aber es bleibt immer noch die Frage offen: «Ist wirklich der ganze Gegen­ stand im Netz gefangen?» Ich möchte sagen: «Keineswegs!» Denn der Gegenstand, den wir glauben, gefangen zu haben, ist bloß eine Summe von Abstraktionen und nicht der Gegenstand selbst... Die wissenschaftliche Methode besteht darin, den Gegenstand zu töten, den Leichnam zu sezieren, die Teile wieder zusammen­ zusetzen und so zu versuchen, den ursprünglichen lebendigen Leib wieder herzustellen, was in Wirklichkeit unmöglich ist...» Wissenschaft und Tabureaktionen müßten ein Widerspruch sein, denn zu Wissenschaft sollte Offenheit gehören. In Wirklich­ keit sind die verschiedenen zeitgenössischen Wissenschaften ge­ schlossene Systeme, deren Vertreter mit Argusaugen darüber wachen, daß nichts in sie eindringt, was sich aus Denk- und Erin­ nerungsprozessen herleitet, die ihren eigenen entgegengesetzt sind, ja im Bereich der Schulmedizin ist die Voreingenommenheit so groß, daß bereits die Tatsache, daß eine Therapie oder ein Medi­ kament in ihr fremden Denkprozessen entwickelt wurde, genügt, um Therapie oder Medikament abzulehnen; die unvoreingenom­ mene Prüfung der betreffenden Therapie oder des Medikamentes wird in solchen Fällen als überflüssig empfunden. Carl Friedrich von Weizsäcker weist darauf hin, daß es geradezu «zu den methodischen Grundsätzen der Wissenschaft» gehört, «daß man gewisse fundamentale Fragen nicht stellt». Um diese fundamentalen Fragen ausschalten zu können, hat die Wissen­ schaft gar keine andere Möglichkeit, als mit Tabu-Reaktionen zu arbeiten, die denen «primitiver» Gesellschaften ähneln. In der modernen Wissenschaftskritik findet sich immer wieder dieser Gedanke: Was für einen afrikanischen Negerstamm ein Totem ist, das ist für eine bestimmte Gruppe von Wissenschaftlern eine «gesicherte Theorie». Die Wissenschaftler tanzen drum herum wie um das Goldene Kalb. Beide, die afrikanischen Gesellschaften und die Wissenschaftler, haben die Verhältnisse ihres Lebensbe­ reiches so manipuliert, daß belegt werden kann - scheinbar be­ legt: Totem oder Theorie «stimmen». In Wirklichkeit ist die Theorie nicht «richtiger» als das Totem und ihrem Wesen nach «wissenschaftlich»! - auch nicht unterscheidbar von ihm. Beide 262

«wirken» genau so, wie von ihnen erwartet wird, und bestätigen sich dadurch so, wie ihre Schöpfer es wünschen. Ein Musterbeispiel hierfür bietet die Rolle, die der Zufall im Weltbild gewisser Evolutionspositivisten spielt. Wir wissen in­ zwischen, was gegen ihn - und für die Gerichtetheit der Evolution - spricht. Dutzende von Argumenten sind gesammelt worden. Vorhin war vom Beispiel des Auges die Rede - und der Unmöglich­ keit, daß es sich - wie doch die Evolutionslehre impliziert - durch Mutationen hätte entwickeln können. Ein weiteres Beispiel bie­ tet die Existenz des Enzyms Cytochrom c, ein aus 104 Aminosäu­ ren zusammengesetztes Kettenmolekül, ohne das Leben sich nicht hätte entwickeln können. Anknüpfend an Einsteins be­ rühmten Ausspruch «Ich werde nie glauben, daß Gott mit der Welt Würfel spielt», weist sogar Hoimar von Ditfurth - also selbst ein Mann des positivistischen Denkens - darauf hin, daß es im ganzen Weltall kaum mehr als die Hälfte an Atomen gibt, wie der Zufall an «Würfelmöglichkeiten» benötigt hätte, um Cyto­ chrom c «zufällig» herstellen zu können. Selbst dann, wenn in jeder Sekunde einmal «gewürfelt» worden wäre, hätte in der Zeit, die seit dem «Urknall» vergangen ist, überhaupt erst 1017 mal (dies das Alter des Universums in Sekunden) «gewürfelt» werden kön­ nen, und das ist auch nicht annähernd genug, um ein Kettenmole­ kül, für das es 10130 verschiedene Möglichkeiten gibt, durch Zu­ fall zu produzieren. Und trotzdem klammem sich weite Kreise der Wissenschaft auch weiterhin an den «lieben Gott Zufall» - mit einer Scheuklappen-Mentalität, die alle Charakteristika psychi­ scher Verkrampftheit besitzt. Längst schon ist offensichtlich geworden, daß der «Zufall» ein viel größerer Fetisch ist als - so glauben ja die Positivisten - der «liebe Gott» für diejenigen, die an Gott glauben: ein Fetisch wie das Totem, das der afrikanische Medizinmann hervorholt, um seinen Leuten gewisse Dinge «verständlich» zu machen. Voll solcher Totems und Fetische ist das ganze moderne Wissen­ schaftsdenken. Mal heißt der Fetisch «Zufall», mal heißt er «Ra­ tionalität», mal ist es die «Ursache», mal die «Wirkung», mal sind es «Zeit» und «Materie», mal ist es das «Experiment», mal das «Nachvollziehbare» und «Verstehbare» (wer versteht was?), mal ist es die «Zahl», mal sind es «Evolution» und «Mutation» und all die anderen Begriffe, die Wissenschaftler täglich in die Debatten werfen, als bewirke schon der Begriff eine Art «Zauber» - wie das den Zauber bewirkende Strohbündel im Negerkral oder die Götter und Geister des Medizinmannes. 263

Der fetischhafteste dieser Begriffe ist das Wort Wissenschaft selbst. Ich habe es Dutzende Male erlebt, daß - zum Beispiel Mediziner von irgendeiner Sache behaupten, sie sei «nicht wis­ senschaftlich», und, sobald diese Charakterisierung gefallen ist, als bewirke sie eine Art Zauber, glauben, sie hätten damit schon irgendeine sachliche Aussage gemacht. Es ist mir wichtig, gerade in diesen Zusammenhängen immer wieder Carl Friedrich von Weizsäcker zu zitieren: Die Wissenschaftler seien «nicht genü­ gend selbstkritisch», sagt er; man könne nicht behaupten, daß sie «sich ihrer Verantwortung bewußt geworden seien». Und Jakob von Uexküll: «Mit dem Wort ‹Wissenschaft› wird heutzutage ein lächerlicher Fetischismus getrieben...» Fetisch und Totem bewirken in der Welt, der sie entstammen auf den Inseln der Südsee etwa oder in afrikanischen Negerkrals «Wunder». Stellen wir ruhig einmal die Frage: Was macht die Wis­ senschaft mit dem Wunder? Und nehmen wir die Antwort voraus: Der Maßstab der Wissenschaft ist ein unwissenschaftlicher: die Gewöhnung. An gewisse Wunder hat man sich gewöhnt - ein Ge­ wöhnungsprozeß, der irgendwann in den Höhlen des Neanderta­ lers begann: Zeugung und Geburt neuen Lebens, der immerdar wiederkehrende Rhythmus der Jahreszeiten, Donner und Blitz, der gestirnte Himmel, Sonnen- und Mondfinsternisse ... (Men­ schen einfacherer Kulturen akzeptieren all dies auch heute noch als Wunder). An andere Wunder hat man sich nicht gewöhnt: an die Übertragung von Gedanken und Kräften, an bestimmte (mit dem Wissen der Schulmedizin nicht erklärbare) Heilphänomene, auch etwa an die Erfolge der philippinischen Logurgen, an gewisse mikrophysikalische Prozesse, die allem vorher Errechneten wi­ dersprechen, an Telekinese und Materialisation und Demateriali­ sation, an überprüfbare Fälle von Reinkarnation, an das fließende Sprechen niemals erlernter und nie zuvor gehörter Sprachen durch bestimmte Medien, an das Ein- und Ausschalten von Lam­ pen und anderen elektrischen Geräten durch parapsychologische Kräfte, an Kommunikation mit Verstorbenen, an das Vorausahnen von Erdbeben, Waldbränden und anderen Katastrophen und an zahlreiche wunderbare Ereignisse und Fähigkeiten, die aus allen Kulturen und Zeitaltern der Menschheit übereinstimmend be­ richtet werden und damals wie heute stattfanden und weiter statt­ finden werden. Auch viele der Phänomene, von denen in diesem Buch die Rede war - etwa die ständige Präsenz von Dur-Tonlei­ tern und Tritoni in der Mikrostruktur der Atome und Moleküle, die an der Entstehung des Lebens beteiligt sind -, können in die­ 264

sem Sinne als «Wunder» bezeichnet werden; sie übersteigen die Begriffe der Wissenschaft. Auf der breiten Skala all der verschie­ denen Möglichkeiten des Wunders, die mit den genannten Er­ scheinungen lediglich angedeutet werden konnte, gibt es nur graduelle Verschiedenheiten, so daß der Bereich dessen, was «einfacheren» Menschen und was uns als Wunder - will sagen: als unerklärlich - gilt, bruchlos ineinander übergeht. Viele dieser Wunder treten so selten auf, daß sie kaum je unter befriedigen­ den Umständen «wissenschaftlich» beobachtet werden können. Auch wird ihr Ablauf meist durch Beobachtung gestört - wie ge­ wisse Prozesse, für die die Heisenbergsche Unschärferelation gilt. Die Anthropologie und Psychologie kennt zahlreiche sol­ cher Prozesse. Auf jeden Fall ist deutlich: Was wir oft beobachten können, hört auf, Wunder zu sein - sei es so «wunder-bar», wie es wolle. Vor zehn- oder fünfzigtausend Jahren hörte der Sonnen­ aufgang auf, «wunder-bar» zu sein (ist er es aber nicht nach wie vor?), in unserer Generation wird wahrscheinlich das TritonusPhänomen in der Photosynthese aufhören, «wunder-bar» zu sein, wenn die Wissenschaft es erst einmal oft genug beobachtet und diese Beobachtung akzeptiert hat. Die Wissenschaft mißt also die Phänomene an ihren eigenen Gewöhnungszuständen. Ihr Verhältnis zum Wunder ist genauso vor-wissenschaftlich wie das der Leute im Negerkral - wobei noch Folgendes hinzukommt: Wissenschaftler schaffen es einfach nicht, Wunder als Wunder zu akzeptieren. Ihr «Weltbild» (auch dieses Wort ist ein Fetisch) läßt das nicht zu. Es widerspricht ihrem Hochmut und ihrem Selbst­ wertgefühl, auch ihrem Bildungsbewußtsein. Ihre Fähigkeit zu staunen und sich zu wundern ist verkümmert. Für die Bewohner des Negerkrals aber ist es kein Problem, im Wunder das Wunder zu sehen: sie tun das täglich. Was ihr Verhältnis zum Wunder be­ trifft, sind also Wissenschaftler und Negerkralbewohner phäno­ menologisch in etwa gleich einzustufen; wie gesagt, nur der Ge­ wöhnungszustand unterscheidet sie. Moralisch aber stehen die ersteren unter den letzteren, weil das Lebensgefühl der «einfa­ cheren» Menschen nicht durch Hochmut und Selbstbewußtsein getrübt ist. Und die moralische Kategorie ist wichtiger als die phänomenologische, denn die Wissenschaft könnte bleiben, wie sie ist - sie wäre ja wenigstens nützlich -, wenn sie nicht mora­ lisch immer wieder so völlig versagt hätte: Wissenschaftler sind es gewesen, die das Vernichtungspotential der Welt erfunden ha­ ben. Wissenschaftler sind es, die ständig bereit sind zu machen, was immer machbar ist - sei es auch noch so verderblich. Wis­ 265

