Menschliches Denken: Eine systematische Studie am Boden der Kantischen Philosophie 9783110802764, 3110142708, 9783110142709

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Menschliches Denken: Eine systematische Studie am Boden der Kantischen Philosophie
 9783110802764, 3110142708, 9783110142709

Table of contents :
1 Einleitende Bemerkung
2 Problemhorizont
2.1 Skizze der Kantischen Philosophie
3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie
3.1 ‚Bloße Materie‘ oder: Der Begriff des Dinges an sich bezogen auf die bloße, von allem Verstand isolierte, reine Sinnlichkeit
3.2 Der ‚transzendentale Gegenstand=X‘ oder: Der Begriff des Dinges an sich bezogen auf den von aller Sinnlichkeit isolierten, reinen Verstand
3.3 Das ‚Noumenon‘ oder: Der Begriff des Dinges an sich als Grenzbegriff, bezogen auf die durch reine Sinnlichkeit und reinen Verstand konstituierte Sphäre empirischer Realität
3.4 Das Noumenon ‚in der Idee‘ oder: Der Begriff des Dinges an sich als Grenz- und Formbegriff, bezogen auf den regulativen Gebrauch spekulativer Vernunft (Der ‚transzendentale Gegenstand‘ als ‚Schema der Idee‘)
3.5 Das Noumenon als Subjekt oder: Der Begriff des Dinges an sich bezogen auf den reinen praktischen Vernunftgebrauch (‚Praktische Erkenntnis‘)
3.6 Übersicht (‚Schema‘) der verschiedenen systematisch zusammenhängenden Bedeutungsaspekte des Begriffs des Dinges an sich
4 Exkurs: ‚Transzendental-Philosophie‘ und das ‚Faktum der reinen Vernunft‘
4.1 Zur Frage einer möglichen intellektuellen Anschauung
5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs (Die Rationalität der praktischen Vernunft)
5.1 Nochmals zur Unterscheidung von theoretischem und praktischem Vernunftgebrauch (Die potentielle Einzigartigkeit jedes Menschen)
5.2 Die Form bloßer Allgemeingültigkeit (Das Naturgesetz als ,Typus‘ des Moralgesetzes)
6 Nach-Bemerkung
Literatur
Register
A. Stellen
B. Personen
C Sachen

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Gernot Reibenschuh Menschliches Denken

Iwl DE

G

Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Gerhard Funke, Manfred Baum und Thomas M. Seebohm

129

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1997

Gernot Reibenschuh

Menschliches Denken Eine systematische Studie am Boden der Kantischen Philosophie

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1997

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Reibenschuh, Gernot: Menschliches Denken : eine systematische Studie am Boden der Kantischen Philosophie / Gernot Reibenschuh. — Berlin ; New York: de Gruyter, 1997 (Kantstudien : Ergänzungshefte ; 129) ISBN 3-11-014270-8 Gewebe

© Copyright 1997 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

„Wenn es irgendeine Wissenschaß giebt, die der Mensch wirklich bedarf, so ist es die, welche ich lehre, di e Stelle geziemend zu erfüllen, welche dem Menschen in der Schöpfung angewiesen ist, und aus der er lernen kann, was man seyn muss, um ein Mensch zu seyn. Gesetzt er hätte über sich oder unter sich zu täuschende Anlockungen kennen gelernt, die ihn unvermerkt aus seiner eigentümlichen Stelle gebracht haben, so wird ihn diese Unterweisung wiederum zum Stande des Menschen zurück fuhren, und er mag sich alsdann auch noch so klein oder mangelhaft finden, so wird er dochför seinen angewiesenen Posten recht gut seyn, weil er gerade das ist, was er seyn soll." Itnmanuel Kant

„ Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen." Albert Camus

Nachweis der umseitig zitierten Texte: Immanuel Kant, Fragmente; in: Immanuel Kant's Briefe, Erklärungen Fragmente aus seinem Nachlasse, hrsg. v. Friedr. Wilh. Schubert, Leopold Voss, Leipzig 1842, S 241. Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos (Kap. 4, letzter Satz).

Inhalt 1 Einleitende Bemerkung

l

2 Problemhorizont 2.1 Skizze der Kantischen Philosophie 2.1.1

5 19

Schema der Einen reinen Vernunft

26

2.1.1.1 Zur Frage der Einheit der Subjektivität (,Vernunft' und .Sinnlichkeit') 2.1.1.2 Zur Struktur der Subjektivität

30 37

2.1.2 2.1.2.1 2.1.3

39 40 42

,Form'und ,Materie' Vorläufiges Schemader, moralischen Handlung' Über .Wissen'in der Philosophie (.Erfinden'und .Erzählen')

3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie 48 3. l , Bloße Materie' oder: Der Begriff des Dinges an sich bezogen auf die bloße, von allem Verstand isolierte, reine Sinnlichkeit ... 52 3.1.1

3.2 3.3

3.4

3.5

3.5.1

Exkurs: .Transzendentale Materie'

74 l

Der .transzendentale Gegenstand=X oder: Der Begriff des Dinges an sich bezogen auf den von aller Sinnlichkeit isolierten, reinen Verstand Das , Noumenon' oder: Der Begriff des Dinges an sich als Grenzbegriff, bezogen auf die durch reine Sinnlichkeit und reinen Verstand konstituierte Sphäre empirischer Realität Das Noumenon , in der Idee' oder: Der Begriff des Dinges an sich als Grenz- und Formbegriff, bezogen auf den regulativen Gebrauch spekulativer Vernunft (Der , transzendentale Gegenstand1 als ,Schema der Idee'') Das Noumenon als Subjekt oder: Der Begriff des Dinges an sich bezogen auf den reinen praktischen Vernunftgebrauch (praktische Erkenntnis')

130

Zum Begriff des apriorischen Objekts reinen praktischen Vernunftgebrauchs (Das .Sittlich-Gute' und das .höchste Gut in der Welt')

149

80

87

111

VIII 3.5.1.1 3.5.1.2 3.5.1.3

3.5.1.4 3.5.2 3.5.2.1

Inhalt Zur Frage der notwendigen synthetisch-praktischen Einheit der moralischen Handlungsmaxime (Das ,Sittlich-Gute') Zur Frage der notwendigen synthetisch-praktischen Einheit der moralischen Handlung (Das ,höchste Gut in der Welt') Exkurs: Zur Frage der moralischen Vollkommenheit (.Heiligkeit' und ,Achtung' bzw. ,Moralgesetz' und »kategorischer Imperativ') Zur Frage der notwendigen synthetisch-praktischen Einheit oder: .Verstandeswelt' als ,Form' der ,Sinnenwelt' Das Noumenon als .moralische Idee' oder: Theoretische Vernunft im Dienste reinen praktischen Vemunflgebrauchs Zur Unterscheidung von theoretischem und praktischem Vemunftgebrauch (Der jeweilige Mensch als Subjekt)

159 160

165 171 174 175

3.5.2.2

Der .ontologische Status' der .Postulate' als Beispiel für theoretischen Vemunftgebrauch im Dienste praktischer Vernunft ... j gQ 3.5.2.2.1 .Postulate'und .transzendentale Hypothesen' 185

3.6

3.6. l

Übersicht (, Schema1') der verschiedenen systematisch zusammenhängenden Bedeutungsaspekte des Begriffs des Dinges an sich Übersicht der systematischen Unterscheidung der apriorischen Gültigkeit der synthetischen (Vemunft-)Strukturen

4 Exkurs: ,Transzendental-Philosophie' und das ,Faktum der reinen Vernunft' 4. l Zur Frage einer möglichen intellektuellen Anschauung 5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs (Die Rationalität der praktischen Vernunft) 5. l Nochmals zur Unterscheidung von theoretischem und praktischem Vernunftgebrauch (Die potentielle Einzigartigkeit jedes Menschen) 5.1.1

5.2 5.2.1

191 195

198 207

210

215

Zur Unterscheidung von , konkreter' und , abstrakter' Metaphysik (.Toleranz' und .Anteilnahme')

223

Die Form bloßer Allgemeingültigkeit (Das Naturgesetz als ,Typus' des Moralgesetzes)

236

Zur Frage des logischen Mechanismus bzw. des Utilitarismus (Die vier Beispiele der QMS)

244

Inhalt 5.2.1.1 , Moralische Beurteilung' in , praktischer' und , theoretischer' Bedeutung (,Praktische Erkenntnis' und ,moralisches Urteil') 5.2.1.2 Zur Frage der Einen Pflicht und der vielen Pflichten

IX

248 254

6 Nach-Bemerkung

267

Literatur

271

Register

274

A. B. C.

Stellen Personen Sachen

274 282 284

Die Beistrichsetzung weicht von einigen derzeit gültigen Regeln ab; vor allem dann, wenn umfangreichere Satzperioden durch genaue Einhaltung dieser Regeln innerhalb ihrer Sinneinheiten zu zerfallen drohten. Ist bei Zitaten nichts anderes vermerkt, so stammen die Hervorhebungen von mir; diese können allerdings - ganz oder teilweise - den Hervorhebungen des jeweiligen Autors entsprechen. Das in Zitaten bisweilen vorkommende Zeichen: | markiert den Beginn eines neuen Absatzes in der zitierten Textvorlage. — K a n t zitiere ich im allgemeinen nach der Akademie-Ausgabe {Band/Seite}; mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft: diesbezügliche Zitate sind der Weischedel-Ausgabe entnommen und werden, wenn sie in beiden Auflagen (A und B) vorkommen, unter ,,/TrFA{Seite}/B {Seite}" angeführt, ansonsten unter „KrVA {Seite}" oder unter „KrV B {Seite}". Zur besseren Orientierung sind öfter zitierte Schriften Kants in Abkürzung der jeweiligen Bandangabe der Akademie-Ausgabe vorangestellt: GMS KpV KU MSIRL MS IT PMW

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RGV

für:

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Kritik der praktischen Vernunft Kritik der Urteilskraft Metaphysik der Sitten / Rechtslehre Metaphysik der Sitten / Tugendlehre Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft

l Einleitende Bemerkung Dies ist eine Schrift* mit philosophisch-systematischem Anspruch. Bloße Informationssuche geht nicht auf ihren Grund. Mein Bemühen war, so verständlich wie möglich zu schreiben; die Darstellung des Einfachen aber ist bekanntlich schwer. Wie alles Empirisch-Reale ist auch diese Schrift aus äußerlich-empirischen Gründen erklärbar. Ihr inneres Anliegen jedoch ist moralisch-religiös: durch die „Lehre' hindurch jene Offenheit zu gewinnen, die traditionell auch ,Leere' genannt wird. Geschäftigkeit jeder Art, wie beispielsweise abstrakt-scharfsinnige Denkspiele, steht solcher Entwicklung entgegen: Sie verlangt den ,ganzen', ,konkreten Menschen' (wie unvollkommen dieser auch erscheinen mag). So stellt diese Schrift die verbal-empirische Spur eines — notwendigerweise unabgeschlossenen — Klärungsprozesses dar und ist als ,Spur' zugleich Festigung und Erinnerung bzw. mögliche ,Zukunft'. Hier ist ihre Berechtigung begründet1 und nicht in möglichen , A r g u m e n t e n ' expliziter Polemik2, beispielsweise gegen geistesgeschichtlich-ideologiekritische Denkungsart.3 Als Ausdruck s y s t e m a t i s c h e r Auseinandersetzung4 mit Kant be* Ausgenommen die nachträgliche „Bemerkung" am Anfang von Kap. 3.5.1.2 [Anm.*] und einige stilistische Verbesserungen: unveränderter Text meiner im Winter 1982/83 beendeten und im Winter 1983/84 von der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz angenommenen Habilitationsschrift. 1 Angesichts der herrschenden großen Büchervermehrung entsteht unter gewissen Voraussetzungen die Frage der Verweigerung. Warum aber Enthaltsamkeit - einmal abgesehen von allen äußeren Umständen - nicht die grundsätzliche Lösung sein kann, das drückt Martin Buber (Gog undMagog, in: Werke Bd. 3, S. 1180f) so aus: „Ein anderer Schüler hatte die Kasteiung des Schweigens auf sich genommen ... ,Junger Mann', sagte der , Jude' zu ihm, ,was ist das, daß ich in der Welt der Wahrheit kein Wort von dir vernehme?' ,Rabbi', rechtfertigte sich jener, .wozu soll ich Eitles reden? ...' ,So kommt', sprach der ,Jude', .eben kein Wort von dir selber in die Welt der Wahrheit. ... Was ist das: Eitles reden? Man kann was immer eitel sagen, man kann was immer wahrhaftig sagen ...' Sie saßen die Nacht durch beisammen; am Morgen war die Lehrzeit zu Ende." 2 Die äußere Form von Polemik kann sehr .sachlich' sein. 3 Im Grunde jedoch ist diese ganze Schrift ein Dialog mit eben dieser Haltung. 4 Es geht hier weder um .rationale Rekonstruktion' im üblichen Sinn noch um .historische Rezeption'.

2

l Einleitende Bemerkung

findet sich diese Schrift ,am Boden der Kantischen Philosophie', die somit a l s M e d i u m der eigenen Klärung (und Mitteilung) und nicht als geistesgeschichtlicher Gegenstand Beachtung findet.5 Es geht mir im folgenden um eine Form von R a t i o n a l i t ä t , die es erlaubt, f u n d i e r t von menschlicher Würde zu reden6 und dadurch dem Bemühen um sie v e r n ü n f t i g e n S i n n zuzusprechen; die den Menschen denkbar macht, vor Verdinglichung bewahrt und damit ihn in seiner Freiheit — als S u b j e k t — zur Darstellung bringen läßt. Es war ein straff geordneter Text beabsichtigt, um besonders stark die A u s r i c h t u n g dieser Schrift spüren zu lassen. Die zum Teil sehr umfangreichen A n m e r k u n g e n sind jedoch primär nicht als Sammlung von Belegstellen oder von Zusatzbemerkungen aufzufassen sondern als Möglichkeit, an verschiedenen Stellen (vor allem in die Kantische Gedankenwelt) tiefer einzudringen bzw. manche ,Stufe' im Text vorzubereiten. Ich wünsche mir Leser, die weder Text noch Anmerkungen in erster Linie als ,Informationsquelle' betrachten, sondern die bereit sind, n a c h z u - d e n k e n . Mein Bestreben war, so einfach wie möglich u n d so komplex wie nötig zu schreiben, und zwar mit möglichster Konzentration. Dies bedeutet, daß Text und Anmerkungen Konzentration auch fordern: ,Schnelles' Lesen ist hier nicht erfolgreich.7 Ist primär nicht ,Information', sondern der — jedem Einzelnen nur 5

Systematische Auseinandersetzung' verhält sich zu ,geistesgeschichtlicher (Gegenstands-)Analyse' wie: ,im Gespräch sein mit...' zu: ,reden (diskutieren) über ...'. 6 Doch ohne — auch nur strukturell möglichen — (Denk-)7V/ror, der letztlich immer , naturrechtlicher' Quelle entspringt [Jeder (mögliche) Terror widerspricht prinzipiell der Ausrichtung ^menschlichen Denkens']. 7 Ich verstehe hier .Konzentration' nicht im Sinne möglichster Informationsdichte (wie sie von einem Lexikonartikel zu erwarten ist) sondern — im Gegensatz zu ,Zerstreuung' — als .präzise Konkretheit', die bloß abstrakter Argumentation mitunter durchaus willkürlich erscheinen mag. Um ganz klar zu sein: Ich glaube nicht, daß der Unterschied von wissenschaftlicher Arbeit und dilettierender Bemühung unmittelbar am Stil bzw. an der Art der intellektuellen Verständlichkeit (ob .schwer' oder .leicht') abgelesen werden kann. Wenn ich früher gesagt habe, ich wünsche mir Leser, die bereit sind (mit- bzw.) nach-zu-denken, so dachte ich an die seltene Art von wissenschaftlich Gebildeten, die als gebildete'' auch ^Liebhaber' sind [Daß übrigens die Brockhaus-Enzyklopädie ( /196817) das Wort .Dilettant' — wohl zu Recht — mit „Liebhaber einer Kunst oder Wissenschaft" erklärt, „der sich ohne schulmäßige Ausbildung, nicht berufsmäßig damit beschäftigt", könnte auch so verstanden werden, daß oftmals gerade der .Betrieb' einer schulmäßigen Ausbildung oder berufsmäßigen Beschäftigung mögliche .Liebhaber' in Kunstoder Wissenschaftsyw/;A7/oHFA26/B 42: „Wir können demnach nur aus dem Standpunkte eines Menschen vom Raum, von ausgedehnten Wesen etc. reden." Die Betonung des ,Standpunktes eines Menschen' bzw. der anthropologischen Relativität, bedeutet hier (im Unterschied z.B. zu KrVA 841 f/B 869f oder GMSIV/388) selbstverständlich keine empirischen Bedingungen sondern die transzendentale Voraussetzung alles Empirischen. 61 Jeder empirische Gegenstand ist zeitlich strukturiert. 62 Jeder empirische Gegenstand der äußeren Sinne ist (zeitlich und) räumlich strukturiert.

30

2 Problemhorizont

2.1.1.1 Zur Frage der Einheit der Subjektivität (,Vernunft' und ,Sinnlichkeit') Über die Einheit der Subjektivität63 — im Schema durch »Vernunft (0)' als Inbegriff aller apriorischen Prinzipien ausgedrückt — muß hier noch einiges gesagt werden. Bezüglich der reflektierenden Urteilskraft (1)' genügt der Hinweis auf Vorrede und Einleitung der Kritik der Urteilskraft; dazu zwei Zitate: „Eine Kritik der reinen Vernunft, d.i. unseres Vermögens nach Principien a priori zu urtheilen, würde unvollständig sein, wenn die der Urtheilskraft, welche für sich als Erkenntnißvermögen darauf auch Anspruch macht, nicht als ein besonderer Theil derselben abgehandelt würde ..." (KU V/168); und: „Wenn also gleich die Philosophie nur in zwei Haupttheile, die theoretische und praktische, eingetheilt werden kann; wenn gleich alles, was wir von den eignen Principien der Urtheilskraft zu sagen haben möchten, in ihr zum theoretischen Theile, d.i. dem Vernunfterkenntniß nach Naturbegriflen, gezählt werden müßte: so besteht doch die Kritik der reinen Vernunft, die alles dieses vor der Unternehmung jenes Systems zum Behuf der Möglichkeit desselben ausmachen muß, aus drei Theilen: der Kritik des reinen Verstandes, der reinen Urtheilskraft und der reinen Vernunft, welche Vermögen darum rein genannt werden, weil sie a priori gesetzgebend sind" (KUV/119). Über die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft und den Primat der letzteren muß hier nicht geredet werden. In F r a g e steht die S i n n l i c h k e i t als A s p e k t der (theoretischen) V e r n u n f t (,2.2'). Dazu vorerst zwei Zitate (vom Anfang und vom Ende der Kritik der reinen Vernunft): (1) „Nur so viel scheint zur Einleitung, oder Vorerinnerung, nötig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände geg e b e n , durch den zweiten aber g e d a c h t werden" (KrVA 15/B 29).64 63

Vgl. den gleichnamigen Rezensionsaufsatz von Dieter Henrich in: Philosophische Rundschau, Jg. 3, 1955, S. 28-69. 64 Vgl. auch KrV A. 50/B 74: „Unsre Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts ... durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung ...gedacht"; vgl. auch KrV E 306: „... jene reine sinnliche Formen, durch die doch wenigstens ein Objekt gegeben wird ...".

2. l Skizze der Kantischen Philosophie

31

(2) „Wir begnügen uns hier mit der Vollendung unseres Geschäftes, nämlich, lediglich die Architektonik aller Erkenntnis aus reiner Vernunft zu entwerfen, und fangen nur von dem Punkte an, wo sich die allgemeine Wurzel unserer Erkenntniskraft teilt und zwei Stämme auswirft, deren einer Vernunft ist. Ich verstehe hier aber unter Vernunft das ganze obere Erkenntnisvermögen, und setze also das Rationale dem Empirischen entgegen" (KrV A 835/B 863).

Hier ist gleich anzumerken, daß Sätze wie diese zu Interpretationen fuhren können, welche die kritische Philosophie verfehlen. Wie z.B. die transzendentale Deduktion der Kategorien zeigt, bietet die sinnliche Anschauung - und nur sie - in (Raum und) Zeit strukturierte Materie dar: die ^Grundlage' für den vollständigen ,kategorialen Aufbau'' (die Constitution') des empirischen Gegenstandes. .Umgekehrt' formuliert: die (transzendental-logische) Analyse empirischer Gegen-ständ-lichkeit fuhrt auf zwei relativ selbständige Aspekte (den des nur sinnlich gegebenen Mannigfaltigen und den der kategorialen Verstandes-Einheit). — In genauem Verständnis werden uns also durch .Sinnlichkeit' keine Gegen-stände gegeben; das .Denken' dieser Gegen-siände bedeutet hier daher auch keinen empirischen (psychologisch-privaten) Zustand sondern - .begründet' durch die entsprechende Anschauung - die kategoriale Konstitution (d.i. einer der beiden Aspekte des Ergebnisses transzendental-logischer Analyse) des Gegenstandes bzw. seiner Erkenntnis. Vgl. dazu Martin Heidegger (Die Frage nach dem Ding): „In eins mit der Zwiefältigkeit der Erkenntnis ergab sich ein erstes Verständnis der Zwiefältigkeit des Gegenstandes: das bloße anschauliche ,Gegen' ist noch kein Gegenstand; aber auch das nur begrifflich allgemein Gedachte ist als so Ständiges noch kein Gegenstand. | ... Zum Stehen gebracht wird immer ein Anschauliches; das begreifende Vor-stellen bekommt hier einen wesentlich verschärften Sinn. | Wenn daher Kant wiederholt betont: Durch die Anschauung wird der Gegenstand gegeben, durch den Begriff wird der Gegenstand gedacht, so legt das leicht Mißverständnisse nahe, als sei das Gegebene schon der Gegenstand, als sei der Gegenstand nur Gegenstand durch den Begriff. Beides ist gleich irrig. Vielmehr gilt: Der Gegenstand steht nur, wenn Anschauliches begrifflich gedacht ist, und der Gegenstand steht nur entgegen, wenn der Begriff ein anschaulich Gegebenes als solches bestimmt" (S. 110); und: „Sinnlichkeit ist das Vermögen der menschlichen Anschauung. Das Vermögen des Denkens aber, worin der Gegenstand als Gegenstand zum Stand gebracht wird, heißt Verstand" (S. 112). Vgl. dazu auch Rudolf Arnheim (Anschauliches Denken S. 175): „Begriffe sind Höhepunkte | Statisch gesehen, stellt ein Begriff dar, was einer Anzahl verschiedener Einzelfalle gemeinsam ist. In Wirklichkeit aber ist der Begriff oft mehr eine Art von Höhepunkt im Fluß dauernder Veränderungen. Im japanischen Kabukitheater erstarrt das Spiel des Hauptdarstellers plötzlich zu einer monumentalen Pose, der sogenannten mi-e, die den Höhepunkt einer wichtigen Szene bildet und ihren Charakter verdichtet vorführt. In weniger offensichtlicher Weise sind Tanz- und Musikpassagen oft um solche Höhepunktsformen von relativ einfacher Gestalt komponiert, die an bestimmten Stellen das Fazit des Vorgangs ziehen und dem Beschauer oder Hörer auf seinem Wege durch das Werk als Marksteine dienen."

32

2 Problemhorizont

Zitat (1) stellt Verstand (,2.2.1.2.2') und Sinnlichkeit (,2.2.2') als „zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis" dar, die „vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen". Sagt mein Schema etwas über diese „Wurzel" aus? Nein, es ordnet lediglich in systematischer Weise die verschiedenen Aspekte des synthetischen Apriori [d.i. »Vernunft (0)']; ,Vemunft (0)' aber hat selbst keine ,Kraft' (sie selbst - und nur insofern: i h r e ,Kraft' - ist ja ausgelegt in ihre verschiedenen Aspekte), sie kann daher keine „Wurzel" sein.65 Das Ende von Zitat (2) kann verschieden gelesen werden. (2a): Wird ,das ganze obere Erkenntnisvermögen'66 betont, dann erscheint Sinnlichkeit (als ,niederes' Erkenntnisvermögen) eindeutig dem ,Rationalen' entgegengesetzt, also als ,Empirisches' [Sinnlichkeit kann also nicht mehr als Vernunftaspekt aufgefaßt werden, ohne zumindest dem Zitat (2) - in der Lesart (2a) - zu widerstreiten]; eine gleichzeitige Beachtung der Zitate (1) und (2) fördert diese Sicht. — So enthält ein Schema („Conspectus philosophiae Kantianae universalis"), das Paul D e u s s e n im Zusammenhang mit Kants Einleitung in die Kritik der Urteilskraft aufstellt,67 „innerhalb des Rahmens das Apriorische, ausserhalb desselben das Aposteriorische auf allen drei Gebieten" (S. 275); „innerhalb des Rahmens" sind „Vernunft", „Urteilskraft" und „Verstand" zu finden, als „oberes (autonomes) Erkenntnisvermögen", „ausserhalb desselben" aber „Sinnlichkeit". Martin H e i d e g g e r 6 8 bringt — allerdings vom Interesse an der „gemeinsamen Wurzel" geleitet — hintereinander Zitat (1) und (2) und setzt fort: „Das ,Empirische' besagt hier das erfahrend Hinnehmende, die Rezeptivität, Sinnlichkeit als solche". Und Heinz H e i m s o e t h 6 9 sagt zu Zitat (2): „,Vernunft' bezeichnet jetzt ... sämtliche in sich sowohl von Empirie wie von den Sinnlichkeitsbedingungen unabhängige Vermögen 65

66 67 68 69

Wenn also Martin Heidegger (Kant und das Problem der Metaphysik) z.B. in der produktiven Einbildungs/cra/f diese Wurzel — nicht nur von Sinnlichkeit und Verstand, sondern auch von theoretischer und praktischer Vernunft — findet, so sehe ich mein Schema dafür offen. Vgl. auch Dieter Henrich (Über die Einheit der Subjektivität S. 45): „Die Frage nach der Grundkraft von Sinnlichkeit und Verstand ist eine solche, die nicht die Struktur der Subjektivität, sondern die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Struktur betrifft" — mein Schema zeigt die Struktur der Subjektivität (nicht die Bedingungen ihrer Möglichkeit). Vgl. dazu z.B. KrVA 130/B 169: „Diese sind: Verstand, Urteilskraft, Vernunft". Paul Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie, Bd. 2.3, S. 276. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 35. Heinz Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, Bd. 4, S. 794f.

2.1 Skizze der Kantischen Philosophie

33

unseres Gemüts ...". Heimsoeth formuliert hier also ,genauer' als Heidegger; es ergibt sich aber dadurch eine noch größere Schärfe des Ausschlusses von Sinnlichkeit aus dem Umkreis von ,Vemunft'. Ahnliches ist übrigens auf S. 807 seines Kommentars zu finden, wo er eine Stelle (KrV A 842/B 870) Kants, in der von „einer Metaphysik ... gleichwohl ... nichtf,] genugsam geläutert von allem Fremdartigen" die Rede ist, dieses ,Fremdartige' in einem Klammerausdruck [„...(Sinnlich-Empirischem)..."] nur vordergründig pleonastisch erklärt; denn die Abhebung des Sinnlichen vom Empirischen ist unter dem Gesichtspunkt des Gegensatzes von a priori - a posteriori nötig, um der , r e i n e n Anschauung' gerecht werden zu können.70 (2b): Findet aber das Gegensatzpaar , a priori-a posteriori' entsprechende Aufmerksamkeit, dann ist ,reine Anschauung', als eine bestimmte Art apriorischer Formen, selbstverständlich der rationalen und nicht der empirischen Seite zuzurechnen: In diesem Sinn lese ich das Ende von Zitat (2); die Rede vom ,oberen Erkenntnisvermögen'71 tritt zurück, die Entgegensetzung von ,Rationalem' (,a priori') und ,Empirischem' (,a posteriori') in den Vordergrund. Der Kontext von Zitat (2) spricht für diese Gewichtung. Der transzendentalen Methodenlehre drittes Hauptstück: Die Architektonik der reinen Vernunft (KrV A 832ff/B 860ff) ist der Ort von Zitat (2). Nach der Bestimmung von ,Architektonik', ,System' und anderer Begriffe spricht Kant (KrV A 83 5/B 863) von einer „Architektonik alles menschlichen Wissens ... die jetztiger Zeit ... nicht allein möglich, sondern nicht einmal gar so schwer sein würde". Dann kommt Zitat (2), gleich anschließend die Unterscheidung von - „subjektiv" betrachtet „historischer" und „rationaler" Erkenntnis (KrVA 835f/B 863f), die zur 70

71

So sagt Heimsoeth auch in der dazugehörigen Fußnote (S. 808): „Zum .Fremdartigen' gegenüber dem rein Rationalen gehört für die höchsten Anliegen der Metaphysik alles .Sinnliche' überhaupt, also nicht etwa nur das Empirische gegebener Erscheinungen, sondern auch die Formen a priori unserer Sinnlichkeit." Folgende Stellen im Kommentar von Heimsoeth sprechen allerdings für die Einbeziehung von apriorischer Sinnlichkeit in den Bereich der Vernunft: „Mathematik hat ... ihren Gegenstand ... — trotz oder vielmehr gerade wegen ihrer reinen Apriorität (,Vernunft' im weiteren Sinne!) — in der Sinnenwelt..." (S. 34), und: „ ... die Unterscheidung von ,Vernunft' im Sinne des Dialektik-Teiles ... gegenüber dem Gebrauch des Wortes für das Gesamt der Formen a priori ist ohne besondere Schwierigkeit..." (S. 15f). Mit Hilfe des von Gottfried Martin herausgegebenen Sachindex zu Kants Kritik der reinen Vernunft (1967) ist - für die zweite Auflage der KrV- leicht festzustellen, daß der auf Sinnlichkeit zu beziehende Gegenausdruck .niederes Erkenntnisvermögen' in KrV/B gar nicht vorkommt (ich habe ihn auch in KrV/A nicht gefunden).

34

2 Problemhorizont

Abtrennung — „Von dem inneren Unterschiede beider habe ich schon im ersten Hauptstücke gehandelt" — der M a t h e m a t i k von Philosophie überleitet: „Alle Vernunfterkenntnis ist nun entweder die aus Begriffen, oder aus der Konstruktion der Begriffe; die erstere heißt philosophisch, die zweite mathematisch" (KrVA 837/B 865). Ich lege Wert auf die Feststellung, daß die in Zitat (2) erfolgte Entgegensetzung von ,Rationalem' und ,Empirischem' vor der Unterscheidung der — im Gegensatz zu den „historischen" — „rationalen" Vernunfterkenntnisse in philosophische und mathematische erfolgt.72 Mathematik aber — und das hat bekanntlich die Transzendentale Ästhetik herausgestellt — ist begründet durch ,unser' Vermögen der reinen sinnlichen Anschauung: Reine, apriorische Sinnlichkeit ist notwendige Bedingung rationaler Vernunfterkenntnisse.73 Abschließend noch folgende Stellen zur Illustration, daß es im gegebenen Zusammenhang primär um die Trennung von Rationalem und Empirischem im Sinne des Begriffspaares a priori-a posteriori geht, und erst dann, auf apriorischem Boden, um die Scheidung von Philosophie und (durch reine Sinnlichkeit gegründete) Mathematik: „Es ist von der äußersten Erheblichkeit, Erkenntnisse, die ihrer Gattung und Ursprünge nach von ändern unterschieden sind, zu i s o l i e r e n , und sorgfältig zu verhüten, daß sie nicht mit ändern, mit welchen sie im Gebrauche gewöhnlich verbunden sind, in ein Gemische zusammenfließen ... Man muß indessen gestehen, daß die Unterscheidung der zwei Elemente unserer Erkenntnis, deren die einen völlig a priori in unserer Gewalt sind, die anderen nur a posteriori aus der Erfahrung genommen werden können, selbst bei Denkern von Gewerbe, nur sehr undeutlich blieb" (KrV A 842f/ 72

Weitere entsprechende Textstellen im Abschnitt Architektonik der reinen Vernunft Über Mathematik als Vemunfterkenntnis bzw. über die Unterscheidung von Metaphysik und Mathematik: KrV 837/B 865, A 841/B 869, A 844/B 872, A 847/B 875 (Anm.). 73 Im Vergleich zum früher (im Text nach Fußnotenreferenz 69/Kap. 2) zitierten Satz Heimsoeths: „,Vernunft' bezeichnet jetzt... sämtliche in sich sowohl von Empirie wie von den Sinnlichkeitsbedingungen unabhängige Vermögen unseres Gemüts" kann man natürlich sagen, Heimsoeth rede von Vermögen unseres Gemütes, die unabhängig von Sinnlichkeitsbedingungen seien, hier aber wäre die Selbstverständlichkeit formuliert, daß Vernunfterkenntnisse - wenn es sich um mathematische handle - nach Kant unter anderem durch sinnliche Anschauung a priori bedingt seien. Dann aber frage ich nach den , Sinnlichkeitsbedingungen' unseres Vermögens der reinen sinnlichen Anschauung: und jetzt ist klar, daß es im Kantischen Begriffszusammenhang ebenso unangebracht wäre, von ,Sinnlichkeitsbedingungen' dieses .Vermögens' zu sprechen wie von Sinnlichkeitsbedingungen aller anderen apriorischen, reinen, letzten Endes eben rationalen Vermögen.

2.1 Skizze der Kantischen Philosophie

35

B 870f). „Was aber die Grundidee der Metaphysik noch auf einer anderen Seite verdunkelte, war, daß sie als Erkenntnis a priori mit der Mathematik eine gewisse Gleichartigkeit zeigt, die zwar, was den Ursprung a priori betrifft, sie einander verwandt [Akad.-Ausg.: verwandt macht], was aber die Erkenntnisart ... anlangt: so zeigt sich eine ... entschiedene Ungleichartigkeit ..." (KrVA 844/B 872).

Aber nicht nur der Zusammenhang der Kritik der reinen Vernunft, die ganze kritische Philosophie Kants ist geprägt74 vom Unterschied des Rationalen (a priori) und des Empirischen (a posteriori): ist sie doch in ihrem Selbstverständnis rein rationale, apriorische Vernunftphilosophie; dies sollte in meinem Schema der Vernunft (0) zum Ausdruck kommen. — Und doch bleibt die Frage nach dem Verhältnis von Sinnlichkeit (,2.2.2') und Vernunft (,2.2'): Da ist eben z.B. Deussens Schema, da sind ,Heidegger' und ,Heimsoeth'; Kant selbst schreibt z.B. (KUV/179): „ ... die Kritik der reinen Vernunft [besteht] ... aus drei Theilen: der Kritik des reinen Verstandes, der reinen Urtheilskraft und der reinen Vernunft ,..".75 Wo bleibt die ( r e i n e Form der) S i n n l i c h k e i t ? Die Antwort lautet: Sie ist im Verstand , a u f g e h o b e n ' , s o f e r n er k o n s t i t u t i v e Erkenntnisprinzipien a priori enthält [d.i. .Verstand (2.2.1.2.2)']; und nur i n s o f e r n ist es „eigentlich der Verstand, der sein eigenes Gebiet und zwar im Erkenntnißvermögen hat, ... welcher durch die im Allgemeinen so benannte Kritik der reinen Vernunft gegen alle übrige Competenten in sicheren alleinigen Besitz gesetzt werden sollte" (AT/V/168).76 Diese »Vereinigung' hat schon die transzendentale Deduktion der Kategorien zu leisten; Zitat (1) vom Ende der Einleitung in die Kritik der reinen Vernunft wird also hier als „Vorläufigkeit der Systematik der Kritik ... und also" als Aufforderung an „die Folgenden ... tiefer in ihre Prinzipien einzudringen" zu sehen sein.77 74

Die Betonung der so wichtigen Unterscheidung von a priori und a posteriori liegt in der kritischen Philosophie überall offen da; vgl. z.B. die ersten Sätze der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft (KrV B I f ) oder die ersten Seiten der Vorrede der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 75 Auch seine ,Tafel' (KU V/198) zur Erleichterung der „Übersicht aller oberen Vermögen ihrer systematischen Einheit nach" (ÄTt/V/197) enthält als „Erkenntnißvermögen" nur „Verstand", „Urtheilskraft" und „Vernunft". 76 Vgl. z.B. auch F.W. J.v. Schelling (Philosophie der Offenbarung Bd. l, S. 56): „Was also Kant transcendentale Sinnlichkeit nennt, ist eben nichts anderes als die Vernunft selbst in der besonderen Beziehung auf das Sinnliche ... ." 77 Vgl. Dieter Henrich, Über die Einheit der Subjektivität S. 31. Allerdings setzt Henrich - sich davon distanzierend - fort: „So haben ihn [d.i. „den Satz", nämlich Zitat (1);

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2 Problemhorizont

Diese ,Aufnahme' der Sinnlichkeit in den Verstand ist bei der Frage nach dem ,Ding an sich' von Bedeutung, da ja der ,(Grenz-)Begriff' einer ,bloßen Materie' in einem noch zu präzisierenden Sinn dem Begriff der Sinnlichkeit entspricht, mit dessen ,Verblassen' auch er an Vordergrund verliert und diesen dem ,(Verstandes-)Noumenon' überläßt. Daß darüberhinaus im Kontext der praktischen Philosophie in neuer Weise vom Ding an sich relativ auf praktische V e r n u n f t die Rede ist, das zeigt ebenso wie die früher gefragte ,Schau' im Zusammenhang mit Freiheit die Bedeutung der Frage von Sinnlichkeit (,Rezeptivität', ,Vemehmen') im System der Vernunft auch für die praktische, damit aber für die g e s a m t e kritische Philosophie. — Die Unterscheidung des Rationalen vom Empirischen kann also orientiert sein an dem Begrirfspaar a p r i o r i - a p o s t e r i o r i , dann bedeutet ,rein' die Abwesenheit von jeglichem Empirischen, Anschauung a priori ist dann eben genauso ,rein' wie der ,reine' Verstand bzw. die ,reine' Vernunft; in diesem Sinne habe ich Zitat (2) unter Berücksichtigung seines Textzusammenhanges trotz .Heidegger' und ,Heimsoeth' verstanden. Die Unterscheidung des Rationalen vom Empirischen kann aber auch am Begriffspaar A k t i v i t ä t (Spontaneität) - P a s s i v i t ä t (Rezeptivität) ausgerichtet sein. Jetzt steht den »aktiv-spontanen' Verstandes- bzw. Vernunftfunktionen die ,passiv-rezeptive' Sinnlichkeit entgegen. In diesem Sinne beendet Kant den früher zitierten Satz: „ ... die Kritik der reinen Vernunft [besteht] ... aus drei Theilen: der Kritik des reinen Verstandes, der reinen Urtheilskraft und der reinen Vernunft" (KU V/179) so: „... welche Vermögen darum rein genannt werden, weil sie a priori gesetzgebend sind"; und in diesem Sinn kann Heideggers und Heimsoeths Verständnis von Zitat (2) Unterstützung finden. Dieses Problem, daß ,a priori' einerseits allem Empirischen als dem ,a posteriori' entgegengesetzt ist und daher ,reine' Sinnlichkeit einschließt, andererseits aber als aktiv-spontanes Vermögen der (Selbst-)Gesetzg e b u n g alle passiv-rezeptive Sinnlichkeit - also auch die ,reine' G.R.] Reinhold, Fichte, Hegel und Cohen verstanden und so nimmt ihn auch H. [d.i. Heidegger; G.R.] auf"; Henrichs Hinweis, daß Zitat (1) „zurück in die Kontroversen des 18. Jahrhunderts über das System der Psychologie und seine ontologischen Voraussetzungen" (S. 33) weist, kann aber in keiner Weise begründen, daß diese Stelle deshalb — Henrich suggeriert dies durch seine Alternative: ,weist nicht voraus, sondern zurück', spricht es aber vorsichtigerweise nicht aus — „nicht [auch; G.R.] voraus" weisen könnte.

2.1 Skizze der Kantischen Philosophie

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ausschließt, dieses Problem sehe ich als Ausdruck der früher erwähnten Ambivalenz von A n s c h a u u n g in weitester Bedeutung und G e s e t z gebung. Betrachtet man Zitate wie die in der Fußnote78 angeführten, so mag der Eindruck entstehen, die Spannung von Vernunft und Anschauung sei unter dem Gesichtspunkt von , F o r m ' und , M a t e r i e' auflösbar. Dem steht mein Hinweis auf das verschiedene Verständnis des Rationalen, entsprechend der Dominanz der Gegensätze , a priori-a posteriori' oder , spontan-rezeptiv', entgegen.79 2.1.1.2 Zur Struktur der Subjektivität Die Struktur der Subjektivität [,Vernunft (0)'] ist nun mit Hilfe des gegebenen Schemas so darzustellen: ,2: Vernunft' als Inbegriff aller synthetischen objektiv-apriorischen Prinzipien zeigt die Aspekte ,2.1: Praktische Vernunft'als Moralgesetz „ f ü r . . . a l l e v e r n ü n f t i g e W e s e n überhaupt" (GMSTV/408) und ,2.2: Theoretische Vernunft', deren apriorische Strukturen bezüglich ihrer (synthetischen) Gültigkeit grundsätzlich auf die Bedingung von sinnlicher Anschauung überhaupt und damit letzten Endes auf , u n s e r e ' Formen sinnlicher Anschauung, i n s o f e r n also auf 78

Vgl. KrVA 845/B 873 (zitiert in Anm. 45/Kap. 2) bzw. PMWlV/295f: „ § 16. | Noch nimmt das Wort Natur eine andre Bedeutung an, die nämlich das Object bestimmt, indessen daß in der obigen Bedeutung sie nur die Gesetzmäßigkeit der Bestimmungen des Daseins der Dinge überhaupt andeutete. Natur also, materialiter betrachtet, ist der Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung ... | § 17. | Das Formale der Natur in dieser engem Bedeutung ist also die Gesetzmäßigkeit aller Gegenstände der Erfahrung und, sofern sie a priori erkannt wird, die nothwendige Gesetzmäßigkeit derselben." 79 Vgl. dazu das Ende von Anm. 54/Kap. 2; vgl. auch Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik S. 33: „Aber die notwendige Zugehörigkeit von Sinnlichkeit und Verstand zur Wesenseinheit der endlichen Erkenntnis schließt nicht aus, sondern ein, daß eine Rangordnung in der strukturmäßigen Gründung des Denkens auf die Anschauung als das führende Vorstellen besteht. Gerade diese Rangordnung darf über der rückbezüglichen Zusammengehörigkeit von Sinnlichkeit und Verstand nicht übersehen und zu einer indifferenten Korrelation von Inhalt und Form nivelliert werden, wenn man dem innersten Zuge der Kantischen Problematik näherkommen will"; — vgl. auch Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding S. 112ff. Zur Frage des Neukantianismus (bezogen auf Heidegger) vgl. die von O. F. Bollnow und J. Ritter verfaßte Niederschrift der 1929 abgehaltenen Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger; abgedruckt in: Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 4. Aufl. 1973, S. 246ff.

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2 Problemhorizont

A n t h r o p o l o g i s c h e ' Bedingungen eingeschränkt sind.80 Der ,Primat' praktischer Vernunft leuchtet hier auf; aber auch in der anderen Richtung: ,1: Reflektierende Urteilskraft' ist überhaupt kein ,objektives' Erkenntnisvermögen; als ,teleologische Urteilskraft' vor allem erinnert sie in ihrer (,heuristischen') Bedeutung an die regulative Funktion der Ideen theoretischer Vernunft (,2.2.1.1.2'), die ja letztlich unserer Sinnlichkeit wegen nicht konstitutiv sein können. A n t h r o p o l o g i s c h e R e l a t i v i t ä t also am Anfang und am Ende dieses Schemas der reinen Vernunft, die p r i m ä r reine p r a k t i s c h e Vernunft ist und als solche (,Moralgesetz') unabhängig von jeder anthropologischen Beschränkung.81 Man sieht hier vielleicht besonders deutlich den einzigen Weg des „Aufstiegs vom Sinnlichen82 zum Übersinnlichen": Er ist nur am Boden praktischer Vernunft möglich. Werden die, in ihrer synthetisch-apriorischen Geltung auf Sinnlichkeit (,2.2.2') relativen Aspekte des Schemas reiner Vernunft (,0') als grundsätzlich (trotz der regulativen Vernunft-Ideen) ,horizontal' gerichtet aufgefaßt, so verliefe die , a n a g o g i s c h e ' Richtung in der p r a k t i s c h e n Vernunft ,vertikal' dazu (weiter). Und nun zeigt sich die s y s t e 80

81

82

Vgl. z.B. QMS IV/411f: „Aus dem Angeführten erhellt: ... daß es nicht allein die größte Notwendigkeit in theoretischer Absicht, wenn es bloß auf Speculation ankommt, erfordere, sondern auch von der größten praktischen Wichtigkeit sei, ihre Begriffe und Gesetze aus reiner Vernunft zu schöpfen, rein und unvermengt vorzutragen, ja den Umfang dieses ganzen praktischen oder reinen Vernunfterkenntnisses, d.i. das ganze Vermögen der reinen praktischen Vernunft, zu bestimmen, hierin aber nicht, wie es wohl die speculative Philosophie erlaubt, ja gar bisweilen nothwendig findet, die Principien von der besondern Natur der menschlichen Vernunft abhängig zu machen, sondern darum, weil moralische Gesetze för jedes vernünftige Wesen überhaupt gelten sollen, sie schon aus dem allgemeinen Begriffe eines vernünftigen Wesens überhaupt abzuleiten ...". — Zum Schluß dieses Zitates bemerke ich ausdrücklich, daß es - gegen den ersten Anschein - der wiederholten Behauptung Kants, die Realität praktischer Vernunft sei nirgendwoher abzuleiten, nicht widerspricht. Als einzige anthropologische Relativität der praktischen Vernunft könnte der , kategorische Imperativ'' aufgefaßt werden. Doch abgesehen davon, daß er letztlich Ausdruck aller Kreatürlichkeit — vgl. Kants .Reich der Zwecke': das .Oberhaupt' (Schöpfer) und die .Glieder' (Geschöpfe) — ist, wird seine synthetisch-apriorische Gültigkeit dadurch in keiner Weise berührt. Hier sei bloß angemerkt, daß ^ästhetische Urteilskraft' mit dieser .Sinnlichkeit' - analysiert in der Transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft - nicht nur den Namen teilt, sondern daß auch sie in ihrem Geltungsbereich ausschließlich auf Sinnliches bezogen ist, das jetzt allerdings als Symbol des .Übersinnlichen' (der .Sittlichkeit') gesehen wird.

2.1 Skizze der Kantischen Philosophie

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m a t i s c h e Bedeutung des n i c h t - , a k t i v e n ' Momentes83 als grundlegend nicht nur für die theoretische sondern auch für die praktische Philosophie: Besteht die früher angesprochene Ambivalenz im Rahmen theoretischer Philosophie zwischen ,passiver' Hin-nahme und ,aktiver' (Natur-)Gesetzgebung, so jetzt — am Boden praktischer Vernunft — zwischen (Moral-)Gesetzgebung und (religiöser) Hin-gabe; erst das aus abstrakter ,Aktivität' (selbst-)befreite Subjekt ist fähig zu t ä t i g e r Hingabe.84 Ist also die Leistung der theoretischen Philosophie in der Selbstbegrenzung der Vernunft (,2.2'), der selbsttätigen' Gesetzgebung, relativ auf »rezeptive' sinnliche Anschauung auszumachen — wodurch ja erst „Platz zu bekommen" war „zum Glauben" (KrV B XXX), also zur Haltung praktischer Vernunft —, so besteht die Leistung praktischer Philosophie — i n d e m , wie im theoretischen Bereich, die (Selbst-)Gesetzgebung in ihrem Prinzip (d.i. ,Anfang', ,Ursprung') zu ,erfinden'85 war — in einer ebensolchen, hier der praktischen Rationalität' adäquaten, R e l a t i v i e r u n g dieser in sich starren (Moral-)Gesetzgebung zugunsten der Möglichkeit »konkreten', liebevollen Lebens, das in seiner jeweiligen Einzigartigkeit potentielle m e n s c h l i c h e E i n h e i t menschlicher und göttlicher Realität ist. 2.1.2 ,Form' und ,Materie' Eine — möglicherweise die — Grundstruktur des D e n k e n s 8 6 im Rahmen der kritischen Philosophie findet ihren sprachlichen Ausdruck im Begriffspaar , Form-Materie'. Die apriorischen F o r m e n der Vernunft (auf jeder Stufe des gegebenen Schemas) sind in der philosophischen Betrachtung strengstens zu scheiden von der ihnen jeweils entsprechenden 83

Dieses Moment ist im Rahmen der theoretischen Philosophie ,rezeptive' sinnliche Anschauung', in der praktischen Philosophie zeigt es sich in der .Entkrampfung', ,Erlösung' des bloß .aktiven' (daher in .Selbst-Gesetzgebung' erstarrten) .moralischen Subjekts' [Dieses .unmenschliche' .Subjekt' ist von C.F. v. Weizsäcker (Der Garten des Menschlichen S. 453) als der „rein Moralische" angesprochen, der sich haßt; vgl. dazu auch Anm. l/Kap. 2]. 84 Vgl. meinen Aufsatz: Schelling und Kant oder die Überwindung der gewalttätigen Vernunft, vgl. auch Anm. l/Kap. 2 (C. F. v. Weizsäcker, Diagnosen zur Aktualität. Beiträge S. 91). 85 Vgl. Kap. 2.1.3. 56 Vgl. KrV A 266 7 322ff; vgl. auch das Ende von Anm. 45/Kap. 2.

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2 Problemhorizont

M a t e r i e , die nur auf der Stufe der Sinnlichkeit als das gänzlich Form-lose, dem (Erkenntnis-)Subjekt völlig ,Fremde' zu d e n k e n ist: die Formen der sinnlichen Anschauung (,2.2.2') also von ,bloßer Materie'87, die Formen des Verstandes (,2.2.1.2.2') von sinnlich strukturierter Materie, die Formen praktischer Vernunft (,2. ) und reflektierender Urteilskraft (, ) von jedem (empirisch faßbaren) Gegenstand. Hier zeigt sich beispielhaft die Unerläßlichkeit des Form-Materie-Denkens für das der kritischen Philosophie adäquate Erfassen verschiedener Gegenstandsstrukturen. Auf die zentrale Bedeutung der Frage nach diesen Strukturen für ,menschliches Denken' verweise ich hier mit einem Zitat aus Kants Handschriftlichem Nachlaß:88 „Wollten wir aus der Erfahrung uns einen Begriff von Gott als einem Machthabenden machen so würde alle Moralität desselben wegfallen u. nur despotic bleiben". Die Strukturen der empirischen und der moralischen ,Gegenständlichkeit' sind so verschieden wie Notwendigkeit' und ,Freiheit' oder ,Heteronomie' und ,Autonomie'. Davon später mehr. Im gegebenen Zusammenhang ist mir vor allem wichtig zu betonen, daß weder , bloße Materie' noch irgendeine apriorische ,Form' Gegenstand e m p i r i s c h e r Betrachtung sein kann [Denn empirische Gegenständlichkeit ist bestimmt durch die E i n h e i t gewisser , F o r m e n ' und der diesen entsprechenden ,Materie'].

2.1.2.1 Vorläufiges Schema der ,moralischen Handlung' Das folgende, vorläufige Schema der ,moralischen Handlung'89 (und damit auch des »empirischen Gegenstandes') zeigt verschiedene ,Form-' und die diesen jeweils entsprechenden ,Materie-Aspekte' auf: 87 88

Vgl. dazu Kap. 3.1. XXII/412; datiert vom Herausgeber zwischen (mutmaßlich) August 1799 und April 1800 bzw. zwischen April 1800 und Dezember 1800 (vgl. die Übersicht: Das Nachlaßwerk in chronologischer Anordnung am Ende von Bd. XXII). 89 Da praktische Vernunft' Verwirklichung' bzw. ,Tun' ist, ziehe ich den Begriff der ,moralischen Handlung' dem eines ,moralischen Gegenstandes' vor. Auch terminologische Gründe im Rahmen der Kantischen Moralphilosophie — z.B. das SittlichGute bzw. -Böse als Gegenstand der reinen praktischen Vernunft — sprechen dafür.

2.1 Skizze der Kantischen Philosophie

I

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Moralische Handlung

I.I

F o r m der moralischen Handlung: Maxime (bzw. genauer, als Form der Maxime: der kategorische Imperativ; Autonomie) I.II M a t e r i e (,Inhalt') der moralischen Handlung: das, was an ihr empirisch feststellbar ist; der empirische Gegenstand (bzw. das empirische Ereignis). Auch der , e m p i r i s c h e G e g e n s t a n d ' ist als synthetische Einheit von Form und Materie zu denken: I.II. l F o r m des empirischen Gegenstandes I.II. l. l (Formen der Vernunft; regulative Ideen) I.II. 1.2 Formen des Verstandes; konstitutive Kategorien I.II. 1.3 Formen der sinnlichen Anschauung; [Raum und] Zeit I.II.2 M a t e r i e (,Inhalt') des empirischen Gegenstandes 1.11.2.1 Relativ auf Verstandeseinheit (I.II. 1.2): Das sinnlich Strukturierte a priori bzw. das sinnlich Gegebene a priori bzw. das sinnlich Mannigfaltige a priori 1.11.2.2 Relativ auf die Einheit der sinnlichen Anschauung (I.II. 1.3): 1.11.2.2.1 (,Bloße Materie'; als abstrakter Verstandesbegriff, nichts': weder a priori noch a posteriori gegeben)89* 1.11.2.2.2 , Substantia p h a e n o m e n o n ' ; ausschließlich a posteriori gegeben89b Der Zusammenhang mit dem ,Schema der Vernunft'890 ist folgender: I.I entspricht (als ,Form der Maxime') 2.1; I.II. 1.1 entspricht 2.2.1.1.2; I.II. 1.2 entspricht 2.2.1.2.2; I.II. 1.3 entspricht 2.2.2. — I.II.2 aber, , M a t e r i e ' , kommt im Schema der V e r n u n ft, als dem Schema , reiner F o r m e n ' , selbstverständlich nicht vor, daher auch keine Entsprechung von I bzw. I.II als jeweiliger E i n h e i t von F o r m und M a t e r i e . 9 0 89a

,Bloße Materie' ist ein ,Grenz-Begriff', er drückt die innere Grenze der Sinnlichkeit (,Rezeptivitäf) aus; vgl. Kap. 3.1. 89b Vgl. KrV A 277/B 333; , . .2.2.2' ist die empirische (d.i. aposteriorische) Realisierung der (apriorischen) .realen' Möglichkeit (. . .2. ). 89c Vgl. Kap. 2.1.1 (ab Fußnotenreferenz 50). 90 Wird die transzendental-logische Konstitution des empirischen Gegenstandes nicht , zugleich' als transzendental-logische Analyse gedacht, so wird — im Zusammenhang mit der einleuchtenden Feststellung, daß ,Materie' in einem Schema reiner .Formen' vergeblich zu suchen sei — das Ding an sich zum Problem', und zwar in einer Weise, die letzten Endes nicht umhin kann, gegen Buchstaben und Geist der Kantischen Philosophie ,das Ding an sich' in irgend einer Weise doch gegenständlich-materiell zu denken. Hier ist, wie ich glaube, die für sich genommen (noch) nicht falsche

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2 Problemhorizont

Und jetzt eine wichtige Tautologie: E m p i r i s c h e s E r k e n n e n von Gegenständen (empirische Wissenschaft) kann nur e m p i r i s c h e Geg e n s t ä n d e zum Erkenntnisobjekt haben; oder: Alles, was nicht empirisch faßbar ist, ist für empirische Wissenschaft grundsätzlich ,nichts', bietet ihr keinen möglichen Gegen-stand. ,1.11: Der empirische Gegenstand' ist daher das einzig empirisch Faßbare (empirisch real Mögliche), das im Schema der , moralischen Handlung' genannt wird. Alle anderen Punkte betreffen ausschließlich Objekte (transzendental-)logischer A n a l y s e [auch die Bestimmung des empirischen Gegenstandes a l s empirischer Gegenstand hat selbstverständlich nicht empirische sondern (transzendental-)philosophische Bedeutung]. 2.1.3 Über ,Wissen' in der Philosophie (, Erfinden' und , Erzählen') Voraussetzung jeder Philosophie ist die Annahme des Unterschiedes von empirischer und logischer (bzw. philosophischer) Analyse. Darüber hinaus — auf philosophischem Boden — verfehlen jedoch alle jene Interpretationsversuche die ,kritische' Position und damit den systematischen Zusammenhang der Kantischen Philosophie, die hier den Unterschied zwischen transzendental-logischer und (formal-)logischer Analyse nicht nachvollziehen.91 — Grundlage eines — viele weitere Irrtümer nach sich ziehenden — fundamentalen Mißverständnisses der kritischen Philosophie Kants angesprochen [vgl. auch Anm. 64 (1. Hälfte)/Kap. 2]. 91 Zum Begriff .transzendental' vgl. z.B. KrVA. 5617B 80f: „Und hier mache ich eine Anmerkung, die ihren Einfluß auf alle nachfolgende Betrachtungen erstreckt, und die man wohl vor Augen haben muß, nämlich: daß nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder möglich sein, transzendental (d.i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori) heißen müsse. Daher ist weder der Raum, noch irgend eine geometrische Bestimmung desselben a priori eine transzendentale Vorstellung, sondern nur die Erkenntnis, daß diese Vorstellungen gar nicht empirischen Ursprungs sein, und die Möglichkeit, wie sie sich gleichwohl a priori auf Gegenstände der Erfahrung beziehen könne, kann transzendental heißen ... Der Unterschied des Transzendentalen und Empirischen gehört also nur zur Kritik der Erkenntnisse, und betrifft nicht die Beziehung derselben auf ihren Gegenstand." Daher ist (fomial-)logische Analyse von transzendental-logischer Analyse klar zu unterscheiden (vgl. KrVA 65f/B 90f): „Ich verstehe unter der Analytik der Begriffe

2.1 Skizze der Kantischen Philosophie

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Woher aber die , P l a u s i b i l i t ä t ' empiristischer Sichtweise? Sie kommt, wie bei Kant und bei jeder anderen Philosophie auch, für denjenigen aus der K o n s e q u e n z des Denkens, bezogen auf die dieser Konsequenz gemäßen (,ontologischen') V o r a u s s e t z u n g e n , der diesen Voraussetzungen - wenn auch vielleicht gar nicht bewußt - anhängt. Für den Empiristen ist empirisch faßbare Realität die Wirklichkeit schlechthin; alles sonst noch »Vorhandene' ist auf diese zurückzuführen. Empiristische Positionen stehen daher für Programme des ,Reduktionismus' verschiedenster Ausprägung. In der kritischen Philosophie Kants erweist sich dagegen empirische Realität zunehmend als Verstandesabstraktion, als theoretischer A s p e k t einer Gesamtwirklichkeit, die sich unserem Denken nur „zwiefältig" (Martin Buber) zeigt: als (raum-)zeitliche Welt der empirischen Gegenstände und als (intelligible) Realität des moralischen Verwirklichens.92 Die ,Härte' empirischer Realität wird aber dadurch nicht angetastet, nicht ,entwirklicht'. Im Gegenteil: Keine empiristische Philosophie kann ,Natur' w e s e n h a f t mechanistisch denken. Kant tut es93 — doch ,zugleich', nicht die Analysis derselben, oder das gewöhnliche Verfahren in philosophischen Untersuchungen, Begriffe, die sich darbieten, ihrem Inhalte nach zu zergliedern und zur Deutlichkeit zu bringen, sondern die noch wenig versuchte Zergliederung des Verstandesvermögens selbst, um die Möglichkeit der Begriffe a priori dadurch zu erforschen, daß wir sie im Verstande allein, als ihrem Geburtsorte, aufsuchen und dessen reinen Gebrauch überhaupt analysieren; denn dieses ist das eigentümliche Geschäfte einer Transzendental-Philosophie; das übrige ist die logische Behandlung der Begriffe in der Philosophie überhaupt." Wo dies nicht geschieht, ist der Unterschied, um den es hier geht, negiert. Man denke z.B. an den Begriff: ,Logischer Empirismus'. 92 Zur Einheit des Jntelligiblen' und ,Empirischen' vgl. das früher gegebene Schema der .moralischen Handlung': Das empirisch Faßbare ist die Materie (der Intention) moralischer Realisierung. 93 Daß Kant vor allem in der Kritik der Urteilskraft das Ideologische Prinzip der sinnhaften ,organischen' Naturbetrachtung als dem Naturmechanismus vereinbar darstellt, das ändert nichts am eben Gesagten — auch nicht, wenn in gewisser Weise von einem ,Primat teleologischer Urteilskraft' über ,den Mechanismus' die Rede ist —, denn die teleologische Betrachtungsweise macht dem konstitutiven, .realen' Mechanismus der Natur als .regulative' .ideale' Position den Platz nicht streitig sondern ergänzt ihn; genauer: Die teleologische Betrachtungsweise stellt den Horizont des Mechanismus dar, in diesem Sinn weist sie ihm den Platz an und besitzt daher eine Art .Primat' (vgl. z.B. KU V/421f). Bezüglich dieses .idealen', .subjektiven' Horizonts ist — gerade im Zusammenhang mit der Frage nach dem Wesen der Dinge — folgendes, mehr .objektiv' klingende Zitat angebracht, um damit die innere Spannung dieses subjektiv-objektiven teleologischen Prinzips aufzuzeigen: Kant spricht in der Kritik der reinen Vernunft (am

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2 Problemhorizont

d.h. aus d e n s e l b e n V o r a u s s e t z u n g e n (und darin besteht ja ein guter Teil der Spannkraft seiner Philosophie), eröffnet er die Einsicht in die Grenzen theoretischer Erkenntnis, womit der „Platz" für praktische Vernunft bereitet ist. Dies bedeutet allerdings noch n i c h t einmal die p o s i t i v e Beh a u p t u n g ihrer M ö g l i c h k e i t . 9 4 Denn aus einer bloßen Feststellung der Möglichkeit etwas zu d e n k e n , läßt sich bei Kant ja nichts positives' erschließen;95 deshalb verbreiten alle Versuche, die Wirklichkeit moralischer Freiheit (und damit »praktischer Vernunft') aus ihrer (Denk-) Möglichkeit „herauszuvernünfteln", einen „dialektischen Schein".96 Ende der Transzendentalen Dialektik) von den Prinzipien der Vernunft^/«/»«/, „worunter die der Zwecke die vornehmste ist" (/>FA702/B730), und formuliert bezüglich des objektiven Moments dieser grundsätzlich ,subjektiv-apriorischen' Einheit: „Das regulative Prinzip verlangt, die systematische Einheit als Natureinheit, welche nicht bloß empirisch erkannt, sondern a priori, obzwar noch unbestimmt, vorausgesetzt wird, schlechterdings, mithin als aus dem Wesen der Dinge folgend, vorauszusetzen" (KrVA. 693/B 721), wobei diese Formulierung in genau gleicher Weise ernst zu nehmen ist wie der ,objektive' Aspekt der genannten Einheit (bezüglich ähnlicher Zitate vgl. Kap. 3.4). Diese subjektive .Objektivität' scheint mir — wenn dabei vom Wesen der Dinge gesprochen wird: besonders deutlich — eine grundsätzliche Schwachstelle [in anderer Sicht: eine gewisse .Durchlässigkeit'] des gesamten Kantischen Begriffszusammenhanges zu markieren; auch wenn die terminologische Ordnung selbst — vgl. hier: „ ... a priori, obzwar noch unbestimmt..." — keinen Anlaß zur Kritik bietet. 94 Vgl. den letzten, der „Auflösung der dritten Antinomie" gewidmeten Absatz (KrV A 557f/B 585f): „Man muß wohl bemerken: daß wir hiedurch nicht die Wirklichkeit der Freiheit ... haben dartun wollen ... Ferner haben wir auch gar nicht einmal die [,reale'; G.R.] Möglichkeit der Freiheit beweisen wollen; denn dieses wäre auch nicht gelungen, weil wir überhaupt von keinem Realgrunde und keiner Kausalität, aus bloßen Begriffen a priori, die Möglichkeit erkennen können. ... daß Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht -widerstreite, das war das einzige, was wir leisten konnten, und woran es uns auch einzig und allein gelegen war." — Zu der (hier nicht zitierten) Erklärung Kants, warum er nicht „die Wirklichkeit der Freiheit" habe „dartun wollen", da „dieses gar keine transzendentale Betrachtung ... gewesen sein würde" (KrV A 558/B 586), vgl. Anm. 47/Kap. 2. 95 Zur Unterscheidung von .logischer', .negativer', bloßer (Denk-)Möglichkeit und .realer', .positiver' Möglichkeit von Etwas vgl. z.B. KrVE 302f (Anm.). Ihr Boden ist die Kantische Unterscheidung der transzendental-logischen und der bloß formal-logischen Betrachtungsebene. 96 Dies gilt generell (vgl. z.B. KrV): „Also ist das bloß logische Kriterium der Wahrheit, nämlich die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zwar die conditio sine qua non, mithin die negative Bedingung aller Wahrheit: weiter aber kann die Logik nicht gehen" (A 59f/ B 84), — „Die allgemeine Logik ... ist eben darum der wenigstens negative Probier-

2.1 Skizze der Kantischen Philosophie

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Woher dann das » W i s s e n ' um die Wirklichkeit moralischer Freiheit? Es kommt nur aus ihrer Verwirklichung, aus der Bemühung moralischen Lebens bzw. aus der moralischen Anstrengung des jeweils — in dieser Hinsicht: nicht ersetzbaren — einzelnen Menschen.97 stein der Wahrheit" (A 60/B 84); — „Gleichwohl liegt so etwas Verleitendes in dem Besitze einer so scheinbaren Kunst, allen unseren Erkenntnissen die Form des Verstandes zu geben ... daß jene allgemeine Logik, die bloß ein Kanon zur Beurteilung ist, gleichsam wie ein Organen zur wirklichen Hervorbringung wenigstens zum Blendwerk von objektiven Behauptungen gebraucht, und mithin in der Tat dadurch gemißbraucht worden. Die allgemeine Logik nun, als vermeintes Organon, heißt Dialektik" (A 60 / 85); — „ ... so muß die Zumutung, sich derselben [d.i. .allgemeine Logik'; G.R.] als eines Werkzeugs (Organon) zu gebrauchen, um seine Kenntnisse, wenigstens dem Vorgeben nach, auszubreiten und zu erweitem, auf nichts als Geschwätzigkeit hinauslaufen, alles, was man will, mit einigem Schein zu behaupten, oder auch nach Belieben anzufechten. | Eine solche Unterweisung ist der Würde der Philosophie auf keine Weise gemäß" (A 61f/B 86);—vgl. auch KrV A 278ff/B 334ff. 97 Die Wirklichkeit praktischer Vernunft ist übrigens nicht anders als die der theoretischen Vernunft begrifflich zu fassen: indem nämlich die gesuchten Begriffe aus der jeweiligen Wirklichkeit heraus . e r f u n d e n ' werden. — Ich verwende hier , erfinden' in jener eigentümlichen Bedeutung einer Art Einheit von ,entdecken' und ,willkürlich erzeugen', wie sie z.B. Richard Wagner kennt (z.B. im Ring des Nibelungen und im Parsifal), und vermeide dadurch die Atmosphäre der Alternative von platonistischem und nominalistischem Denken [vgl. auch Peter Handke (Kindergeschichte, Suhrkamp, Frankfurt 1981, S. 83), der von einer „Verwandlung von Erfahrenem in die Erfindung" spricht, die „ ... dann auch die Freude der anderen ist"]. Vgl. dazu Kant selbst: „ ... Wollte man aber auch den, der im Besitze von VernunftWissenschaften (Mathematik und Philosophie) ist, einen Gelehrten nennen, obgleich dieses schon der Wortbedeutung (als die jederzeit nur dasjenige, was man durchaus gelehrt werden muß, und was man also nicht von selbst, durch Vernunft, e rfi n den kann, zur Gelehrsamkeit zählt) widerstreiten würde:..." (KpV V/138n); — vgl. dazu KrV B 27, wo es um „die Idee einer besondem Wissenschaft, die Kritik der reinen Vernunft heißen kann" (KrV A lOf/B 24), geht: „Noch weniger darf man hier eine Kritik der Bücher und Systeme der reinen Vernunft erwarten, sondern die des reinen Vemunftvermögens selbst. Nur allein, wenn diese zum Grunde liegt, hat man einen sicheren Probierstein, den philosophischen Gehalt alter und neuer Werke in diesem Fache zu schätzen; widrigenfalls beurteilt der unbefugte Geschichtsschreiber und Richter grundlose Behauptungen anderer, durch seine eigene, die eben so grundlos sind." — Vgl. auch den ersten Satz der Prolegomena (PMWIV/255): „Diese Prolegomena sind nicht zum Gebrauch für Lehrlinge, sondern für künftige Lehrer und sollen auch diesen nicht etwa dienen, um den Vortrag einer schon vorhandnen Wissenschaft anzuordnen, sondern um diese Wissenschaft selbst allererst zu e r finden." — In KrV A l Off/B 24 ff wird eine Befugnis zu begründetem Urteil angesprochen, die nicht aus ,Büchern und Systemen', also nicht aus vorgegebenen Begriffen, gezogen werden kann sondern nur aus der Wirklichkeit selbst, indem diese - mit Hegel zu reden - auf den Begriff gebracht wird. Anders ausgedrückt: Intellektuelles Be-

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2 Problemhorizont Nur vor diesem Hintergrund98 kann Kant (KpVV/99) „also einräumen, daß, wenn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkende äußere Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsterniß ausrechnen könnte und dennoch dabei behaupten, daß der Mensch frei sei."

wußtsein macht sich diese Wirklichkeit in der Form begrifllich-argumentativer Erzählung (d.i. , E r f i n d u n g ' ) zugänglich [Dazu z.B. Karl Jaspers: „Aus dem existentiellen Ursprung wird ein Denken des Ganzen, erzählend in der Welt der Chiffren und konstruierend in der Spekulation, ein metaphysisches System wie einen Mythus nehmen." (Philosophie Bd. 3 {Metaphysik}, S. 218)]. Jeder Begriff ist also nur bedingt, durch andere Begriffe zu stützen; letzten Endes bedarf er seines .Grundes' in der gelebten Wirklichkeit. Hier ist der Ort für die Unterscheidung von Begriffszusammenhängen, die bloße Denkspiele darstellen und daher unverbindlich und verantwortungs-los sind, und jenen Bemühungen um sinnvolle Rede, die .Wirklichkeit' ausdrückt. Vgl. auch GMSI V/397: „Um aber den Begriff eines an sich selbst hochzuschätzenden und ohne weitere Absicht guten Willens, so wie er schon dem natürlichen gesunden Verstande beiwohnt und nicht sowohl gelehrt als vielmehr nur aufgeklärt zu werden bedarf,... zu entwickeln: wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen ... ." — Auch diesem Zitat ist Ähnliches zu entnehmen: Kant erliegt nicht dem .idealistischen' Mißverständnis, etwas von ihm Produziertes den Menschen vorschreiben zu wollen, er spricht hier ausdrücklich von der Entwicklung eines Begriffs (von einem an sich guten Willen), dessen Inhalt (d.i. der an sich gute Wille) als v/irklich erfunden [(formal-)logisch gesehen: voraus-gesetzt] ist, weshalb er ja auch ,nur' der.4«/-klärung bedarf. Daß dieser Begriff (eines an sich guten Willens) wiederum eines Begriffs (im gegebenen Kontext den der .Pflicht') bedarf usw., dies spricht nicht gegen das eben Gesagte: In der Rede vom ,Begriffs-Zusammenhang' ist ja ausgedrückt, daß Begriffe zusammenhängen; das ,Gewichtl solcher Begriffszusammenhänge aber ist bestimmt dadurch, wieweit sie - und damit die einzelnen Begriffe - letzten Endes gegründet sind in der Wirklichkeit, ob also in ihnen Wirklichkeit in ihrer (möglichen) Fülle zu begrifflichem Ausdruck gelangt oder nur die .Wirklichkeit' abstrakter Denkspiele. 98 Alle jene Interpretationen der Kantischen Philosophie, die den Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Vernunft nur terminologisch aufnehmen, ihn aber nicht wirklich nachvollziehen, können daher Kant nur bis zur Position der „Auflösung der dritten Antinomie" folgen; und auch das nur anscheinend, d.h. unter vorübergehender Vernachlässigung ihrer Schwierigkeiten mit einer wesentlichen Voraussetzung dieser Position: der Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung. Weshalb dann Zitate wie KpVV/99 (vgl. im Text) oder das von mir als Voraussetzung bezeichnete ,Wissen1 um die Wirklichkeit moralischer Freiheit bzw. praktischer Vernunft für solche

2.1 Skizze der Kantischen Philosophie

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Diese r a t i o n a l e M ö g l i c h k e i t , strenge Naturnotwendigkeit zu denken „und dennoch dabei [zu] behaupten, daß der Mensch frei sei", bedarf einer grundlegenden ( D e n k - ) V o r a u s s e t z u n g , die wiederum zum Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand zurücklenkt: Es ist die Unterscheidung von Intelligiblem und Empirischem, von , an s i c h ' und , f ü r u n s ' bzw. von ,Ding an sich' und »Erscheinung'.

Kant-Interpretationen konsequentenveise nicht akzeptierbar sind. — Da aber , Konsequenz1 immer relativ ist auf ihre Voraussetzungen, hat das Anerkennen der Konsequenz einer Position keineswegs zur Folge, diese Position - .konsequenterweise' anerkennen zu müssen. Und das bedeutet hier und in allen ähnlichen Zusammenhängen, daß meine Rede vom ^Wissen' um die Wirklichkeit moralischer Freiheit zwar im Widerspruch zu anderen - in sich durchaus konsequenten - Kant-Interpretationen stehen und dennoch volle Berechtigung für sich beanspruchen kann [wobei ich für die ,Berechtigung' von Interpretationen eine gewisse Folgerichtigkeit zwar als notwendige nicht aber als hinreichende Bedingung erachte].

3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie Überblickt man die gesamte kritische Philosophie, so läßt sich ein v o r l ä u f i g e s Schema der verschiedenen Bedeutungen des Begriffes vom Ding an sich erstellen, dessen Orientierung am früher gegebenen Schema der Vernunftaspekte nicht allein durch die gleiche synoptische Ebene bedingt ist: bedeutet doch der Begriff des Dinges an sich einen, dem jeweiligen Erkenntnisstandard t h e o r e t i s c h e r Vernunft entsprechenden (,Grenz'-)Begriff, der „ P l a t z s c h a f f t " für die E r f ü l l u n g (und damit selbstverständlich erneute Wandlung) durch p r a k t i s c h e V e r nunfterkenntnis.1 Betrifft der Begriff des Dinges an sich in den beiden ersten Kritiken in seinen wesentlichen Bedeutungen grundsätzlich2 n i c h t Empirisch-Reales, so sind die ,subjektiv-apriorischen' Prinzipien der in der dritten Kritik untersuchten reflektierenden Urteilskraft als ,begrenzt' durch z w e i — relativ auf diese Urteilskraft an- s i ch-s ei ende — Sphären zu denken; da ist einmal das An-sich-sein („im empirischen Verstande") der Gegenstände unseres Erfahrungszusammenhanges und andererseits die intelligible Dimension moralischer Realität, in der die alles umgreifende religiöse Wirklichkeit involviert ist.3 1

Vgl. z.B. KrVB XXVI Anm.: „Um einem solchen Begriffe [d.i. ein Begriff, der „nur ein möglicher Gedanke ist"; G.R.] aber objektive Gültigkeit (reale Möglichkeit, denn die erstere war bloß die logische) beizulegen, dazu wird etwas mehr erfodert. Dieses Mehrere aber braucht eben nicht in theoretischen Erkenntnisquellen gesucht zu werden, es kann auch in praktischen liegen"; — vgl. auch KrVB IXf: „ ... ihre [d.i. Vernunft; G.R.] Erkenntnis kann auf zweierlei Art auf ihren Gegenstand bezogen werden, entweder diesen und seinen Begriff (der anderweitig gegeben werden muß) bloß zu bestimmen, oder ihn auch wirklich zu machen. Die erste ist theoretische, die andere praktische Erkenntnis der Vernunft." 2 Ausnahmen (d.i.: ,Ding an sich' als empirischer Gegenstand verstanden) z.B. KrV A 29/B 45: „Denn in diesem Falle gilt das, was ursprünglich selbst nur Erscheinung ist, z.B. eine Rose, im empirischen Verstande für ein Ding an sich selbst"; vgl. auch KrV A. 45/B 62f (von: „Wir unterscheiden sonst wohl..." bis: „... nichts, als Erscheinungen, zu tun haben"). 3 Eine Bemerkung zum anscheinenden Widerspruch der Rede vom Jnvolvierten Umgreifenden1: Für den hier angesprochenen Erkenntnisproz^? ist die religiöse Sphäre (vorerst) in der moralischen Dimension involviert; ist diese religiöse Sphäre aber ein-

3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

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Bezogen auf die jeweilige synthetisch-apriorische Vemunftstruktur [,Vernunft (0)'] kann die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung vorläufig so dargestellt werden, wie es die Übersicht auf der nächsten Seite zeigt. Diese v o r l ä u f i g e Ü b e r s i c h t 4 entspricht der Problementfaltung in den drei Kritiken. Vor einer näheren Betrachtung der einzelnen hier markierten Stufen sind mir zwei Bemerkungen wichtig: (1) Das P r o b l e m des Dinges an sich ist bezogen auf das transzendentale (bzw. transzendental-objektive) Verständnis dieses Begriffs [als Kontrast zum Begriff der transzendental-subjektiven Erscheinung] und nicht auf ein empirisches Verständnis, das ja dem Begriff des empirisch-objektiven Gegenstandes5 entspricht [im Kontrast zur empirisch-subjektiven ,Empfindung']; und (2): V e r s t a n d als Vermögen kategorialen Denkens stellt nur e i n e n Aspekt von »Vernunft (0)' dar; dennoch müssen a l l e Vernunftaspekte — im Interesse intellektueller Klärung — im V e r s t a n d e dargestellt, d.i. g e d a c h t werden (Philosophie als Begriffszusammenhang!). Daher kommt es, daß zum Beispiel auf der Ebene b e g r i f f - l o s e r Sinnlichkeit in ihrer intellektuellen Erörterung selbstverständlich n u r B e g r i f f e zu finden sind: die Begriffe von Sinnlichkeit, Rezeptivität, Empfindung, Materie, Anschauung (bzw. ihrer Formen: Raum6 und Zeit) etc. — mal,erkannt' (d.i. ent-wickelt aus dem Zentrum der Moralität), so ist damit auch ihre - alles umgreifende' - Wirklichkeit offenbar. 4 Bezugsebene ist .Vernunft (0)' in ihren Aspekten; vgl. dazu das Schema in Kap. 2.1.1. — ,2.2.1.1. ist in Klammer gesetzt, um den Pseudo-Gebrauch der theoretischen (dialektischen) Vernunft zu betonen; ,2.2.1.2.1' deshalb, weil in gewissem Sinn hier bloß analytische Einheit ausgedrückt ist; ,bloße Materie' deshalb, weil bezogen auf die von allem Verstand isolierte Sinnlichkeit (,2.2.2') genau genommen gar nicht von einem ,Ding an sich' gesprochen werden kann (vgl. Kap. 3.1). — Vgl. dazu die Übersicht in Kap. 3.6. 5 Der empirisch-objektive Gegenstand (.empirischer Realismus') ist zugleich transzendental-subjektive Erscheinung (,transzendentaler Idealismus'); vgl. Anm. 18/Kap. 3. 6 Daher kann Kant beispielsweise auch im Abschnitt Von dem Räume den § 2 in vollster Klarheit Metaphysische Erörterung dieses Begriffs (KrVB 37) nennen, anschließend seine Absicht erklären: „ ... wollen wir zuerst den B e g r i f f des Raumes erörtern" [KrV(A 23/)B 38], und am Ende dieses Paragraphen — nachdem er festgestellt hat: „1) Der Raum ist kein empirischer Begriff" (A 23/B 38) und „3) Der Raum ist kein diskursiver ... Begriff" [(A 24/)B 39] — sagen: „Also ist die ursprüngliche Vorstellung vom Räume Anschauung a priori, und nicht Begriff" (KrV B 40). — Was aber mit der hier eingenommenen Betrachtungsweise selbstverständlich erscheint, das ist es z.B. für Hans Vaihinger bezeichnenderweise nicht. Er kritisiert in seinem Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft Bd. 2, S. 155ff, .Begriff' sei im Zusammenhang mit .Raum' in der Überschrift von § 2 schlecht gewählt und irreführend etc.

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Ding an sich

Erscheinung

Empirischer Gegenstand u n d intelligible (moralische) Weltordnung [i.S. von ,2.1: Praktische Vernunft']

Schönes und Erhabenes (, . ) b z w . teleologische Struktur der empirischen (Gesamt-) Realität [i.S. von ,2.2.1.1.2: Regulative Vernunft'] (,1.2*)

Noumenon (in positiver Bedeutung) als Subjekt; bzw. intelligibles Ich als moralisches Subjekt; bzw. moralische Weltordnung (,offener Raum')

Schönheit [i.S. von ,1.1'] u n d Teleologie [i.S. von ,1.2' bzw. ,2.2.1.1.2'] als »subjektive4 , Anzeige' der moralischen Weltordnung in der Sinnenwelt

[2.2.1.1.1] Noumenon (in positiver Bedeutung) als Objekt [»übersinnliche Welt' i.S. kategorial-gegenständlicher »objektiver' Realität]

,Sinnenwelt' als objektiv vorhandene Totalität

Noumenon (in negativer Bedeutung) als Form- und Grenz-Begriff [bzw. „Transzendentaler Gegenstand als »Schema der Idee'"]; „leerer Raum"

,Sinnenwelt' als subjektive Erkenntnis-Totalität [bzw. als erkenntnisleitender »Entwurf']; »Vernunft-Einheit'

2.1

2.2.1.1.2

„Transzendentaler Gegenstand = X" als kategoriale Einheit bloßer Gegenständlichkeit

[2.2.1.2.1] 2.2.1.2.2

Noumenon (in negativer Bedeutung) als GrenzBegriff; („leerer Raum")

2.2.2

[»bloße Materie' (auch: transzendentale Materie')]

* Vgl. Anm. 4/Kap. 3.

Phaenomenon bzw. empirischer Gegenstand; »Verstandes-Einheit' Sinnlich strukturiertes Mannigfaltiges a priori bzw. ,substantia phaenomenon' (a posteriori)

3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

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„Der G e d a n k e des ,Dinges an sich'", schreibt Ernst Cassirer7, „muß als ein n o t w e n d i g e r Gedanke eingesehen werden können, wenn anders er überhaupt im System der kritischen Philosophie geduldet werden soll.8 | Muß auf diese Weise der Begriff des Dinges an sich in steter Korrelation mit der systematischen Gesamtheit der Erkenntnismittel erhalten werden, so tritt freilich eben in dieser Forderung die ganze Schwierigkeit seiner genauen und eindeutigen Fixierung hervor. Denn es ist für die Vernunftkritik charakteristisch, daß sie die Bedingungen, auf denen alle Erkenntnis beruht, nicht von Anfang an als ein fertiges Ganze vor uns hinstellt, sondern daß sie sie erst, in ihrem eigenen allmählichen Fortschritt, gewinnt und erarbeitet. Ihr neuer Begriff der Erkenntnis läßt sich daher auf keiner Stufe der Darlegung als ein völlig abgeschlossener aufweisen und herausheben, sondern er gelangt erst dann zur Klarheit, wenn man den Inbegriff aller logischen Einzelschritte ins Auge faßt. Den verschiedenen Etappen auf dem Wege zum kritischen Begriff der Objektivität aber muß notwendig eine ebenso verschiedenartige Formulierung des Begriffs des ,Ding an sich' entsprechen. Dieser Begriff will nicht mehr sein, als die G r e n z e unserer empirischen Erkenntnis, als der H o r i z o n t , der das Gesichtsfeld unserer Erfahrung umschließt. Er wird daher je nach diesem Gesichtsfeld selbst und je nach den Inhalten, die in ihm gegeben sind, einen verschiedenartigen Anblick gewähren müssen. Dadurch aber gewinnt das Problem jene eigentümlich verwickelte Gestalt, die den Streit der Auslegungen verständlich macht ... Würde es sich hier um die Bezeichnung eines Objekts handeln, das außerhalb jeglicher Beziehung zur Erkenntnis und von ihr gänzlich unberührt bliebe, so wäre eine derartige Wandlung freilich unbegreiflich. Betrachtet man dagegen den Begriff des , Dinges an sich' von Anfang an im Zusammenhang mit seiner logischen und erkenntniskritischen F u n k t i o n , so ist klar, daß diese Funktion je nach dem Standpunkt, den das Wissen selbst in seinem positiven Aufbau erreicht hat, in verschiedenem Lichte erscheinen kann. Die gesamte kritische Arbeit, die zwischen der Ästhetik und Dialektik liegt, kann nicht ohne allen Einfluß auf denjenigen Begriff bleiben, der nur dazu bestimmt ist, .allen Umfang und Zusammenhang unserer möglichen Wahrnehmungen' zu bezeichnen ... Der Begriff des .Dinges an sich' bedeutet gleichsam die kritische Demarkationslinie des Wissens, die indessen f ü r das Wissen nicht von Anfang 7

Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit,Bd. 2, S. 741-743. 8 Dies kann als Entgegnung z.B. auf F. H. Jacobi gelesen werden, von dem ja der vielzitierte Ausspruch stammt, ohne das Ding an sich könne er nicht in die Kantische Philosophie hinein kommen, mit ihm aber könne er nicht drinnen bleiben [Da Jacobi im Kontext seines Satzes unter dem Ding an sich jedoch - fälschlicherweise - ein statisches Faktum versteht, ist seine Position in ihrer Konsequenz mit der - inhaltlich ganz anders gearteten - Sicht von z.B. Ernst Cassirer durchaus vergleichbar].

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

an feststeht, sondern die es sich selbst erst, im Fortgang der Analyse, bezeichnet. Diese Linie kann zunächst als fließend, der Begriff selbst somit als mehrdeutig erscheinen: wenn sich nur aus dem Ganzen seiner möglichen Bedeutungen, nach Abschluß der Untersuchung, eine klare Einheit gewinnen läßt; wenn diese Bedeutungen, mit anderen Worten, nicht willkürlich nebeneinander stehen, sondern nach einer bestimmten Regel auseinander hervorgehen. Was wir zuletzt suchen, ist eine nach sicheren Grundsätzen vollzogene G r e n z b e s t i m m u n g der V e r n u n f t ..." 9

3.1 ,Bloße Materie' oder: Der Begriff des Dinges an sich bezogen auf die bloße, von allem Verstand isolierte, reine Sinnlichkeit Wenn man bedenkt, daß Kant nicht versucht, empirische Realität aus irgendwelchen ,Urstoffen' ,aufgebaut'10 zu denken, sondern — sozusagen in der Gegenrichtung — die verschiedenen Momente des von ihm an-genommenen (im Denken: voraus-gesetzten) Empirisch-Realen durch p h i l o s o p h i s c h e (d.i. bei Kant: transzendental-logische) A n a l y s e zu erforschen, so müßte von vornherein klar sein, daß die Ergebnisse dieser philosophischen Analyse, die ,Momente' des Empirisch-Realen, nicht selbst wieder empirisch faßbare Gegenstände sein können.11 — Damit ist die Vorgangsweise Kants bestimmt: „In der transzendentalen Ästhetik12 also werden wir zuerst die Sinnlichkeit13 i s o l i e r e n , dadurch, daß wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, damit nichts als empirische Anschauung14 übrig bleibe. Zweitens werden wir von dieser noch alles, was zur 9

Bemerkt werden muß, daß dieses Zitat nur den theoretischen Vemunftaspekt betrifft; zum Problem solch eingeschränkter Betrachtungsweise vgl. Kap. 2.1.1 (Anfang). 10 Auch wenn durch die Rede von konstituierenden Prinzipien leicht ein solcher Anschein entsteht; vgl. Anm. 64/Kap. 2 und Anm. 90/Kap. 2. 11 Nämlich als .Momente' [vgl. dazu auch Abb. l (vor Fußnotenreferenz 27/Kap. 3.1)]. 12 „Eine Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlichkeit a priori nenne ich die transzendentale Ästhetik" (KrVA 21/B 35). 13 „Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit" (KrVA 19/B 33). 14 „Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen" (KrV A 19/B 33). „Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt empirisch" (KrVA. 20/B 34).

3.1 ,Bloße Materie'

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Empfindung15 gehört, abtrennen, damit nichts als reine16 Anschauung und die bloße Form der Erscheinung17 übrig bleibe, welches das einzige ist, das die Sinnlichkeit a priori liefern kann. Bei dieser Untersuchung wird sich finden, daß es zwei reine Formen sinnlicher Anschauung, als Prinzipien der Erkenntnis a priori gebe, nämlich Raum und Zeit..." (KrV A 22/B 36). Zu einem der kritischen Philosophie adäquaten Verständnis dieses Satzes ist die Beachtung des Überganges von der empirisch-subjektiven Ebene der (durch einen Gegenstand bewirkten) E m p f i n d u n g zur transzendental-subjektiven Ebene der b l o ß e n F o r m (hier: der Form der , E r s c h e i n u n g ' ) unumgänglich: „Zweitens werden wir von dieser noch alles, was zur Empfindung gehört, abtrennen, damit nichts als reine Anschauung und die b l o ß e F o r m der E r s c h e i n u n g übrig bleibe". Schon der zweite Absatz von § l der Transzendentalen Ästhetik enthält in gleich unauffälliger Weise den für ein adäquates Textverständnis ebenso bedeutsamen Übergang von der (empirisch-subjektiven) Empfindung zu ihrem (empirisch-objektiven) Gegenstand: „Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung. Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt e m p i r i s c h " ; und jetzt: „Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt E r s c h e i n u n g " (KrVA 19f/B 34).18 15

„Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung" (KrV 19f/B 34). 16 „Ich nenne alle Vorstellungen rein (im transzendentalen Verstande), in denen nichts, was zur Empfindung gehört, angetroffen wird" (KrV A 20/B 34). 17 „Der unbestimmte Gegenstand [d.i.: der kategorial nicht bestimmte .Gegenstand' — ich habe an früherer Stelle angemerkt, daß dies kein Gegenstand im vollen Wortsinn sein kann —; die Rede ist hier bezogen auf die, von allem Verstand abstrahierte, bloße Sinnlichkeit; G.R.] einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung. \ In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung korrespondiert, die Materie derselben, dasjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, nenne ich die Form der Erscheinung" [£rF(A20/)B34]. 18 Die Beziehung zwischen der empirisch-subjektiven Empfindung, ihrem empirisch-objektiven Gegenstand und der transzendental-subjektiven Form der Erscheinung — die als reine Form sinnlicher Erscheinung mit der formalen Seite des empirisch-objektiven Gegenstandes der Empfindung identisch ist (bzw. mit der der »Materie' empirisch-subjektiver Empfindung entsprechenden ,Form' identisch sein kann) —, diese Beziehung ist in einer vereinfachten, für den gegenwärtigen Kontext aber genügenden Weise so darstellbar:

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Bezogen auf die e m p i r i s c h e Betrachtungsebene wird von der Empfindung gesprochen als der „ W i r k u n g eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfahigkeit, so fern wir von demselben äff i z i e r t werden"; bezogen auf die t r a n s z e n d e n t a l e Ebene der (bloßen Form der) E r s c h e i n u n g geht es nicht um ,Affektion' durch einen Gegenstand sondern — seiner ,Form' nach — um diesen Gegenstand selbst.19 e

tr

subjektiv

objektiv

empirische Idealität; , im empirischen Bewußtsein'; Empfindung

empirische Realität; empirisches , An-sich'; , Gegenstand' der Empfindung subjektiv transzendentale Idealität; , im transzendentalen Bewußtsein'; Phaenomenon (, für uns')

objektiv transzendentale Realität; transzendentales , An-sich'; P r o b l e m desNoumenon (Ding an sich )

,e' bzw. ,tr' = ,empirische' bzw. ,/ranszendentale' Bezugs- (bzw. Betrachtungs-) Ebene. — In diesem Schema kommen wesentliche Unterscheidungen nicht zur Darstellung: (l) Sinnlichkeit als ,bloße Sinnlichkeit' (isoliert von allem Verstand) bzw. als ,Sinnenwelt' (vereint mit dem Verstand); (2) die subjektiven transzendentalen Prinzipien als objektiv-gültige Prinzipien [d.s. die reinen Formen der Sinnlichkeit: Raum und Zeit, und die reinen Formen der Verstandesbegriffe: Kategorien; - und zwar sowohl hinsichtlich der , subjektiven' Erkenntnisseite als auch hinsichtlich der ,objektiven' Gegenstandsseite der Erkenntnis] bzw. als subjektiv-gültige Prinzipien [d.s. die reinen Prinzipien der reflektierenden - ästhetischen bzw. Ideologischen Urteilskraft]; (3) die verschiedenen Aspekte der Vernunft [vor allem die dadurch bedingte faktische Einschränkung auf den theoretischen Vernunftgebrauch; vgl. dazu Kap. 2.1.1] und damit zusammenhängend die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs ,Ding an sich'; (4) die ,alte' und die ,neue' Bedeutung von ^transzendental^ [vgl. Anm. 33 (letztes Drittel)/Kap. 3.1]. — Dagegen ist diesem Schema sehr anschaulich unter anderem die Entsprechung von , empirischer Realität' und [ » t h e o r e t i s c h e r ' ; vgl. (3)] , transzendentaler Idealität' zu entnehmen. 19 Es gibt übrigens in der Transzendentalen Ästhetik keine einzige Textstelle, in der die Rede vom ,Affizieren' nicht empirisch zu verstehen ist [mit Ausnahme der beiden Stellen KrV A 44/B 61 und KrV B 67f können sie sinnvoller Weise gar nicht anders verstanden werden]; — vgl. KrV A 19/B 33, A 19f/B 34, B 41, A26/B42f, A44/ B 61 [Hier lese ich: „ ... bloß die Erscheinung von etwas, und die Art, wie wir dadurch - nicht: .durch etwas' sondern: .durch die Erscheinung von etwas'; G.R. affiziert werden ... "], B 67f, B 68f, B 69, B 71 f Wenn Erich Adickes (Kant und das Ding an sich) beharrlich behauptet, Kant lehre eine Affektion durch Dinge an sich, so geht es dabei nicht um die Frage, ob Kantische

3.1 .Bloße Materie'

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(1) „In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung korrespondiert, die M a t e r i e derselben, dasjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, nenne ich die F o r m der Erscheinung" [KrV (A 20/)B 34].

Jetzt wird es schwierig: (2) „Da das, worinnen sich die E m p f i n d u n g e n allein ordnen, und in gewisse Form gestellet werden können, nicht selbst wiederum Empfindung sein kann, so ist uns zwar die Materie aller Erscheinung nur a p o s t e r i o r i gegeben,20 die Form derselben aber muß zu ihnen insgesamt im

20

Formulierungen zu finden sind, die eindeutig von einer AfFektion durch Dinge an sich sprechen — die Antwort ist: Ja, solche Sätze gibt es auch [allerdings würde ich z.B. KrV E 71 f nicht ciazurechnen, wie Adickes das tut (vgl. sein Buch S. 29; auch S. 35 Mitte und Anm.)] —, sondern darum, daß (beispielsweise) Adickes ,Affektion' von vornherein nur in kategorial-gegenständlicher Weise zu verstehen scheint und das auch in Beziehung auf,Dinge an sich'. Ein Blick auf die Übersicht der verschiedenen Bedeutungen von ,Ding an sich' und .Erscheinung' (am Anfang von Kap. 3) zeigt sofort, daß kategorial-gegenständliche Objektivität nur auf zwei JVelten1 bezogen sein kann [wobei aber eine dieser .Welten' von Kant ausdrücklich zu falschem Schein erklärt wurde]: auf die empirische Realität (.Sinnenwelt') und auf die ,Hinter-Welt' dialektischer Vernunft. Daher sind auch Textstellen wie z.B. GMSI V/451 nicht zugunsten von Adickes' Auffassung anzuführen — es sei denn, man teilte dessen, der Kantischen Philosophie grundsätzlich inadäquates, empiristisches Vorurteil. Denn: (Sprach-)Formulierungen sind ja nur scheinbar [unter entsprechenden Vor-Urteilen bzw. Voraus-Setzungen] .selbstverständlich'; der Versuch, sie adäquat aufzufassen, geht über die Auf-Klärung der entsprechenden Vorurteile. Daher nützen auch eindeutige Kant-Zitate, in denen von .aflizierenden Dingen an sich' die Rede ist, nichts, wenn sie nicht - und zwar dem Kantischen (und nicht einem von außen angehaltenen) Begriffszusammenhang entsprechend - interpretiert werden. — Man denke z.B. an Spinozas .Ethik'. Da ist von „Affektionen der Substanz" (z.B. I/Def. 5) und von Affektionen der endlichen Modi (z.B. II/LS 17, Folgesatz) die Rede (in analoger Weise übrigens von .Wirkung'). — Wer nun meint: „.Affektion' ist .Affektion'", jeder Versuch aber, Spinozas Philosophie zu .verstehen', sei dunkle .Immunisierungsabsicht' der doch so klar einander widerstreitenden Sätze des Autors, der sollte im Interesse jeglicher Klarheit Spinozas Buch gleich wieder schließen: Die Gewißheit wäre ihm sicher, überall in diesem Buch Widersprüche finden zu können; beinahe .nach Belieben' und doch .konsequenterweise': als Folge eines fundamentalen Nicht-Verstehens bzw. auch Nicht-Verstehen-Wollens. — Vgl. in diesem Zusammenhang z.B. Hans Vaihinger, Commentar Bd. 2, S. 47: „ ... sondern man constatirt... eben einfach einen Widerspruch ... in den freilich nicht bloss Kant allein verfallen muss, sondern Jeder, der seine Wege wandelt..."; vgl. Anm. 42/Kap. 3.1. Später (Ä>FA277/B 333) wird von Materie in diesem Sinn als ,substantia phaenomenon' gesprochen.

56

3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie Gemüte a priori bereit liegen, und dahero abgesondert von aller Empfindung können betrachtet werden" (KrV A 20/B 34).

Auch im folgenden ist — a n s c h e i n e n d identisch — von ,Empfindung' und ,Erscheinung' die Rede: (3) „Ich nenne alle Vorstellungen rein (im transzendentalen Verstande), in denen nichts, was zur Empfindung gehört, angetroffen wird. Demnach wird die reine Form sinnlicher Anschauungen überhaupt im Gemüte a priori angetroffen werden, worinnen alles Mannigfaltige der E r s c h e i n u n gen in gewissen Verhältnissen angeschauet wird. Diese reine Form der Sinnlichkeit wird auch selber r e i n e A n s c h a u u n g heißen ... die a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder E m p f i n d u n g 2 1 , als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüte stattfindet" (£rFA20f/B34f). 21

Hier lese ich: „der Sinne oder der Empfindung", sonst würde man .Empfindung' als Gegenstand der Sinne verstehen, der aber ist ja .Erscheinung'; -wenn Empfindung und der Gegenstand der empirischen Anschauung, auf den sie sich „durch Empfindung bezieht" (KrV A 20/B 34) nicht mehr unterscheidbar sind, wenn also Empfindung und Erscheinung miteinander identifiziert werden, dann ist jene erkenntnistheoretische Position, die Kant ^empirischen Realismus' [d.i.: die empirischen Gegenstände existieren unabhängig von dem sie möglicherweise wahrnehmenden empirischen Subjekt] und zugleich ^transzendentalen Idealismus'' [d.i.: was empirisch-real existiert, das ist transzendental(-,erkenntnistheoretisch') betrachtet Erscheinung jur uns, nichts ,an sich Bestehendes'] nennt, in ihr Gegenteil verdreht: Es sieht dann so aus, als ob Kant einen empirischen Idealismus [d.h. die empirischen Gegenstände sind real nur als Empfindungskomplexe; z.B. ,Phänomenalismus'] und ,dazu' einen transzendentalen Realismus [daß nämlich Dinge an sich - in theoretisch-rationalem Sinn - existieren] lehre. Auf dieser Grundlage ist der Einsatz z.B. von Erich Adickes zugunsten ,affizierender Dinge an sich' bei Kant unter systematischem Aspekt zu sehen. Die Linie von Kant zum zeitgenössischen Empirismus und Positivismus ist bedingt durch die eben genannte Perversion seiner Transzendental-Philosophie und der anschließenden Streichung des ,transzendentalen Realismus' [und zwar dem Anschein nach gegen Kant, wo doch gerade Kant den falschen Schein dialektischer Vernunft in klarster Weise dargestellt hat]. Übrig bleibt eine auf .Technik' reduzierte Rationalität, der alles originär Menschliche unzugänglich und daher bloß ,Emotionales', als dieses aber grundsätzlich manipulierbarer Gegenstand ist. Nicht die .Entzauberung der Welt' in unserem Jahrhundert fuhrt hierher - unter anderem hat gerade Kant diese .Entzauberung' im Geiste neuzeitlicher Wissenschaftlichkeit geleistet -, sondern eine (relativ auf die .Höhe' von Kants Philosophie) nur ,vor-kantisch' zu nennende Denkungsart. Daher auch die Richtung dieser im Interesse menschlichen Denkens stehenden Schrift: Rückgewinnung der Rationalität des Irrationalisierten auf der Grundlage der Kantischen Denkleistung; Überwindung der aller Rationalität eigenen Gefahr ideologischer

3.1 .Bloße Materie'

57

Ich verstehe diese Sätze so: (1) Was der Empfindung in der Erscheinung ,korrespondiert' (d.h.,entspricht'; keine Identität!) ist die M a t e r i e der Erscheinung. Dies bedeutet22, daß sich empirische Anschauung durch ihre Materie (d.i. Empfindung) auf die Materie ihres Gegenstandes (d.i. das Mannigfaltige der Erscheinung) bezieht. Dieser Bezug ist ebenso empirisch (a posteriori) wie seine Entsprechung, deren Wirkung ja ,Empfindung' heißt.23 Jetzt verliert Satz (2) das Befremdliche, nach Satz (1), der vom (objektiven) Mannigfaltigen der E r s c h e i n u n g spricht, mit der Rede von E m p f i n d u n g e n zu beginnen, sie von ihrer Form zu unterscheiden, mit einem „so ist uns zwar" von der „Materie aller Erscheinung" zu reden und wieder bei der reinen Form, „abgesondert von aller Empfindung", zu enden. Denn: Die Materie der Erscheinung kann uns nur durch die Empfindung (als „Wirkung" der „Affektion" unserer Sinne) a posteriori gegeben werden [Satz (l)].24 Aber, so sagt Satz (2) aus, nur die Materie der Erscheinung ist uns — bedingt durch die ausschließlich empirischen Empfindungen — a posteriori gegeben, denn die F o r m , „ w o r i n n e n sich die Empfindungen ... ordnen", kann „nicht selbst wiederum Empfindung" - und das heißt hier: aposteriorisch - sein, a l s o liegt sie „im Gemüte a p r i o r i bereit" und kann daher „abgesondert von aller Empfindung ... betrachtet werden". Da aber die Gegenstände unserer Sinne - transzendental gesprochen n i c h t Objekte an s i c h sondern Objekte f ü r u n s , nämlich für unsere Sinne, sind, Sinnengegenstände also, E r s c h e i n u n g e n : 2 5 deshalb sind Verhärtung und Öffnung [auch - und in dieser Schrift: gerade - intellektuell] der menschlichen Dimension. 22 Nach KrV A 20/B 34: „Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt empirisch." 23 Nach KrV A 19 / 34: „Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung." 24 Empfindung (als psychisch-physiologischer Zustand unseres Organismus) entspricht bzw. .korrespondiert' ihrem Gegenstand (Erscheinung), ist aber nicht mit ihm zu verwechseln, da er ja (wenn Objekt des äußeren Sinnes) .Körper' ist, dessen Mannigfaltiges gerade nicht durch psychische Faktoren bestimmt werden kann [Handelt es sich um ein Objekt des inneren Sinnes - z.B. eine .Empfindung' -, so gilt grundsätzlich das gleiche; die sprachlich-befriedigende Darstellung fällt allerdings schwerer]; vgl. auch Anm. 50 (2. Hälfte)/Kap. 3.1. 25 Vgl. z.B. KrV A 34f/B 51: „Sie [die Zeit; G.R.] ist nur von objektiver Gültigkeit in Ansehung der Erscheinungen, weil dieses schon Dinge sind, die wir als Gegenstände unsrer Sinne annehmen; aber sie ist nicht mehr objektiv, wenn man von der Sinnlichkeit unsrer Anschauung, mithin derjenigen Vorstellungsart, welche uns eigentümlich ist, abstrahiert, und von Dingen überhaupt redet." — Vgl. auch KrV A 48/B 66:

58

3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

die Form der Ordnung des Mannigfaltigen der Erscheinung und die Form der Ordnung des Mannigfaltigen der Anschauung i d e n t i s c h ; es ist die F o r m der r e i n e n (also von allem Aposteriorischen' freien) s i n n lichenAnschauung. Deshalb kann Zitat (3), nachdem der Begriff der reinen Vorstellung lediglich in bezug auf den Begriff der E m p f i n d u n g bestimmt wurde, mit einem „ d e m n a c h " fortsetzen: Daß nämlich „demnach ... die reine Form sinnlicher Anschauungen überhaupt im Gemüte a priori" anzutreffen sei, „worin alles Mannigfaltige der Erscheinungen in gewissen Verhältnissen angeschauet wird".26 „Wäre also nicht der Raum (und so auch die Zeit) eine bloße Form eurer Anschauung, welche Bedingungen a priori enthält, unter denen allein Dingeßr euch äußere Gegenstände sein können, die ohne diese [G.R.: transzendental-]subjektive Bedingungen an sich nichts sind: so könntet ihr a priori ganz und gar nichts Über äußere Objekte synthetisch ausmachen." 26 Zu Sinnlichkeit als Identität der Bedingung der Möglichkeit empirischer Anschauungen und der Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände dieser Anschauung vgl. z.B.: KrV A 24/B 38f: „Der Raum ist eine notwendige Vorstellung, a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt... Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen ... "; — KrV A26/B 42: „Der Raum ist nichts anders, als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d.i. die [G.R.: transzendental-]5MO/'eJt//ve Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist." Eine Bemerkung zum Ausdruck ^subjektive Bedingung'' (vgl. dazu Anm. 46/Kap. 3.1; vgl. auch Anm. 18/Kap. 3.1): Das Subjektive1 dieser Bedingung bedeutet hier (im Gegensatz zu bloß ,empirisch-subjektiver' Gültigkeit) empirische Objektivität, deshalb, weil dieses , Subjektive' - ,(empirisch-)objektiv' - für die Gegenstände (Phaenomena) selbst gilt und nicht nur - ,(empirisch-)subjektiv' - für die ihnen entsprechenden Empfindungen; — zugleich aber transzendentale Subjektivität, weil es sich bei dieser »Bedingung' um Prinzipien des (transzendental gesprochen;) Erkenntnis-Subjekts bzw. der ,Vemunfl', handelt (vgl. das .Schema der Vernunft', Kap. 2.1.1), die nicht für .Dinge an sich selbst' [also insofern eben nicht,objektiv' sondern nur .subjektiv', aber gerade deshalb für Phaenomena (in diesem Sinne: .objektiv')] gelten. — Gleiches ist zu den unten zitierten Stellen (KrV A 33/B 49, A 35f/B 51f und A 48/B 65) zu sagen. A>FA33/B49: „ ... die Zeit [ist] nichts als die subjektive Bedingung ... unter der alle Anschauungen in uns stattfinden können"; — KrV A 34/B 50f: „Die Zeit ist die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt. Der Raum, als die reine Form aller äußeren Anschauung ist als Bedingung a priori bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt. Dagegen, weil alle Vorstellungen, sie mögen nun äußere Dinge zum Gegenstande haben, oder nicht, doch an sich selbst, als Bestimmungen des Gemüts, zum innem Zustande gehören; dieser innere Zustand aber unter der formalen Bedingung der innern Anschauung, mithin der Zeit gehöret: so ist die Zeit eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt, und zwar die unmittelbare

3.1 ,Bloße Materie'

59

„Wir haben oben", schreibt Kant rückblickend in der Transzendentalen Analytik (KrV A 89/B 12If), „an den Begriffen des Raumes und der Zeit mit leichter Mühe begreiflich machen können, wie diese als Erkenntnisse a priori sich gleichwohl auf Gegenstände notwendig beziehen müssen, und eine synthetische Erkenntnis derselben, unabhängig von aller Erfahrung, möglich macheten. Denn da nur vermittelst solcher reinen Formen der Sinnlichkeit uns ein Gegenstand erscheinen, d.i. ein Objekt der empirischen Anschauung sein kann, so sind Raum und Zeit reine Anschauungen, welche die B e d i n g u n g der Möglichkeit der G e g e n s t ä n d e als E r s c h e i n u n g e n a priori enthalten, und die Synthesis in denselben hat o b j e k t i v e G ü l t i g k e i t . " — Und wenige Seiten weiter heißt es (KrV A 92f/B 124f): „Es sind nur zwei Fälle möglich, unter denen synthetische Vorstellung und ihre Gegenstände zusammentreffen, sich auf einander notwendiger Weise beziehen, und gleichsam einander begegnen können. Entweder wenn der Gegenstand die Vorstellung, oder diese den Gegenstand allein möglich macht. Ist das erstere, so ist diese Beziehung nur empirisch, und die Vorstellung ist niemals a priori möglich. Und dies ist der Fall mit Erscheinung, in Ansehung dessen, was an ihnen zur Empfindung gehört. Ist aber das zweite, weil Vorstellung an sich selbst (denn von dessen [Akad.-Ausg.: „deren"] Kausalität, vermittelst des Willens, ist hier gar nicht die Rede) ihren Gegenstand dem D a s e i n nach n i c h t hervorbringt, so ist doch die Vorstellung in Ansehung des Gegenstandes alsdenn a p r i o r i b e s t i m m e n d , wenn durch sie allein es möglich ist, e t w a s als e i n e n G e g e n s t a n d zu erkennen. Es sind aber zwei Bedingungen, unter denen allein die Erkenntnis eines Gegenstandes möglich ist, erstlich A n s c h a u u n g , dadurch derselbe, aber nur als Bedingung der inneren (unserer Seelen) und eben dadurch mittelbar auch der äußern Erscheinungen. Wenn ich a priori sagen kann: alle äußere Erscheinungen sind im Räume, und nach den Verhältnissen des Raumes a priori bestimmt, so kann ich aus dem Prinzip des innern Sinnes ganz allgemein sagen: alle Erscheinungen überhaupt, d.i. alle Gegenstände der Sinne, sind in der Zeit, und stehen notwendiger Weise in Verhältnissen der Zeit"; — KrV A 35f/B 51f: „Die Zeit ist also lediglich eine subjektive Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung (welche jederzeit sinnlich ist, d.i. so fern wir von Gegenständen qffiziert werden), und an sich, außer dem Subjekte, nichts. Nichts desto weniger ist sie in Ansehung aller Erscheinungen, mithin auch aller Dinge, die uns in der Erfahrung vorkommen können, notwendiger Weise objektiv ... \ Unsere Behauptungen lehren demnach empirische Realität der Zeit, d.i. objektive Gültigkeit in Ansehung aller Gegenstände, die jemals unsern Sinnen gegeben werden mögen. Und ... transzendentale Idealität der Zeit, nach welcher sie, wenn man von den subjektiven Bedingungen der sinnlichen Anschauung abstrahiert, gar nichts ist"; — KrV A 48/B 65: „Läge nun in euch nicht ein Vermögen, a priori anzuschauen; -wäre diese subjektive Bedingung der Form nach nicht zugleich die allgemeine Bedingung a priori, unter der allein das Objekt dieser (äußeren) Anschauung selbst möglich ist..."

60

3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Erscheinung, gegeben wird; zweitens B e g r i ff, dadurch ein Gegenstand gedacht wird, der dieser Anschauung entspricht. Es ist aber aus dem obigen klar, daß die erste Bedingung, nämlich die, unter der allein Gegenstände angeschaut werden können, in der Tat den Objekten der Form nach a priori im Gemüt zum Grunde liegen. Mit dieser formalen Bedingung der Sinnlichkeit stimmen also alle Erscheinungen notwendig überein, weil sie nur durch dieselbe erscheinen, d.i. empirisch angeschauet und gegeben werden können." Die graphische Darstellung veranschaulicht das bisher erreichte Verständnis der Transzendentalen Ästhetik (§1):

.Subjekt' EMPIRISCHE ERKENNTNIS Form

Materie

kategoriale Verstandes-Eüuieil

(D

sinnlich gegebenes l Mannigfaltiges .

EMPIRISCHER GEGENSTAND (.Phaenomenon*) Materie

l kategoriale ' Verstandes-Einhe'H Verstandes

sinnlich Faßbares

X EMPIRISCHE SINNLICHE ANSCHAUUNG Form Materie reine sinnliche sinnlich Anschauung Mannigfaltiges der Empfindung (a priori) (a posteriori)

.ERSCHEINUNG* —.._

'

R e i n e

b

1

2

)

Form Struktur des sinnlich Faßbaren * (a priori) ._

Materie sinnlich Mannigfaltiges der Erscheinung (a posteriori)

''

X

(2)

(1) (2) I II

l l l Form

Form der

x

sinnlichen Ansch a u u n g [(Raum und) Zeit] a priori

.Isolieren* der Sinnlichkeit vom Verstand .Abtrennen* der sinnlichen Materie Ebene der empirischen Betrachtungsweise Ebene der transzendentalen Betrachtungsweise

!) Empirische ,Affektion' (durch den .Gegenstand* der empirischen Anschauung) 2) .Beziehung* der empirischen Anschauungauf ihren .Gegenstand* 3) .Korrespondenz* von .Empfindung* und .Erscheinung'; vgi. KrV A 19f/B 34

Die strichlierten Kästchen bedeuten die empirisch-reale Erkenntnis bzw. deren empirisch-realen Gegenstand. Im darzustellenden Kontext geht es aber nur um den - analytisch gewonnenen - sinnlichen Aspekt dieser empirisch-realen Einheiten. Dieser Aspekt (hier z.B.: .empirische sinnliche Anschauung') ist als Aspekt von Empirisch-Realem selbst nicht empirisch-real, auch wenn er - schematisch-abstrakt - hier auf Stufe I in der Weise empirischer Subjekt-Objekt-Beziehung betrachtet wird; — es sei denn, er würde - in der .Introspektion* - selbst zum empirisch-(d.i. hier: psychologisch-)realen Objekt gemacht; er wäre dann , Phaenomenon'.

[Abb. 1]

3.1 ,Bloße Materie'

61

Jetzt ist die Zeit, nach dem , D i n g an s i c h ' und seinem Verhältnis zur Sinnlichkeit zu fragen: Bisher wurde es nur erwähnt, in der graphischen Darstellung ist es gar nicht zu sehen. Meine Antwort bezogen auf die Stufe sinnlicher Anschauung ist diese: Die D i m e n s i o n von Sinnlichkeit als R e z e p t i v i t ä t 2 7 ist klar bestimmt: Sinnlichkeit kann ihre Gegenstände nicht erzeugen,28 ihr werden »Gegenstände' gegeben. Und jetzt ist die Unterscheidung der empirischen und der transzendentalen Ebene der Betrachtung wichtig: Auf e m p i r i s c h e r Ebene werden ihr — der empirischen Anschauung — Gegenstände , außen'29 gegeben, und zwar m a t e r i e l l , ihrem aposteriorischen ,Dasein' nach; empirische Gegenstände ,erregen' unsere Sinne [vgl.: , Sinnes e i nd r u c k ' , , Sinnes d a t u m ' ] und rufen Empfindungen hervor, kurz: Empirische Gegenstände affizieren unsere Sinneisorgane). 27

Die Rede von der ,Einbildungskraft" [als einerseits ,spontan', produktiv', andererseits als der .rezeptiven' Sinnlichkeit zuzurechnen] steht hiemit nicht im Widerspruch; denn: „Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen. Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die Einbildungskraft ... zur Sinnlichkeit; sofern aber doch ihre Synthesis eine Ausübung der Spontaneität ist, welche bestimmend, und nicht, wie der Sinn, bloß bestimmbar ist" (KrV B 151f), insofern ist ihre „transzendentale Synthesis ... eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit" (KrV B 152); „So fern die Einbildungskraft nun Spontaneität ist, nenne ich sie auch bisweilen die produktive Einbildungskraft" (KrV B 152). Spontane, ^produktive Einbildungskraft' ist also dem Verstand — vgl. auch KrV B 153: „Der Verstand ... übt, unter der Benennung einer transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft ..." —, passive, , reproduktive Einbildungskraft' (KrV B 152) der (empirischen) Sinnlichkeit zuzuzählen. Hermann Cohen schreibt in seinem Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft (S. 59) hinsichtlich dieses § 24 der Transzendentalen Deduktion (Auflage B): „Es ist die Unterscheidung zwischen Begriff" und Anschauung allein, welche der Isolierung entgegen den Gedanken der .Verbindung' [von Sinnlichkeit und Verstand; G.R.] erweckt, und wie wir sehen werden, stets von neuem wieder hervortreten läßt, und zwar in der sachlichen Ergiebigkeit, daß die Verbindung, die als Problem fortwährend sich erneuert, mit immer neuen Mitteln zu neuen Lösungen gebracht werde. In der Synthesis selbst liegt schon die Verbindung. Nicht genug damit, es muß eine .figürliche' Synthesis bezeichnet werden. Nicht genug damit, sie muß als solche der .Einbildungskraft' bezeichnet werden. Verbindung der .beiden Stämme' der Erkenntnis, gemäß ihrer vermuteten .gemeinsamen Wurzel', das ist die Direktive dieser ganzen Terminologie." 28 Sonst wäre die Anschauung nicht sinnlich sondern intellektuell, „d.i. eine solche ... durch die selbst das Dasein des Objekts der Anschauung gegeben wird" (KrV B 72). 29 Dies gilt für die empirische Anschauung des äußeren und des inneren Sinnes gleichermaßen.

62

3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Auf t r a n s z e n d e n t a l e r Ebene bedeutet die Formulierung ,ihr werden Gegenstände gegeben': ,in i h r (bzw. durch sie) werden — uns — Gegenstände gegeben', und zwar bloß f o r m a l ; nicht ,ihr', der reinen Sinnlichkeit also, sondern ,uns' als (empirischen) Sinnenwesen, b e f ä higt zur empirischen Anschauung, also befähigt zum (aposteriorischen) Kontakt mit Materie.30 In der r e i n e n Sinnlichkeit (bzw. der reinen Anschauung) sind uns (und damit jeder möglichen empirischen Anschauung) also b l o ß formal die G e g e n s t ä n d e der empirischen Anschauung, die Erscheinungen, gegeben, in der e m p i r i s c h e n Anschauung aber m a t e r i a l die diesen Gegenständen korrespondierenden' Empfindungen. Anders ausgedrückt: Reine Anschauung hat, als bloße Form der Sinnlichkeit nur mit formalen Strukturen zu tun, nie mit (aposteriorischer) Materie. Diese formalen Strukturen sind ,uns' in der reinen bzw. d u r c h die reine 30

Vgl. KrV A 19/B 33: „Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie •wir von Gegenständen afliziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben ..." Wir, d.h. unsere Sinne, werden (empirisch) affiziert; Voraussetzung dazu ist unsere „Fähigkeit (Rezeptivitäty der ,reinen Sinnlichkeit', die „zum Grunde liegt". Deshalb werden uns, d.i. unseren empirisch-realen Sinnen (Sinnesorganen), vermittelst der - oder: durch die; oder: in der - Sinnlichkeit (,als reines Vermögen gedacht') Gegenstände gegeben; — \mdnichtder (reinen) Sinnlichkeit. Vgl. KrV B 148: „Raum und Zeit gelten, als Bedingungen der Möglichkeit, wie uns Gegenstände gegeben werden können, nicht weiter, als für Gegenstände der Sinne"; — KrVA20/B 34: „Demnach wird die reine Form sinnlicher Anschauungen überhaupt im Gemüte a priori angetroffen werden, worinnen alles Mannigfaltige der Erscheinungen in gewissen Verhältnissen angeschauet wird"; — KrV A 26/B 42: „Weil nun die Rezeptivität des Subjekts, von Gegenständen affiziert zu werden, notwendiger Weise vor allen Anschauungen dieser Objekte vorhergeht, so läßt sich verstehen, wie die Form aller Erscheinungen vor allen wirklichen Wahrnehmungen, mithin a priori im Gemüte gegeben sein könne, und wie sie als eine reine Anschauung, in der alle Gegenstände bestimmt werden müssen, Prinzipien der Verhältnisse derselben vor aller Erfahrung enthalten könne"; — KrV'B 68: „Im Menschen erfodert dieses Bewußtsein [d.i. „das Bewußtsein seiner selbst (Apperzeption)"; G.R.] innere Wahrnehmung von dem Mannigfaltigen, was im Subjekte vorher gegeben wird, und die Art, wie dieses ohne Spontaneität im Gemüte gegeben wird, muß, um dieses Unterschiedes willen, Sinnlichkeit heißen"; — KrV A 89/B 122: „Die Kategorien des Verstandes dagegen stellen uns gar nicht die Bedingungen vor, unter denen Gegenstände in der Anschauung gegeben werden"; — KrV B 150f: „ ... Gegenstände, die uns in der Anschauung gegeben werden ... "; — KrV B 306: „ ... jene reine sinnliche Formen, durch die doch wenigstens ein Objekt gegeben wird ..."; — KrV A 286/B 342: bloß die Art unserer sinnlichen Anschauung, -wodurch uns Gegenstände gegeben werden ..."

3.1 ,Bloße Materie'

63

Anschauung gegeben31 und gehören zu den (,objektiven') Bedingungen der Möglichkeit der G e g e n s t ä n d e unserer (theoretischen) Erkenntnis, die identisch sind den (»subjektiven') Bedingungen der Möglichkeit unserer (theoretischen) E r k e n n t n i s dieser Gegenstände. Reiner Anschauung wird nichts , außen', etwa durch ein sie ,affizierendes' (Un-)Ding an sich, gegeben; alles, was unseren Sinnen empirisch (d.i. formal u n d materiell) gegeben werden kann, wird uns - was den f o r m a l e n Aspekt betrifft - , i n n e r h a l b ' der reinen Anschauung, , d u r c h sie' dargeboten; was aber den m a t e r i e l l e n Aspekt angeht, so affiziert der — seiner Form nach im R a h m e n (,subjektiv-objektiver') reiner Anschauung befindliche — Gegenstand unsere Sinne: Der (,subjektiven') empirischen Anschauung wird ihr (»objektiver') Gegenstand - der, empirisch gesprochen: ,an sich', transzendental gesprochen: ,für uns' (,Erscheinung') ist - seiner M a t e r i e nach , außen' gegeben [seiner Form nach kann er empirischer Anschauung nicht , außen' gegeben werden, denn die bloße Form empirischer Anschauung ist ja ,reine Anschauung']. Reine sinnliche Anschauung ist wie jede bloß formale, apriorische Struktur gekennzeichnet durch die L e e r h e i t b l o ß e r M ö g l i c h k e i t . 3 2 Ihre Auszeichnung besteht in ihrer R e z e p t i v i t ä t , der (passiven) Bereitschaft ihrer Form zur unmittelbaren, materiellen , Erfüllung'. Dieses Erfullt-werden kann (reine) Sinnlichkeit nicht selbst herbeifuhren, es g e s c h i e h t in jeder empirischen sinnlichen Anschauung, die in bezug auf ihre Realität (d.h. daß sie stattfindet) abhängig ist von 31

Natürlich nicht empirisch gegeben, sonst wäre ja die Rede von empirischer Anschauung; man könnte auch so sagen: ,Wir' (als reines Erkenntnisjwfye/tf betrachtet) .haben' bzw. noch genauer: ,sind' diese formalen Strukturen. 32 Die auf Materielles bezogene Rede von Leerheit ist aber hinsichtlich der Sinnlichkeit und des Verstandes zu unterscheiden: Die Form der Sinnlichkeit zeigt die Struktur von Verhältnissen [des Mannigfaltigen a priori in den Verhältnissen von Zeit und - bezogen auf den äußeren Sinn: auch - Raum], die Form des Verstandes besteht in der Einheit des Denkens. Vgl. z.B. KrV B 67: „Nun ist das, was, als Vorstellung, vor aller Handlung, irgend etwas zu denken, vorhergehen kann, die Anschauung, und, wenn sie nichts als Verhältnisse enthält, die Form der Anschauung", — KrV A 76f/B 102: „Dagegen hat die transzendentale Logik ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit a priori vor sich liegen, welches die transzendentale Ästhetik ihr darbietet, um zu den reinen Verstandesbegriffen einen Stoff za geben, ohne den sie ohne allen Inhalt, mithin völlig leer sein würde." Zur ,Einheit des Denkens' vgl. Belegstellen im Zusammenhang mit dem Begriff des ,transzendentalen Gegenstandes = X' (Kap. 3.2).

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

der Existenz empirischer Gegenstände, die unsere Sinne ( m a t e r i e l l ) affizieren.33 33

Vgl. z.B. ÄrFB 71 f: „Es bleibt nichts übrig ... als daß man sie [Raum und Zeit; G.R.] zu subjektiven Formen unserer äußeren sowohl als inneren Anschauungsart macht, die darum sinnlich heißt, weil sie nicht... eine solche ist, durch die selbst das Dasein des Objekts der Anschauung gegeben wird (und die, so viel wir einsehen, nur dem Urwesen zukommen kann), sondern von dem Dasein des Objekts abhängig, mithin nur dadurch, daß die Vorstellungsfähigkeit des Subjekts durch dasselbe qffiziert wird, möglich ist." Dem möglichen Einwand gegen die Formulierung, daß die Realität der empirischen Anschauung abhängig sei von der Existenz empirischer Gegenstände, unter Hinweis auf die Möglichkeit z.B. von Halluzinationen, läßt sich leicht begegnen; denn die genannte Formulierung behauptet als notwendige Bedingung jeder empirischen Anschauung das ,Affiziert-werden', die .Erregung' (unserer Sinne); jedes empirische Faktum ist notwendigerweise als Wirkung anderer empirischer Fakten aufzufassen (d.h. kein empirisches Faktum besteht durch sich selbst); alles empirisch Vorhandene trägt aber notwendigerweise Gege/ista«ii$struktur: Empirische Anschauung ist als empirisches Vorkommnis selbst ein empirischer Gegenstand und setzt wie alles Empirisch-Reale andere empirische Vorkommnisse (,Ereignisse', Gegenstände') zu ihrer empirischen Realität voraus. Der Hinweis auf mögliche Halluzinationen fuhrt erst auf Verstandesebene zum Problem der wahren bzw. falschen Urteile, ob Halluzinationen als solche erkannt werden oder ob ihre psychische Realität zugleich für eine physische (i.w.S. der Körper im Raum) gehalten wird. Das Ende des eben gegebenen Zitats KrVB 72 („ ... affiziert wird, möglich ist") kann als Probe der Unterscheidung von logischer und transzendentaler Möglichkeit dienen. — Würde nämlich „möglich ist" bloß logisch aufgefaßt, so wäre kein Unterschied zwischen transzendentaler und empirischer Betrachtungsweise, der Satz verlöre seine Aussagekraft und bedürfte darüberhinaus der Verbesserung; er sollte dann entweder lauten: ,... affiziert wird, wirklich ist' oder ,... affizierftar ist, möglich ist'. — Erst ein transzendental-logisches Verständnis des „möglich ist" erschließt den Sinn des Zitates: Unsere sinnlichen Anschauungsformen sind die transzendentale Möglichkeit (,möglich ist') unserer empirischen Anschauung [„daß die Vorstellungsfahigkeit des Subjekts durch" ein empirisch reales Objekt „affiziert wird"], ihre transzendentale Bedingung. Diese transzendentale Möglichkeit besteht aber nur (,möglich /j/') relativ ««/(„mithin nur dadurch, daß ... ") empirische Realität („ ... affiziert wird"), deren transzendentale Bedingung sie ist. ,An sich' ist sie nichts; transzendentale Möglichkeit als transzendentale Bedingung empirischer Realität und empirische Realität (das ,Dasein', das ,daß') gehören zusammen. — Vgl. dazu KrV A 35f/B 51f [zitiert in Anm. 26 (letztes Drittel)/Kap. 3.1]. — An dieser Stelle ist noch auf eine S p a n n u n g im Begriff , t r a n s z e n d e n t a l ' hinzuweisen, der durch Kant einen „ganz neuen Definitionssinn gegenüber dem mittelalterlichen und noch im 18. Jahrhundert gängigen Gebrauch (der auch bei Kant oft nachklingt)" erhält [Heinz Heimsoeth, Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Bd. l, S. 11, Anm. 13]: in der ,neuen', durch Kant gefaßten Bedeutung heißt „,alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen (s.c. etwa nun gar mit Dingen überhaupt und ihren ontologischen

3.1 .Bloße Materie'

65

So zeigt im Rahmen menschlichen Erkenntnisvermögens der Begriff der sinnlichen R e z e p t i v i t ä t zwei Aspekte: (1) Die P o t e n z des unmittelbaren Kontaktes mit Materie; darin liegt die Auszeichnung und unverzichtbare Bedeutung der Sinnlichkeit;34 und (2) die A b h ä n g i g k e i t von materieller Erfüllung; hier ist die Grenze aller sinnlichen Anschauung sichtbar, aber nicht eine ,äußerliche', besetzt von Dingen, durch welche Sinnlichkeit eingeschränkt werden könnte; es ist die i n n e r e G r e n z e der äußerlich s c h r a n k e n l o s e n Sinnlichkeit.35 Bestimmungen), sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese apriori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.' ... [KrV]B25" [ebenda]. „Vernunft bleibt hier insofern bei sich selbst13" [Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, Bd. l, S. 11]. In diesem Sinn ist transzendentale - als ,reale' - Möglichkeit der Dinge von bloß logischer Möglichkeit der Begriffe unterschieden [vgl. KrV A 244/B 302, B 302 f (Anm.)]. Der ,alte' Gebrauch von .transzendental' geht auf die „ontologischen Bestimmungen jedes Seienden als solchen .... — Nachklingen der alten Bedeutung von .transzendental' ... ist es z.B., wenn Kant mit seiner Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit diesen Anschauungsformen die .transzendentale Realität', was eben heißt: ontologischen Sachcharakter, Geltung für .Dinge an sich und überhaupt' abspricht" (Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, Bd. l, S. 11, Anm. 13). ,Transzendental' bleibt dennoch ein Begriff. Die Spannung besteht in seiner verschiedenen Ausrichtung: So sind die Formen sinnlicher Anschauung relativ auf die Dinge an sich (,alter' Gebrauch) ,subjektiv' bzw. transzendental ideal' zu nennen, bezogen auf Dinge als Gegenstände der Erkenntnis (,neuer' Gebrauch) jedoch von transzendentaler, und das heißt hier im Gegensatz zum bloß logischen Begriff, von ,realer' oder ^objektiver' Bedeutung [vgl. auch KrVB XXVI (Anm.)]. 34 Vgl. z.B. den ersten Satz von § l der Transzendentalen Ästhetik: „Aufweiche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung" (KrVA 19/B 33); und: „... uns Menschen wenigstens" (KrVB 33) werden nur „vermittelst der Sinnlichkeit ... Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen" (KrV A. 19/B 33). 35 Vgl. KrV B 71: „In der natürlichen Theologie, da man sich einen Gegenstand denkt, der nicht allein für uns gar kein Gegenstand der Anschauung, sondern der ihm selbst durchaus kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung sein kann, ist man sorgfältig darauf bedacht, von aller seiner Anschauung (denn dergleichen muß alles sein Erkenntnis sein, und nicht Denken, welches jederzeit Schranken beweiset) die Bedingungen der Zeit und des Raumes wegzuschaffen." Anschauung, ob sinnlich oder nicht, ist im Gegensatz zum kategorialen Denken ohne Schranken. Sinnliche Anschauung hat eine innere Grenze („Bedingung"), die Rezeptivität, weshalb sie - der Sache nach.- in Zitat KrV B 71 von der unbedingten, in jeder Weise grenzenlosen intellektuellen Anschauung unterschieden wird, die „eine solche ist, durch die selbst das Dasein des Objekts der Anschauung gegeben wird" (KrV B 12).

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Rezeptivität verweist so auf Materie. Dabei k a n n es sich hier n i c h t um die a posteriori gegebene Materie (,substantia phaenomenon') der Empfindungen bzw. des ihnen korrespondierenden , Mannigfaltigen der Erscheinung' handeln, weil ja der Gegenstand empirischer Anschauung dieser Anschauung , außen', durch Affektion, gegeben wird.36 Der Begriff einer a priori gegebenen Materie jedoch ist in sich widersprüchlich, da ausschließlich reiner, d.h. von allem ,Empirischen' (insofern von allem Materiellen) freier Form Apriorität als Prinzip aller Ordnung und Bestimmung entspricht, ihr Gegenbegriff aber, das Bestimmbare, Prinzipien- und somit Ordnungslose schlechthin, bei Kant in Übereinstimmung mit der Tradition ,Materie' heißt. Die aller Form fremde Materie als innere Grenze der Sinnlichkeit ist n i c h t apriori und nicht aposteriori g e g e b e n , der B e g r i f f dieser ,Materie'37 steht lediglich für die Markierung der G r e n z e der (Ohn-) Macht apriorischer Sinnlichkeit, die nicht aus eigener Kraft38 (mangels Spontaneität39) aus ihrer reinen Möglichkeit40 in Wirklichkeit übergehen kann. Dieser Aufweis der i n n e r e n G r e n z e aller S i n n l i c h k e i t (,Grenz'-Begriff: ,bloße Materie'41) hat Bedeutung vor allem im Zusammenhang der Frage nach den ,affizierenden Dingen an sich';42 er trägt aber 36

„, außen', durch Affektion, gegeben" bezieht sich hier gleichermaßen auf Gegenstände des äußeren und des inneren Sinnes; es geht ja um die Affektion des Sinnes überhaupt. 37 Ich nenne sie die - von aller Form - bloße Materie; vgl. Kap. 3.1.1. 38 Kant spricht selbst wiederholt von Erkenntnis-toa/f; vgl. z.B. KrVA 269/B 325. 39 Sinnlichkeit ist unmittelbar auf ihren Gegenstand bezogen, aber rezeptiv; Verstand ist zwar spontan, hat aber nur mittelbar (durch sinnliche Anschauung vermittelt') mit solchen Gegenständen zu tun, die nicht ,leer' sind, d.h. die nicht bloß die gegenständliche Einheit des Denkens repräsentieren. 40 Vgl. die wiederholte Formulierung Kants: „Bereitliegen im Gemüte a priori". 41 ,Bloße Materie' kann als objektiviert gedachte Rezeptivität aufgefaßt werden: Da alles Gegenstandaitige auf den Verstand zu beziehen ist, ist,bloße Materie' ,an sich' für die bloße Sinnlichkeit selbst nichts; deshalb - als ,an sich' - auch für den Verstand, der die Ebene von allem Verstand abstrahierter Sinnlichkeit denkt, nichts; daher ist ,bloße Materie' (nicht ,an sich' sondern lediglich als ,Grenz'-Begriff) — und zwar nicht ,für die Sinnlichkeit' sondern nur ,ßrden Verstand", der die Ebene bloßer Sinnlichkeit denkt;, für die Sinnlichkeit' also im Sinne von: ,(für die Sinnlichkeit) für den Verstand' — ,nichts' als die objektiviert gedachte .Rezeptivität' der Sinnlichkeit. Vgl. dazu Richard Kroner (Von Kant bis Hegel, Bd. l, S. 101 ):„... Ding an sich ... in der transzendentalen Aesthetik. Hier zeigt es die in der Sinnlichkeit als einem rezeptiven Erkenntnisvermögen mitgedachte Begrenzung an." 42 Vgl. Anm. 19/Kap. 3.1. — Eine klare Sicht dieses Problems wird durch die deutliche

3.1 ,Bloße Materie'

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Unterscheidung (l) der Sphäre bloßer, von allem Verstand abstrahierter Sinnlichkeit [, Grenz'-Begriff: ,bloße Materie'; vgl. Kap. 3.1.1] von (2) jener eines bloßen, von aller Sinnlichkeit abstrahierten Verstandes [,transzendentaler Gegenstand = X'; vgl. Kap. 3.2] und schließlich beider Bereiche von (3) der Sphäre des mit Sinnlichkeit zu empirisch real sein könnenden ,Phaenomena' vereinigten Verstandes [Grenzbegriff. ,Noumenon'; vgl. Kap. 3.3] gefördert. Auch für die Frage nach der Berechtigung der Rede von , bloßer Materie"", die weder a priori noch a posteriori .gegeben' sein kann, sind diese Unterscheidungen bedeutungsvoll: Kant spricht ja nicht von .bloßer Materie'; er sagt vielmehr in KrV A 268/ B 323f (Von der Amphibolic der Reflexionsbegriffe... 4. Materie und Form)'. „Da aber die sinnliche Anschauung eine ganz besondere subjektive Bedingung ist, welche aller Wahrnehmung a priori zum Grunde liegt, und deren Form ursprünglich ist: so ist die Form für sich allein gegeben, und, -weit gefehlt, daß die Materie (oder die Dinge selbst, welche erschienen [Akad.-Ausg.: „erscheinen"]) zum Grunde liegen sollte (wie man nach bloßen Begriffen urteilen müßte), so setzt die Möglichkeit derselben vielmehr eine formale Anschauung (Zeit und Raum) als gegeben voraus"; — in KrV A 277/B 333 (Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe)·. „Allein, das schlechthin, dem reinen Verstande nach, Innerliche der Materie ist auch eine bloße Grille; denn diese ist überall kein Gegenstand für den reinen Verstand, das transzendentale Objekt aber, -welches der Grund dieser Erscheinung sein mag, die wir Materie nennen, ist ein bloßes Etwas, wovon wir nicht einmal verstehen würden, was es sei, wenn es uns auch jemand sagen könnte"; — in KrV A46/B63 (Transzendentale Ästhetik)', „...und nicht allein diese Tropfen sind bloße Erscheinungen, sondern selbst ihre runde Gestalt, ja sogar der Raum, in welchem sie fallen, sind nichts an sich selbst, sondern bloße Modifikationen, oder Grundlagen unserer sinnlichen Anschauung, das transzendentale Objekt aber bleibt uns unbekannt"; — in KrV A 494/B 522 (Transzendentale Dialektik): „Das sinnliche Anschauungsvermögen ist eigentlich nur eine Rezeptivität, auf gewisse Weise mit Vorstellungen affiziert zu werden, deren Verhältnis zu einander eine reine Anschauung des Raumes und der Zeit ist ... Die nichtsinnliche Ursache dieser Vorstellungen ist uns gänzlich unbekannt, und diese können wir daher nicht als Objekt anschauen ... Indessen können wir die bloß intelligibele Ursache, der Erscheinungen überhaupt, das transzendentale Objekt nennen, bloß, damit wir etwas haben, was der Sinnlichkeit als einer Rezeptivität korrespondiert"', — und in KrV A496/B 524: „Die Ursache der empirischen Bedingungen dieses Fortschritts ... ist transzendental und mir daher notwendig unbekannt." ,Materie' ist in diesen Zitaten immer nur als ,substantia phaenomenon1" (KrV A 277/B 333), also posteriori gegeben, aufgefaßt. , B l o ß e M a t e r i e ' entspricht jedoch dem ^materiellen1 Aspekt jenes transzendentalen Objektes1, das die eben zitierten Textstellen meinen und dessen Begriff mit dem des ,Noumen' in gewisser Weise zu identifizieren ist (vgl. vor allem Kap. 3.4). ,Bloße Materie1 wäre also insofern eine Art . t r a n s z e n d e n t a l e M a t e r i e ' — tatsächlich ist an einer (meines Wissens nach der einzigen) Stelle (KrV A 143/B 182) dieser für Kantische Terminologie so ungewöhnliche Begriff nachweisbar: und zwar in dieser Bedeutung (vgl. Kap. 3.1.1). — Die Verwischung der eingangs erwähnten Unterscheidung der drei Betrachtungsebenen trägt viel zur Plausibilität der falschen Vorstellung von ,affizierenden Dingen an sich' bei (vgl. Anm. 19/Kap. 3.1). Ich habe schon daraufhingewiesen, daß

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

auch zur Klarheit der Unterscheidung der Ebenen bloßer Sinnlichkeit und bloßen Verstandes bei, dessen (Grenz-)Begriff (d.i. der transzendentale Gegenstand = X') ja b l o ß e F o r m ausdrückt. — Der schon früher erwähnten Selbstverständlichkeit43 entsprechend, daß in der kritischen Philosophie alle (Vernunft-) Aspekte a u f V e r s t a n d e s -Ebene, im jeweiligen B e g r i ff s -Zusammenhang, ihre Darstellung finden, ist noch folgende Bemerkung angebracht: Wem die in der Transzendentalen Analytik44 entwickelte (transzendental-logische) A n a l y s e des empirischen Gegenstandes nicht gegenwärtig ist, der wird — neben anderem — auch den E r s c h e i n u n g s -Begriff nicht klar fassen können, zumal die verbale Gestaltung entsprechender Passagen der Kritik der reinen Vernunft dieser möglichen Verwirrung entgegen kommt. So spricht Kant — und nicht nur am Anfang der Kritik der reinen Vernunft4* — von G e g e n s t ä n d e n , die uns durch - quantitativ gesehen - weite Teile der Transzendentalen Ästhetik n i c h t auf die Ebene bloßer, vom Verstand isolierter Sinnlichkeit, die ja hier ausschließlich untersucht werden sollte [vgl. Transzendentale Ästhetik, § l, letzter Absatz], bezogen sind, sondern auf jene der mit Verstand vereinigten Sinnlichkeit, deren Grenzbegriff (das Noumenon) für die innere Grenze alles empirisch Faßbaren steht. — So wird in der D a r s t e l l u n g der Transzendentalen Ästhetik der hierher gehörige (,Grenz'-)Begriff ,bloße Materie' überlagert durch den - auf komplexere Stufe bezogenen - Begriff des , Noumenon'. 43 Etwas Selbstverständliches ist dann erwähnenswert, wenn es Gefahr läuft übersehen zu werden; denn dadurch würden Voraussetzungen der möglichen Einsicht in die Konsequenz von Begriffszusammenhängen möglicherweise entscheidend herabgemindert [ein Banalitätsvorwurf wäre in solchen Zusammenhängen in der Weise des tiefenpsychologischen Begriffs der Verdrängung zu sehen]. 44 Die ja die Transzendentale Ästhetik gewissermaßen in sich enthält [man denke beispielsweise nur an die Erörterung des .Schematismus' oder überhaupt an die Grenzen des Verstandes als Erkenntnisvermögen]. 45 Wie in der Transzendentalen Ästhetik, das Gewicht des angesprochenen Zusammenhanges (.mögliche Verwirrung') liegt eindeutig auf diesem Abschnitt der KrV. — Das a.a.O. (vgl. ab Fußnotenreferenz 12/Kap. 3.1) zitierte Ende von § l der Transzendentalen Ästhetik (A22/B 36) drückt klar die methodische Isolierung der Sinnlichkeit vom Verstand aus und verwendet den Begriff: .Erscheinung' im Sinne der Bezugsebene ,bloße Sinnlichkeit'. — Ä>FA62/B87 (Transzendentale Logik) bietet die entsprechende Stelle bezüglich der Isolierung des Verstandes von aller Sinnlichkeit (vgl. Kap. 3.2). Übrigens scheint auch hier der Formulierung nach diese .Isolierung' für den gesamten Teil der Transzendentalen Elementarlehre - hier: Transzendentale Logik - zu gelten; dennoch sind beispielsweise jene Abschnitte, die zur Klärung der Frage der Noumena weiter unten (vgl. Kap. 3.3) herangezogen werden, dem Rahmen dieser Logik entnommen. Während jedoch die Transzendentale Analytik genügend Möglichkeit bietet, die begriffliche Unterscheidung von bloßer Sinnlichkeit und

3.1 ,Bloße Materie'

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Sinnlichkeit,gegeben' (durch den Verstand aber ,gedacht') würden. Diese Gegenstände sind , E r s c h e i n u n g e n ' 4 6 , aber keine empirischen Gegenstände47 sondern bloß deren materieller Aspekt.48 Um im jeweiligen Textzusammenhang diese Unterscheidung treffen zu bloßem Verstand (und ihrer Vereinigung) genau nachzuvollziehen, muß die Transzendentale Ästhetik mit diesem - von ihr her gesehen: vorausgesetzten - Wissen gelesen werden; ohne diese Voraussetzung gibt es nur Verwirrung der genannten Ebenen. Ein Beispiel: „... alle Erscheinungen überhaupt, d.i. alle Gegenstände der Sinne, sind in der Zeit... | ... Sie ist nur von objektiver Gültigkeit in Ansehung der Erscheinungen, weil dieses schon Dinge sind, die wir als Gegenstände unsrer Sinne annehmen; aber sie ist nicht mehr objektiv, wenn man von der Sinnlichkeit unsrer Anschauung, mithin derjenigen Vorstellungsart, welche uns eigentümlich ist, abstrahiert, und von Dingen überhaupt redet" (KrV A 34 f/B 51). — Dieses Zitat bestätigt vollkommen die bisher vorgelegte Interpretation (es kann aber nicht Grundlage einer solchen Auslegung sein): Die Gegenstände unserer Sinne sind - bezogen auf die vom Verstand isolierte Sinnlichkeit - .noch' gar keine empirischen Gegenstände (weil die kategoriale Verstandeseinheit .fehlt'); Erscheinungen werden als .Gegenstände der Sinne' bezeichnet; die Formen der sinnlichen Anschauung sind nur (empirisch-)objektiv bezüglich möglicher Gegenstände Jiir uns, aber nicht in bezug auf etwas Gedachtes (vgl. im letzten Zitat: „...redet") wie: ,Dinge überhaupt' bzw.: ,an sich (selbst)'. Nur - ich wiederhole mich -: Ohne Kenntnis der Transzendentalen Analytik wäre ein solches Zitat natürlicherweise so zu lesen, daß schon die bloße Frage nach der Berechtigung, die .Gegenstände der Sinne' als .empirische Gegenstände' zu verstehen, als verstiegene Spitzfindigkeit erscheinen müßte; zumal die Transzendentale Ästhetik genügend Formulierungen enthält, die - im Zusammenhang der Auseinandersetzung Kants mit ,Leibniz-Wolff' - tatsächlich von .Erscheinung' als empirischem Gegenstand sprechen und sie in diesem Sinn in Kontrast zum .Ding an sich' setzen (vgl. z.B. A>FA45f/B 62f): Solche Textstellen sind — gemessen am systematischen Anspruch der Transzendentalen Ästhetik als Analyse der Ebene bloßer Sinnlichkeit (vgl. KrV§l, A22/B36) — dem Abschnitt über Phaenomena und Noumena zuzuordnen. 46 Zum .Aufbau' (d.i. Constitution', dazu und zu ,Analyse' vgl. Anm. 90/Kap. 2) des empirischen Gegenstandes bzw. zu dessen Unterscheidung von Erscheinung', verstanden als bloß sinnliche Einheit des Mannigfaltigen und insofern als nur materieller Aspekt des empirischen Gegenstandes [d.i. immer dann, wenn .Erscheinung' auf die Ebene bloßer Sinnlichkeit bezogen ist], vgl. z.B.: KrV A 127: „Alle Erscheinungen liegen also als mögliche Erfahrungen eben so a priori im Verstande, und erhalten ihre formale Möglichkeit von ihm, wie sie als bloße Anschauungen in der Sinnlichkeit liegen, und durch dieselbe, der Form nach, allein möglich sind"; — KrV A 138/B 177: „Nun ist klar, daß es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht". 47 Also keine .Phaenomena', deren Inbegriff .Sinnenwelt' (,Natur') ist. 48 Ihr .formaler Aspekt', der erst zusammen mit dem .materiellen' den empirischen Gegenstand .konstituiert', ist das .Gedacht-werden-können' durch den Verstand bzw. die kategorial-gegenständliche Verstandeseinheit.

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

können ist es nötig, die in der A n a l y s e des empirischen Gegenstandes aufscheinende B e z u g s-Ebene des — von aller Sinnlichkeit isolierten, kategorialen — Verstandes von der D a r S t e l l u n g s-Ebene der Kritik der reinen Vernunft klar auseinanderhalten zu können, die ja — selbstverständlicherweise — die Sphäre ebendieses kategorialen Verstandes ist, , i n ' der alle Inhalte49 präsentiert werden. Das Mißverständnis der voraussetzungsgemäß auf isolierte Sinnlichkeit bezogenen Begriffe51 als Begriffe möglicher empirisch-realer Gegenstände52 ermöglicht erst die auf die Stufe isolierter Sinnlichkeit bezogene und deshalb irreführende Rede von ,affizierenden Gegenständen';53 es kann 49

Es müssen ja alle dargestellten Inhalte — aufweiche Ebene der Analyse (bloße Sinnlichkeit, bloßer Verstand, Vernunft in der einen oder anderen Bedeutung etc.) sie auch bezogen sein mögen — für den Verstand ,Etwas' sein; auch wenn dieses .Etwas' im Extremfall als , N i c h t s ' auftritt. — Zum „Begriff von Nichts" vgl. KrV A 290ff/ B 346 ff, — „Der höchste Begriff, von dem man eine Transzendentalphilosophie anzufangen pflegt, ist gemeiniglich die Einteilung in das Mögliche und Unmögliche. Da aber alle Einteilung einen eingeteilten Begriff voraussetzt, so muß noch ein höherer angegeben werden, und dieser ist der Begriff von einem Gegenstande überhaupt (problematisch genommen, und unausgemacht, ob er etwas oder nichts sei). Weil die Kategorien die einzigen Begriffe sind, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, so wird die Unterscheidung eines Gegenstandes, ob er etwas, oder nichts sei, nach der Ordnung und Anweisung der Kategorien fortgehen" (KrV A 290/B 346). 50 Anm. 50 fehlt. 51 Wie z.B. .Erscheinung', .Empfindung', .empirische Anschauung' usw. 52 D.h. als mögliche kategoriale Einheit des Sinnlich-Mannigfaltigen (bzw. als mögliche Einheit von Sinnlichkeit und Verstand). 53 Vgl. Anm. 19/Kap. 3.1. — Hier ist schon meine Sicht dieser Affektionsbeziehung als einer rein empirischen angedeutet (auch das empirische Ich ist ja ein .empirischer Gegenstand'). Nicht nur, daß die kategoriale Kausalrelation nicht real sein kann ohne reale Gegenstände, zwischen denen sie besteht, sie kann gar nicht sinnvoll gedacht werden ohne gedachte Gegenstände [d.i.: ohne Begriffe, die sich auf Gegenstände (verstanden als Einheit von Anschauung und Kategorie) beziehen]. — Aus dem bisher Gesagten geht klar hervor, daß es kein Gegenstand im angeführten Sinn sein kann, wenn ausschließlich eines seiner Momente (gleichgültig, ob Sinnlich-Mannigfaltiges oder bloße Verstandes-Einheit) betrachtet wird. Als Kurzformulierung bietet sich an: Der Möglichkeit empirischer Affektion durch (ein empirisches) Etwas entspricht die transzendentale Rezeptivität (des apriorischen Vermögens) der Sinnlichkeit. — Es ist kein bloßer Wortstreit, ob .Affektion' nur empirisch zu verstehen ist oder nicht; es geht darum, daß jene, die (z.B. mit Adickes) auch von einer Art nicht-empirischer Affektion [d.i. .Erregung' der Sinnlichkeit nicht durch empirische Gegenstände - die ja in bestimmtem Kontext auch .Ding an sich' heißen können - sondern durch mysteriöse (Un-)Dinge ,an sich'] sprechen, diese sogenannte nicht-empirische Affektion in empirischer [d.i. kategorial-gegenständlich; vgl. Anm. 19/Kap. 3.1] Weise und damit gründlich mißverstehen', die daraus konse-

3.1 ,Bloße Materie'

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darüber hinaus zur ungenauen (Denk-)Annahme eines den ,Erscheinungen' zugrunde liegenden Etwas-an-sich54 fuhren und sogar zur Auffassung dieses ,Dinges an sich' als , ä u ß e r e ' Grenze (,Grenz-Pfahle') der Sinnlichkeit. Wo aber die hier relevanten Begriffe (wie ,Erscheinung' z.B.) nicht einer der möglichen Bezugsebenen53 klar zugeordnet werden und damit nicht die erforderliche Präzisierung erreichen können, da ist die Frage nach den unserer , Sinnlichkeit' korrespondierenden Dingen an sich — einmal dahingestellt, ob ,sie' ,affizieren' oder bloß ,begrenzen' (und vor allem: in welcher Weise dies zu denken ist) — auf Grund des bisher Festgestellten in ihrer verwirrenden Ungenauigkeit offenkundig. Die Entscheidung einer s o l c h e n Frage nach ,affizierenden Dingen an sich' steht daher grundsätzlich auf schwankendem Boden, weshalb auch eine die These vom ,Grenz-Begriff' bevorzugende (d.h. also: gegen positiv angenommene ,affizierende Dinge an sich' auftretende) Antwort unter diesen — in der Literatur oft feststellbaren — Voraussetzungen keine Klarheit bringt; sie kann nicht einsichtig machen, w i e ,Dinge an sich quenterweise folgenden Widersprüche bzw. deren mitunter plausible, wenn auch nur vermeintliche Feststellung hinsichtlich Kantischer Texte durch Adickes etc., sind so leicht durchschaubar. Daher die Position dieser Schrift: Wenn schon - üblicherweise (z.B. von Adickes) ,affizieren' nur in kategorial-gegenständlichem Sinn verstanden wird [und im Kantischen Text in überwiegender Zahl eindeutig in diesem Sinn gebraucht wird], dann möge man dieses Wort sinnvollerweise auch nur für Relationen zwischen empirischen Gegenständen - oder bezogen auf ,Dinge an sich', verstanden als Pseudo-Objekte dialektischer Vernunft - verwenden und sich nicht durch ein - auf isolierte Textstellen zu stützendes - Vorurteil das Verständnis des Begriffs des »Dinges an sich' von vornherein verstellen. Daß nämlich gerade unter extensiver Berücksichtigung [aber in systematischer Weise und nicht, wie Adickes das tut, in bloß äußerlich geordneten Zitatanhäufungen] des Kantischen Textes ein ,ungegenständliches', .dynamisches' Verständnis des Begriffs ,Ding an sich' nicht nur möglich ist, sondern daß dieses die einzige Möglichkeit ist, in konsequenter Weise im Kantischen Philosophieren , menschliches Denken' zu erkennen, das versuche ich in dieser Schrift rational-nachvollziehbar darzulegen. — Vgl. auch Anm. 42/Kap. 3.1. 54 Wird das kategorial-gegenständlich(-,materiell') aufgefaßte ,Affizieren" von der (Denk-)Annahme eines ,zum Grunde liegenden An-sich' nicht streng unterschieden, dann sind solche, in ihrer repräsentativen Kürze falsche [vor allem: die falsche (Verstehens-)/?jcAf«ng weisende] Formulierungen möglich wie: „Affektion. K. gebraucht für das Verhältnis des ,Ding an sich' (s.d.) zum wahrnehmenden Subjekt den Ausdruck .affizieren'. Hierbei wird das Ding an sich als Grund unserer Empfindungen gedacht ..." (RudolfEisler, Kant-Lexikon S. 4). 55 Hier vor allem die Bezugsebenen: ,bloße Sinnlichkeit', .bloßer Verstand' und: .Vereinigung von bloßer Sinnlichkeit und bloßem Verstand'.