senschaftler, in diesem Falle Ärzte; sind es, die immer wieder über ihre Standesorganisationen Entscheidungen, die im Inter­ esse der Bevölkerung notwendig wären, blockieren lassen, wenn sie dadurch mehr Geld verdienen, und die - nach verbindlicher Statistik - etwa bei Brustkrebs dreimal häufiger Totaloperatio­ nen durchführen, wenn sie dafür gesondert bezahlt werden, als wenn die Operationen in ihr Pauschalhonorar eingeschlossen sind. Wissenschaftler der Biogenetik und des bio-engineering versündigen sich an den Gesetzen des Lebens, obwohl die besten unter ihnen oft genug warnend erklärt haben, zu welchen Kata­ strophen das, was inzwischen weltweit betrieben wird, zwangs­ läufig führen muß. Wir sollten endlich begreifen: Die Wissenschaft akzeptiert, was in ihr Weltbild paßt - und dies allein. Wir haben eine Weltanschau­ ungswissenschaft, die in genau dem Sinne konditioniert wird, in dem auch das Wissen «einfacherer» Menschen - bleiben wir bei dem Beispiel der Bewohner eines Negerkrals - eine Kondition ih­ rer «Weltanschauung» ist [ein Wort, das für sie gleichbedeutend mit «Religion» ist - einer Religion, die in der Tat auf eine be­ stimmte Art und Weise, «die Welt anzuschauen», hinausläuft}. Erst kommt die Weltanschauung, dann die Wissenschaft. Was der herrschenden Weltanschauung nicht entspricht, hat keine Chance - oder allenfalls bei den wenigen freien und unabhängigen Geistern, die es natürlich auch gibt. Wo freilich die Wissen­ schaft und die Weltanschauung einander gegenseitig bestätigen, da wird adäquate und oft genug hervorragende Arbeit geleistet: eine Arbeit, der wir unseren Lebensstandard verdanken und die uns geholfen hat, immer wieder neu in Krisen, Seuchen, Gefahren zu überleben, - eine Arbeit also, für die wir dankbar sein sollten, aber doch eben nicht so dankbar, daß wir die Hypertrophie - und nur um sie geht es! - des rationalistisch-mechanistischen Den­ kens, zu dem diese Arbeit geführt hat - die Einseitigkeit und die Selbstüberhebung dieses Denkens -, nicht als das erkennen, was sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworden ist: eine Gefahr für unser Überleben. Längst hör' ich den Einwand: Aber Ihr Denken gefährdet uns doch. Brauchen wir nicht geheizte Stuben und Strom, Zivilisation und Komfort, Wohlstand und neue Medikamente und UngezieferVertilgungsmittel? Wohl wahr, wenn auch - ich denke an Pflanzen-«Schutz»-mittel - mit Einschränkungen. Aber angesichts dessen, was uns die Wissenschaft antut, ist zu sagen: Wir brau­ 266

chen Wissenschaftler, aber nicht anders, als wir Klempner und Straßenkehrer brauchen. Feyerabend: «Es wird immer Wissenschaftler geben, die lieber Wissenschaftler als Herren ihres Schicksals sind und sich gern der übelsten Sklaverei unterwerfen, wenn sie nur gut bezahlt werden und von Menschen umgeben sind, die ihre Bücher und Aufsätze lesen und preisen. Griechenland entwickelte sich und machte Fortschritte, weil es auf die Dienste unfreiwilliger Skla­ ven zurückgreifen konnte. Wir werden uns entwickeln und Fort­ schritte machen mit Hilfe der zahlreichen freiwilligen Skla­ ven in Universitäten und Laboratorien, die uns Pillen, Benzin, elektrischen Strom, Atombomben, tiefgefrorene Lebensmittel und gelegentlich ein paar interessante Märchen liefern. Wir wer­ den diese Sklaven gut behandeln, wir werden ihnen sogar zuhö­ ren, denn sie könnten etwas Interessantes zu sagen haben,- aber wir werden nicht gestatten, daß sie ihre Ideologie unseren Kin­ dern im Gewände ‹fortschrittlicher› Theorien auf oktroyieren. Wir werden ihnen nicht erlauben, die Fantasiegebilde der Wissenschaft zu lehren, als wären sie die einzigen Tatsachenaus­ sagen, die es gibt ...» Darin liegt «unsere einzige Chance zur Überwindung der hektischen Barbarei unseres wissenschaftlichtechnischen Zeitalters und zur Verwirklichung einer Mensch­ lichkeit, zu der wir fähig sind, die aber nie völlig ausgebildet wor­ den ist...» Verweilen wir ruhig noch einen Augenblick bei der moralischen Kategorie. Immer deutlicher nämlich ist in den letzten Jahren ge­ worden, daß Zynismus und Egoismus der Gesellschaft sich nicht etwa nur im Verhalten der Wissenschaftler abbilden, sondern durch die «Erkenntnisse» der Wissenschaft geradezu program­ miert werden - eine Entwicklung, die besonders offensichtlich in der Schulmedizin ist, wo Zynismus geradezu zum Berufsbild ge­ hört. Erich Jantsch, der bedeutende amerikanische (aus Wien stammende) Astrophysiker und OECD-Berater, berichtet mit Ab­ scheu von dem Enthusiasmus, mit dem sich führende Wissen­ schaftler an der Universität Berkeley eine Entdeckung des eng­ lischen Anthropologen Colin Turnbull zu eigen gemacht hatten: Turnbull hatte in einer abgelegenen Gebirgsregion von Uganda einen kleinen Stamm gefunden, der auf seine erzwungene Ver­ pflanzung - in einer «Situation des Hungers und der Verzweif­ lung» - mit der Reduktion aller menschlichen Beziehungen «auf krassesten Egoismus» reagiert hatte. Mütter verjagten ihre Kinder vom wärmenden Feuer, alte Leute wurden ausgesetzt, um der Ge­ 267

meinschaft nicht mehr zur Last zu fallen, Raub und Mord täglich praktiziert. Turnbull und andere Wissenschaftler der verschieden­ sten Provenienz feierten die Untaten des Stammes als «absolute Reduktion des Menschen auf seine -objektive» Überlebensfunk­ tion»» und eben dies als das wahre Ziel der Entwicklung der menschlichen Rasse. Perversion also wurde zum Vorbild. Jantsch resümiert: «Vom Abschaum zur Avantgarde der Evolution - da kann man schon ein bißchen stolz werden auf seine Untaten ... Die Parallele zwischen Wissenschaft, Raub und Mord blieb unwi­ dersprochen im Raum stehen... Statt Entsetzen sah ich glänzende Augen und offene Münder ...» und er begriff, daß «der im akade­ mischen Bereich grassierende Reduktionismus nicht nur eine ab­ strakte Denkschrumpfung, sondern ein auch in gesellschaftlicher Hinsicht gemeingefährliches Phänomen ist». Prägnant erklärt es Gottfried Benn: «Obschon die Wissenschaft als Ganzes Unfug ist, ist sie lehrreich.» Ich habe von «herrschender Wissenschaft» gesprochen - und das Wort «herrschend» in einem doppelten Sinn verwendet: als die jeweils herrschende Wissenschaft und als die Wissenschaft, die über uns alle herrscht - stärker als es Politiker, ja stärker noch als Diktatoren es tun. Ihr gilt meine Attacke. Es gibt aber auch die Idee der «dienenden Wissenschaft». Auf sie beziehe ich mich, sie meine ich, wenn ich Einstein und Heisenberg und Niels Bohr und all die anderen, von denen in diesem Buch die Rede war, zitiere. Denn sie besitzen jene Offenheit, welche Freiheit impliziert und die das Gegenteil des zeitgenössischen Wissenschaftsphänomens ist, das den besten seiner eigenen Vertreter als «objektiv verbre­ cherisch» und «ohne Verantwortung» (Weizsäcker), als «imperia­ listischer Angriff auf die Natur» und als «Rückschritt» (Erwin Chargaff - der Entdecker und Entschlüsseler des genetischen Codes) erscheint. Die Kritiker der Wissenschaft, die ich zitiert habe - vorzugs­ weise solche, die dem Wissenschaftsbetrieb selbst entstammen und in ihm glanzvoll gewirkt haben -, meinen nicht nur jene Wis­ senschaftler, die Atom- und Wasserstoff- und Neutronenbomben erfinden, die Gen-Manipulation betreiben und Giftgase mischen, die den Motor der Rüstungsspirale der Welt ankurbeln und die, wann immer die Atom- oder die chemische Industrie sie benötigt, im Aufträge derer, die sie bezahlen, bereit stehen, den Politikern und den Gerichten zu bescheinigen, daß alles, was da geschieht, garantiert ungefährlich sei. Sie meinen nicht nur das Töten durch Wissenschaft, sondern 268

das Denken der Wissenschaft: jenes Denken, das unterdrückt, manipuliert, beengt, beraubt, verarmt, reduziert, zynisch und ego­ istisch macht, das Wesentliche draußen läßt. Sie meinen, um noch einmal Gottfried Benn zu zitieren, das «gedanken- und ver­ antwortungslose Entpersönlichen der Welt». Und sie fürchten mit Winston Churchill: «Es könnte sein, daß es die Steinzeit ist, die auf den leuchtenden Schwingen der Wissenschaft zurückkehrt.»

Nachwort Wie ich zu Nada Brahma kam und wem ich Dank schulde

I. Mein Leben lang schreibe ich über Jazz. Ein Hörer der Rundfunk­ sendungen, die diesem Buch zugrunde lagen, schrieb: «Warum machen Sie so Sachen wie Nada Brahma? Bleiben Sie doch beim Jazz.» Aber eine Hörerin meinte: «Warum haben Sie so etwas nicht schon eher gemacht? Das ist jetzt Ihre Aufgabe, das ist wich­ tiger. » Die beiden Briefausschnitte kennzeichnen die Situation, in der ich mich finde, seit ich 1962 zum erstenmal nach Asien fuhr. (Ein alter Brahmane aus Bali sagte damals: «Du warst vorher schon hier. Ich weiß das genau.») Man könnte meinen, es sei die Situa­ tion eines Bruches - eines Schismas. Aber ich glaube, das war es nur am Anfang. Neun Jahre, nachdem ich zum erstenmal nach Asien gefahren war, begann ich - im April 1971 - zu meditieren. Im Mai dieses gleichen Jahres besuchte ich meinen ersten Medita­ tionskurs. Im Juni legte ich die Leitung der Berliner Jazztage nie­ der. Ich habe damals gesagt: aus gesundheitlichen Gründen - was ja nicht falsch war. Im Zusammenhang dieses Buches sollte ich aber doch sagen, warum ich wirklich aufgehört habe: Weil ich es als unmöglich empfand, im Mafia-Dschungel des Jazz-Business zu arbeiten und gleichzeitig Meditierender zu sein. Ich kannte Graf Dürckheim, den großen Meditationslehrer. Ich fuhr zu ihm nach Rütte in den Hochschwarzwald und fragte ihn, ob ich ganz mit dem Jazz aufhören solle. «Es ist viel wichtiger, daß es überall Leute gibt, die denken wie wir», sagte Dürckheim. «Ge­ rade auch im Rundfunk. Und im Jazz.» (Er wußte nicht, daß es sie dort ohnehin gibt.) Also: Ich begann, Meditationssendungen im Südwestfunk zu machen. Ich regte Yogasendungen an - statt der herkömmlichen Funk-Gymnastik. Mitte der siebziger Jahre 270

merkten auch meine Jazzleser, daß es - außer dem Jazz-noch etwas anderes gab, auf das es mir ankam. 1975 erschien - zunächst als Zeitschriftenartikel - «Der Jazz und die neue Religiosität», und als ein Jahr später mein Buch «Ein Fenster aus Jazz» herauskam, setzte ich, damit's wirklich jeder merkte, diesen Aufsatz, der ein spiritu­ eller war, als eine Art Programm an den Anfang. 1981 kam im S. Fischer Verlag «Mein Lesebuch» heraus. Monate­ lang hatte ich in meiner Bibliothek herumgestöbert, Beiträge aus­ wählend, die wichtig waren in meinem Leben. Sie enthielt dieser Band. Erst als ich sie ordnete, merkte ich, daß fast alle um zwei Themen kreisten: Das der Unterdrückung und das der Spirituali­ tät. Beides sind Jazzerfahrungen. Die Unterdrückung ist eine Jazzerfahrung von Anfang an. Von New Orleans, vom Blues, ja von Afrika her. Die Spiritualität ist eine Jazzerfahrung spätestens seit John Coltrane, also seit den sechziger Jahren. Aber die alten schwarzen geistlichen Gesänge können ja nicht aus Zufall «Spirituals» genannt worden sein. Auch das also war von Anfang an im Jazz angelegt. Coltrane hat es nur herausgebracht. In meinem «Lesebuch» gibt es nur zwei Jazzbeiträge, - und trotzdem schrieb der Kritiker des Jazzpodiums: «Dies ist ein Jazz­ buch.» Der hatte es begriffen. Immer mehr Menschen begriffen es. Gewiß, in «Nada Brahma» geht es nicht um Jazz. Aber Nada Brahma kann auch eine Jazzerfahrung sein. Wenn jemand denkt, dieser Satz stehe im Widerspruch zu seiner Jazz-Vorstellung, dann stimmt die Vorstellung nicht. Ich bin nicht der einzige, der den Weg vom Jazz her gegangen ist. John Coltrane hat begonnen, ihn zu gehen- jeder beginnt nur-, aber Alice, seine Frau, sagt: Wenn John nicht so früh gestorben wäre, dann wäre er ihn weitergegan­ gen. Inzwischen sind ihn Tausende von Musikern gegangen. Immer wieder, auf diesem ganzen Weg, hat mir die Musik gehol­ fen - und tut dies weiterhin. Sie ist der Weg. Deshalb - um ein Beispiel zu geben - habe ich meine Plattenreihe «Jazz Meets The World» gemacht - und all die Konzerte und Veranstaltungen, die damit Zusammenhängen, bis hin zu meiner Konzertproduktion «Jazz & World Music» 1982 im Lincoln Center in New York. Was da wirklich einander begegnete, waren der Jazz und - nenne ich's ruhig: Nada Brahma. Ich mußte das selber erfahren,- die Dinge selber zu tim, war für mich immer der beste Weg, sie zu erfahren. Erst dann fühlte ich mich wirklich befugt, über sie zu schreiben. Das betrifft auch, was an diesem Buch erlesen ist. Jemand sagte: «Mein Gott, was müssen Sie gelesen haben!» Mir ist das gar nicht 271

so sehr bewußt, denn das Lesen geschah immer nur nebenbei. Was aber nicht nebenbei geschah, war: das Leben auf Bali, das Meditie­ ren und Arbeiten in einem Zen-Kloster in Kyoto, zehn Jahre des Reisens in Asien, Monate des Lebens in Harlem und in einer Hip­ pie-Kommune in San Francisco, die Bekanntschaft mit vielen der Menschen, die in diesem Buch zitiert sind; selbst was ich über die «Musik« in der alten venezianischen Malerei schreibe, habe ich mir selber in den Kirchen und Museen Venedigs zusammenge­ sucht. Das Lesen war immer nur eine Art «Gegen-Prüfung». Go­ vinda: «Alles, was wir nur übernehmen, aber nicht unmittelbar erlebt haben, wird nicht zu einem Bestandteil unseres Lebens.»

II. Es waren nicht nur musikalische, sondern auch politische, gesell­ schaftliche, aufklärerische - kurz: antifaschistische - Gesichts­ punkte, die mich 1945 den Kampf für den Jazz beginnen ließen und mich ein Leben lang motiviert haben - Gesichtspunkte, die für meine Generation auch mit dem Erleben der nationalsoziali­ stischen Barbarei zu tun haben. Aber sie haben auch zu tun mit dem, was wir bei Karl Marx und später bei Adorno, bei Benjamin, bei Horkheimer, bei Herbert Marcuse und all den anderen gelernt haben. Das waren die Gedanken, die uns am ehesten geeignet schienen, eine Wiederkehr der faschistischen Unmenschlichkeit zu verhüten. Inzwischen dürfen wir nicht mehr so sicher sein. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich ohne Terror und ohne Um­ sturz, ohne Gewalt und Betrug, ohne «nationale Revolution» laut­ los, freiwillig und unmerklich einem neuen Faschismus entgegen bewegt. Was dazumal Himmler, seine SS-Schergen und GestapoSpitzel besorgt haben, in einem Prozeß, der die Welt erschütterte, besorgt heute besser und wirkungsvoller die «immanente Faschistoidität» unserer Psyche. Es wäre deshalb Selbstüberhebung, wenn irgend jemand noch sicher wäre, daß der Kampf, den wir vierzig Jahre lang geführt ha­ ben, richtig geführt wurde. Wahrscheinlicher ist im Gegenteil, daß unsere Prämissen nicht stimmten. Die Prämissen waren auf­ klärerische, neomarxistische, rationalistische, analysierende; sie haben wir hypertrophiert. Vielleicht waren die Prämissen nicht 272

falsch, vielleicht war nur ihre Hypertrophierung ein Fehler. Wer sie weiter betreibt - oder lassen Sie mich vorsichtiger sagen, wer diesen Prämissen immer noch ausschließlich anhängt (wie auch ich dies getan habe) -, der muß sich den Vorwurf der Naivität ge­ fallen lassen. Denn gerade der Exzeß des Rationalismus ist es ja gewesen, der unsere Welt dem politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, ökologischen Kollaps entgegengeführt hat. Vor diesem Kollaps stehen wir. Niemand weiß, ob er nicht morgen schon eintritt. Ich habe Wissenschaftler, Mediziner, Chemiker sagen hören: Der Mensch hat schon andere Krisen überstanden, wir werden auch diesmal mit heiler Haut davonkommen, und wenn uns wirk­ lich nichts mehr hilft, wird uns im letzten Moment die Biologie, die Natur mit einer neuen Mutation helfen. Man muß sich vor­ stellen, dies sagen Wissenschaftler, obwohl doch ihre ureigenste Wissenschaft, die Evolutionslehre, längst herausgefunden hat, daß allenfalls jede hundertste Mutation Erfolg bringt und daß im Schnitt eine Million Mutationen erforderlich sind, um eine Struk­ tur zu verbessern (siehe das Postskriptum über die Wissenschaft). Nein, meine Herren, so viel Zeit haben wir nicht mehr. Gerade wir, die wir ein Leben lang rationalistisch und aufkläre­ risch gedacht und gearbeitet und gekämpft haben - und die wir deshalb verständliche Schwierigkeiten hatten, umzudenken -, sollten den Mut haben zu erkennen: Nur noch die radikale Um­ kehr kann uns retten. Radikale Umkehr heißt: Nicht mehr in er­ ster Linie die Arbeit am anderen, an der Gesellschaft, sondern die Arbeit am eigenen Selbst. Niemand sage mir also, ich scherte aus, ich verriete die Wegge­ fährten, - und indem ich dies sage, denke ich an viele, denen ich mich verbunden fühle (einige von ihnen weilen nicht mehr unter den Lebenden): an Heinrich Strobel, den großen Vorkämpfer der «Neuen Musik», der mir zwanzig Jahre lang Vorbild war und der das rationale Kausal-Denken sogar in der Musik etablieren wollte - und für ein paar Jahre wohl auch etabliert hat; an Alfred Andersch, der - eher als irgendein Jazzmann - die politische Seite meiner Arbeit verstanden und kommentiert hat; an Jean Amery, der meine Warnungen vor der neuen Faschistoidität in Jazz und Rock schneller begriff als diejenigen, an die ich mich wandte; an Hans Paeschke, Gründer und Herausgeber des «Merkur», vorbild­ lichster aller Redaktionschefs, für die ich arbeiten durfte, der mich in den fünfziger Jahren zur Diskussion mit Adorno ermu­ tigte; an Ernest Borneman, der einen ähnlichen Weg gegangen ist 273

wie ich: vom Jazz her in alle nur möglichen Richtungen «ausufernd» und sich «verbreiternd»; oder - um einen jüngeren zu nennen - an Ekkehard Jost, der faszinierende «Materialien zur So­ ziologie der afrikanischen Musik» vorgelegt hat, Dutzende von Musikern befragend, aber so fixiert auf gesellschaftliche Pro­ bleme, daß er immer wieder vergaß, die Frage zu stellen, die die meisten dieser Musiker noch viel stärker bewegt, nämlich dieje­ nige nach der Spiritualität (die für viele von ihnen - etwa diejeni­ gen des Art Ensembles of Chicago - auch eine Frage nach dem Mythos ist). Ihnen mehr noch als meinen Lesern möchte ich sagen: Ich schere nicht aus. Ich tue, was ich mein Leben lang zu tun versucht habe: Ich erweitere die Basis und ich tue, was ich bei Hegel und Marx und Adorno gelernt habe: Ich denke dialektisch. Ich kann nicht verstehen, daß diejenigen, die ihr Leben lang von Dialektik geredet und geschrieben haben, vor dieser Dialektik versagen. Denn das tun sie doch, wenn sie uns «Eskapismus» vorwerfen. Ein Eskapist ist jemand, der die Augen schließt. Die eigentlichen Eskapisten sind heute diejenigen, die immer noch rationalistisch, analytisch, aufklärerisch glauben weitermachen zu können. Sie schließen die Augen vor der Katastrophe, zu der ihr rationalisti­ sches, analytisches, aufklärerisches, gesellschaftsorientiertes Wirken geführt hat.

III. Den Auftrag zu den Radio-Sendungen «Nada-Brahma», ohne die dieses Buch nicht entstanden wäre, hat mir der Kulturchef des Südwestfunk-Hörfunks Bernhard Rübenach gegeben. Es liegt mir am Herzen, seinen Namen zu nennen, denn er hat den Programm­ platz geschaffen - und in einem 15jährigen Kampf bewahrt -, an dem derartige Sendungen überhaupt möglich sind: Samstags abends in der «Soiree» von 20.20 bis 23 Uhr. Männer wie Rübenach sind dünn gesät in unserer Medienland­ schaft. Früher gab es sie überall, aber die Politiker und die von ihnen Beauftragten, die nun schon zwanzig Jahre lang an einem Rundfunksystem herumdoktern, das einmal als das beste der Welt galt und also kein «Doktern» nötig hatte, haben es ihnen so 274

schwer gemacht, daß nur noch Wenige übriggeblieben sind. Auch diese Wenigen sterben aus. Sie werden im Sinne derer, die das Sagen haben, «ersetzt» - also nicht mehr ersetzt werden. Ich danke deshalb Bernhard Rübenach. Gern würde ich noch anderen am Südwestfunk danken. Aber das Haus ist ein Moloch anonym - unpersönlich: ein «Betrieb», und die Soziologie (jeg­ licher Richtung) hat ja gezeigt: Betrieben ist man entfremdet. So danke ich denn einem Abstraktum: dem «Betrieb» Südwest­ funk, dem ich mich schon deshalb verbunden fühle, weil ich ihnnicht freilich als «Betrieb» und schon gar nicht als «Moloch» 1945 mitbegründet habe. (Moloch - das Lexikon gibt zwei Bedeu­ tungen: «Hebräisches Schimpfwort im Alten Testament. Bezeich­ nung für eine heidnische Gottheit, der Menschenopfer darge­ bracht werden, im übertragenen Sinn für alles, was Menschen ge­ fühllos verschlingt.» Aber auch: « . . . harmlose Echse aus der Fami­ lie der Agamen, stark mit Domen bewehrt... frißt Ameisen.») Mein Dank gilt aber auch allen anderen, die mir geholfen haben. Das sind zunächst die Menschen, die mich auf den Nada BrahmaWeg gebracht haben - zu viele, um sie hier einzeln nennen zu kön­ nen. Aber hervorheben muß ich Hans Kayser, den Begründer der Harmonikalen Wissenschaft, der mir 1946 in seiner Wohnung in Bern, in der man kaum treten konnte vor Manuskripten und Ta­ bellen und Graphiken, einen Stoß seiner Werke in die Hand ge­ drückt und mir damit auch im übertragenen Sinn einen «Stoß» gegeben hat, der mich bis heute bewegt. Sodann die großen Musi­ ker, die für mich wichtig waren auf diesem Weg - John Coltrane, Don Cherry, Ali Akbar Khan, den Gusti Kliang des Gamelan Or­ chesters in Bedulu auf Bali, Japans großen Koto-Maestro Shinichi Yuize, und meine Meditationslehrer Karlfried Graf Dürckheim und Pater Enomiya-Lassalle S J . . .