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

(Noumena)' die Sinnlichkeit ,begrenzen', wenn sie — auf Grund der unklaren Voraussetzungen — zum Beispiel der durch den Kantischen Text aufgeworfenen Frage hilflos gegenübersteht, w e r nun wen beg r e n z t : der Verstand die Sinnlichkeit oder die Sinnlichkeit den Verstand?56 56

Man vergleiche z.B. folgende Textstellen: KrV A 140/B 179: „Wir wollen diese formale und reine Bedingung der Sinnlichkeit, auf welche der Verstandesbegriff in seinem Gebrauch restringiert ist, das Schema dieses Verstandesbegriffs ... nennen"; — KrV A. 147/B 187: „Also sind die Kategorien, ohne Schemate, nur Funktionen des Verstandes zu Begriffen, stellen aber keinen Gegenstand vor. Diese Bedeutung kommt ihnen von der Sinnlichkeit, die den Verstand realisiert, indem sie ihn zugleich restringiert", — KrV A 256/B 312: „Unser Verstand bekommt nun auf diese Weise eine negative Erweiterung, d.i. er wird nicht durch die Sinnlichkeit eingeschränkt, sondern schränkt vielmehr dieselbe ein, dadurch, daß er Dinge an sich selbst (nicht als Erscheinungen betrachtet) Noumena nennt". — Wer die verschiedenen Bezugsebenen unterscheidet, löst den vermeintlichen Widerspruch ohne Schwierigkeiten: Zitat KrV A 256/B 312 ist dem Abschnitt über Phaenomena und Noumena entnommen und bezieht sich auf die Ebene der Vereinigung von bloßer Sinnlichkeit und bloßem Verstand; hier ist .Sinnlichkeit' als Inbegriff empirischer Wirklichkeit zu verstehen und der Verstand wehrt — ,hypothetisch' (bzw. .problematisch'), „dadurch, daß er... Noumena nennt" — .Anmaßungen der Sinnlichkeit' [d.i. empiristische Hybris, die entweder jede transzendentale Realität leugnet oder dem falschen Schein dialektischer Vernunft verfällt] ab. — Vgl. dazu in der Transzendentalen Methodenlehre die Abschnitte (2): Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs (KrV A 738ff/B 766ff) und (3): Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothesen (KrV A 769ff/B 797ff). Die Zitate KrV A 140/B 179 und A 147/B 187 dagegen entstammen dem Kapitel Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe. Sie betreffen die voneinander isolierten Bezugsebenen der bloßen Sinnlichkeit und des bloßen Verstandes, und zwar im Zusammenhang mit der Frage, „wie reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden können" (KrV A 138/B 177), wie also .leere' kategoriale Einheit der bloßen Gegenständlichkeit mit der - .erfüllten' - sinnlichen Einheit des Mannigfaltigen vereinigt (gedacht) werden kann. — Vgl. dazu KrV A 136/B 175: „ ... das erste, welches von der sinnlichen Bedingung handelt, unter welcher reine Verstandesbegriffe allein gebraucht werden können, d.i. von dem Schematismus des reinen Verstandes". — Da ,bloßer Verstand' des .Stoffes' der sinnlichen Einheit des Mannigfaltigen bedarf, ist er in seinem Gebrauch auf seine sinnliche Bedingung, die allein ihm ja Wirklichkeit verschafft („realisiert"), eingeschränkt („restringiert"). Beachtung verdient auch der (,Realitäts'-)Unterschied bezüglich des Verstandesgebrauchs [in Zitat KrV A 256/B 312 (im Textzusammenhang in hypothetischem Sinn): „nennt"] und bloßer Sinnlichkeit [in den Zitaten KrV A 140/B 179 und A 147/B 187: „realisiert", „restringiert"]. .Sinnlichkeit' als empirisch existierende .Realität' wird, insofern ihre Gesetze ja Verstandes-Gesetze sind, durch den Verstand auf ihren Bereich eingeschränkt, ihre systematisch bedeutsame (Verstandes-)Grenze wurde früher (vgl. Kap. 2.1) als ,innere

3.1 ,Bloße Materie'

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Ich fasse zusammen: In der philosophischen A n a l y s e (der Möglichkeit) des empirisch-realen Gegenstandes bzw. seiner Erkenntnis sind - den beiden ,Stämmen' bzw. ,Quellen' unserer Erkenntnis entsprechend - die Ebene des Verstandes (»Begriffe'57) und die Ebene der sinnlichen Anschauung voneinander zu isolieren [Dieser Unterscheidung entsprechen in der Kritik der reinen Vernunft vor allem die Abschnitte: Transzendentale Ästhetik und Transzendentale Analytik}. Die i n n e r e G r e n z e bloßer Sinnlichkeit als R e z e p t i v i t ä t wird — ein Ergebnis der Betrachtung ausschließlich des sinnlichen Momentes empirischer Gegenstände — ,bloße Materie' genannt [Dies ist nur über Interpretation erreichbar, im Kantischen Text meines Wissens e x p l i z i t fast58 n i c h t nachzuweisen]. Die Probleme der , Affektion' bzw. des den Erscheinungen ,zum Grunde liegenden' Etwas-an-sich zeigen sich als Fragen, die auf der Ebene einer vom Verstand isolierten (,bloßen') Sinnlichkeit gar keinen Platz haben:59 Grenze' durch die Tautologie ausgedrückt, daß nur dasjenige empirisch real sein kann, was ein möglicher empirischer Gegenstand (,Phaenomenon') ist. — Dies ist die Voraussetzung der Möglichkeit des Verstandes, diese Sinnlichkeit durch das hypothetisch-problematische' ,Denken' oder ,Nennen' von Noumena ^einzuschränken'; es hat - systematisch gesehen - nur den pragmatisch-unterstützenden Charakter einer .Polemik' gegen .Anmaßungen' (.transzendentale Hypothese'!). Der Verstand bezieht seine Macht diese Sinnlichkeit einzuschränken nicht daraus, daß er im Denken sich selbst als begrenzt erweist (,transzendentaler Gegenstand = X'), sondern daß er zugleich mit seiner - nur durch .bloße' Sinnlichkeit möglichen ^Realisierung' eingeschränkt wird: durch eben diese ,bloße' Sinnlichkeit (vgl. KrV A 140/B 179 und A 147/B 187). ,Bloße Sinnlichkeit' hat diese Eigenschaft durch die ihr als Rezeptivität selbst eigene ,innere Grenze' (.bloße Materie'): Sie kann ihre Aktualisierung (.Erregung', .Affektion') nicht selbst leisten, sie .liegt' als Möglichkeit für das jeweilige ,daß' lediglich ,bereit'. Insofern sie entweder aktuell oder potentiell .real' - im jeweiligen ,Zustands'-Bereich aber nicht eingeschränkt zu denken - ist, kann sie einerseits im Kontrast zum Denken als schrankenlos erscheinen [vgl. KrVQ 71, wo vom „Denken" zum Unterschied von „Anschauung" gesagt wird, daß es „jederzeit Schranken beweiset"], andererseits als sich selbst begrenzend [und eben nicht, wie .Sinnlichkeit' (als ,Natur' verstanden), vom Verstand begrenzt werdend]: „Zeit und Raum ... bestimmen sich eben dadurch (daß sie bloß Bedingungen der Sinnlichkeit sind) ihre Grenzen, nämlich, daß sie bloß auf Gegenstände gehen, so fern sie als Erscheinungen betrachtet werden" (KrV A 38f/B 55f). 57 Genau genommen die Ebene jeder begrifflichen Einheit: der Verstandesbegriffe (Kategorien) wie der Vernunftbegriffe (Ideen); vgl. Kap. 2.1.1: Schema der verschiedenen Vernunft-Aspekte. 58 Vgl. dazu Kap. 3.1.1. 59 Vgl. die graphische Darstellung (Abb. 1) in Kap. 3.1, die sinnliche Anschauung betreffend: Ein .Ding an sich' kommt da gar nicht vor.

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

In bezug auf (empirische) ,Affektionsprobleme' sind im einzelnen emp i r i s c h e Wissenschaften zuständig; bezüglich der zweiten Frage ist ein in systematischer Hinsicht möglicher Ort mit dem Abschnitt über Phaenomena und Noumena gegeben. Unter Vorwegnahme der erst darzustellenden Bedeutung des Begriffs ,Noumenon' fuhrt die Vergleichung der beiden Grenz-Begriffe von , Sinnlichkeit' zur Feststellung, daß diese in keinem Widerspruch zueinander stehen, sondern daß der Begriff des ,Noumenon' — grundsätzlich als Einheit von Form und Materie gedacht — jenen der ,bloßen Materie' in sich enthält. Denn der Begriff , S i n n l i c h k e i t ' bedeutet Verschiedenes: relativ auf,bloße Materie' das von allem Verstand isolierte, bloß sinnliche Moment der (Erkenntnis der) empirischen Gegenstände, relativ auf ,Noumenon' die , Sinnenwelt' bzw. ,Natur' als Inbegriff von allem, was empirisch-realer Gegenstand (,Phaenomenon') sein kann.60

3.1.1 Exkurs: ,Transzendentale Materie' Im Abschnitt Von dem Schematismus der reinen steht folgender Satz (A>FA 143/B 182):

Verstandesbegriffe

„Realität ist im reinen Verstandesbegriffe das, was einer Empfindung überhaupt korrespondiert; dasjenige also, dessen Begriff an sich selbst ein Sein (in der Zeit) anzeigt. ... Da die Zeit nur die Form der Anschauung, mithin der Gegenstände, als Erscheinungen, ist, so ist das, was an diesen der Empfindung entspricht, die t r a n s z e n d e n t a l e M a t e r i e aller Gegenstände, als Dinge an sich (die Sachheit, Realität)." Die jetzt folgende Erläuterung dieses so merkwürdigen Zitates soll zeigen, daß » t r a n s z e n d e n t a l e M a t e r i e ' (ein im Rahmen Kantischer Terminologie geradezu unglaublicher Begriff) genau dasselbe meint wie , b l o ß e M a t e r i e ' ; womit zumindest an einer Stelle des Kantischen Textes der explizite Nachweis dieser Begriffsbedeutung möglich ist. 60

Der Genauigkeit wegen sei hier angemerkt, daß in der hier (d.i. im Kontrast zu »Sinnlichkeit/bloße Materie') erfolgten Gleichsetzung von ,Sinnlichkeit' mit,Sinnen-Welt' der Unterschied von .Verstandes-' und .Vernunft-Einheit' keine Berücksichtigung findet (vgl. dazu später).

3.1 ,Bloße Materie' „Realität ist im reinen Verstandesbegriffe

75

..."

,Reiner Verstandesbegriff' bedeutet Kategorie, ,Realität' ist Kategorie; „im reinen Verstandesbegriffe''1' meint: auf der Ebene des reinen Verstandes, , f ü r den (reinen) V e r s t a n d ' . In der bisherigen Darstellung hat sich die Unterscheidung zwischen verschiedenen Ebenen schon öfter als hilfreich erwiesen, um jeweils klar zu wissen, auf welchem ,Boden' — nicht als Objekt sondern a l s S u b j e k t verstanden! — gerade gedacht wird.61 Unter dieser Voraussetzung ist etwas auf der (,Bezugs'-)Ebene der Sinnlichkeit (also etwas ,für die Sinnlichkeit'), wenn es g e d a c h t (d.i. ,Darstellungs'-Ebene!) wird, zugleich als etwas ,für den Verstand' [aber eben ,etwas für den Verstand' als ,etwas für die Sinnlichkeit', bzw.: ,für die Sinnlichkeit für den Verstand'] zu sehen, weil eben alles, was gedacht wird, vom Verstand gedacht wird, also „im ... Verstandesbegriffe" ist. „ ... das, was einer Empfindung überhaupt korrespondiert..."

Der empirisch-subjektiven Empfindung [d.i. (empirisch-)objektiviert gedacht ein psychologisch-physiologischer Zustand unseres Organismus] korrespondiert bzw. entspricht der empirisch-objektive Gegenstand.62 Empfindung setzt also „die wirkliche Gegenwart des Gegenstandes" voraus.63 Man kann Empfindung „die Materie der sinnlichen Erkenntnis nennen".64 „Empfindung überhaupt" bedeutet abstrakterweise a l l e Empfindungen, ungeachtet ihrer individuellen, empirisch-konkreten Unterschiede: Empfindung schlechthin.

61

Bisher wurde die (Bezugs-)Ebene der von allem Verstand isolierten Sinnlichkeit (,ßir die Sinnlichkeit') näher betrachtet [,betrachtet' spricht die Darstellungs-Ebene an: , f ü r den V e r s t a n d ' ] ; im folgenden — wenn es um den ,transzendentalen Gegenstand = X' geht — wird es die (Bezugs-)Ebene des von aller Sinnlichkeit isolierten Verstandes (,/tfr den Verstand') sein; auf ihr allein kann gedacht werden; deshalb ist sie - ,zugleich' undo/few - Darstellungs-Ebene (d.i. , f ü r den V e r s t a n d ' ) förjede Bezugs-Ebene. 62 Vgl. dazu Anm. 24/Kap. 3.1. 63 KrV A 50/B 74; vgl. auch A 19f/B 34: „Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von derselben affiziert werden, ist Empfindung." 64 KrV A 50/B 74; vgl. auch KrV A 42/B 59f: „Raum und Zeit sind die reinen Formen derselben [d.i.: „sinnliche Erkenntnis" bzw. „unsere Art, sie {d.s. die „Gegenstände"; G.R.} wahrzunehmen"; G.R.], Empfindung überhaupt die Materie."

76

3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

„ ... dasjenige also, dessen Begriff an sich selbst ein Sein (in der Zeit) anzeigt..." Einer Empfindung kann nur Empirisches entsprechen. „Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt empirisch."65 Der „Begriff1'' eines jeden empirischen Gegenstandes zeigt, so wie er ist, also: „an sich selbst", „ein Sein (in der Zeit) an"; er „zeigt" also empirische Realität „an", weil nicht er a l s „Begriff" empirische Realität hat sondern der G e g e n s t a n d , den dieser Begriff anzeigt. E m p i r i s c h e R e a l i t ä t aber wird angezeigt, weil die Z e i t - Struktur das allgemeine Kriterium für mögliche empirische Realität ist [die Raum-Struktur schließt ja mögliche Daten des inneren Sinnes (,Introspektion') aus].66 „ ... Da die Zeit nur die Form der Anschauung, mithin der Gegenstände, als Erscheinungen, ist..." Die transzendentalen Formen der Anschauung (und des Verstandes) sind die Bedingungen (Form!) der Erfahrung und der Gegenstände der Erfahrung (,Erscheinungen'); deshalb: „mithin". — „Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt E r s c h e i n u n g " . 6 7 Mag die Frage, ob ,Erscheinung' auf die Ebene bloßer Sinnlichkeit oder auf jene der Vereinigung von Sinnlichkeit und Verstand (, Erscheinung' als ,Phaenomenon') zu beziehen ist,68 für andere Zusammenhänge noch so wichtig sein: hier ist sie es nicht. 65

KrV A 20/B 34; vgl. auch KrV A 50/B 74. In den bisher besprochenen Satzteilen („Realität... anzeigt") wird übrigens auch die Einschränkung des Verstandes durch die Sinnlichkeit angedeutet (vgl. Anm. 56/Kap. 3.1). 67 KrV A 20/B 34; — „Der unbestimmte Gegenstand" bedeutet in diesem Zusammenhang (KrV A 19ff/B 33ff) die vom Verstand (,noch') nicht bestimmte, daher der kategorialen Gegenständlichkeit entbehrende, bloß sinnliche Einheit des Mannigfaltigen. 68 Nicht nur der Kontext von Zitat KrV A 20/B 34 sondern auch der des Schematismus-Kapitels im Ganzen gesehen legen nahe, .Erscheinung' hier nicht als empirischen Gegenstand (Phaenomenon) sondern als bloß sinnliche Einheit des Mannigfaltigen aufzufassen. — Vgl. dazu KrV A 138/B 177: Die Frage ist, „wie reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden können ... | Nun ist es klar, daß es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht" (vgl. auch Anm. 46/Kap. 3.1). Andererseits enthält der in Frage stehende Satz die Ausdrücke „Gegenstände, als 66

3.1 ,Bloße Materie'

77

Denn im vorliegenden Satz geht es um etwas wie das ,Prinzip' von M a t e r i e . Grundsätzlich bedeutet zwar „Materie ... das Bestimmbare überhaupt" und „Form" die Bestimmung der Materie,69 und insofern ist auch ,Erscheinung' (relativ auf bloße Sinnlichkeit) Materie für den kategorialen Verstand. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist aber nicht solche, aposteriorische Materie (vgl. KrV A 20/B 34), also „substantia phaenomenon" (KrV A265/B 321), gefragt, sondern die B e d i n g u n g jenes fundamentalen , daß', das die Vernunft als Inbegriff (synthetisch-) apriorischer Prinzipien der M ö g l i c h k e i t nicht aus sich allein zur R e a l i t ä t bringen kann.70 Die Bedingung dieses ,daß' ist aber deshalb in beiden Bedeutungen von ,Erscheinung' gleich getroffen, weil ja ,Erscheinung' (relativ auf bloße Sinnlichkeit) der materielle Aspekt von , Erscheinung' (als Phaenomenon) ist. „ ... so ist das, was an diesen der Empfindung entspricht, die transzendentale Materie ... " „An diesen" bezieht sich auf „Gegenstände, als Erscheinungen"; der Empfindung entspricht „an diesen" das, was n i c h t F o r m ist, also M a t e r i e — und das ist, nach ,Abzug' der sinnlichen synthetischen Einheit (Form der Zeitanschauung), das ,bloße Mannigfaltige' (eigentlich nur: ,Etwas'), sozusagen „an sich". Dieses a b s o l u t F o r m - l o s e kann uns nicht gegeben werden, denn apriorische Struktur haben nur ,Formen', alles aposteriori Gegebene ist aber (,schon') ge-formt ( S t r u k t u r e n der sinnlichen Anschauung).71 Dieses nur g e d a c h t e [vgl. den Beginn des Erscheinungen" und „Gegenstände, als Dinge an sich" in einer Weise, die eher an die Entsprechung von ,Phaenomena' und ,Noumena' denken läßt; außerdem verweist auch die eben gegebene Erklärung des „mithin" auf Gegenstände der Erfahrung (also auf .Erscheinung' als ,Phaenomenon' verstanden). 69 Vgl. KrV A 266/B 322. 70 Nämlich das Faktum, daß etwas (empirisch-real) existiert. — Vgl. z.B. KrV A 160/ B 199: „In der Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf mögliche Erfahrung ist der Gebrauch ihrer Synthesis entweder mathematisch, oder dynamisch: denn sie geht teils bloß auf die Anschauung, teils auf das Dasein einer Erscheinung überhaupt. Die Bedingungen a priori der Anschauung sind aber in Ansehung einer möglichen Erfahrung durchaus notwendig, die des Daseins der Objekte einer möglichen empirischen Anschauung an sich nur zufällig"; — vgl. auch Kants Formulierung bezüglich der „reproduktiven Einbildungskraft": „ ... welche die Gegenstände der Erfahrung herbei ruft" (KrVA 156/B 195). 71 Die ähnliche Formulierung — von KrV A 20/B 34: „In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung korrespondiert, die Materie derselben" [die uns nur

78

3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

ganzen Satzes: „im reinen Verstandesbegriffe"'] Etwas „an sich" ist bloße (Denk-)Bedingung der Möglichkeit von „Sachheit, Realität", i n s o f e r n also t r a n s z e n d e n t a l e ,Materie'. Dieser Ausdruck klingt in der Kantischen Philosophie wahrhaft seltsam,72 da ,transzendental' grundsätzlich auf ,Vemunft (i.w.S.)' bezogen ist; Vernunft aber, als Inbegriff aller (synthetisch-)apriorischen F o r m e n , diesem absolut F o r m l o s e n („transzendentale Materie") eigentlich gar nicht ,fremd' gegenübersteht, weil dieses gar kein ,Gegen-Stand' für sie sein kann: So gesehen ist es für Vernunft (i.w.S.) einfach ,nichts'. D e n n o c h benötigt der V e r s t a n d , will er diese Analysen denken, einen Begriff, der — bezogen auf die Ebene bloßer, vom Verstand abstrahierter Sinnlichkeit — ausdrückt, daß die apriorischen Formen von Sinnlichkeit und Verstand zwar Bedingungen der M ö g l i c h k e i t der (Gegenstände der) Erfahrung sind, aber nicht für ihre W i r k l i c h k e i t hinreichen [Auch an das ,daß' Schellings ist hier zu denken: p h i l o s o p h i s c h e r Empirismus']. Denn: „Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen" (KrV B 151), sie kann ihn aber nicht in empirisch-objektiver Realität erzeugen. Der Ausdruck „transzendentale Materie" steht hier — bezogen auf die Ebene bloßer Sinnlichkeit — in gleicher Weise für die , i n n e r e G r e n z e ' aller Sinnlichkeit ( R e z e p t i v i t ä t ) , wie der von mir verwendete Ausdruck ,bloße Materie'.73 a posteriori gegeben werden kann] und von KrV A. 143/B 182: „so ist das, was an diesen [d.s. die ,Gegenstände, als Erscheinungen'; G.R.] der Empfindung entspricht, die transzendentale Materie1'' [die uns überhaupt nicht ^gegeben* sein kann] — verwirrt nicht mehr. Denn es ist klar, daß ,Empfindung' unseren einzigen Zugang zu ,Materie' bedeutet; wenn dies aber so ist, dann muß -für den Verstand (vgl. Anm. 89b/Kap. 2) - nicht nur aposteriorisch zu gebende Materie der Empfindung korrespondieren' sondern - ,durch sie hindurch' - deren letzte ,Bedingung' („transzendentale Materie"): das nicht durch Vernunft (i.w.S.) allein ,konstituierbare' ,daß': daß uns überhaupt etwas (d.i. aposteriorische Materie) gegeben ist. 72 Hier klingt allerdings der ,alte' Sinn von ,transzendental' durch; ebenso in der Auffassung von ,transzendentaler Materie' als Aspekt des transzendentalen Objekts" (Noumenon). Dies und die Art, wie Kant das ,Noumenon im negativen Verstande' akzeptieren kann, mag als weitere Anzeige der grundsätzlichen Einheit des Begriffs .transzendental' gelten, dessen ,Spannung' zwischen ,alter' und ,neuer' Bedeutung zugleich .unterirdische' Zusammenhänge andeutet [vgl. Anm. 33 (letztes Drittel)/Kap. 3.1]. 73 Vgl. oben ab Fußnotenreferenz 41/Kap. 3.1.

3.1 ,Bloße Materie'

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„ ... aller Gegenstände, als Dinge an sich (die Sachheit, Realität)."

Die „Gegenstände, als Dinge an sich" bedeuten ,transzendentale Objekte' (,Noumena'). Da Noumena grundsätzlich, wenn auch nur abstrakt, zu denken sind als Einheiten von Form und Materie, so muß diese „transzendentale Materie" dem m a t e r i e l l e n A s p e k t dieser N o u m e n a entsprechen, und zwar „aller", da kein Kriterium für den Ausschluß einiger d i e s e r Noumena denkbar ist [ist doch h i e r die Frage nach der Gleich-Gültigkeit von Singular und Plural berechtigt]. Dies gilt allerdings nur für den Verstand, nur im D e n k e n (nicht ,reaP): Nur für den Zusammenhang dieser B e g r i f f e gilt die Gleichsetzung von: ,transzendentale Materie' (bzw. ,bloße Materie') und: ,materieller Aspekt des Noumenon'. Noch genauer wäre es, hier gar nicht von Begriff sondern nur von , G r e n z b e g r i f f ' zu sprechen, der — im Falle des ,Noumenon' — die innere Begrenzung unserer Sinnenwelt augenfällig darstellt [im Gegensatz zu der - dem Kantischen Begriffszusammenhang ,in der Tiefe' widersprechenden74 - Vorstellung einer Begrenzung der Sinnenwelt , außen', durch ,Grenzpfahle' irgendwie existierender noumenaler Gegenstände].75 Diese , i n n e r e Begrenzung' unserer Sinnenwelt (Phaenomena) aber ist die , innere Grenze' unserer Sinnlichkeit (Rezeptivität) und dafür steht ja „als DingfeJ an sich" der Grenzbegriff ,bloße Materie' (bzw. ^transzendentale Materie'). 74

Oft aus empiristischem Vorurteil heraus wird gern das Gegenteil behauptet. Dann kann die Aufdeckung von ganzen ,Widerspruchs-Nestem' als Beweis der eigenen, gern in Anspruch genommenen intellektuellen Redlichkeit' und ,wissenschaftlichen Brillanz' gefeiert werden — und zwar im Kontrast zu .metaphysisch orientierten' Autoren, die, so gesehen, nur aus mangelnder Klarheit diese .Nester' nicht bemerken könnten oder sie aus mangelnder Redlichkeit nicht bemerken wollten. 75 Vgl. dazu KrV A255/B 311: „Die Einteilung der Gegenstände in Phaenomena und Noumena, und der Welt in eine Sinnen- und Verstandeswelt, kann daher in positiver Bedeutung gar nicht zugelassen werden, obgleich Begriffe allerdings die Einteilung in sinnliche und intellektuelle zulassen; denn man kann den letzteren keinen Gegenstand bestimmen, und sie also auch nicht für objektivgültig ausgeben"; KrV A 259f/ B 315 (Einschübe: - ... - ; G.R.): „So ist denn" -ßir uns - „der Begriff reiner bloß intelligibeler Gegenstände gänzlich leer von allen Grundsätzen ihrer Anwendung, weil man keine Art ersinnen kann, wie sie gegeben werden sollten, und der problematische Gedanke" - den ,unser' Verstand denkt - „der doch einen Platz für sie offen läßt, dient nur, wie ein leerer Raum, die empirischen Grundsätze einzuschränken, ohne doch irgend ein anderes Objekt der Erkenntnis, außer der Sphäre der letzteren, in sich zu enthalten und aufzuweisen."

80

3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

3.2 Der , transzendentale Gegenstand = X' oder: Der Begriff des Dinges an sich bezogen auf den von aller Sinnlichkeit isolierten, reinen Verstand Der Begriff , E r s c h e i n u n g ' bedeutet je nach Bezugsebene1 Unterschiedliches: entweder - relativ auf ,Sinnlichkeit/bloße Materie' - das b l o ß s i n n l i c h e M o m e n t (,Mannigfaltigkeit') des empirischen Gegenstandes oder - relativ auf ,Sinnlichkeit/Noumenon' - den empirischen Gegenstand („Phaenomenon') selbst; oder, bezogen auf den von aller Sinnlichkeit abstrahierten Verstand2, das b l o ß e V e r s t a n d e s m o m e n t des Vgl. auch KrVA 51f/B 75f: „Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen. Deswegen darf man aber doch nicht ihren Anteil vermischen, sondern man hat große Ursache, jedes von dem ändern sorgfaltig abzusondern, und zu unterscheiden. Daher unterscheiden wir die Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt, d.i. Ästhetik, von der Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt, d.i. der Logik." : Vgl. KrV A 62/B 87: „In einer transzendentalen Logik isolieren wir den Verstand (so wie oben in der transzendentalen Ästhetik die Sinnlichkeit) und heben bloß den Teil des Denkens aus unserm Erkenntnisse heraus, der lediglich seinen Ursprung im Verstande hat". — Die Vorgangsweise der Transzendentalen Analytik [d.i. die „Logik der Wahrheit"; jener „Teil der transzendentalen Logik also, der die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis vorträgt, und die Prinzipien, ohne -welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann" (KrV A 62/B 87; vgl. auch KrV A 65 / 90 f)] ist also analog jener der Transzendentalen Ästhetik: Vom (.möglichen') empirisch-realen Gegenstand wird alles Sinnliche abgesondert, so daß nur der Verstandesanteil übrig bleibt. Und von diesem wird [wie aus der empirischen Anschauung die reinen, apriorischen Formen der Sinnlichkeit herausgehoben wurden] alles Empirische des Denkens abstrahiert, so daß die reinen, apriorischen Formen des Verstandes übrig bleiben: „Der reine Verstand sondert sich nicht allein von allem Empirischen, sondern so gar von aller Sinnlichkeit völlig aus. Er ist also eine vor sich selbst beständige, sich selbst gnugsame, und durch keine äußerlich hinzukommende Zusätze zu vermehrende Einheit" (KrV A65/B 89f). Dieser letzte Teilsatz gibt Anlaß, zwei verschiedene Grundausrichtungen der Kant-Interpretation (und nicht nur der Interpretation von Kant) kurz zu betrachten: (1) Jene, die Kant stückweise auslegt, einzelne, verabsolutierte Teile seiner Philosophie miteinander vergleicht und dann - relativ auf diese Vorgangsweise - verschiedenste Widersprüche Kants objektivieren kann; pointiert ausgedrückt: am Interpreten wird vor allem .Scharfsinn' geschätzt und dieser steht in direktem Verhältnis zur Konstruktion widerspruchgesättigter Interpretationsergebnisse; die so präparierten Widersprüche werden zu einer Art Kriterium für selbständiges Denken und sind doch in den meisten Fällen nur Folge dogmatischer Vorurteile, die derzeit vor allem dem Umkreis der analytischen Philosophie zuzurechnen sind. Die Kantische Philosophie stellt sich solcher Betrachtungsweise als Aggregat, als .puzzle' dar, als Auftürmung von noch einem Teil und noch einem Teil; auch als .Steinbruch', dem der eine oder andere Brocken vorteilhaft entnommen werden kann. (2) Die andere Rieh-

3.2 Der ,transzendentale Gegenstand = X'

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empirischen Gegenstandes.3 Diese formale E i n h e i t des Denkens ist Leistung des reinen Verstandes (Spontaneität)4 und gegründet in der transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins,5 die daher nicht mit der Kategorie tung der Kant-Auslegung sieht in der Kantischen Philosophie primär den Entwurf einer systematischen Einheit, von der gilt, was gerade bezüglich des reinen Verstandes zitiert wurde; daß sie nämlich „durch keine äußerlich hinzukommende Zusätze" zu vermehren sei. Nur diese Art der Betrachtung ermöglicht es, wesentliche Begriffe der Kantischen Philosophie (z.B. den des Dinges an sich) klar zu fassen und dennoch nicht zu verdinglichen (.verabsolutieren'), sondern ihre jeweilige Bedeutung relativ auf den ihnen jeweils entsprechenden systematischen Ort zu bestimmen. 3 Vgl. z.B. KrVA 127: „Alle Erscheinungen liegen also als mögliche Erfahrungen eben so a priori im Verstande, und erhalten ihre formale Möglichkeit von ihm, wie sie als bloße Anschauungen in der Sinnlichkeit liegen, und durch dieselbe, der Form nach, allein möglich sind." 4 Vgl. KrVB 129ff: „Das Mannigfaltige der Vorstellungen kann in einer Anschauung gegeben werden, die bloß sinnlich, d.i. nichts als Empfänglichkeit [d.i. Rezeptivitäf, G.R.] ist, und die Form dieser Anschauung kann a priori in unserem Vorstellungsvermögen liegen, ohne doch etwas andres, als die Art zu sein, wie das Subjekt affiziert wird. Allein die Verbindung (coniunctio), eines Mannigfaltigen überhaupt, kann ... nicht in der reinen Form der sinnlichen Anschauung zugleich mit enthalten sein; denn sie ist ein Actus der Spontaneität der Vorstellungskraft, und ... so ist alle Verbindung ... eine Verstandeshandlung, die wir mit der allgemeinen Benennung Synthesis belegen würden, um dadurch zugleich bemerklich zu machen, daß wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbsttätigkeit ist ... | Aber der Begriff der Verbindung führt außer dem Begriffe des Mannigfaltigen, und der Synthesis desselben, noch den der Einheit desselben bei sich. Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen." — Vgl. auch KrVB 137: „Verstand ist, allgemein zu reden, das Vermögen der Erkenntnisse. Diese bestehen in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Objekt. Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist." 5 Vgl. KrVB 131 f: „§ 16 | Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption | Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können ... Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung [.Vorstellung' ist ja entweder .Anschauung' oder .Begriff'; vgl. KrVA 56/B 80, auch KrVA 320/B 376f (hier ist eine ganze „Stufenleiter" der „Vorstellungsarten" dargeboten); G.R.] eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird. Diese Vorstellung [.Ich denke'; G.R.] aber ist ein Actus der Spontaneität, d.i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die reine Apperzeption, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle andere muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann. Ich nenne auch die Einheit derselben [d.i. reine Apperzeption; G.R.] die transzendentale Einheit des Selbst-

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

der Einheit verwechselt werden darf.6 — Im Zusammenhang mit dieser Einheit (des Denkens) des Gegenstandes spricht Kant in der ersten Bewußtseins, um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen." Das ,sie' in: „Ich nenne sie die reine Apperzeption" ist nicht, wie es die Grammatik nahelegt, auf „diese Vorstellung" zu beziehen; aus dem Sinnzusammenhang ergibt sich die Bedeutung des ,sie' klar als .Apperzeption': diese, ,sie', wird „reine Apperzeption" genannt. — Nur so kann die „ursprüngliche Apperzeption" dasjenige Selbstbewußtsein sein, das die „Vorstellung Ich denke hervorbringt"; und nur so gesehen ist Kants Behauptung, „Das Ich denke ist, wie schon gesagt, ein empirischer Satz" (KrV B 422 (Anm.); vgl. auch KrV E 428), zu akzeptieren [das: „muß alle meine Vorstellungen begleiten können" (KrV E 131) ist jetzt nicht zu übersehen]. Dies aber ist in der Transzendentalen Dialektik von Bedeutung, denn: „Ich denke, ist also der alleinige Text der rationalen Psychologie, aus welchem sie ihre ganze Weisheit auswickeln soll" (KrV A 343/B401); wenn aber „das mindeste Empirische meines Denkens, irgend eine besondere Wahrnehmung meines inneren Zustandes, noch unter die Erkenntnisgrunde dieser Wissenschaft gemischt würde, so wäre sie nicht mehr rationale, sondern empirische Seelenlehre" (KrV A 342/B 400); — das Ende der Anmerkung KrV B 422 flautet: „ ... es ist zu merken, daß, wenn ich den Satz: ich denke, einen empirischen Satz genannt habe, ich dadurch nicht sagen will, das Ich in diesem Satze sei empirische Vorstellung", vielmehr ist sie rein intellektuell, weil sie zum Denken überhaupt gehört. Allein ohne irgend eine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgibt, wurde der Actus, Ich denke, doch nicht stattfinden, und das Empirische ist nur die Bedingung der Anwendung, oder des Gebrauchs des reinen intellektuellen Vermögens"; — und so kann Kant schließlich sagen (KrV B 426f): „Der dialektische Schein in der rationalen Psychologie beruht auf der Verwechselung einer Idee der Vernunft (einer reinen Intelligenz) mit dem in allen Stücken unbestimmten Begriffe eines denkenden Wesens überhaupt ... Folglich verwechsele ich die mögliche Abstraktion von meiner empirisch bestimmten Existenz mit dem vermeinten Bewußtsein einer abgesondert möglichen Existenz meines denkenden Selbst, und glaube das Substantiate in mir als das transzendentale Subjekt zu erkennen, indem ich bloß die Einheit des Bewußtseins, welche allem Bestimmen, als der bloßen Form der Erkenntnis, zum Grunde liegt, in Gedanken habe." — Vgl. auch KrV A 117 (Anm.). 6 Vgl. KrV B 131: „Diese Einheit, die a priori vor allen Begriffen der Verbindung vorhergeht, ist nicht etwa jene Kategorie der Einheit (§ 10); denn alle Kategorien gründen sich auf logische Funktionen in Urteilen, in diesen aber ist schon Verbindung, mithin Einheit gegebener Begriffe gedacht"; — KrV B 134 (Anm.): „Und so ist die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst." — Dieser Verstand ist diskursiv, nicht intuitiv: „Der Verstand wurde oben bloß negativ erklärt: durch ein nichtsinnliches Erkenntnisvermögen. Nun können wir, unabhängig von der Sinnlichkeit, keiner Anschauung teilhaftig werden. Also ist der Verstand kein Vermögen der Anschauung. Es gibt aber, außer der Anschauung, keine andere Art, zu erkennen, als durch Begriffe. Also ist die Erkenntnis eines jeden, wenigstens des menschlichen, Verstandes eine Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern diskursiv. Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen, die Begriffe also auf Funktionen. Ich verstehe aber

3.2 Der .transzendentale Gegenstand = X'

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Auflage der Kritik der reinen Vernunft1 von einem „transzendentalen Objekt" bzw. einem „ t r a n s z e n d e n t a l e n Gegenstand = X"; 8 und eben dies ist der Name des Dinges an sich auf der Ebene bloßen, von aller Sinnlichkeit isolierten Verstandes: unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen. Begriffe gründen sich also auf der Spontaneität des Denkens, wie sinnliche Anschauungen auf der Rezeptivität der Eindrücke" (KrV A 67f/B 92f). — Vgl. auch KrV A 69/B 94: „Alle Urteile sind demnach Funktionen der Einheit unter unsern Vorstellungen, da nämlich statt einer unmittelbaren Vorstellung eine höhere, die diese und mehrere unter sich begreift, zur Erkenntnis des Gegenstandes gebraucht, und viel mögliche Erkenntnisse dadurch in einer zusammengezogen werden." 7 KrV A 103ff (Von der Synthesis der Rekognition im Begriffe), KrV A 249ff (Phaenomena und Noumena). 8 In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ist diese Bezeichnung im Abschnitt Phaenomena und Noumena n i c h t mehr in d i e s e r Bedeutung, im Rahmen der Transzendentalen Deduktion überhaupt nicht mehr zu finden [Ihre Stelle nimmt hier der - schon in der ersten Auflage entsprechend verwendete - Begriff der Einheit der transzendentalen Apperzeption ein]. — Ist also das ,Ding an sich' als Korrelat bloßer, von allem Verstand isolierter Sinnlichkeit als explizit genanntes (,bloße Materie' bzw. .transzendentale Materie') im Text kaum aufweisbar, so kommt es als Korrelat des von aller Sinnlichkeit isolierten Verstandes in der zweiten Auflage (der Kritik der reinen Vernunft) mit explizitem Namen — ,transzendentales Objekt' bzw. .transzendentaler Gegenstand', verstanden als bloße Form des ,,Begriffe[s] eines Gegenstandes überhaupt" {KrV A 251) — nicht mehr vor [zur Frage einer Ausnahme in KrV A 247/B 304 vgl. Anm. 36/Kap. 3.3]. — Die vor allem durch Benno Erdmann bzw. den Neukantianismus verbreitete Unterscheidung der beiden Fassungen der Kritik der reinen Vernunft als ,mehr idealistisch' (Auflage A) bzw. ,eher realistisch' (Auflage B) hat hier keine Bedeutung. Bezogen auf das Interesse an den wesentlichen Problemen der a/5 systematischen Entwurf aufgefaßten Kantischen Philosophie halte ich diese Unterscheidung nicht bloß für irrelevant sondern geradezu für schädlich und irreführend, weil der in der Kritik der reinen Vernunft (gleich welcher Auflage) vertretene transzendentale Idealismus, der zugleich empirischen Realismus bedeutet - bzw. umgekehrt: der empirische Realismus, der zugleich transzendentalen Idealismus bedeutet -, nicht ,mehr oder weniger' idealistisch oder realistisch aufgefaßt werden kann. Denn nur die klarste Unterscheidung von empirischer Realität und transzendentaler Idealität - die daher in empirischer Betrachtung auch notwendigerweise .nichts' ist für theoretisches Erkennen bringt als Konsequenz die Erkenntnis der Grenze theoretischen Erkennens und damit die - theoretische - (Denk-)Möglichkeit praktischer Erkenntnis'. — Gerade dies aber ist eine der wesentlichsten Leistungen der kritischen Philosophie Kants, zum Ausdruck gebracht in der Kritik der reinen Vernunft (und nicht in dieser oder jener Auflage). Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Ding an sich ergibt sich jedoch durch die zweite Auflage insofern eine Veränderung der Symmetrie, als jetzt das ,Ding an sich' nicht nur als Korrelat bloßer Sinnlichkeit nicht, sondern auch als Korrelat bloßen Verstandes nicht mehr aufscheint. — So müßten die Noumena als Korrelat der .Sinnenwelt' [d.i.: Inbegriff der Phaenomena, die als jewei-

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie „Alle unsere Vorstellungen werden in der Tat durch den Verstand auf irgend ein Objekt bezogen, und, da E r s c h e i n u n g e n nichts als Vorstellungen9 sind, so bezieht sie der Verstand auf ein E t w a s, als den G e g e n s t a n d der sinnlichen Anschauung: aber dieses Etwas ist in so fern nur das t r a n s z e n d e n t a l e O b j e k t . Dieses bedeutet aber ein E t w a s = , wovon wir gar nichts wissen, noch überhaupt (nach der jetztigen Einrichtung unseres Verstandes) wissen können, sondern, welcher nur als ein C o r r e l a t u m der E i n h e i t der A p p e r z e p t i o n zur Einheit des Mannigfaltigen in der sinnlichen Anschauung dienen kann, vermittelst deren [d.i. Einheit der Apperzeption; G.R.] der Verstand dasselbe [d.i. Einheit des Mannigfaltigen; G.R.] in den Begriff eines Gegenstandes vereinigt. Dieses transzendentale Objekt läßt sich gar nicht von den sinnlichen Datis absondern, weil alsdenn nichts übrig bleibt, wodurch es gedacht würde. Es ist also kein Gegenstand der Erkenntnis an sich selbst, sondern nur die Vorstellung der Erscheinungen, unter dem Begriffe eines Gegenstandes überhaupt, der durch das Mannigfaltige derselben bestimm-

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lige (Verstandes-)Einheit von Sinnlichkeit und Verstand gedacht sind] klarer zu fassen sein. Dies wäre auch erstrebenswert, da das „Platz ... bekommen" (KrVB XXX), um das es ja schließlich geht, auf die Einschränkung der Sinnenwelt („Natur") bezogen ist und durch die .Nennung' der Noumena erfolgt (vgl. KrV A256/B 312). — Es bleibt aber beim Konjunktiv. Dies ist einerseits darauf zurückzuführen, daß die Kette der verschiedenen Bedeutungen von ,Ding an sich' im Rahmen der kritischen Philosophie [vgl. das Schema: ,Ding an sich-Erscheinung' am Anfang von Kap. 3] verkürzt wurde, was das Verständnis der .Wandlungen' dieses Begriffs nicht fördert; und vor allem andererseits auf die Vermengung der Ebene bloßer Sinnlichkeit und bloßen Verstandes in der Transzendentalen Ästhetik. Eine mögliche systematische Erklärung für die Entfernung des Ausdrucks „Transzendentaler Gegenstand = X" aus der Auflage B ist die, daß diese .Einheit des Verstandes' in dem Sinn nicht als .synthetisch' (daher also als ^analytisch') anzusprechen ist, als der .leere' Verstand prinzipiell nicht über sich hinaus kommt (,bei sich' bleibt); und daß - auch wenn die Art der sprachlichen Darstellung in der Kritik der reinen Vernunft dies verdeckt - eine .synthetisch-apriorische Einheit' ja nicht in der Art eines statischen Gefäßes aufzufassen ist, das ,leer' oder .gefüllt' sein könnte. Der prinzipiell , leere' Verstand kann nicht .Einheit' in einem in jeder Weise identischen Sinn sein wie der prinzipiell Constitutive' Verstand. — Ich glaube hier ein tiefsitzendes Problem der Kantischen Terminologie anzusprechen, habe es aber - der Kritik der reinen Vernunft entsprechend - in dieser Schrift nicht weiter berücksichtigt. Denn das Anliegen dieser Schrift ist ,menschliches Denken', dieses aber ist nur möglich nach der Überwindung eines Begriffs von .Denken', das ausschließlich auf,Gegenstände' geht bzw. dessen .Objektivität' von Objekten abhängig ist. Diese Überwindung ist - wie ich glaube - Kant gelungen (unabhängig vom hier genannten Problem); die Darstellung der .Wandlungen' des Begriffs des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie, die ich hier versuche, hat die Absicht, jenseits von aller bloß ,historischen Gelehrsamkeit' den Weg dieser Überwindung zu klären bzw. aus .Kant' herauszuzeichnen. D.h. hier: .Anschauungen'.

3.2 Der ,transzendentale Gegenstand =

'

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bar ist. | Eben um deswillen stellen nun auch die Kategorien kein besonderes, dem Verstande allein gegebenes Objekt vor, sondern dienen nur dazu, das transzendentale Objekt (den Begriff von etwas überhaupt) durch das, was in der Sinnlichkeit gegeben wird, zu bestimmen, um dadurch Erscheinungen unter Begriffen von Gegenständen empirisch zu erkennen."10 ,Erscheinung' als das sinnliche Moment des empirischen Gegenstandes, das durch produktive Einbildungskraft zu einer Einheit geformte — nur sinnlich mögliche — Mannigfaltige, wird auf ein Etwas = X, auf den — nur dem V e r s t a n d möglichen — B e g r i f f eines Gegenstandes bezogen.11 Diese inhaltsleere Einheit des Gegenstandes ist als Korrelat der Einheit der Apperzeption (d.i. des Selbstbewußtseins bzw. des: Ich denke) b l o ß e F o r m des Begriffs eines Gegenstandes überhaupt: das V e r s t a n d e s m o m e n t des e m p i r i s c h e n G e g e n s t a n d e s . 1 2 Das ,Korrelat' bzw. das O b j ekt der Einheit der Apperzeption i s t also die bloß formale E i n h e i t des Gegenstandes, die „von uns nicht mehr angeschaut werden kann,13 und daher der n i c h t e m p i r i s c h e , d.i. transzendentale Gegenstand = X genannt werden mag".14 „Dieses t r a n s z e n d e n t a l e O b j e k t läßt sich gar nicht von den sinnlichen Datis absondern, weil alsdenn nichts übrig bleibt, wodurch es gedacht würde.15 Es ist also kein Gegenstand der Erkenntnis an sich selbst, 10

KrVA 250f. Vgl. z.B. KrVQ 150ff [„figürliche Synthesis" oder „synthesis speciosa" als Synthesis der „produktiven Einbildungskraft"; „Erscheinung" als Einheit des sinnlichen Mannigfaltigen; „Verstandesverbindung" oder „synthesis intellectualis" als leere kategoriale Einheit]. 12 Vgl. KrV A 104: „Wir haben oben gesagt: daß Erscheinungen selbst nichts als sinnliche Vorstellungen sind, die an sich, in eben derselben Art, nicht als Gegenstände ... müssen angesehen werden. Was versteht man denn, wenn man von einem der Erkenntnis - [d.i. hier: Erkenntnis durch Anschauungen (vgl. KrV A68/B 92f) im Unterschied von Erkenntnis durch Begriffe (vgl. KrV A69/B 94), G.R.] - korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstande redet? Es ist leicht einzusehen, daß dieser Gegenstand nur als Etwas überhaupt = X müsse gedacht werden"; — KrVA 105: „Es ist aber klar, daß, da wir es nur mit dem Mannigfaltigen unserer Vorstellungen zu tun haben, und jenes X, was ihnen korrespondiert (der Gegenstand), weil er etwas von allen unsern Vorstellungen Unterschiedenes sein soll, vor uns nichts ist, die Einheit, welche der Gegenstand notwendig macht, nichts anders sein könne, als die formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen. Alsdenn sagen wir: wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit bewirkt haben." 13 Zum Unterschied vom Mannigfaltigen der Erscheinung, dem sinnlichen - d.i. (räum-) 11

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

sondern nur die Vorstellung der Erscheinungen, unter dem Begriffe eines Gegenstandes überhaupt, der durch das Mannigfaltige derselben [d.i. der Erscheinungen; G.R.] bestimmbar ist."16

Der Begriff dieses ..transzendentalen Gegenstandes = X' ist so als bloßer, ,leerer' Grenz-Begriff für ,unseren'17 reinen, von aller Sinnlichkeit abstrahierten Verstand zu sehen, der s i c h s e l b s t als unerkennbarem18, bloß formalem , O b j e k t ' gegenübersteht. Der Begriff des »transzendentalen Gegenstandes = X' bedeutet die notwendige E i n h e i t des O b j e k t s überhaupt, die ,zugleich' die Einheit des ,Ich' 1 9 der r e i n e n A p p e r z e p t i o n ist.20 zeitlichen - Moment des empirischen Gegenstandes. — Zu »Korrelat* vgl. KrV A 250 (zitiert vor Fußnotenreferenz l O/Kap. 3.2). 14 KrV A 109; vgl. auch KrV A 538f/B 566f. — Zum Text der Transzendentalen Deduktion KrV A 103-109 ist in diesem Zusammenhang zu bemerken, daß hier mehrmals die „Einheit der Apperzeption" von ihrer transzendentalen Bedingung, der Einheit der transzendentalen Apperzeption unterschieden wird, wie auch der „Gegenstand = X" von seiner transzendentalen Bedingung, dem „transzendentalen Gegenstand = X". — Um meinen Text nicht schwieriger als nötig zu gestalten habe ich ihn von dieser Komplizierung freigehalten. Da diese Unterscheidung nichts anderes meint als den Unterschied der empirischen und der diese bedingenden transzendentalen Ebene (vgl. z.B. KrV A 107), dieser Unterschied im vorliegenden Text jedoch stets durchgehalten ist - es geht hier selbstverständlich nur um die transzendentale Ebene .reiner' Apperzeption -, so hoffe ich eventuelle Schwierigkeiten durch diese Bemerkung zu beseitigen, die entstehen könnten, wenn die entsprechenden Zitate aus Phaenomena und Noumena (Auflage A), wo die genannte Unterscheidung - wie hier im Text - nicht ausdrücklich gemacht wird, verglichen würden mit jenen aus der Transzendentalen Deduktion (Auflage A), und dann einmal zu lesen steht, der transzendentale Gegenstand sei die Einheit der Apperzeption, das andere Mal aber, er sei die Einheit der (jene Einheit voraussetzenden) transzendentalen Apperzeption. 15 Die formale Einheit des Gegenstandes ist auf Inhalt angewiesen, sie kann nur durch ihren Inhalt („wodurch es gedacht würde") empirisch-tatsächlich gedacht werden. 16 KrV A 250f. — Es versteht sich von selbst, daß im Abschnitt: Phaenomena und Noumena in der Auflage A jeweils sehr genau zu prüfen ist, ob eine Textstelle auf Noumena als „problematische", „transzendentale Objekte" eines ebenfalls „problematischen", nicht-sinnlich anschauenden Verstandes geht oder, wie im vorliegenden Kontext des , transzendentalen Gegenstandes = X', auf die bloße kategoriale Einheit .unseres' Verstandes. 17 Der ein ,diskursiver', nicht,intuitiver' Verstand ist. 18 Da Erkenntnis ja zwei .Stamme' hat: Sinnlichkeit und Verstand. 19 Es ist naheliegend, dieses ,/c/i' der reinen Apperzeption [bzw. dessen der Einheit des transzendentalen Objekts entsprechende Einheit des Subjekts] , transzendentales Subjekt' zu nennen. — Jedoch: Der Ausdruck „transzendentaler Gegenstand" hat - ich habe schon früher daraufhingewiesen und komme bei der noch folgenden (vgl. Kap. 3.3 bzw. Kap. 3.4) Unterscheidung der Begriffe „transzendentaler Gegenstand" und

3.3 Das ,Noumenon' ... als Grenzbegriff

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Deshalb war es auch möglich, in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft d i e s e n Begriff des transzendentalen Gegenstandes zu entfernen und dennoch den systematischen Zusammenhang — durch den Begriff der transzendentalen Apperzeption — zu wahren.

3.3 Das ,Noumenon' oder: Der Begriff des Dinges an sich als Grenzbegriff, bezogen auf die durch reine Sinnlichkeit und reinen Verstand konstituierte Sphäre empirischer Realität Bevor wieder diffizile Betrachtungen alle Aufmerksamkeit fordern, kann eine kurze Erinnerung die möglicherweise entstehende Frage auflösen, wozu diese vielleicht abstrakt anmutenden Kant-Exegesen dienen sollen. Es „Noumenon" darauf zurück - zwei Bedeutungen [entsprechend der früher vermerkten Unterscheidung einer ,alten' und einer ,neuen' Bedeutung von ,transzendental'; vgl. Anm. 33/Kap. 3.1]: Die ,neue' als bloß formale gegenständliche Einheit, in diesem Sinn spricht nur die erste Auflage der KrV vom .transzendentalen Gegenstand'; und die ,altel Bedeutung als prinzipiell vollständiger Gegenstand [gleichgültig ob bloß ,im negativen Verstande' oder nicht] als Einheit von Form und Inhalt; dieser Sinn allein ist in der zweiten Auflage der KrV erhalten geblieben. Der Ausdruck „transzendentales Subjekt" ist in der KrV - wie ich glaube: ausschließlich - in der .alten' Bedeutung von .transzendental' gebraucht und daher nicht als Korrelat des hier [d.i. auf der (Bezugs-)Ebene des von aller Sinnlichkeit abstrahierten Verstandes] allein interessierenden „transzendentalen Gegenstandes = X" [d.i. in der .neuen' Bedeutung von .transzendental'] aufzufassen. Daneben gibt es allerdings den Ausdruck: „transzendentales Bewußtsein" [vgl. KrV A 117(Anm.): Das „Ich" als „transzendentales Bewußtsein"] für die „Einheit der transzendentalen Apperzeption" [im Abschnitt über die transzendentale Deduktion der Kategorien]. — So scheint der Ausdruck: „transzendentales Bewußtsein" die .neue' Bedeutung des Ausdrucks: „transzendentales Subjekt" zu besitzen, „transzendentales Subjekt" jedoch nur in der .alten' Bedeutung gebraucht zu sein. Vgl. dazu KrV B 427 (zitiert am Ende der Anm. 5/Kap. 3.2); auch KrV A 253: „Das Objekt, worauf ich die Erscheinung überhaupt beziehe, ist der transzendentale Gegenstand, d.i. der gänzlich unbestimmte Gedanke von etwas überhaupt. Dieser kann nicht das Noumenon heißen; denn ... ich habe gar keinen Begriff von ihm. als bloß von dem Gegenstande einer sinnlichen Anschauung überhaupt" [d.i. der „transzendentale Gegenstand = X"]. „Transzendentales Bewußtsein" = Einheit der transzendentalen Apperzeption = Korrelat zu: „transzendentaler Gegenstand = X"; — „Transzendentales Subjekt" [z.B. in KrV B 427] = Korrelat zu: „transzendentaler Gegenstand" (im Sinne von: Noumenon). 20 Vgl. KrV A 108: „Also ist das ursprüngliche und notwendige Bewußtsein der Identität seiner selbst zugleich ein Bewußtsein einer eben so notwendigen Einheit der Synthesis aller Erscheinungen nach Begriffen ..."

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

geht hier um ein konsequentes Denken, das den Menschen realistisch und möglichst umfassend denken kann: um , m e n s c h l i c h e s D e n k e n ' ; um die Rede1 vom Menschen nicht nur als Gegenstand verschiedenster Wissenschaften (und der diesen entsprechenden Techniken) sondern vor allem um die — a u c h durch Denken zu klärende — Einsicht in die moralisch-geistig-religiöse P o t e n z der einzigartigen' menschlichen Person. Ein solches Denken muß , V e r n u n f t ig' und kräftig sein, das heißt es muß diese beiden Dimensionen, die wissenschaftlich-gegenständliche und die moralisch-geistig-religiöse, klar voneinander scheiden können und diese Unterscheidung wiederum auf s i c h s e l b s t r e l a t i v i e r e n können als eine, die i m D e n k e n ihre Realität besitzt — und dennoch nicht in einen ,Konventionalismus' verfallen. Alle diese Merkmale finde ich in der Philosophie von Immanuel Kant: Seine Philosophie in ihrem s y s t e m a t i s c h e n Zusammenhang skizzieren bedeutet, in diesen systematischen Zusammenhang e i n t a u c h e n , und das heißt wiederum, nicht ,Information' aufnehmen und abgeben sondern einen E r k e n n t n i s - P r o z e ß durchmachen.2 Vordergründig stellt sich hier dieser Prozeß bloß als das Einsehenkönnen der von Stufe zu Stufe verschiedenen Bedeutungen des Begriffes des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie dar, und zwar auf der Folie einer solchen schematischen Gliederung der Strukturen unserer Vernunft, von der ich glaube, daß sie ,Kant' entspricht. Es geht aber letzten Endes nicht um Kant-Interpretation sondern um Ö f f n u n g für Wirklichkeit im weitestmöglichen Sinn: durch das Medium eines entsprechenden Kant-Verständnisses. Daher das wesentliche Interesse an Interpretation — und doch nicht um ihrer selbst willen.3 Die grundsätzlich systematische Ausrichtung an Kant hat zur Konsequenz, daß das historische Individuum Kant, seine historisch bzw. psychosoziologisch beschreibbare Denkentwicklung, höchstens marginal interessiert; das gleiche gilt für seine gesamte Philosophie als O b j e k t (philosophie-)historischer Forschung.4 Der verbreiteten Meinung, solche syste1 2 3 4

,Rede' verstanden als adäquater Ausdruck des tatsächlich gelebten Lebens, und nicht etwa als Ausdruck schwächlicher ,Schöngeistigkeit' bzw. sonstiger ,Rationalisierung'. In dieser Schrift z.B. durch die Auseinandersetzung mit dem Problem der Gegenständlichkeit. Vgl. Zitat in Anm. 27/Kap. 3.3. Wird Philosophie zum Objekt historischer Forschung gemacht - wie z.B. in weiten Bereichen des Neukantianismus -, dann ist die sogenannte ,Patchwork'-Sicht wesentlich: In ihr verliert der logisch-systematische Begriffszusammenhang seine ,Kraft' bzw. seine ,innere Spannung', die dann nur noch als formal-logisch objektivierbare

3.3 Das .Noumenon' ... alsGrenzbegriff

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matische Betrachtungsweise behaupte borniert, ,es sei schon alles da', während doch historische Untersuchung im weitesten Sinn oft genau zeigen könne, wie ein S t ü c k in der Zeit zu einem anderen S t ü c k dazukommt bzw. zu einem anderen umgebildet wird bzw. durch ein anderes ersetzt wird, liegt letztlich ein positivistisches Mißverständnis zugrunde: Logisch-systematische Betrachtung — zumindest im hier geübten Sinn — ist ja gerade nicht primär auf ,Lehr-Stücke' hin ausgerichtet5 sondern auf den zeitlosen Entwurf e i n e r Denkstruktur, die sich (mehr oder weniger vollendet) im Z e i t a b l a u f in — möglicherweise verschiedenen, vordergründiger Betrachtung (die nicht ,Geist', nur ,Buchstaben' kennt) sogar sich zu widersprechen scheinenden — verbalen Äußerungen (Texten) manifestiert.6 Wenn also in meiner Darstellung der diversen Bedeutungen des ,Dinges an sich' bei Kant mehrere ,Schichten' (Bezugs-Ebenen) voneinander unterschieden werden, so geschieht dies ausschließlich in systematischer Hinsicht.7 Von Hegel stammt der Vorwurf, Kant habe die Vernunft auf den Verstand (,herunter') gebracht, seine Philosophie sei bloße Verstandesphilosophie. Vorwürfe, Karikaturen oder auch ,Entlarvungen' sind gerade dann Widersprüchlichkeit erscheint; er zerfällt in verschiedene ,Lehr-S/üc/«?' und .Schichten', die nun als primär ,wissenschaftliche' Objekte zeitlicher Datierung, ideengeschichtlicher Beziehungsstiftung usw. zugänglich sind. Ihre grundsätzliche gegenseitige Isolierung ist Voraussetzung z.B. für die Möglichkeit, sie im Kontext zeitlicher Abfolgen zusammenzusetzen (, puzzle'). 5 Dies bedeutet natürlich nicht, daß ,Lehr-Stücke' nicht zu würdigen seien; sie werden aber nicht als das, was sie verbal-textlich (d.i. ,philologisch' bzw. hier: ,empirisch-faßbar') darstellen, hingenommen sondern als Versuch aufgefaßt, Wirklichkeit zu denken, letztlich von ,realisierter' (Martin Buber) Wirklichkeit in der Form von Argumenten zu erzählen" (vgl. Kap. 2.1.3). — Plakativ wären beide Haltungen als .patchwork' und als ,philosophia perennis' einander gegenüber zu stellen. 6 Vgl. unter diesem Aspekt Kants „arrogant" und „selbstsüchtig" klingende „Frage ... : ob es wohl mehr als eine Philosophie geben könne", und seine anschließende Erklärung: „Verschiedene Arten zu philosophiren und zu den ersten Vernunftprincipien zurückzugehen, um darauf mit mehr oder weniger Glück ein System zu gründen, hat es nicht allein gegeben, sondern es mußte viele Versuche dieser Art ... geben; aber da es doch, objectiv betrachtet, nur Eine menschliche Vernunft geben kann: so kann es auch nicht viel Philosophieen geben, d.i. es ist nur Ein wahres System derselben aus Principien möglich, so mannigfaltig und oft widerstreitend man auch über einen und denselben Satz philosophirt haben mag" (MSlRLl Vorrede VI/206f). 7 Um es noch einmal zu sagen: Das schließt natürlich nicht aus, daß historische Untersuchung eine zeitliche Abfolge in der Ausbildung dieser .Schichten' feststellen kann: Wie sollte auch eine komplexe Philosophie empirische Realität werden können, wenn nicht im Verlauf einer zeitlichen Entwicklung?

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

von Gewicht, wenn sie Wahrheit enthalten; diese ist aber grundsätzlich ohne Aggression und (Ab-)Wertung formulierbar. Im gegebenen Zusammenhang geht es um die Einsicht in die dominierende Rolle des V e r s t a n d e s 8 in der D a r s t e l l u n g der Kantischen Philosophie. Wenn man bedenkt, daß diese Philosophie nicht nur Sphären ,über' dem Verstand (,Vemunft') kennt sondern auch solche ,unterhalb' des Verstandes (, Sinnlichkeit'), daß aber alle diese Sphären - einschließlich jener des ,Verstandes' selbst - in der Sprache des Verstandes ihre Darstellung in ihrem systematischen Zusammenhang finden,9 dann müßte die Wichtigkeit der Unterscheidung dieser Sphären klar sein, auch die besondere, damit verbundene Schwierigkeit; zugleich müßte die N o t w e n d i g k e i t klar sein, diese Sphären (Bezugs-Ebenen) n i c h t a b s o l u t zu setzen, nicht voneinander ,abzulösen' sondern sie als A s p e k t e des Ganzen (,Totalität'), der e i n e n W i r k l i c h k e i t , in der wir leben, die wir verwirklichen sollen bzw. wollen etc. (die Formulierung richtet sich nach der sie begründenden Sphäre), zu erfassen. Die begriffliche, mit wissenschaftlichem Anspruch auftretende Darstellung dieser Weltsicht — einschließlich eines ,Ausblicks' auf Gott „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" — durch Kant erfolgt ausschließlich auf der Ebene des Verstandes.10 Dies ist der Hintergrund für die Auslegung der verschiedenen Bedeutungen der Rede vom Ding an sich; vor diesem Hintergrund erfolgte die Unterscheidung der Begriffe des ,Dinges an sich': einmal bezogen auf die 8

.Verstand' natürlich immer in der von Kant gegebenen Bedeutung. Eine neue Qualität von Spannung ergibt die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft bzw. die Darstellung dieser Unterscheidung im Verstandesmedium (vgl. dazu vor allem Kap. 3.5). 10 Zum Begriff »Verstand' bzw. ,Vernunft' vgl. das ,Schema der Vernunft' (Kap. 2.1.1). — Die oft zu hörende Behauptung, Kant verwechsle in seinem Werk oftmals die Begriffe .Verstand' und .Vernunft', ist nur an der Oberfläche richtig: Zwar sind einerseits genügend Textstellen zu finden, in denen das Wort .Verstand' in eindeutig vom Wort .Vernunft' unterschiedenem Sinn gebraucht wird, und andererseits genügend Textstellen, in denen .Verstand' zu lesen ist obwohl .Vernunft' zu erwarten wäre; — aber wenn einmal klar gesehen wurde, daß .Verstand' eine ganz bestimmte Bedeutung von .Vernunft' darstellt, dann zeigen sich solche Textstellen in ihrer Mehrheit nicht mehr terminologisch schwimmend sondern im Gegenteil besonders prägnant: .Verstand' steht oft für theoretische Vernunft', sofern diese nicht spekulativ-dialektisch und auch nicht als Vermögen regulativer Einheit (.Ideen') gemeint ist [und in solchem Fall wiederum oft in Kontrast zu .Vernunft' (als Name für praktische Vernunft')]. 9

3.3 Das ,Noumenon' ... als Grenzbegriff

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Ebene bloßer Sinnlichkeit, das andere Mal bezogen auf die Ebene bloßen Verstandes. Ich habe bisher versucht darzulegen, daß Kant auf der Ebene bloßer, von allem Verstand ,isolierter' Sinnlichkeit ,fur diese Sinnlichkeit' gar kein Wort für etwas wie ein ,Ding an sich' gebraucht:11 Sie kennt fü r s i c h k e i n e G r e n z e ; sie ist entweder erregt (,Affektion'!) oder nicht [Zugespitzt könnte man sagen: sie ist ,aktuell' bzw. ,wirklich' nur im ,Zustand' der Erregung, sonst nur Potenz, Möglichkeit]. Anders ausgedrückt: Dir Zeichen ist R e z e p t i v i t ä t . 1 2 D a aber auch die Sphäre bloßer Sinnlichkeit ihre Darstellung durch und ,fur den Verstand' findet, entsteht auch hier die Frage nach dem der (,reinen') Sinnlichkeit ,fremden' Etwas: Ich habe da von ,bloßer Materie' gesprochen. Die Unterscheidung dessen, was ,bloße Materie' bedeutet, von der — im Rahmen der Transzendentalen Ästhetik — oft (im Singular wie im Plural) gebrauchten Formulierung ,Ding an sich' ergab den bemerkenswerten Befund, daß in der Transzendentalen Ästhetik bei logisch-systematischer Betrachtung ,fur die Sinnlichkeit' gar kein ,Ding an sich' auffindbar ist13 und daß — wiederum in s y s t e m a t i s c h e r Hinsicht — die hier vorkommenden Reden vom Ding an sich an das Ende der Transzendentalen Analytik gehören: zur Frage „der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena". — Auf der Ebene eines bloßen, von aller Sinnlichkeit isoliert gedachten Verstandes zeigte sich das ,Ding an sich' als bloße Einheit kategorialen Denkens, die Kant — objektiviert gedacht — den „transzendentalen Gegenstand = X" nennt14 und die der Einheit der transzendentalen Apperzeption („transzendentales Bewußtsein") entspricht.15 11

Vgl. dazu Kap. 3.1.1. Die Sphäre der Sinnlichkeit -wird nicht erregt (,afliziert') , außen'; sie ist ,wirklich' im Zustand der Erregung ( , Affektion') oder sie ist nur bloße Möglichkeit. Da sie in diesem Zustand entweder ist oder nicht ist, ist die Rede vom Afftzieren bzw. Afflziert-werden der Sphäre der Sinnlichkeit im Anschluß an Kant vollkommen unangebracht: Erstßir den Verstand stellt sich die kausale Frage. — .Affizieren' wird so zu einem bloß empirischen Begriff. In Raum und Zeit werden ,wir' - als empirische Organismen verstanden - ,affiziert' von diversen empirischen Gegenständen; — nochmals: Raum und Zeit, also innerhalb der Sphäre der Sinnlichkeit, nicht diese Sphäre - von der Kant als .unseren' apriorischen Formen der sinnlichen Anschauung spricht - selbst. 13 Hier könnte auch der Grund für die - oft sehr distanziert erwähnte - ,Eliminierung' des Dinges an sich, z.B. durch Hermann Cohen, liegen. 14 Und zwar nur in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (vgl. Anm. 8/Kap. 3.2). 15 Vgl. Anm. 19/Kap. 3.2. 12

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Auf der Ebene der Vereinigung von Sinnlichkeit und Verstand — , Sinnenwelt'; ,Natur'; Welt der Phaenomena bzw. der Erscheinungen16 bzw. der empirischen Gegenstände — erhält das Ding an sich den Charakter des , N o u m e n o n ' . 1 7 Auf dieser Stufe ist das metaphysische Interesse besonders stark zu spüren: Es geht um das Verhältnis der empirisch faßbaren Sinnenwelt und einer problematischen', übersinnlichen Welt („mundus intelligibilis").18 16

Vgl. Ä>FA248f: „Erscheinungen, so fern sie als Gegenstände nach der Einheit der Kategorien gedacht werden, heißen Phaenomena", — also: ,Erscheinungen4 - bezogen auf die von allem Verstand isolierte Sinnlichkeit: Einheit des Mannigfaltigen in der sinnlichen Anschauung - werden zu .Phaenomena1 [d.s. ,Erscheinungen' im vollen Sinn empirischer Gegenstände], wenn sie mit dem , transzendentalen Gegenstand = X' sozusagen vereinigt werden, d.h. wenn sie in der Einheit kategorialer Strukturen aufgehen [d.i. „so fern sie als Gegenstände nach der Einheit der Kategorien gedacht werden"]. — Vgl. dazu KrV A 538/B 566: „Ich nenne dasjenige an einem Gegenstande der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist, intelligibel." In bezug auf solche Zitate (KrV A 538/B 566) haben Behauptungen, wie z.B. von Erich Adickes, ihre Berechtigung, wonach das am empirischen Gegenstand nicht-sinnliche (also das Verstandes-jMomenf für Kant nichts anderes als das Ding an sich selbst sei; allerdings nur insofern - und diese Bedingung erfüllt z.B. Adickes nicht -, als dabei nicht eine substantiell(-matene\\)e Vorstellung - ,das Ding an sich' zugrunde liegt, sondern die bloß funktionale gegenständliche Einheit unseres kategorialen Verstandes [d.i. der .transzendentale Gegenstand = X']; — vgl. dazu KrV A250f [zitiert in Kap. 3.2 (siehe Anm. 10/Kap. 3.2)]; vgl. auch KrV A258/B 314 [Einschübe: „ ..." - {Einschub} - „ ... " von mir]: „Verstand und Sinnlichkeit können bei uns nur in Verbindung Gegenstände bestimmen. Wenn wir sie trennen, so haben wir Anschauungen ohne Begriffe," - d.s., Erscheinungen', bezogen auf die von allem Verstand abstrahierte Sinnlichkeit - „oder Begriffe ohne Anschauungen," - d.i. die leere, kategoriale Einheit des transzendentalen Gegenstandes = X - „in beiden Fällen aber Vorstellungen, die wir auf keinen bestimmten Gegenstand" - d.i. .Erscheinung' als ,Phaenomenon' - „beziehen können". 17 Ich beziehe mich im folgenden hauptsächlich auf das letzte Hauptstück des Zweiten Buchs der Transzendentalen Analytik (KrV A 235ff/B 294ff): Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena [einschließlich des Anhangs: Von der Amphibolic der Reflexionsbegriffe durch die Verwechselung des empirischen Verstandesgebrauchs mit dem transzendentalen und der Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe}. 18 Der Ausdruck ,Verstandeswelt' für diese theoretisch-hypothetische übersinnliche Realität ist nicht zu verwechseln mit der früher betrachteten, von aller Sinnlichkeit abstrahierten (Bezugs-)Ebene des bloßen Verstandes [Denn diese Bezugsebene ist ein Aspekt von ,Sinnenwelt' (vgl. z.B. Anm. 16/Kap. 3.3), deren zweiter Aspekt bekanntlich .sinnliche Anschauung' ist]. — ,Verstandeswelt' als übersinnliche Wirklichkeit, dieses , -sich' als .problematisch' gedachter ,Grund' unserer Erscheinungswelt, steht derßir uns empirisch faßbaren Realität (,Sinnenwelt') insgesamt gegenüber. .Übersinnliche Verstandeswelt' stellt also kein abstraktes Moment der empirischen

3.3 Das ,Noumenon' ... alsGrenzbegriff

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Hier wählt Kant die Formulierung vom G r e n z b e g r i f f in bezug auf das ,Ding an sich', die zwar als sprachlicher Ausdruck ziemlich einmalig bleibt - insoweit (aber nur insoweit) hat Adickes recht -, die aber an dieser Stelle den ,roten Faden' der Kritik der reinen Vernunft repräsentiert: dasjenige, was wir wissen können, zu s c h e i d e n von dem, was wir n i c h t w i s s e n können.19 Sinnenwelt dar, sondern eine der Sinnenwelt gegenüber nicht nur selbständige sondern diese vielleicht' sogar begründende, ihr „zum Grunde liegende" Welt. — Auf zwei Punkte sei hier aber ausdrücklich hingewiesen: (1) Die Realität dieser Verstandeswelt kann .theoretisch' nicht behauptet werden [,Zwei-Welten-Theoretiker' werden auch hier nur um den Preis eindeutiger Fehlinterpretation fündig]; — vgl. z.B. KrV B 307f: „Die Lehre von der Sinnlichkeit ist nun zugleich die Lehre von den Noumenen im negativen Verstande, d.i. von Dingen, die der Verstand sich ohne diese Beziehung auf unsere Anschauungsart, mithin nicht bloß als Erscheinungen, sondern als Dinge an sich selbst denken muß, von denen er aber in dieser Absonderung zugleich begreift, daß er von seinen Kategorien, in dieser Art sie zu erwägen, keinen Gebrauch machen könne...". — (2) Es ist nicht zu vergessen, daß die Dttrchßihrung und Darstellung der Kritik der reinen Vernunft auf der Ebene des (kategorialen) Verstandes erfolgt - daher auch im eben gegebenen Zitat die Rede vom „Verstand", der sich „Dinge an sich selbst denken muß" -, weshalb auch diesbezüglich nicht zu verwechseln ist: (a) die Verstandeswelt als problematische' Realität eines von unserem Verstand verschiedenen (,intuitiven', ,anschauenden') Verstandes; und (b) das, was in der Kritik der reinen Vernunft stattfindet, nämlich das Denken dieser ,Verstandeswelt' - als ,ßr uns' problematische Realität eines ,für uns' problematischen intuitiven Verstandes - durch , unseren' kategorialen Verstand. — Vgl. dazu KrV B 306f: „Gleich anfangs aber zeigt sich hier eine Zweideutigkeit, welche großen Mißverstand veranlassen kann: daß, da der Verstand, wenn er einen Gegenstand in einer Beziehung bloß Phänomen nennt, er sich zugleich außer dieser Beziehung noch eine Vorstellung von einem Gegenstande an sich selbst macht, und sich daher vorstellt, er könne sich auch von dergleichen Gegenstande Begriffe machen, und, da der Verstand keine andere als die Kategorien liefert, der Gegenstand in der letzteren Bedeutung wenigstens durch diese reine Verstandesbegriffe müsse gedacht werden können, dadurch aber verleitet wird, den ganz unbestimmten Begriff von einem Verstandeswesen, als einem Etwas überhaupt außer unserer Sinnlichkeit, für einen bestimmten Begriff von einem Wesen, welches wir durch den Verstand auf einige Art erkennen könnten, zu halten." 19 Vgl. Anm. 39/Kap. 3.3. — Dort, wo wir nach Kants Einsicht keine theoretische Erkenntnis haben können, in der .übersinnlichen' Sphäre, die durch metaphysisches Fragen ausgedrückt wird, dort hat Kant die entsprechenden theoretischen Antworten als haltlos dargetan und sich den irreführenden Ruf eines .Alleszermalmers' zugezogen: Wenn diese metaphysischen Antworten die freie Sicht .verstellen' (im Sinne hegelscher Rede), dann müssen sie beiseite geräumt werden, muß Platz geschaffen werden der Freiheit wegen, die immer das Gegenteil von Enge ist. Vgl. KrV B XXX: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatism der Metaphysik, d.i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

, N o u m e n o n ' ist der Name für das Ding an sich20 relativ auf die Ebene der von Verstand und Sinnlichkeit gemeinsam »konstituierten' Welt der Phaenomena (,Sinnenwelt').21 ,Noumenon' heißt ein Gegenstand, so-

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der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist"; — KrV A 255/B 310f: „Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche" [.Sinnlichkeit* bedeutet im Kontrast zu ,Noumenon' immer ,Sinnenwelt' und nicht die von allem Verstand isoliert gedachte bloße Sinnlichkeit der Transzendentalen Ästhetik]; — KrV A 256/B 311: „Der Begriff eines Nottmeni, bloß problematisch genommen, bleibt demungeachtet nicht allein zulässig, sondern, auch als ein die Sinnlichkeit in Schranken setzender Begriff, unvermeidlich"; — Ä>FA256/B 312: „Unser Verstand bekommt nun auf diese Weise eine negative Erweiterung, d.i. er wird nicht durch die Sinnlichkeit eingeschränkt, sondern schränkt vielmehr dieselbe ein, dadurch, daß er Dinge an sich selbst (nicht als Erscheinungen betrachtet) Noumena nennt1'; — KrV A 2867 B 342f: „... müssen Noumena in dieser bloß negativen Bedeutung allerdings zugelassen werden: da sie denn nichts anders sagen, als: daß unsere Art der Anschauung nicht auf alle Dinge, sondern bloß auf Gegenstände unserer Sinne geht, folglich ihre objektive Gültigkeit begrenzt ist, und mithin für irgend eine andere Art Anschauung, und also auch für Dinge als Objekte derselben, Platz übrig bleibt"; — KrV A 287f/B 344: „Der Begriff des Noumenon ist also nicht der Begriff von einem Objekt, sondern die unvermeidlich mit der Einschränkung unserer Sinnlichkeit zusammenhängende Aufgabe, ob es nicht von jener ihrer Anschauung ganz entbundene Gegenstände geben möge, welche Frage nur unbestimmt beantwortet werden kann, nämlich: daß, weil die sinnliche Anschauung nicht auf alle Dinge ohne Unterschied geht, für mehr und andere Gegenstande Platz übrig bleibe, sie also nicht schlechthin abgeleugnet, in Ermangelung eines bestimmten Begriffs aber (da keine Kategorie dazu tauglich ist) auch nicht als Gegenstände für unsern Verstand behauptet werden können"; — KrV A 288f/B 345: „Wollen wir dieses Objekt Noumenon nennen, darum, weil die Vorstellung von ihm nicht sinnlich ist, so steht dieses uns frei. Da wir aber keine von unseren Verstandesbegriffen darauf anwenden können, so bleibt diese Vorstellung doch für uns leer, und dient zu nichts, als die Grenzen unserer sinnlichen Erkenntnis zu bezeichnen, und einen Raum übrig zu lassen, den wir weder durch mögliche Erfahrung, noch durch den reinen Verstand ausfüllen können" — sondern, in gewissem Sinn (vgl. Kap. 3.5), durch praktische Vernunft. Vgl. KrV A 256/B 312 [zitiert in Anm. 19 (Mitte)/Kap. 3.3]; KrV B 307f [zitiert in Anm. 18(Mitte)/Kap. 3.3]; Ä>FA254/B 310: „Der Begriff eines Noumenon, d.i. eines Dinges, welches gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als ein Ding an sich selbst (lediglich durch einen reinen Verstand) gedacht werden soll, ist gar nicht widersprechend; denn man kann von der Sinnlichkeit doch nicht behaupten, daß sie die einzige mögliche Art der Anschauung sei." Vgl. KrV B 306: „Gleichwohl liegt es doch schon in unsenn Begriffe, wenn wir gewisse Gegenstände, als Erscheinungen, Sinnenwesen (phaenomena) nennen, indem wir die Art, wie wir sie anschauen, von ihrer Beschaffenheit an sich selbst unterscheiden, daß wir entweder eben dieselbe nach dieser letzteren Beschaffenheit, wenn wir sie gleich in derselben nicht anschauen, oder auch andere mögliche Dinge, die gar

3.3 Das ,Noumenon' ... als Grenzbegriff

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fern er nicht-sinnlicher22 Natur ist. Nun trifft Kant eine Unterscheidung zwischen Noumena in p o s i t i v e r undNoumena in n e g a t i v e r Bedeutung, die nicht ohne Schwierigkeiten bleibt: „Wenn wir unter N o u m e n o n ein Ding verstehen, so fern es n i c h t O b j e k t unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahieren: so ist dieses ein Noumenon im negativen Verstande. Verstehen wir aber darunter ein O b j e k t einer nichtsinnlichen Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an, nämlich die intellektuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können, und das wäre das Noumenon in positiver Bedeutung. | Die Lehre von der Sinnlichkeit ist nun zugleich die Lehre von den Noumenen im negativen Verstande, d.i. von Dingen, die der Verstand sich ohne diese Beziehung auf unsere Anschauungsart, mithin nicht bloß als Erscheinungen, sondern als Dinge an sich selbst denken muß, von denen er aber in dieser Absonderung zugleich begreift, daß er von seinen Kategorien, in dieser Art sie zu erwägen, keinen Gebrauch machen könne, weil diese nur in Beziehung auf die Einheit der Anschauungen in Raum und Zeit Bedeutung haben, sie eben diese Einheit auch nur wegen der bloßen Idealität des Raums und der Zeit durch allgemeine Verbindungsbegriffe a priori bestimmen können. Wo diese Zeiteinheit nicht angetroffen werden kann, mithin beim Noumenon, da hört der ganze Gebrauch, ja selbst alle Bedeutung der Kategorien völlig auf ..." (KrVB 307f). Die Schwierigkeit ist folgende: Nehme ich die Bestimmung des Noumenon in negativer Bedeutung in der Formulierung von KrV B 307 — „Wenn wir unter Noumenon ein Ding verstehen, so fern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahieren: so ist dieses ein Noumenon im negativen Verstande" —, vor allem mit Betonung des Abstrahierens von a l l e r „unserer nicht Objekte unserer Sinne sind, als Gegenstände bloß durch den Verstand gedacht, jenen gleichsam gegenüber stellen, und sie Verstandeswesen (noumena) nennen." 22 Wenn ich dennoch in Anm. 18/Kap. 3.3 mehrmals den Ausdruck ,ü6er-sinnlich' gebrauche, so deshalb, um das metaphysische spekulative Interesse an den Noumena besonders zu betonen, das ja durch Kant in keiner Weise unmittelbare Befriedigung findet [Mittelbar wird dieses Interesse durch Einsicht am Boden der praktischen Vernunft zur Ruhe gebracht, sofern die Unbedingtheit der moralischen Aufgabe akzeptiert wird: dadurch läßt der Druck gnostischen Wissen-Wollens nach]. — Im Übrigen verwendet Kant in den beiden anderen .Kritiken' oflmals den Ausdruck .übersinnlich', und zwar ohne Probleme, weil hier die Unmöglichkeit der Metaphysik als theoretische Wissenschaft vollkommen klar ist und ebenso die Realität der Potenz ,praktischer Erkenntnis'.