IV. Mit Absicht habe ich Hinweise auf Literatur und Quellen an den Schluß des Buches, Hinweise auf Schallplatten aber jeweils an den Schluß eines jeden Kapitels (sofern es sich auf Musik bezieht) ge­ setzt. Die Platten nämlich gehören zu den Kapiteln. Deshalb habe ich die Hinweise auf sie überschrieben: Musik zum Hören 275

Kapitels. Das heißt: Man «hört» das Kapitel noch einmal, wenn man die Platten - jedenfalls die wichtigsten von ihnen hört. Das Hören ist wichtig! Ich weiß, daß es in dem einen oder anderen Fall schwierig sein dürfte, die Platten zu beschaffen. Lokale Plattengeschäfte werden dies ohnehin nur in Ausnahmefällen tun können. Man wende sich an Spezial- und Importgeschäfte. Die Schnelligkeit und Beden­ kenlosigkeit, mit der die Plattenindustrie bedeutende Aufnah­ men aus ihren Katalogen tilgt und vom Markt verschwinden läßt, die Unbefangenheit, mit der sie, meist nur aus bürokratischen Gründen, Bestellnummern ändert, sind unverantwortlich. Mit Absicht gibt es deshalb im Text keine Hinweise auf Plattenfir­ men. dieses

V. Zum Schluß möchte ich noch etwas über die Seite sagen, mit der dieses Buch beginnt - über die Motti. Die Worte «Offene Weite - nichts von heilig!» stammen von Bodhidharma, der im späten fünften oder frühen sechsten Jahr­ hundert aus dem Süden seiner Heimat Indien nach China gepil­ gert war, um das chinesische Zen zu begründen. Der Weise - ver­ armt, zerlumpt, ausgemergelt nach Jahren des Betteins und Wan­ dems - wurde von Kaiser Wu in dessen Thronsaal empfangen. (Zwischenfrage: Warum empfangen Reagan, Kohl, Mitterrand, Gorbatschow nicht solche Leute?) Der Kaiser fragte: «Was ist der tiefste Sinn der heiligen Wahrheit?» Darauf antwortete Bodhid­ harma mit eben diesen fünf Worten: «Offene Weite - nichts von heilig!» Der Kaiser bat um Erläuterung. Der Weise weigerte sich. Wu verstand ihn nicht, und Bodhidharma, so wird berichtet, «zog über den Fluß nach Norden». Kaiser Wu aber dachte sein Leben lang über die Antwort des Wanderers nach und fand im hohen Al­ ter Erleuchtung. Offen und weit. Nicht heilig. Was das von Elias Canetti stammende Motto betrifft, so wird es freilich ergänzt durch ein weiteres Canetti-Wort: «Es hat immer etwas Anrüchiges, wenn man sich einem Glauben verschreibt, den sehr viele vor einem schon geteilt haben. Es liegt darin mehr Resignation, als sich in menschliche Worte fassen läßt. Der Glaube ist eine Fähigkeit des Menschen, die sich e r w e i t e r n 276

läßt, und j e d e r , der es vermag, s o l l t e z u d i e s e r E r w e i t e ­ r u n g e t w a s b e i t r a g e n . » Maria Hippius - die Partnerin und Mitarbeiterin Graf Dürckheims in beider Begegnungs- und Schu­ lungsstätte in Rütte im Hochschwarzwald - weist immer wieder darauf hin, daß «Religion etwas mit der schöpferischen Qualität des Menschen zu tun» hat. Dogmen und alles Dogmatische - will sagen: Religionen, die sich selbst festgeschrieben haben und kaum noch verändern - sind unschöpferisch. Sie bewegen sich nicht, - und vor allem: sie bewegen nicht oder kaum noch die schöpferische und spirituelle Kraft und Phantasie des einzelnen Menschen. Das letzte Motto schließlich stammt von Dschuang-tse, dem chinesischen Weisen und Philosophen, der in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts vor Christus gelebt und der taoistischen Lehre ihre sprachlich reichste und schönste Darstellung gegeben hat. Das ist ja die Aporie von «Nada Brahma»: «Da alle Dinge eins sind, ist kein Grund mehr zur Rede. Da ich jedoch eben gesagt habe, daß alle Dinge eins sind, wie kann da Rede nicht wichtig sein?» Varnhalt bei Baden-Baden, im Mai 1983 J. E. B.

Quellen • Literaturhinweise • Anmerkungen

Intro Bewußtwerdungsprozeß in dieser Generation: Nirgendwo finde ich die «Trans­ formation- des Menschen in unserer Generation - in allen Bereichen - umfas­ sender und systematischer dargestellt als in: Marilyn Ferguson: «Die Sanfte Ver­ schwörung» (Sphinx Verlag, Basel 1982) und in: Alfons Rosenberg: «Durchbruch zur Zukunft - Der Mensch im Wassermann-Zeitalter» (Turm-Verlag, Bietig­ heim). 2,3 Millionen Dollar: «Der Spiegel» 9/1983. 10 437000-1,4 Millionen biologischer Arten: «Global 2000» (Verlag 2001, Frank­ furt 1980I. Claudio Hoffmann: «Smog im Hirn» (Päd. Extra Buch Verlag, Bensheim 1980). 11 Moderne Wissenschaft: s. Postskriptum über die Wissenschaft S. 2 57 ff. Umstellung auf «first strike capacity»: «Der Spiegel» 10/1983. 11 Hans Magnus Enzensberger: «Die Zeit» Nr. 9/ 1983. 12 lean Charon. Physikerin Pasadena und Princeton: s. die Ausführungen im zwei­ 13 ten Teil des IV. und gegen Ende des VH. Kapitels (S.9off. und S. 158ft.). Ein Mensch von 60 kg Gewicht: s. Anm. zu S. 87 ff. (Charon). 199ff.). 14ff. Hören, Ohr: Das Thema wird hier nur angerissen. Näheres über die Überlegen­ heit des Ohres und das Verhältnis von Hören und Sehen s. den ganzen ersten Teil von Kapitel IX (S. 177ff.) und die Anmerkungen dazu. Genro: «Die hundert Zen-Koans der Eisernen Flöte» (Origo Verlag, Zürich 1973)19 Die Bedeutung des Wortes Koan wird später in diesem Buch deutlich - z.B. in «Nada Brahma» Kap.II, S. 28 ff. 9

Nada Brahma I. Kapitel 23

23 24 25 f.

Veden: Die ältesten Texte der indischen Überlieferung. Sanskrit-Titel: Veda. Das Wort Veda ist dem deutschen Wort «Wissen» verwandt. Deutsche Übersetzung: A. Hillebrandt: «Aus Brahmanas und Upanisaden» (Jena 1921). Martin Buber: «Ekstase und Bekenntnis» aus «Rationalität und Mystik», heraus­ gegeben von Hans Dieter Zimmermann (Insel Verlag, Frankfurt a. M. 198:). Lexikon: «Das Große Fischer-Lexikon» (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1976]. Upanischaden: Bestandteil der Veden, der Heiligen Bücher des Hinduismus, aber erst in nachchristlicher Zeit zu einer Sammlung von Texten vereint. SanskritTitel: Upanisads, wörtlich übersetzt (von upa-ni-sad): Sich-dazu-hinsetzen. Will sagen: Mit diesen Texten setz' dich hin und beschäftige dich damit. Deutsche Übersetzung: «Upanischaden», Auswahl und Einleitung A. Hillebrandt (Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf). Kleinere Auswahl: «Die Schönsten Upanischa­ den» (Rascher Verlag, Zürich/Stuttgart 1962).

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25

Lexikon: «Bertelsmann-Lexikon- (Gütersloh 1958]. Brahma über sich selbst: Heinrich Zimmer: «Maya - Der indische Mythos- (In­ sel-Bücherei, Frankfun a. M. 1978). bri (bzw. bra) bedeutet auch lobsingen, s. Kapitel «Lobsingend wachsen- in «Das Dritte Ohr- (Rowohlt, Reinbek 1985)

II. Kapitel 28 ff. Zen-Meister: «Aussprüche und Verse der Zen-Meister», gesammelt von Peter We­ ber-Schäfer (Insel-Bücherei Nr. 798, Frankfurt a. M. 1978). «Wenn du auslöschst Sinn und Ton -»: Else Madeion Hooykaas und Bert Schier­ beek: «Zazen» (Otto Wilhelm Barth Verlag, Weilheim/Obb. 1972). Wüßte ich also die Antwort: In der Tat gibt es eine Sammlung von Antworten auf 28 Zen-Koans. Sie ist interessant für das Studium des Zen, aber dem Meditierenden bringt sie etwa genausoviel wie eine abgeschriebene Hausaufgabe unserer Schulund Jugendzeit. Die Sammlung heißt: Yoel Hoffmann: «Der Ton der Einen Hand. Die erstmalige Veröffentlichung der überlieferten Antworten auf die Zen-Koans» (Otto Wilhelm Barth Verlag im Scherz Verlag, Bem/München/Wien 1978). Auf die Einleitung zu diesem Buch («Zen - Die Taktik der Leere - von Ben-Ami Scharf­ stein) beziehe ich mich mehrfach. tao: Über das tao heißt es im «Tao Te King- von Lao-tse: «Es allein beharrt und 29 wandelt sich nicht. Man darf es ansehen als der Welt Mutter. Ich kenne nicht seinen Namen. Bemüht, ihm einen Namen zu geben, nenne ich's groß. Des Men­ schen Richtmaß ist die Erde, der Erde Richtmaß der Himmel, des Himmels Richt­ maß das tao, des tao Richtmaß sein Selbst.» Für das chinesische Wort «tao», ur­ sprünglich «Der (königliche) Weg», werden die verschiedensten Übersetzungen vorgeschlagen - z.B. «Gott», «Vernunft», «Wort», «logos» etc. Richard Wilhelm schlägt «Sinn» vor. Lao-tse: «Tao Te King - Vom Sinn und Leben», eingeleitet und übersetzt von Richard Wilhelm (Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf/Köln T957I. Hakuin: s. Anm. zu S. 28 («Der Ton der Einen Hand»). Daisetz Suzuki, Erich Fromm, Richard de Martino: «Zen-Buddhismus und 30 Psychoanalyse» (Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt a. M. 1980). Nichts Böses. Nichts Gutes: Eine sehr viel eindringlichere Darstellung einer Koan-Erfahrung, die es, besser als ich das im folgenden tue, versteht, an das Unaus­ sprechliche heranzuführen (aber natürlich ebenfalls dort, wo sie es erreicht, schweigen muß), gibt Lies Groening in ihrem Buch «Die Lautlose Stimme der Einen Hand- (Econ Verlag, Düsseldorf 1983). Tibetanisches Totenbuch: s. Anm. zu S. 41. 33 Jesaja: Jesaja 60,1. «Scheiße und pisse...»: s. Anm. zu S. 28 («Der Ton der Einen Hand»), 34 Lao-tse: s. Anm. zu S. 29. 35 Genro: s. Anm. zu S. 19. Lies Groening: s. Anm. zu S. 30. 36 Psalmist: Psalm 91,4. 37 Lama Govinda: «Schöpferische Meditation und Multidimensionales Bewußt­ sein» (Aurum Verlag, Freiburgi.Br. 1977I. Aus diesem Werk stammen auch die weiteren Govinda-Zitate. Obertonsingen: Das Thema wird hier nur angerissen. Ausführliches über die alte 38 - und nun wieder ganz neue - Kunst des Obertongesanges in dem Kapitel «Ober­ töne öffnen die Tür» in Joachim E. Berendt: «Das Dritte Ohr - Vom Hören der Welt» (Rowohlt, Reinbek 1985].

280

38f. 39

Upanischaden: s. Anm. zu S. 25. «Gott Brahma sprach»: s. Anm. Heinrich Zimmer zu S. 25. Sarasvati: in «Sifat», Zeitschrift der Sufi-Bewegung, Jahrgang VIII/2, Sommer 1978, Oberwil, CH. 40 Govinda: s. Anm. zu S. 37. «Heil dem Juwel im Lotus»: «Das Tibetanische Totenbuch oder die Nach-Tod41 Erfahrungen auf der Bardo-Stufe», herausgegeben von W. Y. Evans-Wentz mit einer Einführung von C. G. Jung (Rascher Verlag, Zürich/ Stuttgart 1970). 41 f. Govinda: s. Anm. zu S. 37. 42ff. MU: s. das Kapitel «Zen und das Japan von heute» (S. 239ff.J. 42 f. Joshu, die Hofdame Kasuga: s. Anm. zu S. 28 («Der Ton der Einen Hand»). Wie alt ist Amida Buddha: s. Anm. zu S. 28 («Der Ton der Einen Hand»). 43 Wazifa, sowie die folgenden Ausführungen über Sufis, in: «Sifat», s. Anm. zu S. 39 44 sowie Heft VHI/t von «Sifat». Dort auch das Zitat von Vilayat Inayat Khan. 44f. Hazrat Inayat Khan: s. auch «Texte zum Nachdenken - Vom Glück der Harmo­ nie» (Herderbücherei, Freiburg i. Br. 1979), sowie den großen Text über Musik in Kapitel X (S. 2o6ff.). 46 f. Tantrische Liebeskunst: Arthur Avalon: «Tantra». A Translation from the Sans­ krit (London 19X3J, Ashley Thirleby: «Das Tantra der Liebe» (Ullstein, Frankfurt/ Berlin/Wien 1983), Julius Evola: «Metaphysik des Sexus» (Klett, Stuttgart 1962). Namu Amida Butsu: Daisetz T. Suzuki: «Amida - Der Buddha der Liebe» (Otto 47 Wilhelm Barth Verlag im Scherz Verlag, Bern/ München/Wien 1974). Nichiren Shoshu Buddhismus: «World Tribune, A Journal of Nichiren Shoshu Buddhism in America», Nov. 10,1980; March 17, 1980; Febr. 11,1980 (Santa Mo­ nica, Calif.]. Vilayat Inayat Khan: a. a. O. 48 «Es werde»: I.Mose 1,3. «Im Anfang war das Wort»: Ev. Johannes 1,1. Tibetanisches Totenbuch: s. Anm. zu S. 4t. 49 Christian Morgenstern: u.a. in «Auf vielen Wegen», Gedichte von Chr. Morgen­ 50 stern (Berlin 1897). Weitere Erwähnungen von «Ur-Ton», «Ur-Wort» usw. auch in Morgensterns Gedichtsammlung «Stufen». Upanischaden: s. Anm. zu S. 25. Sufi Hazrat Inayat Khan: «Music» (The International Headquarters of the Sufi Movement, Geneva 1959I. Deutsche Version: Joachim E. Berendt: «Mein Lese­ buch» (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1981); s. auch Anm. zu S. 271. Die Posaunen von Jericho... Ur-Klang: Fritz Stege (dem ich auch sonst für zahlrei­ che Anregungen und Zitate dankbar bin): «Musik - Magie - Mystik» (Otto Rei­ chel Verlag, Remagen 1961). Emmanuel Jungclaussen: «Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers», herausgegeben und eingeleitet von Emmanuel Jungclaussen (Herder Verlag, Frei­ burg/Basel/Wien 1981). 51f Jakob Böhme: zitiert nach: Hans Kayser: «Grundriß eines Systems der Harmonikalen Wertformen» (Max Niehans Verlag, Zürich/Leipzig 1938). Dort erinnert Kayser auch daran, daß F. Chr. Oetinger schon vor 200 Jahren darauf hingewiesen hat, daß Isaac Newton seine Gravitationstheorie nicht etwa «dem lächerlichen fallenden Apfel» verdankte, sondern Jakob Böhme! Dietrich Bonhoeffer: «Widerstand und Ergebung» (Christian Kaiser Verlag, Mün­ 52 chen). Paul Celan: «Atemwende» (Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1967). Rainer Maria Rilke: «Duineser Elegien» (Insel Taschenbuch, Frankfurt a.M. 1980). Zu den verschiedenen Rilke-Zitaten in «Nada Brahma»: s. auch: Leopold Spitzer: «Das Harmomkale in der Musikauffassung R. M. Rilkes» (Verlag Elisa­ beth Lafite, Wien). Heinrich Zimmer: s. Anm. zu S. 25 (Brahma). 53

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Johann Gottfried Herder: «Über den Ursprung der Sprache-, Nachwort Karl König (Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1965). Vilayat Inayat Khan: in «Sifat-, VIII/1, 1978 (s. Anm. zu S. 39 u. 44!. 54 lohn Blofeld: «Die Macht des Heiligen Lautes - Die geheime Tradition des Man­ 55 tra- (Otto Wilhelm Barth Verlag, Bern und München 1978). Govinda: s. Anm. zu S. 37. 56f. Suzuki: s. Anm. zu S. 30. Dschuangtse, zitiert nach: Tschuang-Tse: «Reden und Gleichnisse», deutsche 58 Auswahl von Martin Buber (Manesse Verlag, 1951). Erich Fromm: s. Anm. zu S. 30. «Aristotelitis»; nach: Bhagwan Shree Rajneesh: «Auf der Suche» (Sambuddha Ver­ lag, Wessobrunn 1981). C. f. v. Weizsäcker: «Die Einheit der Natur» (Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1974). Hakuin: s. Anm. zu S. 28 («Der Ton der Einen Hand»). 59 Govinda: s. Anm. zu S. 37. 60 C. P. v. Weizsäcker: s. Anm. zu S. 58. Dort findet sich zu unserem Thema der amü­ sante Dialog zwischen dem «Giganten» und dem «Ideenfreund». Der Gigant: «Gebt Ihr zu, daß die bisherige abendländische Logik kulturbedingt ist?» Der Ideenfreund: «Kulturbedingt, aber wahr.» Der Gigant: «Rund, aber viereckig...» Der Ideenfreund: «Kulturbedingt in dem Sinne, daß sie in dieser Kultur und Spra­ che leichter gefunden werden konnte als in anderen...» Der Gigant: «Ihr wollt im Ernst behaupten, daß die griechische Sprache besser befähigt, Wahrheiten zu er­ kennen, als andre Sprachen!» Der Ideenfreund: «Für diese spezielle Wahrheit wol­ len wir das im Ernst behaupten.» 60 ff. Japanisches Sprachdenken: nach: Prof. RyogJ Okochi: «Sprache ohne Subjekt. Europäische und japanische Denkstrukturen im Vergleich», gesendet in «Die Aula», Südwestfunk Baden-Baden, 18.1.1976. 63f. Frederic Vester: «Neuland des Denkens. Vom technokratischen zum kyberneti­ schen Zeitalter» (Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1980]. «Die Quantenmechanik ist...»: s. Anm. zu S. 135 ff. (F. Capra). 65

III. Kapitel 67

68

Fließende Übergänge zwischen mantrischem Klang und Wort: s. auch Kapitel XI S. 225 (Ägyptische Legenden und Hieroglyphen]. Wassily Kandinsky: «Über das Geistige in der Kunst» in: «Rationalität und My­ stik», herausgegeben von Hans Dieter Zimmermann (Insel Verlag, Frankfurt a. M. 1981). Jean Gebser: «Ursprung und Gegenwart» 1., 2. und 3.Teil (Deutscher Taschen­ buch Verlag, München 1973). Dieses Werk ist von entscheidender Bedeutung für die Kristallisation des Neuen Bewußtseins im deutschsprachigen Raum. Hauptquelle für dieses Kapitel: Arnold Wadler: «Der Turm von Babel - Urgemein­ schaft der Sprachen» (Fourier Verlag, Wiesbaden). l-e-g und r-e-g-h: Der Paläolinguist Richard Fester (dessen Werke ich noch nicht gekannt habe, als ich dieses Kapitel schrieb, hat gezeigt, daß beide Wurzeln auf die Ur-Wurzel KALL zurückgehen, die ursprünglich Weibliches bedeutete. Es ver­ steht sich, daß die Rückführung von Licht und Laut, Recht und rex, Anfang und Lüge, Hall und Schall auf Weibliches von großer Bedeutung ist. Die hierangerisse­ nen Gedanken werden weitergeführt und präzisiert in den Kapiteln «Das Hören ist weiblich» und «Warum die Frauen die höheren Stimmen haben» in meinem später entstandenen Buch «Das Dritte Ohr» (Rowohlt, Reinbek 198 5).

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69 69f

70 71f.

Sukie Colegrave: «Yin und Yang» (Otto Wilhelm Barth Verlag, Bern und München 1979). Schamanen: »Die Rückkehr des Imaginären», herausgegeben von Christian Thum und Herbert Röttgen. Hier: Gerhard Kunze: «Ihr baut die Windmühlen und wir holen den Wind» (Dianus-Trikont Buchverlag, München 1981). C. F. v. Weizsäcker: s. Anm. zu S. 58. Arnold Wadler: s. Anm. zu S. 67.

IV. Kapitel 74 74 ff. 75 75 f. 75 77 77f.

78/ 80 ff.

79 f.