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

A n s c h a u u n g s a r t desselben", dann sehe ich keinen Unterschied zum Begriff des „transzendentalen Objekts = X" als leere Einheit unseres kategorialen Verstandes. Die Tafel der „Einteilung des Begriffs von N i c h t s " 2 3 unterstützt diese Ansicht. Das Problem liegt nicht darin, ob es sich um „unsere sinnliche Anschauung" handelt oder vielleicht um eine andere, „wenn sie nur sinnlich und nicht intellektuell ist",24 das Problem liegt beim k a t e g o r i a l e n Verstand. Denn n u r sinnlicher Anschauung [gleichgültig ob , unserer' oder einer - hypothetischen - anderen] ist der kategoriale Verstand adäquat;25 „das Noumenon in p o s i t i v e r Bedeutung" aber wurde im Zitat (KrV B 307f) bestimmt als „Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung", genauer als Objekt der i n t e l l e k t u e l l e n Anschauung. Ein solches Objekt kann aber n i c h t kategorial g e d a c h t werden, es ist kein mögliches Objekt für ,unseren' kategorialen Verstand, es ist mögliches Objekt nur einem - problematischen' - ,intuitiven',,anschauenden Verstand'.26 Diese Schwierigkeit ist Anlaß, gegensätzliche Weisen der Textauslegung aufzuzeigen: Vertreter einer Scharfsinnigkeit um ihrer selbst willen könnten hier leichten Mutes das Noumenon im negativen Verstande und jenes in positiver Bedeutung vollkommen voneinander trennen, die gemeinsame Bezeichnung ,Noumenon' als bloße Äquivokation darstellen, aus dem Text diverse Zitate suchen, die dies belegen sollen — also: in gewisser Weise durchaus wissenschaftlich' vorgehen —, und die Probleme, die aus solcher ,Lösung' entstehen und größer sind als die mit solcher ,Interpretation' bewältigten, einfach und schlicht dem interpretierten Text anlasten, ja mit einer gewissen Behaglichkeit die sich dann auftürmenden Widersprüche akribisch entwickeln. In dieser Schrift dagegen wird Scharfsinnigkeit zwar auch geschätzt, aber nur als Dienst am auszulegenden Text. Und das bedeutet folgendes: 23

KrV A 290ff/B 346ff; vgl. auch Anm. 43/Kap. 3.3. KrV B 148; vgl. den ganzen § 23 (KrV B 148f). 25 Daß uns diese „weitere Ausdehnung der Begriffe, über unsere sinnliche Anschauung hinaus ... zu nichts" hilft (KrVB 148), spricht nicht gegen diese Behauptung sondern sagt nur, daß ,wirf eben keine andere Art von Anschauung haben als ,unsere' sinnliche: „Die reinen Verstandesbegriffe sind von dieser Einschränkung [auf unsere sinnliche Anschauung; G.R.] frei, und erstrecken sich auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, sie mag der unsrigen ähnlich sein oder nicht, wenn sie nur sinnlich und nicht intellektuell ist" (KrV B 148), und das heißt, sie muß rezeptiv sein (vgl. auch£rFB71f). 26 Vgl. Anm. 35/Kap. 3.3. 24

3.3 Das ,Noumenon' ... alsGrenzbegriff

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Um überhaupt sinnvoll Texte auslegen zu können, muß man sie ernst nehmen, ihnen ,Gewicht' zubilligen können. Ist dies nicht der Fall, bleibt nur die Möglichkeit für leeres Reden oder für Schweigen. Ein ernst zu nehmender Text aber fordert auch Mühe ab, ihn zu verstehen. Er mag Schwierigkeiten enthalten, die wie Widersprüche aussehen (oder auch tatsächlich solche sind). Einen gewichtigen Text ehren bedeutet aber gerade nicht ein lärmendes Festnageln seiner Probleme und ihr Zurichten als ,Sackgassen'. Einen solchen Text ehren heißt, ihn so zu verstehen versuchen, daß diese Schwierigkeiten und anscheinenden Widersprüche gehoben werden können, zumindest so weit, daß der wesentliche Textzusammenhang nicht Schaden leidet (bzw. ,daß es weiter geht'). Solchem Vorgehen wird gern unkritische Haltung, Unehrlichkeit bzw. intellektuelle Unredlichkeit und ähnliches mehr vorgeworfen; jedoch: Es ist zwar niemand (und keine Ansicht) davor geschützt, von seinem (ihrem) Niveau abzugleiten, p r i n z i p i e l l e Vorurteile dieser Art aber zeigen ein grundlegendes Nichtverstehen dessen, was die Bemühung um p h i l o s o p h i s c h e W a h r h e i t und deshalb der Dienst an ihren Dienern — bzw. an deren ernsthaften, auszulegenden Texten — bedeutet.27 Ich werde nun versuchen, die Schwierigkeiten und anscheinenden Widersprüche im Zusammenhang mit der Frage der Noumena zumindest so weit aufzulösen, daß der in systematischer Hinsicht wesentliche Textzusammenhang der kritischen Philosophie (und damit der Kritik der reinen Vernunft) gewahrt bleibt. — Kant schreibt (KrV A 254-256/B 310-312): „Ich nenne einen Begriff p r o b l e m a t i s c h , der keinen Widerspruch enthält, der auch als eine B e g r e n z u n g gegebener Begriffe mit anderen Erkenntnissen zusammenhängt, dessen objektive Realität aber auf keine Weise erkannt werden kann. Der Begriff eines N o u m e n o n , d.i. eines 27

Vgl. dazu Hans-Georg Gadamer: „Es gehört zur elementaren Erfahrung des Philosophierens, daß die Klassiker des philosophischen Gedankens ... von sich aus einen Wahrheitsanspruch geltend machen, den das zeitgenössische Bewußtsein weder abweisen noch überbieten kann. Das naive Selbstgefühl der Gegenwart mag sich dagegen auflehnen ... Sicher ist es aber eine noch viel größere Schwäche des philosophischen Gedankens, wenn einer sich einer solchen Erprobung seiner selbst nicht stellt und vorzieht, den Narren auf eigene Faust zu spielen. Daß im Verstehen der Texte dieser großen Denker Wahrheit erkannt wird, die auf anderem Wege nicht erreichbar wäre, muß man sich eingestehen, auch wenn dies dem Maßstab von Forschung und Fortschritt, mit dem die Wissenschaft sich selber mißt, widerspricht." (Wahrheit und Methode, S. XXVIII).

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Dinges, welches gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als ein Ding an sich selbst (lediglich durch einen reinen Verstand) gedacht werden soll, ist gar nicht widersprechend; denn man kann von der Sinnlichkeit doch nicht behaupten, daß sie die einzige mögliche Art der Anschauung sei. Ferner ist dieser Begriff notwendig, um die sinnliche Anschauung nicht bis über die Dinge an sich selbst auszudehnen, und also, um die objektive Gültigkeit der sinnlichen Erkenntnis e i n z u s c h r ä n k e n (denn das übrige, worauf jene nicht reicht, heißen eben darum N o u m e n a , damit man dadurch anzeige, jene Erkenntnisse können ihr Gebiet nicht über alles, was der Verstand denkt, erstrecken). Am Ende aber ist doch die Möglichkeit solcher Noumenorum gar nicht einzusehen, und der Umfang außer der Sphäre der Erscheinungen ist ( f ü r u n s ) l e e r , d.i. wir haben einen Verstand, der sich problematisch weiter erstreckt, als jene, aber keine Anschauung, ja auch nicht einmal den Begriff von einer möglichen Anschauung, wodurch uns außer dem Felde der Sinnlichkeit Gegenstände gegeben, und der Verstand über dieselbe hinaus assertorisch gebraucht werden könne. Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein G r e n z b e g r i f f , um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von n e g a t i v e m Gebrauche. Er ist aber gleichwohl n i c h t willkürlich e r d i c h t e t , sondern hängt mit der Einschränkung der Sinnlichkeit zusammen, o h n e doch e t w a s P o s i t i v e s außer dem Umfange derselben setzen zu können. | Die Einteilung der Gegenstände in Phaenomena und Noumena, und der Welt in eine Sinnen- und Verstandeswelt, kann daher in positiver Bedeutung gar nicht zugelassen werden, obgleich Begriffe allerdings die Einteilung in sinnliche und intellektuelle zulassen; denn man kann den letzteren keinen Gegenstand bestimmen, und sie also auch nicht für objektivgültig ausgeben. Wenn man von den Sinnen abgeht, wie will man begreiflich machen, daß unsere Kategorien (welche die einzig übrig bleibenden Begriffe für Noumena sein würden) noch überall etwas bedeuten, da zu ihrer Beziehung, auf irgend einen Gegenstand, noch etwas mehr, als bloß die Einheit des Denkens, nämlich überdem eine mögliche Anschauung gegeben sein muß, darauf jene angewandt werden können? Der Begriff eines Noumeni, bloß problematisch genommen, bleibt demungeachtet nicht allein zulässig, sondern, auch als ein die Sinnlichkeit in S c h r a n k e n setzender Begriff, unvermeidlich. Aber alsdenn ist das nicht ein besonderer i n t e l l i g i b e l e r G e g e n s t a n d für unsern Verstand, sondern ein Verstand, für den es gehörete, ist selbst ein Problema, nämlich, nicht diskursiv durch Kategorien, sondern intuitiv in einer nichtsinnlichen Anschauung seinen Gegenstand zu erkennen, als von welchem wir uns nicht die geringste Vorstellung seiner Möglichkeit machen können. Unser Verstand bekommt nun auf diese Weise eine negative Erweiterung, d.i. er wird nicht durch die Sinnlichkeit eingeschränkt, sondern schränkt vielmehr dieselbe ein, dadurch, daß er Dinge an sich selbst (nicht als

3.3 Das ,Noumenon'... als Grenzbegriff

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Erscheinungen betrachtet) N o u m e n a nennt. Aber er setzt sich auch so fort selbst Grenzen, sie durch keine Kategorien zu erkennen, mithin sie nur unter dem Namen eines u n b e k a n n t e n E t w a s zu denken." In erster Linie fallt hier die zentrale Bestimmung des Noumenon als allen sinnlichen Gegenständen entgegengesetztes Ding an sich bzw. genauer: als ein den Bereich unserer empirischen Realität begrenzender Begriff auf.28 In diesem Sinne ist der Begriff eines Noumenon ,problematisch': Er enthält keinen Widerspruch, hängt auch — als eine Beg r e n z u n g gegebener Begriffe (d.i. der Begriffe sinnlicher bzw. empirischer Gegenstände bzw. der Phaenomena) — mit anderen , Erkenntnissen' (die Bedingungen der Möglichkeit empirischer Gegenstände betreffend) zusammen; die Frage der objektiven Realität (d.i. ob Noumena ,existieren') kann aber nicht nur nicht beantwortet,29 sie kann sinnvollerweise gar nicht gestellt werden. A l s dieser problematische Grenzbegriff ist der Begriff des Noumenon nur von n e g a t i v e m Gebrauch,30 er ist aber „gleichwohl nicht willkürlich erdichtet, sondern hängt mit der Einschränkung der Sinnlichkeit zusammen,31 ohne doch etwas Positives außer dem Umfange derselben 28

In solchen Zusammenhängen wird jene Tautologie als innere Grenze spürbar, von der an früherer Stelle (Kap. 2) gesprochen wurde: Möglicher empirischer Gegenstand ist für uns alles das, was für uns empirischer Gegenstand sein kann. — Die Bedingungen der Möglichkeit empirischer Gegenstände klärten die Transzendentale Ästhetik und die Transzendentale Analytik. Am Ende dieser Untersuchungen — und hier ebenso wie schon in der Transzendentalen Ästhetik in Auseinandersetzung mit der Philosophie von Leibniz/Wolff — dient der (Grenz-)BegrifT des Noumenon dazu, diese innere Beschränkung unserer Sinnenwelt augenfällig darzustellen [das ist der „negative Gebrauch" des Begriffs „Noumenon"], ohne sie , außen' durch irgendwie ,existierende' noumenale Gegenstände einzuschränken [das wäre der „positive Gebrauch" des Begriffs „Noumenon"]. 29 Sie ist nur insoweit geklärt, als Noumena nicht wie empirische Gegenstände (Phaenomena) existieren - Kategorie der Existenz, Substanz etc. - können, denn alles, was existiert -wie ein empirischer Gegenstand, ist ein solcher. 30 Das bedeutet aber nicht die negative Antwort auf die Frage nach der objektiven Realität der Noumena: daß sie nicht ,existierten'. Diese Antwort kann ebensowenig wie ihr positives Gegenteil begründet gegeben werden. „Negativer Gebrauch" bedeutet hier Einschränkung der Sinnlichkeit: „Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche" (KrVA 255/B 310f). 31 Nur wenn „Einschränkung der Sinnlichkeit" nicht als äußeres Setzen von ,Grenzpfählen' grundsätzlich mißverstanden sondern als innere Begrenzung in der Art eingesehen wird, wie z.B. im Rahmen der euklidischen Geometrie einer Ebene nicht , außen' verboten ist drei Dimensionen zu haben sondern die Zweidimensionalität die

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

setzen zu können".32 Daher kann „die Einteilung der Gegenstände in Phaenomena und Noumena, und der Welt in eine Sinnen- und Verstandeswelt ... gar nicht zugelassen werden"; und zwar, wie die Auflage B verdeutlicht, „in p o s i t i v e r Bedeutung".33 So bleibt „der Begriff eines Noumeni, bloß problematisch genommen ... nicht allein zulässig, sondern ... unvermeidlich".34 Insoweit scheint das Verhältnis von Phaenomena und Noumena genügend klar. Welche Bedeutung hat dann überhaupt die Unterscheidung in Noumena im negativen und im positiven Verstand?35 Der Antwort näher bringt die Beobachtung, daß diese Unterscheidung a u s d r ü c k l i c h e r w e i s e nur in der Auflage B gemacht wird, das Problem aber, wieweit das Noumenon in negativer Bedeutung identisch sei dem transzendentalen Gegenstand = X', sich i n n e r h a l b der Auflage B der Kritik der reinen Vernunft gar nicht stellt, da ja der Begriff des transzendentalen Gegenstandes" in d i e s e r Bedeutung faktisch nur in der Auflage A vorkommt.36 ihr eigene Möglichkeit und (.innere') Begrenzung ,zugleich' darstellt, dann ist das Noumenon als Grenzbegriff nicht dazugedichtet sondern in den (in der Transzendentalen Ästhetik und Analytik entwickelten) Bedingungen der Möglichkeit der Phaenomena ,immer schon' enthalten. 32 Aus der vorhergehenden Anmerkung ist klar ersichtlich, daß solch „Positives" z.B. die , außen' gesetzten Grenzpfähle wären. 33 Auch hier geht es eindeutig nicht um die positive Setzung einer sogenannten .Hinterwelt' (also auch hier keine ,Zwei-Welten-Theorie' im üblichen Verständnis). 34 Vgl. Anm. 28/Kap. 3.3. 35 Diese Unterscheidung bringt eine Komplikation und kann nicht einfach gleichgesetzt werden mit der Rede vom positiven und negativen Gebrauch des Begriffs des Noumenon. Es ist zumindest erst zu klären, wieweit nicht der Begriff" des Noumenon selbst in bezug auf den Begriff des Noumenon in negativer bzw. in positiver Bedeutung doch nur eine bloße Äquivokation darstellt [dies wäre dann der Fall, würde der Begriff des Noumenon in negativer Bedeutung kategorial gedacht werden, derjenige des Noumenon in positiver Bedeutung aber nicht]. 36 »Faktisch' deshalb, weil das folgende, auch in der zweiten Auflage zu findende Zitat (KrV A 247/B 304) eine Ausnahme vom eben Gesagten darstellt [vgl. dazu Anm. 8/ Kap. 3.2]: „Das Denken ist die Handlung, gegebene Anschauung auf einen Gegenstand zu beziehen. Ist die Art dieser Anschauung auf keinerlei Weise gegeben, so ist der Gegenstand bloß transzendental, und der Verstandesbegriff hat keinen ändern, als transzendentalen Gebrauch, nämlich die Einheit des Denkens eines Mannigfaltigen überhaupt." — Eine isolierte Betrachtung dieser Textstelle ergibt klar: Der ,Gegenstand\ abseits von jeglicher Anschauung, ist ,bloß transzendental'; es ist nur von der Einheit des Denkens eines Mannigfaltigen die Rede; folglich handelt es sich hier um den „transzendentalen Gegenstand = X", dieser Begriff ist also zumindest einmal auch in der Auflage B/KrV (einigermaßen, durch Interpretation) nachzuweisen.

3.3 Das .Noumenon' ... als Grenzbegriff

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Aus einer in KrV/B ersetzten Stelle der ersten Auflage (KrV/A) geht die in B anscheinend aufgelöste Spannung im Begriff des Noumenon37 deutlich hervor. Kant sagt da (KrV 251), es folge „auch natürlicher Weise aus dem Begriffe einer Erscheinung überhaupt: daß ihr etwas entsprechen müsse, was an sich nicht Erscheinung ist", und setzt kurz danach (KrVA 252f) fort: „Hieraus entspringt nun der Begriff von einem N o u m e n o n , der aber gar n i c h t p o s i t i v , und eine bestimmte Erkenntnis von irgend einem Dinge, sondern nur das Denken von etwas überhaupt bedeutet, bei welchem ich von aller Form der sinnlichen Anschauung abstrahiere. Damit aber ein Aber auch die Betrachtung des näheren Jext-Zusammenhanges führt zum gleichen Ergebnis: Schon in KrV A 238/B 298 wurde der „transzendentale Gebrauch" in bezug auf „Dinge überhaupt und an sich selbst" bestimmt; dann bemüht sich Kant zu zeigen, daß Realdefinitionen lediglich aus reinem Verstand (also bloß durch reine Kategorien) nicht zustande gebracht werden können; nach der Entfernung von ungefähr zwei weiteren Seiten (KrV A 245f) aus der Auflage B heißt es anschließend (KrV A 2467 B 303): „Hieraus fließt nun unwidersprechlich: daß die reinen VerstandesbegrifTe niemals von transzendentalem, sondern jederzeit nur von empirischem Gebrauche sein können, und daß die Grundsätze des reinen Verstandes nur ... auf Gegenstände der Sinne, niemals aber auf Dinge überhaupt ... bezogen werden können." — Wenig später folgt das in Frage stehende Zitat. — Bald darauf (KrV A 247f/B 304f) ist zu lesen: „Der bloß transzendentale Gebrauch also der Kategorien ist in der Tat gar kein Gebrauch, und hat keinen bestimmten, oder auch nur, der Form nach, bestimmbaren Gegenstand. Hieraus folgt, daß die reine Kategorie auch zu keinem synthetischen Grundsatze a priori zulange, und daß die Grundsätze des reinen Verstandes nur von empirischem, niemals aber von transzendentalem Gebrauche sind, über das Feld möglicher Erfahrung hinaus aber es überall keine synthetische Grundsätze a priori geben könne." Formulierungen, wie in KrV A246/B 303 - die reinen Verstandesbegriffe könnten niemals von transzendentalem Gebrauche sein - und in KrV A 247f/B 304f - der bloß transzendentale Gebrauch der Kategorien sei in der Tat gar kein Gebrauch -, scheinen der Feststellung in KrV A 247/B 304 - der reine Verstandesbegriff habe keinen ändern als transzendentalen Gebrauch - geradewegs zu widersprechen; — es sei denn, die Rede vom „transzendentalen Gebrauch" ist verschieden zu verstehen: nämlich im tneuenl und im ,alten' Sinn [vgl. Anm. 33 (letztes Drittel)/Kap. 3.1] bzw. bezüglich des , transzendentalen Gegenstandes = " (Zitat KrV A 247/B 304) und des - auch „transzendentaler Gegenstand" genannten - „Noumenon" [Zitate KrKA 246/B 303; A247f/B 304f; A 287f/B 344 (zitiert in Anm. 19/Kap. 3.3)]. Im übrigen zeigt diese Erörterung selbst deutlich das - anschließend noch zu betrachtende - Problem einer klaren Unterscheidung des Noumenon (im negativen Verstande) und des transzendentalen Gegenstandes = X. 37 Im Sinne der früheren methodischen Bemerkung gehe ich zuerst davon aus, daß die Begriffe des Noumenon in negativer und in positiver Bedeutung zwei Aspekte desselben Begriffs des Noumenon (als Gegensatz zum Phaenomenon) darstellen.

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Noumenon einen wahren, von allen Phänomenen zu unterscheidenden Gegenstand bedeute, so ist es nicht genug: daß ich meinen Gedanken von allen Bedingungen sinnlicher Anschauung befreie, ich muß noch überdem Grund dazu haben, eine andere Art der Anschauung, als diese sinnliche ist, a n z u n e h m e n , unter der ein solcher Gegenstand gegeben werden könne; denn sonst ist mein Gedanke doch leer, obzwar ohne Widerspruch.38 Wir haben zwar oben nicht beweisen können: daß die sinnliche Anschauung die einzige mögliche Anschauung überhaupt, sondern daß sie es nur v o r u n s sei, wir konnten aber auch nicht beweisen: daß noch eine andere Art der Anschauung möglich sei, und, obgleich u n s e r D e n k e n von jener Sinnlichkeit abstrahieren kann, so bleibt doch die Frage, ob es alsdenn nicht eine b l o ß e F o r m eines Begriffs sei, und ob bei dieser Abtrennung überall ein Objekt übrig bleibe." Ich lese diese Stelle so: Der von einem r e i n e n , d.h. von einem, von allem Sinnlich-Gebbaren absehenden Denken gedachte Begriff eines Noumenon als Etwas überhaupt ist noch kein volles Gegenstück zum Begriff der Erscheinung (Phaenomenon). Dazu bedürfte es der Annahme einer intellektuellen Anschauung. Für diese - ,reale' - Annahme haben wir aber nach Kant keinen Grund, weshalb die Frage bleibt, ob das Noumenon nicht nur „eine bloße Form eines Begriffs sei". Ich setze hinzu, daß dieses 38

Vgl. dazu KrVA 249: „Wenn ich aber Dinge annehme, die bloß Gegenstände des Verstandes sind, und gleichwohl, als solche, einer Anschauung, obgleich nicht der sinnlichen (als [Akad.-Ausg.: „also"] coram intuitu intellectual!) gegeben werden können: so würden dergleichen Dinge Noumena (intelligibilia) heißen." Zur Frage, wieweit ,unser' kategorialer Verstand, das notwendige Korrelat zur sinnlichen Einheit des Mannigfaltigen, überhaupt der Einheit einer, problematischen' nicht-sinnlichen Anschauung entsprechen könne, vgl. folgendes Zitat [Außerdem weist Kants wiederholte Rede von einem - selbstverständlich .problematischen' - Verstand, der zugleich anschaut (intuitiver Verstand bzw. intellektuelle Anschauung) in die Richtung einer negativen Antwort]: „Wenn wir unter bloß intelligibelen Gegenständen diejenigen Dinge verstehen, die durch reine Kategorien, ohne alles Schema der Sinnlichkeit, gedacht werden, so sind dergleichen unmöglich ... Ja wenn man auch eine andere Art der Anschauung, als diese unsere sinnliche ist, annehmen wollte, so würden doch unsere Funktionen zu denken in Ansehung derselben von gar keiner Bedeutung sein. Verstehen wir darunter nur Gegenstände einer nichtsinnlichen Anschauung, von denen unsere Kategorien zwar freilich nicht gelten, und von denen wir also gar keine Erkenntnis (weder Anschauung, noch Begriff) jemals haben können, so müssen Noumena in dieser bloß negativen Bedeutung allerdings zugelassen werden ... Aber ...problematisch, d.i. die Vorstellung eines Dinges, von dem wir weder sagen können, daß es möglich, noch daß es unmöglich sei, indem wir gar keine Art der Anschauung, als unsere sinnliche kennen, und keine Art der Begriffe, als die Kategorien, keine von beiden aber einem außersinnlichen Gegenstande angemessen ist" (KrYA 286f/B 342f).

3.3 Das ,Noumenon'... als Grenzbegriff

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reine, von allem, was uns die Sinne geben können, abstrahierende Denken u n s e r kategoriales Denken ist. Und hier liegt das Problem des Verständnisses der expliziten Unterscheidung der Noumena in negativer und in positiver Bedeutung.39 Die Kompliziertheit der Situation ist hier wie auf anderen Stufen der Kritik der reinen Vernunft immer auch darauf zurückzuführen, daß , unser Denken', ,unser (kategorialer) Verstand', mit Ausnahme des ,transzendentalen Objekts = X',40 Dinge zum Gegenstand hat, die er nicht adäquat denken kann [Daher auch die notwendige Abstraktheit des Denkens, der nur durch r e a l i s i e r t e Erkenntnis dieser Abstraktheit im s e l b e n D e n k e n begegnet werden kann]. Der folgende Hinweis auf einen Unterschied der Zitate KrV B 307 und KrV A 252 bietet die Möglichkeit einer weiteren Annäherung an das ge39

Meiner Ansicht nach trägt diese Unterscheidung so, wie sie von Kant getroffen wurde, zwar nicht zur Eindeutigkeit bei, sondern bedarf selbst dringend der Klärung; die Auseinandersetzung mit ihr fördert aber die wichtige Erkenntnis der notwendig inadäquaten Darstellung von etwas, das nicht kategorialem Verstand entspricht, auf der Ebene eben dieses Verstandes. — Kant hat daraus die klare Konsequenz vom „ bloß ... negativen Nutzen" (KrV A 711/B 739) der ganzen Philosophie der reinen Vernunft gezogen: „Der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft ist also wohl nur negativ; da sie nämlich nicht, als Organen, zur Erweiterung, sondern, als Disziplin, zur Grenzbestimmung dient, und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten" (KrV A 795/B 823). — Dies ist der rote Faden der Kritik der reinen Vernunft (vgl. oben a.a.O.), dem unter anderem das Noumenon als Grenzbegriff'zügeoTdnel ist. Viele Interpreten Kants blieben aber dieser Einsicht verschlossen und haben es daher mit absonderlichen Entitäten zu tun, wo es sich lediglich um ^renzbegriffe' unseres Verstandes handelt, eigentlich aber um - ,für unseren Verstand' (nur) problematische' - Wesenheiten, die ,unser Verstand' eben nur in seiner Weise .fassen' kann, so, wie es die Darstellung der Kritik der reinen Vernunft zeigt: gar nicht. — Vgl. dazu Heinz Heimsoeth (Transzendentale Dialektik, Bd. l, S. 77/Anm.): „Zur Veranschaulichung des Begriffs von .Bedingungen der Möglichkeit der Dinge überhaupt' denke man etwa an solche für uns nicht in Erscheinung tretende Noumena, wie es Vemunftwesen von anderer höherer Art als wir selber sind ... Wenn Kant in der Zeit der Kritiken von Noumena (zunächst immer in kritischer Wendung: Noumena ,im negativen Verstande') redet, sind es sehr oft solche ,Wesen' und deren andere und höhere Seins- oder Wirkensmöglichkeiten, an die er .problematisch' denkt ...". — In diesem Zusammenhang zeigt sich die Selbstbegrenzung unseres Verstandes als Weg ins Freie, werden seine Spiegelungen durchlässig: „Aber er [d.i. unser Verstand; G.R.] setzt sich auch so fort selbst Grenzen, sie [d.s. die Noumena; G.R.] durch keine Kategorien zu erkennen, mithin sie nur unter dem Namen eines unbekannten Etwas zu denken" (KrV A 256/B 312). 40 Und auch das ist mit Vorsicht aufzunehmen; vgl. Anm. 58/Kap. 2; vgl. auch die Übersicht der Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung am Beginn von Kap. 3.

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

nannte Problem »unseres' Verstandes. KrVB 30741 heißt es:



In der früher zitierten Stelle

„Wenn wir unter Noumenon ein Ding verstehen, so fern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahieren: so ist dieses ein Noumenon im negativen Verstande." In KrV A 252 steht zu lesen: „ ... Begriff von einem Noumenon, der aber gar nicht positiv ... sondern nur das Denken von etwas überhaupt bedeutet, bei welchem ich von aller Form der sinnlichen Anschauung abstrahiere" Der Unterschied beider Formulierungen liegt meines Erachtens in Folgendem: B 307 scheint genau den Begriff des transzendentalen Gegenstandes = X' zu treffen; dieser ist ja bloß die leere kategoriale Einheit unseres Denkens (die Gegenständlichkeit'), die von einem empirischen Gegenstand (Phaenomenon) sozusagen ,übrig bleibt', wenn wir von unserer sinnlichen Anschauung dieses Gegenstandes abstrahieren: , i n d e m ' wir also von unserer sinnlichen Anschauungsart des empirischen Gegenstandes, dessen Form (d.i. die kategoriale Gegenständlichkeit) — objektiviert gedacht — den Namen transzendentaler Gegenstand = X' trägt, abstrahieren — und i n s o f e r n denken wir „ n i c h t [das] Objekt unserer sinnlichen Anschauung" —, ist dieser transzendentale Gegenstand = X' Objekt unseres Denkens.42 41 42

Vgl. oben im Text (Kap. 3.3: zwischen Fußnotenreferenz 22 und 23). Ich will hier nicht feststellen, im Zitat KrV B 307 behaupte Kant die Identität von ,transzendentalem Gegenstand = X' und ,Noumenon in negativem Verstande'. Ich will allerdings zeigen, daß Formulierungen wie in KrVB 307 nicht geeignet sind, dem - systematisch wichtigen - Unterschied von .transzendentalem Gegenstand = X' und .Noumenon im negativen Verstande' genügend Raum zu geben. — Ohne diese Unterscheidung aber kann die grundsätzliche Einheit des Begriffs des Noumenon (in positiver und in negativer Bedeutung) nicht eingesehen werden. — Zitat KrV B 307 (vgl. Anm. 41/Kap. 3.3) steht [vor allem unter Berücksichtigung der Fortsetzung KrV B 308 f] nicht im Widerspruch zu der von mir - im Interesse systematischen Zusammenhanges - vorerst angenommenen einheitlichen Bedeutung des Begriffs des Noumenon — doch auch hier, wie auch in bezug auf das Objekt transzendentaler Ideen (vgl. KrV A 669ff/B 697 ff), zeigt sich die - vor allem in der praktischen Philosophie - gewichtige Frage, wieweit ,unser' kategorialer Verstand überhaupt etwas Nichtsinnliches, Intelligibles, sinnvoll denken kann; die Doppeldeutigkeit des Wortes ,sinn-voll' hat hier geradezu symbolhaften Charakter —; denn .nicht Objekt unserer

3.3 Das .Noumenon' ... als Grenzbegriff

105

Aus KrV A 252 dagegen ist zu entnehmen, daß der Begriff eines Noumenon nur unser „Denken von etwas überhaupt bedeutet, bei welchem ich von aller Form der sinnlichen Anschauung abstrahiere": Im Denken von E t w a s ü b e r h a u p t wird also von a l l e r Form s i n n l i c h e r Anschauung abgesehen; dieses Denken ist somit Denken von Etwas, das nicht bloße kategoriale Einheit sein m uß, auch wenn ,unser Denken' nichts anderes leisten kann, als auch bezüglich des Noumenon nur diese leere Einheit des Begriffs von Etwas überhaupt zu stiften. — So gesehen ist die Einheit des Begriffs des Noumenon grundsätzlich gewahrt, die prinzipielle Differenz zum Begriff des transzendentalen Gegenstandes = X' herausgestellt, und zugleich die Schwierigkeit der Darstellung hinsichtlich einer durchgehenden s t r u k t u r e l l e n Unterscheidung des transzendentalen Gegenstandes = X' und des ,Noumenon' angedeutet.43 sinnlichen Anschauung' sein schließt die Möglichkeit ein, ,Objekt einer [anderen als .unserer'] sinnlichen Anschauung' zu sein bzw. ,Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung' zu sein. Um das Problem dieses Verhältnisses - und nicht bloße Begriffsspielerei - sehen zu können muß man gegenwärtig haben, daß , sinnliche Anschauung', sei es ,unsere' oder eine ,problematische' andere, durch passive Rezeptivität bestimmt ist, .nicht-sinnliche' Anschauung jedoch als .intellektuelle Anschauung' durch aktive,,spontane' Produktivität. 43 Denkt man an die Bezugsebenen des , transzendentalen Gegenstandes = X' und des .Noumenon', so ist die Unterscheidung beider klar: Der Begriff: .transzendentaler Gegenstand = X' ist bezogen auf die Ebene des von aller (.unserer') Sinnlichkeit isolierten Verstandes, er ist ein Aspekt des empirischen Gegenstandes; das Noumenon ist bezogen auf die Ebene der durch Verstand und Sinnlichkeit gemeinsam .konstituierten' .Sinnenwelt', es ist kein Aspekt des empirischen Gegenstandes sondern Symbol einer .problematischen' .übersinnlichen' Welt. Nimmt man dagegen die schon erwähnte „Tafel" der „Einteilung des Begriffs von Nichts" (KrV A 290ff/B 346ff), so fallen beide Begriffe im Punkt l zusammen. „Nichts als 1. Leerer Begriff ohne Gegenstand, ens rationis" (KrV A292/B 348). — In KrV A 290/B 347 sagt Kant: „1) Den Begriffen von Allem, Vielem und Einem ist der, so alles aufhebt, d.i. Keines, entgegengesetzt, und so ist der Gegenstand eines Begriffs, dem gar keine anzugebende Anschauung korrespondiert, = Nichts, d.i. ein Begriff ohne Gegenstand, -wie die Noumena, die nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden können, obgleich auch darum nicht für unmöglich ausgegeben werden müssen (ens rationis)". — Es ist aber klar, daß auch der .transzendentale Gegenstand = X' unter die Bestimmung: „1. Leerer Begriff ohne Gegenstand, ens rationis" fallen muß, da er ja den Verstandesaspekt des empirischen Gegenstandes repräsentiert, wie Raum und Zeit dessen bloß sinnlichen; Raum und Zeit werden von Kant dem „Nichts als 3. Leere Anschauung ohne Gegenstand, ens imaginarium" (KrVA 292/B 348) zugezählt: „3) Die bloße Form der Anschauung, ohne Substanz, ist an sich kein Gegenstand, sondern die bloß formale Bedingung desselben (als Erscheinung), wie der reine Raum, und die reine Zeit, die zwar etwas sind, als Formen anzuschauen, aber selbst keine

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Ist der einheitliche Begriff des Noumenon einmal festgestellt44, so bedeutet , Noumenon im negativen Verstände* dasselbe wie: ,Noumenon in Gegenstände sind, die angeschauet werden (ens imaginarium)" [KrV (A 291/)B 347]. — Die Formulierung in KrV A 290/B 347: „ ... dem gar keine anzugebende Anschauung korrespondiert" trifft auf beide Begriffe, wenn auch in verschiedener Weise, zu. Bezüglich der ,Noumena' ist davon auszugehen, daß wir nach Kant nur das Wort ,intellektuelle Anschauung' besitzen, aber nicht diese Anschauung selbst. Dem , transzendentalen Gegenstand = X' aber korrespondiert insofern „keine anzugebende Anschauung", als unsere sinnliche Anschauung, die jetzt abgesprochen ist, nicht diesen ,transzendentalen Gegenstand = X' sozusagen aus dem ,Nichts' zu ,Etwas' macht, sondern - gemeinsam mit dem ,transzendentalen Gegenstand = X' - die empirische Erscheinung (Phaenomenon) sozusagen .konstituiert'. Ein anderes Beispiel für die grundsätzliche Unterscheidung von , transzendentalem Gegenstand = X' und , Noumenon1 bei gleichzeitiger partieller Ununterscheidbarkeit beider Begriffe in der Darstellung bietet KrV A 253. Wenn Kant schreibt: „Das Objekt, worauf ich die Erscheinung überhaupt beziehe, ist der transzendentale Gegenstand, d.i. der gänzlich unbestimmte Gedanke von etwas überhaupt. Dieser kann nicht das Noumenon heißen", und nun fortsetzt: „denn ich weiß von ihm nicht, was er an sich selbst sei, und habe gar keinen Begriff von ihm", so ist dies noch keine Begründung für einen Unterschied von: ,transzendentaler Gegenstand' und: .Noumenon'; vielmehr wird etwas für ,beide' gleich Gültiges mitgeteilt. Erst anschließend ergibt sich der Unterschied: „als bloß von dem Gegenstande einer sinnlichen Anschauung überhaupt, der also vor alle Erscheinungen einerlei ist". Das Folgende kann wieder auf beide Begriffe bezogen werden, auch wenn ich hier nun eher das Noumenon angesprochen sehe. — Wenn Kant in KrV A 288/B 344 von einem „Gegenstand an sich selbst, aber nur als transzendentales Objekt" spricht, „das die Ursache der Erscheinung (mithin selbst nicht Erscheinung) ist", so scheint es nur, daß diese Formulierung, die das ,transzendentale Objekt' als ,Noumenon' betrifft, der Formulierung von KrV A 253 - die sich aber auf das transzendentale Objekt =X" bezieht entspricht: „Das Objekt, worauf ich die Erscheinung überhaupt beziehe" (KrV A 253). Im jeweils zu berücksichtigenden Kontext ist dies ausreichend klar ersichtlich. Dies auch als Beispiel dafür, daß auch sorgfältige Materialsammlungen, die aus einzelnen, isolierten Zitaten - oder aus (nach äußerlichen Kriterien gebildeten) Gruppen solcher Zitate - bestehen, nicht .objektiv' sein müssen, sondern gerade durch den Anschein einer - nicht eingehaltenen - Objektivität besonders irreführend sein können [Darstellungen wie die von Erich Adickes über Kant und das Ding an sich ziehen ihre verwirrende Plausibilität zu einem guten Teil gerade daraus]. 44 Das heißt im Zusammenhang der früheren Erwägungen, daß die Ausdrücke .Noumenon im negativen Verstande' bzw. .Noumenon im positiven Verstande' nicht meinen, daß der Begriff,Noumenon' einmal etwas kategorial Strukturiertes bedeute — d.i. die Identifizierung von .Noumenon' und .transzendentaler Gegenstand = X' — und einmal ein nicht kategorial strukturiertes Etwas; das Wort .Noumenon' ist also nicht als Äquivokation aufzufassen, sondern in jedem Fall - d.i. gleich ob ,in positiver' oder ,in negativer Bedeutung' - als Begriff eines .problematischen' Objekts eines .problematischen', .intuitiven', .anschauenden' Verstandes, also - so gesehen - a/5 ,Noumenon im positiven Verstande·', dasßir ,unseren' Verstand aber nur ,negativ', als leeres Etwas, als Grenzbegriff (fax Sinnenwelt) denkbar ist; — woraus die schon

3.3 Das ,Noumenon'... als Grenzbegriff

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negativer Bedeutung', oder: ,(assertorisch-)negativer [oder: ] Gebrauch des Begriffs ',45 und ,Noumenon im positiven Verstände'' dasselbe wie: ,Noumenon in positiver Bedeutung', oder: ,(assertorisch-)positiver Gebrauch des Begriffs '. Das Noumenon im negativen Verstande, wie jetzt ohne Mißverständnis gesagt werden kann, erklärt Kant als G r e n z b e g r i f f für „nicht allein zulässig, sondern ... unvermeidlich" (KrV A256/B 311); der positive Gebrauch46 des Begriffs ,Noumenon' dagegen wird konsequent abgelehnt. Diesen ,positiven Gebrauch', den Kant für unseren Verstandesgebrauch ausschließt, nennt er ,transzendental':47 „Der transzendentale Gebrauch eines Begriffs in irgend einem Grundsatze ist dieser: daß er auf Dinge überhaupt und an sich selbst, der empirische aber, wenn er bloß auf Erscheinungen, d.i. Gegenstände einer möglichen Erfahrung, bezogen wird" (KrV A 238f/B 298); „Es ist also die Frage: ob außer jenem empirischen Gebrauche des Verstandes ... noch ein transzendentaler möglich sei, der auf das Noumenon als einen G e g e n s t a n d gehe, welche Frage wir verneinend beantwortet haben."48 früher erwähnte Frage entsteht, wieweit ,unser Verstand' dieses noumenale Etwas nur in gleicher Weise denken kann wie den ,transzendentalen Gegenstand = X', obwohl beide Begriffe (nämlich: ,Noumenon' und: ,transzendentaler Gegenstand = X') auf ganz Verschiedenes bezogen sind. Vgl. dazu KrV A. 287/B 343 f: „Das Noumenon ... bedeutet eben den problematischen Begriff von einem Gegenstande für eine ganz andere Anschauung und einen ganz anderen Verstand, als der unselige, der mithin selbst ein Problem ist" [zur unmittelbaren Fortsetzung vgl. Anm. 50/Kap. 3.3]; — KrV 256/ 31 If: „Der Begriff eines Noumeni, bloß problematisch genommen, bleibt demungeachtet nicht allein zulässig, sondern, auch als ein die Sinnlichkeit in Schranken setzender Begriff, unvermeidlich. Aber alsdenn ist das nicht ein besonderer intelligibeler Gegenstand für unsern Verstand, sondern ein Verstand, für den es gehörete, ist selbst ein Probleme, nämlich, nicht diskursiv durch Kategorien, sondern intuitiv in einer nichtsinnlichen Anschauung seinen Gegenstand zu erkennen, als von welchem -wir uns nicht die geringste Vorstellung seiner Möglichkeit machen können." — Vgl. auch KrV A259f/B 315 (zitiert in Anm. 75/Kap. 3. l); KrV A 286f/B 342f (zitiert in Anm. 38/Kap. 3.3). 45 D.h. .Noumenon' als bloßer Grenzbegriff. 46 Vgl. KrV A 255/B 310: „ ... wodurch uns außer dem Felde der Sinnlichkeit Gegenstände gegeben, und der Verstand über dieselbe hinaus assertorisch gebraucht werden könne." 47 D.i. ,transzendental' im .alten' Sinn. Zur Besonderheit der Stelle KrV A 241'/B 304 vgl. Anm. 36/Kap. 3.3. 48 KrV A 257/B 313. — Es ist zu beachten, daß ^Gegenstand", in vollem Sinne, immer die Einheit von Verstand und Anschauung bedeutet: ob als .Vereinigung' von Sinnlichkeit und kategorialem Verstand oder als Einheit des .anschauenden Verstandes'.

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Dieser Bedeutung des Ausdrucks transzendentaler Gebrauch' entspricht der Begriff eines t r a n s z e n d e n t a l e n G e g e n s t a n d e s ' , der n i c h t bloß „=X", d.h. formales Moment bzw. kategoriale Verstandeseinheit (Gegenständlichkeit) des empirischen Gegenstandes (Phaenomenon) ist, sondern N o u m e n o n . In d i e s e m Sinn ist vom ,transzendentalen Objekt' schon in der Transzendentalen Ästhetik die Rede49 [vgl. KrV A46/B 63: „ ... das transzendentale Objekt aber bleibt uns unbekannt"; vgl. dazu KrV A 494/B 522: „Indessen können wir die bloß intelligibele Ursache, der Erscheinungen überhaupt, das transzendentale Objekt nennen, bloß, damit wir etwas haben, was der Sinnlichkeit als einer Rezeptivität korrespondiert"]. — Und das ist der alleinige Sinn, in dem in der Auflage El KrV vom transzendentalen Gegenstand' (bzw. vom ,transzendentalen Objekt') gesprochen wird.50 49

Daß schon in der Transzendentalen Ästhetik, der Lehre von der von allem Verstand abstrahierten Sinnlichkeit, das transzendentale Objekt im Sinne des Noumenon anzutreffen ist, hat seinen Grund in der Tatsache, daß weite Teile der Transzendentalen Ästhetik, u.a. sicherlich bedingt durch die dort geführte Auseinandersetzung mit ,Leibniz/Wolff', das Problemniveau des Verhältnisses von Phaenomena und Noumena - aus Interesse an Klarheit gesagt: leider - vorwegnehmen. 50 [Vgl. aber Anm. 36/Kap. 3.3] — Vgl. auch KrV A 277/B 333: „Allein, das schlechthin, dem reinen Verstande nach, Innerliche der Materie ist auch eine bloße Grille; denn diese ist überall kein Gegenstand for den reinen Verstand, das transzendentale Objekt aber, welches der Grund dieser Erscheinung sein mag, die wir Materie nennen, ist ein bloßes Etwas, wovon wir nicht einmal verstehen würden, was es sei, wenn es uns auch jemand sagen könnte"; — KrV A 288/B 344f: „Der Verstand begrenzt demnach die Sinnlichkeit, ohne darum sein eigenes Feld zu erweitem, und, indem er jene warnet, daß sie sich nicht anmaße, auf Dinge an sich selbst zu gehen, sondern lediglich auf Erscheinungen, so denkt er sich einen Gegenstand an sich selbst, aber nur als transzendentales Objekt, das die Ursache der Erscheinung (mithin selbst nicht Erscheinung) ist, und weder als Größe, noch als Realität, noch als Substanz etc. gedacht werden kann ... Wollen wir dieses Objekt Noumenon nennen, darum, weil die Vorstellung von ihm nicht sinnlich ist, so steht dieses uns frei." — Wenn Kant knapp vorher [KrV A 287/B 343f ] sagt: „Man kann auqh das Noumenon nicht ein solches Objekt nennen" und: „Der Begriff des Noumenon ist also nicht der Begriff von einem Objekt, sondern die unvermeidlich mit der Einschränkung unserer Sinnlichkeit zusammenhängende A u f g a b e ", so ist dies kein Widerspruch, denn „ein solches Objekt", das das Noumenon (als Grenzbegriff) nicht sein kann, bzw. „der Begriff von einem Objekt", der nicht „der Begriff des Noumenon ist", bezieht sich auf ein Objekt im positiven Sinn — auf Grund der bisherigen Darstellung könnte man auch sagen: auf den Begriff eines Noumenon in positivem Verstandesgebrauch —; das Noumenon, wie es für Kant als Grenzbegriff notwendig und akzeptierbar ist, „bedeutet eben den problematischen Begriff von einem Gegenstande" (KrV A 287/B 343) und in ebendiesem Sinn ist das , transzendentale Objekt' gemeint, von dem Kant sagt, es stehe uns frei, „dieses Objekt Noumenon" (KrVA 288/B 345) zu nennen.

3.3 Das .Noumenon'... alsGrenzbegriff

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Ich habe schon mehrmals auf die Spannung im Begriff,transzendental' bei Kant hingewiesen: zwischen der ,neuen' ,kritischen' Bedeutung, die auf unsere Erkenntnisart der Gegenstände geht - dem entspricht der Begriff des transzendentalen Gegenstandes = X' der Auflage A -, und der ,alten' ontologischen Bedeutung; ihr entspricht - in den Auflagen A und B der Begriff eines transzendentalen Gegenstandes' als , N o u m e n o n ' , auch wenn der ,positive Gebrauch' dieses Begriffs von Kant ,kritisch' abgelehnt wird.51 Kurz zusammengefaßt ist Folgendes zu sagen: Entspricht dem D i n g an s i c h auf der Ebene der von allem Verstand isolierten Sinnlichkeit , b l o ß e M a t e r i e ' als (Grenz-)Begriff, so auf der Ebene des von aller Sinnlichkeit abstrahierten Verstandes die b l o ß e kategoriale F o r m ( , t r a n s z e n d e n t a l e r G e g e n s t a n d = X ' ) und auf der Ebene der Vereinigung von Sinnlichkeit und Verstand zur empirischen Realität (,Sinnenwelt')52 das , N o u m e n o n ' . Unter , N o u m e n o n ' ist ein ,problematischer Begriff'53 eines nicht-kategorial strukturierten „Gegenstandes' zu verstehen, der deshalb nicht Objekt ,unseres Verstandes' sein kann [sondern ,fur uns' nur als mögliches Objekt eines, ,fur uns' ebenfalls »problematischen', ,anschauenden Verstandes' (d.i. ,intellektuelle Anschauung') denkbar ist]. Auf Grund der verschiedenen, hier interpretierten Bestimmungen von ,Noumenon' kann auch so formuliert werden: Der Begriff des , Noumenon' ist der .problematische' Begriff des Noumenon ,in positiver Bedeutung' — d.i. der Begriff eines nicht-kategorialen Gegenstandes einer (deshalb als ,nicht-sinnlich', insofern) als ,intellektuell' zu denkenden Anschauung,54 von dem ,H7>' (d.i.,unser'Verstand) - ^assertorisch1 - keinen positiven*5, sondern nur negativen Gebrauch machen können — als, die Sphäre der Phaenomena Begrenzender', Grenzbegriff. 5 6 51

Vgl. dazu Kap. 3.4. Dies ist zugleich das - im Zusammenhang der bisherigen Erörterungen - wesentlichste Niveau des ,Dinges an sich'. 53 D.h. das auf einen ,Gegenstand', dessen (,Un-c Gegenständlichkeit ,wir' (d.i. ,unser' kategorialer Verstand) nicht adäquat - und insofern: nicht - denken können, bezogene Wort: ,Noumenon'. 54 Im Unterschied zu einer - wie ich gezeigt habe (vgl. die vorhergehenden Anmerkungen): auszuschließenden - ,negativen Bedeutung' von .Noumenon' als identisch mit der bloßen kategorialen (Verstandes-)Einheit:,transzendentaler Gegenstand = X'. 55 D.i. (im ,alten' Sinn):,transzendentaler Gebrauch'. 56 In diesem Sinn wiederum [d.i. des ,Noumenon in - grundsätzlich - positiver Bedeu52

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Dieser Grenz-Begriff .veranschaulicht' jene T a u t o l o g i e (oder: er läßt nicht vergessen), daß alles das, was för unseren Verstand existieren kann (d.i. alles das, was ,Phaenomenon' sein kann), för u n s e r e n V e r s t a n d existieren kann — und sonst n i c h t s (d.i. alles das, was nicht mögliches ,Phaenomenon' ist).57 Hinsichtlich der Frage nach der Beziehung des Begriffs des N o u m e non und des Begriffs eines t r a n s z e n d e n t a l e n G e g e n s t a n d e s , der ebenfalls als Begriff eines nicht-kategorialen Etwas von der bloßen Einheit kategorialer Gegenständlichkeit (d.i. ,transzendentaler Gegenstand = X'58) klar unterschieden ist, gibt der folgende Abschnitt (Kap. 3.4) weitere Auskunft.

tung' aber von , negativem (Verstonaes-)Gebrauch'] ist es - der hier etwas verwirrenden Kantischen Terminologie zufolge - der Begriff des Noumenon in negativer Bedeutung, der als Grenzbegrijffmcht nur zulässig sondern unerläßlich ist. Da jetzt eindeutig klar ist, daß der Ausdruck ,Noumenon in negativer Bedeutung' nicht , transzendentaler Gegenstand = X' bedeuten kann, werde ich daher im Folgenden - wie Kant es überwiegend auch tut - die Formulierung , Noumenon in negativer Bedeutung' in gleichem Sinn verwenden wie ,Noumenon in negativem Gebrauch', bzw. ,Noumenon in positiver Bedeutung' gleich wie ,Noumenon in positivem Gebrauch'; — wobei das erstere [,negative/r Bedeutung/Gebrauch'] als Grenzbegriff akzeptiert, das letztere [,positive/r Bedeutung/Gebrauch'] aber - als dialektisch - abgelehnt ist. — Vgl. Anm. 44/Kap. 33, Anm. 61/Kap. 3.4 und Anm. 63/Kap. 3.4. 57 Wenn man die „Tafel" der „Einteilung des Begriffs von Nichts" [KrV A290ff/ B 346ff; vgl. Anm. 43/Kap. 3.3] recht bedenkt, dann sieht man, wie das, was/iir unseren Verstand ein Begriff des Nichts ist, eigentlich gar n i c h t s ist. — Dies ist ein Beispiel für die durch jene Tautologie ausgedrückte ,innere Grenze', die för unseren Verstand letzten Endes . n i c h t s ' sein muß, genauso wie der durch sie .geschaffene' .Platz', der . l e e r e R a u m ' ; es ist eine Konsequenz der bisher vorgestellten Kantischen Analyse .unserer' Vernunftstrukturen. — Denn alle diese Begriffe wie: .Nichts', .leerer Raum', .Grenze' usw., so notwendig sie für den Prozeß der Analyse sind, verstellen den leeren Raum — jenen Platz, den die praktische Vernunft auf Grund ihres ,Faktums' (in ihrer Weise) .besitzt', den sie aber erst jetztßir unseren Verstand [d.i. Teilaspekt von ,2.2.1.2' der theoretischen Vernunft'; vgl. Kap. 2.1.1] zu Recht .einnehmen' kann: Wenn diese Begriffe als Gmiz-Begriffe gewürdigt werden und -wenn ernst genommen wird, was Kant in verschiedensten Anläufen immer wieder zu sagen bemüht ist: daß diese Gmizbegriffe eigentlich - ,för uns' - gar keine Begriffe, letzten Endes also: . n i c h t s ' sind, und doch etwas ,bedeuten': die - . a n a g o g i s c h e ' - ,Öffhung'. 58 Ich verwende der Klarheit wegen für diese Bedeutung von .transzendentaler Gegenstand' in dieser Schrift immer den Zusatz:, = X' (Kant tut dies gelegentlich nicht).

3.4 Das Noumenon ,in der Idee'... als Grenz- und Formbegriff

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3.4 Das Noumenon , in der Idee' oder: Der Begriff des Dinges an sich als Grenz- und Formbegriff, bezogen auf den regulativen Gebrauch spekulativer Vernunft (Der ^transzendentale Gegenstand'' als ^Schema der Idee') Wer die abweisende Schwelle Kantischer Terminologie überwunden hat und in den Begriffszusammenhang selbst eingetreten ist, dem öffnet sich eine Gedankenwelt von strenger Schönheit1 und ,Architektonik'.2 Einen dieser ,Räume'3 bietet die Kritik der reinen Vernunft unter dem Titel: Transzendentale Dialektik* Hier werden die Begriffe der ,transzendenta1

„Kant: ... Ein adliger Mensch" (Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie S. 124). Die Rede vom .Vergehen' des ,Hörens und Sehens' erhält geradezu empirischen Sinn. — Reno Descartes, Meditationen (PhB Bd. 27, S. 27): „Ich will jetzt meine Augen schließen, meine Ohren verstopfen und alle meine Sinne ablenken, auch die Bilder der körperlichen Dinge sämtlich aus meinem Bewußtsein tilgen ... ich will mich nur mit mir selbst unterreden, tiefer in mich hineinblicken und so versuchen, mich mir selbst nach und nach bekannter und vertrauter zu machen." — G.W.F. Hegel, Logik [3. Abt.: Die Lehre vom Begriff, §160 Zusatz, Glockner-Jubiläumsausgabe Bd. 8, S. 354]: „Eben so mag dann auch der Begriff immerhin abstrakt genannt werden, wenn man unter dem Konkreten nur das sinnlich Konkrete, überhaupt das unmittelbar Wahrnehmbare versteht; der Begriff als solcher läßt sich nicht mit den Händen greifen und muß uns überhaupt, wenn es sich um den Begriff handelt, Hören und Sehen vergangen seyn"; — vgl. auch Martin Buber (zitiert in Kap. 2. l nach Fußnotenreferenz 46). 3 Im vorangegangenen Abschnitt (Kap. 3.3) wurde schon vom ,/to«/w' gesprochen, der von den .Anmaßungen der Sinnlichkeit' verschont, Jeer' bleibt. Dieser ,Raum' bleibt in der Transzendentalen Dialektik weiterhin leer: sogar seine .Möglichkeit' bleibt eine solche bloßen Denkens, wird zu keiner ,realen Möglichkeit' [vgl. KrVA 557f/B 585f im Zusammenhang mit ,Freiheit']. Dennoch wird uns dieser Raum in der Dialektik näher gebracht und damit die Denkmöglichkeit des „Faktums der reinen Vernunft" vertrauter. Für einen empiristisch ausgerichteten Verstand, der gerade noch durch das , Abgrenzungsproblem' [d.h.: ,Welche Sätze sind für empirische Wissenschaft relevant und welche Sätze sind aus wissenschaftstheoretischen Gründen aus ihrem Bereich auszuscheiden?'] an .Metaphysik' - allerdings nur als ,ontologischem Abfallbehälter' ungeordneten ,Inhalts' - interessiert ist, mag diese Rede vom ,Raum' an Zeichnungen erinnern, die ein Bild darstellen, in dem das gleiche Bild in kleinerem Maßstab enthalten ist, in dem wiederum das gleiche Bild (wiederum in kleinerem Maßstab) enthalten ist usw. — Ein solches Verständnis kann aber - als Konsequenz einer, der kritischen Philosophie nicht gemäßen, Betrachtungsweise - Kants Rede vom . l e e r e n R a u m ' nicht erfassen. 4 Dem hier Gesagten widerspricht keineswegs, daß gerade dieser Teil der KrV bekannt ist als explizite, bisherige Metaphysik - zumindest wie Kant sie sieht - zentral treffende Kritik, und daß Kant im Rahmen seines Begriffszusammenhanges berechtigterweise ,Metaphysik als (theoretische) Wissenschaft' [also spekulative Metaphysik theoretischer Vernunft] als .dialektischen Schein' radikal ablehnt. — Denn dies ist nur die 2

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

len Idee'5 und des ihr entsprechenden Gegenstandes dargestellt: des Dinges an sich auf der (Bezugs-)Ebene reiner spekulativer Vernunft. Ausgerichtet an einer S k i z z e der Kantischen Philosophie, die konzentriert ist auf die Frage der Rationalität praktischer Vernunft, muß der Versuchung widerstanden werden, ,unterwegs' länger als nötig zu verweilen. Doch wie soll „ p r a k t i s c h e r Vernunftgebrauch" verstanden werden, wenn nicht „ V e r n u n f t g e b r a u c h " überhaupt einigermaßen klar ist; und wie soll die Rede Kants vom „intelligibelen Subjekt", dem „sittlichen Wesen" als „Noumenon" usw. nicht mißverstanden werden, ohne Betrachtung des „transzendentalen Objekts" der „Ideen" und ohne die damit verknüpfte Einsicht in das, was „transzendentale Idee" überhaupt bedeutet?6 Aus dem Kantischen Begriffszusammenhang nicht wegzudenken ist die immer wieder anzutreffende Rede von der s y n t h e t i s c h e n E i n h e i t ; äußere Seite - die nicht das Problem der vorliegenden Schrift ist - der lebendigen Metaphysik Kants, die (in gewohnt trockener Terminologie) das wärmende Licht seiner Philosophie ist, deren Zentrum (vgl. „Primat") in der praktischen Philosophie liegt. — Es müßte klar sein, daß diese Metaphysik nicht psychologisch als „inneres Erleben Kants" mißverstanden werden sollte - wie dies Erich Adickes in seinem Buch über Kant und das Ding an sich tut - bzw. daß die philosophische Erklärung eines solchen Mißverständnisses in den Konsequenzen von - dem Kantischen Niveau nicht adäquaten - empiristischen Voraussetzungen zu suchen ist. — Eine für den ersten Blick ähnliche Kritik kommt von der anderen, .spekulativen' Seite; z.B. von Schelling, wenn er in seiner Philosophie der Offenbarung (Bd. l, S. 84) über Kant sagt, dieser habe „das Positive, das er aus der theoretischen Philosophie ganz eliminirt hatte, durch die Hinterthüre der praktischen wieder eingeführt". — Die Ähnlichkeit beider Kritiken liegt in dem - unausgesprochen für sie [zumindest in der Kritik an Kant] gültigen Primat der theoretischen Vernunft. Dir immenser Abstand voneinander ist aber gerade so groß wie der zwischen dem auf Sinnesdaten ausgerichteten Positivismus und dem Positivismus Schellings, der „philosophischer Empirismus" ist [Bruno Liebrucks (Sprache und Bewußtsein) sieht von Hegel her bei allen Unterschieden des philosophischen Niveaus eher die Gemeinsamkeiten jedes positivistischen Empirismus]. 5 Und damit die für Kant so wichtige Unterscheidung innerhalb des theoretischen Vernunftgebrauchs zwischen (kategorialem) Verstand und Vernunft im engeren Sinne (als Vermögen der ,Ideen' bzw. der .Prinzipien'), die wiederum ,regulativ' oder pseudokonstitutiv-,dialektisch' sein kann. 6 Kants Rede von den praktischen Vernunft-Ideen bzw. .Postulaten1 wird wohl auch deshalb so oft mißverstanden, weil sie - als eigenes .Lehrstück' aus dem Zusammenhang gelöst - in ihrem Status nicht mehr sichtbar ist. — Um diesen Status — und auch den von Kants Begriffen des moralischen Subjekts, der Wirkung reiner praktischer Vernunft , auf die Sinnenwelt etc. — feststellen zu können, ist u.a. der Begriff der „transzendentalen Hypothese" notwendig; diese wiederum ist ohne Kenntnis der Bedeutung von z.B. ,Vemunftgebrauch' nicht verstehbar etc.

3.4 Das Noumenon ,in der Idee' ... als Grenz- und Formbegriff

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sie steht geradezu für ,Erkenntnis'.7 A u s g e h e n d 8 von der Einheit9 des empirischen Gegenstandes (,Phaenomenonc) hatte Kant an ihm — im D e n k e n — den Aspekt der Einheit bloßer Sinnlichkeit (Anschauung) und den Aspekt der Einheit bloßen Verstandes (Kategorien),isoliert'10 und 7

Vgl. KrV A 77/B 103: „Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen." — ,Erkenntnis' hat natürlich verschiedene Bedeutung relativ auf das jeweilige Erkenntnisvermögen', vgl. z.B. KrV A 298f/B 355: „Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstände, und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen" [Eine Parallelstelle bietet KrV A 702/B 730]. Gegen diesen Bezug von »Erkenntnis' auf Vermögen, die nicht Verstand sind, kann der Kontext des gegebenen Zitats KrV A 77/B 103 — vgl. KrV A 78/B 104: „Die reine Synthesis, allgemein vorgestellt, gibt nun den reinen Verstandesbegriff" — nur scheinbar herangezogen werden. Denn der Absatz vorher spricht von der „Synthesis überhaupt" als bloßer Wirkung der „Einbildungskraft": „Allein, diese Synthesis auf Begriffe zu bringen, das ist eine Funktion, die dem Verstande zukommt, und wodurch er uns allererst die Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung verschaffet" (KrV A 787 B 103). Damit ist auch hier — auch wenn ,(produktive) Einbildungskraft' andererseits dem .Verstand' (als Kontrast zu ,Sinnlichkeit') zugeschlagen wird — .Erkenntnis' grundsätzlich in mehrfacher Bedeutung akzeptiert [man denke auch an die von Kant oft gebrauchte Formulierung: .praktische Erkenntnis'; vgl. dazu Kap. 3.5]. 8 Deshalb ist die Formulierung, der empirische Gegenstand, der primär Objekt einer transzendentalen Analyse ist, werde .konstituiert', .aufgebaut' durch Anschauung und Verstand (bzw. durch ihre .Vereinigung'), nur vorsichtig zu gebrauchen, gerade weil sie durch die Kantische Rede von (Gegenstand-^konstituierenden Prinzipien fast suggeriert wird. Auch in der vorliegenden Schrift gibt es — der angestrebten Kürze wegen — ähnliche Sätze; es wurde aber schon in den einleitenden Abschnitten [vgl. Kap. 2.1] daraufhingewiesen, daß die Vorstellung, der empirische Gegenstand werde als primär ^aufgebaut' gedacht, zur — das Niveau der kritischen Philosophie notwendig verfehlenden — Vorstellung führt, die im Denken abstrahierten Aspekte des .materiellen' empirischen Gegenstandes [transzendental-logische Analyse, nicht .Synthese'] hätten selbst (zumindest teilweise) materiellen Charakter und dieser sei nur unter der Annahme .affizierender' (materieller) Dinge an sich zu verstehen. 9 Die von Kant durchgeführte transzendental-logische Analyse [vgl. auch KrV: Transzendentale Analytik, nicht: ,... Synthetik'] erweist diese Einheit als ,synthetisch'. Daher besteht durch die Rede von der , synthetischen Einheit' des empirischen Gegenstandes kein Widerspruch zur vorhergehenden Anmerkung. 10 Zur Erinnerung vgl. KrV A 22/B 36: „In der transzendentalen Ästhetik also werden wir zuerst die Sinnlichkeit isolieren ..." und KrV A 62/B 87: „In einer transzendentalen Logik isolieren wir den Verstand (so wie oben in der transzendentalen Ästhetik die Sinnlichkeit) und heben bloß den Teil des Denkens aus unserm Erkenntnisse heraus, der lediglich seinen Ursprung in dem Verstande hat." — .Erkenntnis' meint hier .Erfahrung'; diese kann immer nur .ganze' Phaenomena - und nicht bloß Aspekte von ihnen - zum Gegenstand haben.

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

anschließend, durch den Aufweis der Denkmöglichkeit von Noumena in negativer Bedeutung, die innere Grenze der Sinnenwelt (Inbegriff aller Phaenomena11) bewußt gemacht bzw. — f ü r das D e n k e n — einen ,leeren Raum' geschaffen.12 Die E i n h e i t spekulativer V e r n u n f t , sofern sie Erkenntnisvermögen und nicht,dialektisch'13 ist, kann n i c h t in gleicher Weise von einer — sozusagen vorgegebenen — ,objektiven' Einheit a b s t r a h i e r t gedacht werden:14 Spekulative Vernunft (als regulatives Erkenntnisvermögen betrachtet) stiftet bloß , s u b j e k t i v e ' Einheit — durch ihr Vermögen der transzendentalen I d e e n . 1 5 Erst dadurch wird zusammenhängende, 11

Vgl. z.B. KrV A 672/B 700. — Daß auch vom Verstand unterschiedene, spekulative Vernunft als Erkenntnisvermögen die gleiche Grenze in sich trägt, verwundert nicht, wenn gesehen wird, daß ,lnbegriff\ vor allem aber ,Sinnen-WWf' auf ^Totalität' verweist; diese aber ist das Zeichen der Vernunft-/c/ee. 12 Vgl. das Ende der Transzendentalen Dialektik (KrV A 702/B 730; zitiert am Ende von Kap. 3.4). 13 Etwas verkürzt gesagt ist Vernunft dann .dialektisch' (d.i. in sich widersprüchlich), wenn die Vemunft-A/mi als - durch Vernunft .erschlossene' - Gegenstünde möglicher Erkenntnis bzw. als konstitutiv (im Sinne der Kategorien) mißverstanden werden. Vgl. KrV A 701 f/B 729f: „So enthält die reine Vernunft ... nichts als regulative Prinzipien, die zwar größere Einheit gebieten, als der empirische Verstandesgebrauch erreichen kann ... wenn man sie aber mißversteht, und sie für konstitutive Prinzipien transzendenter Erkenntnisse hält, durch einen zwar glänzenden, aber trüglichen Schein, Überredung und eingebildetes Wissen, hiemit aber ewige Widersprüche und Streitigkeiten hervorbringen"; — KrV A 693f/B 721 f: „Das regulative Prinzip der systematischen Einheit ... für ein konstitutives nehmen ... heißt nur, die Vernunft verwirren"; — vgl. auch Ä>FA297f/B 353ff: „Der transzendentale Schein ..."; vgl. auch Anm. 23/Kap. 3.4. 14 Dem steht die „vorläufige"' Frage Kants: „Kann man die Vernunft isolieren ...?" (KrVA 305/B 362) nicht entgegen. 15 Da hier ,Ideen' als reine Vernunftbegriffe ausschließlich als .transzendentale Ideen' zu verstehen sind, wird im Folgenden ohne Ungenauigkeitsproblem das Wort .Idee' auch allein gebraucht werden [Daß Kant sowohl den Vernunft-ßegr#T als auch dessen Gegenstand Jdee' nennt, sei hier nur angemerkt], Vgl. KrV A 321/B 378: „ ... Begriffe a priori ... welche wir reine Vemunftbegriffe, oder transzendentale Ideen nennen können, und die den Verstandesgebrauch im Ganzen der gesamten Erfahrung nach Prinzipien bestimmen werden"; — KrV A 327/B 383 f: „Ich verstehe unter der Idee einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann. Also sind unsere jetzt erwogene reine Vernunftbegriffe transzendentale Ideen. Sie sind Begriffe der reinen Vernunft; denn sie betrachten alles Erfahrungserkenntnis als bestimmt durch eine absolute Totalität der Bedingungen. Sie sind nicht -willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, und beziehen sich daher notwendiger Weise auf den ganzen Verstandesgebrauch. Sie sind endlich transzendent und übersteigen die Grenze aller Erfahrung, in welcher also niemals ein Gegenstand vorkommen kann, der der transzen-

3.4 Das Noumenon ,in der Idee' ... als Grenz- und Formbegriff

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s y s t e m a t i s c h e E r k e n n t n i s möglich,16 als — in der Zeit — nie abzuschließende A u f g a b e . 1 7 Diese, von den »objektiven', (gegendentalen Idee adäquat wäre. Wenn man eine Idee nennt: so sagt man dem Objekt nach (als von einem Gegenstande des reinen Verstandes) sehr viel, dem Subjekte nach aber (d.i. in Ansehung seiner Wirklichkeit unter empirischer Bedingung) eben darum sehr wenig, weil sie, als der Begriff eines Maximum, in concrete niemals kongruent kann gegeben werden"; — KrV A 321/B 378: „ ... reine Vernunftbegriffe, oder transzendentale Ideen ... die den Verstandesgebrauch im Ganzen [vgl.: .Totalität', G.R.] der gesamten Erfahrung nach Prinzipien bestimmen werden"; — KrV A 31 l/B 368: so wie wir die reinen Verstandesbegriffe Kategorien nannten, die Begriffe der reinen Vernunft mit einem neuen Namen belegen und sie transzendentale Ideen nennen." 16 In gewissem Sinn empirische Erkenntnis überhaupt, dann nämlich, wenn dazu vorausgesetzt ist, daß man nicht nur einzelne Urteile fallt, sondern daß sie in einem gemeinsamen .Horizont' (Zusammenhang) stehen müssen, der Bedingung ist für jedes adäquate Kriterium der Anerkennung oder Verweigerung dieser einzelnen Urteile als empirische Erkenntnis. — Vgl. dazu beispielsweise Karl Popper, Logik der Forschung S. 19f; nicht wegen Poppers dortigen Hinweises auf Kant, sondern der Frage wegen, ob ,,okkulte[n] Effekte" erkannt werden können: „(Diese Verhältnisse haben zur Folge, daß ein Streit darüber, ob es nicht wiederholbare, einzigartige Vorgänge gibt, innerhalb der Wissenschaft grundsätzlich nicht entschieden werden kann: er ist .metaphysisch'.)" Nun ist leicht zu sehen, daß die beiden folgenden Zitate keinen Widerspruch enthalten und auch keine Ungenauigkeit erzeugen, obwohl das erste wesentlich .strenger' erscheint als das zweite. Denn beide setzen die Möglichkeit einzelner Urteile (also .Verstandeseinheit') voraus; das erste aber betont für jede .volle' (und das heißt für Kant: wissenschaftsfahige) empirische Erkenntnis die Notwendigkeit des systematischen Zusammenhanges (,Vemunfteinheit' als Entwurf); das andere spricht nur die grundsätzliche Möglichkeit der einzelnen Urteile aus (vgl. auch Anm. 21/Kap. 3.4). (1) KrV A 651/B 679: „Denn das Gesetz der Vernunft, sie [d.i. die systematische Einheit der Natur; G.R.] zu suchen, ist notwendig, weil wir ohne dasselbe gar keine Vernunft, ohne diese aber keinen zusammenhangenden Verstandesgebrauch, und in dessen Ermangelung kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben würden ..." [vgl. dazu KrV A 647/B 675: „Der hypothetische Vernunftgebrauch geht also auf die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse, diese aber ist der Probierstein der Wahrheit der Regeln"]. — (2) KrV A 671/B 699: „ ... Ideen der spekulativen Vernunft ... als regulativer Prinzipien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntnis überhaupt, welche dadurch in ihren eigenen Grenzen mehr angebauet und berichtigt wird, als es ohne solche Ideen durch den bloßen Gebrauch der Verstandesgrundsätze geschehen könnte" [vgl. auch KrV A 681/B 709: „ ... systematische Einheit... die der Vernunft unentbehrlich, der empirischen Verstandeserkenntnis aber auf alle Weise beförderlich und ihr gleichwohl niemals hinderlich sein kann"]. Zur ,systematischen Vernunfteinheit' vgl. auch KrV A 832/B 860: „Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vemunftbegriff von der Form eines Ganzen ..."; — KrV A. 833/B 861: „Das Ganze ist also gegliedert ... und nicht gehäuft... es kann zwar innerlich ... aber nicht äußerlich ... wachsen, wie ein tierischer Körper ... | ... dasjenige ... was nur zu Folge einer Idee entspringt ... gründet architektonische Einheit."