Professor Dr. Kippenhahn: zitiert nach einem im persönlichen Schriftwechsel übersandten Vortragsauszug. Pulsare: s. Asimov, Anm. zu S. 75 f. Jeff Lichtman and Robert M. Sickels: «Amateur Radio Astronomer's Notebook» (Private Publ. Copr. 1975) (übers. J. E. B.). Isaac Asimov: «Die Schwarzen Löcher» (Kiepenheuer &. Witsch, Köln 1979). Thnguska-Region: s. Asimov, a. a. O. Johannes Kepler: «Gesammelte Werke» (Beck, München 1938). Die Obertonreihe entspricht bestimmten Verhältnissen in den Umlaufbahnen der Planeten: Die Beziehungen gehen zwar aus dem Werk Keplers hervor, aber exakt nachgewiesen hat sie erst Prof. Rudolf Haase in seinem Werk «Der meßbare Einklang» (s. die folgenden Anmerkungen|. Obertonreihe, Intervallproportionen, Hans Kayser: Den harmonikalen Ausfüh­ rungen in «Nada Brahma» liegen die Werke von Hans Kayser, dem eigentlichen Begründer der harmonikalen Wissenschaft, und von Rudolf Haase zugrunde. Es kam mir darauf an, die harmonikalen Befunde so einfach und übersichtlich wie möglich darzustellen. Gewisse Vereinfachungen waren dabei unvermeidlich. Ver­ zichtet werden mußte auf die zahlreichen «Theoreme», «Axiome» und Berech­ nungen, mit denen die Fachleute der harmonikalen Wissenschaft ihr Werk (verse­ hen mit einem detaillierten Aufwand an Tabellen und Graphiken] begleiten. Vor allem die folgenden Werke wurden verwendet: Hans Kayser: «Akróasis» (Benno Schwabe Verlag, Basel 1946], «Vom Klang der Welt» (Max Niehans Verlag, Zürich/Leipzig 1937], «Grundriß eines Systems der Harmonikalen Wertformen» (Max Niehans Verlag, Zürich/Leipzig 1938), «Ab­ handlungen zur Ektypik Harmonikaler Wertformen» (Max Niehans Verlag, Zü­ rich/Leipzig 1938]. Prof. Rudolf Haase hat in Wien das Hans-Kayser-Institut gegründet und Kaysers Werk kongenial weitergeführt. Literatur: Rudolf Haase: «Geschichte des harmo­ nikalen Pythagoreismus», Publikationen der Wiener Musikhochschule, Band 3 (Verlag Elisabeth Lafite, Wien 1969), Rudolf und Ursula Haase: Literatur zur har­ monikalen Grundlagenforschung I, II, III, IV, V (Lafite, Wien 1969-1983), Rudolf Haase: «Die harmonikalen Wurzeln der Musik» (Lafite, Wien 1969), Rudolf Haase: «Der meßbare Einklang, Grundzüge einer empirischen Weltharmonik» (Edition Alpha, Emst Klett Verlag, Stuttgart 1976), Rudolf Haase: «Über das dispo­ nierte Gehör», Fragmente Heft 4 (Verlag Döblinger, Wien/München 1977), Rudolf Haase: «Leitfaden einer harmonikalen Erkenntnislehre» (Ora, München 1970), Rudolf Haase: «Harmonikale Synthese» (Lafite, Wien r98o). Jedem, der tiefer in die in «Nada Brahma» angeschnittenen Zusammenhänge eindringen will, wird das Studium zumindest einiger der genannten Veröffent­ lichungen dringend empfohlen. Lambdoma: Hans Kayser: «Lehrbuch der Harmonik» (Zürich 1950), Rudolf Haase: «Das pythagoreische Lambdoma» und «Lambdoma, I Ging und Genetischer Code» (beide in: «Grenzgebiete der Wissenschaft», Resch-Verlag, Innsbruck).

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8of. Johannes Kepler: siehe Anm. zu S. 77. 81 f. Hans Kayser: siehe Anm. zu S. 78/8off. (Zitat aus «Vom Klang der Welt»]. 81 Francis Warrain: Tafel wiedergegeben von Rudolf Haase in «Der meßbare Ein­ klang» (s. Anm. zu S. 78/8off.). Thomas Michael Schmidt: «Musik und Kosmos als Schöpfungswunder» (Selbst­ 83 verlag, Frankfurt a. M. 1970I. Johannes Kepler: s. Anm. zu S. 77. 83f. Zitate (Blaesing, Morgenstern, Plotin, Keyserling) nach Thomas Michael Schmidt: s. Anm. oben (Schmidt]. 84f. Willie Ruff: «American Scientist» (Volume 6/No.3, May/June 1970). Planetenklänge: Weitere Informationen in dem Kapitel «Der hörbare und der un­ hörbare Klang» meines später entstandenen Buches «Das Dritte Ohr» (Rowohlt, Reinbek 1985). 87 ff. Wilfried Krüger: «Das Universum singt» (Editions trèvese. V., Trier 1983). Ich habe von Krügers Buch erst Kenntnis erhalten, nachdem das Manuskript von «Nada Brahma» beim Verlag abgeliefert war. Die Ausführungen über Krügers Entdeckun­ gen und Forschungen wurden nachträglich eingefügt. Für gewisse Vereinfachungen und Kürzungen, die dabei unvermeidlich waren, bitte ich um Entschuldigung. Interessenten seien auf das obengenannte Werk hingewiesen. Jean E. Charon: «Der Geist der Materie» (Ullstein Sachbuch, Frankfurt/Berlin/ Wien 1982). Govinda: s. Anm. zu S. 37. 88 89 Periodisches System der Elemente: Beispiele der Oktav-Verwandtschaf t bilden die Reihe der Edelgase Helium (2)-Neon (10)-Argon (i8)-danachdoppelter Oktavab­ stand zum Krypton (36) oder die Reihe Lithium (3) - Natrium (11 ] - Kalium (19). Oder: Bor (s) -- Aluminium (13 (etc.... (nach W. Krüger, s. Anm. zu S. 87ff.]. 89 f. Haase: «Der meßbare Einklang», s. Anm. zu S. 78/8off. L. Wolf: «Symmetrie, Harmonie und Bauplan in Mathematik und Naturwissen­ 89 schaft», in: «Beiträge zur christlichen Philosophie», Heft 3 (Mainz 1948] (nach Haase, a.a.O.). 90 Plancksches Wirkungsquantum: Die Physiker definieren es als eine im Raum lokalisierbare Energie, multipliziert mit ihrer in der Zeit abgrenzbaren Dauer: h = 6.6262 10-34 Js. Anregung Plancks durch Obertonreihe: nach Haase: «Der meßbare Einklang», s. Anm. zu S. 78/80ff. Schwarzes Loch: nach Charon, s. Anm. zu S. 87 ff. und Asimov, s. Anm. zu S. 75 f. 91 Elektron: seine unvorstellbare Kleinheit wird mit einem Radius von 2 • 10-13 cm angegeben. Elementarteilchen, die nicht zerfallen: Nur Protonen, Neutronen, Elektronen, 93 Neutrinos und Photonen sind stabile Teilchen. Ihre Lebensdauer reicht an die Dauer des Universums heran, es sei denn, sie fallen «Unfällen» zum Opfer - da­ durch zum Beispiel, daß sie mit sehr hoher Energie aufeinander prallen. Dann lösen sie sich in instabile Teilchen auf, deren Lebensdauer oft nur Bruchteile von Sekun­ den beträgt und aus denen wiederum stabile Teilchen entstehen können. Pauli-Prinzip.'nach F. Vester, s. Anm. zu S. 63 f. Oscar Ichazo: zitiert nach: Anand Margo: «Tantra - Der Weg der Ekstase» (Sannyas 94 Verlag, Meinhard-Schwebda 1982). «Es ist bisher noch nicht gelungen... »: zitiert nach Brockhaus Enzyklopädie, Stich­ 95 wort «Elektron» (Wiesbaden 1968). C. P. v. Weizsäcker: s. Anm. zu S. 58. Solié: zitiert nach J. Charon, s. Anm. zu S. 87ff. 96 Max Planck: zitiert nach «Sifat» XI/4 (Genf 1982). 97 97 f. Klänge von DNA, Erdmagnetismus, Sonnenwinden: Nähere Informationen s. Anm. zu S. 84f. (Planetenklänge).

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V. Kapitel Knurrhähne, Umbernfische ... etc.: nach Informationen des Instituts für Meeres­ kunde der Universität Kiel. Cetacea: nach Forschungen der Section Pacific Studies am Canterbury Museum, Christchurch, Neuseeland. 99f. Wale: Joan McIntyre: “Der Geist in den Wassern» (Verlag 2001, Frankfurt a. M. 1982!. 100 R. Haase: “Der meßbare Einklang», s. Anm. zu S. 78/80 ff. David Cahen, Dr. Gordon Kirkbright: «Listening to Life» (Dr. Bernhard Dixon in 101 Omni, 1980]. «Pflanzen sprechen ...»: zitiert - wie auch das Folgende - nach Peter Tompkins/ Christopher Bird: -Das geheime Leben der Pflanzen» (Fischer Taschenbuch, Frankfurt a. M. 1977]. 102ff. Christopher Bird/Peter Tompkins: s. Anm. zu S. 101. 104 Prof. Dr. Rudolf Haase: «Kosmos, Mensch, Musik» in «Grenzgebiete der Wissen­ schaft» (GWII/76, Resch-Verlag, Innsbruck]. I04f. Hans Kayser: s. Anm. zu S. 78/80ff. («Vom Klang der Welt»), «Harmonia Plantarum»: nach R. Haase: «Der meßbare Einklang» und «Über das 105 disponierte Gehör», s. Anm. zu S.78/8off., sowie H. Kayser: «Harmonia Plan­ tarum» (Basel 1943]. 105 f. «Goldener Schnitt..«Das Große Fischer Lexikon» (Fischer Taschenbuch Ver­ lag, Frankfurt a. M. 1976]. Über Abweichungen und Differenzen zwischen Goldenem Schnitt und harmoni­ kalen Gesetzen siehe die Ausführungen über «Abweichungen» auf S. 111 ff. und den Anhang («Der mißverstandene Goldene Schnitt») in: Rudolf Haase: «Der meßbare Einklang'’, s. Anm. zu S. 78/8off. Die Ausführungen über den Golde­ nen Schnitt habe ich differenziert im harmonikalen Kapitel meines Buches «Das Dritte Ohr» (Rowohlt, Reinbek 1985). «Harmonologia Musica» und T.M. Schmidt: zitiert nach Thomas Michael Schmidt: s. Anm. zu S. 83. Moderne Musiktherapie ...: «Neue Wege der Musiktherapie» (Econ Verlag, Düs­ 106 seldorf 1974). Agrippa von Nettesheim, Kepler, Novalis: zitiert nach T. M. Schmidt, s. Anm. zu S. 83. Hans Kayser: s. Anm. zu S. 78/80 ff. («Vom Klang der Welt»). 107 Indische, afrikanische Musik, China :nach R. Haase: «Der meßbare Einklang», s. Anm. zu S. 78 / 80ff. Auch der bedeutende Musikwissenschaftler und Kenner der asiatischen Musikkulturen A. Danielou hat auf die erstaunlichen Übereinstim­ mungen zwischen den Musikkulturen der Welt hingewiesen. 107 ff. Sexualität, Terzen, Sexten: Dem geheimnisvollen Zusammenhang zwischen Se­ xualität und Musik ist in meinem Buch «Das Dritte Ohr» (Rowohlt, Reinbek 1985! ein ganzes Kapitel gewidmet (•• Sex, Sexte, Terz und Fünf»). «als eine verborgene, verschlüsselte Notenschrift»: Marius Schneider: «Sin­ 110 gende Steine» und Dieter Rudloff: «Romanische Kreuzgänge und Singende Steine» in: «Die Kommenden», März 1982 (Kassel/Basel 1955]. 110f. Hans Kayser: s. Anm. zu S. 78/8off. Die Zitate stammen aus «Vom Klang der Welt». Aus diesem Werk stammt auch Kaysers Notierung der harmonikalen Struktur von Bergkristallen. 113f. «Zurechthörbereiche»: R. Haase: «Der meßbare Einklang», s. Anm. zu S. 78/ 80 ff. Theodor Lipps: «Das Wesen der musikalischen Konsonanz ...» in: «Psychologi­ 114 sche Studien» (Leipzig r905). George Leonard: «Der Rhythmus des Kosmos» (Scherz Verlag, Bern und Mün­ 115 chen 1980). 99

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VI. Kapitel 118 120

Lyall Watson: «Geheimes Wissen» (Fischer Taschenbuch, Frankfurt a. M. 1978). Hans Kayser: s. Anm. zu S. 78 /8off. (Zitat aus «Vom Klang der Welt»). Bernhard Riemann, Dobhs: nach: Marie-Louise von Franz: «Zeit - Strömen und Stille» (Insel Verlag, Frankfurt a. M. 1981). Sir Arthur Stanley Eddington: «Das Weltbild der Physik- (Jena 1931). 120f. P.D. Ouspensky: «Tertium Organum» (Otto Wilhelm Barth Verlag, Weilheim/ Obb. 1973). 122 Govinda: s. Anm. zu S. 37. 122 f. lean Gebser: s. Anm. zu S. 67. 123 Auf die Makrophysik durchschlagende Prozesse der Mikrowelt: Ein von den Wissenschaftlern gern gebrauchtes Beispiel für dieses «Durchschlagen» bildet im Grenzbereich zwischen Makro- und Mikrophysik - das «Spuken» in der mit Mikrochips vollgepfropften Bordelektronik moderner Flugzeuge, etwa des Kurz­ strecken-Jet Boeing 737-200. Eingeweihte sprechen von «Phantom-Erscheinun­ gen», auch von «Monotrons» und «gremlins». Die angeblich menschenfreund­ liche Elektronik - so zitiert der «Spiegel» einen Lufthansa-Kapitän - «ermittelt richtige Daten und zieht daraus Resultate, nach denen du dich nicht richten darfst, denn sie sind irreführend». Bereits 1980 hatten 232 deutsche Flugzeugfüh­ rer, darunter 221 Lufthansa-Angestellte, derartige «Phantom-Erlebnisse» beob­ achtet. Gewiß würde es in einem einzigen Chip mit seinen 64000 Speicherstel­ len erst nach 117 Jahren zu einem «Phantom» kommen, bei einem Paket von tausend Chips aber ereignet sich das «Phantom» alle sechs Wochen, und da mo­ derne Flugzeuge mit noch viel mehr als tausend Chips ausgerüstet sind, vergeht kaum ein Flug mehr ohne derartige «gremlins». Der Absturz einer LufthansaMaschine bei Nairobi und das Zerschellen einer DC-10 der Air New Zealand an einem eisbedeckten Berg der Antarktis werden auf sie zurückgeführt. Ein leiten­ der Mann der amerikanischen Luftfahrtbehörde kommentierte: «Die Aussicht, solche Schaltkreise zuverlässig zu prüfen, ist beinahe gleich Null.» Die Kapitäne selbst sagen: «Von den meisten von uns werden Phantom-Erlebnisse erst einmal weggeschoben und verdrängt» (laut «Spiegel» 8/1983). Ilya Prigogine hat hierfür ...: nach Hoimar v. Ditfurth: «Wir sind nicht nur von dieser Welt» (Hoffmann und Campe, Hamburg 1981I. von Heisenberg wissen wir...: zitiert nach George Leonard: s. Anm. zu S. 115. 124 lean Gebser: s. Anm. zu S. 67. Govinda: s. Anm. zu S. 37. Dogen: zitiert nach D. T. Suzuki, s. folgende Anm. 124 f. Daisetz T. Suzuki: «Der westliche und der östliche Weg» (Ullsteinbuch, Frank­ furt/Berlin/Wien 1974). 125 Einstein: zitiert nach Suzuki, s. vorsteh. Anm. Saichi: zitiert nach Daisetz T. Suzuki: s. vorsteh. Anm. Buddhismus ...: Zitat nach Erich Fromm: «Haben oder Sein» (Deutsche VerlagsAnstalt, Stuttgart 1976). Meister Eckehart: «Predigten und Traktate», herausgegeben von Josef Quint (München 195 5). lakob Böhme: nach: Julius Evola, s. Anm. zu S. 195. 126 Angelus Silesius: «Von Gottes und des Menschen Wesen» (Hyperion-Verlag, Frei­ burg i. Br.). Franz Kafka: «Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg» in: «Rationalität und Mystik», herausgegeben von Hans Dieter Zimmermann (Insel Verlag, Frankfurt a. M. 1981). Professor Gorbach: siehe Genro, Anm. zu S. 19. Daisetz T. Suzuki vergleicht in 127 seinem Büchlein «Der westliche und der östliche Weg» (Ullstein, Frankfurt/Ber­ lin/Wien 1974) den deutschen Mystiker Meister Eckehart und den Buddhismus

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und kommt dabei zu überraschenden Gemeinsamkeiten (vor deren Hintergrund die Unterschiede freilich um so aufschlußreicher werden). Kämpfer der französischen Revolution 1789: Das Ereignis wird von verschie­ 118 denen Autoren berichtet, zum Beispiel Walter Benjamin: Gesammelte Schrif­ ten, Band I (Frankfurt 1974), oder Uwe Schweikert: «Über die Sprache der Ver­ rücktheit» (Neue Rundschau, 93. Jahrgang, Heft 1, S. Fischer, Frankfurt a.M. 1982). Uhren im Mittelalter: Detailangaben nach: Anton Lübke: «Die Uhr» (VDI-Verlag, Düsseldorf 1958). Muezzin: Gebetsrufer des Islam, läßt im allgemeinen fünfmal täglich seinen Ruf 129 ertönen. das Fangnetz der Zeit über Europa ...: Der Schweizer Jazzkomponist Mathias Rüegg machte, als wir diese Stelle gemeinsam lasen, darauf aufmerksam, daß es gewiß nicht der Ironie, wohl auch nicht tieferer Bedeutung entbehre, daß gerade das Land, in dem die Herrschaft der Kirche am schnellsten und konsequentesten in die des Kapitals umgeschlagen ist, nämlich die Schweiz, generationenlang zum emsigsten Uhrenfabrikanten der Welt wurde. «Tausend Jahre sind ...und wie eine Nachtwache»: Psalm 90,4. Manfred Hausmann: «Hinter den Dingen» (Lometsch Verlag, Kassel). P. Shuttle/P. Redgrove: «Die weiße Wunde Menstruation» (S. Fischer/Goverts, 130 Frankfurt a. M. 1980). 131/ Tohus und Wohus: sie sind nicht mehr die «neuesten» Teilchen, seit im Januar und Juni 1983 im Kernforschungszentrum Cem bei Genf die W-Bosonen (oder 134 auch «Weakonen» (von engl, weak = schwach), und die Z-Teilchen (von zero = null) entdeckt wurden. |Siehe auch Anm. zu S. 15 9 über « materieabhängige Wech­ selwirkungen».) «Der Rhythmus des Kosmos» von George Leonard: s. Anm. zu S. 115. 132 Lao-tse: «Tao Te King» (Irisiana Verlag, Haldenwang 1972). 133 das riesige Empire State Building...: nach George Leonard: s. Anm. zu S. 113. Preßten wir einen Menschen zusammen: s. Anm. zu S. 75 f. 133 134f. Isaac Asimov: s. Anm. zu. S. 75 f. Atom harmonikal verstanden: s. R. Haase: «Der meßbare Einklang», Anm. zu 134 S.78/8off. 135 ff- Fritjof Capra: «Der kosmische Reigen - Physik und östliche Mystik - ein zeitge­ mäßes Weltbild» (Otto Wilhelm Barth Verlag, Bern/München/Wien 1977). 135 f. Niels Bohr: zitiert nach Fritjof Capra: s. vorsteh. Anm. Shikisokuseku: s. «Der Ton der Einen Hand», Anm. zu S. 28. 135 akasa: nach Govinda, s. Anm. zu S. 37. 136 Niels Bohrs dänisches Familienwappen: nach Fritjof Capra: s. Anm. zu S, 135 ff. Fritjof Capra: s. Anm. zu S. 13 s ffSir James Hopwood Jeans: zitiert nach Emil Heinz Schmitz: ■•Das Zeiträtsel-Die 137 erweiterte Gegenwart der Psyche» |Ariston Verlag, Genf 1979). Sir Arthur Stanley Eddington: s. Anm. zu S. 120. «getrennte Ereignisse voneinander unabhängig sind»: zitiert nach George Leo­ 138 nard, s. Anm. zu S. 115. Ilya Prigogine und Isabelle Stengers: «Dialog mit der Natur» (Piper, München 1981). Ch’an-sha Ching-ts’en: nach «Der Ton der Einen Hand», Anm. S. 28. Sätze der «Bootstraper»: zitiert nach Fritjof Capra, s. Anm. zu S. 13 5 ff. 139 Capra, F.: «Wendezeit» (Scherz Verlag, 1983). 141 Wolfgang Büchel: zitiert nach Emil Heinz Schmitz: s. Anm. Jeans, zu S. 137. 143 «Wenn du auslöschst Sinn und Ton...»: s. Anm. zu S. 28 ff. 144

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VII. Kapitel György Ligeti: Begleittext zur Platte Deutsche Grammophon DGG r37 003. 146 147 f- Richard Norton: »Musik als tonale Geste» in: Hans Werner Henze (Herausgeber): «Die Zeichen - Neue Aspekte der musikalischen Ästhetik II» (Fischer Taschen­ buch, Frankfurt a.M. 1981). Dane Rudhyar: -The Magic of Tone» (Shambhala, Boulder 1982). 147 148 R. Haase: s. Anm. zu S. 78/8off. («Der meßbare Einklang»). 148 f. Hans Kayser: s. Anm. zu S. 78/8off. («Vom Klang der Welt», darin auch das Zitat von Max Planck). 149 Wilfried Krüger: s. Anm. zu S. 87 ff. 149 ff. George Leonard: s. Anm. zu S. 115. 150f. Dr. William Condon: zitiert nach George Leonard, s. 0. Dr. Paul Beyers: zitiert nach George Leonard, s. 0. 151 Brian L. Partridge: zitiert nach «Der Spiegel», Nr. 30/82 (Juli 1982). 152 Gunther Hildebrandt: zitiert nach R. Haase «Der meßbare Einklang», s. Anm. zu 153 S. 78/8off. 153f.. R. Haase: s. Anm. zu S.78/8off. («Der meßbare Einklang»). 15 8 ff. Auch diese Ausführungen basieren - wie diejenigen im zweiten Teil des IV. Kapi­ tels S. 90ff. - auf Jean E. Charon, s. Anm. zu S. 87 ff. Vier materieabhängige Wechselwirkungen: Seit durch die Entdeckung der W- und 159 Z-Teilchen im Januar und Juni 1983 im Kernforschungszentrum Cem bei Genf «die elektromagnetische Kraft und die schwache Kraft nur als zwei verschiedene Aspekte einer Grundkraft» erscheinen, «haben wir von jetzt ab nicht mehr vier Kräfte in der Natur, sondern nur noch drei» (Cern-Direktor Herwig Franz Schopper, «Spiegel» Nr. 24/1983). 161 Elektronen - unvorstellbar klein: s. Anm. zu S. 92. 163 Schwarzes Loch als «Embryo» eines neuen Universums: nach Asimov, s. Anm. zu S. 75 f165 Upanischaden: zitiert nach Anand Margo, s. Anm. zu S. 94.