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

stands-)konstitutiven Prinzipien18 der sinnlichen Anschauung bzw. des Verstandes als r e g u l a t i v 1 9 unterschiedenen Prinzipien systematischer Vernunfteinheit haben bezüglich ihrer S u b j e k t i v i t ä t einen der Subjektivität ,teleologischer Urteilskraft' vergleichbaren Status;20 hinsichtlich 17

Vgl. KrVA 663/B 691, wo vom empirischen Gebrauch der Vernunft die Rede ist, der den (regulativen) Ideen „nur gleichsam asymptotisch, d.i. bloß annähernd folgen kann, ohne sie jemals zu erreichen"; — KrV A 323/B 380: „Daher sind die reinen Vemunftbegriffe von der Totalität in der Synthesis der Bedingungen wenigstens als Aufgaben, um die Einheit des Verstandes, wo möglich, bis zum Unbedingten fortzusetzen, notwendig". 18 .Prinzip* wird hier - wie in den meisten Fällen - in einer weiten Bedeutung verstanden. Davon zu unterscheiden ist aber die enge, gerade im vorliegenden Kontext zu berücksichtigende Bedeutung, wonach nur Vernunft (und nicht Verstand oder Sinnlichkeit) das Vermögen der Prinzipien genannt wird (vgl. KrVA 299/B 356); vgl. die verschieden weiten Bedeutungen von ,Vernunft' im ,Schema der Vernunft' (Kap. 2.1.1). 19 Grundsätzlich gilt: Ob ein Prinzip ,konstitutiv' oder ,regulativ' zu nennen ist, hängt davon ab, worauf es bezogen werden kann. Daher haben Prinzipien »objektive' Geltung hinsichtlich dessen, worauf sie .konstitutiv' genannt werden, bzw. .subjektive' Geltung relativ auf das, in bezug worauf sie nur .regulativ' heißen können. — Konstitutiv-objektive Prinzipien haben gesetzgebende Funktion bezuglich ihrer Gegenstände und der Erkenntnis dieser Gegenstände; regulativ-subjektive Prinzipien nur hinleitende bzw. richtunggebende, .heuristische' Bedeutung bloß für die Erkenntnis. — Der vorläufige Charakter dieser Unterscheidung, die zwar klar, aber etwas zu einfach ist, wird schon durch folgendes Zitat sichtbar bzw. in den nächsten Anmerkungen bezüglich der reflektierenden Urteilskraft oder der dynamischen Grundsätze des Verstandes. Eine , transzendentale Deduktion* der Ideen [als konstitutive Prinzipien (analog den Kategorien) verstanden] ist nicht möglich (KrV A 336/B 393); wohl aber der Ideen in regulativer Funktion (vgl. KrVA 671/B 699). — Vgl. auch KrV A 669f/B 697f: „... transzendentale Deduktion ... Die Ideen der reinen Vernunft verstatten zwar keine Deduktion von der Art, als die Kategorien; sollen sie aber im mindesten einige, wenn auch nur unbestimmte, objektive Gültigkeit haben, und nicht bloß leere Gedankendinge ... vorstellen, so muß durchaus eine Deduktion derselben möglich sein", — KrV A 671/B 699: „Und dieses ist die transzendentale Deduktion aller Ideen der spekulativen Vernunft, nicht als konstituier Prinzipien der Erweiterung unserer Erkenntnis über mehr Gegenstände, als Erfahrung geben kann, sondern als regulativer Prinzipien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntnis überhaupt...". 20 Zum Vergleich der regulativen Vernunftprinzipien (Ideen) und Ideologischer Urteilskraft genügen, dem Interesse der vorliegenden Schrift entsprechend, folgende Bemerkungen (vgl. auch das ,Schema der Vernunft', Kap. 2.1.1): (1) .Bestimmende' (objektiv-apriorisch gültig im Sinne der Kategorien) und ,reßektierende1 (im Vergleich dazu ,subjektiv-apriorische') Urteilskraft sind voneinander zu unterscheiden. — (2) Zweckmäßigkeit, das Zeichen reflektierender Urteilskraft, zeigt sich wiederum in zwei Prinzipien: der - im Rahmen dieser .subjektiv-apriorischen' reflektierenden Urteilskraft wiederum .objektiv' gültigen - ,teleologischenl Urteilskraft [„logische Beurtheilung der Natur"; KU V/169] und der - im Kontrast

3.4 Das Noumenon ,in der Idee'... als Grenz- und Formbegriff

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ihrer r e g u l a t i v e n Funktion jedoch dürfen sie nicht mit den ebenfalls „regulativ" genannten, „dynamischen Grundsätzen des Verstandes" gleichgesetzt werden: Sie sind sozusagen ,stärker regulativ' (also in gewissem Sinne ,subjektiver').21 zur teleologischen - ,subjektiven' ästhetischen' Urteilskraft. — (3) Die Kritik der teleologischen Urteilskraft [d.i. im gegebenen Zusammenhang: „die logische Beurtheilung nach Begriffen"] hätte „allenfalls dem theoretischen Theile der Philosophie ... angehängt werden können" [KU V/170]. — (4) Tatsächlich handeln die letzten Seiten der Transzendentalen Dialektik [KrV A 686ff/B 714ff, beginnend mit: „Die höchste formale Einheit, welche allein auf Vemunflbegriffen beruht, ist die zweckmäßige Einheit der Dinge ... "] in der Hauptsache von diesem Prinzip, das hier als das höchste aller Vernunftprinzipien bezeichnet wird: „ ... Vernunft im spekulativen Gebrauche ... um der Natur nach allen möglichen Prinzipien der Einheit, worunter die der Zwecke die vornehmste ist, bis in ihr Innerstes nachzugehen" [KrV A 702/B 730]. — (5) m diesem Sinne sind der Status der Subjektivität regulativer Ideen und derjenige der Subjektivität Ideologischer Urteilskraft vergleichbar. Zu dem - bei aller Subjektivität dennoch vorhandenen - Moment der Objektivität vgl. folgende Zitate [vgl. zusätzlich Anm. 19/Kap. 3.4 und Anm 61 (2. Hälfte)/Kap. 3.4]: — KrV A 664/B 692: „Wenn ich nun von einem solchen empirischen Gebrauch derselben, als konstitutiver Grundsätze, abgehe, wie will ich ihnen dennoch einen regulativen Gebrauch, und mit demselben einige objektive Gültigkeit sichern"; — Ä>FA653/B 681: „ ... Idee ... nach welcher jedermann voraussetzt, diese Vernunfteinheit sei der Natur selbst angemessen, und daß die Vernunft hier nicht bettele, sondern gebiete". Vgl. folgende beide Zitate zusammen: (1) KrV A 671/B 699: „... die Idee [ist] eigentlich nur ein heuristischer und nicht ostensiver Begriff, und zeigt an, nicht wie ein Gegenstand beschaffen ist, sondern wie wir, unter der Leitung desselben, die Beschaffenheit und Verknüpfung der Gegenstände der Erfahrung überhaupt suchen sollen"; und (2) KrV A 650f/B 678f: „In der Tat ist ... nicht abzusehen, wie ein logisches Prinzip der Vemunfteinheit der Regeln stattfinden könne [vgl. dazu KrV A 647ff/B 675ff; G.R.], wenn nicht ein transzendentales vorausgesetzt wurde, durch welches eine solche systematische Einheit, als den Objekten selbst anhängend, a priori als notwendig angenommen wird ... Denn das Gesetz der Vernunft, sie zu suchen, ist notwendig, weil wir ohne dasselbe gar keine Vernunft, ohne diese aber keinen zusammenhängenden Verstandesgebrauch, und in dessen Ermangelung kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben würden, und wir also in Ansehung des letzteren die systematische Einheit der Natur durchaus als objektivgültig und notwendig voraussetzen müssen." 21 Vgl. KrV A 664/B 692: „Wir haben in der transzendentalen Analytik unter den Grundsätzen des Verstandes die dynamische, als bloß regulative Prinzipien der Anschauung, von den mathematischen, die in Ansehung der letzteren konstitutiv sind, unterschieden. Diesem ungeachtet sind gedachte dynamische Gesetze allerdings konstitutiv in Ansehung der Erfahrung, indem sie die Begriffe, ohne welche keine Erfahrung stattfindet, a priori möglich machen. Prinzipien der reinen Vernunft können dagegen nicht einmal in Ansehung der empirischen Begriffe konstitutiv sein, weil ihnen kein korrespondierendes Schema der Sinnlichkeit gegeben werden kann, und sie also keinen Gegenstand in concrete haben können." — In bezug auf Anm. 16/Kap. 3.4 kann jetzt auch gesagt werden: Ohne systematische Vernunfteinheit könnten wir zwar

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Transzendentale Ideen sind weiters als Prinzipien der „Vernunfteinheit" von jeder „Verstandeseinheit" klar zu unterscheiden,22 so wie „Verstand" (Kategorien) von „Vernunft" (Ideen).23 Als reine Vernunftbegriffe betracheinzelne Erfahrungen machen, wir könnten aber nicht wissen, ob in jedem Fall diese ,empirische Erfahrung' auch eine solche ist, d.h. wir könnten sie bei Bedarf mangels eines geeigneten Kriteriums nicht identifizieren. Berüglich des Ausdrucks .Sehem a' merke ich hier nur an, daß Kant den Vernunftprinzipien nicht jegliches , Schema', sondern das , Schema der Sinnlichkeit' abspricht [vgl. dazu Anm. 36/Kap. 3.4]. 22 yerstandeseinheit'' ist in solchem Zusammenhang nicht als ,bloßer Verstand' [d.i. leere Einheit kategorialen Denkens; objektiviert gedacht: .transzendentaler Gegenstand = X'] zu verstehen sondern als jeweilige Einheit des jeweiligen empirischen Gegenstandes (Phaenomenon) — bzw. der Erkenntnis des jeweiligen empirischen Gegenstandes —, also als Einheit von ,bloßer Sinnlichkeit' und ,bloßem Verstand'. yernunfteinheit" ist die - nie zu vollendende - systematische Einheit aller einzelnen Verstandeseinheiten (Verstandeserfe/iwiwme). Vgl. KrV A 664/B 692: „Der Verstand macht für die Vernunft ebenso einen Gegenstand aus, als die Sinnlichkeit für den Verstand. Die Einheit aller möglichen empirischen Verstandeshandlungen systematisch zu machen, ist ein Geschäfte der Vernunft, so wie der Verstand das Mannigfaltige der Erscheinungen durch Begriffe verknüpft und unter empirische Gesetze bringt." — Nochmals: So, wie die kategoriale Einheit des Verstandes [objektiviert gedacht als ,transzendentaler Gegenstand = X'] als Form dem (,materiellen') Mannigfaltigen, den Einheiten sinnlicher Anschauung — d.s. .Erscheinungen', bezogen auf die Ebene vom Verstand isolierter, bloßer Sinnlichkeit —, zur jeweiligen Einheit (der Erkenntnis bzw. Erfahrung) einer Erscheinung (Phaenomenon) verbunden zu denken ist, so ist in analogem Sinn Vernunft-Einheit als Form der einzelnen Verstandes-Erkenntnisse (»Mannigfaltiges') zu sehen. Wohlgemerkt: die Form nur der Verstandes-Erkenntnis, daher - im früher angedeuteten Sinn - regulativ, eine/tir empirisches Erkennen unendliche Aufgabe. — Zur gegenstandskonstitutiven Form der Verstandeseinheit vgl. KrV A 158/B 197: „... die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstande der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori". — Zu Vernunft- bzw. zu Verstandeseinheit vgl. auch KrV A 326f/B 382ff. 23 Zum Unterschied von größeren systematischen Zusammenhängen, wo theoretische Vernunft (sofern sie nicht .dialektisch' ist) im Kontrast zu .praktischer Vernunft' einfach ^Verstand' genannt wird - was dort systematisch sinnvoll und gerade nicht ungenau ist -, werden hier beide Begriffe in engem Sinn voneinander abgehoben (vgl. ,Schema der Vernunft', Kap. 2.1.1): ,Verstandl, das Vermögen kategorialer Einheit — und bezogen auf mehr oder weniger komplexe (Erkenntnis der) Gegenstände der Erfahrung —, von ,Vernunft\ dem Vermögen der Ideen, als Einheit im Sinne von Totalität [beispielsweise bezogen auf .die Welt1 als Ganzes, die uns nie selbst als empirischer (Erkenntnis-)Gegenstand gegenüber treten kann, weil wir, wie alle (möglichen) empirischen Objekte, immer schon in der Welt sind]. Würde nun diese Totalität (Vernunft-Einheit) als objektiv real (im Sinne konstitutiver Verstandes-Einheit) gesetzt, also nicht nur regulativ [d.i. unser £rfcen«/m.s-Streben auf die Suche nach bzw. auf die Gestaltung von systematischer Einheit hinleitend - für Kant ist schon dieses ,Streben* Ausdruck der ins Unendliche gerichteten Vernunft -], so würde sie unsere (.inneren') Grenzen der Erkenntnis überschreiten durch Konstitu-

3.4 Das Noumenon , in der Idee' ... als Grenz- und Formbegriff

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ten die transzendentalen Ideen „alles Erfahrungserkenntnis als bestimmt durch eine absolute T o t a l i t ä t der B e d i n g u n g e n " (KrV A 3277 B 384); ihre E i n h e i t besteht gewissermaßen24 im Begriff „von der T o t a l i t ä t der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten",25 und das heißt: im Begriff des U n b e d i n g t e n 2 6 selbst. — Dieses Unbedingte ist der t r a n s z e n d e n t a l e G e g e n s t a n d 2 7 der Idee(n). tion einer neuen Form von Erkenntnisgegenständen: Dies ist im Kantischen Begriflsrahmen unmöglich; verstrickt sich Vernunft dennoch in diese Unmöglichkeit, so ist sie Dialektisch', in sich widerstreitend, was im Falle der ,kosmologischen Ideen' an den .Antinomien' besonders deutlich sichtbar ist. Mit dieser engen Unterscheidung von Verstand [als Vermögen der Regeln (KrV A 126; KrV A 299/B 356)] und Vernunft [als Vermögen der Prinzipien (KrV A 299/B 356)] ist ein verschieden weit gefaßter Gebrauch des Ausdrucks ,Prinzip' verbunden; so ist im ,Schema der Vernunft' (Kap. 2.1.1) ,Vemunft (0)' als umfassendster Begriff dieses Schemas unter anderem als Vermögen apriorischer Prinzipien (in weitem Sinne) charakterisiert, und andererseits - zum Unterschied von .Verstand 2.2.1.2* - .Vernunft 2.2.1.1' als Vermögen der Prinzipien (im hier gebrauchten, engen Sinn). — Vgl. dazu KrV A 300ff/B 356ff: „Der Ausdruck eines Prinzips ist zweideutig ... ". 24 Nämlich im Sinne des „Schemas" dieser Einheit; dazu im folgenden. 25 KrV A 322/B 379. — Vgl. dazu KrV A 336f/B 394, wo Kant ausdrücklich betont, daß „die transzendentalen Ideen nur zum Aufsteigen in der Reihe der Bedingungen, bis zum Unbedingten" dienen, nicht aber „in Ansehung des Hinabgehens zum Bedingten"; denn „wenn wir uns von der absoluten Totalität einer solchen Synthesis (des progressus), eine Idee machen" würden: beispielsweise „von der ganzen Reihe aller künftigen Weltveränderungen, so ist dieses ein Gedankending (ens rationis), welches nur willkürlich gedacht ... wird. Denn zur Möglichkeit des Bedingten wird zwar die Totalität seiner Bedingungen, aber nicht seiner Folgen, vorausgesetzt". 26 Vgl. KrV A 326/B 382: „Nun geht der transzendentale Vernunftbegriff jederzeit nur auf die absolute Totalität in der Synthesis der Bedingungen, und endigt niemals, als bei dem schlechthin, d.i. in jeder Beziehung, Unbedingten" — KrV A 322/B 379: „Da nun das Unbedingte allein die Totalität der Bedingungen möglich macht, und umgekehrt die Totalität der Bedingungen jederzeit selbst unbedingt ist: so kann ein reiner Vernunftbegriff überhaupt durch den Begriff des Unbedingten, so fern er einen Grund der Synthesis des Bedingten enthält, erklärt werden." — Dieser Begriff des Unbedingten ist in sich gegliedert: Kant setzt - entsprechend der Unterscheidung der transzendentalen Ideen unter .psychologischem', .kosmologischem' und .theologischem' Aspekt (vgl. KrV A671/B 699) - fort (KrV A 323/B 379): „So viel Arten des Verhältnisses es nun gibt, die der Verstand vermittelst der Kategorien sich vorstellt, so vielerlei reine Vernunftbegriffe wird es auch geben, und es wird also erstlich ein Unbedingtes der kategorischen Synthesis in einem Subjekt, zweitens der hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe, drittens der disjunktiven Synthesis der Teile in einem System zu suchen sein." — In sich gegliedert ist der Begriff des Unbedingten deshalb, weil man - worauf auch Zitat KrV A 323/B 379 verweist - zuletzt „auch gewahr [wird]: daß unter den transzendentalen Ideen selbst ein gewisser Zusammenhang und Einheit hervorleuchte, und daß die reine Vernunft, vermittelst ihrer, alle ihre Erkenntnisse in ein System bringe" (KrV A 337/B 394).

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Auf Grund der bisherigen Darstellung des Begriffs des Dinges an sich ist die Bedeutung dieses Ideen-Objekts28 so zu sehen: Wird spekulative Vernunft29 als r e g u l a t i v e s , erkenntnisleitendes Vermögen verstanden, so entspricht ihr der ,transzendentale Gegenstand der Ideen' in vergleichbarer Weise (1) wie das ,Noumenon in negativer Bedeutung' der ,Verstandeseinheit' (Phaenomenon), als Grenzbegriff, u n d (2) wie der ,transzendentale Gegenstand = X' dem leeren kategorialen Verstand entspricht: als bloß f o r m a l e , gegenständlich vorgestellte Einheit seiner selbst. Durch die im „ S c h e m a der Idee" gegenständlich vorgestellte Einheit (der Idee) ihrer selbst erhält der Begriff des , N o u m e n o n in negativer Bedeutung' einen neuen Aspekt: nicht nur Grenz-Begriff [„leerer Raum"] zu sein, sondern — hier vor allem — Form-Begriff [systematische Einheit wissenschaftlicher (Natur-)Erkenntnis].3° 27

Vgl. KrV A 679/B 707 und KrV A 698/B 726; an anderer Stelle (KrV A 682/B 710) spricht Kant vom „transzendentalen Ding"; mitunter auch vom „Wesen" (z.B. KrV A 676/B 704) bzw. von „idealischen Wesen" (KrV A 674/B 702). — Vgl. auch KrV A 327/B 384: „Wenn man eine Idee nennt: so sagt man dem Objekt nach (als von einem Gegenstande des reinen Verstandes) sehr viel..." 28 Denn es geht hier um folgende ,Objekte' der Ideen, die Kant mitunter selbst .Idee', allerdings als „Schema der Idee" verstanden, nennt: (1) „ ... ich selbst, bloß als denkende Natur (Seele) betrachtet", als Substanz, als einfache, selbständige Intelligenz (KrV A 682/B 710); (2) „der »W/begriff überhaupt" (KrV A 684/B 712); (3) „der Vemunftbegriff von Gott" (KrVA 685/B 713). 29 D.i. das Vermögen der Vernunftbegriffe (-prinzipien, -ideen). 30 Dies wird anschließend näher ausgeführt und belegt werden. Hier ist vor allem wichtig, die beiden Bedeutungen der Einheit des Verstandes klar auseinanderzuhalten: (a) die leere Einheit des kategorialen Verstandes (,transzendentaler Gegenstand = X') und (b) die durch - nur sinnlich zu gebendes - Mannigfaltiges , erfüllte1 Einheit: .subjektiv' des jeweiligen empirischen Erkenntnisses bzw. .objektiv' des jeweiligen empirischen Gegenstandes (Phaenomenon). Auf .Verstandeseinheit' im Sinne von ,(b)' ist .Vernunft-Einheit' ausschließlich bezogen. Folgende Bemerkungen scheinen mir hier noch angebracht: Bezüglich der .apriorischen Objekte' der Formen der Verstandeskategorien werden - in KrV/A - zwei Ebenen unterschieden: (l) der von aller Sinnlichkeit isolierte Verstand; ihm entspricht der .transzendentale Gegenstand = X', und (2) der mit Sinnlichkeit vereinigte Verstand (.Verstandeseinheit' im Kontrast zu .Vemunfteinheit'); ihm entspricht der empirische Gegenstand (Phaenomenon) bzw. der Grenzbegriff des Noumenon in negativer Bedeutung: der Relativierungs- bzw. Eingrenzungs-Aspekt (bezogen auf Phaenomena). Hinsichtlich der jetzt betrachteten Vernunft-Einheit' wird nicht analog eine Ebene .von aller Verstandeseinheit isolierter Vernunfteinheit' von einer zweiten Ebene der .mit Verstandeseinheiten vereinigten Vemunfteinheit' unterschieden und das jeweilige .Objekt' dieser (Bezugs-)Ebenen bestimmt. Die hier betrachtete ,Vemunft-Einheit' ist schon als mit der .Verstandeseinheit' vereinigt gedacht, daher ist das ,Noumenon' (der ,leere Platz1) schon ,da' und muß nur weiter ,bewahrt' werden:

3.4 Das Noumenon , in der Idee' ... als Grenz- und Formbegriff

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Wird spekulative Vernunft jedoch d i a l e k t i s c h 3 1 mißverstanden (d.h. als Vermögen konstitutiver Prinzipien), dann erhalten die transzendentalen Objekte der Ideen den Charakter von ,Noumena in p o s i t i v e r Bedeutung'.318 „Es ist ein großer Unterschied", sagt Kant,32 „ob etwas meiner Vernunft als ein G e g e n s t a n d s c h l e c h t h i n , 3 3 oder nur als ein G e g e n s t a n d in der Idee 3 4 gegeben wird. In dem ersteren Falle gehen meine Begriffe dahin, den Gegenstand zu bestimmen;35 im zweiten ist es wirklich nur ein S c h e m a , dem direkt kein Gegenstand, auch nicht einmal hypothetisch zugegeben wird36 ... So sage ich, der Begriff einer höchsten Inteldie , gegenstandlich vorgestellte Einheit ihrer selbst' ist im Noumenon in negativer Bedeutung, jetzt nicht als Grenz- sondern als Form-Begriff verstanden, enthalten. 31 Vgl. z.B. Anm. 13/Kap. 3.4 bzw. das .Schemader Vernunft' (Kap. 2.1.1). 31a Vgl. dazu Anm. 56/Kap. 3.3. 32 KrV A 670/B 698. — Kant bringt diesen Unterschied im angegebenen Abschnitt wiederholt in immer anderer Formulierung. 33 D.h. als Gegenstand „an sich selbst"; — vgl. KrV A674/B 702: „ ... denn dieses Wesen wird nur in der Idee und nicht an sich selbst zum Grunde gelegt"; — KrV A 679/B 707: „ ... bloßes Etwas in der Idee, wovon wir, was es an sich sei, keinen Begriff haben"; — KrV A 681/B 709: „Dieses Vemunftwesen ... ist nun zwar eine bloße Idee, und wird also nicht schlechthin und an sich selbst als etwas Wirkliches angenommen, sondern nur problematisch ... ". 34 Kant nennt diesen „Gegenstand in der Idee" auch „ein uns unbekanntes Substratum der systematischen Einheit" (KrV A 697/B 725); vgl. auch KrV A 678/B 706. 35 In diesem Fall sind die Begriffe konsumtiv und haben daher - relativ auf ihr Objekt schlechthin objektive Bedeutung. Weil aber die Ideen bloß regulativen Gebrauch haben, sagt Kant z.B. in bezug auf die „Idee" eines „einigen weisen und allgewaltigen Welturheber [s]", die „nur nach der Analogie mit einer Intelligenz (ein empirischer Begriff) gedacht" (KrV A 697f/B 725f) ist: „Wollten wir ihr aber schlechthin objektive Gültigkeit erteilen, so würden wir vergessen, daß es lediglich ein Wesen in der Idee sei, das wir denken ..." (KrV A 698/B 726). 36 Kant verwendet „Schema" in verschiedener Beziehung. Vor allem für die Frage der Vermittlung von Sinnlichkeit und Verstand, aber auch im Rahmen der praktischen Philosophie, wo es um die Frage geht, wie wir uns Prinzipien der reinen praktischen Vernunft denken können [das Naturgesetz fungiert hier als .Schema' des Moralgesetzes: Wird hier .Schema' nicht beachtet und einfach .Identität' verstanden, so entspringt die immer heteronome Diktatur; und zwar im Namen der Freiheit (vgl. auch Kap. 5)]. Im Zusammenhang mit der Frage, wie Kategorien auf Sinnlich-Mannigfaltiges „überhaupt angewandt werden können" (KrV A 138/B 177) nennt Kant die „Vorstellung ... von einem allgemeinen Verfahren ... einem Begriff sein Bild zu verschaffen ... das Schema zu diesem Begriffe" (KrV A 140/B 179f). In Analogie dazu führt Kant den Begriff, Schema' für das ,Objekt der Idee' ein: als etwas Gestalthaft-Gegenständliches, als das sich die gedachte (d.i. als Objekt sich selbst vor-gestellte) Vemunfteinheit sich selbst präsentiert (ohne konstitutiv-objektive Bedeutung).

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

ligenz ist eine bloße Idee, d.i. seine objektive Realität soll nicht darin bestehen, daß er sich geradezu auf einen Gegenstand bezieht (denn in solcher Bedeutung37 würden wir seine objektive Gültigkeit nicht rechtfertigen können), sondern er ist nur ein nach Bedingungen der größten Vern u n f t e i n h e i t geordnetes S c h e m a , von dem Begriffe eines Dinges überhaupt, welches nur dazu dient, um die größte systematische Einheit im empirischen Gebrauche unserer Vernunft zu erhalten, indem man den Gegenstand der Erfahrung gleichsam von dem e i n g e b i l d e t e n Geg e n s t a n d e dieser Idee, als seinem Grund, oder Ursache, ableitet."38 Da ihre systematische Einheit „Totalität" bedeutet, kommt die „Idee des Maximum" zum Vorschein. — Vgl. KrV A 665/B 693: „Allein, obgleich für die durchgängige systematische Einheit aller Verstandesbegriffe kein Schema in der Anschauung ausfündig gemacht werden kann, so kann und muß doch ein Analogon eines solchen Schema gegeben werden, welches die Idee des Maximum ... der Verstandeserkenntnis in einem Prinzip ist." - Wenn Kant einen Satz weiter fortsetzt: „Also ist die Idee der Vernunft ein Analogon von einem Schema der Sinnlichkeit...", so ist hier „Idee der Vernunft" als „Objekt der Idee der Vernunft" zu lesen [Der „Gegenstand der Idee" wird explizit von Kant erst einige Seiten weiter eingeführt]. — Vgl. dazu beispielsweise KrV A 673 f/B 701 f: „... Gedankenwesen ... Also sollen sie an sich selbst nicht angenommen werden, sondern nur ihre Realität, als eines Schema des regulativen Prinzips der systematischen Einheit aller Naturerkenntnis, gelten, mithin sollen sie nur als Analoga von wirklichen Dingen, aber nicht als solche an sich selbst zum Grunde gelegt werden"; — KrV A 681 f/B 709 f: „Man verkennet sogleich die Bedeutung dieser Idee, wenn man sie für die Behauptung, oder auch nur Voraussetzung einer wirklichen Sache hält, welcher man den Grund der systematischen Weltverfassung zuzuschreiben gedächte ... mit einem Worte: dieses transzendentale Ding ist bloß das Schema jenes regulativen Prinzips, wodurch die Vernunft, so viel an ihr ist, systematische Einheit über alle Erfahrung verbreitet"; — KrV A 699/B 727: „ ... die Idee einer höchsten Intelligenz als ein Schema des regulativen Prinzips ..."; — KrV A 684/B 712: „ ... welches alles durch ein solches Schema, als ob es ein wirkliches Wesen wäre, am besten, ja sogar einzig und allein, bewirkt wird"; — weitere Formulierungen mit ,als ob': KrV A 684ff/B 712ff; A700/B728; A672f/B700f. Zu ,Schema' vgl. auch KrV A 833/B 861: „Die Idee bedarf zur Ausführung ein Schema, d.i. eine a priori aus dem Prinzip des Zwecks bestimmte wesentliche Mannigfaltigkeit und Ordnung der Teile." 37 Eine solche Bedeutung würde der genannte Begriff im dialektischen Vemunftgebrauch haben. 38 Diese Formulierung ist korrekturbedürftig. — Dies gilt auch von KrV A 695/B 723: „Eben dieselbe Idee ist also für uns gesetzgebend, und so ist es sehr natürlich, eine ihr korrespondierende gesetzgebende Vernunft (intellectus archetypus) anzunehmen, von der alle systematische Einheit der Natur, als dem Gegenstande unserer Vernunft, abzuleiten sei." — Denn von einem solchen transzendentalen Gegenstande der Idee können genau genommen gar keine empirischen Gegenstände abgeleitet werden (Kant sagt auch an dieser Stelle: „gleichsam"). Dieser Gegenstand in der Idee (insofern: „««-gebildet") dient vielmehr - als „Idee einer höchstweisen Ursache" - als „Regel

3.4 Das Noumenon , in der Idee' ... als Grenz- und Formbegriff

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Da hier - aber auch im Hinblick auf p r a k t i s c h e Philosophie - die F r a g e der N o u m e n a besonders interessiert, werde ich im folgenden die Identifizierung39 von „Gegenstand schlechthin" (bzw. „an sich") mit „Noumenon in positiver Bedeutung" und von „Gegenstand in der I d e e " mit „Noumenon in negativer Bedeutung" etwas näher ausführen. In KrV A 676/B 704 stellt Kant einen „Unterschied der Denkungsart" fest, und zwar „bei einer und derselben Voraussetzung, der ziemlich subtil, aber gleichwohl in der Transzendentalphilosophie von großer Wichtigkeit ist. Ich kann genügsamen Grund haben, e t w a s r e l a t i v a n z u n e h m e n (suppositio relativa), o h n e doch befugt zu sein, es s c h l e c h t h i n anzunehmen (suppositio absoluta)."40 Kant setzt fort: „Diese Unterscheidung trifft zu, wenn es b l o ß um ein r e g u l a t i v e s P r i n z i p zu tun ist, wovon wir zwar die Notwendigkeit an sich selbst, aber nicht den Quell derselben erkennen, und dazu wir einen obersten Grund bloß in der Absicht annehmen, um desto bestimmter die A l l g e m e i n h e i t des Prinzips zu d e n k e n ...". — Schon vorher (KrV A 674/B 702) ist zu lesen: „Wir heben von dem Gegenstande der Idee die Bedingungen41 auf, welche unseren Verstandesbegriff einschränken, die aber es auch allein möglich machen, daß wir von irgend einem Dinge einen bestimmten Begriff haben können. Und nun denken wir uns ein E t w a s, wovon wir, was es an sich ... nach welcher die Vernunft bei der Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen in der Welt zu ihrer eigenen Befriedigung am besten zu brauchen sei" (KrV A 6737 B 701); — vgl. auch knapp vorher: „ ... das heißt: nicht von einer einfachen denkenden Substanz die innem Erscheinungen der Seele, sondern nach der Idee eines einfachen Wesens jene von einander ableiten ... ". — Vgl. auch KrV A 701/B 729: „Es ist aber, unter dieser Vorstellung, der zum Grunde gelegten Idee eines höchsten Urhebers, auch klar: daß ich nicht das Dasein und die Kenntnis eines solchen Wesens, sondern nur die Idee desselben zum Grunde lege, und also eigentlich nichts von diesem Wesen, sondern bloß von der Idee desselben, d.i. von der Natur der Dinge der Welt, nach einer solchen Idee, ableite" [Zum Schluß dieses Zitates vgl. KrV A 699/ B 727: „ ... es muß euch ... völlig einerlei sein, zu sagen: Gott hat es weislich so gewollt, oder die Natur hat es also weislich geordnet"]. 39 Dem hier gebrauchten Ausdruck ,Identifizierung' widerspricht nicht, daß die Aspekte des Noumenon in negativer Bedeutung verschieden sind, je nachdem, ob es als GrenzBegriffder Sinnenwelt oder als Schema (,Form') der Vernunfteinheit betrachtet wird (vgl. dazu weiter unten). 40 Zum Gebrauch des Wortes .absolut' vgl. KrV A 324ff/B 381ff. — „In dieser ... Bedeutung werde ich mich denn des Worts: absolut bedienen, und es dem bloß komparativ oder in besonderer Rücksicht [also ,relativ'; G.R.] Gültigen entgegensetzen; denn dieses letztere ist auf Bedingungen restringiert, jenes gilt ohne Restriktion" (KrV A 326/B 382). 41 D.s. die Bedingungen der Sinnlichkeit.

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

selbst sei, gar keinen Begriff haben, aber wovon wir uns doch ein V e r h ä l t n i s zudem I n b e g r i f f e der Erscheinungen d e n k e n , das demjenigen analogisch ist, welches die Erscheinungen unter einander haben." Die Unterscheidung von ,etwas relativ annehmen' und ,etwas schlechthin annehmen' entspricht der früher getroffenen zwischen dem Objekt einer Idee „in der I d e e " bzw. dem Objekt einer Idee „an s i c h selbst".42 Wie ist nun diese „ R e l a t i v i t ä t " zu verstehen? Das Ende von Zitat KrV A 674/B 702 sagt: „... demjenigen analogisch ... welches die Erscheinungen unter einander haben". Wenn auch diese Stelle sehr stark an Formulierungen erinnert, die sich - an anderem Ort43 - explizit auf Noumena beziehen,44 so ist sie doch - isoliert betrachtet - nicht befriedigend:45 weder bezüglich des Noumenon als Grenz-Begriff noch hinsichtlich der Bestimmung von , Relativität' als „restringiert"48 auf Bedingungen, denn „ein Verhältnis ... demjenigen analogisch ... welches die Erscheinungen unter einander haben" läßt - was Noumena betrifft - in Richtung der abgelehnten, ,positiven' Grenzpfahle denken;49 und entsprechend ist es beim Relativitätsbegriff: als seien hier - wenn auch nur ,analogisch' in gleicher Weise - existierende Dinge in Relation zueinander gesetzt. Das Noumenon als Grenz-Begriff steht eben nicht für sozusagen ,materielle', ,äußerliche' bzw. ,positive' Eingrenzung der Sinnen-Welt: 42

Vgl. KrV A 679/B 707: „Werfen wir unseren Blick nun auf den transzendentalen Gegenstand unserer Idee, so sehen wir, daß wir seine Wirklichkeit nach den Begriffen von Realität, Substanz, Kausalität etc. an sich selbst nicht voraussetzen können, weil diese Begriffe auf etwas, das von der Sinnenwelt ganz unterschieden ist, nicht die mindeste Anwendung haben. Also ist die Supposition der Vernunft von einem höchsten Wesen, als oberster Ursache, bloß relativ, zum Behuf der systematischen Einheit der Sinnenwelt gedacht, und ein bloßes Etwas in der Idee, wovon wir, was es an sich sei, keinen Begriff haben." 43 Vgl. Belegstellen in Kap. 3.3. 44 Vgl.: „Etwas, wovon wir, was es an sich selbst sei, gar keinen Begriff haben", das aber in einem „Verhältnis zu dem Inbegriffe der Erscheinungen " zu denken ist [KrV A 674/B 702; zitiert im Text von Kap. 3.4 (siehe Fußnotenreferenz 41)]. 45 Wenig später (KrV A 674 f/B 702 f) allerdings sagt Kant von diesem „Etwas", das er jetzt „wirkliches Wesen" nennt (vgl. dazu Anm. 27/Kap. 3.4) genauer: „... denn dieses Wesen wird nur in der Idee ... zum Grunde gelegt, mithin nur, um systematische Einheit auszudrücken [angenommen]". 46 und 47 fehlen. 48 Vgl. KrV A 326/B 382 (zitiert in Anm. 40/Kap. 3.4). 49 Daß also nicht vom .leeren Raum' Jenseits' der inneren (,tautologischen') Grenze der Sinnen-Welt zu reden wäre, sondern von Dingen, die , außen' eine .positive' Eingrenzung der Sinnenwelt bewirken: eben von Noumena in positiver Bedeutung.

3.4 Das Noumenon ,in der Idee' ... als Grenz- und Formbegriff

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Dieser Begriff d r ü c k t b l o ß die ,innere Grenze' der Sinnenwelt selbst a u s . 5 0 Ähnlich die hier gefragte »Relativität': Ihr Begriff ist genau genommen nicht auf Verhältnisse zwischen — in welcher Weise immer — ,positiv' Existierendem bezogen, sondern51 auf einen jeweils zu bestimmenden Vernunftgebrauch.52 In diesem Sinne findet das, was eben nur ,relativ anzunehmen' ist, seine Berechtigung53 bzw. Notwendigkeit54 in der Relativität auf den entspre50

Und insofern die innere Grenze unseres gesamten Erkenntnisvermögens bzw. des — auf Erkenntnis ausgerichteten — Gebrauchs der theoretischen Vernunft [in weitem Sinn; unter Einschluß der konstitutiven apriorischen Strukturen von Sinnlichkeit und Verstand; vgl. Kap. 2.1.1 ]. — Nur so hat die Rede vom „ leeren Raum " Sinn [vgl. das Ende von Kap. 3.3 bzw. die jetzt folgende Erörterung des Verhältnisses von „Noumenon (in negativer Bedeutung)" und der „Vernunfteinheit als Schema"]. 51 Vgl. die vorhergehende Anmerkung. 52 Besser gesagt: Sie drückt den jeweiligen — im großen gesehen: theoretischen oder praktischen — Vernunftgebrauch aus, auf den hin (also: ,relativ') die Annahme von Objekten (,Wesen') möglich bzw. notwendig (also ,berechtigt') ist, und durch den ihre - relative - Gültigkeit genau deshalb auch ,restringiert' ist. — Dies im gegebenen Zusammenhang einzusehen ist besonders wichtig, weil der in der Kritik der praktischen Vernunft standig zu findende Hinweis „nur für den praktischen Vernunftgebrauch" weithin nicht emst genommen, sondern lieber als lahme ,Immunisierung' oder auch als terminologischer Tic mißdeutet wird [Die Folgen können dann nur absurd sein]. — Vgl. KrV A 684/B 712: „Denn Natur ist eigentlich ... das einzige gegebene Objekt, in Ansehung dessen die Vernunft regulative Prinzipien bedarf"; — KrV A 674f/B 702 f: „Denn, daß wir ein der Idee korrespondierendes Ding, ein Etwas, oder wirkliches Wesen setzen, dadurch ist nicht gesagt, wir wollten unsere Erkenntnis der Dinge mit transzendenten Begriffen erweitem; denn dieses Wesen wird nur in der Idee und nicht an sich selbst zum Grunde gelegt, mithin nur, um die systematische Einheit auszudrücken, die uns zur Richtschnur [Vemunftgebrauch!; G.R.] ... dienen soll, ohne doch etwas darüber auszumachen, was der Grund dieser Einheit... sei ... "; — vgl. auch KrV A 679/B 707 (zitiert in Anm. 42/Kap. 3.4). 53 D.i. die transzendentale Möglichkeit. — Vgl. KrVA616/B 704: „Ich kann genügsamen Grund haben, etwas relativ anzunehmen ... ohne doch befugt zu sein, es schlechthin anzunehmen"; — KrV A 678f/B 706f: „Denn ich verlange keineswegs, und bin auch nicht befugt, es zu verlangen, diesen Gegenstand meiner Idee, nach dem, was er an sich sein mag, zu erkennen ... Ich denke mir nur die Relation eines mir an sich ganz unbekannten Wesens zur größten systematischen Einheit des Weltganzen, lediglich um es zum Schema des regulativen Prinzips des größtmöglichen empirischen Gebrauchs meiner Vernunft zu machen". 54 Der hier zu betrachtende regulative Vernunftgebrauch ist ^subjektiv1 mit einem ,objektiven' Moment (vgl. dazu weiter unten). — KrV A 648/B 676: „ ... systematischen Einheit... ob man diese a priori ... in gewisser Maße postulieren ... könne"; — KrV A 651/B 679: „Denn das Gesetz der Vernunft, sie [die Einheit der Natur; G.R.] zu suchen, ist notwendig"; — KrV A 650/B 678: „ ... daß diese Idee, einer Grundkraft überhaupt,... objektive Realität vorgebe, dadurch die systematische Einheit... postu-

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

chenden Vernunftgebrauch,55 der es zugleich auf diesen Gebrauch einschränkt („restringiert").56 Gerade durch die eben genannte , Subjektivität' erscheint die Identifizierung von: ,Noumenon' und: transzendentaler Gegenstand der Idee' als Problem, beispielsweise diejenige von: ,Noumenon in negativer Bedeutung' und: transzendentaler Gegenstand in der Idee'. 5 7 Durch diese a s y m m e t r i s c h e Fragwürdigkeit ist das an früherer Stelle58 betrachtete Problem betroffen, wieweit der Ausdruck ,Noumenon' bezüglich einer , positiven' bzw. ,negativen' Bedeutung als bloße Äquivokation oder doch als E i n - wenn auch verschiedene Aspekte zeigender - Begriff zu betrachten lieret ... wird"; — Ä>FA645/B 673: „Diese laee postuliert ... vollständige Einheit der Verstandeserkenntnis, wodurch diese nicht bloß ein zufälliges Aggregat, sondern ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhangendes System wird"; — KrV A 693/ B 721: „Das regulative Prinzip verlangt, die systematische Einheit als Natureinheit... vorauszusetzen". — Man denke hier auch an Kants Religions-PAiVo.yop/»e, die ausschließlich auf,subjektiver* Notwendigkeit der Vernunft - im Unterschied zum objektiv-notwendigen Moralprinzip - beruht. 55 Vgl. die Fortsetzung von KrV A 676/B 704 [vgl. oben: Text von Kap. 3.4 (vor und nach Fußnotenreferenz 40)]: „Diese Unterscheidung trifft zu, wenn es bloß um ein regulatives Prinzip zu tun ist", von dem die Notwendigkeit eingesehen werden kann: Es ist subjektive Notwendigkeit der spekulativen Vernunft (weshalb das regulative Prinzip nur ,subjektive' Gültigkeit besitzt). 56 Vgl. z.B. KrV A 694/B 722. Hier geht es um die - wie wir aus KrV A 676/B 704 wissen: relative - Annahme der „Idee eines Urhebers": „ ... so bleibt die Idee immer richtig, und eben sowohl auch deren Gebrauch, wenn er auf die Bedingungen eines bloß regulativen Prinzips restringiert worden." Wiederum ist darauf hinzuweisen, daß die hier dargestellten methodologischen Bedingungen der Relativität auf theoretischen (als spekulativ-regulativen) Vernunftgebrauch in analoger Weise für die Relativität von Annahmen auf den »praktischen Vernunftgebrauch' gelten. Die Unterschiede in der Struktur (bzw. im Status) dieser Annahmen - die ja noumenale, transzendentale Objekte bedeuten - sind in der verschiedenen Ausrichtung des Gebrauchs theoretischer und praktischer Vernunft begründet. 57 Und nur in dieser Beziehung bestand von Anfang an die Frage. Denn die Identität des .Noumenon in positiver Bedeutung' und des »Objekts der Idee an sich' ist - zumindest relativ auf das Interesse dieser Schrift - kein Problem [Beides wird als „Etwas" gedacht, von dem wir nicht wissen können, „was es an sich sein mag", und hinsichtlich dessen - man denke an die oftmaligen Erwähnungen eines „problematischen anschauenden Verstandes" bzw. einer „intellektuellen Anschauung" - weder ,unser' kategorialer Verstand noch spekulative Vernunft einen adäquaten Begriff bilden, genau genommen gar keinen Begriff haben können]. Deshalb ist auch im gegebenen Zusammenhang die Frage nach der Identität von , anschauendem Verstand' und „gesetzgebende[r] Vernunft (intellectus archetypus)" (KrV A 695/B 723; vgl. auch KrV A 678/B 706) nicht weiter zu verfolgen. 58 Vgl. Kap. 3.3.

3.4 Das Noumenon , in der Idee' ... als Grenz- und Formbegriff

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sei.59 Denn die hier vorliegende Frage — hervorgerufen durch die offensichtliche S u b j e k t i v i t ä t des ,Objekts in der Idee' 6 0 im Vergleich zum ,Noumenon als Grenzbegriff' und gegründet in der früher ausgesprochenen Identifizierung dieser Begriffe — scheint die Gegensätzlichkeit beider , Aspekte' von ,Noumenon' in Richtung Äquivokation zu verstärken oder die in gewissem Sinn61 erfolgte Gleichsetzung von „Noumenon in negativer Bedeutung" und „Schema der Idee" wieder aufzulösen. 59

Es wurde dort (in Kap. 3.3) versucht, diese Auffassung (d.i.: Ein Begriff) zu begründen; auch im Zusammenhang mit der Klärung des Ausdrucks , transzendentaler Gegenstand =X'. 60 Bzw. des Schemas der regulativen Vernunfteinheit. 61 Weil, wie schon früher daraufhingewiesen wurde, .Noumenon als Grenzbegriff' und , Schema der Idee' zwar dasselbe ,Wesen' betreffen, aber in verschiedener Hinsicht. In einer, der Anm. 56/Kap. 3.3 entsprechenden, aber leicht mißzuverstehenden Weise — weil hier der .ontologisch' verschiedene Status des von diesen Be&iffs-Aspekten Gemeinten keinen Ausdruck findet — könnte man so sagen: 1: Noumenon; 1.1: Noumenon in positiver Bedeutung; 1.2: Noumenon in negativer Bedeutung; 1.2.1: Noumenon als Gn?«z-Begriff; 1.2.2: Noumenon als Schema (Form); — wobei ,1: Noumenon' als ,Verstandeswesen' eines .problematischen, anschauenden Verstandes' aufzufassen ist. Die .Lösung' kann aber nun nicht in der Betonung von .problematisch' liegen: daß dies alles Begriffsspielerei sei; denn Kant stellt - seiner Gedankenwelt gemäß und zu Recht - wiederholt fest, daß solche Begriffe nicht willkürlich erdichtet seien. In diesem Zusammenhang ist auch zu verstehen, warum Kant so großen Wert darauf legt, daß regulativer Vemunftgebrauch (und damit ,1.2.2: Noumenon als Schema') nicht in jeder Hinsicht subjektiv ist. Hier ist etwas von dem inneren Zusammenhang aller dieser Aspekte des ,1: Noumenon', einschließlich von ,1.1: Noumenon in positiver Bedeutung', zu spüren. Die ^Objektivität'' subjektiver, regulativer Prinzipien ist nämlich letzten Endes nicht denkbar ohne etwas, „wovon wir, was es an sich sein mag", keinen Begriff haben. Denn würde dieses „Etwas" ,för unsi gänzlich eliminiert — d.h. nicht offen gelassen, „was es an sich sein mag"; auch wenn diese Offenheit die Möglichkeit einschließt, daß es ,an sich' nichts ist —, so bliebe von dieser .Objektivität', die zugleich die Objektivität der subjektiv-apriorischen Ideologischen Urteilskraft ist, nichts übrig. Gerade diese Objektivität betonen aber die folgenden Zitate [Ich habe schon an anderer Stelle daraufhingewiesen, daß mir hier ein tiefsitzendes .Loch' des Kantischen Begriffszusammenhanges unter den - keinen Anlaß zu Kritik gebenden terminologischen Bestimmungen verborgen zu sein scheint]. Vgl. z.B. KrV A 693/B 721: „Das regulative Prinzip verlangt, die systematische Einheit als Natureinheit, welche nicht bloß empirisch erkannt, sondern a priori, obzwar noch unbestimmt, vorausgesetzt wird, schlechterdings, mithin als aus dem Wesen der Dinge folgend, vorauszusetzen"; — KrV A 696 f/B 724 f: „ ... Gegenstand in der Idee ... so fern er ein uns unbekanntes Substratum der systematischen Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung ist, welche sich die Vernunft zum regulativen Prinzip ihrer Naturforschung machen muß"; — KrV A 651/B 679: „... zurei-

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Die — in einigen Fußnoten vorbereitete — Antwort ist folgende: Der Begriff des Noumenon ist grundsätzlich als ein — in sich gegliederter — Begriff aufzufassen, wobei der , Aspekt': ,Noumenon in negativer Bedeutung' nochmals in zweierlei Hinsicht zu sehen ist; einmal mit Schwergewicht: Grenz-Begriff, das andere Mal primär ausgerichtet auf die F o r m systematischer Einheit ( T o t a l i t ä t ) . In beiden Fällen jedoch ist die — theoretischem Vernunftgebrauch entsprechende — R e l a t i v i t ä t gleich: ,Grenzbegriff' wie »Totalität* haben nur Bedeutung hinsichtlich des , I n b e g r i ff s' 62 aller Phaenomena (Sinnen- W e l t ) ; beide63 sind also Ausdruck desselben (nämlich ,theoretischen') Vemunftgebrauchs,64 aber in verschiedener Ausrichtung: Dient der „Grenz-Begriff" vor allem dazu, „Anmaßungen der Sinnlichkeit"65 abzuwehren und insofern „ l e e r e n Raum" 6 6 zu s c h a f f e n , so besteht die Funktion des „transzendentalen chendes Merkmal empirischer Wahrheit... und wir also in Ansehung des letzteren die systematische Einheit der Natur durchaus als objektiv gültig und notwendig voraussetzen müssen"; — KrV A 648/B 676: „Ob aber die Beschaffenheit der Gegenstände, oder die Natur des Verstandes, der sie als solche erkennt, an sich zur systematischen Einheit bestimmt sei, und ob man diese a priori ... in gewisser Maße postulieren ... könne: ... das würde ein transzendentaler Grundsatz der Vernunft sein, welche die systematische Einheit nicht bloß subjektiv- und logisch-, als Methode, sondern objektivnotwendig machen würde" [Das ,an sich' ist hier - wie in häufiger Weise in der Kritik der Urteilskraft- als empirisches An-sich zu verstehen (vgl. auch den Text in Kap. 3, vor Fußnotenreferenz 3)]. Man kann Stellen wie diese auch als Absage Kants an den Konventionalismus in der (wissenschaftlichen) Weltauffassung lesen und im Hinblick auf die Frage: Konventionalismus oder Realismus? akzeptieren, daß auch Kant bezüglich der Objektivität unseres - zwar in verschiedenem Maße, aber als FeraM«/i(i.w.S.)-Vermögen grundsätzlich - , subjektiven' Erkenntnisvermögens eine gewisse Unsicherheit zeigt (vgl. das früher genannte ,Loch'). 62 Ich habe in einer früheren Anmerkung , Inbegriff' in die Nähe von ,Totalität' gerückt. Ich weiß nicht, ob in der Kantischen Terminologie beide Begriffe dasselbe bedeuten. Vermutlich nicht; — dann wäre .Inbegriff' eher - ,eher' deshalb, weil andererseits auch .Inbegriff' auf ,Welt' bezogen ist - auf die Verstandesebene zu beziehen als Summe (, Aggregat') aller einzelnen möglichen empirischen Erkenntnisse (bzw. ihrer Gegenstände), , jedoch auf die .regulative' systematische Einheit dieser Erkenntnisse und irgendwie' (vgl. Zitat Ä>FA693/B721 in Anm. 61/Kap. 3.4) auf die ihr entsprechende (Sinnen-)PFe/r. 63 Noumenon in negativer Bedeutung (l) als Gmiz-Begriff bzw. (2) als transzendentales Objekt der regulativen Idee [oder: Objekt in der Idee; Schema systematischer Einheit der Idee (bzw. der Vernunft bzw. des Vemunftprinzips)]. 64 Das entspricht der Relativität auf .Sinnenwelt' (Vgl. Anm. 50/Kap. 3.4). 65 Als Einheit von .bloßer Sinnlichkeit' und .bloßem Verstand'. 66 Er ist, wie schon betont, hinsichtlich der Möglichkeit, Realität der Moral(ität) widerspruchslos denken zu können, von großer Bedeutung [wobei - auch dies kann wahrscheinlich nicht oft genug festgestellt werden - aus dieser (Denk-)Möglichkeit keine

3.4 Das Noumenon , in der Idee'... als Grenz- und Formbegriff

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Objekts" der regulativen Idee vor allem in der A u s r i c h t u n g des Verstandes67 auf die „nur gleichsam asymptotisch" (KrV A 663/B 691) zu erreichende systematische Einheit unserer Natur-Erkenntnis und trägt so dazu bei, diesen — für theoretisches Erkennen prinzipiell — „ l e e r e n R a u m " zu b e w a h r e n . Am Ende der Transzendentalen Dialektik schreibt Kant (KrV A 702/ B 730): „So fängt denn alle menschliche Erkenntnis mit Anschauungen an, geht von da zu Begriffen, und endigt mit Ideen. Ob sie zwar in Ansehung aller dreien Elemente Erkenntnisquellen a priori hat, die beim ersten Anblicke die Grenzen aller Erfahrung zu verschmähen scheinen, so überzeugt doch eine vollendete Kritik, daß alle Vernunft im spekulativen Gebrauche mit diesen Elementen niemals über das Feld möglicher Erfahrung hinaus kommen könne, und daß die eigentliche Bestimmung dieses obersten Erkennt,reale' Möglichkeit, und schon gar nicht die .assertorische' Behauptung der Realität der moralischen Sphäre, gefolgert werden kann]. 67 Vgl. KrV A323/B 380: „Daher sind die reinen Vemunftbegriffe von der Totalitat in der Synthesis der Bedingungen wenigstens a/5 Aufgaben ... notwendig ... es mag auch ... keinen ändern Nutzen haben, als den Verstand in die Richtung zu bringen, darin sein Gebrauch ... mit sich selbst durchgehends einstimmig gemacht wird." In der Vorrede zur Kritik der Urteilskraft werden in bezug auf die Ideen beide Aspekte - Begrenzung und Ausrichtung des Verstandes - gleichrangig dargestellt. — Wenn hinsichtlich der Begrenzungsfünktion hier von den „Anmaßungen des Verstandes" anstelle jener der „Sinnlichkeit" - als Einheit von bloßer Sinnlichkeit und bloßem Verstand (Einheit des Phaenomenon) verstanden - gesprochen wird, so wird damit lediglich die ,Verstandeseinheit' der empirischen (Erkenntnis der) Gegenstände angesprochen und implizit der Eindruck verstärkt, daß „Noumenon" eigentlich ein Begriff relativ auf Vernunft-Einheit und nicht auf bloße Verstandes-Einheit - der jeweils einzelnen empirischen Erkenntnis bzw. deren Gegenstände - ist: Denn Sinnen-Welt (ich habe öfter daraufhingewiesen) ist der Bezug des Noumenon. Wenn also Kant an anderen Stellen schreibt, der Verstand schränke die Sinnenwelt ein, indem er Noumena denke, so wird hier — der Unterscheidung von Vernunft und Verstand, und zugleich besonders deutlich dem Verständnis des Begriffs des Noumenon in negativer Bedeutung entsprechend — regulative Vernunft als , einschränkendes' Vermögen bezeichnet: „ ... Ideen, die für unser theoretisches Erkenntnißvermögen überschwenglich, dabei aber doch nicht etwa unnütz oder entbehrlich sind, sondern als regulative Principien dienen: theils die besorglichen Anmaßungen des Verstandes, als ob er (indem er a priori die Bedingungen der Möglichkeit aller Dinge, die er erkennen kann, anzugeben vermag) dadurch auch die Möglichkeit aller Dinge überhaupt in diesen Grunzen beschlossen habe, zurück zu halten, theils um ihn selbst in der Betrachtung der Natur nach einem Princip der Vollständigkeit, wiewohl er sie nie erreichen kann, zu leiten und dadurch die Endabsicht alles Erkenntnisses zu befördern" (KU V/l 67f).

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

nisvermögens sei, sich aller Methoden und der Grundsätze derselben nur zu bedienen, um der Natur nach allen möglichen Prinzipien der Einheit, worunter die der Zwecke die vornehmste ist, bis in ihr Innerstes nachzugehen, niemals aber ihre Grenze zu überfliegen, außerhalb welcher für uns 6 8 n i c h t s als l e e r e r R a u m ist."

3.5 Das Noumenon als Subjekt oder: Der Begriff des Dinges an sich bezogen auf den reinen praktischen Vernunftgebrauch (^Praktische Erkenntnis'') Die bisherige Betrachtung sah das ,Ding an sich' durchwegs1 als O b j e k t . Dies entspricht grundsätzlich ,theoretischer (Vemunft-)Haltung' bzw. dem ,theoretischen Gebrauch der Vernunft'. Praktische Vernunft — bzw. genauer: der praktische Gebrauch der Vernunft2 — aber betrifft das S u b j e k t . 3 68

Von Kant hervorgehoben. — Wer nun meint, dieser „für uns" - d.i. für unsere (theoretische) Erkenntnismöglichkeit - prinzipiell „leere Raum" werde anschließend durch .uns' - nun aber als Subjekte praktischer Vernunft - sozusagen »eingerichtet', und zwar in der Weise theoretischer Vernunft [weil vielleicht vom ^praktischen Vemunftgebrauch' nur als Wort Kenntnis genommen wurde], der drückt durch diesen Irrtum zugleich aus, daß er weite Bereiche der terminologischen Bemühungen Kants nicht ernst genommen hat. Die ,Metaphysik der praktischen Vernunft'' ist aber adäquat zu würdigen nur auf dem philosophischen Niveau der Kantischen Philosophie, weder ,darüber' [im Primat spekulativer Vernunft] noch .darunter' [im Primat des Verstandes, wo die prinzipielle Unfähigkeit besteht, das Subjekt denken zu können (vgl. dazu Anm. 4/Kap. 3.4)]. 1 Abgesehen von der Ebene bloßer Sinnlichkeit, wo ,für die Sinnlichkeit' bzw. relativ auf die Sinnlichkeit selbst gar kein ,Ding an sich' zu finden war. Der Begriff,bloße Materie' (bzw. die Kantische .transzendentale Materie'; vgl. Kap. 3.1.1) war ja als eine Art Denknotwendigkeit ,für den Verstand' dargestellt worden um ,Rezeptivität', das Merkmal aller Sinnlichkeit, (nicht nur als Wort) zum Denk-Objekt haben bzw. überhaupt (und das heißt: gegenständlich) denken zu können. — Auf der Ebene spekulativer Vernunft trat dann das analoge Problem auf, die systematische Einheit der Erkenntnis denken zu können; eben auch: sie zum Denk-Gegenstand haben zu können. So wurde das - notwendig gegenständlich gedachte - Schema der Ideeneinheit (kurz, und damit ungenau: die jeweilige ,Idee': .Seele', ,Welt', ,Gott') vorgestellt. 2 Wie schon mehrfach angemerkt kennt Kant nur eine Vernunft - sozusagen als .Totalität' bzw. als .systematische Einheit' aller ihrer Prinzipien; deshalb auch: .Architektonik' -, von der wir allerdings verschiedenen Gebrauch machen. In der Hauptsache ist es der - in sich wieder zu differenzierende (vgl.: .konstitutiv'-,regulativ') - theoretische Gebrauch und der praktische Gebrauch. — Vgl. z.B. KpVV/50: „II. Von der

3.5 DasNoumenon als Subjekt (,Praktische Erkenntnis')

131

„Daß in der Ordnung der Zwecke4 der M e n s c h (mit ihm jedes vernünftige Wesen) Zweck an sich selbst sei, d.i. niemals blos als Mittel von jemanden (selbst nicht von Gott), ohne zugleich hiebei selbst Zweck zu sein,5 könne gebraucht werden, daß also die M e n s c h h e i t in u n s e rer P e r s o n 6 uns selbst heilig7 sein müsse, folgt nunmehr von selbst, Befugniß der reinen Vernunft im praktischen Gebrauche zu einer Erweiterung, die ihr im speculativen fur sich nicht möglich ist." (Dieses ,für sich' ist relativ auf den spekulativen bzw. theoretischen Vernunftgebrauch). 3 Ob es nun .Intelligenz' (vgl. z.B. KpV V/56, V/162), .unsichtbares Selbst' (vgl. z.B. KpV V/162), ,intelligibeles Ich', ,intelligibeler Charakter' heißt oder auch anders. — Vgl. KpV V/125: „Nun ist ein Wesen, das der Handlungen nach der Vorstellung von Gesetzen fähig ist, eine Intelligenz (vernünftig Wesen)...". — Dem widerspricht nicht die Feststellung, daß die Kritik der praktischen Vernunft (l) auch „Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft" (KpV V/57) handelt, wobei als die „alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft" (KpV V/58) - man beachte hier: nur „praktische Vernunft", und nicht „reine praktische Vernunft" - „die vom Guten und Bösen" genannt werden, und vor allem (2) in der Dialektik der reinen praktischen Vernunft ausfuhrlich das „höchste Gut" als „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft" (KpV V/108) analysiert und darauf die „Postulate" von „einer ins Unendliche fortdaurenden Existenz" „der Seele" (KpV V/122) bzw. vom „Dasein Gottes" (KpV V/124) gründet. Denn hier liegt jeweils theoretischer Vernunft-Gebrauch vor, wenn auch relativ auf praktische(n) Fmiu«/r(-Gebrauch), und zwar nicht nur hinsichtlich des besonderen Begriffes eines .Postulates' — „worunter ich einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz verstehe, so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt" (KpVV/\22) — sondern ganz allgemein hinsichtlich der notwendig objekt-bezogenen und insofern grundsätzlich .theoretischen* Denk- Weise überhaupt [in diesem Sinne ist ja auch ,das Subjekt' der praktischen Vernunft, wenn ,«' gedacht wird, Objekt des Denkens; jede Philosophie ist als Denken .theoretisch']. 4 D.i. die „übersinnliche" bzw. „intelligibele Welt (Natur)", auch das „Reich Gottes" bzw. das „Reich der Zwecke", in dem „Gott" das „Oberhaupt" ist (vgl. z.B. QMS IV/433ff). 5 Vgl. die entsprechende Formulierung des kategorischen Imperativs (QMS IV/429): „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden ändern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst". — Die verschiedenen Formulierungen des kategorischen Imperativs dürfen nicht zu jeweils eigenen Imperativen verselbständigt werden; so betont Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ausdrücklich, daß nur von Einem unbedingt gebietenden Imperativ die Rede sei, allerdings in Gestalt unterschiedlicher Formulierungen; und in der Kritik der praktischen Vernunft ist nur eine explizite Formulierung enthalten (KpV V/30), nämlich die von der „allgemeinen Gesetzgebung" [alle anderen - aus der GMS bekannten - Formern sind im Text der KpV zwar vorhanden, jedoch nicht ausdrücklich als Formulierung des kategorischen Imperativs ausgezeichnet; z.B. die Wendung vom „allgemeinen Naturgesetz" (KpV V/44) oder die Formel vom „wollen können" (KpV V/57, V/69)].

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

weil er das S u b j e c t des m o r a l i s c h e n G e s e t z e s , 8 mithin dessen ist, was an sich heilig ist" (KpVV/131). Nur im Bewußtsein dieses grundlegenden Unterschiedes kann das Prinzip p r a k t i s c h e n Vernunft-Gebrauchs (das Moralgesetz) als Prinzip der A u t o n o m i e 9 bzw. als Gesetz der F r e i h e i t 1 0 adäquat erfaßt werden. Entscheidendes Kriterium für dieses Verständnis ist das Problem der „ a l l g e m e i n e n G e s e t z g e b u n g " : 1 1 ob hier plötzlich Willkür und Diktatur zum Vorschein kommen [d.i. der ,kategorische Imperativ' als despotisch ,entdeckt' wird] oder — der Charakteristik des Moralgesetzes gemäß — wirklich helle Freiheit. 6

Vgl. auch KrVA 318/B 374: „ ... daß ... kein einzelnes Geschöpf... mit der Idee des Vollkommensten seiner Art kongruiere (so wenig wie der Mensch mit der Idee der Menschheit, die er sogar selbst als Urbild seiner Handlungen in seiner Seele trägt)". — Oberflächliche Kant-Kenntnis übersieht: „in unserer Person" bzw.: „in seiner Seele" und versteht unter .Menschheit' nicht das moralische Subjekt sondern eine Summe „thierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß" (KpV V/162), also die ,Welt-Bevölkerung' (,Population'), ein mögliches Objekt (natur-)wissenschaftlicher Betrachtung. — In diesem Zusammenhang verweise ich auf den Titel der vorliegenden Schrift: „Menschliches Denken". 7 Vgl. KpV V/123n: „ ... Heiligkeit [ist] eine Idee ... welche nur in einem unendlichen Progressus und dessen Totalität enthalten sein kann, mithin vom Geschöpfe niemals völlig erreicht wird." — Die Aufgabe des unendlichen Fortschreitens - nicht zu verwechseln mit dem .progressiven Optimismus', das bloße Vergehen der Zeit sei hinreichende Anzeige für eine statthabende Entwicklung (,Fort-Schritt') - ist, wie Totalität' und schließlich Jdee' selbst, schon hinsichtlich der „transzendentalen Ideen" (vgl. Kap. 3.4) bekannt. 8 Vgl. dazu KpV V/6: „ ... sich als Subject der Freiheit zum Noamen ... zu machen"; — KpVV/129: „ ... Pflichten ... als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst" (d.i. das Prinzip der Autonomie); — KpVV/50: „ ... Willen, wie er als zu einer intelligibelen Welt gehörig bestimmbar sei, mithin das Subject dieses Willens (den Menschen) ... ". — Es geht hier nur um den ,reinen' bzw. ,guten' bzw. ,freien Willen' der ,Verstandeswelt' (d.i. die ,intelligibele Welt'), der selbst ,reine praktische Vernunft' (ihr Prinzip ist das Moralgesetz) ist. — Vgl. z.B. KpV V/55: „Die objective Realität eines reinen Willens oder, welches einerlei ist, einer reinen praktischen Vernunft ... ". 9 Vgl. z.B. KpV V/43: „ ... Autonomie der reinen praktischen Vernunft. Das Gesetz dieser Autonomie aber ist das moralische Gesetz ...". 10 Vgl. z.B. KpVV/46: „ ... Bewußtsein der moralischen Gesetze oder, welches einerlei ist, das der Freiheit...". 11 Vgl. KpVV/3Q: „§ 7 | Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft. | Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."

3.5 Das Noumenon als Subj ekt (, Praktische Erkenntnis')

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Bevor aber dieser, für meine Schrift wichtige Punkt näher betrachtet werden kann, ist sein , o n t o l o g i s c h e r S t a t u s ' aufzufinden; und genau das geschieht in der F r a g e nach dem Ding an sich auf der Ebene praktischer Vernunft; und zwar v o r e r s t ohne weitere Berücksichtigung des eben genannten - nur am Boden praktischer Vernunft zu treffenden Unterschiedes zwischen ,theoretischer' (d.i. objekt-bezogen, , außen', daher ,heteronom') und »praktischer' (d.i. subjekt-bezogen, , innen', 12 ,autonom') Haltung. Es wird gern als bloße und eher unzweckmäßige Schrulle Kants gesehen (bzw. zumindest als solche behauptet), daß der Aufbau der Kritik der praktischen Vernunft jenem der ,ersten Kritik' ähnlich13 ist. Dementsprechend werden Kants Versuche, den ontologischen Status seiner gesamten , Metaphysik der praktischen Vernunft'14 genau zu bestimmen — also beispielsweise: wie die Realität der intelligiblen Welt und damit von uns selbst (als „Intelligenz") zu denken sei; oder die Realität von „Freiheit", „Gott", vor allem aber jene des „Moralgesetzes"? —, als bloßer, letztlich nicht bewältigter Zwang in Form eines terminologischen Korsetts mißverstanden, das sich Kant in der Kritik der reinen Vernunft zugezogen und von dem er sich jetzt — in der Kritik der praktischen Vernunft — nicht mit der nötigen Entschiedenheit getrennt habe.15 Hat man die Unrichtigkeit dieses Vorurteils erkannt — und dies gelingt am überzeugendsten durch ernsthafte, systematische Beschäftigung mit den 12

Aus dem Bisherigen müßte klar sein: (1) daß diese Unterscheidung nicht das physische .Außen" bzw. das psychische Jnnen' meint [,Physisch' und .psychisch' sind hier, als der sinnlichen Natur zugehörig, theoretisch-heteronomer Haltung zuzuzählen]; und (2) daß diese Unterscheidung nicht vermischt werden darf mit der Frage nach objektiver bzw. subjektiver Realität des theoretischen und des praktischen Vernunftgebrauchs. Denn praktische Vernunft besitzt den ^Primat', auch in dieser Hinsicht: Die auf sie bezogenen moralischen Ideen gehen auf die Realität ,an sich', die auf theoretische Vernunft bezogenen transzendentalen Ideen gehen lediglich auf ihren Gegenstand (, Schema'),/« der Idee' (vgl. dazu den Anfang von Kap. 2.1.1). 13 Vor allem die große Gliederung in - Analytik und Dialektik umfassende - Elementarlehre und Methodenlehre. 14 Ein sonderbarer Ausdruck, wenn .Metaphysik' nur .theoretische Erkenntnis' bedeutete und .praktische Vernunft' kein Erkenntnisvermögen wäre [Es muß hier jedoch klar sein, daß praktische Erkenntnis' mit theoretischer .Metaphysik als Wissenschaft' nichts gemein hat]. 15 Eine solche Betrachtungsweise kann schon die philosophische Leistung der Kritik der reinen Vernunft nicht würdigen und bildet die ideale Grundlage für das, wovon besonders Empiristen offenbar .von vornherein' überzeugt zu sein scheinen: die , ZweiWelten-Theorie'; die es so, wie theoretische Haltung (und damit auch der übliche Empirismus) sie allein .verstehen' kann, bei Kant gar nicht gibt.

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Kantischen Texten selbst —, dann sieht man Kants subtile, kräftige und - ihrer Ehrlichkeit entsprechend - zugleich klare Bemühung, die „Bestimmung des Menschen" als geistiges („vernünftiges") Wesen philosophisch darzulegen; und zwar ohne durch die Überheblichkeit angemaßter Erkenntnisse16 die Autonomie irgendeines Menschen zu verletzen; im Gegenteil: gerade k o n s e q u e n t e intellektuelle Durchdringung ,Kants' bietet nicht nur willkommene sondern geradezu benötigte Förderung.17 — E i n Grund des genannten Vorurteils18 verdient jedoch besondere Beachtung. Denn er enthält zwar nicht das Problem der Verstehbarkeit von Kants ,metaphysischen' Äußerungen, aber die einzig richtige Konsequenz, daß diese Äußerungen, als Behauptung einer ,Hinterwelt' aufgefaßt, im Interesse der Wahrheit19 eindeutig abzulehnen sind. Nun werde ich versuchen, den ,ontologischen Status' der N o u m e n a relativ auf p r a k t i s c h e V e r n u n f t so darzustellen,20 wie ich glaube, 16

Bruno Liebrucks z.B. würde hier von .verblasenen' Erkenntnissen sprechen. Nämlich der Verwirklichung des moralischen Subjekts (bzw. ,Selbst'); vgl. QMS IV/ 404f (,die leicht verfuhrbare Unschuld'). Um es nochmals klar auszusprechen: Intellektuelle Anstrengung des Denkens kann Autonomie fördern, indem sie zu (intellektueller) Einsicht in ihre Struktur führt, wodurch man die ,Richtung' besser ,wissen' kann; bzw. indem sie zu größerer Lebensklarheit führt; intellektuelle Denkbemühung kann aber diese Autonomie nicht aus sich erzeugen [vgl. Kants diesbezüglichen Ausdruck: ,(heraus-)vernünfteln']. Daß man bei .wissen" in geistig-moralischem Sinn nicht an ,Gnosis' denken muß, deutet z.B. folgendes Zitat an: „In Urteilen aus reiner Vernunft ist es gar nicht erlaubt, zu meinen. ... Daher ist es ungereimt, in der reinen Mathematik zu meinen; man muß wissen, oder sich alles Urteilens enthalten. Eben so ist es mit den Grundsätzen der Sittlichkeit bewandt, da man nicht auf bloße Meinung, daß etwas erlaubt sei, eine Handlung wagen darf, sondern dieses -wissen muß. \ Im transzendentalen Gebrauche der Vernunft ist dagegen Meinen freilich zu wenig, aber Wissen auch zu viel. In bloß spekulativer Absicht können wir hier gar nicht urteilen" (ÄrKA 822f/B 850f). 18 Ich meine hier etwas Analoges, wie Kant in seiner Religionsschrift hinsichtlich der Amtskirche. Er sagt dort, insofern der kirchliche Kultus den Menschen zur moralischen Lebensweise (und damit zu stetiger Läuterung) hinführt bzw. ihn in den kleinmütigen Anwandlungen des Alltags in seiner moralisch-religiösen Potenz stärkt, insofern ist dieser Kultus positiv zu werten; gestaltet er sich jedoch zu einem Fetisch, der Dienst an ihm selbst fordert und daher die Ausrichtung und Energie vom alltäglich zu lebenden Leben (unserer einzigen ^Gegenwart') abzieht, so ist er von Übel. 19 Um dies einzusehen sind allerdings weder Nietzsche, noch diverse Neukantianer, Neopositivisten etc. notwendig, denn Autonomie ist als Prinzip der Freiheit ohne Wahrheit (bzw. subjektiv: Wahrhaftigkeit) nicht denkbar. Ob also aus Gründen empiristisch-eingeschränkter Weltanschauung oder aus solchen moralisch-religiöser Offenheit: Eine metaphysische ,Hinterwelt' (oder ,zweite Welt') als Fetisch ist in jedem Fall abzulehnen. 17

3.5 Das Noumenon als Subjekt (,Praktische Erkenntnis')

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daß er dem Kantischen Begriffszusammenhang entsprechend gesehen werden muß: Sie werden nicht als gegenständlicher Fetisch sondern als ,denkende Vergewisserung'21 des ,existentielP betroffenen22 Menschen begriffen — also nicht als illusionierender ,Spiegel', der nur (Gedanken-) Projektionen zurückwirft, sondern als ,Fenster'23 hinaus ins Freie.24 Im Zusammenhang der Frage nach den Objekten der Ideen spekulativer Vernunft wurde die Relativität der entsprechenden Aussagen auf den jeweiligen Vemunftgebrauch besonders deutlich, und damit die Notwendigkeit einer genauen Beachtung dieser Relativität, um die betreffenden Aussagen überhaupt richtig verstehen zu können (vor allem auch hinsichtlich ihrer ,Ontologie'): Nun hat die E i n e Vernunft25 z w e i grundsätzlich ver20

Und zwar in folgerichtigem Zusammenhang mit den bisherigen Ausführungen, und wiederum skizzenhaft-schwerpunktmäßig, und mit den nötigen Belegstellen. 21 Eine Formulierung, die Karl Jaspers hinsichtlich der verschiedensten überlieferten Bemühungen um,Gottesbeweise' gebraucht. 22 ,VemunfT im Sinne Kants enthält .Existenz' (beispielsweise als Polaritätsbegriff zu .Transzendenz' im Sinne von Jaspers) als Moment in sich. 23 Um im Bild zu bleiben: Auch (durchsichtige) Fenster können mehr oder weniger stark ,spiegeln' - ihrer materiellen Beschaffenheit bzw. der jeweiligen Beleuchtungsverhältnisse wegen -, ohne aber deshalb grundsätzlich undurchsichtige, reflektierende Spiegel zu sein. — Damit soll ausgedrückt werden, daß entsprechende Gedankenzusammenhänge - natürlich auch die der Kantischen Philosophie - nirgends vollkommen .durchsichtig' präsentierbar sind, daß sie aber vor allem relativ auf jeweilige .optische' Umstände - die gesamte .spekulative' Philosophie hat ja als .theoretische' mit .sehen', .schauen' zu tun - verschieden aus-schauen: Einer Betrachtung ,im Lichte der Weltanschauungsanalyse' (Ernst Topitsch) beispielsweise können sie nur als ,Spiege!' erscheinen; denn relativ auf diese Betrachtung ist schon die Frage der Unterscheidung von .Fenster' und .Spiegel', und zwar aus prinzipiellen Gründen und zugunsten der .Spiegel', sinnlos. 24 Die Formulierung, daß die Ausrichtung dieser .Vergewisserung' nicht in die Grenzen der (theoretischen) Vernunft eingeschlossen - also nicht .konventionalistisch' - ist, aber auch nicht auf eine .Hinterwelt' oder ins leere ,Nichts' verweist (was .nihilistisch' wäre), sondern ins .Freie' führt, hat zu tun mit dem, was der späte Schelling in seiner von der .negativen Philosophie' unterschiedenen .positiven Philosophie' auszulegen suchte. 25 Vgl. KpWI\2\: „Allein wenn reine Vernunft für sich praktisch sein kann und es wirklich ist, wie das Bewußtsein des moralischen Gesetzes es ausweiset, so ist es doch immer nur eine und dieselbe Vernunft, die, es sei in theoretischer oder praktischer Absicht, nach Principien a priori urtheilt ... | In Verbindung also der reinen speculativen mit der reinen praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse führt die letztere das Primat, vorausgesetzt nämlich, daß diese Verbindung nicht etwa zufällig und beliebig, sondern a priori auf der Vernunft selbst gegründet, mithin nothwendig sei"; — QMS I V/391: „... theils erfordere ich zur Kritik einer reinen praktischen Vernunft, daß, wenn sie vollendet sein soll, ihre Einheit mit der speculativen in einem gemein-

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

schiedene Ausrichtungen:26 (a) den t h e o r e t i s c h e n Vernunftgebrauch („theoretische Vernunft" i.w.S.): Er geht auf die Erkenntnis von Wirklichem („theoretische Erkenntnis"); „Sinnenwelt", „sinnliche Natur". Diese Erkenntnis (bzw. ihr jeweiliger Gegenstand) kann , f ü r u n s ' (nur) in der sinnlichen Anschauung gegründet sein. Theoretische Haltung steht ihrem Objekt gegenüber,,schaut' es an; ihrer ,theoretischen' Wissenschaft entspricht die »Praxis' einer Technik, die strukturell Manipulation an bzw. mit Objekten ist27; — und (b) den p r a k t i s c h e n Vernunftgebrauch („praktische Vernunft"). Auch er geht auf Wirkliches, aber auf ein Dasein, das v e r w i r k l i c h t w e r d e n 2 8 s o l l („praktische Erkenntnis"), d.i. letzten Endes - bezogen auf reine praktische Vernunft29 - auf die nie zu schafllichen Princip zugleich müsse dargestellt werden können, weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß". 26 Vgl. z.B. KpV V/7: „ ... sonst nicht wohl geziemt... doch hier ... nöthig war: weil die Vernunft mit jenen Begriffen im Übergange zu einem ganz anderen Gebrauche betrachtet wird, als den sie dort von ihnen machte. Ein solcher Übergang macht aber eine Vergleichung des älteren [d.i. hier: .theoretischen'; G.R.] mit dem neuem [d.i. hier: .praktischen'; G.R.] Gebrauche nothwendig, um das neue Gleis von dem vorigen wohl zu unterscheiden und zugleich den Zusammenhang derselben bemerken zu lassen." 27 In einer Zeit, in der .Technik-Beschimpfung' beinahe zum Guten Ton zu gehören scheint, liegt mir daran ausdrücklich festzustellen, daß diese Äußerungen in eindeutig wertfreiem, rein konstatierendem - also, beispielsweise, in keinem wie immer gearteten aggressiv-,entlarvenden' - Sinn gemeint sind: Denn theoretischer Vernunftgebrauch hat seinen legitimen ontologischen Ort und den ihm zustehenden - vgl. ,Primat' der praktischen Vernunft - Rang. 28 Martin Buber spricht in eigenen Zusammenhängen in vergleichbarem Sinn von „realisieren ". 29 Die Kritik der praktischen Vernunft hat zwar zum Hauptinteresse darzutun, daß „es reine praktische Vernunft gebe", „kritisirt" aber „in dieser Absicht ihr ganzes praktisches Vermögen", also das „der praktischen Vernunft überhaupt" (KpV V/3). — Ein Beispiel ist die „Tafel der Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen" (KpV V/66): „Nur muß man wohl bemerken, daß diese Kategorien nur die praktische Vernunft überhaupt angehen und so in ihrer Ordnung von den moralisch noch unbestimmten und sinnlich bedingten zu denen, die, sinnlich unbedingt, blos durchs moralische Gesetz bestimmt sind, fortgehen." — Ein anderes Beispiel ist die Unterscheidung der Imperative in .kategorisch' und .hypothetisch'; dabei sind die hypothetischen Imperative den sinnlich-bedingten [deshalb nicht: ,un-bedingt' bzw. .kategorisch'] „Principien der Selbstliebe" zuzurechnen, daher - weil sinnlich-bedingt - „aber blos theoretische Principien" (KpV V/25f). In der dazugehörigen Anmerkung (V/26) sagt Kant: „Sätze, welche in der Mathematik oder Naturlehre praktisch genannt werden, sollten eigentlich technisch heißen" [dies betrifft die zum .theoretischen Vernunftgebrauch' zählende .Praxis': .Technik']. — Wenn also ohne

3.5 Das Noumenon als Subjekt (.Praktische Erkenntnis')

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vollendende Einheit von „Sinnen-" und „Verstandesweit" („intelligibele Welt") bzw. von „sinnlicher" und „übersinnlicher Natur".30 „Die zwei Aufgaben also: wie reine Vernunft e i n e r s e i t s a priori Objecte erkennen31 und wie sie a n d e r e r s e i t s unmittelbar32 ein Bestimbesondere Umstände von .praktischer Vernunft' bzw. vom .praktischen Gesetz' gesprochen wird - dies gilt für den Kantischen Kontext ebenso wie für die vorliegende Schrift -, so ist damit immer die Ebene kategorischer Moralität angesprochen. Nur in diesem auf Moralität bezogenen Sinn ist der Ausdruck .praktischer Vernunftgebrauch1 zu verstehen bzw. nur so verstanden ist seine Richtung von derjenigen des theoretischen (einschließlich des .technisch-praktischen') Vernunftgebrauchs eindeutig verschieden. — In bezug auf .Freiheit" gilt Analoges: ohne besonderen Hinweis ist sie als .transzendentale' bzw. als .moralische Freiheit' zu verstehen und nicht etwa psychologisch. 30 Eigentlich geht es hier um die von Menschen - .real' und nicht nur ,in der Idee' - zu verwirklichende Menschen-Welt. Bruno Liebrucks spricht da [wie ich glaube in ähnlichem Sinn] vom .menschlichen Welt-Umgang'. Da die historische Realität leider so ist, daß gerade im Namen eines .Reiches der Freiheit' gej/««««gjdiktatorische Herrschaften errichtet werden (und nur in solchem Namen zu errichten sind!), eine Bemerkung zur vorläufigen Klarstellung: In dieser Einheit hat .Verstandeswelt' (.praktische Vernunft') den Primat, und ihr Prinzip ist Autonomie jedes einzelnen Menschen; außerdem ist diese Einheit nicht als „mögliches Objekt in der Zeit" sondern als „unendliche Aufgabe" (Totalität) verstanden. Da in solchen Zusammenhängen andererseits die Idee einer ,Zwei-Welten-Lehre' besonders naheliegt, ist noch folgendes zu beachten. Wenn Kant schreibt: „Denn in der That versetzt uns das moralische Gesetz der Idee nach in eine Natur ..." (KpV V/43), so ist damit jene „Ordnung der Zwecke" gemeint, in der „der Mensch (mit ihm jedes vernünftige Wesen) Zweck an sich selbst sei ... weil er das Subject des moralischen Gesetzes" (KpV V/131) ist, bzw. „die übersinnliche Natur, so weit wir uns einen Begriff von ihr machen können" (KpVV/43), nämlich „als eine Natur unter der Autonomie der reinen praktischen Vernunft" (KpV V/43). Insofern wir nun der „Idee einer" - so verstandenen - „nicht empirisch-gegebenen und dennoch durch Freiheit möglichen, mithin übersinnlichen Natur ... in praktischer Beziehung, objective Realität geben" (KpV V/44), bedeutet dies letzten Endes dasselbe wie das Akzeptieren der objektiven Realität des Moralgesetzes selbst. Dieses aber fordert Verwirklichung des Sittlich-Guten. Diese Verwirklichung hat zur .Materie' die sinnliche Realität, ihre .Form' ist .Autonomie'. — Deshalb sagt Kant vom Moralgesetz: „Dieses Gesetz soll der Sinnenwelt, als einer sinnlichen Natur, (was die vernünftigen Wesen betrifft) die Form einer Verstandeswelt, d.i. einer übersinnlichen Natur, verschaffen, ohne doch jener ihrem Mechanism Abbruch zu thun" (KpV V/43). — Man kann hier also klar sagen, daß „die Verstandeswelt" als Bezugsrichtung des praktischen Vemunftgebrauchs zwar den von mir an früherer Stelle .anagogisch' genannten Grundzug der Kantischen Philosophie ausdrückt, dennoch aber keine .Träume eines Geistersehers' meint, sondern bloß das Moralgesetz selbst bzw. uns als Subjekte dieses Gesetzes, die (aktuell) werden sollen, was sie (potentiell) sind; eine Aufgabe ohne Ende.