VII. Kapitel 168

Gruppen-Sound: Auffällig, daß - parallel zur Entdeckung des Gruppen-Sound in der Rock-Musik - nun auch in der «Klassischen» Musik gelegentlich «Grup­ pen-Sound« eine Rolle spielt - in den historisierenden «Consorts», den Produk­ tionen Harnoncourts etc. -, eine Entwicklung die sich immer mehr ausweitet und die den aufgezeigten Befund nicht widerlegt, sondern ergänzt und - als un­ serer Zeit entsprechend - bestätigt. Sogar in ihren Kompositionen werden ein­ zelne Komponisten der modernen Konzertmusik nun plötzlich in einem Maße soundbewußt, wie man es bisher nur aus dem Jazz kannte. In einem Interview sagte Wolfgang Rihm, der 1952 geborene Karlsruher Komponist, der so überra­ schend schnell in die erste Reihe zeitgenössischer Komponisten gelangte: «Ich habe eine Utopie - daß ich den Klang anfassen kann, daß ich, während ich komponiere, der Klang fast selber bin ein Ausspruch also, der exakt dem Sound-Bewußtsein der Jazzmusiker und der Rock-Gruppen entspricht («Die Zeit», ro.Dez. 1982). 169ff. Arnold Wadler: s. Anm. zu S. 67. 170 ... daß beide Sprachreihen zusammengehören: exakt dies hat Richard Fester-der Begründer der Paläolinguistik - nachgewiesen; s. Anm. zu S. 68, bes. das dort er­ wähnte Kapitel «Das Hören ist weiblich». Shoichi Yui: unveröffentlichte Schallplatten-liner notes. 171

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Rudolf Steiner: «Das Wesen des Musikalischen- (Steiner Verlag, Domach/ Schweiz 1981). Perry Robinson: im Interview anläßlich des New Jazz Meetings Baden-Baden, Südwestfunk November 1978. Karlfried Graf Dürckheim: «Hara - Die Erdmitte des Menschen- |Otto Wilhelm Barth Verlag, Weilheim/Obb. 1970). schwingen nicht nur Brust und Magen...: Besonders hervorgehoben wird die Wir­ kung des OM-Sagens und -Singens auf Zirbeldrüse und Hypophyse, die ihrerseits die Vibrationen an das innersekretorische Drüsensystem - und damit auch auf diesem Wege an den gesamten Organismus - weitergeben (und im Drüsensystem Ordnung und bessere Funktion schaffen). Arnold Wadler: s. Anm. zu S. 67. OM und Amen: In den Rundfunksendungen, die diesem Buch vorausgingen, habe ich ein OM, von tibetischen Mönchen mehrstimmig gesungen, in einem graduel­ len Prozeß in das berühmteste «Amen» der Christenheit, dasjenige aus Handels «Messias», in Form einer Band-Montage elektronisch überführt. Der «Weg», von dem hier die Rede ist, wurde dabei völlig unintellektuell, in eindrücklicher Emo­ tionalität deutlich. Es war, als folge man diesem über die Jahrtausende hinweg begangenen «Wege» in der gerafften Zeit, die für eine derartige elektronische Mon­ tage zwangsläufig nur zur Verfügung stehen kann. Die Entwicklung vom OM zum Amen ist dann nicht mehr nur eine interessante «Info» für Intellektuelle, der Weg wird, soweit dies überhaupt für westliche Menschen möglich ist, nachvollzogen, miterlebt und mit-erfahren. Es ist, als ob die Gene - Jean Charons Elektronen - auf diese Weise noch einmal an den «Weg» erinnert würden, den sie selber gegangen sind. Nur so läßt sich die starke emotionelle Wirkung dieser Montage, von der zahlreiche Hörer dem Südwestfunk geschrieben haben, erklären. Ein Hörer schrieb: «Ich mußte so weinen, daß ich lange nicht mehr zuhören konnte. Ich hoffe, ich habe nichts verpaßt.» (Er hat nicht, denn die persönliche Erfahrung ist wichtiger als alle verstandesmäßige Information.) Die Wandlung des OM zum Amen ist auch auf der in der «Intro» (V.) erwähnten Wergo-Doppelkassette enthal­ ten. « Wenn du auslöschst Sinn und Ton -»: s. Anm. zu S. 28 ff. Silvia Ostertag ist Schülerin von Graf Dürckheim (s. Anm. zu S. 172). Für die Dauer eines Kurses bin ich selbst einmal ihr Schüler gewesen. Ihr Buch heißt: «Eins-Werden mit sich selbst - Ein Weg der Erfahrung durch meditative Übung» (Kösel Verlag, München 1981). Das Zitat von Frau Ostertag gewinnt dadurch be­ sonderes Gewicht, daß die Autorin selbst nicht nur Psychologin, sondern auch Musikerin ist.

IX. Kapitel 177

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Tempel im Ohr: Wie bereits in der «Intro» angedeutet, bildet dieses Kapitel das «Sprungbrett» zu meinem darauffolgenden Buch «Das Dritte Ohr- (Rowohlt, Reinbek 1985). Hier sind fast alle Themen, die ich in «Tempel im Ohr» ange­ schnitten habe, ausführlicher dargestellt, präzisiert und belegt - etwa die Diffe­ renzierung von Auge und Ohr, die Unabhängigkeit des Ohres gegenüber der Dimensionalität der Welt, die Aggressivität des Auges, die Feminität des Ohres, die Probleme von Radio und TV etc. George Leonard: s. Anm. zu S. 115. Hans Kayser: s. Anm. zu S. 78/8off. («Vom Klang der Welt»). Jacques Lusseyran: «Das wiedergefundene Licht- (Siebenstern-Taschenbuch, Hamburg 1972). Die Zitate von Lusseyran gewinnen um so mehr Gewicht, wenn

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man erfährt, daß sie persönlich erfahren sind. Der Autor, in Frankreich geboren, erblindete mit sieben Jahren, war gleichwohl aktiv verwickelt in die resistance des 2. Weltkrieges und inhaftiert in einem deutschen Konzentrationslager. Er ist heute Universitätsprofessor in den USA. Sprachbild für Vages im Bereich des Akustischen: Gegenüber dem -Schein- des Optischen suggerieren Worte, die aus dem akustischen Bereich kommen, deutli­ che Bezüge: »gehorchen», «gehören», erhören». Nach allem, was in die­ sem Buch - und vor allem in diesem Kapitel - über die «Dimension des Ohres» gesagt wird, ist klar, wem da gehorcht und gehört werden soll - dem nämlich, worauf alles Zu-Hörende hinausläuft: dem Kosmischen, Göttlichen, dem UrKlang - letztlich dem Nada Brahma. Doch machen gerade die genannten Zeitworte deutlich: Auch das Ohr kann miß­ braucht werden - zur Unterwerfung, was im neutestamentlichen Griechisch, wörtlich übersetzt, «Unter-Hörung» bedeutet und bei Paulus vorkommt, kenn­ zeichnenderweise aber nicht in den Evangelien. Für Paulus - den sexuell ver­ klemmten Eiferer, der 84 % seiner Mahnworte an die Sklaven richtet (nur r6 % an die Herren, und natürlich merklich höflicher, kaum je fordernd, gewiß nicht - wie von den Sklaven - «Furcht und Zittern» verlangend)... für Paulus sind die Worte gehorchen und Gehorsam (hypakouein, hypotasesthai, hypakoe, hypotage) Lieb­ lingsworte. In seinen Briefen kommen sie 49 (!) mal vor, während in allen Evange­ lien zusammengenommen «gehorchen» nur 8 mal und «Gehorsam» überhaupt nicht vorkommt. Das i-Tüpfelchen liegt freilich darin: Paulus gebraucht kaum das Wort «Ohr»! «Nicht das Hören, sondern der Gehorsam interessiert ihn» (nach Anton Mayer: «Der zensierte Jesus», Walter-Verlag 1983). Menschen wie Paulus sind an dem interessiert, was Jean Gebser die «Defizienz» des Ohres nennen würde: das «Unter-hören», die Unterwerfung. Hier liegt - Paulus ist da nur ein Beispiel unter vielen - die Gefahr des Ohres. «Die im Fernsehen machen doch das auch so»: ein de facto gefallener Ausspruch 180 eines 12jährigen Jungen, der einen 13 jährigen Spielkameraden erhängt hatte (Badi­ sche Neueste Nachrichten, Karlsruhe, vom 1$. Januar 1983). 181 Botho Strauß: «Paare, Passanten»(Hanser Verlag, München/Wien 198t). 183 Stefan Zweig: «Die Monotonisierung der Welt» (Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1976). Bhagwan ...: nach: Bhagwan Shree Rajneesh: s. Anm. zu S. 58. 184 185 Robert May: «Sex and Fantasy, Patterns of Male and Female Development» (Wideview Books, 198t). Anneliese Komer: «Sex Differences in Newborn with Special Reference to Diffe­ rences in the Organization of Oral Behavior», in: «Journal of Child Psychology and Psychiatry» 14,1973. Zum gleichen Sachverhalt: Jerome Kagan und Michael Lew­ is: «Studies of Attention in the Human Infant» (Merrill-Palmer Quarterly 11, 1965). 186 Camilla Persson Benbow und Julian C. Stanley: zitiert nach «Typisch Mann typisch Frau» von Jo Durden-Smith und Diane De Simone (Das Beste, Januar 1983). Lusseyran: s. Anm. zu S. 179. 188 Wilfried Fischer: «Kinder im Reizfeld technischer Medien - Fernsehen bedroht 189 die Wahrnehmungsfähigkeit» (Neue Musikzeitung, Regensburg, Okt./Nov. 1982). «Fähigkeit zur akustischen Analyse vernachlässigt...»: Der Tatbestand spiegelt sich auf ironische Weise im physiologischen Bereich. Nach der jährlichen Stati­ stik der deutschen Krankenkassen nehmen Ohrenkrankheiten rapide zu, während andererseits Augenkrankheiten abnehmen und- vor allem - immer besser geheilt werden können. Gegenbewegung: s. auch hierzu die wichtigen Bücher von Mari­ lyn Ferguson und Alfons Rosenberg, s. Anm. zu S. 9. 190 Louise Goepfert-March: s. «Das Tibetanische Totenbuch»: Anm. zu S. 41. Martin Buber: «Ekstase und Bekenntnis»: s. Anm. zu S. 23. 190 f. Lotussitz: Die Annäherung über den «Schneidersitz» ist erlaubt. Unter den vielen

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Beschreibungen des Lotussitzes ist die von Kosho Uchiyama Roshi, dem Abt des Zen-Klosters Antai-ji bei Kyoto, die adäquateste: “Setzt euch auf ein Sitzkissen oder eine zusammengerollte Decke, legt eine etwas größere Unterlage - zum Bei­ spiel eine weitere Decke - darunter und kreuzt die Beine: Der rechte Fuß ruht auf dem linken Schenkel und umgekehrt. Dies nennt man die volle Lotus-Stellung. Wenn ihr die Beine nicht in dieser Weise kreuzen könnt, so legt nur den linken Fuß auf den rechten Schenkel. Dies ist die halbe Lotus-Stellung. Setzt euch nicht mit­ ten auf das Sitzkissen oder die zusammengerollte Decke. Benutzt nur seinen Rand. Eure Knie sollen fest auf der Unterlage liegen. Das Gewicht des Körpers ruht auf drei Stellen: auf eurem Gesäß am Rand des Sitzkissens und rechts und links auf den Seiten der aufliegenden Knie. Setzt euch gerade und streckt den Rücken, als wolltet ihr das Gesäß tief in das Sitzkissen stoßen. Haltet euren Nackengerade und nehmt das Kinn zurück! Stoßt euren Kopf nach oben, als wolltet ihr die Zim­ merdecke eindrücken. Die Daumen begegnen einander oberhalb der nach oben offenen, vor dem Bauch liegenden Hände, die Unterseite der linken, der passiven Hand, die Innenseite der rechten, der aktiven Hand, abdeckend. Sobald ihr diese Stellung eingenommen habt, öffnet den Mund und atmet tief aus. Dadurch ändert ihr eure ganze Stimmung. Um die Steife in den Gelenken und Muskeln loszuwer­ den, wiegt euch langsam zwei- oder dreimal nach rechts und nach links, erst dann nehmt eure unbewegte Stellung ein. Von nun an bewegt euch nicht mehr. Auch wenn es euch juckt, kratzt euch nicht. Beachtet den Juckreiz nicht. Er verschwin­ det dann von allein. Atmet ruhig durch die Nase. Der Atem geht in den Unterleib ... Diese Haltung kann als eine einzigartige Entdeckung des Ostens bezeichnet werden, da sie die wirkungsvollste ist, um unsere persönlichen, menschlichen Gedanken aus uns zu entfernen. Man versteht dies sofort, wenn man diese Hal­ tung mit Rodins Skulptur