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

mungsgnmd des Willens,33 d.i. der Causalität des vernünftigen Wesens34 in Ansehung der Wirklichkeit der Objecte, (blos durch den Gedanken der Allgemeingültigkeit ihrer eigenen Maximen als Gesetzes) sein könne,35 sind sehr verschieden. | ... [Die zweite [Aufgabe; G.R.], als zur Kritik der praktischen Vernunft gehörig, fordert —36 keine Erklärung, wie die Objecte des Begehrungsvermögens möglich sind, denn das bleibt als Auf31

D.i. theoretischer Vemunftgebrauch [bezüglich reiner Vernunft kann es sich ja nur um ,formale' apriorische ,Objekterkenntnis' als transzendentaler Voraussetzung der (formalen) Möglichkeit empirischer Objekterkenntnis handeln]. — Vgl. dazu KpV V/45 (d.i. die unmittelbare Fortsetzung des ersten Satzes des hier - im Text - gebotenen Zitates KpV V/44f): „ ... sind sehr verschieden. | Die erste [Aufgabe; G.R.], als zur Kritik der reinen speculativen Vernunft gehörig, erfordert, daß zuvor erklärt werde, wie Anschauungen, ohne welche uns überall kein Object gegeben und also auch keines synthetisch erkannt werden kann, a priori möglich sind, und ihre Auflösung fällt dahin aus, daß sie insgesammt nur sinnlich sind ... und daß daher alle Grundsätze ... nichts weiter ausrichten, als Erfahrung entweder von gegebenen Gegenständen [d.s. .Verstandeseinheiten' in .objektiver' Hinsicht, als jeweilige Vereinigung der kategorialen Einheit mit den Einheiten des sinnlich gegebenen Mannigfaltigen; G.R.], oder denen, die ins Unendliche gegeben werden mögen, niemals aber vollständig gegeben sind [d.i. ,Vernunfteinheit' - nur in .subjektiver' Hinsicht; Einheit der mannigfaltigen Verstandeseinheiten bzw. -erkenntnisse - als systematische Einheit der transzendentalen Idee: unendliche Aufgabe; G.R.], möglich zu machen" [Die unmittelbare Fortsetzung dieses Zitates schließt im Text an: „Die zweite, als ..."]; vgl. auchAT/7FV/119f. 32 .Unmittelbar', d.i. nicht durch Vermittlung empirischer Bedingungen (bzw. Bedingtheiten), insofern un-bedingt, .kategorisch'. 33 D.i. des .freien' und insofern nicht empirisch-bedingten Willens. 34 D.i. die Freiheit als Kausalität des .Subjekts des Moralgesetzes' (bzw. des ,,Subject[s] der Freiheit"; KpVV/6). — Ohne die folgenden Bestimmungen in den Texten einfach gegeneinander austauschen zu können, sind sie doch in gewisser Hinsicht gleichzusetzen; so z.B.: „Moralgesetz" mit „Gesetz der Causalität durch [bzw. „aus"; z.B. KpV V/16] Freiheit" (z.B. KpV V/47); bzw. mit „Gesetz ... [der] Autonomie" (KpV V/43); bzw. mit „Grundgesetz einer übersinnlichen Natur" (KpV V/43); bzw. mit „Gesetz ... der Möglichkeit einer übersinnlichen Natur" (KpV V/47), oder: „Bewußtsein des Moralgesetzes1'' mit „Bewußtsein der Freiheit" (vgl. KpV V/46). 35 Hier ist das praktische Erkenntnis1 angesprochen. Vgl. dazu KrV B IXf, B XXVIn; vgl. auch KpV V/20: „In der praktischen Erkenntniß, d.i. derjenigen, welche es blos mit Bestimmungsgründen des Willens zu thun hat"; — KpV V/46: „Denn es betrifft ... ein Erkenntniß, so fern es der Grund von der Existenz der Gegenstände selbst werden kann und die Vernunft durch dieselbe [Erkenntnis; G.R.] Causalität in einem vernünftigen Wesen hat, d.i. reine Vernunft, die als ein unmittelbar den Willen bestimmendes Vermögen angesehen werden kann"; — KpV V/57: „Ein Gegenstand der praktischen Erkenntniß als einer solchen zu sein, bedeutet also nur die Beziehung des Willens auf die Handlung, dadurch er oder sein Gegentheil wirklich gemacht würde". 36 Die optische Textgliederung durch zweimaliges Setzen des Geviertstrichs { — } erfolgte durch mich [G.R.].

3.5 Das Noumenon als Subjekt (,Praktische Erkenntnis')

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gäbe der theoretischen Naturerkenntniß der Kritik der speculativen Vernunft überlassen, sondern — 36 nur, wie Vernunft die Maxime des Willens bestimmen könne, ob ... reine Vernunft praktisch37 und ein Gesetz einer möglichen, gar nicht empirisch erkennbaren Naturordnung sein würde"38 (KpVVIWf). Ein Vergleich beider Bezugspunkte (theoretischer und praktischer Vernunft) zeigt darüber hinaus, daß - am Boden theoretischer Vernunft die Frage nach der objektiven Gültigkeit t h e o r e t i s c h e r Prinzipien relativ (und eingeschränkt) auf ,unsc als Sinnenwesen (also auf den ,Menschen' als hochentwickelter tierischer Organismus),39 wogegen - am Boden praktischer Vernunft - die objektive Gültigkeit des ,geistigen', reinen p r a k t i s c h e n Prinzips (Moralgesetz) - als sinnlich-empirisch un-bedingt - relativ auf ,uns' als .Verstandeswesen'40 überhaupt, daher grundsätzlich nicht auf den menschlichen Bereich beschränkt,41 zu 37

Vgl. KpV V/l 13: „ ... praktisches Gut, d.i. was durch Handlung möglich ist"; — KrV A314/B 371: „ ... praktisch ... d.i. auf Freiheit beruht"; — KpV V/43: „ ... da die Gesetze, nach welchen das Dasein der Dinge vom Erkenntniß abhängt, praktisch sind". — Zur Unterscheidung von .praktisch' im Rahmen ,theoretischer Vernunft' (,technisch-praktisch') von ,mora//jcA-praktisch', als allem »Sinnlich-Pathologischen' entgegengesetzt, vgl. Anm. 29/Kap. 3.5. 38 Vgl. KpV V/43: „ ... so ist die übersinnliche Natur, so weit wir uns einen Begriff von ihr machen können, nichts anders als eine Natur unter der Autonomie der reinen praktischen Vernunft. Das Gesetz dieser Autonomie aber ist das moralische Gesetz ..." 39 Letzten Endes auf mögliche sinnliche Anschauung; in diesem Sinn kann auch von ,anthropologischer Relativität' gesprochen werden (vgl. Kap. 2.1.1.2). 40 „Verstandeswesen" bedeutet in solchen Zusammenhängen natürlich immer ,Wesen, als der Verstandeswelt (übersinnliche Natur) bzw. ihrer Ordnung (Moralgesetz!) angehörend'. Denn diese Formulierungen haben mit der Unterscheidung von Verstand (Kategorien) und Vernunft (Ideen) nur insofern - marginal - zu tun, als bei ,Verstandeswesen' eher an ,Verstandeswelt' zu denken ist: an das also, was nur im Denken (.intelligibel') - wozu kategorialer Verstand benötigt wird (vgl. z.B. KpV VI 136) - irgendwie ,Objekt für uns' sein kann, wogegen ,Vernunftwesen1' eher an das , Subjekt des Moralgesetzes' - also an das Moralgesetz - denken läßt; das aber ist das einzige, was wir uns als .Verstandeswelt' befugt vorstellen können (vgl. dazu Anm. 38/Kap. 3.5); und insofern bedeuten ,Verstandeswesen' und ,Vemunftwesen' dasselbe. 41 Also keine .anthropologisch' begründbare und damit auf Menschen beschränkte Moralität sondern Gültigkeit für alle - auch für .Gott', aufgefaßt als - Vernunftwesen [Von .anthropologischer' Relativität ist im Fall theoretischer Prinzipien nur deshalb zu sprechen, weil empirisch-wissenschaftliche Erkenntnis der sinnlichen Natur aufzeigt, daß allein der Organismus .Mensch' als Erkenntniswesen dem Niveau .theoretischer Vernunft' entspricht, deren Strukturen Kant ausgelegt hat]. Vgl. auch Anm. 81/Kap. 2.

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

betrachten ist. — Um „ p r a k t i s c h e V e r n u n f t " bzw. „praktischen Vernunftgebrauch" - dem Begriff entsprechend - von allen Gedanken an Theoretisch-Spekulatives freizuhalten kann es förderlich sein, diesen Vernunftgebrauch einfach als , A u s ü b u n g des M o r a l g e s e t z e s ' zu sehen.42 — Die Frage stellt sich: Ist das Moralgesetz selbst, als einziges „Factum der reinen Vernunft"43 und einzige Grundlage unseres ,Wissens' um unsere ,höhere Bestimmung', ein Noumenon? Die Antwort lautet: Nein. Denn das Moralgesetz ist ein bloß f o r m a l e s Prinzip [seine »Gesetzmäßigkeit* wird nicht als »Gegenstand', sondern selbst als »Gesetz* vor-gestellt: Das »Naturgesetz'44 als »Schema' bzw. Jypus' des Moralgesetzes, als » F o r m der G e s e t z mäßigkeit überhaupt'45]. Der Begriff des N o u 42

43 44 45

Vgl. KpV V/137: „ ... und so bleibt von den Begriffen, durch die wir uns ein reines Verstandeswesen denken, nichts mehr übrig, als gerade zur Möglichkeit erforderlich ist, sich ein moralisch Gesetz zu denken, mithin zwar ein Erkenntniß Gottes, aber nur in praktischer Beziehung ... und [wir] dadurch belehrt werden, daß sie niemals zu einer Theorie von übersinnlichen Wesen gebraucht werden können ... sondern ihren Gebrauch lediglich auf die Ausübung des moralischen Gesetzes einschränken"; vgl. auch KpV V/l 38f. Z.B. KpVV/3\. Vgl. Kap. 4. „Natur" als , sinnliche Natur' verstanden. Vgl. dazu das b i s h e r E n t w i c k e l t e (vgl. auch Kap. 3.6): Synthetische Einheit a priori

Objektivierte synthetische Einheit a priori

kategorialer Verstand Verstandes-Einheit (,Sinnlichkeit' und ,Verstand') Vernunft-Einheit ( Verstandeseinheitfen] und ,Vemunft[idee]')

[transzendentaler Gegenstand = X] Form des empirischen Gegenstandes (Phaenomenon) unter eingegrenztem Aspekt: Noumenon in negativer Bedeutung als Grewz-Begriff Form der Sinnen-Welt,, Schema' der Idee (bzw. Gegenstand der Idee , in der Idee') als Form der Totalität unter eingegrenztem Aspekt: Noumenon in negativer Bedeutung als Form- und als Grenz-Begriff

nun kommt hinzu: Moralgesetz (als bloße Form der Gesetzmäßigkeit gedacht: ,Naturgesetz' als ,Typus')

Sittlichkeit (vgl. Kap. 3.5.1)

Zum Moralgesetz als synthetisch-praktisches Prinzip a priori vgl. KpV V/31, auch V/65 („... Einheit des Bewußtseins ... eines reinen Willens a priori"); vgl. GMS

3.5 Das Noumenon als Subjekt (, Praktische Erkenntnis')

141

m e n o n aber enthält grundsätzlich mehr als nur formale Aspekte,46 auch wenn , w i r ' von ihm ebenso grundsätzlich nicht mehr erkennen können als das rein formale Moralgesetz:47 „Über die Erfahrungsgegenstände hinaus, also von D i n g e n als N o u m e n e n, wurde der speculativen Vernunft alles Positive einer Erkenntniß mit völligem Rechte abgesprochen. — Doch leistete diese so viel, daß sie den Begriff der Noumenen, d.i. die Möglichkeit, ja Nothwendigkeit dergleichen zu denken, in Sicherheit setzte48 und z.B. die Freiheit, negativ betrachtet, anzunehmen als ganz verträglich mit jenen Grundsätzen und Einschränkungen der reinen theoretischen Vernunft wider alle Einwürfe IV/420 hinsichtlich des kategorischen Imperativs „oder Gesetze[s] der Sittlichkeit": „Er ist ein synthetisch-praktischer Satz a priori"; auch QMS IV/454, 444f; — vgl. auch meine Bemerkung zu L.W. Beck, der das Moralgesetz als .theoretischen Satz a priori' auffaßt (Anm. 57/Kap. 3.5). Zu ,Schemal bzw. ,Typus' des Moralgesetzes vgl.: KpV V/68: „Hier aber ist es nicht um das Schema eines Falles nach Gesetzen, sondern um das Schema (wenn dieses Wort hier schicklich ist) eines Gesetzes selbst zu thun"; — KpV V/69: „ ... mithin ein Naturgesetz, aber nur seiner Form nach ... und dieses können wir daher den Typus des Sittengesetzes nennen"; — KpV V/70: „Es ist also auch erlaubt, die Natur der Sinnenwelt als Typus einer intelligibelen Natur zu brauchen, so lange ich ... blos die Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt... darauf beziehe". — Bei Formulierungen wie KpV V/70 ist nie zu vergessen, daß wir von einer „intelligibelen Natur" nur den Begriff einer moralischen Gesetzmäßigkeit haben (vgl. KpV V/43). — Die Frage des Moralgesetzes ,als' Naturgesetz betrifft in zentraler Weise das Problem der Rationalität praktischer Vernunft im Interesse menschlichen Denkens: Wenn Kant hier „verhüten" will, „daß, was blos zur Typik der Begriffe gehört, nicht zu den Begriffen selbst gezählt werde" (KpV V/70), so trifft er damit implizit die Frage nach der Identität der beiden genannten Gesetzes-Arten hinsichtlich der bloßen Form der Gesetzmäßigkeit (vgl. dazu Kap. 5:,Allgemeingültigkeit'). 46 Deshalb ist ja das Noumenon (in negativer Bedeutung) nur als Grenr-Begriff bzw. als regulativer Fo/ro-Begriff tauglich und besitzt selbst keinen ,Raum', öffnet aber gerade dadurch das Bewußtsein dafür [.schafft" , leeren Raum' bzw. ,bewahrt' ihn]. — Besetzen1 kann diesen ,Raum' nur das Noumenon in positiver Bedeutung: Dies geschieht grundsätzlich in der praktischen Philosophie. An der Art jedoch, wie dies verstanden wird, scheidet sich die Beurteilung: ob Kant in die - von ihm in seiner theoretischen Philosophie selbst überwundene - (theoretische) Metaphysik zurückgefallen sei, oder ob er seinen Begriffszusammenhang in konsequenter Weise fortgebildet hat. — Zum Begriff des Noumenon in seiner differenzierten Einheit vgl. Anm. 61/Kap. 3.4. 47 Vgl. KpV V/137 (zitiert in Anm. 42/Kap. 3.5) bzw. KpV V/43 (zitiert in Anm. 38/ Kap. 3.5). — ,Erkennen' bedeutet hier natürlich nicht spekulative sondern praktische Erkenntnis; in diesem Sinn ist auch Kants Andeutung bezüglich des Moralgesetzes als „Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft" (KpV V/29) zu verstehen. 48 D.i. das , schaffen' bzw. ,bewahren'; vgl. KpVV/49: „ ... aber der speculativen Vernunft den für sie leeren Platz offen erhalte".

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie rettete, ohne doch von solchen Gegenständen irgend etwas Bestimmtes und Erweiterndes zu erkennen zu geben, indem sie vielmehr alle Aussicht dahin gänzlich abschnitt. | Dagegen giebt das m o r a l i s c h e Gesetz ... ein ... dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärliches49 F a c t u m an die Hand, das auf eine reine Verstandeswelt Anzeige giebt, ja diese sogar p o s i t i v b e s t i m m t 5 0 und uns etwas von ihr, nämlich ein G e s e t z , e r k e n n e n läßt"51 (KpYV/42f).

49

Vgl. QMS IV/459: „Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückfuhren können, deren Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann." 50 D.i. ,Platz besetzen1 (Noumenon in positiver Bedeutung) - allerdings in der Weise praktischer Vernunft. — Vgl. KpVV/49: „Diesen leeren Platz füllt nun reine praktische Vernunft ... aus." 51 Dieses Gesetz der Autonomie ist das moralische Gesetz selbst (vgl. KpV V/43). — Es ist immer wieder dasselbe Problem: Liest man in gewohnter Weise - und das ist wohl die ,theoretische Haltung', die ja auch in der Grammatik unserer Sprache zum Ausdruck kommt -, daß „eine reine Verstandeswelt ... positiv bestimmt'''' bzw. etwas von ihr (und sei es „ein Gesetz") erkannt wird, so ergibt sich natürlich - weil innerhalb der theoretischen Ausrichtung - ein spekulativer Eindruck: Aber nicht der einer begründeten ,Zwei-Welten-Theorie', sondern der - kantisch gesprochen - des falschen dialektischen Scheins. — Denn nimmt man die immer wiederkehrenden Hinweise Kants - , relativ auf, ,zum Behufe von', ,in Absicht auf, ,nur zum1 etc. praktischen VcrmuiA-Gebrauch (d.i. „die Ausübung des moralischen Gesetzes", KpV V/138) - ernst und beginnt z.B. beim Wort ,erkennen', das als (reines)praktisches Erkenntnis ja keinen , anzuschauenden' Gegenstand besitzt sondern mit unmittelbaren „Bestimmungsgründen des Willens zu thun hat" (KpVV/20; vgl. Anm. 35/Kap. 3.5), dann sieht man, daß ja auch dieses ,Gesetz', das .erkannt' wird, nichts anderes ist als unmittelbare Willensbestimmung, von der ,Verstandeswelt' aber wird nicht mehr ,(praktisch) erkannt', als eben dieses Gesetz, von dem es heißt, es sei ein „unerklärliches Factum ", das uns vom - wiederum identischen - moralischen Gesetz „an die Hand" (KpVV/43) gegeben wird — d.h. die objektive Realität des Moralgesetzes ist dieses „Factum". Was kommt dann hier zum Ausdruck? Letztlich das Selbstbewußtsein des moralischen Subjekts. - Wenn dieses stimmt, so die jetzt anstehende Frage, wozu dann überhaupt die Rede von ,Verstandeswelt', von uns als Noumena, von Noumena in positiver Bedeutung überhaupt, vor allem von den Postulates. Gott, Freiheit, Unsterblichkeit? Der Verweis aufstellen wie die folgenden verstärkt noch dieses ,wozw?': — „Man wird also Betrachtungen dieser Art, unter ändern diejenige, welche nochmals auf den Begriff der Freiheit, aber im praktischen Gebrauche der reinen Vernunft, gerichtet worden, nicht wie Einschiebsel betrachten ... sondern als wahre Glieder, die den Zusammenhang des Systems bemerklich machen, um Begriffe, die dort nur problematisch vorgestellt werden konnten, jetzt in ihrer realen Darstellung einsehen zu lassen." (KpWH) Meine Sicht - die ich später nur kurz, soweit es eben für das Hauptinteresse dieser Schrift notwendig ist, ausführen werde - ist hier folgende: Alle in Frage gestellten ,Noumena' (einschließlich des Begriffs eines Noumenon über-

3.5 Das Noumenon als Subjekt (.Praktische Erkenntnis')

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Somit52 ist der Begriff des N o u m e n o n 5 3 ,in negativer Bedeutung' der theoretischen Vernunft als angemessen zu betrachten, ,in p o s i t i v e r Bedeutung' jedoch als adäquat der p r a k t i s c h e n Vernunft;54 wobei haupt) gehören natürlicherweise zur .theoretischen Vernunft' (.Denken'), ihre .Realität' aber ist relativ (und damit .restringiert') auf praktischen Vernunftgebrauch: „zum Behufe" der „Ausübung des moralischen Gesetzes". Denkt man jetzt an die Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft (genauer: an die transzendentalen Hypothesen im polemischen Gebrauch), so ist ganz klar, daß intellektuell-argumentative Einwände gegen die theoretische (d.i. Denk-)Möglichkeit einer realen Lebenspraxis, deren Zentrum das „Gesetz der Autonomie" ist - sie können sehr leicht, durch die durch sie hervorgerufene .Kleinmütigkeit', die moralische Kraft schwächen (diese Erfahrung ist wohl allgemein) -, durch ihnen entgegengesetzte (.polemische') .Hypothesen' neutralisierbar sind. Obwohl postulate" von ^Hypothesen' unterschieden werden müssen genügt es hier (genaueres ist in Kap. 3.5.2.2.1 zu finden), auf den bloß .subjektiv-notwendigen' Vernunft-Grund der Postulate - im Kontrast zur .objektiven Notwendigkeit' des Moralgesetzes - hinzuweisen; auch darauf, daß nicht die von Kant dargestellte .Welt' .verzaubert' ist, sondern jede mit Fetischen besetzte: seien es Dogmen der .dialektischen Vernunft' oder dieser entgegengesetzte .Entzauberungsmittel' [deren letzte Voraussetzungen ebenfalls dogmatischen Charakter tragen müssen]. — Vgl. auch Anm. 57/Kap. 3.5 (zu L.W. Beck). 52 Vgl. dazu die vorhergehenden Fußnoten. 53 Ich verweise hier nochmals auf die grundsätzliche Einheit des Begriffs des Noumenon in seinen verschiedenen Aspekten (vgl. Anm. 61/Kap. 3.4), denn mit ihr ginge ein wesentlicher „Zusammenhang des Systems" (KpWIT, vgl. das Zitat in Anm. 51/Kap. 3.5) verloren und damit viel an Weite und Spannkraft dieser Gedankenwelt. 54 Kann also das Noumenon für theoretische Vernunft berechtigterweise nur in seiner negativen Bedeutung im Denken bzw. , in der Idee' real sein — also ,in Wirklichkeit' nicht real; man denke an die .Spannung' der .objektiven Subjektivität' regulativer Vernunft (vgl. Kap. 3.4) —, so ist es für irrende (theoretische) dialektische Vernunft ebenso wie für praktische Vernunft real in positiver Bedeutung. Der gravierende Unterschied, der zugleich der grundlegende Unterschied (in der Darstellung Kants) zwischen Swedenborg und Kant ist — so erst können die geradezu aufregenden strukturellen Ähnlichkeiten zwischen beiden, wie sie in Kants Träume eines Geistersehers erscheinen, unverzerrte Würdigung finden —, besteht aber darin, daß (spekulative) dialektische Vernunft sich auf Noumena bezieht, „wie sie an sich sind" - was wir aber nicht wissen können, da sie kein möglicher Gegenstand unserer Anschauung sind; daher: dialektischer Schein, Irrtum -, praktische Vernunft aber das Denken dieser Noumena auf sich selbst (als praktische Vernunft) einschränkt; d.h. darauf, wieweit dieses ^Denken von Noumena' in notwendigem (d.i. immer: apriorischem) Zusammenhang mit der „Ausübung des moralischen Gesetzes" steht. Daß Kants Schrift über Swedenborg in die .vorkritische' Zeit Kants fällt, ist kein Einwand gegen den Vergleich mit der .kritischen' Unterscheidung von .regulativer' und .dialektischer' Vernunft; es zeigt sich hier nur die verschiedene Intention des Interpreten, was er aus der ins Auge springenden strukturellen Ähnlichkeit - der Darstellung nach, die Kant in seiner .Geisterseher'-Schrift gibt - zwischen Swedenborgs Welt geistiger Wesenheiten (Gestalten), mit denen dieser Umgang pflegt, und Kants

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

nicht außer Acht gelassen werden darf, daß diese Relativität gleichzeitig die Einschränkung der betreifenden Denk-Befugnis (und sei sie auch nur theoretisch-negativer Art) auf den jeweiligen Vemunftgebrauch bedeutet. Dem Verständnis der grundsätzlich verschiedenen Ausrichtung von theoretischer und praktischer Vernunft folgt die Frage nach ihrer E i n h e i t im r e a l e n Leben 5 5 . Dabei wird sich zeigen, daß das von Kant behauptete Primat der praktischen Vernunft sehr konkrete Bedeutung hat; ähnliches gilt für den Begriff des „höchsten Gutes" (ohne noch seine Bedeutung als Grundlage der Postulate „Gott" und „Unsterblichkeit" zu beachten). Bezüglich des Moralgesetzes schreibt Kant:56 moralisch-intelligibler (also: ,Verstandes-')Welt macht. — Wenn man berücksichtigt, daß ,Noumena' (was schon im Namen ausgedrückt wird) Gegenstände des Denkens sind und niemals der Sinne, also ausschließlich mögliche Gegenstände spekulativer Vernunft, so ist klar, daß auch am Boden praktischen Feraww/i'-Gebrauchs Spekulation' stattfindet: durch das Denken der Noumena bzw. deren Inbegriff: ,Verstandeswelt'; — der Unterschied zu dialektischer Vernunft besteht - es wurde schon gesagt - in der Relativität und damit Beschränkung dieser Spekulation' auf den praktischen Vernunftgebrauch, d.i. auf die (.praktische') Ausübung (nicht auf das .theoretische' Denken) des Moralgesetzes. Genau hier liegt das grundsätzliche Verständnisproblem·. Ob man die - notwendigerweise theoretische' - Philosophie der praktischen Vernunft theoretisch-spekulativ mißversteht - man findet dann hier alle Fetische dialektischer Vernunft und die ihnen entsprechenden Widersprüche oder nicht; anders formuliert: Die Frage ist, ob man bezüglich der , Ausübung des moralischen Gesetzes' zu unterscheiden weiß zwischen dieser (gedachten) Ausübung im Denken - nur so kann sie Gegenstand einer Philosophie sein - und der (realen) Ausübung im Leben: aber so, daß dieser Unterschied selbst - und nur dadurch ist er mehr als bloßes Begriffsspiel - nicht nur ,im Denken' sondern vor allem ,real', im Leben selbst, vollzogen wird. Denn dies ist der ganze Sinn der Formulierungen Kants, wonach „ein vernünftiges Wesen ... zwei Standpunkte [hat], daraus es sich selbst betrachten und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte ... erkennen kann, einmal ... zur Sinnenwelt ... zweitens, als zur intelligibelen Welt gehörig ..." (GMS IV/ 452), denn als „zur intelligibelen Welt gehörig" kann ich mich - tatsächlich und nicht bloß begriffsspielender Weise - nur praktisch erkennen', d.h. aber durch reale Ausübung des Moralgesetzes; denn dies ist die Grundlage, relativ auf welche allein das theoretisch-spekulative Denken ,berechtigt' möglich ist; — so sagt Kant z.B. auch, daß uns „in der That" das „moralische Gesetz der Idee nach" (KpV V/43) in eine übersinnliche Welt versetze. 55 Da es sich ja um die Eine Vernunft in verschiedenem Gebrauch handelt (vgl. z.B. Anm. 25/Kap. 3.5), ist damit zugleich die Frage nach der .Bewährung' dieser Sicht gestellt. 56 KpVV/43; es ist dies die Fortsetzung der oben (vgl. Kap. 3.5: Fußnotenreferenzen 47 bis 51) zitierten Textstelle.

3.5 Das Noumenon als Subjekt (.Praktische Erkenntnis')

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„Dieses Gesetz soll der Sinnenwelt, als einer sinnlichen Natur, (was die vernünftigen Wesen betrifft) die Form einer Verstandeswelt, d.i. einer übersinnlichen Natur, verschaffen, ohne doch jener ihrem Mechanism Abbruch zu thun"; Kant setzt fort: „Nun ist Natur im allgemeinsten Verstande die Existenz der Dinge unter Gesetzen. Die sinnliche Natur vernünftiger Wesen überhaupt ist die Existenz derselben unter empirisch bedingten Gesetzen, mithin für die Vernunft H e t e r o n o m i e . Die übersinnliche Natur eben derselben Wesen ist dagegen ihre Existenz nach Gesetzen, die von aller empirischen Bedingung unabhängig sind, mithin zur A u t o n o m i e der reinen Vernunft gehören ... Das Gesetz dieser Autonomie aber ist das moralische Gesetz ..."57 57

Wenn Kant nun schreibt: „[... ist das moralische Gesetz,] welches also das Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandeswelt ist, deren Gegenbild in der Sinnenwelt, aber doch zugleich ohne Abbruch der Gesetze derselben existiren soll. Man könnte jene die urbildliche (natura archetypa) ... diese aber ... die nachgebildete (natura ectypa) nennen" (KpV V/43), so ist der Konjunktiv („könnte ... nennen") nicht zu übersehen und auch nicht die vorher gemachte Feststellung, daß „die übersinnliche Natur, so weit wir uns einen Begriff von ihr machen können, nichts anders [ist] als eine Natur", deren Ordnung das „moralische Gesetz" ausdrückt (KpV V/43). Dieses so objekthaft formulierte „Gegenbild in der Sinnenwelt" ist im Kontext eindeutig als die „Form einer Verstandeswelt" zu verstehen, die das moralische Gesetz „der Sinnenwelt ... verschaffen" (KpV V/43) soll, also nicht als Ausdruck von ,zwei Welten' sondern als Ausdruck der Einheit der Menschen-Welt, die - .theoretisch' (wie auch sonst?) betrachtet - zwei Aspekte zeigt und die eine Welt der (geistigen) Gemeinsch aft ist. — Wenn Lewis White Beck (Kants , Kritik der praktischen Vernunft \ Ein Kommentar) von „einer ... Zwei-Aspekte-Theorie, im Gegensatz zur bekannteren Zwei-Welten-Lehre" spricht (S. 182), als deren Folge sich unter anderem „ergibt ... daß die scharfe Unterscheidung zwischen konstitutiven Kategorien und regulativen Ideen aufgegeben werden muß" (S. 183), so entspricht dies nicht dem Sinn, den die Rede von den zwei Aspekten der Vernunft in der vorliegenden Schrift hat. Denn ein grundlegender Unterschied zu Beck ist beispielsweise in dessen wiederholter Behauptung - die, allem .Vernünfteln' zum Trotz, einfach falsch ist - ausgedrückt, das moralische Gesetz sei „ein theoretischer Satz, der a priori angibt, wie ein reines Vemunftwesen handeln würde, und der kategorische Imperativ formuliert dieses Gesetz als Imperativ, mithin als einen praktischen Satz" (S. 240); — denn gerade das bedeutet [einmal abgesehen von anderem offenbaren Mißverstehen, das sich in diesem Satz Beck's konzentriert], daß Beck die - für ein adäquates Verständnis Kants unverzichtbare - Unterscheidung von theoretischem und praktischem Vemunftgebrauch in Wirklichkeit nicht trifft, sondern „einen solchen praktischen Gebrauch nur dem Namen nach kennt" (KpV V/5). Beck zitiert übrigens diesen Satz (KpV V/S) Kants (S. 264, Anm. 8/II) und fügt - offenbar ohne Selbstbezug: abstrakt richtig - hinzu: „ ... d.h. solange man die praktische Vernunft für einen Spezialfall des [theoretischen; G.R.] Erkenntnisvermögens hält." Entsprechend dürftig sind auch beispielsweise Beck's Äußerungen zu Begriffen wie .praktisches Erkenntnis' bzw. .höchstes Gut'; vgl. dazu auch Anm. 51/Kap. 3.5.

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Es geht wieder um die Frage des Kantischen Begriffszusammenhanges: um s y n t h e t i s c h e E i n h e i t a p r i o r i ; diesmal um jene des M o r a l g e s e t z e s 5 8 . Und nur so ist die Frage der z e i t l i c h e n W i r k u n g des Moralgesetzes, seiner Wirkung in der Sinnenwelt59 also, adäquat60 darzustellen. Das früher gegebene Zitat (KpV V/43) bezieht diese Frage allgemein auf das Verhältnis der ,autonomen'61 moralischen Ordnung (der ,Verstandeswelt') zur naturgesetzlich-mechanischen - bzw. relativ auf Vemunftwesen unter sinnlichem Aspekt: ,heteronomen' - Ordnung der Sinnenwelt: auf die Einheit von m o r a l i s c h e r Form und sinnlicher Materie.62 Hier ist die Bemerkung angebracht, daß „die objective Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduction ... der theoretischen ... Vernunft... bewiesen werden" (KpVV/41) kann; es ist „gleichsam ... ein Factum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist" (KpVV/41). Deshalb können wir im Kantischen Begriffszusammenhang nur wissen, „daß es reine praktische Vernunft gebe" bzw. daß „reine Vernunft wirklich praktisch ist" (KpW/3). 58

Vgl. dazu Anm. 45/Kap. 3.5; auf den hier zu beachtenden Unterschied zu den diversen Formen synthetischer Einheit a priori des theoretischen Vemunftgebrauchs wird später noch Bezug genommen werden. 59 Vgl. KpV V/114f: „Da ich aber nicht allein befugt bin, mein Dasein auch als Noumenon in einer Verstandeswelt zu denken, sondern sogar am moralischen Gesetze einen rein intellectuellen Bestimmungsgrund meiner Causalität (in der Sinnenwelt) habe..." 60 D.h. ohne das , Zwei-Welten '-MißVerständnis. 61 Da .Autonomie' für das Interesse dieser Schrift zentral ist, wird noch näheres dazu gesagt werden. 62 Vgl. dazu QMS IV/454: „ ... welches kategorische Sollen einen synthetischen Satz a priori vorstellt, dadurch daß über meinen durch sinnliche Begierden afficirten Willen noch die Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzukommt, welcher die oberste Bedingung des ersteren nach der Vernunft enthält; ungefähr so, wie zu den Anschauungen der Sinnenwelt Begriffe des Verstandes, die für sich selbst nichts als gesetzliche Form überhaupt bedeuten, hinzu kommen und dadurch synthetische Sätze a priori, auf welchen alle Erkenntniß einer Natur beruht, möglich machen." — Dieses „ungefähr so" wird im folgenden genauer dargestellt. Ich erinnere an das ,Schema der moralischen Handlung' (Kap. 2.1.2.1) als synthetische Einheit von Sinnlich-Realem (also: .empirischer Gegenstand') als ,Materie' und dem Moralgesetz (kategorischer Imperativ) als .Form'; analog der philosophischen Analyse des .empirischen Gegenstandes' nach ,Fomi' und ,Materiei (bzw. .Kategorien' und .sinnlich gegebenem Mannigfaltigen'). Dabei ist allerdings zu beachten, daß dieses Schema den hier wichtigen Unterschied des theoretischen und des praktischen Vernunft-Gebrauchs nicht ausdrücken kann.

3.5 Das Noumenon als Subjekt (, Praktische Erkenntnis')

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„Aber alsdann würde die Vernunft alle ihre Grenze überschreiten, wenn sie es sich zu erklären unterfinge, w i e reine Vernunft praktisch sein könne, welches völlig einerlei mit der Aufgabe sein würde, zu erklären, wie Freiheit möglich sei" (QMS IV/458f ).63 Dies bedeutet, daß die Einheit von moralischer Form und sinnlicher Materie nicht (theoretisch) abzuleiten oder zu begründen, sondern als , F a k t u m ' wirklich ist64 — aber als »Faktum reiner p r a k t i s c h e r Vernunft',63 das heißt als reale, immerwährende, aber nie zu vollendende66 A u f g a b e der V e r w i r k l i c h u n g . 63

Da „erklären" bedeutet, „auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann" (QMS IV/459), so schließt das Nicht-erklären-Können bloßes .Denken-Können' nicht aus; dieses geschieht hier, und zwar der Frage entsprechend, die Philosophie - undogmatisch und zugleich weltorientierend - immer wieder stellen muß: wie etwas, das .Gewicht' hat, sinnvoll gedacht werden könne. — Daß diese Frage eines .Grundes' bedarf, der sie vor bloßem Scharfsinn und vor intellektuellem Spiel bewahrt, steht außer Zweifel; ebenso, daß diese Bemerkung jene Unterscheidung voraussetzt, die Kant im Rahmen seiner Terminologie durch die Entgegensetzung von bloß logischer Denkmöglichkeit und transzendental-logischer, realer Möglichkeit explizit gemacht hat. 64 Die Frage des ^Faktums der Vernunft' wird noch Beachtung finden. Hier nur so viel: Es ist kein Dogma der theoretischen Vernunft; es ist ein .Faktum' praktischer Vernunft, nichts .besteht' hier statisch. .Potenz' drängt - durch .uns' als .Vemunftwesen' unter .sinnlichem' und .übersinnlichem' .Aspekt' - zu Aktualität: „Werde, der du bist!" 65 Daß mit der „reinen Vernunft", von deren ,,einzige[m] Factum" (KpV V/31) Kant spricht, „nur reine praktische Vernunft" - also .reine Vernunft' als Vermögen des praktischen Prinzips - gemeint sein kann, müßte als unbestritten gelten, zumal der nächste Satz lautet: „Folgerung. | Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und giebt (dem Menschen)... das Sittengesetz ... ". L.W. Beck (Kommentar S. 159ff) legt sich zwar auf das Verständnis des Ausdrucks: .reine Vernunft' (in diesem Kontext) als ,theoretische' nicht explizit fest, seine unbefriedigende Argumentation hinsichtlich des .Faktums' kann aber nur sinnvoll scheinen, wenn sowohl .reine Vernunft' als auch .erkennen' in diesen Zusammenhängen als .theoretisch' mißverstanden werden; — vgl. z.B. S. 162f: „Da aber das moralische Gesetz - das Faktumyiir die reine Vernunft - nichts anderes als die Gesetzgebung der Vernunft selbst ausdrückt, spiegelt sich im Faktum för die reine Vernunft nur das Faktum der reinen Vernunft wider". Dem entspricht konsequent die schon erwähnte Behauptung Beck's, das Moralgesetz sei ein theoretischer Satz' a priori (vgl. Anm. 57/Kap. 3.5). — Der nächste Satz zeigt die hier vorhandene Absurdität deutlich auf; man kann da mit Kai Nielsen dieses ,Wesen' nur auf die Möglichkeit hinweisen, sich solcher .gültiger Gesetze' mit Hilfe kompetenter Psychotherapeuten zu entledigen: „Wenn ein Wesen glaubt, es gebe eine Verpflichtung, so gibt es für dieses Wesen ein gültiges Gesetz" (Beck, S. 163). 66 Vgl. KpW/32f: „ ... von welchem ins Unendliche gehenden Progressus seiner Maximen und Unwandelbarkeit derselben zum beständigen Fortschreiten sicher zu sein, d.i. Tugend, das Höchste ist, was endliche praktische Vernunft bewirken kann ..."

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Es s c h e i n t nun die F r a g e zu sein, wie dieser Aufgabe primär entsprochen werden kann: durch die jeweilige »moralische Handlung', die als ,Handlung' empirisch real ist, oder durch die jeweilige — empirisch nicht reale67 — Maxime 6 8 einer ,moralischen Handlung' (also unabhängig vom empirisch-realen Erfolg). Der hierin enthaltenen — auch heute noch im ,Denken' wie im ,Leben' vertretenen — f a l s c h e n A l t e r n a t i v e von sogenannter ,Gesinnungsethik' oder ,Erfolgs-' bzw. »Verantwortungsethik'69 entspricht die für den gegenwärtigen Zusammenhang wichtige, aber leicht in die Irre fuhrende Frage nach der ,sinnlichen Materie' der ,moralischen Form': Denn vor allem durch Textstellen (wie die im folgenden - Kap. 3.5.1 - gebotenen: KpVV/65, 66), die den — „in der Welt"70 vereinigten — theoretischen und praktischen Vemunftgebrauch (denk-) konsequent (theoretisch-abstrakt) auseinander halten, wird a n s c h e i n e n d ein nicht überbrückbarer Graben aufgetan: zwischen den Begriffen empirisch-realer Objekte — dazu gehören natürlicherweise auch alle empirisch-realen Handlungsereignisse — theoretischer Vemunfterkenntnis und den Begriffen der Objekte - ,das Gute' und ,das Böse' - praktischer Vemunfterkenntnis.71 67

Genauer: die (moralische) Form der Maxime ist kein möglicher Gegenstand der psychologischen Selbstbeobachtung (vgl. Anm. 108/Kap. 3.5). 68 Vgl. KpVV/\9: „§ 1.1 Erklärung. | Praktische Grundsätze sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten ... Sie sind subjectiv oder Maximen, wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjects gültig von ihm angesehen wird; objectiv aber oder praktische Gesetze, wenn jene als objectiv, d.i. für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig, erkannt wird." — Gleich anschließend die „Anmerkung. | Wenn man annimmt, daß reine Vernunft einen praktisch, d.i. zur Willensbestimmung hinreichenden Grund in sich enthalten könne, so giebt es praktische Gesetze; wo aber nicht, so werden alle praktische Grundsätze bloße Maximen sein." Der aus dem Kommentar von L.W. Beck früher (Anm. 65/Kap. 3.5) zitierte Satz: „Wenn ein Wesen glaubt, es gebe eine Verpflichtung, so gibt es für dieses Wesen ein gültiges Gesetz" zeigt im bloßen Vergleich mit dem eben gegebenen Kant-Zitat seinen philosophischen Ort wohl deutlich genug an. — Vgl. auch QMS IV/420f (Anm.**): „Maxime ist das subjective Princip zu handeln ... und ist also der Grundsatz, nach welchem das Subject handelt, das Gesetz aber ist das objective Princip ... und der Grundsatz, nach dem es handeln soll, d.i. ein Imperativ." — GMS IV/400n: „Maxime ist das subjective Princip des Wollens; das objective Princip ... ist das praktische Gesetz." 69 Vgl. z.B. Max Weber, Politik als Beruf. Weber polemisiert gegen eine Karikatur von ,Gesinnungsethik' und profiliert damit die eigene Position, die aber insoweit derjenigen Kants - und nicht derjenigen, die von vielen Kant zugeschoben wird - ähnlich ist, als sie nicht unter dieser Alternative steht bzw. diese , in sich' enthält. 70 Ich denke hier an den Begriff des „höchsten Guts in der Welt".

3.5 Das Noumenon als Subjekt (.Praktische Erkenntnis')

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3.5.1 Zum Begriff des apriorischen Objekts reinen praktischen Vemunftgebrauchs (Das ,Sittlich-Gute' und das ,höchste Gut in der Welt') Wenn ich im folgenden kurz darzustellen versuche, daß diese Objekte praktischer Vernunft - soweit es das »Sittlich-Gute' bzw. ,-Böse' betrifft a n a l o g dem ,transzendentalen Gegenstand = X' aufzufassen sind, so bitte ich zu beachten, daß die hier vorgelegte S k i z z e des Begriffs des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie nicht jeden erwähnten Punkt gleich ausfuhrlich darstellen und damit belegen kann.72 Man wird aber auch hier, so glaube ich, bei kompetenter und vorurteilsarmer Betrachtung 71

Es kann nicht klar genug sein: Theoretische Erkenntnis steht ihren Objekten gegenüber, ,schaut' sie an. Praktische Erkenntnis verwirklicht ihre .Objekte'. — Zum Begriff des Gegenstandes der praktischen FmiMH//(-Erkenntnis) vgl. KpV V/58: „Die alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft sind also die vom Guten und Bösen. Denn durch das erstere versteht man einen notwendigen Gegenstand des Begehrungs-, durch das zweite des Verabscheuungsvermögens, beides aber nach einem Princip der Vernunft." — KpV V/60: „Das Gute oder Böse wird also eigentlich auf Handlungen, nicht auf den Empfindungszustand der Person bezogen, und sollte etwas schlechthin (und in aller Absicht und ohne weitere Bedingung [d.i. .kategorisch'; G.R.]) gut oder böse sein oder dafür gehalten werden, so würde es nur die Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die handelnde Person selbst als guter oder böser Mensch, nicht aber eine Sache sein, die so genannt werden könnte." Also: Das .Gute' oder ,Böse' als Gegenstand praktischer Vernunft überhaupt (d.i. einschließlich empirischer praktischer Vernunft) bezieht sich auf Handlungen, als Gegenstand reiner praktischer Vernunft auf die Handlungsart (Maxime) bzw. auf die handelnde Person selbst [Hier ist schon die Auflösung des genannten Problems enthalten]. 72 Auf hinreichende Fundierung wird selbstverständlich Wert gelegt. Es geht in dieser .Skizze' grundsätzlich darum, die systematische Einheit der Kantischen Philosophie spürbar werden zu lassen, ohne selbst .systembildend' tätig werden zu wollen (wie dies in der Vergangenheit in großem Maßstab z.B. Fichte versucht hat); dies geschieht — ich habe es an früherer Stelle gesagt und bis jetzt so gehalten — dadurch, daß ich an der leitenden Frage nach dem Ding an sich — diesem Zentralbegriff aller systematischen Zusammenhänge Kants — bestimmte Punkte bis ins einzelne an Hand der Kantischen Texte zu klären versuche: sozusagen als tragende .Pfeiler' der vorgelegten Gesamtsicht der Kantischen Philosophie, die sich .von oben her', d.h. von dieser Sicht des systematischen Gesamtzusammenhanges aus, .hinunter' — in den historisch-realen Kantischen Text; wobei diese Gesamtsicht zuerst aus umfassender Auseinandersetzung mit eben diesem Text entstanden war — senken; und man hört „nicht deshalb ... auf, die Pfeiler tiefer hineinzutreiben, weil man auf eine feste Schicht gestoßen ist: wenn man hofft, daß sie das Gebäude tragen werden, beschließt man, sich vorläufig mit der Festigkeit der Pfeiler zu begnügen" (Karl R. Popper, Logik der Forschung S. 76).

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

zumindest akzeptieren müssen, daß nicht ,verbiegende' Kant-Begeisterung sondern k o n s e q u e n t e Denkweise zu bemerkenswerten Einsichten in die s y s t e m a t i s c h e Kraft Kantischen Philosophierens fuhrt. „ ... die Begriffe des Guten und Bösen als Folgen der Willensbestimmung a priori ... beziehen ... sich ursprünglich nicht (etwa als Bestimmungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen gegebener Anschauungen in einem Bewußtsein) auf Objecte, wie die reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien ... sie setzen diese [Objekte; G.R.] vielmehr als gegeben voraus ... Da indessen die Handlungen e i n e r s e i t s ... unter einem ... G e s e t z der F r e i h e i t ... folglich zu dem Verhalten intelligibeler Wesen, a n d e r e r s e i t s aber ... als Begebenheiten in der Sinnenwelt zu den E r s c h e i n u n g e n gehören, so werden die Bestimmungen einer praktischen Vernunft nur in Beziehung auf die letztere, folglich zwar den Kategorien des Verstandes gemäß,73 aber n i c h t in der Absicht eines theoretischen Gebrauchs desselben, um das Mannigfaltige der (sinnlichen) Anschauung unter ein Bewußtsein a priori zu bringen, sondern nur um das Mannigfaltige der Begehrungen74 der Einheit des Bewußtseins einer im 73

Entsprechen theoretischem Vemunftgebrauch die Kategorien des Verstandes (als „Kategorien der Natur"), so dem praktischen Vemunftgebrauch die „Kategorien der Freiheit" (\gl.KpV V/65). 74 ,Begehrungen' sind hier also nicht in ,theoretischer' Hinsicht zu verstehen, als Objekte unserer inneren, sinnlichen Anschauung; denn es geht hier nicht darum, die eventuell vorhandene Spannung zwischen .Pflicht' - eine „Kategorie der Freiheit"; vgl. KpV V/66 - und ,Neigung' zu betrachten und somit, theoretische Erkenntnis' zu haben. — Dabei stellt sich ja das - wiederum theoretische - Problem, daß alles, was unserer inneren Anschauung Objekt sein kann, zeitlich strukturiert (also empirisch real) ist, ,Pflicht' aber der Begriff von Etwas ist, das grundsätzlich kein empirischer Gegenstand sein kann. Daher bietet psychologische Selbstbeobachtung nur .Neigungen': - und sei es auch eine Neigung mit dem Namen .Pflicht'. — Es geht ja um die Maxime der in Frage stehenden Handlung, um Willensbestimmung'. Ob die Maxime die Struktur des Amoralischen Prinzips'' bzw. des .kategorischen Imperativs' bzw. der .Pflicht' bzw. des .reinen Willens' bzw. der .Form der Gesetzmäßigkeit' (potentiell) in sich trägt oder das Zeichen der ^Selbstliebe" (.Neigung'), die Struktur potentieller Ausnahme vom allgemeinen Gesetz, d.h. die bloß bedingte Bereitschaft, der moralischen Forderung nur bis zu einem gewissen Grad der „Demütigung" (vgl. KpV V/ 74 ff) der eigenen Neigungen entsprechen zu wollen; daraus entstehen die bloß , legalen1 Handlungen (sozusagen .unterhalb' der .Schmerzschwelle') bzw. die moralisch-,bösen' Handlungen (.darüber'; wenn man sich die .Ausnahme' tatsächlich bzw. .aktuell' zubilligt). — Das .Moralgesetz' steht aber nicht für bedingte, sondern für un-bedingte Folgebereitschaft. — Vgl. QMS IV/400f: „ ... also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als objectiv das Gesetz und subjectiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime, einem solchen Gesetze selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen Folge zu leisten." — Die Frage nach

3.5 Das Noumenon als Subjekt (, Praktische Erkenntnis')

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moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft oder eines reinen Willens a priori zu unterwerfen, Statt haben können" (KpWI65); und KpV V/66: „ ... da es in allen Vorschriften der reinen praktischen Vernunft nur um die W i l l e n s b e s t i m m u n g , nicht um die Naturbedingungen (des praktischen Vermögens) der Ausführung seiner Absicht zu thun ist, die praktischen Begriffe a priori in Beziehung auf das oberste Princip der Freiheit sogleich Erkenntnisse werden und nicht auf Anschauungen warten dürfen, um Bedeutung zu bekommen ... weil sie die Wirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen, (die Willensgesinnung) selbst hervorbringen, welches gar nicht die Sache theoretischer Begriffe ist." In dreimaligem Formulierungsversuch sagt dieses Zitat aus, daß die synthetisch-p r a k t i s c h e Einheit a priori75 nicht auf das Mannigfaltige der (sinnlichen) Anschauung bezogen ist76 - dieses77 wird „vielmehr als dieser un-bedingten, d.i. un-mittelbaren Willensbestimmung bzw. Bestimmung der (Handlungs-)Maxime ist die Frage nach der praktischen Vernunft; wobei wir [vgl. KpV V/3, GMS IV/458f; zitiert in Kap. 3.5 vor Fußnotenreferenz 63] nur wissen, „daß es reine praktische Vernunft gebe" (KpV V/3), nicht aber, -wie sie möglich ist. — Das ,intellektuell gewirkte' Gefühl der ,Achtung vor dem Gesetz' hat damit zu tun, daß wir das .Faktum praktischer Vernunft' ^wissen' können; vgl. dazu vor allem KpV V/71 ff (Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft). 75 D.i. die „Einheit des Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft" (KpVV/65). Wenn ich oben (am Anfang von Kap. 3.5.1) diese synfftefiscA-praktische Einheit des Sittlich-Guten in Analogie zum .transzendentalen Gegenstand = X' gesetzt habe, so ist dessen früher erfolgte Bezeichnung als „in gewissem Sinn eine Art analytische Einheit" [Anm. 58/Kap. 2; vgl. Anm. */Kap. 3 (nach Fußnotenreferenz 3)] kein Widerspruch dazu, sondern der Grund dafür: Denn in beiden Fällen bleibt das Vermögen der entsprechenden Prinzipien bei sich selbst. — Vgl. den Kontrast der Einheit des Sittlich-Guten bzw. der moralischen Maxime - hier ist praktische Vernunft allein bestimmend - zur Einheit der empirisch-realen .moralischen Handlung' (hier sind die ,Naturbedingungen' bestimmend). Die etwas gewundene Ausdrucksweise hinsichtlich der angesprochenen .Analytizität' des , transzendentalen Gegenstandes = X' ist darauf zurückzuführen, daß dieser Begriff für die objektiviert gedachte, leere kategoriale Verstandeseinheit zwei Verstandes-Aspe/rte unterschiedslos betrifft, obwohl diese unterschieden sind: ,2.2.1.2.1: Leerer Verstand' ohne die Möglichkeit von sinnlich-gegebenem Mannigfaltigen und ,2.2.1.2.2: Konstitutiver Verstand' als bloß ,isoliert' gedacht von allem .sinnlich-gegebenen Mannigfaltigen (a priori)'. — Vgl. Kap. 2.1.1 und Kap. 3.2. 76 Dies wäre ja der .theoretische Gebrauch'; es geht aber auch nicht um die Naturbedingungen (des technisch-praktischen Vermögens) der Ausführung einer Absicht; denn auch dies, einschließlich aller hypothetischen Imperative (d.i. die .Zweckrationalität' z.B. empiristischer Philosophie), ist theoretischer Vernunftgebrauch. 77 D.h. genauer: die empirischen Gegenstände bzw. die möglichen Objekte empirisch-wissenschaftlicher Erkenntnis, die grundsätzlich .theoretisch' ist; vgl. den Anfang des Zitates KpV V/65.

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gegeben" vorausgesetzt -, sondern nur auf „das Mannigfaltige der Begehrungen"; und das bedeutet eben, daß es der „reinen praktischen Vernunft nur um die Willensbestimmung" geht, ausschließlich um praktische Erkenntnis, und insofern um jene Wirklichkeit, die sie selbst (,autonom') hervorbringt: die unmittelbar bestimmte ,Willensgesinnung'; diese aber ist die M a x i m e jeder moralischen Handlung.78 In diesem Sinne ist auch das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft": „Handle so, daß die M a x i m e deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne" (KpV V/30), auf die M a x i m e der Handlung bezogen und nicht auf die empirisch-reale Handlung selbst. Formulierungen wie die eben gebrauchte sind zwar schwer vermeidbar - und auch bei Kant reichlich zu finden -, jedoch irreführend, wenn die Maxime einer empirisch-realen Handlung und diese empirisch-reale Handlung selbst in der Art zweier voneinander unterschiedener Gegenstände auf gleichem ,ontologischen Niveau'79 aufgefaßt werden. Ich meine folgendes: Im Verlauf dieser, an der Frage des Dinges an sich ausgerichteten Skizze zentraler Begriffszusammenhänge Kantischer Philo78

Da reine praktische Vernunft nur .moralisch gute' Handlungen fordert, steht hier dafür der Ausdruck: ,moralische Handlung'. Handlungen, deren Maxime durch das Prinzip der Selbstliebe bestimmt sind, können niemals ,moralisch' (d.i. ,um des Gesetzes willen') sondern bloß .legal' (d.i. .bedingt' bzw. .mittelbar' durch Neigung dem Gesetz gemäß) sein, oder sie verstoßen - ebenfalls bedingt bzw. mittelbar durch Neigung - gegen das (Moral-)Gesetz; im letzteren Fall wären sie als moralisch schlechte (.böse') Handlungen zu bezeichnen. — Die Schrift: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft kennt noch den Begriff einer potentiellen Maxime von .teuflischer' Qualität (vgl. z.B. ÄGFVI/35): ihr Bestimmungsgrund wäre unbedingt bzw. unmittelbar gegen das Moralgesetz gerichtet. - Zur Identifizierung von .Maxime' und .Gesinnung' vgl. z.B. RGVVl/66(. 79 Der Horizont des Problems ist wiederum die Ansicht von den ,zwei Welten'. Die kritische Philosophie Kants kann geradezu als Anleitung betrachtet werden, dieses statische, in sich selbst beschränkte Denken [dessen Ausdruck beispielsweise das Unvermögen ist, die in Frage stehenden Beziehungen anders als in der Art zweier einander entgegenstehender .Welten' aufnehmen zu können] durch konsequentes, sich selbst relativierendes Denken - das aber dabei seinen .Boden' nicht verliert, sondern festigt - überwinden zu lernen; also nicht durch Verlust an intellektueller Konsequenz, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit und Seriosität kann das Niveau der kritischen Philosophie erreicht werden, sondern durch nochmalige Steigerung dieser so grundlegenden Werte. — Unter .Niveau' ist hier natürlich die philosophische Ebene gemeint, nicht aber jeder - historisch betrachtet: - .Lehrinhalt' der kritischen Philosophie; und es ist natürlich auch nicht gemeint, daß bloßes Reden von dieser Ebene - in welcher Terminologie immer - und ihre Geistigkeit, um die allein es hier geht, dasselbe sind.

3.5 Das Noumenon als Subjekt (, Praktische Erkenntnis')

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sophie fand auch der Begriff des ,transzendentalen Gegenstandes = X' als gegenständlich vorgestellte Einheit des leeren kategorialen Verstandes seine Darstellung. Bildhaft gesprochen war dann von der Bereinigung' dieses »Gegenstandes' mit Einheiten des sinnlich gegebenen Mannigfaltigen die Rede zur - nicht ,leeren' sondern ,konstitutiven', mit dem Sinnlich-Mannigfaltigen ,erfüllten' - ,Verstandeseinheit': ,subjektiv' des einzelnen empirischen Erkenntnisses bzw. ,objektiv' des jeweiligen empirischen Gegenstandes (Phaenomenon). Dieser , transzendentale Gegenstand = X' war - eben als ,leere', b l o ß f o r m a l e , objektiviert gedachte Einheit - von den ,Noumena' klar zu unterscheiden.80 Analoges - allerdings jetzt bezogen auf p r a k t i s c h e n Vemunftgebrauch (,verwirklichen') - gilt „von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft" (KpV V/57). Da sagt Kant: „Unter dem Begriffe eines Gegenstandes der praktischen Vernunft verstehe ich die Vorstellung eines Objects als einer möglichen Wirkung durch Freiheit";81 und später, nachdem explizit „das Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft" (KpV V/62) festgestellt wurde, „daß nämlich der Begriff des Guten und Bösen n i c h t v o r dem moralischen Gesetze (dem er dem Anschein nach sogar zum Grunde gelegt werden müßte), s o n d e r n nur (wie hier auch geschieht) nach demselben und d u r c h dasselbe bestimmt werden müsse" (Ä/?F V/62f),82 steht zu lesen:83 80

.Klar' ist natürlich bezogen auf die hier vorgelegte Sicht der Kantischen Philosophie in ihrem Zusammenhang; Bücher wie das von Erich Adickes z.B. (Kant und das Ding an sich) beseitigen dagegen mögliche Klarheit auf mancherlei Weise: z.B. durch nur scheinbare Objektivität. 81 Die folgenden Passagen lese ich so - und das entspricht zwar Kantischem Stil, erleichtert aber nicht das Verständnis -, daß die Unterscheidung, um die es hier geht — der empirische Gegenstand und seine ,moralische Form': der eigentliche ,Gegenstand' der praktischen Vernunft —, noch nicht getroffen ist [so heißt es ja erst eine Seite weiter (KpV V/58): „Die alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft sind also die vom Guten und Bösen"]. ^ D.h. daß das apriorische Prinzip synthetisch-pra/ctecAer Einheit (d.i. das Moralgesetz) sein apriorisches Objekt - d.i. das ,Gute' bzw. als dessen Gegenteil: das ,Böse' bestimmt bzw. die eigene Einheit .objektiviert*. — Der Begriff des Guten wäre insofern vor allem vergleichbar dem .transzendentalen Gegenstand = X': Alle anderen bisher betrachteten .Gegenstände' apriorischer (synthetischer) Einheit sind in irgendeiner Weise auf sinnliche Rezeptivität (Anschauung) bezogen. — Praktische Vernunft aber realisiert ihre .Gegenstände' autonom; vgl. KpW/66: „ ... die praktischen Begriffe a priori [d.s. die ,Kategorien der Freiheit'; G.R.] in Beziehung auf das oberste Princip der Freiheit sogleich Erkenntnisse werden und nicht auf Anschauungen warten dürfen, um Bedeutung zu bekommen"; vgl. auch Anm. 75/Kap.3.5. — Diese apriorische Bestimmung von .Objekten' ist ja durchgängiges Merkmal der Kantischen

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„Da nun die Begriffe des Guten und Bösen als Folgen der Willensbestimmung a priori auch ein reines praktisches Princip, mithin eine Causalität der reinen Vernunft voraussetzen: so beziehen sie sich ursprünglich nicht ... auf Objecte, wie die reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien der theoretisch gebrauchten Vernunft, sie setzen diese vielmehr als gegeben voraus; sondern sie sind insgesammt modi einer einzigen Kategorie, nämlich der der Causalität,84 so fern der Bestimmungsgrund derselben in der Vernunftvorstellung eines Gesetzes derselben besteht, welches als Gesetz der Freiheit die Vernunft sich selbst giebt und dadurch sich a priori als praktisch beweiset." Philosophie: So fragt Kant beispielsweise ziemlich paradox [PMW (§8) IV/281f]: „ ... wie ist es möglich, etwas a priori anzuschauen?" bzw. „ ... wie kann Anschauung des Gegenstandes vor dem Gegenstande selbst vorhergehen?", und er antwortet [PMW (§ 9) IV/282]: „Es ist also nur auf eine einzige Art möglich, daß meine Anschauung vor der Wirklichkeit des Gegenstandes vorhergehe und als Erkenntniß a priori stattfinde, wenn sie nämlich nichts anders enthält, als die Form der Sinnlichkeit, die in meinem Subject vor allen wirklichen Eindrücken vorhergeht...". 83 KpV V/65; vgl. das Zitat KpV V/65 (am Anfang von Kap. 3.5.1). 84 Vgl. im selben Zitat etwas vorher: „... mithin eine Causalität der reinen Vernunft voraussetzen". ,Reine Vernunft' ist im gegebenen Zusammenhang eindeutig ,reine praktische Vernunft'; daher ist die hier angesprochene ,Kausalität' nicht dem .Gesetz der sinnlichen Natur', sondern dem ,Gesetz der Freiheit' gemäß. Zum Verständnis dieser Rede von ,Kausalität' trägt vielleicht folgendes Zitat bei. Im Zusammenhang mit der „Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut" sagt Kant (KpV V/111): „Zwei in einem Begriffe nothwendig verbundene Bestimmungen müssen als Grund und Folge verknüpft sein, und zwar entweder so, daß diese Einheit als analytisch (logische Verknüpfung) oder als synthetisch (reale Verbindung), jene nach dem Gesetze der Identität, diese der Causalität betrachtet wird." — Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kants Bestimmung des Primats der praktischen Vernunft: „Unter dem Primate zwischen zwei oder mehreren durch Vernunft verbundenen Dingen verstehe ich den Vorzug des einen, der erste Bestimmungsgrund der Verbindung mit allen übrigen zu sein" (KpV V/119); bzw.: „In der Verbindung ... der reinen speculativen mit der reinen praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse führt die letztere das Primat, vorausgesetzt ... daß diese Verbindung ... a priori auf der Vernunft selbst gegründet, mithin nothwendig sei" (KpV V/121). — Die Frage, ob diese .Verbindung' .analytisch' oder .synthetisch' (im Sinne von KpV V/111) ist, beantwortet ein Blick auf den Begriff des höchsten Guts: Dessen beide .Aspekte', .Sittlichkeit* und .Glückseligkeit', — am Boden praktischer Vernunft der Unterscheidung von praktischem und theoretischem Vernunftgebrauch scheinbar [vgl. meine „Bemerkung ..." am Anfang von Kap. 3.5.1.2 (Anm.*)] entsprechend — bilden eine synthetische Einheit (vgl. KpVV/U2f). Somit ist der Naturkausalität (synthetische Einheit der .theoretischen' Verstandeskategorien) analog die .praktische Kategorie': Kausalität aus (bzw. .durch1) Freiheit (synthetische Einheit des .praktischen Vernunftprinzips', d.i. des Moralgesetzes). — Dieser praktischen synthetischen Einheit a priori ist also die theoretische synthetische

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Diese „Begriffe des Guten und Bösen" — wie es jetzt in der Mehrzahl heißt, weil die Kategorie der Kausalität, sofern sie ,Freiheit' ausdrückt (d.h. Struktur der V e r w i r k l i c h u n g von »Freiheit' ist), durch Kant in vertrauter,85 doch modifizierter86 Weise vorgestellt wird — können also87 als ,Objekte' gedacht werden, die nichts »enthalten' als die jeweilige synthetische Einheit der praktischen Vernunft. S o f e r n nun das Moralgesetz (d.h. die synthetische Einheit a priori reiner praktischer Vernunft) im ,Objekt': ,das Sittlich-Gute'88 - also ,objektiviert' - gedacht ist, ist die B e z i e h u n g der synthetisch-praktischen Einheit a priori auf dieses apriorische ,Objekt' (das »Sittlich-Gute') derjenigen der »theoretischen' synthetischen Einheit a priori der reinen Verstandeskategorien auf das Einheit a priori der (Verstandes-)Kategorien analog; aber auch - über den vorliegenden Zusammenhang hinaus - die synthetische Einheit a priori der (Vernunft-)A/een: Hier liegt das Schwergewicht in KrV - vgl. „Von dem Ideal des höchsten Guts ...", KrVA 804ff/B 832ff - und KpV auf dem Begriff des ,höchsten Guts' [d.i. die Basis der beiden Postulate: .Gott' und .Unsterblichkeit'], in RGV dagegen - konsequent auf das moralische Subjekt bezogen - auf dem Begriff der Totalität der ^Gesinnung' (bzw. ^Maximen1", vgl. dazu z.B. RGV VI/66f). — Diesen interessanten Verbindungen kann ich im Rahmen der vorliegenden Schrift nicht ausfuhrlich nachgehen: hier sollte nur ihre Richtung angedeutet werden. — Vgl. dazu Anm. 11 l/Kap. 3.5 und 138/Kap. 3.5. Jeder dieser Versuche Kants, praktische synthetische Einheit a priori1 zu denken, ist ein Beitrag zu einer begrifflichen Lösung der Frage nach der ,Ein-Wirkung' des Moralgesetzes auf die , Sinnenwelt', die nicht in der - zumindest für eine durch neuzeitliche Wissenschaft geprägte Zeit: absurden - Voraussetzung einer ,Zweiten Welt' (,Hinter-Welf) gründet. 85 Vgl. die „Tafel der Kategorien" des Verstandes (KrVA 80/B 106). 86 Vgl. Anm. 29 (1. Hälfte)/Kap. 3.5. 87 Vgl. Anm. 84/Kap. 3.5. 88 Vgl. KpVV/63f. — Daß ich hier und im folgenden nur vom ,Sittlich-Gute«' spreche und nicht auch von seinem Gegenteil, hat damit zu tun, daß die ,Forderung' des Moralgesetzes (als »kategorischer Imperativ') ja darin besteht, das Sittlich-Gute zu verwirklichen. Für ,Sittlich-Böses' gilt ja einfach das .Verkehrte'; im übrigen spricht Kant selbst - hinsichtlich des höchsten Guts - auch nicht von dessen Gegenteil; dies ist, so glaube ich, nicht nur durch die Ablehnung eines (gnostischen) Gegen-Gottes zu erklären. Die Amoralische Forderung' kann - es wurde schon früher erwähnt im gegenwärtigen Begn#j-Zusammenhang, der als Denk-Zusammenhang notwendig .theoretisch' bzw. .spekulativ' ist — ob es sich nun um Begriffe relativ auf praktischen oder auf theoretischen Vemunftgebrauch handelt; zu dieser .Relativität' vgl. Kap. 3.4 —, so ausgedrückt werden, daß es um die - als Struktur der theoretischen Philosophie schon bekannte - Frage der synthetischen Einheit a priori von Form und Materie geht: und zwar um die der (moralischen) Form einer .intelligibelen Welt' (vgl. z.B. CMS IV/454) und der (sinnlichen) Materie [Daran schloß sich früher die - als leicht in die Irre führend bewertete - Frage an, was diese .sinnliche Materie' bedeute: die empirisch-reale Handlung selbst oder ,nur' deren Maxime].

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»transzendentale Objekt = X' analog.89 Besitzt aber leerer (bzw. von aller Sinnlichkeit ,isolierter') kategorialer Verstand nur diesen einen, gegenständlichen Reflex seiner selbst, so ist die Relation des synthetisch-praktischen ,Prinzips' a priori90 vielfaltiger: Es ist d a r ü b e r h i n a u s in Analogie zur Vernunfteinheit (,Ideen')91 einerseits relativ auf das apriorische Objekt der unbedingten T o t a l i t ä t des G e g e n s t a n d e s der reinen praktischen Vernunft unter dem Namen des ,höchsten Guts' (KpV V/108), andererseits - in einer ,neuen' Wendung zum , S u b j e k t ' relativ auf die ,Totalität der Gesinnung'. 9 2 89

Vgl. Anm. 75/Kap. 3.5. — Daß das apriorische Objekt reiner praktischer Vernunft nicht,transzendental' genannt wird, hat mit denselben Gründen zu tun, aus welchen Kant das ,Moralische' zwar als (synthetisch-)apriorisch, aber nicht als .transzendental' betrachtet (vgl. z.B. KrYA 805/B 833; vgl. dazu auch Kap. 4). 90 Wenn nun ,Prinzip' statt ,Einheit' gesagt wird, so ist in beiden Fällen dieselbe .Form' gemeint; .Prinzip' soll hier einfach auf .Vernunft-Einheit' einstimmen. 91 D.i. der .transzendentale Gegenstand' als .Schema der Idee'. — Diese Analogie betrifft die - im Kontrast zur objektiv-apriorischen Gültigkeit der (.konstitutiven') Kategorien - nur subjektiv-apriorische Gültigkeit theoretischer Vemunfteinheit. Man denke an die (subjektive) synthetische Einheit des .höchsten Guts' und den darauf vermittelst der Postulate ,Gott' und .Unsterblichkeit' gegründeten , subjektiv-notwendigen" Vernunftglauben. — Hinsichtlich des .Sittlich-Guten' - bzw. .Sittlichkeit' oder .Tugend'; das .oberste Gut1 (vgl. z.B. KpV V/110f) - ist von einer objektiv-apriorischen Gültigkeit des synthetisch-praktischen Prinzips a priori (Moralgesetz) zu sprechen: in Analogie zur objektiv-apriorischen Gültigkeit der Verstandeskategorien [objektiviert gedacht als .transzendentaler Gegenstand = X'; vgl. dazu Anm. 84/ Kap. 3.5, auch Anm. 75/Kap. 3.5]. 92 Vgl. Anm. 84/Kap. 3.5. — Dieser Hinweis ist kein mußiges, in sich leeres, manchem vielleicht fragwürdiges Begriffsspiel; er bedeutet wesentliche Strukturen (hier zugleich: .Wege') im Gesamtzusammenhang Kantischer Philosophie. Die .subjektiv-apriorische' Gültigkeit des .objektiv' auf das höchste Gut — insofern der subjektiv-apriorischen .Objektivität' der (theoretisch-)regulativen Vernunftprinzipien, bzw. der .teleologischen Urteilskraft', entsprechend — bezogenen synthetisch-praktischen Prinzips a priori ist also - in .subjektiver' Wendung - auf das .Subjekt' dieses Prinzips bezogen. — Dies entspricht übrigens der UnterscheidungsiiniJtiwr der .ästhetischen Urteilskraft' als .subjektivem' Prinzip von der .teleologischen Urteilskraft' als .objektivem' Prinzip, die, als die beiden einzigen Prinzipien reflektierender Urteilskraft', grundsätzlich .subjektiv-apriorisch' - im Kontrast zur .objektiv-apriorischen', .bestimmenden' Urteilskraft - sind. Ich muß es mir u.a. aus Zeit- und auch aus Platzgründen versagen, diesen hier aufscheinenden Weg weiter zu gehen: Er würde zumindest an Begriffe wie .konkretes Gesetz' oder .moralisches Genie', auch .schöne Seele' beispielsweise, heranführen, und zwar in einer Form, die nicht mit der Verwirrung des fundamentalen und klaren Unterschiedes von .kategorischer' Sittlichkeit und .bedingter', letztlich irrationaler Gefühls- bzw. Lebenskultur einhergeht. — Kurz gesagt, dieser Weg zeigt - , außen' betrachtet - geradeaus in die .Romantik', und diese Sicht ist historisch dar-

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Während aber - bildhaft gesprochen - der ,leere', transzendentale Gegenstand = X' ( F o r m ) relativ auf das Mannigfaltige sinnlicher Anschauung ( M a t e r i e ) Constitutive' (Erkenntnis- bzw. die Gegenstände der Erkenntnis »bestimmende') Bedeutung hinsichtlich möglicher, empirisch-realer ,Verstandes-Einheiten' [(Erkenntnis der) Phaenomena] erhält,93 genügt reiner praktischer Vernunft, die ja auf W i l l e n s b e s t i m m u n g hin ausgerichtet ist, ihr eigener »Gegenstand': das Sittlich-Gute (,Form').94 Die F o r m des M o r a l g e s e t z e s a l l e i n ist hier (im stellbar, nicht zuletzt an Hand verschiedener Gestalten der Geistesgeschichte; seine , innere' Entwicklung jedoch, am Boden Kantischer Philosophie, deren Klarheit allem ,Wahn', .Mystizismus' und aller .Schwärmerei' - kurz: jeder Selbst-Überheblichkeit - entgegensteht, müßte ins Wesen einer .Romantik' blicken lassen [mit den vorhandenen Mitteln tut dies diese Schrift], an deren - in der Zeit nie zu vollendenden und von Rückschlägen bis zur Vernichtung bedrohten - Verwirklichung jede ,Anstrengung aus Freiheit' Anteil hat: der unendlichen Aufgabe einer Menschen-Welt (vgl. z.B. Kants Formulierung: „Menschenpflicht"; z.B. KpV V/35, ÄGFVI/84, 154n, 187, 194). 93 Vgl. dazu die entsprechenden früheren Abschnitte dieser Schrift; vgl. auch Anm. 75/ Kap. 3.5. — Nicht-objektiviert ausgedrückt bedeutet dies, daß von den Kategorien (den reinen Verstandes-Formen bzw. -Begriffen) nur insoweit konstitutiver Gebrauch (und damit zusammenhängend: bestimmende Urteilskraft) möglich ist, als sie auf , ^ ' bezogen sind; auf,Mannigfaltiges' also, das .uns' (nur) in sinnlicher Anschauung gegeben werden kann. Damit hängt ja auch - ich habe es schon an anderer Stelle gesagt - die Unterscheidungsmöglichkeit reiner (theoretischer) Vernunft in dialektischen (pseudo-konstitutiv-,bestimmenden') und regulativen Gebrauch zusammen: Im dialektischen Vemunftgebrauch geschieht die Hybris reiner theoretischer Vernunft; strukturell gesehen jedoch genau das, wozu reiner praktischer Vemunftgebrauch befugt ist: .konstitutiv' und .bestimmend' zu sein ohne - nur hinsichtlich dieser Befugnis [eben des Bestimmungsgrundes, denn als .Materie' des Bestimmens kann nur .Sinnliches' in Frage kommen] - jede Relativität auf Sinnlichkeit. — Und damit hängt wieder zusammen - auch dieses sage ich hier nochmals, um das Systematische Kantischer Philosophie konzentriert darbieten zu können -, daß bezüglich (theoretischer) dialektischer Vernunft wie auch hinsichtlich reiner praktischer Vernunft der Begriff des Noumenon positive Bedeutung hat; mit dem wesentlichen Unterschied allerdings, daß dialektische Vernunft auf ,Noumena an sich' hin ausgerichtet ist, also , absolut spekuliert1, wogegen reiner praktischer Vemunftgebrauch auf unsere reale Welt hin ausgerichtet ist - deren .materieller' Aspekt [insofern ist praktische Vernunft hier der theoretisch-regulativen ähnlich] die empirisch-reale .Sinnenwelt' ist -, und in dieser Weise das befugte (notwendig .theoretische') Denken der Noumena in positiver Bedeutung streng auf sich selbst (d.i. auf die „Ausübung des Moralgesetzes") relativ setzt. 94 So gesehen haben jene Formulierungen Kants, die das meist mißverstandene ,Sollen impliziert Können' bedeuten, gar keine Schwierigkeit. — Vgl. KpV V/36f: „Dem kategorischen Gebote der Sittlichkeit Genüge zu leisten, ist in jedes Gewalt zu aller Zeit; der empirisch-bedingten Vorschrift der Glückseligkeit, nur selten ... weil es bei

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praktischen') ,konstitutiv' bzw. ,bestimmend'; und genau dies bedeutet es, das K r i t e r i u m aller Moralität allein in der F o r m der jeweiligen (empirisch-realen) Handlungsmaxime zu sehen.95

dem ersteren nur auf die Maxime ankommt, die acht und rein sein muß, bei der letzteren aber ... auf die Kräfte und das physische Vermögen, einen begehrten Gegenstand [empirisch; G.R.] wirklich zu machen"; — KpV V/37: „Sittlichkeit... denn was er in dieser Beziehung will, das kann er auch" (vgl. dazu GMS IV/455: „Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen ..."); vgl. auch KpV V/30. Dies ist nun allerdings nicht in der anderen Richtung als - eigene Tätigkeit ersetzender Mechanismus mißzuverstehen: Es ist durch das Gesetz der Freiheit von niemandem mehr Kraft gefordert, als er aktivieren kann; genau diese Kraftanstrengung ist aber auch einzusetzen. Das (,praktische', nicht so sehr das .theoretische') ,Wissen' um die eigenen diesbezüglichen Möglichkeiten und Grenzen ist selbst von moralischer Qualität: Es zeugt vom Grad jeweiliger .moralischer Läuterung'. 95 Weil eben nur ,das Sittlich-Gute' die ausschließlich autonome Bestimmung durch reine praktische Vernunft repräsentiert, alles andere jedoch durch heteronom bestimmende Prinzipien theoretischer Vernunft (mit)geprägt ist. — Die mit der Form synthetisch-apriori verknüpfte Materie der Maxime (Begehrungen bzw. Neigungen) oder auch der Handlungserfolg sind deshalb als Kriterium der Moralität vollkommen irrelevant [woraus klar ersichtlich ist, daß moralische Maximen nicht notwendigerweise den eigenen Neigungen widersprechen müssen bzw. daß ihnen entsprechende Handlungen für Vertreter sogenannter .Ideologischer Ethik' (z.B. Utilitaristen) voll akzeptierbar sein können (vgl. auch Kap. 5.2.1)]. .Empirisch-real' bedeutet bezüglich einer Maxime immer: .psychologisch-real'. Gegenstand sinnlicher Anschauung kann jedoch nur die - sinnliche - Materie der Maxime sein. Das .Sittlich-Gute' ist kein möglicher empirischer Gegenstand, weshalb für Kant Beispiele moralischen Verhaltens zwar pädagogischen Wert besitzen können (vgl. z.B. die Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft, KpV V/lSlff), aber leicht in Irrtümer führen. In diesem Zusammenhang genügt wohl der Hinweis auf die Menge nicht adäquater .Analysen' der vier Beispiele Kants (GMS I V/421 ff), die nicht sehen, daß die Anstrengung in sich widersprüchlich ist, die wesentlich .autonome' Ethik Kants mit ausschließlich .heteronom' strukturierter ,Ideologischer' Ethik (z.B. Utilitarismus) zu verbinden, weil sie .Autonomie' nur „dem Namen nach" kennen. Ihr .Erfolg' ist banal: wenn ich die für Kant wesentliche Unterscheidung von Moralität und Legalität vernachlässige, bleibt von der Handlung „aus Achtung vor dem Gesetz" (bzw. „um des Gesetzes willen" bzw. „aus Pflicht") nur ihre tatsächliche Gesetzmäßigkeit, also gerade Legalität, übrig. Der gravierende Unterschied in der Form der Maxime liegt aber gerade in der Frage notwendiger (.kategorischer') Gesetzmäßigkeit. — Deshalb konnte auch oben gesagt werden, daß Handlungen moralischer Qualität durchaus im Einklang mit Handlungen aus utilitaristischen Maximen sein können; eine Handlung aus utilitaristischen Maximen jedoch kann grundsätzlich nicht die Dimension des Sittlich-Guten treffen, man denke an die .theoretische' Qualität der .hypothetischen Imperative' (vgl. auch Kap. 5.2.1).

3.5 Das Noumenon als Subjekt (.Praktische Erkenntnis')

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3.5.1.1 Zur Frage der notwendigen synthetisch-praktischen Einheit der moralischen Handlungsmaxime (Das,Sittlich-Gute') Wenn aber die F o r m (objektiviert gedacht: das ,Sittlich-Gute') der moralischen Maxime a l l e i n schon Realisierung des Moralgesetzes bedeutet, so entsteht die Frage96 nach der behaupteten synthetisch-praktischen Einheit von moralischer Form und sinnlicher Materie der (moralischen) Maxime. Die Antwort ist einfach: Dem sinnlich-materiellen Aspekt97 aller empirisch-realen Handlungsmaximen entspricht ,analytisch-praktisch' die Form der Selbstliebe bzw. der Glückseligkeit.98 96

Es ist eine - im Verlauf des Verstehens-Prozesses jedoch ernst zu nehmende Scheinfrage, weil (l) die Einheit der Maxime (mit ihren Aspekten .Form' und .Materie') vorausgesetzt ist, (2) ,Einheit' immer .Fonw-bestimmt' ist, (3) die ,reale Verbindung' von zwei in sich ungleichartigen Aspekten (Autonomie und Heteronomie bzw. Pflicht und Neigung) nur .synthetisch' sein kann, und weil (4) das Moralgesetz als Prinzip der reinen praktischen Vernunft die notwendige und allgemeingültige Funktion von zu verwirklichender Einheit hat, kurz: ein , synthetisch-praktisches Prinzip a priori' ist. 97 D.h. Begehrungen, Neigungen bzw. deren empirische Objekte; diese empirischen Objekte sind die ,Zwecke' hypothetischer Imperative, die, relativ auf diese Zwecke, als .analytisch-praktische Sätze' (vgl. z.B. QMS IV/419, auch 417) in .technisch-praktischer' Weise die entsprechenden Mittel bestimmen. ^Empirisches Objekt": Die Unterscheidung aller „mögliche[n] Bestimmungsgründe des Willens" in „empirisch, oder ... rational" (KpV V/39f) gilt hinsichtlich der materiellen Bestimmungsgrunde nur vorläufig. — Vgl. KpV V/93: „Da nun alle Bestimmungsgründe des Willens außer dem einigen reinen praktischen Vernunftgesetze (dem moralischen) insgesammt empirisch sind, als solche also zum Glückseligkeitsprincip gehören, so müssen sie insgesammt vom obersten sittlichen Grundsatze abgesondert und ihm nie als Bedingung einverleibt werden" (vgl. dazu Lehrsatz II und ///, KpV V/22 und 27). ,Hypothetische Imperative': Vgl. z.B. QMS IV/416: „Also ist der Imperativ, der sich auf die Wahl der Mittel zur eigenen Glückseligkeit bezieht ... hypothetisch"; — GMS IV/419: „ ... so ist der Imperativ, der das Wollen der Mittel für den, der den Zweck will, gebietet... analytisch ". 98 Vgl. KpW/25f. „Principien der Selbstliebe können zwar allgemeine Regeln der Geschicklichkeit (Mittel zu Absichten auszufmden) enthalten, alsdann sind es aber blos theoretische Prinzipien*" [„* Sätze, welche in der Mathematik oder Naturlehre praktisch genannt werden, sollten eigentlich technisch heißen. Denn um die Willensbestimmung ist es diesen Lehren gar nicht zu thun; sie zeigen nur das Mannigfaltige der möglichen Handlung an, welches eine gewisse Wirkung hervorzurufen hinreichend ist, und sind also ... theoretisch" (KpV V/26n)]; — KpV V/22: „Lehrsatz II. | Alle materiale praktische Principien sind, als solche, insgesammt von einer und derselben Art und gehören unter das allgemeine Princip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit".

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Die F o r m des (moralisch-praktischen) Gesetzes" s c h r ä n k t „die auf Neigung gegründete Maxime" e i n , 10° und realisiert damit, zugleich' die s y n t h e t i s c h -praktische Einheit der moralischen Maxime101 [Über dieses ,Faktum' hinaus, daß reine Vernunft praktisch ist, 1 0 2 hinsichtlich des ,wie', können wir - jedenfalls im Denken - nichts einsehen, nichts - theoretisch - wissen].

3.5.1.2 Zur Frage der notwendigen synthetisch-praktischen Einheit der moralischen Handlung (Das ,höchste Gut in der Welt' *) Die jetzt anschließende Frage nach der Einheit der ,moralischen Flandlung' selbst — als deren formaler Aspekt ihre (moralische) Maxime zu 99

D.i. die Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit ohne Ausnahme. Also die - von der Form allgemeiner Gesetzmäßigkeit her betrachtet - Form potentieller Ausnahmen (zugunsten) der Selbstliebe bzw. Glückseligkeit; — vgl. KpV V/34: „Also kann zwar die Materie der Maxime bleiben, sie muß aber [ein an dieser Stelle gedachter Doppelpunkt ergibt zwanglos jene Bedeutung, die adäquaterweise dem heutigen Sprachgebrauch: ,darf... nicht' entspricht; G.R.] nicht die Bedingung derselben sein, denn sonst würde diese nicht zum Gesetze taugen." 101 Vgl. KpV V/34f: „Also die bloße Form eines Gesetzes, welches die Materie einschränkt, muß zugleich ein Grund sein, diese Materie zum Willen hinzuzufügen, aber sie nicht vorauszusetzen. ... und also war das Object ... nicht der Bestimmungsgrund des reinen Willens, sondern die bloße gesetzliche Form war es allein, dadurch ich meine auf Neigung gegründete Maxime einschränkte, um ihr die Allgemeinheit eines Gesetzes zu verschaffen und sie so der reinen praktischen Vernunft angemessen zu machen, aus welcher Einschränkung, und nicht dem Zusätze einer äußeren Triebfeder, alsdann der Begriff der Verbindlichkeit ... allein entspringen konnte." — Das Gefühl der Achtung vor dem Gesetz ist das einzige, intellektuell gewirkte', also nicht ,pathologische' (d.i.: sinnliche) Gefühl, es entsteht durch das Bewußtsein dieser Einschränkung: so können wir - negativ - die Realität des (Faktums des) Moralgesetzes spüren; vgl. dazu vor allem KpV V/71 ff: Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft. 102 D.h. hier: daß die sinnliche Materie (Begehrungen, Neigungen) der empirisch-realen Maxime durch die (moralische) Form einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung ,bestimmt' bzw. .geprägt' ist. 100

* Bemerkung nach Abschluß dieser Schrift. — (l) Das hier zum Ausdruck gebrachte Verständnis des .höchsten Guts in der Welt' berücksichtigt nicht wesentlich den Unterschied von e i g e n e r und f r e m d e r G l ü c k s e l i g k e i t ; - bzw.: es berücksichtigt zu wenig den Unterschied von analytisch („logische Verknüpfung", „Identität") und synthetisch („reale Verbindung", „Kausalität") verstandener Einheit [vgl. z.B. KpV V/111] von Sittlichkeit und Glückseligkeit im Begriff des .höchsten Guts' [vgl. dazu: Dialektik der reinen praktischen Vernunft.

3.5 Das Noumenon als Subjekt (, Praktische Erkenntnis')

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Zweites Hauptstück, KpV V/11 Off]. Nur deshalb ist es konsequent, die Struktur der ,moralischen Handlung', der .intelligiblen Tat' und des ,höchsten Guts in der Welt' als so gleichgeartet zu werten, wie es in dieser Schrift geschieht: einfach als Unterordnung von .Glückseligkeit' unter ,Sittlichkeit'. (2) Bei entsprechender Beachtung des Unterschiedes von eigener und fremder Glückseligkeit ergibt sich jedoch ein etwas anderes Bild [und das ist auch für die Einsicht in die innere Logik - nicht unbedingt für den Nachvollzug der von Kant gewählten äußeren Darstellungsweise - vor allem des Postulates: ,Gott' bedeutungsvoll]: ^Moralische Handlung" und — selbstverständlich nur im Sinne der (und nicht der ) Ordnung: — ^intelligible Tat' stehen für das Absehen von eigener Glückseligkeit [zugunsten der - jede moralische Handlung gründende - Aus-Richtung des Wohl-Tuns, die letztlich nie eigenes Glück anstrebt]; ihre Namen gehören in den Umkreis der Frage: „Was soll ich tun?" (KrV A 805/B 833). Der Name: ,höchstes Gut (in der Welt)1 dagegen ist im Umkreis der Frage: „wenn ich nun tue, was ich soll, was darf ich alsdenn hoffen?" angesiedelt und auf die .Fülle' [vgl. ahd: *sal] des eigenen Glücks, auf eigene ,Glück-selig [ahd: salig, sälic; mhd: selec, se!ic]-keit' also, ausgerichtet: „Denn alles Hoffen geht auf [eigene, nämlich des Hoffenden; G.R.] Glückseligkeit" (KrVA 805/B 833). (3) Die ^Totalität der moralischen Maximen'' bzw. die ^Totalität der moralischen Handlungen1 entspricht jetzt nicht - im Gegensatz zur Darstellung in dieser Schrift der .Totalität des höchsten Guts in der Welt', sondern der ,Totalilät des ' dieses .höchsten Guts': der - im Rahmen [Begrenzung!] der jeweiligen ,Potenz' des jeweiligen Menschen .erfüllten', .verwirklichten' [also insoweit: ,wirklichen' (nicht bloß .möglichen', .potentiellen')] - ,Sittlichkeit' [im Unterschied zu .Sittlichkeit' als Name für das .Sittlich-Gute' bzw. für die .reine' (.potentielle') moralische Form], gedacht als Einheit von moralischer Form und - primär - fremdem Wohlergehen (fremder .Glückseligkeit'). — Daß Jotalität' nach Kantischem Verständnis in der Zeit grundsätzlich nicht .erreicht' (.verwirklicht', .erfüllt') werden kann [da .Totalität' strukturell .zukünftig' (d.i. .offen') ist und nicht .perfekt' (d.i. .abgeschlossen') sein kann], ist übrigens nicht nur kein Widerspruch zum hier - vor allem in Absatz (3) und am Ende von Absatz (4) - Gesagten, sondern auch - konsequenterweise - Voraussetzung für Kants Darstellung des Postulates der Unsterblichkeit der menschlichen Seele. (4) Die Analogie zu den objektiviert gedachten synthetisch-apriorischen Form-Einheiten theoretischen Vemunftgebrauchs schaut dann so aus: — Folgendes bleibt gleich wie es in dieser Schrift dargestellt wurde: — Das ,Sittlich-Gute' als objektiviert gedachter .kategorischer Imperativ' [d.i.: synthetisch-apriorische Form der praktischen Vernunft; moralische Form] ist analog dem transzendentalen Gegenstand =X' zu denken. — Die Amoralische Maxime' bzw. die Amoralische Handlung' als empirisch [entweder bloß zeitlich: .Maxime', oder raum-zeitlich: .Handlung'] ,erfüllte' moralische Form ist analog der sinnlich erfüllten (.verkörperten') synthetisch-apriorischen Kategorie (d.i.: theoretische ,Verstandes-Einheit'\ also dem ,Phaenomenon' (bzw. seiner Erkenntnis), zu denken. — Analog zu den objektiviert gedachten synthetisch-apriorischen Formen theoretischer Vernunft ist nun aber auch - im Unterschied zur Darstellung in dieser Schrift - die .Totalität der moralischen Maximen' bzw. die JOtalitüt der moralischen Handlungen' zu verstehen: als analog der theoretischen , Vernunft-Einheit' ( , Idee'). (5) Das ,höchste Gut in der Welt' dagegen ist zu denken als: Jotalität der Totalität

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

sehen ist, als deren inhaltlich-materieller Aspekt verschiedenste, vor allem raum-zeitliche Phaenomena feststellbar sind — ist von ähnlicher Struktur wie die früher gestellte nach der Einheit der (moralischen) Maxime. Denn (reine) praktische Vernunft geht auf »Verwirklichung';103 ihr ,Objekt a p r i o r i ' , das ,Sittlich-Gute', soll realisiert werden, und zwar als moralische Form einer empirisch-realen Maxime: in notwendiger Einheit104 mit (bzw. als notwendige Einheit von) Empirisch-Realem.105 E m p i r i s c h aber steht die ,volle' Verwirklichung noch aus: Denn eine - (in der Zeit) empirisch-reale - (moralische) Handlungs-Maxime will Realität als - (in Raum und Zeit) empirisch-reale - Amoralische) H a n d l u n g ' . Die E i n h e i t dieser ,moralischen Handlung'106 ist soweit moralischer der moralischen Handlungen [bzw. ihrer Maximen] und der [dieser Totalität, als der (), entsprechenden] Totalität eigenen Glücks ()'. Vgl. dazu vor allem Anm. 111 und 138/Kap. 3.5. 103 Nochmals: Theoreti'scher Vemunftgebrauch bleibt - auf sich allein gestellt, d.i. ohne tatsächliche sinnliche Anschauung in der Zeit - im Bereich bloßer Möglichkeit; alle , Handlungen* des .Verstandes' betreffen aus eigener Kraft nur die apriorische, transzendentale Möglichkeit der empirischen Gegenstände; ihre empirische Realisierung, ihr , ', kommt von der Sinnlichkeit, die aber, als .Rezeptivität', dieses .Faktum' nicht selbst erzeugt (vgl. Kap. 3.1). — Praktischer Vernunftgebrauch geht aus eigener Kraft auf diese Realisierung selbst. 104 Diese Einheit ist gegründet im synthetisch-praktischen Prinzip a priori der reinen praktischen Vernunft; in bezug auf .Realisieren' vgl. z.B. QMS IV/445: „Daß nun Sittlichkeit kein Hirngespinst sei, welches alsdann folgt, wenn der kategorische Imperativ und mit ihm die Autonomie des Willens wahr und als ein Princip a priori schlechterdings notwendig ist, erfordert einen möglichen synthetischen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft". 105 Ob von einem .Ereignis', .Objekt', .Vorkommnis', einer .Gegebenheit', .Handlung' oder wie immer gesprochen wird: Alles .Empirisch-Reale' ist .Phaenomenon' bzw. .empirischer Gegenstand'. 106 ^Moralische Handlung' betrifft immer .sryw/teftsc/i-praktische Einheit; im empirischen, .theoretisch' bestimmten Bereich ist diese Einheit (von moralischer Form und empirischer Materie) grundsätzlich unzugänglich: nur ihr empirisch-realer materieller Aspekt ist möglicher (empirisch-theoretischer) Erkenntnisgegenstand: (l) der materielle Aspekt der .moralischen Handlung', die .Handlung' als bloß empirisches Ereignis [und nicht als materieller Aspekt einer .moralischen Handlung'] bzw. (2) der materielle Aspekt der Amoralischen) Handlungs-Mzr/me': die verschiedenen psychischen Bedingungen bzw. Motive (.äußere Triebfedern', vgl. z.B. KpVV/35) der Handlung (l); — die moralische Form der Maxime und insofern der Handlung selbst ist - als apriorisches .Objekt': das .Sittlich-Gute' - grundsätzlich kein möglicher empirischer Erkenntnisgegenstand, also, empirisch gesehen, .nichts'. — Wieder muß hier auf die Eigenheit praktischen Vemunftgebrauchs verwiesen werden: Denn das .Sittlich-Gute' ist kein (theoretischer) Erkenntnisgegenstand, es ist daher - als Objekt praktischer Erkenntnis - nicht: .real an sich' (d.i. unabhängig von

3.5 Das Noumenon als Subj ekt (, Praktische Erkenntnis')

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Gesetzgebung107 entzogen, wie ihre Realisierung empirisch-bedingt ist: Als ,Umsetzung' nämlich einer (empirisch-)psychologisch-realen Maxime108 in die,äußere Tat4.109 Bezogen auf , m o r a l i s c h e s I n t e r e s s e ' kann daher - hinsichtlich der Vielfalt möglicher empirischer Umstände,110 welche die Realisierung einer Handlungsmaxime teilweise oder zur Gänze verhindern können - nur von der (moralisch notwendigen) T e n d e n z der Maxime zu der ihr entsprechenden Handlung gesprochen werden,111 nicht vom (empirisch-)tatsächlichen , Erfolg': dieser .Erkenntnis'), sondern: real in der Realisierung, bzw. real indem es verwirklicht wird, bzw. abhängig von praktischer Erkenntnis. 107 Die ja empirisch-anbedingt,,kategorisch' ist. 108 Die nur der Selbstbeobachtung bzw. der .inneren sinnlichen Anschauung' (in der Zeit) zugänglich ist; und zwar ausschließlich in ihrem materiellen Aspekt [entsprechend Punkt (2) in Anm. 106/Kap. 3.5]. 109 Als mögliches Objekt der sinnlichen Anschauung in Raum und Zeit [entsprechend Punkt (1) in Anm. 106/Kap. 3.5]. 110 Die entweder im Bereich des handelnden Subjekts (d.i. hier das ,Vernunftwesen' unter seinem sinnlichen und noumenalen Aspekt betrachtet) oder außerhalb seiner Reichweite liegen können. — Diese Bemerkung sagt übrigens nichts anderes als die schon formulierte: daß reine praktische Vernunft im Rahmen empirischer Realität (d.i. ,am Boden' theoretisch-heteronomer Vemunftgesetzgebung; z.B.: .Natur-Kausalität') keine gesetzgebende Kraft - Kant spricht da von mangelnder .physischer' Kraft - hat. Als .Form' empirischer Realität ist allerdings reine praktische Vernunft selbst der ,Rahmen' - auch das bedeutet ihr .Primat' -, und damit hängt wiederum der , leere Raum' zusammen, der Voraussetzung der Denkmöglichkeit moralischer Realität ist. 1J J Eine nicht auf ihre Realisierung durch die entsprechende Handlung hin angelegte .Handlungsmaxime' kann ,in Wahrheit' gar keine Handlungs-Maxime sein. — Karikaturen der .Gesinnungs'-Ethik behaupten aber gerade dieses. Wenn man jedoch davon ausgeht, daß emstzunehmende Moralität - wie sie z.B. von Kant .auf den Begriff gebracht' wurde - Wahrhaftigkeit einschließt, so ist klar, daß die moralische Maxime einer Handlung aus moralischer Kraft zur Realisierung dieser Handlung drängt, diese Realisierung aber durch empirische Widrigkeiten verschiedenster Art und Ursache eingeschränkt, im Extrem sogar verhindert werden kann; - trotz aller gebotenen (.moralischen') Anstrengung. In der Sprache Kants ausgedrückt: Reine praktische Vernunft ist .gesetzgebend' nur bezüglich ihres .Gegenstandes': das .Sittlich-Gute', bzw. hinsichtlich der moralischen Form der Maxime [deren empirische Realität (d.i. hier: deren Materie) von reiner praktischer Vernunft vorausgesetzt wird und gar nicht erzeugt werden kann]. — Diese moralische Form schränkt die .analytische' Form der Selbstliebe der empirisch-realen Maxime ein und wandelt damit .zugleich* die analytische Einheit der Maxime in eine .notwendige' synthetisch-praktische um. — Die mögliche empirische Realisierung dieser Maxime als empirisch-reale Handlung ist zur Gänze auf den theoretisch-heteronom bestimmten Bereich empirischer Realität verwiesen, also

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„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung112 für gut könnte gehalten werden, als allein ein g u t e r Wille" 1 1 3 (GA/SIV/393). „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet,114 nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes,115 sondern allein durch das Wollen,116 d.i. an sich, gut... Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen; wenn bei s e i n e r g r ö ß t e n B e s t r e b u n g dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (freilich nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die A u f b i e t u n g a l l e r M i t t e l , soweit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Werth in sich selbst hat"117 (QMS l V/394). Die - empirische - Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit (auch »Schädlichkeit') kann diesem - moralischen - Wert weder etwas zusetzen noch etwas abnehmen.118 dem ««mittelbaren Bestimmungsvermögen reiner praktischer Vernunft entzogen: Daher folgt einer empirisch-realen, ,moralischen' Maxime die empirische Realität der entsprechenden Handlung nicht (.objektiv'-moralisch-praktisch) notwendig, sondern - (als bloß ,subjektiv-notwendig') »objektiv' gesehen - zufällig. — Denn die theoretische Kategorie der Kausalität drückt die Ordnung der sinnlichen Natur aus, die reine praktische Kategorie der Freiheit jene der .Verstandeswelt'. — Die Frage nach der möglichen Einheit beider , Welt-Ordnungen' bleibt zwar in der gegenwärtigen Betrachtung offen, der Begriff des , höchsten Guts in der Welt' ist jedoch als Versuch zu verstehen, diese - synthetisch-praktische - Einheit a priori beider .Welt-Ordnungen' begrifflich, also .theoretisch' - als zu realisierende [.unendliche' moralisch-praktische .Aufgabe'!] notwendige [apriori!] synthetische [.real', nicht bloß .logisch-analytisch'!] Einheit - zu denken. 112 Eben un-bedingt, kategorisch. 113 Oder: .reiner Wille', .reine praktische Vernunft', .Moralgesetz' etc. 114 D.i. empirisch-realer Handlungs-,Erfolg', .Leistung'. 115 Das wäre durch diesen - .materialen', daher (vgl. z.B. KpV V/93) empirischen Zweck bedingte, hypothetische, .analytisch-praktische' Willensbestimmung. 116 D.i. - objektiviert gedacht - das apriorische Objekt: .Sittlich-Gutes'; Kriterium der moralischen Qualität ist die .Willensgesinnung', die Maxime der Handlung, nicht die Handlung als empirisch-reales Phaenomenon bzw. ihr .Erfolg'. 117 Ich hebe hervor: Der „gute Wille" würde nur „bei seiner größten Bestrebung ... als die Aufbietung aller Mittel... wie ein Juwel... glänzen". 118 Nochmals: Empirisch-realer Handlungserfolg ist lediglich hinsichtlich des moralischen Wertes - d.i. des Kriteriums der Moralität, d.i. die moralische Qualität der Handlungs-A/aw/ne bzw. ,Willens-Gesiwn«ng' - nicht relevant: denn größt-mögliche Anstrengung ist hinsichtlich dieses Erfolges geboten. — Daß diese Anstrengung

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3.5.1.3 Exkurs: Zur Frage der moralischen Vollkommenheit (,Heiligkeit' und ,Achtung' bzw. ,Moralgesetz' und »kategorischer Imperativ') Früher wurde gesagt, reine praktische Vernunft fordere die Realisierung ihres ,Objekts a priori', des , Sittlich-Guten', als moralische Form einer empirisch-realen M a x i m e , also als notwendige, synthetische Einheit (,Form') von Empirisch-Realem.119 Es wurde auch betont, daß diese Einheit »praktisch' ist, daß sie also nicht (als theoretischer Anschauungsgegenstand) ,besteht', sondern e t w a s zu V e r w i r k l i c h e n d e s ist.120 Auch von der ,unendlichen Aufgabe' moralischer Läuterung - d.i. auch ,moralisch möglich' (vgl. Ä^K V/58) sein muß, versteht sich von selbst, denn nicht der Zweck heiligt das Mittel, sondern in jedem (,möglichen') Mittel wird zugleich der Zweck geheiligt. Dieser Sinn ist auch in der Forderung enthalten: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden ändern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst" (QMS IV/429); vgl. dazu auch KpV V/131: „ ... daß also die Menschheit in unserer Person uns selbst heilig sein müsse ... ". 119 ,Empirisch-Reales' hier als möglicher Gegenstand ausschließlich der .Introspektion' (d.i. ,innere sinnliche Anschauung in der Zeit') verstanden. — Zugleich wurde der Unterschied der Einheit (Form): »moralische Maxime', die also empirisch un-bedingt gedacht wird, und der Einheit (Form): .moralische Handlung', als empirisch-bedingt, herausgestrichen. — Erscheint dieser Unterschied nicht nachvollziehbar, so könnte der Grund dafür in der irrtümlichen Auffassung der moralischen Form (Einheit) der Maxime als Materie der Maxime liegen; denn dies wäre der Fall, würde hier .(moralische) Form' als möglicher Gegenstand innerer sinnlicher Anschauung mißverstanden werden. 120 Ygj (jazu z QMS IV/455: „Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligibelen Welt und wird nur so fern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet." — Hier ist wieder besonders deutlich die Wichtigkeit der tatsächlich (nicht nur „dem Namen nach") zu vollziehenden Unterscheidung von theoretischem und praktischem Vernunftgebrauch zu sehen: Vorstellungen vom ^naturalistischen Fehlschluß' — ein .naturalistischer' Fehlschluß in der Bedeutung sinnlicher Natur ist bei Kant ja von vornherein ausgeschlossen, nicht aber im Sinne übersinnlicher Natur, wenn diese .Natur' unrichtigerweise als .statisch' (also .theoretisch') ,be-stehend' gedacht wird (,Zwei-Welten-Theorie') — in der allgemeineren Bedeutung einer Verwechslung von Sein [statisches .Sein' in der ^erstandeswelt', man denke hier an L.W. Beck's Behauptung des Moralgesetzes als theoretischen Satz] und Sollen [in der , Sinnenwelt'] durch Kant zeigen sich hier als Konsequenz der inadäquaten Vorstellung des ,Be-stehens' zweier ,Welten1 (.Naturen'); und all dieses erweist sich einmal mehr als .theoretisches' Mißverständnis der Bedeutung von praktischer Vernunft, die Wille ist [Vgl. z.B. QMS IV/412: „ ... so ist der Wille nichts anders als praktische Vernunft"].

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der moralischen Arbeit an sich selbst und d a d u r c h an der ,Welt' wurde gesprochen. Daraus entsteht die Frage, wie die Behauptung des Moralprinzips als n o t w e n d i g e Form-Einheit sinnlicher Materie — Begehrungen, Neigungen121 als ,Inhalt' bzw. ,materieller Aspekt' einer empirisch-realen ,moralischen' Handlungsmaxime — einerseits und einer nie zu vollendenden Aufgabe andererseits vereinbar sind; wie also das Erreichen v o l l k o m m e n e r moralischer Qualität einerseits als real unerreichbar dargestellt werden kann, wenn es andererseits an jeder einzelnen empirisch-realen Maxime stattfindet, s o f e r n ihre ,Form' m o r a l i s c h (-praktisch), als solche aber n o t w e n d i g e (,a priori'!) synthetische E i n h e i t ist. Die Antwort ist n i c h t im Hinweis zu finden, daß das Sittlich-Gute (als intelligibel) niemals Objekt empirisch-realer Erkenntnis sein bzw. daß die Moralität keiner einzigen empirisch-realen Handlungsmaxime mit Sicherheit (,theoretisch') erkannt werden kann. Denn wollte man damit die (theoretische Denk-)Möglichkeit andeuten, daß diese notwendige synthetische Einheit vielleicht nie realisiert wird, so wäre die Realität reiner p r a k t i s c h e r Vernunft überhaupt in Frage gestellt und es erübrigten sich alle weiteren, gerade i n dieser Realität gegründeten Fragen. Die Antwort liegt im Begriff des M e n s c h e n als Vemunftwesen unter noumenalem u n d sinnlichem Aspekt.122 Allerdings nicht im Sinne einer , Aufweichung' der moralischen Form (der Maxime) durch Zulassung sinnlicher Bestimmungsgründe, 1 2 3 „auch nicht dem mindesten Theile nach ... wenn von Pflicht die Rede ist. Denn das würde so viel sein, als die moralische Gesinnung124 in ihrer Quelle verunreinigen wollen"125 bzw. 121

Zu einem möglichen Einwand, die sinnliche Materie der Maximen betreffend: Wenn man ^Maxime1 nur als ,subjektiver Grundsatz der Vernunft' denkt, so hat sie nicht als empirisch-reale Maxime Realität, sondern nur als dieser Gedanke einer Maxime — und die ,Materie' dieses Gedankens kann natürlich ebensowenig aus Begehrungen und Neigungen bestehen wie die ,Materie' des Papierbildes eines lebenden Menschen aus dessen .Fleisch' und .Blut' —; hier ist aber nicht der .Gedanke einer Maxime' Gegenstand der Betrachtung, sondern die psychologisch-reale Maxime selbst. 122 Daher das , Anthropomorphe' - allerdings nicht in Kantischem Sinn, sondern eher im Sinne Schellings verstanden - aller dieser Fragen, die sämtlich auf diese Einheit der beiden Aspekte bezogen sind. 123 Die Unterscheidung von Moralität [d.i. moralische Legalität: notwendig dem Gesetz gemäß] und Legalität [(moralisch-)ztt/2r///g dem Gesetz gemäß; also prinzipielle Möglichkeit der Ausnahme} darf gerade im Interesse klarer Einsicht nicht verwischt werden. 124 „ ... das ist der erste subjective Grund der Annehmung der Maximen" (RGV VI/25) bzw. die (moralische) Form der Maxime (vgl. RGV VI/66f).

3.5 Das Noumenon als Subjekt (»Praktische Erkenntnis')

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„allen sittlichen Werth... auf[zu]heben" (KpVV/93), sondern in der Beobachtung der s i t t l i c h e n S t u f e des Menschen (als prinzipiell sinnlich affizierbares Vernunftwesen betrachtet); und zwar, um „die sittliche Ges i n n u n g ... genau zu bestimmen ..." (KpVV/%4). „Die sittliche Stufe, worauf der Mensch ... steht, ist A c h t u n g fürs moralische Gesetz. Die Gesinnung, die ihm, dieses zu befolgen, obliegt, ist, es aus Pflicht, nicht aus freiwilliger Zuneigung und auch allenfalls unbefohlener, von selbst gern unternommener Bestrebung zu befolgen, und sein moralischer Zustand, darin er jedesmal sein kann, ist T u g e n d , d.i. moralische Gesinnung im K a m p f e , und nicht Heiligkeit im vermeintlichen Besitze einer völligen Kernigkeit der Gesinnungen des Willens" (KpV V/84). — Diese „Heiligkeit126, eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkte seines Daseins fähig ist" (KpV V/122), gibt die R i c h t u n g der Aufgabe der moralischen Läuterung: als einen „ i n s U n e n d l i c h e gehenden Progressus" (KpWI\22; vgl. auch KpV V/32f). Dieser ,Fortschritt' kann deshalb kein reales Ende finden, weil er auf dem Niveau der , Achtung' bzw. der Pflicht, des Gebotenen, kurz: des (kategorischen) I m p e r a t i v s erfolgt und nur hier erfolgen kann.127 Die Antwort liegt also in der Unterscheidung von: „Moralgesetz" und „kategorischer I m p e r a t i v " : „Dieses Princip der Sittlichkeit nun128 ... erklärt die Vernunft zugleich zu einem Gesetze für alle vernünftige Wesen ... so fern sie der Handlungen ... nach praktischen Principien a priori (denn diese haben allein diejenige Nothwendigkeit, welche die Vernunft zum Grundsatze fordert) fähig sind. Es schränkt sich also nicht blos auf Menschen ein, sondern geht auf a l l e 125

KpVV/Wf, — Die Fortsetzung des Zitates lautet: „Die Ehrwürdigkeit der Pflicht hat nichts mit Lebensgenuß zu schaffen; sie hat ihr eigentümliches Gesetz, auch ihr eigenthümliches Gericht, und wenn man auch beide noch so sehr zusammenschütteln wollte, um sie vermischt gleichsam als Arzeneimittel der kranken Seele zuzureichen, so scheiden sie sich doch alsbald von selbst, und thun sie es nicht, so wirkt das erste gar nicht, wenn aber auch das physische Leben hiebei einige Kraft gewönne, so würde doch das moralische ohne Rettung dahin schwinden." — Vgl. Anm. 93/Kap. 5. 126 Unpolemisch als die „völlige Angemessenheit des Willens ... zum moralischen Gesetze" (KpV V/122) verstanden. 127 Alles andere ist Verirrung; darunter [d.h. Leugnung der Realität des Moralgesetzes bzw. der .Freiheit']: ethischer „Empirismus"; darüber [d.h. Stufe der .Heiligkeit']: mögliche moralische Schwärmerei bzw. Gefahr des „Mysticism der praktischen Vernunft" (KpV V/70). 128 Kant setzt fort: „ ... eben um der Allgemeinheit der Gesetzgebung willen, die es zum formalen obersten Bestimmungsgrunde des Willens, unangesehen aller subjectiven Verschiedenheiten desselben macht..." (Fortsetzung im Text).

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie e n d l i c h e W e s e n , die Vernunft und Willen haben,129 ja schließt sogar das unendliche Wesen als oberste Intelligenz mit ein. Im ersteren Falle aber hat das G e s e t z die Form eines I m p e r a t i v s 1 3 0 ... der k a t e g o r i s c h gebietet, weil das Gesetz unbedingt ist; das Verhältniß eines solchen Willens zu diesem Gesetze ist A b h ä n g i g k e i t ... Verbindlichkeit . . . Nöthigung, obzwar durch bloße Vernunft und deren objectives Gesetz, zu einer Handlung131 ... In der allergnugsamsten Intelligenz wird die Willkür als keiner Maxime fähig, die nicht zugleich objectiv Gesetz sein könnte, mit Recht vorgestellt, und der B e g r i ff d e r H e i l i g k e i t , der ihr um deswillen zukommt, setzt sie zwar nicht über alle praktische, aber doch über alle p r a k t i s c h - e i n s c h r ä n k e n d e Gesetze, mithin Verbindlichkeit und Pflicht weg. Diese Heiligkeit des Willens ist ... eine p r a k t i s c h e I d e e , welche nothwendig zum Urbilde dienen muß, welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht ..."

Der kategorische Imperativ s c h r ä n k t die sinnlich-bedingte Form der Selbstliebe (Glückseligkeit) jeder menschlichen Handlungsmaxime e i n , 1 3 2 er formt sie sozusagen zu einer , moralischen Maxime' um;133 und i n s o 129

D.h.: prinzipiell; Kant behauptet damit nicht die tatsächliche Existenz solcher .vernünftigen Wesen', die nicht .Menschen' sind. 130 Kant setzt fort: „ ... weil man an jenem zwar als vernünftigem Wesen einen reinen, aber, als mit Bedürfhissen und sinnlichen Bewegursachen qfficirtem Wesen keinen heiligen Willen, d.i. einen solchen, der keiner dem moralischen Gesetze widerstreitenden Maximen fähig wäre, voraussetzen kann. Das moralische Gesetz ist daher bei jenen ein Imperativ ..." (Fortsetzung im Text). 131 Kant setzt fort: „ ... die darum Pflicht heißt, weil eine pathologisch [d.i.: .sinnlich', nicht: .krankhaft'; G.R.] afficirte (obgleich dadurch nicht bestimmte, mithin auch [vgl. die „Tafel der Kategorien der Freiheit", KpVV/66, vgl. auch KpYV/66, Zeile 12-15, zitiert in Anm. 29/Kap. 3.5; G.R.] immer freie) Willkür einen Wunsch bei sich führt, der aus subjectiven Ursachen entspringt, daher auch dem reinen objectiven Bestimmungsgrunde [d.i. das Moralgesetz; G.R.] oft entgegen sein kann und also eines Widerstandes der praktischen Vernunft, der ein innerer, aber intellectueller Zwang genannt werden kann, als moralischer Nöthigung bedarf...." (Fortsetzung im Text). 132 Vgl. im gegebenen Zitat: .Abhängigkeit', .Verbindlichkeit', .Nötigung', .Widerstand der praktischen Vernunft', .intellektueller Zwang' [er ist als .innerer' Zwang autonom; im Gegensatz zu jedem .äußeren', sinnlichen, .pathologischen' - bzw. noch weiter gefaßt: - .theoretischen' Zwang]; vgl. auch Anm. 101/Kap. 3.5. 133 Der kategorische Imperativ setzt also - gegenstandlich gesprochen - in der betreffenden Handlungsmaxime an die Stelle des .(sinnlich-empirischen) Guten' des Prinzips der Selbstliebe das synthetisch-apriorische, sinnlich-unbedingte .Sittlich-Gute' des Prinzips der reinen praktischen Vernunft. — Zur Unterscheidung von sinnlichem .Wohl', sinnlich-bedingtem ,Gut' und .Sittlich-Gutem' vgl. KpYV/59f.

3.5 Das Noumenon als Subjekt (.Praktische Erkenntnis')

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f e r n wird das »Sittlich-Gute' v o l l k o m m e n realisiert.134 Dies ist aber mit der sittlichen Stufe der ,Pflicht' (, Achtung') nicht nur vereinbar: gerade das wird von ihr g e f o r d e r t (»kategorischer Imperativ'). In dieser »Nötigung'135 liegt ja gerade jener e i n s c h r ä n k e n d e Charakter des moralischen Prinzips, der uns d i e s e F o r m moralischer Vollkommenheit g r u n d s ä t z l i c h erst ermöglicht. Im Vergleich mit dem Begriff des , hei l i g e n ' Willens, der „über alle praktisch-einschränkende Gesetze, mithin ... Pflicht" h i n a u s ist, zeigt sich ,unsere' grundsätzliche moralische U n v o l l k o m m e n h e i t , die mit der früher festgestellten grundsätzlich möglichen (und moralisch geforderten) »Vollkommenheit' nicht nur vereinbar ist sondern in innerem Zusammenhang steht.136 Denn die »heilige Stufe', als »praktische Idee', jenseits der einschränkenden Gesetze, bedeutet die n o t w e n d i g e Ü b e r e i n s t i m m u n g a l l e r M a x i m e n überhaupt mit dem Moralgesetz;137 — sozusagen eine » T o t a l i t ä t ' moralischer Maximen,138 und zwar von b e s o n d e r e r Qualität. 134

Eine .unvollkommene' Realisierung des .Sittlich-Guten' wäre gar keine Realisierung, da die Form der Maxime dann nur .unvollkommen' die Fähigkeit zu .allgemeiner Gesetzgebung' aufwiese, also die Möglichkeit von Ausnahmen zuließe; dies aber ist ja gerade die Form der Selbstliebe und nicht jene des synthetisch-praktischen Prinzips a priori, dessen .Objekt' das Sittlich-Gute ist. 135 Bzw. .Demütigung', .Niederschlagung' etc. der Selbstliebe. 136 Vgl. dazu Anm. 138/Kap. 3.5 (.höchstes Gut'). Dort wird auch angedeutet, daß und warum dieser Zusammenhang - zumindest für mich - nicht die bei Kant sonst gewohnte Durchsichtigkeit besitzt. 137 Vgl. KpVV/32: „ ... heiligen Willen ... der keiner dem moralischen Gesetze widerstreitenden Maximen iahig wäre". — Als sinnlich-affizierte Vernunftwesen sind „wir" dazu sehr wohl fähig, in einem Maße, daß - umgekehrt - unsere Fähigkeit zu auch nur einer Maxime, die dem moralischen Gesetz notwendig gemäß ist, von allen (sensualistischen) Empiristen .kategorisch' bestritten wird. — Vgl. dazu KpV V/7f: „Der Begriff der Freiheit ist der Stein des Anstoßes für alle Empiristen, aber auch der Schlüssel zu den erhabensten praktischen Grundsätzen für kritische Moralisten, die dadurch einsehen, daß sie nothwendig rational verfahren müssen." 138 Das Verhältnis der jeweils einzelnen .moralischen Maxime' (.objektive' Gültigkeit der praktischen Vernunft) zur .subjektiv'-gültigen Idee der Totalität moralischer Maximen ist analog demjenigen von (.theoretischer') .Verstandeseinheit', als jeweils einzelnes .Moment', zu (.theoretischer') .Vemunfteinheit', als systematische Einheit (.Totalität') aller einzelnen .Verstandeseinheiten', gedacht; vgl. oben (ab Fußnotenreferenz 88/Kap. 3.5). — Diese .Totalität' ist - gegenständlich gedacht - das . h ö c h s t e G u t ' ; vgl. KpV V/108: „ ... die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts." Dabei ist zu unterscheiden das .höchste ursprüngliche Gut' (d.i. die .Existenz Gottes'; vgl. KpV V/125) vom .höchsten abgeleiteten Gut' (d.i. die .beste Welt'; vgl. KpV V/125). —

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Dieses letztere, auch das „höchste Gut einer möglichen Welt" (KpV V/l 10) bzw. .höchstes Gut in der Welt' genannt, ist das „ganze Object der reinen praktischen Vernunft" (KpV V/119), und zwar als Einheit von Sittlichkeit (d.i. das „oberste Gut"; KpV V/119) und Glückseligkeit. — Die Realisierbarkeit dieser nur subjektiv-apriori gültigen, synthetisch-praktischen Einheit ist ohne Gott („Schöpfer"), der die objektive Möglichkeit dieser Einheit .garantiert', und ohne „persönliche Fortdauer", die Voraussetzung der Verwirklichung dieser Einheit durch das jeweilige moralische Subjekt („Geschöpf"), für Kant nicht denkbar. Daher die beiden entsprechenden - im Unterschied zum ,objektiv'-gültigen Postulat der Freiheit nur ,subjektiv'-gültigen - Postulate. — Bei allen Schwierigkeiten, die mir Kants Begriff des höchsten Guts als Einheit von Sittlichkeit und der dieser .proportionierten* Glückseligkeit auch zu haben scheint, ist doch die systematische Konsequenz dieses Begriffs festzustellen, die allerdings durch die Art Kants diesen Begriff zu konstituieren ziemlich verdeckt wird. — Die moralische Maxime, zu der wir fähig sind, ist eine notwendige synthetisch-praktische Einheit von ,moralischer Form' (= das ,Sittlich-Gute') und sinnlicher .Materie' (Begehrungen, Neigungen); das , höchste Gut" ist - als Idee die Totalität des .Sittlich-Guten' (.Sittlichkeit') und der mit ihm - wiederum synthetisch-notwendig - verknüpften Begehrungen und Neigungen (.Glückseligkeit'). Insofern repräsentiert der Begriff des .höchsten Guts in der Welt' - gerade durch dessen synthetisch-apriorische Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit die Idee der Totalität aller moralischen Maximen, die .unserer' sittlichen Stufe des einschränkenden Imperativs entsprechen; und insofern weiß Kant nicht nur um die menschliche Grundgegebenheit (als sinnlich-affiziertes Vemunftwesen) des Strebens nach Glückseligkeit, er gibt ihm auch systematischen Raum (was ja selbstverständlich ist, sofern Philosophie die Wirklichkeit begrifflich fassen will). — [Unter dem Aspekt vor allem der bloß subjektiv-notwendigen Gültigkeit betrachtet, repräsentiert die Idee des höchsten Guts die Totalität aller moralischen Handlungen und insofern die Idee der (in sich gegliederten) Einheit der .Ordnungen' von .Verstandes-' und .Sinnen-Welt' (vgl. Anm. 106, Hl/Kap. 3.5; vgl. auch Kap. 3.5.1.4)]. — So gesehen ist die Rede von der Totalität moralischer Maximen - bezogen auf das .höchste Gut' - zweifach zu verstehen: (1) im eben angedeuteten Sinn, dem sittlichen Niveau der .Pflicht' bzw. .Achtung' entsprechend, und (2) im ,heiligen Sinn': als in jeder Hinsicht vollkommene Sittlichkeit (und sonst nichts). Wenn Kant nun die Idee des Heiligen als Ziel der unendlichen Aufgabe moralischer (Selbst-)Verwirklichung (.Realisierung praktischer Vernunft') angibt— vgl. z.B. KpVV/\23n: „...wie Heiligkeit eine Idee ist, welche nur in einem unendlichen Progressus und dessen Totalität enthalten sein kann, mithin vom Geschöpfe niemals völlig erreicht wird" —, und nicht die .Totalität (l)', so sehe ich darin nur eine Bestätigung der hier vorgelegten Unterscheidung: Denn Sittlichkeit ist und bleibt einziger Bestimmungsgrund moralischer Qualität; dies betont Kant zwar beharrlich - er verläßt diese Position auch nie - und bringt sich doch, wie mir scheint, in seiner Dialektik der reinen praktischen Vernunft (und in KrV A 804ff/B 832ff) mitunter in hedonistisches Zwielicht; wie ich meine: unnötigerweise. — Denn wir streben auf unserem Niveau der Pflicht (daher prinzipiell .unvollkommen') nach .Totalität (2)' und verwirklichen dabei .niemals ganz' (vgl.: .unendliche Aufgabe'), aber im Einzelnen .vollkommen': .Totalität (l)'; - strebten wir nicht nach .Heiligem', so würde Glückseligkeit bestimmend: Denn nach dem „Widerstand der reinen praktischen Vernunft" bzw. nach

3.5 Das Noumenon als Subjekt (, Praktische Erkenntnis')

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Denn die M a x i m e n , u n s e r e s ' Willens sind zwar, w e n n sie m o r a l i s c h e Form haben, n o t w e n d i g e synthetisch-praktische Einheit von moralischer Form und sinnlicher Materie, sie sind aber n i c h t n o t w e n d i g e r w e i s e m o r a l i s c h : Als ,sinnlich-affizierbare Vernunftwesen' sind wir — im Unterschied zum »heiligen Willen' — sehr wohl zu Maximen fähig, die der Moralität widerstreiten können; 1 3 9 und dies in einem Maß, daß ,unsere' Fähigkeit zu auch nur e i n e r Maxime, die dem moralischen Gesetz n o t w e n d i g gemäß ist (Moralität), fragwürdig scheinen mag. 3.5.1.4 Zur Frage der notwendigen synthetisch-praktischen Einheit oder: ,Verstandeswelt' als ,Form' der ,Sinnenwelt' Die Frage sinnlicher Materie unter der Form des synthetisch-praktischen Prinzips a priori (Moralgesetz) zeigt somit: In .objektiv-notwendiger'

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„Nötigung" etc. läßt sich nicht streben; nur durch die Ausrichtung auf „Heiligkeit", „welche nothwendig zum Urbilde dienen muß" (KpV V/32), können wir uns für die „Achtung für das Gesetz" empfänglich(er) machen („kultivieren"); - vgl. dazu KpV V/l 51 ff (Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft) und MSIRL VI/211ff (Einleitung in die Metaphysik der Sitten). Ich bemerke noch (vgl. auch Anm. 92/Kap. 3.5), daß - bezogen auf das moralische Subjekt - Kant in seiner Religionsschrift nicht vom höchsten Gut sondern direkt von der Totalität der Maximen ^Gesinnung') spricht, allerdings in etwas anderer - .lebendigerer' - Weise. Dies ermöglicht u.a. der dort gebrauchte Begriff der Jntelligiblen 7 /', in der — wenn dieser Begriff die ,richtige' (im Gegensatz zur .verkehrten') Ordnung meint — die im .höchsten Gut in der Welt' gegenstandlich vorgestellte Unterordnung von ,Glückseligkeit' unter .Sittlichkeit' nun als - vom moralischen Subjekt zu leistende - Ordnung zweier Prinzipien [der Moralität (.Sittlichkeit') und der Selbstliebe (,Glückseligkeit')] gedacht ist. Vgl. aber meine - nachträgliche - ,Bemerkung...' (d.i. oben S. 160ff) am Anfang von Kap. 3.5.1.2 [Anm.*]. Folgende Arten (der Form) von Maximen sind also - hinsichtlich ihrer Gesamtheit (.Totalität') - vorläufig zu unterscheiden: (1) Maximen eines heiligen Willens (notwendig moralische Maximen); (2) Maximen eines sinnlich affizierbaren (z.B. menschlichen) Willens (nicht notwendigerweise moralische Maximen); (2.1) moralische Maximen (notwendig dem Moralgesetz gemäß; Moralität; moralisch gut); (2.2) Maximen der Selbstliebe (nicht notwendig dem Moralgesetz gemäß, aber auch nicht notwendig gegen das Moralprinzip gerichtet); (2.2.1) Maximen, die .zufällig' dem Moralprinzip gemäß sind: .Legalität'; moralisch böse [insofern diese Maximen in verkehrter Rangordnung, d.i. über den moralischen Maximen, stehen]; (2.2.2) Maximen, die aus .zufälligen' Gründen der Selbstliebe (.Glückseligkeit', .Neigung') dem Moralprinzip nicht gemäß sind; moralisch böse; (3) Maximen eines ,teuflischen'' Willens; diese wären notwendig gegen das Moralgesetz gerichtet (vgl. RGV VI/34ff).

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

synthetisch-praktischer Einheit mit der - objektiviert gedachten - ,Form': ,[das] Sittlich-Gute' steht das sinnliche Begehrungsvermögen nur, s of er n es ,Materie' moralischer Maximen ist.140 Das Zitat KpV V/43 — „Dieses Gesetz soll der Sinnenwelt, als einer sinnlichen Natur, (was die vernünftigen Wesen betrifft) die Form einer Verstandeswelt, d.i. einer übersinnlichen Natur, verschaffen, ohne doch jener ihrem Mechanism Abbruch zu thun" — ist nun klar zu verstehen, denn ,eine sinnliche Natur' r e l a t i v auf » v e r n ü n f t i g e W e s e n ' bedeutet auch die Möglichkeit psychisch-bewußter - bzw. durch ,Klärung' bewußt zu machende - Realität sinnlicher Begehrungen und Neigungen, kurz: die Möglichkeit der psychischen Realität141 von Handlungsmaximen unter der Form der Selbstliebe oder, in anderer Formulierung: die Möglichkeit eines psychisch-realen Bewußtseins von Heteronomie.142 Das Moralgesetz als „Form ... einer übersinnlichen Natur" verdrängt (»kategorischer Imperativ'!) die Form der Selbstliebe durch deren Beschränkung auf die bloße Form der Gesetzmäßigkeit,143 oder anders formuliert: Das 140

Alles übrige Empirisch-Reale hat - als mögliche .objektiv-empirische' Bedingung empirischen ,(Leistungs-)Erfolges' - nur , subjektiv-notwendigen' Zusammenhang mit dem Moralprinzip [als mögliche bzw. tatsächliche .Materie' einer mehr oder weniger .geglückten' moralischen Handlung]; vgl. auch Anm. 11 l/Kap. 3.5. 141 ^Sinnlich-pathologisch' oder .psychisch' bzw. .psychologisch', bezogen auf Begehrungen und Neigungen (.Gefühl'), ist der Gegensatz zu .moralisch-praJtfticA'; vgl. GMSIV/399: „Denn Liebe aus Neigung kann nicht geboten werden, aber Wohlthun aus Pflicht selbst, wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt ... ist praktische und nicht pathologische Liebe". Moralisch-religiöse Lebensausrichtung bedeutet geistig-bewußte Lebensführung; diese beginnt am Ort der empirisch-realen moralischen Maxime: bei der psychischen Bewußtheit, die unter der Leitung des klaren moralischen Prinzips in der persönlichen Anstrengung der notwendigen, fortgesetzten Läuterung fähig ist. — Wer das, erstmals 1946(!) erschienene, Buch von Viktor E. Frankl, Trotzdem ja zum Leben sagen \ Ein Psycholog[e] erlebt das Konzentrationslager, vorurteilsfrei und aufmerksam auf die hier zum Ausdruck kommende menschliche Haltung liest, der wird den Atem moralisch-religiöser Freiheit (und damit von .Menschen-Würde') spüren im Unterschied zu allem .pathologisch Guten'. Dieses Buch ist auch ein Beispiel dafür, daß .wirkliche' Ausrichtung an .Geistig-Hohem' weder schöngeistige Schwäche noch totalitäres .höheres Wissen' ist [Viktor Frankl, Wiener Arzt und Begründer der .Logotherapie', wurde als Jude zuerst nach Auschwitz gebracht und schließlich im Raum Dachau von alliierten Truppen aus dem Konzentrationslager befreit]. 142 Tatsächliches Einsehen — dieses ,Bewußtsein' hat selbstverständlich immer auch einen psychisch-realen, nicht unbedingt primär .intellektuellen' (vgl. den Ausdruck: .Logik des Herzens') Aspekt — der Heteronomie als Heteronomie bedeutet insofern ihre Überwindung (.Verdrängung', .Umwandlung'), als dieses nur am Boden der Autonomie (d.h. hier: unter der „Form der Verstandeswelt") möglich ist.

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Moralgesetz - dessen S u b j e k t ,wir' sind - verwandelt Heteronomie in Autonomie.144 In diesem Sinn „versetzt uns das moralische Gesetz, d e r I d e e n a c h " (KpVV/43) in eine Welt der Freiheit; oder ,subjektiv' formuliert: Der nie zu vollendende Weg moralischer Läuterung und Klärung fuhrt aus ,Unfreiheit' in ,Freiheit', die nie fester Besitz sondern immer neu - und ,höher' - verwirklicht werden kann und soll.145 Was immer also ,das Moralgesetz tut', es ist unsere eigene Tätigkeit als S u b j e k t eben dieses Gesetzes, in immer derselben Richtung: Realisierung der jeweiligen Freiheitsforderung; - und das heißt, „so gut handeln, als in unserem Vermögen ist" (KpW/\2$n). 143

D.i. Verbot jeder .Ausnahme", vgl. KpVV/93: „Aber diese Unterscheidung des Glückseligkeitsprincips von dem der Sittlichkeit ist darum nicht sofort Entgegensetzung beider, und die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben, sondern nur, so bald von Pflicht die Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht nehmen." — Wenn man .Gesinnung' psychologisch (bzw. ,pathologisch') versteht, ist eine .Einwirkung' auf sie nur durch ,äußere Triebfedern' (,Naturkausalität') denkbar. Ist aber .Gesinnung' als Form der Maxime verstanden, so wird ihre .Änderung' bzw. .Einschränkung' durch die .innere', .unbedingte Forderung' (Karl Jaspers), also ohne Naturkausalität, denkbar. — Die .bloße Form der Gesetzmäßigkeit' ist dann identisch der Gesinnung einer Handlung .aus Pflicht', .aus Achtung fürs Gesetz', ,um des Gesetzes willen'; weil die .bloße Form der Gesetzmäßigkeit', und sie allein, die notwendige Legalität, und das ist Moralität, bedeutet. 144 Ygj KpWI43. „Die sinnliche Natur vernünftiger Wesen überhaupt ist die Existenz derselben unter empirisch bedingten Gesetzen, mithin filr die Vernunft Heteronomie. Die übersinnliche Natur eben derselben Wesen ist dagegen ihre Existenz nach Gesetzen, die von aller empirischen Bedingung unabhängig sind, mithin zur Autonomie der reinen Vernunft gehören." Wenn Kant in der Kritik der Urteilskraft auch hinsichtlich der theoretischen Vernunft von .Autonomie' spricht, so ist dies kein sachlicher Widerspruch (vgl. dazuAnm. 12/Kap. 5). — Zum psychisch-realen Bewußtsein der Autonomie vgl. z.B. KpV V/160f: „ ... die Reinigkeit des Willens ... vorerst nur ... so fern in einer Handlung aus Pflicht gar keine Triebfedern der Neigungen als Bestimmungsgründe auf ihn einfließen; wodurch der Lehrling doch auf das Bewußtsein seiner Freiheit aufmerksam erhalten wird, und, obgleich diese Entsagung eine anfängliche Empfindung von Schmerz erregt, dennoch ... eine Befreiung ... angekündigt... wird." 145 Vgl. z.B. KpV V/128: „Das moralische Gesetz ... fordert Heiligkeit der Sitten, obgleich alle moralische Vollkommenheit, zu welcher der Mensch gelangen kann, immer nur Tugend ist, d.i. gesetzmäßige Gesinnung aus Achtung fürs Gesetz, folglich Bewußtsein eines continuirlichen Hanges zur Übertretung, wenigstens Unlauterkeit, d.i. Beimischung vieler unächter (nicht moralischer) Bewegungsgründe zur Befolgung des Gesetzes, folglich eine mit Demuth verbundene Selbstschätzung und also in Ansehung der Heiligkeit ... nichts als Fortschritt ins Unendliche dem Geschöpfe übrig läßt... Der Werth einer dem moralischen Gesetze völlig angemessenen Gesinnung ist unendlich ..."

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Diese R i c h t u n g der s t e t i g e n Entwirrung von ,Autonomie' und , Heteronomie'146, des immer klareren S t r e b e n s nach Autonomie, ist gemeint, wenn Kant von der „Unwandelbarkeit" der „Gesinnung im Fortschritte zum Guten"147 (KpV V/123n) spricht; „bei diesen Grundsätzen148 beharren" (KpV V/123n) bedeutet daher gerade n i c h t starrsinnige Unbeweglichkeit149, sondern die Möglichkeit b e w u ß t e n L e b e n s . 1 5 0

3.5.2 Das Noumenon als ,moralische Idee' oder: Theoretische Vernunft im Dienste reinen praktischen Vernunft-Gebrauchs , N o u m e n a' haben hier - also relativ auf praktischen Vernunftgebrauch, daher als , m o r a l i s c h e Ideen'151 - vornehmlich r i c h t u n g - g e b e n d e Bedeutung:152 Diese „moralischen Ideen [sind] ... nichts Überschwengliches, d.i. dergleichen, wovon wir auch nicht einmal den Begriff hinreichend bestimmen könnten, oder von dem es ungewiß ist, ob ihm überall ein Gegenstand correspondire, wie die Ideen der speculativen Vernunft, sondern d i e n e n als U r b i l d e r der p r a k t i s c h e n Vollkommenheit zur unentbehrlichen R i c h t s c h n u r des sittlichen Verhaltens und zugleich zum M a ß S t a b e der Vergleichung" 146

Die Richtung in die Verwirrung hinein bedeutet Verstrickung, Heteronomie; die Richtung aus der Verwirrung hinaus bedeutet Befreiung, Autonomie: , Autonomie' und ,Heteronomie' meinen - wie alle anderen in bezug auf die moralisch-religiöse Sphäre wichtigen Begriffe - nichts ,Statisches' — daher ist z.B. die Frage nach feststellbarer moralischer .Leistung' [zu .moralischer Beurteilung' vgl. Kap. 5.2.1.1] ebenso absurd wie jeder Versuch der inhaltlichen Normierung von Moralität —; sie sind Ausdruck von verschieden ausgerichteten ,Prozessen' [In einem Film wurde gesagt: „Das Böse schafft Probleme, das Gute löst sie; so einfach ist das."]. 147 Ich erinnere:,(Moralische) Gesinnung' ist als [(moralische) Form der] Maxime (vgl. Anm. 124/Kap. 3.5), das .Sittlich-Gute' ist als objektiviert gedachtes Moralgesetz [bzw. als .Gegenstand der reinen praktischen Vernunft'; also auch ohne empirisch-fixierbaren Inhalt] zu verstehen. 148 Weil .Gesinnung' die (Form der) Maxime bedeutet, kann Kant im selben Textzusammenhang von .Grundsätzen' sprechen. 149 Denn Unbeweglichkeit ist immer - letztlich .theoretisches' -fixierendesBeharren auf .Inhalten' (Materie) jeder Art. So bedeutet das Beharren „bei diesen Grundsätzen", also - sozusagen - .bei moralischer Un-bedingtheit', gerade größte Beweglichkeit hinsichtlich aller Inhalte bzw. die immer klarere und damit kraftvollere Einsicht (als .praktisches Erkenntnis" verstanden) in die „Form einer Verstandeswelt"

3.5 Das Noumenon als Subjekt (.Praktische Erkenntnis')

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3.5.2.1 Zur Unterscheidung von theoretischem und praktischem Vernunft-Gebrauch (Der jeweilige Mensch als Subjekt) Diese Funktion ,praktischer' Noumena ist im Kontrast zu den theoretischen Funktionen der (»transzendentalen') Hypothesen und jener der Ideen noch besser einzusehen; und damit ihr ,ontologischer Status'.153

Es wurde schon verschiedentlich angedeutet: Auch theoretischer Vemunftgebrauch (für sich betrachtet) hat mit T ä t i g k e i t zu tun:154 Die Rede von der ,synthetischen Einheit a priori', die g e s c h a f f e n werden soll — natürlicherweise durch das , S u b j e k t ' (,Vernunft') d i e s e r (KpV V/43), das Moralgesetz. — Dieses ist, als synthetisch-praktisches, objektiv-apriorisches Prinzip, .notwendige' zu realisierende Form der jeweils ,gegenwärtigen' sinnlichen Inhalte (.Materie'). Das ist die Bedeutung der moralischen Forderung (, Sollen') der Bewältigung (.Formung') der jeweiligen konkreten, aktuellen Situation, in der der jeweilige Mensch tatsächlich steht; und zwar so gut er es eben hier und jetzt kann. — Weil die .Realisierung' (.Verwirklichung') »unserer' moralischen Freiheit nur im Medium der sinnlichen Inhalte geschehen kann bzw. gerade der sinnlichen Inhalte wegen, ist einem „vernünftigen, aber endlichen Wesen ... der Progressus ... von niederen zu den höheren Stufen der moralischen Vollkommenheit möglich" (KpV V/123); — das von uns nicht zu überwindende sittliche Niveau der .Achtung fürs Gesetz' bedeutet, daß dieser „Progressus" „ins Unendliche" geht. 150 Und damit auch die wesentlichste Bedingung der Möglichkeit .menschlichen Denkens'. 151 Noumena, auch als Amoralische Ideen' verstanden, werden - sofern sie gedacht werden - selbstverständlich .theoretisch' gedacht (wie alle, als ßegn#s-Zusammenhang verstandene, Philosophie); ihre .Form' aber ist moralisch-praktische Totalität: Verstandes-WWi — .Freiheit' wurde in der KrV als kosmologische Idee eingeführt; .Autonomie' ist die Ordnung dieser .Welt' —; die Existenz Gottes (die .Totalität' des .höchsten ursprünglichen Guts'; KpV V/125); das .intelligibele Ich' bzw. das .Subjekt der Freiheit' bzw. das .Subjekt des Moralgesetzes' etc. .Verstandes-Welt'. .subjektiv' gedacht als nie zu vollendende, nur als .Entwurf (.Richtung') reale (Selbst-)Verwirklichung der Totalität der Gesinnung (vgl. vor allem RGV), bzw. .objektiv' gedacht im .ganzen Objekt' des Moralprinzips: in der nie zu vollendenden Verwirklichung der Totalität des höchsten Guts in der Welt (vgl. v.a. KrV und KpV), vgl. dazu z.B. Anm. 106,111,138/Kap. 3.5 [und Anm.* (oben S. 160ff)]. '^ Und zwar/«r das theoretische Denken im Dienste praktischer Vernunft, d.h. als Beförderung der Ausübung des Moralgesetzes (vgl. z.B. GMSIV/404F; zitiert am Ende von Kap. 3.5.2.1). 153 Die Frage nach diesem .Status' (vgl. im Text die auf Fußnotenreferenz 14/Kap. 3.5 folgenden Seiten) ist ja die Grundfrage der gegenwärtigen Erörterungen. 154 .Spontaneität' (.reine Tätigkeit') ist ja das Zeichen aller synthetisch-apriorischen Prinzipien (mit einer gewissen Ausnahme der reinen Formen sinnlicher Anschauung).

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

E i n h e i t — trifft auf theoretischen155 und praktischen Vernunftgebrauch zu. Der Unterschied wurde schon genannt, er ist ja gleichbedeutend mit der Unterscheidung beider Vernunft-Aspekte: daß nämlich praktische Vernunft' auf R e a l i t ä t selbst bezogen ist (im Sinne des ,Verwirklichens'), wogegen ,theoretische Vernunft' auf R e a l i t ä t im D e n k e n (im Sinne von Verstandes- bzw. Vernunft-Funktionen) beschränkt ist, auf die (transzendentale') M ö g l i c h k e i t von Realität156 also, die erst durch - nicht ,spontan' herbeizuführendes sondern ,rezeptiv' aufgenommenes Mannigfaltiges sinnlicher Anschauung zu tatsächlicher Realität gelangt. Ist nun das ,Technisch-Praktische' als theoretischer Vernunftgebrauch erkannt und insofern vom ,Moralisch-Praktischen' als allein reinem praktischen Vernunftgebrauch getrennt, dann dominiert ein neues, fundamentaleres Merkmal: anstelle des B e z u g s zur Realität die R e a l i t ä t s e l b s t . Denn theoretischer Vernunftgebrauch ist notwendig relativ (und damit eingeschränkt) auf e m p i r i s c h e Realität (,Sinnenwelt');157 in ebenso notwendiger Weise ist praktische Vernunft auf nicht-sinnliche ( , ü b e r s i n n l i c h e ' ) R e a l i t ä t bezogen158 — natürlich auf praktische Weise'.159 So wird ein neues Unterscheidungs-Merkmal sichtbar: die R e a l i s i e rung, 1 6 0 und damit zusammenhängend: der (jeweilige) M e n s c h als S u b j e k t dieser Realisierung.161 155

Man denke nur an die objektiv-apriorischen, .konstitutiven' ,Verstandes-Handlungen' des reinen Verstandes, wodurch das Sinnlich-Mannigfaltige die Form der ,Verstandes-Einheit' erhält und nicht nur empirische Erkenntnis sondern in gewisser Weise auch der Gegenstand dieser Erkenntnis ,realisiert wird'; oder an die Stiftung subjektiv-apriorischer, regulativer' Einheit der Totalität systematischen Zusammenhanges durch Vernunft-Ideen. 156 In dieser Hinsicht ist Kants - auch nach dem Erscheinen der KpV durchgehaltene Position als konsequent zu verstehen, daß eine Kritik der praktischen Vernunft nicht im Rahmen der Transzendental-Philosophie (der Möglichkeit) liege; vgl. Kap. 4. 157 Auch die Einheit .transzendentaler Ideen' (vgl. Kap. 3.4) darf ,befugt' ausschließlich relativ auf - und damit zugleich eingeschränkt, d.h. nur .regulativ', durch mögliche empirische Realität im Denken (,in der Idee') angenommen werden. Die mißbräuchlich-irrende Annahme dieser Einheit als .Einheit an sich' ist ja Zeichen der Aa/efaiscA-spekulativen Vernunft. 158 Vom Boden theoretischer Vernunft aus gesehen, also in ^theoretischer Weise', wäre dies jene Realität ,an sich', in der dialektische Vernunft .schwärmt' (vgl. dazu den Anfang von Kap. 2.1.1). 159 Und deshalb auch auf diese Weise, die ja .Ausübung des moralischen Gesetzes' bedeutet, eingeschränkt. 160 Hier ist nicht der schon früher genannte, nach wie vor gültige Unterschied gemeint, hinsichtlich einer Realisierung mit Hilfe sinnlicher Anschauung (theoretischer Ver-

3.5 DasNoumenon als Subjekt (»Praktische Erkenntnis')

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T h e o r e t i s c h e E r k e n n t n i s ist — ihrer Tendenz nach systematische — Erkenntnis der gesamten ,sinnlichen Natur',162 das höchste Niveau ihrer Realisierung ist daher: N a t u r w i s s e n s c h a f t ' (unter Einschluß der ihr entsprechenden »Technik');163 diese repräsentiert nunftgebrauch) und der Realisierung allein aus eigenem Vemunftgebrauch (praktische Venunft), sondern - einmal abgesehen von ,Hilfe' - die Art der Realisierung selbst, die mit dem Subjekt der Realisierung zu tun hat. — Daß diese Realisierung in beiden Fällen notwendig mit empirischer Realität zusammenhängt, ist selbstverständlich - die auf Anm. 158 (und 159)/Kap. 3.5 bezogene Textstelle steht dazu nicht im Widerspruch: sie enthält darüber hinaus das neue Unterscheidungs-Merkmal (, Art der Realisierung') - und nur unter dem Gesichtspunkt einer fälschlich vorausgesetzten ,Zwei-Welten-Theorie' verwirrend. — Vgl. V/48: „ ... das moralische Gesetz ... [fugt] einer blos negativ gedachten Causalität [d.i. die Freiheit als bloß logische Denkmöglichkeit theoretischer Vernunft; G.R.] ... positive Bestimmung, nämlich den Begriff einer den Willen unmittelbar (durch die Bedingung einer allgemeinen gesetzlichen Form seiner Maximen) bestimmenden Vernunft, [hinzu] ... die mit ihren Ideen ... objective ... praktische Realität zu geben vermag und ihren [spekulativen; G.R.] transcendenten Gebrauch in einen [praktischen; G.R.] immanenten (im Felde der Erfahrung durch Ideen selbst wirkende Ursache zu sein) verwandelt." — Dem Verständnis dieser ,wirkenden Ursache' (d.i. „causa noumenon"; z.B. KpVV/49, 55) diente die Erörterung der (moralisch-)praktischen Einheit von .sinnlicher Materie' und ,(moralisch-)praktischer Form' (vgl. Kap. 3.5.1). 161 Der Unterschied wird nun dadurch deutlicher, daß im vorliegenden Zusammenhang - Kant entsprechend - nicht ein .Subjekt überhaupt' gemeint ist [z.B. .Vernunft' als Inbegriff aller synthetischen Prinzipien a priori; vgl. dazu das , Schema der Vernunft', Kap. 2.1.1], sondern der Mensch, gedacht als endliches Vernunft-Wesen, und insofern nicht nur mit .praktischer' sondern auch mit .theoretischer' Vernunft begabt, als er zugleich .S/nwen-Wesen' ist: Deshalb ist im folgenden theoretisches Erkenntnis' und ^praktisches Erkenntnis' (also .moralisches Tun') nicht abstrakt-allgemein, sondern bezogen auf den jeweiligen Menschen verstanden. 162 Dies bedeutet den Einschluß jeder Art von Erkenntnis empirischer Gegenstände — wobei ja [diese .Tautologie' bedeutet dasselbe wie die .gegenstandliche Rede' vom Noumenon als Grenzbegriff] .möglicher empirischer Gegenstand' nur sein kann, was Gegenstand möglicher empirischer Erkenntnis ist —: Empirische .Alltags-' bzw. .vorwissenschaftliche Erkenntnisse' sind ebenso Inbegriffen wie die von den .Naturwissenschaften' unterschiedenen .Geisteswissenschaften'. — Es ist selbstverständlich, daß mit der Entwicklung neuzeitlicher Naturwissenschaft eine immer präzisere Bestimmung dessen einhergeht, was als .empirisch-relevant' zu akzeptieren bzw. als .metaphysisch' abzulehnen ist. Nicht selbstverständlich ist leider die Akzeptierung des .tautologischen Charakters' dieser Bestimmung; die dazu geforderte Konsequenz ist allerdings - so in Kantischer Ausdrucksweise - nur dem philosophischen Denken , immanent', dem (naturwissenschaftlichen Denken jedoch - als Merkmal der ihm innewohnenden Folgerichtigkeit - .transzendent'. 163 Zumindest in neuzeitlichem Sinn; Unterschiede wissenschaftstheoretischer Anschauungen sind für den gegebenen Zusammenhang solange irrelevant, als wissenschaftliche Erkenntnis als Produkt von grundsätzlich - wie .Rädchen im Getriebe' - aus-

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

— relativ auf M e n s c h e n (als ,Vernunft-Wesen' gedacht) — totale H e t e r o n o m i e . 1 6 4 Das aber bedeutet p r i n z i p i e l l e A b w e s e n h e i t des m e n s c h l i c h e n S u b j e k t s : Die ,Subjekte' theoretischen Vernunftgebrauchs, sofern er in Naturerkenntnis , r e a l i s i e r t ' wird,165 sind tauschbaren .Subjekten' des Wissenschaftsbetriebes (d.s. die .Wissenschaftler') betrachtet wird, — Wird diese Bemerkung im Kontext gelesen, so kann sie nicht als absurde, der ,grünen' Mode huldigende — das bedeutet nicht die Verkennung mancher, derzeit,grüner', Probleme als Menschen-Probleme; allerdings nur der Substanz nach, denn ihre ,grüne' Darbietung erfolgt leider überwiegend in irrationaler bzw. in sich widersprüchlicher Art — Wissenschafts- bzw. Technik-Verurteilung mißverstanden werden. Denn sie stellt - ohne intendierte Wertung - vorhandene Strukturen .theoretischer Vernunft' fest, um davon .praktische Vernunft' besser abheben zu können [Im übrigen legt gerade diese Schrift großen Wert auf die Einheit der Vernunft in ihrem theoretischen und praktischen Aspekt], Denn daß (IM ihren Grenzen) ,theoretische Vernunft' — für die der Mensch grundsätzlich nur Objekt der Manipulation [an ihm bzw. durch ihn; ästhetisch befriedigend oder nicht] sein kann, d.h. daß der .Mensch' .theoretisch', sei es als .Wissenschaftler', als .Arbeiter überhaupt' etc., nur als bloßes Funktions-Mr7te/ betrachtet wird und konsequenterweise nur so betrachtet werden kann — genau dasselbe unangefochtene Gewicht besitzt wie die (als .theoretisch-strukturiert' gedachte) empirische Realität als Ganzes, das zeigt jene Formulierung des kategorischen Imperativs besonders deutlich, die die moralische Forderung so ausdrückt, daß die moralische Handlungs-Maxime (.Gesinnung') Mit-Menschen ^niemals nur als Mitter .brauchen' läßt, sondern sie , immer auch' (zumindest potentiell) als , Zweck (an sich)' würdigt. 164 Denn nichts anderes bedeutet die - .theoretischer' Struktur, deren Erkenntnisobjekte ausschließlich .Bedingtes' sind, entsprechende - ,technisch-praktische' Ausrichtung nur auf Mittel. — Das .Unbedingte', die .Totalität' der transzendentalen Ideen (durch theoretische Vernunft gedacht), steht dazu nicht im Widerspruch: es ist ja Entwurf systematischer Einheit gerade dieses .Bedingten'. — Dennoch bleibt ein kleiner - hier allerdings nicht wesentlich relevanter - ,Rest': Sofern nämlich das .objektive' Moment dieser .subjektiv-apriori' (also bloß .regulativ' bzw. erkenntnisleitend) geltenden Prinzipien beachtet wird; vgl. dazu Kap. 3.4. 165 Diese Einschränkung ist wichtig und im gegebenen Zusammenhang besonders interessant. Denn sofern theoretischer Vemunftgebrauch den , leeren Raum schafft', indem er .Noumena [als Grenz-Begriffe] denkt', insoweit ist nicht bloß die abstrakte, logische Denkmöglichkeit der Realität praktischer Vernunft eröffnet: Vom , menschlichen Subjekt' - das nur als .moralisches', also nicht als Phaenomenon sondern nur als Noumenon wirklich ist, indem es (sich) .verwirklicht', .realisiert' - kann hier nicht mehr abstrahiert werden. — Anders formuliert: Während im Rahmen (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns .das Rad nur einmal erfunden', .der Nordpol nur einmal entdeckt' etc. werden kann - der Erkenntnisfortschritt findet arbeitsteilig statt - und im Sinne der Fortschrittsökonomie auch .soll', muß dieser , leere Raum' von jedem ^menschlichen Subjekt' selbst Beschaffen' werden — auf dem Niveau seiner (auch intellektuellen) Möglichkeiten: .philosophisch-wissenschaftlich' oder als der .gemeine Mann', dem Kant .Achtung' zollt —; denn es geht hier um die Einheit des Subjekts, aus der allein die Kraft kommt, Amoralisches)

3.5 Das Noumenon als Subjekt (,Praktische Erkenntnis')

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grundsätzlich austauschbare, auf , F u n k t i o n ' hin bestimmte und organisierbare, heteronom strukturierte Objekte. 1 6 6 (Moralisch-)Praktische E r k e n n t n i s dagegen besteht in der Verwirklichung von A u t o n o m i e bzw. des ,Sittlich-Guten'.167 Das S u b j e k t dieser Realisierung ist der M e n s c h , als „ c a u s a n o u m e n o n " betrachtet.168 Es ist g r u n d s ä t z l i c h e i n z i g a r t i g ; und das bedeutet: Moralische Läuterung, wie übrigens jede wirkliche , A u f k l ä r u n g ' , kann n i c h t s t e l l v e r t r e t e n d realisiert werden. Sie ist stetige Bewußtseins-Entwicklung (,Klärung') in Richtung ,Autonomie';169 jeder Stillstand ,am Weg' ist hier Rückschritt, denn hier gibt es keinen Besitz, nur immer neue Bewährung. 17° — Zeugnis abzulegen' und nicht schöngeistiger Dekadenz zu frönen; und das bedeutet ja nichts anderes, als das Faktum moralischer Realität praktisch erkennen': durch -tatsächliche,nicht bloß gedachte - .Realisierung'. Anders formuliert: Ohne ,Freiheit' ist kein (autonomes) Subjekt denkbar. Im Rahmen der konstitutiven theoretischen Vernunft (.Verstand') ist für sie kein Platz; regulative Vernunftideen ,stärken' die bloß logische Denkmöglichkeit (nicht aber die .reale' Möglichkeit) von Freiheit, die mit dem ,leeren Raum', dem .Denken des Noumenon' als Grenzbegriff, gegeben ist. Genau dieser , leere Raum' — als letzte Konsequenz theoretischer Vernunft und Grund der Möglichkeit, praktische Vernunft als Vernunft (die moralische Forderung also als rational) denken zu können — fällt empiristischer Reduktion zum Opfer, die .theoretischer Vernunft' (in den Kantischen .Grenzen', die .durchlässig' sind) die Apriorität und damit sozusagen das .Bewußtsein' nimmt. 166 Und zwar in so umfassendem Sinn, daß die Ersetzung dieser .Subjekte', nicht nur hinsichtlich der .technischen' Anwendung sondern auch in bezug auf die (natur-)wissenschaftliche Forschung, gar kein erkenntnistheoretisches sondern ein rein empirisches, nämlich ein technisch-ökonomisch-psychisch-soziales [-etc.] Problem ist: Von .Moral', als geistige Autonomie verstanden, kann in diesem heteronomen BegrifTs-Rahmen gar nicht gesprochen werden; vgl. auch die vorhergehenden Anmerkungen. 167 Ich verweise auf die diesbezüglichen, früher (Kap. 3.5.1) erfolgten Erörterungen. 168 Vgl. KpVV/55: „Nun ist der Begriff eines Wesens, das freien Willen hat, der Begriff einer causa noumenon, und daß sich dieser Begriff nicht selbst widerspreche, dafür ist man ... gesichert... ". 169 D.i. das Gegenteil aller jener (tiefen-)psychologischen Methoden (.Techniken') der ,Selbst-Findung' bzw. .-Verwirklichung', die in .technisch-praktischem' Verständnis verharren; denn diese fuhren erst recht ins Egozentrische hinein. 170 Dieses und noch mehr wurde schon an früherer Stelle angedeutet. Formulierungen wie diese sind soziologisch-politischen Bewegungen' gut bekannt, die - wenn sie sich etablieren konnten - historisch-real noch immer in Diktatur erstarrten. Der zentrale philosophische Grund dafür ist - soweit ich es sehen und hier formulieren kann - die (un-)bewußte Vernichtung der Autonomie des einzelnen Menschen', indem z.B. eine .Volksgemeinschaft' oder .Klasse' oder sonstige Gruppe zum Subjekt der jeweiligen .Bewegung' wird; ist aber die Würde (d.i. Autonomie) des jeweils einzelnen Menschen nicht mehr gegeben, weil er nicht mehr ein ,Ganzes' [vgl. die ,Tota-

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Mit dem Begriff des M e n s c h e n (als zu verwirklichende Einheit von noumenalem und sinnlichem Aspekt gedacht171) ist also das Kriterium des Unterschiedes von theoretischer und praktischer Vernunft gefunden. Aber zugleich wird theoretischer Vernunftgebrauch am Boden praktischer Vernunft fragwürdig: Denn ,Denken' ist grundsätzlich ,theoretisch', auch wenn es im Rahmen praktischer Vernunft und relativ (und damit eingeschränkt) auf sie erfolgt. Der hier entstehenden Frage nach dem Wert von Moralphilosophie überhaupt, die ja - worauf mit Kant Gewicht zu legen ist - als Philosophie (d.h. im Denken) die Realität des Moralgesetzes (bzw. der ,moralischen Dimension') nicht beweisen kann,172 antwortet z.B. folgendes Zitat (GMS IV/404f): „Es ist eine herrliche Sache um die Unschuld, nur es ist auch wiederum sehr schlimm, daß sie sich nicht wohl bewahren läßt und leicht verführt wird. Deswegen bedarf selbst die Weisheit - die sonst wohl mehr im Thun und Lassen, als im Wissen besteht - doch auch der Wissenschaft [d.i. der Philosophie; G.R.], nicht um von ihr zu lernen, sondern ihrer Vorschrift Eingang und Dauerhaftigkeit zu verschaffen."173

3.5.2.2 Der ,ontologische Status' der .Postulate' als Beispiel für theoretischen Vernunftgebrauch im Dienste praktischer Vernunft Beispielhaft für theoretischen Vernunftgebrauch im Dienste praktischer Vernunft ist der (,ontologische') Status der ,Postulate' praktischer Vernunft.174 Kant versteht unter einem „Postulat der reinen praktischen Vernunft" „einen t h e o r e t i s c h e n , als solchen aber nicht erweislichen lität der Gesinnung' des jeweils Einzelnen] sondern nur mehr ,Teil' ist - also nicht mehr auch ,Zweck (an sich)', nur noch , -, dann ist es nur eine Frage der Zeit bzw. der empirischen Umstände, wann die durchaus mögliche Wärme solcher ,Bewegungen' in unmenschlicher Ideologie und ihren Taten vergeht. 171 Wobei, dem systematischen Begriffszusammenhang entsprechend, der .noumenale Aspekt' relativ auf den .sinnlichen' (als .Materie') Forrw-Charakter besitzt; — in der Weise der Auf-Forderung zur Verwirklichung ebendieser Form(-Einheit); dementsprechend auch das „Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen" (KpV V/l 19). 172 Vgl. z.B. KpW/3: „Denn wenn sie als reine Vernunft wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die That..."

3.5 Das Noumenon als Subjekt (.Praktische Erkenntnis')

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Satz ... so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt" (KpV V/122) und an anderer Stelle (KpV V/132) heißt es: „Diese Postulate sind n i c h t t h e o r e t i s c h e D o g m a t a , sondern Voraussetzungen in nothwendig praktischer Rücksicht". Das bedeutet — und Kant betont es in immer wiederkehrenden Formulierungen175 — , daß diese Postulate nicht willkürlich sind, sondern als notwendige (Denk-)Voraussetzungen — (des Denkens) der Realität des Moralgesetzes selbst176, bzw. (des Denkens) der Realität des mit dem Moralgesetz notwendig (,subjektiv-apriori') zusammenhängenden ,höchsten Guts in der Welt'177 — (im D e n k e n ) a n g e n o m m e n werden müssen.178 Vornehmlich zwar als „Postulate der reinen praktischen Vernunft" bekannt,179 betreffen sie aber die A n n a h m e der W i r k l i c h k e i t von 173

Nachdem Kant festgestellt hat, daß „die gemeine Menschenvemunft nicht durch irgend ein Bedürfhiß der Speculation (welches ihr, so lange sie sich genügt, bloße gesunde Vernunft zu sein, niemals anwandelt), sondern selbst aus praktischen Gründen angetrieben ... einen Schritt ins Feld einer praktischen Philosophie" tut, endet er mit der Vorstellung einer Kritik der praktischen Vernunft [„... als in einer vollständigen Kritik unserer Vernunft Ruhe finden"; GMSIV/405]. 174 Diese sind ja auf Nownena act praktischen Vernunft bezogen. Vgl. z.B. KpV V/132: „Diese Postulate sind die der Unsterblichkeit, der Freiheit, positiv betrachtet (als der Causalität eines Wesens, so fern es zur intelligibelen Welt gehört), und des Daseins Gottes". — Es ist für den Zusammenhang dieser Schrift nicht notwendig, auf die nähere Entwicklung dieser Postulate einzugehen (genausowenig wie auf jene des ,höchsten Guts in der Welt'); was hier jedoch interessiert, ist der Status dieser Postulate. 175 Und wird doch beharrlich mißverstanden und zu widerlegen versucht als Autor einer Art von Metaphysik, deren innere Unmöglichkeit er selbst (in der Kritik der reinen Vernunft) klar gezeigt hat. 176 D.i. ,Freiheit'; diese, sagt Kant (KpV V/132) „fließt... aus der notwendigen Voraussetzung der Unabhängigkeit von der Sinnenwelt und des Vermögens der Bestimmung seines Willens nach dem Gesetze einer intelligibelen Welt". 177 Das .Dasein Gottes' und die .persönliche Fortdauer' (.Unsterblichkeit'). 178 Dieses .müssen' ist insofern hypothetisch, als es das Denkenwollen der Realität des Moralgesetzes (als .Gegenstand' dieses ,Nach-Denkens') voraussetzt. 179 Daß einige Namen von Noumena zwar im Kantischen Text vorkommen, aber nicht als .Postulat' bezeichnet werden, ist kein Problem, da sie entweder (wie das .höchste Gut in der Welt') als vom Denk-Gegenstand: .Moralgesetz' (subjektiv-)notwendig gefordertes Objekt eingeführt - in gewisser Weise auch .postuliert' - werden oder in den genannten Postulaten enthalten sind. — So bedeutet der Begriff der „Freiheit" (.kosmologische Idee') den Begriff des Daseins „von reinen praktischen Gesetzen" (d.i. des moralischen Prinzips) „in der intelligibelen Welt" (KpV V/46) und so .enthält' das Postulat der Unsterblichkeit das „Ich an sich" bzw. das „Subject des Moralgesetzes" etc.; endlich ist das „Dasein Gottes" selbst zu bedenken. — Wenn Kant gleich anschließend bezüglich des Moralgesetzes selbst von einem

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

N o u m e n a (in p o s i t i v e r Bedeutung) überhaupt, s o f e r n diese in jeweils notwendiger180 Relation zu praktischem Vemunftgebrauch steht181 und damit, zugleich' auf diesen eingeschränkt ist;182 — nach dem ,onto„Postulat" spricht (KpV V/46), so ist dies kein Widerspruch zu meiner früheren Behauptung, das Moralgesetz könne, als bloß formales Prinzip, nicht selbst ein Noumenon sein: Denn auch hier (KpV V/46) wird die Wirklichkeit nur dieses Gesetzes (nicht etwa eines ,Wesens') als noumenales Ordnungsprinzip, das das einzige ist, wovon wir uns hinsichtlich der ,,übersinnliche[n] Natur ... einen Begriff ... machen können" (Ä>FV/43), .postuliert'. 180 Diese ,Notwendigkeit' ist zwar offensichtlich auf das Denken bezogen, jedoch auch auf praktische Vernunft selbst: Soweit .Denken' die „Ausübung des moralischen Gesetzes" fördert, dienen für das Denken .notwendige' (eben: Denk-)Voraussetzungen zugleich der Ausübung des Moralgesetzes selbst (vgl. dazu auch die folgende Anm.). — Die .Notwendigkeit' dieser beiden Bezüge (auf .theoretisches' Denken bzw. auf .praktische' Realisierung des Sittlich-Guten) ist insofern begrifflich unterschieden, als denknotwendige Annahmen .subjektiv-apriorische' Gültigkeit besitzen, das Moralgesetz selbst aber .objektiv-apriori' gilt. — Die .subjektiv-apriorischen' DenkAnnahmen der Postulate haben im Kontrast zur realen synthetischen Kraft des Moralprinzips hypothetisch-tautologischen (also .analytischen') Charakter, nicht aber das in diesen Postulaten Angenommene (z.B. .Gott') oder das diesen Postulaten ,zum Grunde Liegende' (das .höchste Gut in der Welt'): Als dieses,Angenommene' verstanden, haben diese Postulate synthetischen' Charakter. 181 Daher sind diese Annahmen am Boden praktischer Vernunft (d.i. in der Realisierungs-Anstrengung der moralischen Forderung) .berechtigt' bzw. .begründet'; sie sind deshalb theoretischer Vernunft - relativ auf deren eigenen Gebrauch, weil sie hier keinen .Grund' haben - .transzendent', der praktischen Vernunft aber .immanent' (vgl. z.B. KpV V/48, 135). Diese .Immanenz' betrifft zwar vordergründig jene des Denkens am Boden praktischer Vernunft, aber primär praktische Vernunft selbst [Der Unterschied von etwas im Denken (.denk-immanenf) und etwas außerhalb des Denkens (,denk-transzendenf) ist deshalb so schwer in Klarheit auszudrücken, weil auch dieser Unterschied im Denken getroffen wird]. Würde diese Immanenz ausschließlich das Denken (bezogen auf praktische Vernunft) betreffen, so würden alle diese Annahmen eben so ausschließlich nur den Charakter spezieller theoretischer Fiktionen (Hans Vaihinger!) haben, die allerdings, einmal als Fiktionen durchschaut, ihre ,Kraft' verlieren würden. — Ich verweise hier nur auf Kants Gebrauch des ,als ob' in der ArF(vor allem A 669ff/B 697ff: Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft), und zwar in einem Zusammenhang, der mit dem ,objektiven' Moment der subjektiv-apriorischen, regulativen Schemata der Ideen den bloß fiktionalen Vemunftcharakter des Entwurfs systematischer Einheit als erkenntnisleitendes Prinzip durchbricht [weshalb diese , Schemata' überhaupt zu Recht als Noumena und nicht bloß als vergegenständlichter ,Reflex' der Ideen-Einheit — analog dem .transzendentalen Gegenstand = X' — aufgefaßt werden können; vgl. Kap. 3.4]. 182 Diese .Einschränkung' ist vor allem an den Konsequenzen ersichtlich. Bestünden diese Annahmen nur in theoretischer Hinsicht (also nicht auf praktische Vernunft bezogen), so wäre von einer tatsächlichen (.dogmatischen') oder doch von einer möglichen (.hypothetischen') Lehre zu sprechen, aus der weitere Folgerungen ge-

3.5 Das Noumenon als Subjekt (.Praktische Erkenntnis')

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logischen Status' der Noumena (relativ auf praktische Vernunft) oder demjenigen dieser Postulate zu fragen, ist also dasselbe. — Schon in der Kritik der reinen Vernunft begegnet der B e g r i f f des P o s t u l a t e s . 1 8 3 Was im gegebenen Zusammenhang interessiert — abgesehen von allen der Relativität auf den jeweiligen Vernunftgebrauch entsprechenden Unterschieden184 — ist, daß diese „Postulate" (bzw. „Prinzipien der Modalität", KrV A 232/B 285) im Rahmen theoretischer Vernunft „den Begriff, von dem sie gesagt werden, nicht im mindesten vermehren, dadurch daß sie der Vorstellung des Gegenstandes noch etwas hinzusetzen. ... sie fugen zu dem Begriffe eines Dinges (Realen)185, von dem sie sonst nichts sagen, die Erkenntnis k r a ft hinzu, worin er entspringt und seinen Sitz hat... ",186 zogen werden könnten. z.B. hinsichtlich des Postulats der Unsterblichkeit die denknotwendige Behauptung einer geistigen Substanz etc.; hinsichtlich des .höchsten Guts in der Welt' - das ja in spezieller Weise die Einheit von (,materialer') Sinnenund (.formaler') Verstandes-Welt repräsentiert - weitere ,Natur-Gesetze'; z.B. die These von der empirisch sichtbaren (Un-)Gnade, wobei als Kriterium eben der empirisch-sichtbare, materielle (Miß-)Erfolg herangezogen werden könnte; etc. Die Einschränkung auf praktischen Vernunflgebrauch verhindert diese denkmöglichen (bzw. -notwendigen) Konsequenzen an der Wurzel. Indem diese Annahmen gar keine .Lehre' sind, sondern - in gegenstandlicher (Denk-)Weise - Aus-Richtung bedeuten: des jeweiligen, auf dem (Lebens-)Weg befindlichen Menschen. — In gleichem Sinn sagt beispielsweise Martin Buber von sich selbst, er habe keine .Lehre', nur einen .Weg' zu bieten; bzw. in anderem Zusammenhang - wenn .Weg' selbst als gegenständlicher Fetisch und insofern wiederum als .Lehre' aufgefaßt werden könnte -, er habe auch keinen .Weg' zu weisen, nur die Richtung, deren .Realisierung' in der alltäglichen mit-menschlichen Bewährung .besteht'. 183 Vgl.: Die Postulate des empirischen Denkens überhaupt, KrV A218ff/B 265ff; vor allem KrV A 232Ü7B 285ff. - Ihre Bedeutung ist natürlich ausschließlich auf theoretischen Vemunftgebrauch bezogen. — Vgl. auch Anm. 61/Kap. 3.4 (Zitate, in denen im Zusammenhang mit dem .objektiven' Moment der regulativen Prinzipien von ,Postulated die Rede ist). 184 So beispielsweise das Verständnis der „Postulate des empirischen Denkens" in Anlehnung an die Postulate im „Sinn der Mathematiker" (KrV A 233/B 285; dazu gibt Kant auch ein Beispiel: KrV A 234 f/B 287) und die grundsätzliche Differenz dazu, indem diese Postulate, als praktische Sätze der Mathematik, im Rahmen der Moralphilosophie konsequent als „ fectow/scTi-praktisch" dem theoretischen Vemunftgebrauch zugewiesen werden (vgl. KpV\/26n) bzw. die prinzipielle Unterscheidung mathematischer und .moralischer' Postulate (KpV V/11 n); oder der Bezug der .theoretischen' Postulate auf empirische Gegenstande, der .praktischen' Postulate aber auf (.moralische') Ideen. 185 Da Kant ja .transzendentale' - als gegenstandsbezogen: - .reale' Möglichkeit von bloß .logischer' (Denk-)Möglichkeit unterscheidet, kann hier das „Ding" auch hinsichtlich der Modalität: .Möglichkeit1 „real" genannt werden. 186 KrV A 233f/B 286. - Vgl. dazu auch KrV Anm. A 234f/B 287. — Da aber „der Vor-

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Genau so, wie auf ihrem eigenen Boden,187 ist die Tätigkeit theoretischer Vernunft auf der Grundlage p r a k t i s c h e n Vemunftgebrauchs zu beschreiben: Daß nämlich theoretische Vernunft „zu dem Begriffe eines Dinges (Realen)", das sie als jeweilige „transzendentale Idee" schon - ..theoretisch' (wie sonst?) - gedacht hat,188 nun - als Postulat der reinen praktischen Vernunft (bzw. als ,Denken' der „moralischen Idee"189) „die Erkenntniskraft hinzu [fugt]", also den Begriff der ,an sich' (nicht bloß ,im Denken') realen praktischen Vernunft bzw. des unbedingt geltenden Moralgesetzes, „worin er entspringt und seinen Sitz hat", also: worauf er bezogen und zugleich eingeschränkt ist.190 Die , E r k e n n t n i s k r a f t ' p r a k t i s c h e r V e r n u n f t ist aber ausschließlich und allein die A u s ü b u n g des M o r a l g e s e t z e s bzw. die Realisierung des Sittlich-Guten.191 Wird dies nicht ernsthaft bedacht bzw. ,vergessen', so ist der Unterschied zur Dialektischen Vernunft' verloren und die - so verbreitet anzutreffenden - entsprechenden Vorwürfe Stellung des Gegenstandes" nichts hinzugesetzt wird, haben diese „Postulate" nicht „objektiv-synthetische" sondern bloß „subjektiv-synthetische" Bedeutung; vgl. KrV 233 / 286 [Zum Unterschied dieses .subjektiven Apriori' der (dynamischen) Grundsätze des reinen Verstandes und der subjektiv-apriori gültigen transzendentalen Ideen vgl. Kap. 3.4]. 187 Dies ist deshalb wichtig festzuhalten, weil theoretischer Vemunftgebrauch als solcher (d.h. ohne Berücksichtigung diverser Unterschiede innerhalb seines eigenen Rahmens) immer derselbe sein muß, ob er jetzt auf sich selbst relativ ist oder auf den ,Boden' praktischer Vernunft. 188 Und zwar sowohl hinsichtlich der dialektischen Verirrung, diese Ideen ,an sich' zu denken, als auch mit Bezug auf das erkenntnisleitende, regulative .Schema' der Idee bzw. des ,transzendentalen Gegenstandes in der Idee'. Transzendentale Ideen geben die Richtung für theoretische Erkenntnis, , moralische Ideen1 geben die Richtung für ^praktische Erkenntnis"", in beiden Fällen ist es eine Unendliche1, nie abzuschließende Aufgabe. Der wesentliche Unterschied beider Vemunftaspekte ist am Begriff des jeweiligen Menschen als Subjekt, d.i. hinsichtlich seiner jeweiligen Einzigartigkeit (vgl. auch Kap. 5.1), sichtbar zu machen. 189 Ygj z g hinsichtlich des Freiheits-Begriffs (bezogen auf theoretische bzw. praktische Vernunft) KpV V/7: „Man wird also Betrachtungen dieser Art ... nicht wie Einschiebsel betrachten ... sondern als wahre Glieder, die den Zusammenhang des Systems bemerklich machen, um Begriffe, die dort [hinsichtlich spekulativer Vernunft; G.R.] mir problematisch vorgestellt werden konnten, jetzt [hinsichtlich praktischer Vernunft; G.R.] in ihrer realen Darstellung einsehen zu lassen." 190 Vgl. dazu die Definition Kants („Postulat der reinen praktischen Vernunft"), KpV V/122; teilweise zitiert am Beginn von Kap. 3.5.2.2. 191 Und damit .subjektiv-notwendig' zusammenhängend die Realisierung der jeweiligen ,moralischen Handlung', letzten Endes die Realisierung des .höchsten Guts (in der Welt)'(vgl. Kap. 3.5.1).

3.5 Das Noumenon als Subjekt (.Praktische Erkenntnis')

185

treffen zu Recht: allerdings nicht Kant, sondern alle /Theoretiker'192, die den Kantischen Begriffszusammenhang entweder unter dem - bezogen auf Kant: verkehrten - , Primat der spekulativen Vernunft in ihrer Verbindung mit der reinen praktischen' (vgl. KpV V/119ff) betrachten (wollen) oder ihn - soweit dann überhaupt noch etwas übrig bleibt - nur in reduzierter' Weise zur Kenntnis nehmen (können), nämlich ohne praktische und theoretisch-regulative Vernunft und ohne synthetisch-apriorische Strukturen überhaupt.

3.5.2.2.1 ,Postulate' und transzendentale Hypothesen' Die „ o n t o l o g i s c h e B e d e u t u n g ' der Postulate (bzw. der Annahmen von Noumena) praktischer Vernunft ist jetzt zumindest soweit geklärt, daß die Behauptung, diese Postulate seien auf eine irgendwie , bestehende'193 ,Welt' von ,Dingen an sich' (bzw. Noumena) bezogen, e i n d e u t i g als f a l s c h auszuweisen ist. Dennoch bleibt die früher gestellte und bisher mit , R i c h t u n g ' und , M a ß s t a b ' beantwortete Frage nach der Bedeutung (, F u n k t i o n ' 1 9 4 ) dieser Postulate offen. „Ein Bedürfniß der reinen Vernunft in ihrem speculativen Gebrauche fuhrt nur auf H y p o t h e s e n " , sagt Kant (KpV V/142), „das der reinen praktischen Vernunft aber zu P o s t u l a t e n " . , T r a n s z e n d e n t a l e H y p o t h e s e n ' 1 9 5 betreffen bloß die „Meinung" (KrV A 770/B 798) hinsichtlich der Wirklichkeit von Objekten (deren Möglichkeit allerdings außer Zweifel steht)196 und haben nur einen einzigen Sinn: die A b w e h r dogmatischer Behauptungen spekulativer 192

Von den ,sensualistischen' bis zu den .philosophischen' Empiristen und .spekulativen Dialektikern'; z.B. von den Neopositivisten bis Schelling und Hegel. 193 Die .Zeit' - als Struktur alles Empirischen - ist ja hinsichtlich des Nicht-Empirischen nicht relevant. 194 [Man denke hier auch an Buchtitel wie z.B. Ernst Cassirers „Substanzbegriff und Funktionsbegriff"] Die abgelehnte .ontologische Bedeutung' war an .Substanz' orientiert, die .Funktion' selbst steht gar nicht in Frage, nur ihre Art und Weise. 195 Vgl. z.B. KrYA 772 / 800f, A 779/B 807. 196 Diese .Meinung' muß, „um nicht grundlos zu sein, mit dem, was wirklich gegeben ... ist, als Erklärungsgrund in Verknüpfung gebracht werden" (KrVA 770/B 798).

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Vernunft,197 bzw. die Verteidigung 1 9 8 „anderswo" (nämlich in praktischer Vernunft) gegründeter199 - für theoretische Vernunft: ,transzendenter' - Annahmen. ..Transzendentale Hypothesen' sind also Kampf-Mitte l, aber n i c h t Kampf-Zweck; 200 hypothetisch angenommene Positionen werden nur in ,polemischer' Bedeutung behauptet: „Der solche hypothetische Gegenmittel ... vorkehrt ... verläßt sie, sobald er den dogmatischen Eigendünkel des Gegners abgefertigt hat" (KrV A 780f/B 808f).201 197

D.h. Hypothesen dienen insofern der Verteidigung des für ,befugten' theoretischen Vernunflgebrauch - d.i.:,regulativ'; relativ auf sich selbst: theoretisch-regulativ, relativ auf praktische Vernunft: praktisch-regulativ - notwendigen ,Raumes' (der für theoretisch-regulative Vernunft ,leer' bleibt) gegen dessen unbefugte Besetzung (vgl. dazu Hegels Ausdruck: ,Verstellen'/,Verstellung') durch dialektische Vernunft. Vgl. dazu z.B. KpV V/48f: „ ... so konnten wir nur den Gedanken von einer freihandelnden Ursache ... vertheidigen ... Ich konnte aber diesen Gedanken nicht realisiren ... Diesen leeren Platzßillt nun reine praktische Vernunft ... aus"; — GMS IV/459: „Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig als Vertheidigung, d.i. Abtreibung der Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben ...". 198 Vgl. KrV A 776/B 804: Die Zulässigkeit von Hypothesen ist „bei bloß spekulativen Fragen der reinen Vernunft ... zwar nicht im dogmatischen, aber doch im polemischen Gebrauche" gegeben; — KrV A 739/B 767: „Unter dem polemischen Gebrauche der reinen Vernunft verstehe ich ... die Verteidigung ihrer Sätze gegen die dogmatischen Verneinungen derselben"; — KrV A 776/B 804: „Ich verstehe aber unter Verteidigung nicht die Vermehrung der Beweisgründe seiner Behauptung, sondern die bloße Vereitelung der Scheineinsichten des Gegners, welche unserem behaupteten Satze Abbruch tun sollen"; — KrV A 781/B 809: „ ... im spekulativen Gebrauche der Vernunft [haben] Hypothesen keine Gültigkeit als Meinungen an sich selbst, sondern nur relativ auf entgegengesetzte transzendente Anmaßungen"; denn (Ä>FA775/B 803): „Die von aller Erfahrung abgesonderte Vernunft kann alles nur a priori und als notwendig oder gar nicht erkennen; daher ist ihr Urteil niemals Meinung, sondern entweder Enthaltung von allem Urteile, oder apodiktische Gewißheit." [Vgl. in diesem Zusammenhang z.B. auch Rene Descartes, Meditationen, „IV. Über Wahrheit und Irrtum", PhB Bd. 27, S. 44ff]. 199 Vgl. z.B. KrVA776f/B 804f: „Es wird sich aber in der Folge zeigen, daß doch, in Ansehung des praktischen Gebrauchs, die Vernunft ein Recht habe, etwas anzunehmen, was sie auf keine Weise im Felde der bloßen Spekulation ... vorauszusetzen befugt wäre so zeigt sich hier ein Vorteil auf der Seite desjenigen, der etwas als praktischnotwendige Voraussetzung behauptet". — Der praktische Gebrauch' der Vernunft aber - ich betone es nochmals - ist ausschließlich die , Ausübung des Moralgesetzes'. 200 Vgl. z.B. KrV A 777/B 805: „Hypothesen sind also im Felde der reinen [theoretischen; G.R.] Vernunft nur als Kriegswaffen erlaubt, nicht um darauf ein Recht zu gründen [das wäre ,dogmatisch'; G.R.], sondern nur es zu verteidigen. Den Gegner aber müssen wir hier jederzeit in uns selbst suchen. Denn spekulative Vernunft in ihrem transzendentalen Gebrauche [d.i. die ,alte' Bedeutung von ,transzendental'; vgl. frühere Teile dieser Schrift; G.R.] ist an sich dialektisch."

3.5 DasNoumenon als Subjekt (.Praktische Erkenntnis')

187

Den (logisch-)willkürlich ausgedachten (KrVA 780/B 808) Hypothesen spekulativer Vernunft stehen die Postulate reiner praktischer Vernunft als notwendige Annahmen (von Noumena) entgegen: als , n o t w e n d i g e H y p o t h e s e n ' ; 2 0 2 und insofern ist auch von ihnen polemischer Gebrauch' zu machen. Die Bedeutung jeder (,theoretischen') Behauptung203 von Noumena (bzw. der Postulate) am Boden praktischer Vernunft war auf die Ausübung des Moralgesetzes (d.i. „der ganze praktische Vemunftgebrauch") zurückgeführt bzw. reduziert worden. Daraus entstand die Frage nach der Funktion der Postulate praktischer Vernunft. Unter der Voraussetzung, daß zur Realität praktischer Vernunft (d.i. des Moralgesetzes) aus prinzipiellen Gründen kein theoretischer, also auch kein ,philosophischer', Zugang besteht, sondern daß sie - wenn schon auf,Bildung', dann nicht auf (theoretisch-)intellektuelle, sondern - auf die (,moralisch-praktische') Bildung 201

Dieser „polemische Gebrauch" scheint zwar ganz einer skeptischen Vorgangsweise zu entsprechen, es gilt aber auch KrV A 781 f/B 809f: „Die gedachten Hypothesen ... sind nur problematische Urteile, die ... nicht widerlegt, obgleich ... durch nichts bewiesen werden können, ... können aber doch nicht füglich (selbst zur inneren Beruhigung) gegen sich regende Skrupel entbehrt werden"; — KrV A 777/B 805: „... Vorteil auf der Seite desjenigen, der etwas als praktischnotwendige Voraussetzung behauptet". 202 Vgl. KpV V/l l n, wo Kant hinsichtlich des „Postulats der reinen praktischen Vernunft" sagt, daß es „nicht ... in Ansehung des Objects erkannte Nothwendigkeit, sondern in Ansehung des Subjects zu Befolgung ihrer [d.i. praktische Vernunft; G.R.] objectiven, aber praktischen Gesetze nothwendige" Annehmung, „mithin blos nothwendige Hypothesis ist", und fortsetzt: „Ich wußte für diese subjective, aber doch wahre und unbedingte Vemunftnothwendigkeit keinen besseren Ausdruck auszufinden". — Vgl. auch KpV V/142 (zitiert im Text nach Fußnotenreferenz 194/ Kap. 3.5): Spekulative Vernunft „führt nur auf [problematische; G.R.] Hypothesen", praktische Vernunft „aber zu Postulaten" [d.s. notwendige Hypothesen]; — KpV V/143: „ ... Bedürfniß in schlechterdings notwendiger Absicht und rechtfertigt seine Voraussetzung nicht blos als erlaubte Hypothese, sondern als Postulat in praktischer Absicht... ". 203 Die .Behauptung' bzw. ,Annahme' von Noumena (in positiver Bedeutung) ist klar zu unterscheiden von den ,Noumena selbst': Nur hinsichtlich der Annahmen (.Behauptungen' als Hypothesen) gilt, daß sie nichts .Substantielles', nur .Funktionales' meinen (können). Nur in der Unterscheidung von den .Noumena selbst' können diese .praktisch-notwendigen' Annahmen zugleich eine Art .Chiffre' (Karl Jaspers) des .Großen Geheimnisses' sein, das kein Ort von .Gespenstern' (Fetischen, .metaphysischen Phantomen') ist, sondern .nichts' in dem Sinn, in dem es .Alles' ist; bzw. .Licht', .Fülle', ,Kraft' etc. [Mit Kant abzulehnende, gnostisch-mystische Sprache beginnt erst in ihren Konsequenzen; denn da zeigt sich, ob etwas dogmatisch - z.B. auf Kantischem Boden nicht begründbare - .Lehre' ist oder bloßes .(Ur-)Bild' wie hier]. Wird diese Unterscheidung zwischen Annahmen von Noumena und den

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

des Herzens204 bezogen ist: unter dieser Voraussetzung kann folgende Antwort hinsichtlich theoretischen Vemunftgebrauchs am Boden praktischer Vernunft gegeben werden. Grundsätzlich haben , m o r a l i s c h e I d e e n ' (d.s. A n n a h m e n von Noumena) r e g u l a t i v e Bedeutung:203 Diese Annahmen206 sind Mittel (l) der A b w e h r [gegen die theoretische Bezweiflung der Möglichkeit des als (praktisch-)gewiß behaupteten Moralgesetzes bzw. der Realität praktischer Vernunft]: das Postulat der „Freiheit";207 (2) der O r i e n t i e r u n g [am ,Heiligen']: „Richtschnur"; (3) der Selbst-Erkenntnis [Einsehen des ,unendlichen' Abstandes zur Vollkommenheit des ,Heiligen']: „Maßstab"; (4) der H o f f n u n g [gegen die aus dem Einsehen des unendlichen Abstandes entspringende Entmutigung]: die Postulate des „Daseins Gottes" und der „Fortdauer der eigenen Existenz".20*

Noumena selbst nur .theoretisch' - d.h. hier: nur „dem Namen nach" - gemacht, dann bedeutet die richtige Einsicht in den bloß funktionalen Charakter der Annahmen von Noumena zugleich die falsche , Erkenntnis* der Noumena selbst als bloßer Fiktionen und damit zugleich ihre Aufhebung (vgl. auch Anm. 181,194/Kap. 3.5). — Genau diese Unterscheidung begründet die Möglichkeit der Kantischen Philosophie, entweder als ^Fenster ins Freie1 oder nur als (.Projektionen') reflektierender ,Spiegel' zu erscheinen; und dieser Unterschied ist kein anderer als der, ob die Realität praktischer Vernunft (d.i. des Moralgesetzes) ,an sich' [also theoretischer Vernunft .transzendent'; .Primat der reinen praktischen Vernunft'] .(praktisch) erkannt' wird oder nur,im Denken' [also theoretischer Vernunft .immanent'; eine Art .Primat des theoretischen Vernunftgebrauchs'] akzeptiert wird (wenn überhaupt). 204 Man denke in diesem Zusammenhang an Kants Ausdruck: „Herzenskündiger" (RGV VI/2.B. 67, 72, 99, 189). 205 Von den .transzendentalen Ideen' gilt nicht dasselbe, nur das gleiche: Man denke an den Begriff des Menschen als Basis der Unterscheidung theoretischer und praktischer Vernunft bei sonst weitgehender Möglichkeit einer parallelen, .abstrakten' Beschreibung des jeweiligen Vernunftgebrauchs; vgl. dazu .Richtschnur' bzw. ,Maßstab', z.B. KpVV/mn (zitiert am Anfang von Kap. 3.5.2). 206 Nochmals: Die Annahmen der Noumena sind Mittel, nicht die Noumena selbst; bzw. nur die .Annahmen' sind theoretische Sätze, nicht die .Bedeutung' (d.s. die .Noumena selbst') dieser Annahmen. 207 ygj £pY /4- ^Freiheit ist ... die einzige unter allen Ideen der speculativen Vernunft, wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen." Punkt (4) wurde bisher im Text nicht angeführt, wohl aber implizit angedeutet: im Begriff des .höchsten Guts'; denn (4) ist kein Widerspruch zur Kantischen Darstellung des höchsten Guts (in der Welt) als .Grund' dieser beiden Postulate; diese müssen ja deshalb postuliert werden - .subjektive Notwendigkeit' der reinen Vernunft -,

3.5 Das Noumenon als Subjekt (.Praktische Erkenntnis')

189

Die hier in aller Kürze noch anzudeutende Ähnlichkeit der F u n k tionen 2 0 9 der Annahme von Noumena am Boden praktischer Vernunft210 und jener der Annahme von Noumena am Boden theoretischer Vernunft211 stärkt die Behauptung der s y s t e m a t i s c h e n Einheit 2 1 2 des Begriffszusammenhanges der Kantischen Philosophie. um die (reale) Möglichkeit der Verwirklichung der ,,unbedingte[n] Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft" (KpV V/108) überhaupt denken und insofern „Hoffnung" (also ,Mut' zur Realisierung des Moralgesetzes) haben zu können. Vgl. auch KrV A 804 / 832f: „Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: | 1. Was kann ich wissen? | 2. Was soll ich tun? | 3. Was darf ich hoffen"? \ Die erste Frage ist bloß spekulativ. ... | Die zweite Frage ist bloß praktisch. ... | Die dritte Frage, nämlich: wenn ich nun tue, was ich soll, was darf ich alsdenn hoffen? ist praktisch und theoretisch zugleich, so, daß das Praktische nur als ein Leitfaden zu Beantwortung der theoretischen ... Frage führet. Denn alles Hoffen geht auf Glückseligkeit ... ." — Wenn ich vorhin .Hoffnung' auf die Realisierung des Moralgesetzes bezogen habe, Kant in diesem Zitat aber von Hoffnung in bezug auf Glückseligkeit (unter Voraussetzung der Realisierung des Moralgesetzes) spricht, so ist dies kein Widerspruch sondern Ausdruck jener Spannung im Begriff des , höchsten Guts', das ja als synthetische Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit (und zwar Sittlichkeit als Bedingung von Glückseligkeit: .oberstes Gut') gedacht ist. — Vgl. KpV V/130: „ ... nachdem der sich auf ein Gesetz gründende moralische Wunsch das höchste Gut zu befördern ... erweckt und ihm zum Behuf der Schritt zur Religion geschehen ist, [kann] diese Sittenlehre auch Glückseligkeitslehre genannt werden, weil die Hoffnung dazu nur mit der Religion allererst anhebt." 209 Als Grenz- bzw. als Form-Begriff [vgl. Kap. 3.3 und 3.4]. - Zur Frage von .Funktion' und .Fiktion' vgl. Anm. 181, 203/Kap. 3.5. 210 D.s. Noumena (in positiver Bedeutung); relativ und eingeschränkt auf praktischen Vernunftgebrauch - .theoretisch' - gedacht [vgl. Anm. 56/Kap. 3.3, Anm. 61/Kap. 3.4]. 211 D.s. Noumena (in negativer Bedeutung); relativ und eingeschränkt auf theoretischen Vernunftgebrauch - .theoretisch' - gedacht. 212 Dieser systematischen Einheit Kantischen Begriffszusammenhanges stehen sensualistische Empiristen wie spekulative Dialektiker verständnislos gegenüber und können sie daher nicht würdigen. — So vermißt beispielsweise Hegel die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft im Denken, die bei Kant nur relativ auf praktische Vernunft möglich und (moralisch) aufgegeben ist: im tatsächlichen, persönlich gelebten , realen1 Leben. — Abgesehen davon, daß manche Kritikpunkte Hegels von Kant selbst gesehen und auch erklärt wurden, ist festzustellen, daß Hegel von der spekulativen Vernunft aus, und daher inadäquat, kritisiert. — Dabei stellt sich mir die Frage, ob nicht der systematische Ursprung der .Notwendigkeit' von Hegels Dialektik darin liegt, daß Hegel Kants Primat der praktischen Vernunft umkehrt zu einem Primat der spekulativen Vernunft und dennoch nicht auf den Gehalt an ,Realität', die mit:,persönliches Leben' nur sehr wolkig ausgedrückt ist, verzichten will. — Der, auch,spekulative', - späte - Schelling trifft stattdessen die grundlegende Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie, deren Struktur der-

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Die früheren Erörterungen im Umkreis von KpV V/43 — „Dieses Gesetz soll der ... sinnlichen Natur ... die F o r m ... einer übersinnlichen Natur[,] verschaffen" — ergeben eindeutig, daß N o u m e n a (in p o s i t i v e r Bedeutung) — allerdings nur, „so weit wir uns einen Begriff ... machen können" (KpV V/43) — als F o r m - P r i n z i p (hinsichtlich der materiellen Sinnenwelt) gedacht werden [das einzige, was wir diesbezüglich „wissen" (KpVV/4), ist das bloß formale M o r a l g e s e t z ] . Im gleichen — nämlich ,substantiell' auf die bloße Form des Moralgesetzes, d.i. die „Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt", reduzierten213 — Sinn haben die am Boden praktischer Vernunft angenommenen Noumena (in positiver Bedeutung) die Funktion einer A b g r e n z u n g des Feldes reinen praktischen Vemunftgebrauchs;214 und zwar in zweierlei Hinsicht: gegen (1) den , E m p i r i s m u s der praktischen Vernunft' (vgl. KpV V/70f), der nur das Prinzip der Selbstliebe und damit gar keine Moralität kennt; und (2) den , M y s t i z i s m u s der praktischen Vernunft' (vgl. KpV V/70f), der das moralische Prinzip zwar kennt, der aber „wirkliche, und doch nicht sinnliche, Anschauungen215 (eines unsichtbaren Reichs Gottes216) der Anwendung der moralischen Begriffe unterlegt und ins Überschwengliche hinausschweift" (KpVV/7\). jenigen der Kantischen von theoretischer und praktischer Vernunft vergleichbar ist; - vgl. meinen Aufsatz: Schelling und Kant..., besonders die Fußnote 6, wo etliche Stellen aus ,Kant' und ,Schelling' angegeben sind, deren Ähnlichkeit, gerade unter Voraussetzung ihres verschiedenen philosophischen Niveaus, bemerkenswert ist. 213 Vgl. dazu KpV V/70: „Es ist also auch erlaubt, die Natur der Sinnenwelt als Typus einer intelligibelen Natur zu brauchen, so lange ich nur nicht die Anschauungen, und was davon abhängig ist, auf diese übertrage, sondern blos die Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt... darauf beziehe." 214 Die Annahme der Noumena am Boden praktischer Vernunft unterscheidet sich insofern nicht von der ,Typik der reinen praktischen Urteilskraft' (vgl. KpV V/67ff), als diese Annahmen auf die (Förderung der) Ausübung des Moralgesetzes bezogen und eingeschränkt sind. — Vgl. KpV V/137: „Wenn nächstdem diese Ideen von Gott, einer intelligibelen Welt (dem Reiche Gottes) und der Unsterblichkeit durch Eradicate bestimmt werden ... so ... [sind] diese Eradicate ... keine andere als Verstand und Wille, und zwar so im Verhältnisse gegen einander betrachtet, als sie im moralischen Gesetze gedacht werden müssen, also nur so weit von ihnen ein reiner praktischer Gebrauch gemacht wird. ... und so bleibt von den Begriffen ... nichts mehr übrig, als gerade zur Möglichkeit erforderlich ist, sich ein moralisch Gesetz zu denken ...". 215 D.i. intellektuelle Anschauung'. 216 Vgl. als Kontrast KpV V/130: „ ... der sich auf ein Gesetz gründende moralische Wunsch das höchste Gut zu befördern (das Reich Gottes zu uns zu bringen)..."; hier ist - der Kantischen Position gemäß - das „Reich Gottes" bloß auf das nicht-anschauliche, formale Moralprinzip bezogen (vgl. Anm. 214/Kap. 3.5).

3.6 Übersicht (,Schema') ... des Begriffs des Dinges an sich

191

3.6 Übersicht (, Schema') der verschiedenen systematisch zusammenhängenden Bedeutungs-Aspekte des Begriffs des Dinges an sich Damit ist meine Darstellung der systematischen Bedeutung (der , inneren Struktur') des Begriffs des Dinges an sich in der kritischen Philosophie Kants am Ende. Sie hat gezeigt, daß dieser Begriff keine ,statisch-beharrende', „substantielle', sondern ausschließlich , f u n k t i o n a l e ' Bedeutung hat und dennoch k e i n e F i k t i o n meint. Er steht — in verschiedener Weise217 — für die grundsätzlich218 unermeßliche Weite menschlicher Freiheit bezogen auf die „sittliche Stufe der Achtung vor dem Gesetz", die Stufe moralischer V e r p f l i c h t u n g , und i n s o f e r n für die Möglichkeit, den Menschen m e n s c h l i c h denken 2 1 9 zu können. Diese theoretische Denk-(Un-)Möglichkeit ist n i c h t b e s t i m m e n d für die Potenz des jeweiligen ,menschlichen' Lebens, sie kann es aber fördern oder behindern. Die Förderung geschieht jedoch n i c h t durch die gedachten Inhalte220 sondern durch die von der jeweiligen A n s t r e n g u n g e h r l i c h e n Denkens 2 2 1 m i t g e t r a g e n e Lebenshaltung, die man nicht ,statisch' besitzen kann sondern die in der jeweiligen (Lebens-)Situation zu r e a l i s i e r e n ist: gerade so gut, wie man kann.222 — 217

So z.B. ,schaffen' bzw. .bewahren' ,Noumena (in negativer Bedeutung)' ,leeren Platz' für ,Noumena (in positiver Bedeutung)'. 218 D.h. nicht empirisch-real, denn dies ist grundsätzlich , bedingt' (daher die früher dargestellte Spannung zwischen ,Bedingtem' und .Totalität des Bedingten'). 219 Vgl.: „ ... die Menschheit... in deiner Person ... "; z.B. QMS IV/429. 220 Auch wenn es ,hohe Ideale' wären. Sofern es sich um gegenständlich fixierte Fetische handelt, ist es der ideologische, .dogmatische' Weg der (jeweils .orthodoxen') ,Lehre'. Vgl. dazu Martin Buber, Ich und Du (in: Werke Bd. l, S. 86f): „Freilich, mancher ... hat sich einen Ideen-Anbau oder -Überbau aufgerichtet, darin er vor der Anwandlung der Nichtigkeit Zuflucht und Beruhigung findet. Er legt das Kleid des üblen Alltags an der Schwelle ab, hüllt sich in reines Linnen und erlabt sich am Anblick des Urseienden oder Seinsollenden, an dem sein Leben keinen Anteil hat. Auch mag ihm wohltun, es zu verkünden. | ... Die edelste Fiktion ist ein Fetisch, die erhabenste Fiktivgesinnung ist ein Laster. Die Ideen thronen ebensowenig über unsem Köpfen, wie sie in ihnen hausen; sie wandern unter uns und treten uns an; beklagenswert, wer das Grundwort [d.i. Ich-Du; G.R.] ungesprochen läßt, aber erbärmlich, wer sie statt dessen mit einem Begriff oder einer Parole anredet, als wäre es ihr Name!" 221 Dieses hat mit Selbsterkenntnis zu tun - um welche Denkinhalte immer es sich handeln mag -, indem es auf die moralische Forderung bezogen ist, d.h. indem es der Richtung der Autonomie entspricht.

192

3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

Diese Untersuchung zum ,Ding an sich' erfolgte aus Interesse an der R a t i o n a l i t ä t p r a k t i s c h e r V e r n u n f t (diese bedeutet, als Abschied von jeder - dogmatisch-totalitären - , Lehre', , Ö f f n u n g ' ) . An ihrem Anfang stand eine vorläufige schematische Übersicht (,Ding an sich' und »Erscheinung'). Das jetzt folgende ,Schema' ist dreifach gegliedert: I. die der jeweiligen Stufe unseres (»theoretischen' bzw. praktischen') Erkenntnisvermögens entsprechenden Formen der synthetischen Einheit a priori, d.i. die Seite des ,Subjekts' der jeweiligen synthetischen Einheit a priori; H. diese Einheit in gegenständlichem (»objektiviertem') »Reflex' auf sich selbst (d.h. wie sie sich selbst »begegnet'); III. diese selbe Einheit, wie sie der ,Verstand' (als »theoretische Vernunft') denkt. Wenn dadurch die Formulierungen auch nicht einfacher werden: die komplexe Struktur des Dinges an sich ist so klarer sichtbar.223 — Zu (1)/HI [siehe Abb. 2 (nächste Seite)] ist noch zu bemerken, daß der Ausdruck »leerer Raum' der — im Begriff ,bloße Materie' objektiviert gedachten — ,inneren Grenze' der Rezeptivität entspricht; dieser Ausdruck (»leerer Raum') ist in Klammer gesetzt, weil er im Kantischen Kontext erst auf Stufe (3)/II explizit aufscheint. Auf den Stufen (3) und (4) entspricht der Ausdruck , leerer Raum' dem Grenzbegriff des Noumenon (in negativer Bedeutung). Der Ausdruck »offener Raum' [(?)/!!] stammt von mir und soll für die früher angedeutete Weite und Kraft des »Geheimnisses' stehen: Denn 222

Jedes ,Mehr' (egozentrische Überheblichkeit) oder .Weniger' (egozentrisch bedingter Mangel an Anstrengung) verfehlt diese real erreichbare Vollkommenheit' (vgl. auch Kap. 3.5.1.3); beispielhaft dargestellt an einem Gefäß, das .vollkommen' mit Flüssigkeit gefüllt ist (es geht nicht ,über'): diese Vollkommenheit ist unabhängig vom Gefäß-Volumen. 223 Ich erinnere an die Betrachtung der Stufe bloßer, vom Verstand isolierter Sinnlichkeit (Kap. 3.1). Dort war - hinsichtlich der Relativität des ihr entsprechenden Begriffs des Dinges an sich auf die Stufe der bloßen Sinnlichkeit (d.i. hier: Nr. I) - zu unterscheiden zwischen ( l ) ,ftlr die Sinnlichkeit (für den Verstand)', d.i. hier Nr. II, und (2) ,für den Verstand (für den Verstand)', d.i. hier Nr. III. — ,Für den Verstand' bedeutet die Rationalität des theoretischen Denkens selbst (hier im Schema: Nr. III); ,(für den Verstand)' bedeutet die Objektivierung dieser Rationalität in der Mitteilung (bzw. .Betrachtung') der jeweiligen Erkenntnisstufe, hier: das Faktum des Schemas selbst. — Hinsichtlich der Stufe bloßer Sinnlichkeit (l) war beispielsweise in Spalte II dieser schematischen Darstellung: ,für die Sinnlichkeit (für den Verstand)' von gar keinem Ding an sich zu sprechen, wohl aber in Spalte III: ,für den Verstand (für den Verstand)'. — Analoges gilt für (5) und (6); alle anderen Stufen [auch (7)] betreffen ja - zumindest teilweise - .Verstand' selbst.

3.6

bersicht (»Schema')... des Begriffs des Dinges an sich

193

(Abb. 2]

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194

3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

praktische Vernunft ,besetzt' zwar den von theoretischer Vernunft geschaffenen und bewahrten ,leeren Raum', aber nicht in der ,verstellenden', gegenständlichen Weise theoretischen Vernunftgebrauchs, sondern in der Weise p r a k t i s c h e r R e a l i s i e r u n g ; 2 2 4 und diese ist die ,öffhung ins Freie'. Damit dokumentiert der Ausdruck ,offener Raum', als ,transzendent* für die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft (unter dem Primat der letzteren), jene ,metaphysische' Offenheit bezüglich einer „übersinnlichen Natur" (von der wir nur das „moralische Gesetz" „wissen"), die der früher getroffenen Unterscheidung zwischen der A n n a h m e von Noumena und diesen N o u m e n a selbst (bzw. ,an sich', „was immer sie sein mögen") erst Sinn gibt, und wodurch erst die angeführten F u n k t i o n e n dieser Annahmen n i c h t zugleich F i k t i o n sind.225 (6)/I ist in diesem Schema nicht besser darstellbar: So fand die „bloße Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt", gedacht bezüglich der „Natur der Sinnenwelt als Typus einer intelligibelen Natur" (KpV V/70) hier keinen Platz der Darstellung, da sie nicht die objektivierte' Einheit des Moralgesetzes betrifft sondern dieses in seiner »Subjektivität' selbst.226 Außerdem kommt hier der Ü b e r g a n g von (6)/II zu (7)/II nicht in der gewünschten Deutlichkeit zum Ausdruck. — Denn (6)/II bedeutet: Das Moralgesetz kann bedingungslos das Sittlich-Gute realisieren, und es genügt sieht selbst [deshalb wurde hier kein der moralischen Forderung - bezogen auf sie selbst - ,transzendenter' Raum markiert]; für (6)/III (also die Rationalität der Darstellung) ist dieser ,Raum' nur relativ auf theoretische Vernunft transzendent, nicht aber hinsichtlich (6)/I; daher auch hier keine diesbezügliche Markierung; die einzige S p u r eines Herganges' zum transzendenten ,offenen Raum' von (7)/II ist im vorliegenden Schema das Vorkommen von ,Sittlichkeit' als Aspekt des gegenständlich' gedachten ,höchsten Guts', dessen zu realisierende synthetische Einheit 224 Ygj z g Kpy v/43: „ ... so ist die übersinnliche Natur, so weit wir uns einen Begriff von ihr machen können, nichts anders als eine Natur unter der Autonomie der reinen praktischen Vernunft" und KpV V/137 (zitiert in Anm.214/Kap. 3.5) bzw. GMS IV/452: „ ... im gemeinsten Verstande ... der ... sehr geneigt ist, hinter den Gegenständen der Sinne noch immer etwas Unsichtbares, försich selbst Thätiges zu erwarten, es aber wiederum dadurch verdirbt, daß er dieses Unsichtbare sich bald wiederum versinnlicht..." 225 Im Zusammenhang mit Kants Rede von „Schöpfung" (bezogen auf die ,noumenale Welt') wäre hier noch - ,an der Grenze' - zu bemerken, daß weder theoretische Vernunft (vgl. .transzendentale' bzw. ,bloße Materie') noch praktische Vernunft (vgl. ,ScAöß/««gj-Ordnung') ihre Realität selbst erschaffen. 226 Vgl. Anm. 214/Kap. 3.5.

3.6 Übersicht (,Schema') ... des Begriffs des Dinges an sich

195

(subjektiv-) a priori aber nicht durch die ,Kraft' der moralischen ,Form' (für sich betrachtet) garantiert werden kann: daher die beiden diesbezüglichen Postulate; diese verstärken den durch das Postulat der Freiheit [als notwendige (Denk-)Voraussetzung der Realität des Moralgesetzes] eröffneten, relativ auf (6)/I — und daher (Primat der praktischen Vernunft!) auch relativ auf (7)/I — ,transzendenten' Raum. Von ihm ist z.B. am Ende der Dialektik der reinen praktischen Vernunft in Andeutung die Rede.227 3.6.1 Übersicht der systematischen Unterscheidung der apriorischen Gültigkeit der synthetischen (Vernunft-)Strukturen Dieses Schema der systematisch-differenzierten apriorischen Gültigkeit der synthetischen Vernunftstrukturen228 [Abb. 3 (übernächste Seite)] ist ähnlich der Übersicht auf Seite 193 [Abb. 2] gestaltet. Wie dort ist die ,Rationalität der Darstellung' (d.i. das ,Faktum' dieses Schemas selbst) zu bedenken. Neben den Punkten (1) bis (7) ist hier noch die ..reflektierende Urteilskraft' berücksichtigt. Die ,Subjektivität' bzw. ,Objektivität' ist auf drei verschiedene - aber systematisch zusammenhängende - Ebenen 227

228

KpV V/147: „Nun, da ... das moralische Gesetz in uns, ohne uns etwas mit Sicherheit zu verheißen, oder zu drohen, von uns uneigennützige Achtung fordert, übrigens aber, wenn diese Achtung thätig und herrschend geworden, allererst alsdann und nur dadurch Aussichten ins Reich des Übersinnlichen, aber auch nur mit schwachen Blicken erlaubt... ". — Wenn Kant in anderen Zusammenhängen (KpVV/43) sagt: „ ... das moralische Gesetz [giebt] ... wenn gleich keine Aussicht, dennoch ein ... Factum an die Hand, das auf eine reine Verstandeswelt Anzeige giebt ... ", so wäre dieser Satz eher auf (6)/I, KpV V/147 aber auf (7)/H (,subjektiv-immanent'), die Fortsetzung von KpV V/43 - „ ... ja diese sogar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen läßt" - auf (7)/II (,objektiv-immanent') zu beziehen. Aber hier ist ein Ungenügen am Schema anzumerken, denn , eigentlich' trifft KpVV/43 den ,Übergang' von (6) zu (7), und insofern auch in (6)/II [aber auch KpVV/\41 in (7)/II] etwas vom ,offenen Raum'. — Wenn übrigens Hölderlin [Brief vom 1.1.1799; zitiert nach Richard Kroner, Von Kant bis Hegel Bd. l, S. 3n] schreibt: „Kant ist der Moses unserer Nation, der ... das energische Gesetz vom heiligen Berge bringt", so ist Punkt (6) des Schemas getroffen; es gilt allerdings auch für (7) hinsichtlich des Führers durch die „freie einsame Wüste" bis an die Grenzen des „gelobten Landes", das er nicht betreten konnte. — Der ,Paß' für den Eintritt wäre das .Faktum' einer intellektuellen Anschauung: Für Kant eine Fata Morgana. Vgl. dazu Kap. 2.1.1.

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3 Zum Begriff des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie

bezogen: auf die ,transzendentale', auf die ,empirische', und auf jene der ,Erkenntnis'. Für theoretische Vernunft [mit Schwergewicht auf (3)] gilt die Einheit von ,transzendentalem Idealismus' und ,empirischem Realismus'. P r a k t i s c h e Vernunft [(6)] ist » t r a n s z e n d e n t a l real' 2 2 9 ; ,empirischer Realismus' — hinsichtlich (reiner) praktischer Vernunft als a l l e i n b e s t i m m e n d e m Prinzip — ist allerdings nur .subjektiv' gegeben: als Realisierung des Sittlich-Guten bzw. der moralischen Form der Handlungs-Maxime, nicht als ,(empirisch-)objektive' Realisierung der Amoralischen) Handlung' selbst (bzw. des »höchsten Guts').230 Die Bezugsebene der Erkenntnis meint t h e o r e t i s c h e Erkenntnis. Daher ist auch ihre Unterteilung in ,subjektiv-' bzw. ,objektiv-gericht e t e ' Erkenntnis231 für »praktische Erkenntnis' nicht adäquat; wie ja die ganze Rationalität der Darstellung — als einzelnes Schema oder als »Philosophie' überhaupt — s i n n v o l l nur als (theoretisches) Bild 2 3 2 der (Realität der) praktischen Vernunft (bzw. der „realitaet des Freyheitsbegrifs") aufgefaßt werden kann: der »offene Raum' wird spürbar. Jedes Schema ist einseitig; es kann manches zeigen, anderes nicht. Deshalb sind die Schemata dieser Schrift in ihrer relativen Gültigkeit als S c h e m a t a — und zwar z u s a m m e n — zusehen.233

229

Aber - im Kontrast zu dialektischer Vernunft [(5)] - eben auf praktische Art. — Vgl. dazu vor allem Kap. 3.5, auch Kap. 3.4. — Vgl. auch Reflexion 6344 [zitiert in Kap. 2.1 (vgl. Fußnotenreferenz 36b)J, wo Kant von der (transzendentalen) „Idealitaet des Raums und der Zeit" und der (transzendentalen) „realitaet des Freyheitsbegrifs" [d.i. im vorliegenden Schema Stufe (6)] spricht und anschließend - hinsichtlich möglicher „synthetischefr] Sätze a priori für das theoretische Erkenntnis" - vom Denken der (moralischen) „Ideen des Übersinnlichen": „Gott, Freyheit und Unsterblichkeit" [d.i. im vorliegenden Schema Stufe (7)]. 230 Vgl. dazu Kap. 3.5.1. 231 Bzw. auf das ,Erkenntnis-Subjekt' oder auf das .Erkenntnis-Objekt' [beides als Phaenomenon der Stufe (3) verstanden] gerichtet [vgl. dazu auch das Schema am Anfang von Kap. 3: , Ding an sich-Erscheinung']. — Diese Unterscheidung entspricht jener der beiden Prinzipien ,reflektierender Urteilskraft' (wobei ja Ideologische Urteilskraft als , theoretisches Prinzip' gilt). 232 Sonst geht hinsichtlich des .transzendentalen Realismus' der Unterschied von praktischer und dialektischer Vernunft verloren. 233 Vor allem: ,Vernunftstrukturen' [Kap. 2.1.1 (ab Fußnotenreferenz 50)]; ,Ding an sich -Erscheinung' [Kap. 3 (nach Fußnotenreferenz 3)]; , Ding an sich' [Kap. 3.6 (nach Fußnotenreferenz 222)]; .Apriorische Gültigkeit' [Kap. 3.6.l (nach Fußnotenreferenz 233)]. — Auch Schemata zu: .Transzendentale Ästhetik' [Kap. 3.1 (vor Fußnotenreferenz 27)]; .Moralische Handlung' [Kap. 2.1.2.1 und Anm. 30/Kap. 5.1]. — Vgl. auch Anm. 18/Kap. 3.1 und Anm. 45/Kap. 3.5.

197

3.6 Übersicht (,Schema')... des Begriffs des Dinges an sich [Abb. 3]

1 Synthri«*» Vernunft-

Prinzipien

1 Bezüge-Ebene

Gü 1 1 i g k e i t a p r i o r i

.transzendental' -» empirisch.

_>/

objektiv

subjektiv subjcktiv

objektiv

objektiv

.Erkenntnis*-»/ subjektiv (1) Reine sinnliche Anschauung (Raum, Zeit)

+

(2) Reiner Verstand (kategoriales, leeres Denken)

+

+

(+)

(+)

+

+

+

(±)

~

(S) Dialektische Vernunft (pjeuF(A 14f/)B 28f. 10 Vgl. Kap. 3.5.1. 11 So spricht Kant auch vom „Widerstand der praktischen Vernunft" — nicht gegen die Neigungen selbst, sondern gegen das Prinzip der Selbstliebe, diese Neigungen zum Kriterium (.Form') .moralischer' Maximen zu machen (ein Widerspruch in sich selbst). 12 D.i. der kategorische Imperativ. 13 Z.B. „Pflicht", „Achtung vor dem Gesetz", „innere Triebfeder" [d.i. im Gegensatz zu allen äußeren, empirischen, heteronomen Triebfedern („Motiven"); vgl. KpV V/116f, vor allem KpV V/71 ff].

4 .Transzendentalphilosophie' und das .Faktum der reinen Vernunft'

201

die Transzendental-Philosophie, weil sie die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen etc., die insgesamt empirischen Ursprungs sind, zwar selbst nicht zum Grunde ihrer Vorschriften legen, aber doch im Begriffe der Pflicht, als Hindernis, das überwunden, oder als Anreiz, der nicht zum Bewegungsgrunde gemacht werden soll, notwendig in die Abfassung des Systems der reinen Sittlichkeit mit hineinziehen müssen."14 Hier anschließende Fragen nach einer eventuellen Transzendental-Philosophie, die ausschließlich auf das Moralgesetz (und nicht auf den »Imperativ') bezogen wäre, sind für die Absichten dieser Schrift nicht weiter relevant; die Antwort wäre jedoch wohl verneinend.15 Wenn aber Transzendental-Philosophie p r i m ä r als S e l b s t e r k e n n t n i s verstanden würde, als Erkenntnis der Möglichkeiten und G r e n z e n reiner (theoretischer und praktischer) Vernunft?16 Das [] hat ja 14

Wenn Kant sagt (A>FA841f/B 869f): „Nun ist die Moralität die einzige Gesetzmäßigkeit der Handlungen, die völlig a priori aus Prinzipien abgeleitet werden kann. Daher ist die Metaphysik der Sitten eigentlich die reine Moral, in welcher keine Anthropologie (keine empirische Bedingung) zum Grunde gelegt wird", so besteht dann Übereinstimmung mit Zitat KrV (A 14f/)B 28f, wenn .Anthropologie' als empirische Wissenschaft (so ist hier die Bedeutung) und .apriorische anthropologische Bestimmung des Menschen' — als sinnlich affizierfrores Vemunftwesen, dessen „sittliche Stufe" prinzipiell jene der „Achtung fürs moralische Gesetz" (KpV V/84) bzw. des kategorischen Imperativs ist — voneinander unterschieden werden. Daß - zumindest .imperativischer' - praktischer Vernunftgebrauch grundsätzlich aus der .Transzendental-Philosophie' ausgeschlossen ist, das zeigt auch folgendes Zitat (KrV A 805/B 833): „2. Was soll ich tun? | ... | Die ... Frage ist bloß praktisch. Sie kann als eine solche zwar der reinen Vernunft angehören, ist aber alsdenn doch nicht transzendental, sondern moralisch ..." 15 Vgl. z.B. KrV A 823/B 851: „Eben so ist es mit den Grundsätzen der Sittlichkeit bewandt, da man nicht auf bloße Meinung, daß etwas erlaubt sei, eine Handlung wagen darf, sondern dieses wissen muß. | Im transzendentalen Gebrauche der Vernunft ist dagegen Meinen freilich zu wenig, aber Wissen auch zu viel." — Auf Grund der bisherigen Darstellung kann gesagt werden: Alles, was .wir' vom Moralgesetz .wissen' können, ist die moralische Forderung (dies ist ja die sittliche Stufe der .Achtung fürs Gesetz'). Insofern ist die gesamte Moralphilosophie .Imperativisch' gegründet und scheidet damit aus. — Selbst wenn dies auf religionsphilosophische Hoffnung nicht zur Gänze zuträfe, so würde dieser Aspekt praktischer Philosophie analog der „Physiologie der reinen [theoretischen] Vernunft" zu sehen sein: geht es doch um Noumena (in positiver Bedeutung), .Wesen' einer .intelligibelen Welt'. — Ausdrücklich verweise ich hier auf das an anderen Orten zur .Zwei-Welten-Theorie' Gesagte; hier ist diesbezüglich kein neuer Aspekt gegeben. 16 Die wesentliche Bedeutung der Transzendental-Philosophie ist ja in diesem Sinne ,negativ': Man denke an die Noumena in negativer Bedeutung [vgl. auch meinen Aufsatz: Schelling und Kant.... Anm. 6 (diverse diesbezügliche Stellenangaben)]. —

202

4 ,Transzendentalphilosophie' und das .Faktum der reinen Vernunft'

in erster Linie (lebens-)praktische Bedeutung.17 — Die Antwort muß aus prinzipiellen Gründen die gleiche bleiben. Denn praktischer Vemunftgebrauch hat das „Primat", die Möglichkeiten und Grenzen praktischer Realisierung sind daher nicht im Rahmen irgendeiner ,Philosophie' (als Tätigkeit' theoretischer Vernunft) auszumachen: nicht im Denken also, sondern „durch die Tat"18 der (Aus-)Übung (Tugend)19 moralischer Läuterung im Alltag. — Philosophie kann ,Erfahrungen' solcher Art nur intellektuell geklärt20 , e r z ä h l e n ' 2 1 , aber nicht ,erzeugen'; daß diese Läuterung real überVgl. KrV A 849/B 877 hinsichtlich theoretischer (spekulativer) Vernunft: „Das ist also die allgemeine Idee der Metaphysik ... daß die menschliche Vernunft ... einer solchen Wissenschaft niemals entbehren könne, die sie zügelt, und, durch ein ... völlig einleuchtendes Selbsterkenntnis, die Verwüstungen abhält, welche eine gesetzlose spekulative Vernunft sonst ganz unfehlbar, in Moral sowohl als Religion, anrichten würde"; — vgl. auch Rudolf Eisler, Kant-Lexikon S. 540f: „Sie [die Transzendental-Philosophie; G.R.] .betrachtet nicht die Gegenstande, sondern das menschliche Gemüt nach den Quellen, woraus in ihm die Erkenntnis a priori abstammt, und den Grenzen1, N4873"; oder: „Sie [die Transzendental-Philosophie; G.R.] ist ,das formale System der Ideen, dadurch das Subjekt sich selbst zum Objekt macht' ... Altpreuß. Mth. /373 '. 17 Vgl. KpV V/29: „Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselweise auf einander zurück. Ich frage hier nun nicht: ob sie auch in der That verschieden seien, und nicht vielmehr ein unbedingtes Gesetz blos das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft ... sei". — Diese Frage wäre in Kantischer Terminologie .spekulativ'; sie könnte mit .intellektueller Anschauung' zu tun haben. 18 Der rein .theoretische' Charakter der Transzendental-Philosophie wird z.B. durch folgendes Zitat deutlich ausgedrückt: KrV A 801 f/B 829f: „Und da ist denn zuerst anzumerken, daß ich mich vorjetzt des Begriffs der Freiheit nur im praktischen Verstande bedienen werde, und den in transzendentaler Bedeutung, welcher nicht als ein Erklärungsgnind der Erscheinungen empirisch vorausgesetzt werden kann, sondern selbst ein Problem für die Vernunft ist, hier ... bei Seite setze"; — vgl. dazu auch KrV A 803 f/B 831 f: „Die Frage wegen der transzendentalen Freiheit betrifft bloß das spekulative Wissen, welche wir als ganz gleichgültig bei Seite setzen können, wenn es um das Praktische zu tun ist", wobei gilt, „daß die transzendentale Freiheit eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Kausalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt fodert" (Ä>FA803/B831). 19 Hier ist „Tugend" nicht im Sinne von: „Würdigkeit glücklich zu sein" (vgl. z.B. KpV V/110) gemeint, sondern im Sinne von: „moralische Gesinnung im Kampfe" (vgl. z.B. KpV V/84). 20 D.h. Philosophie kann Denk-Voraussetzungen bzw. -Konsequenzen der (theoretischen Denk-)Annahme solcher ,Erfahrungen' in systematisch zusammenhängender Weise darstellen [,Grund' dieser Annahme ist das im , Alltag' gelebte Leben]. 21 Vgl. Kap. 2.1.3. — Das folgende Zitat Martin Bubers (auf die chassidische Tradition bezogen) ist auch in diesem (moralphilosophischen) Sinn lesbar: „Ich stehe in der

4 ,Transzendentalphilosophie' und das .Faktum der reinen Vernunft'

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haupt möglich ist,22 dafür ist die ,faktische' Realität praktischer Vernunft Voraussetzung. Das , F a k t u m der reinen Vernunft' hat also nicht aus Gründen eventueller Inkonsequenz des Denkens keinen Platz im Rahmen einer Transzendental-Philosophie, sondern k o n s e q u e n t e r w e i s e deshalb, weil diese als Philosophie der M ö g l i c h k e i t das , d a ß ' wirklicher Realität prinzipiell n i c h t umfassen k a n n . 2 3 Kette der Erzähler, ein Ring zwischen Ringen, ich sage noch einmal die alte Geschichte, und wenn sie neu klingt, so schlief das Neue in ihr schon damals, als sie zum erstenmal gesagt wurde" (Die Legende des Baalschem, Vorrede, S. 8f). 22 Man denke an die Unterscheidung von bloß logischer Denkmöglichkeit und transzendental-logischer, realer Möglichkeit (vgl. dazu in früheren Teilen dieser Schrift). — Diese reale Möglichkeit der Freiheit, die in der Transzendentalen Dialektik (hinsichtlich der transzendentalen Idee der Freiheit) nicht erwiesen werden konnte (vgl. KrV A 558/B 586), ist sozusagen reale .Potenz", die zu realisieren, d.i. „wirklich zu machen", ist; — wären wir nicht auf der sittlichen Stufe der „Achtung" sondern auf jener der „Heiligkeit", so würde diese Wirklichkeit zugleich ,notwendig' sein. 23 Sei es im Rahmen theoretischer Vernunft (vgl. „Physiologie der reinen Vernunft"), sei es im Rahmen praktischer - d.i.ßir theoretische Vernunft transzendente'' - Vernunft. — Die Frage aber, ob nicht auch die Prinzipien der theoretischen Vernunft als solche .Fakten' zu betrachten wären, die in der Transzendental-Philosophie nur aufgeklärt (vgl. „Selbsterkenntnis der Vernunft") werden, muß mit: Nein! beantwortet werden. — Denn diese sind zwar - in der philosophischen Analyse der (Gegenstände der) Erfahrung - erkennbar als Bedingungen der realen Möglichkeit dieser (Erkenntnis der) Gegenstände; aber diese Prinzipien .wirken' nicht auf .uns', diese (Erkenntnis der) Gegenstände auch wirklich zu machen (sie dienen bloß der möglichen Bestimmung dieser Gegenstände; vgl. KrV B IXf). Andererseits ist anläßlich KrV A 807/B 835 nochmals nach einer Philosophie der Moral als Transzendental-Philosophie zu fragen: „Die reine Vernunft enthält also ... in ... dem moralischen Gebrauche, Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung, nämlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten." Jedoch: Moralische Handlungen sind als moralische kein mögliches Objekt (theoretischer, d.i.) empirischer Erkenntnis (auch das steht schon in der KrV zu lesen; vgl. KrVA 551/B 579 Anm.): „Die eigentliche Moralität der Handlungen ... bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen." — Die moralische Handlung, genauer: die Moralität ihrer Maxime, ist ausschließlich (zu realisierendes) Objekt .praktischer Erkenntnis'. Auch wenn es in KrVA 802/B 830 heißt: „Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden", oder in KrV A803/B831: „Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung", so ist damit gerade nicht moralische sondern die .technisch-praktische' (bzw. .pragmatische') Freiheit gemeint [Vgl. auch in diesem Zusammenhang die „Tafel der Kategorien der Freiheit", KpV V/66]. - Also trotz der .transzendental' klingenden Formulierung von den „Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung" keine .moralisch-praktische' Transzendental-Philosophie (denn diese Formulierung - KrVA 807/B 835 zeigt .theoretische" Struktur). Dasselbe gilt für die Tatsache, daß - im Rahmen

204

4 ,Transzendentalphilosophie' und das ,Faktum der reinen Vernunft*

Diese äußerste K o n s e q u e n z des Denkens,24 die allein die (Denk-) Möglichkeit einer moralisch-religiösen, also ,geistigen' Realität eröffnet („Platz schaffen"), muß eingesehen werden, will man den , Aufstieg' dem Kantischen Begriffszusammenhang entsprechend nachvollziehen können.25 Voraussetzung ist ebenso, dieses Faktum der Vernunft („Platz ausfüllen", KpV V/49) nicht nur „dem Namen nach" (also theoretisch-informativ) sondern in seiner praktischen (Lebens-)Realität - also „praktisch" - zu „erkennen": einer Lebenspraxis, deren Struktur vor allem durch die Bemühung der Verwirklichung des „kategorischen Imperativs" geprägt ist und nicht primär durch die „Form der Selbstliebe".26 K o n s e q u e n t e r w e i s e besteht daher Kant darauf, daß das Moralgesetz (theoretisch) weder herzuleiten noch ernsthaft anzuzweifeln sei, und daß es das F a k t u m seiner Realität durch die Tat beweise oder gar nicht.27 Denn es der „Transzendentalen Methodenlehre" - Kant von einem möglichen Kanon (KrV A 795ff/B 823ff) nur hinsichtlich praktischen Vernunftgebrauchs spricht (vgl. KrV A 797/B 825). Denn es geht hier um die „transzendentale Befugnis" [die transzendental-philosophisch .eingesehenen' Möglichkeiten und Grenzen] theoretischen Vernunftgebrauchs am Boden praktischer Vernunft. 24 Vgl. auch KpVV/5: „ ... denn vorher muß dieses nothwendig inconsequent aussehen, solange man einen solchen praktischen Gebrauch nur dem Namen nach kennt." 25 Für .wirklichen' Nachvollzug ist ,historische' Aneignung von Information naturlich zu wenig; er ist nur .rational' möglich bzw. durch das „Philosophieren aus dem Ursprung" (K. Jaspers); der .rationale' Nach-Vollzug ist hier nur bedingt .theoretisch' [Primat der praktischen Vernunft. Zu .historisch-rational' vgl. ArFA835n7B863ff]. 26 Hier ist die „intelligibele That" als Lebensentwurf der .Totalität der Maximen' angesprochen (vgl. z.B. ÄGFVI/31, 39n), wobei es nicht um den moralischen Charakter von Handlungen sondern um den der jeweiligen Persönlichkeit geht. Von hier aus ist nur noch ein kleiner Schritt zu der .Anweisung', die Augustinus gegeben haben soll und die durchaus in den Kantischen Begriffsrahmen gehört (wenn in der „Liebe" die „Achtung" enthalten ist): „Liebe Gott und tu' was du willst" [Daß dies nicht .absteigende', heteronome Willkür sondern konzentrierteste Klärung und damit autonome Gebundenheit (.religio') des .Aufstiegs' bedeutet, müßte aus dem Gesamtzusammenhang dieser Schrift klar sein]. Michael Ende zeigt in seinem Buch Die unendliche Geschichte (Thienemanns Verlag, Stuttgart 1979) bildkräftig und präzis zugleich diese Probleme im .praktischen' Verständnis von ,Tu' was du willst' auf: Den Einbruch des egozentrischen Mißverständnisses der Willkür, das in Verstrickung führt, und dann das wachsende Verständnis des autonomen Dienens, das innere Klärung bedeutet und frei macht für die Erfordernisse eines menschlichen Alltags. 27 Vgl. KpV V/3: „Denn wenn sie als reine Vernunft wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die That, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich"; — KpV V/31: Durch dieses „einzige Factum der reinen [praktischen; G.R.] Vernunft" kündigt sich diese „dadurch als ursprünglich gesetzgebend" an; — KpVV/41: „Also kann die objective Realität des moralischen

4 .Transzendentalphilosophie' und das .Faktum der reinen Vernunft'

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,besteht' nicht nur ,im Denken' sondern vor allem Außerhalb' (relativ auf das Denken: ,an sich') desselben; dem Denken (bzw. theoretischer Vernunft) ,transzendent'. Dementsprechend hat die theoretische Rede über dieses »Faktum' zwei Bedeutungen:28 (1) das F a k t u m des B e w u ß t s e i n s dieses (Moral-)Gesetzes29, und (2) das F a k t u m dieses (Moral-) G e s e t z e s selbst.30 Wäre (2) nicht ,reaP, so wäre (1) von bloß psychologischer (in diesem Sinn: ,theoretischer') Bedeutung, daher moralisch (also »praktisch') un-verbindlich. Indem dieses reale „Grundgesetz" „sich für sich selbst uns aufdringt"31, .entsteht' - einerseits - das „Gefühl" der „ A c h t u n g vor dem Gesetz";32 andererseits kann dieses »Gesetz' für uns (als sinnlich-affizier b a r e Vernunftwesen) nur ein I m p e r a t i v sein.33 Gesetzes durch keine Deduction ... der theoretischen... Vernunft... bewiesen werden, und steht dennoch für sich selbst fest." 28 Sie sind ähnlich eng miteinander verbunden wie der .subjektive' und der .objektive' Aspekt des Grundsatzes der reinen praktischen Vernunft: moralische Maxime bzw. moralisches Gesetz (vgl. KpVV/19). 29 Vgl. z.B. KpW/3l: „Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Factum der Vernunft nennen, weil man es nicht... herausvemunfteln kann." 30 Wäre von ,Faktum' nur im Sinne von (1) die Rede, so wäre es bloß ein Faktum ,im Denken', theoretischer Vernunft .immanent'. Auch die Äußerungen Kants hinsichtlich dieses .Bewußtseins' setzen(2) voraus; vgl. z.B. KpW/l 18: „ ... Bewußtsein ... durch That... ". 31 Wenn Kant hier fortsetzt, „als synthetischer Satz a priori" (KpV V/31), so ist damit die früher (vgl. Kap. 3.5.1 bzw. Kap. 3.5.1.1) dargestellte „Verdrängung" des Prinzips der Selbstliebe als Form der ,analytischen Einheit' einer Handlungsmaxime durch die (moralische) Form .synthetischer Einheit' dieser nun .moralischen' Handlungsmaxime angesprochen. 32 Kant nennt es das einzige - intellektuell und nicht „pathologisch", daher: - „selbstgewirkte[s] Gefühl" (GMS IVMOln; vgl. auch KpV V/z.B. 80). — Hat man die Konsequenz in der Rede vom Faktum der Vernunft einmal eingesehen, dann bietet auch diese Bestimmung keine Schwierigkeit - mein Vortrag Überlegungen zum Problem der Achtung bei Kant zeigt z.B. noch diesbezügliche Unklarheiten -, und die Verlegenheit hinsichtlich des Begriffs der „Achtung" weicht der Erkenntnis von dessen systematischer Bedeutsamkeit. Es ist dann auch klar, daß dieses „Gefühl" als unsere „Empfänglichkeit für das Gesetz" kultivierbar ist (vgl. z.B. KpVVIl 17). Wesentliche Beachtung verdient aber der Punkt, daß Kant damit nicht eine sinnliche Empfänglichkeit unsererseits für das Gesetz oder eine intellektuelle Anschauung dieses Gesetzes meint: Das Gefühl der Achtung ist lediglich die .positive' Anzeige auf dieses Gesetz. Dem Zweifler ist nicht mit dem .Zwang' leerlaufender theoretischer Argumente (bzw. mit .Leerformeln') zu helfen, sondern nur durch Aufmunterung (am besten durch eigenes Beispiel), sich dieser geistigen Dimension in seiner eigenen Lebenspraxis zu öffnen. Die dann zu erlebende , Anstrengung', die manchen resignierend sich abwenden läßt, ist gerade als dieser real zu spürende Widerstand unserer „Selbstliebe" (bzw. des „Eigendünkels") das „Gefühl der Achtung", das laut

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4 .Transzendentalphilosophie' und das .Faktum der reinen Vernunft'

Diese Unabhängigkeit der moralischen Forderung von theoretischer Vernunft bedeutet für die — als Philosophie immer ,theoretische' — Moralphilosophie, daß das ,Wissen' des Moralgesetzes und intellektuelle Schulung gleich welcher Art keinen notwendigen Zusammenhang haben.34 Folgerichtig fragt Kant (KrVA 831/B 859): „Aber verlangt ihr denn, daß ein Erkenntnis, welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand übersteigen, und euch nur von Philosophen entdeckt werden solle?"

und erklärt anschließend: „Eben das, was ihr tadelt, ist die beste Bestätigung von der Richtigkeit der bisherigen Behauptungen, da es das, was man anfangs nicht vorhersehen konnte, entdeckt, nämlich, daß die Natur, in dem, was Menschen ohne Unterschied angelegen ist, keiner parteiischen Austeilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei, und die höchste Philosophie in Ansehung der wesentlichen Zwecke der menschlichen Natur es nicht weiter bringen könne, als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen."35

Kant „Selbstliebe" bzw. „Eigendünkel" „demütigt" und „niederschlägt"; dies ist nicht .angenehm' (Selbstliebe!), aber heil-sam (Läuterung!). — Vgl. dazu vor allem den Abschnitt Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft (KpW/7lf[) und die Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft (KpV V/l 51 ff), bzw. gleich deren Anfang (KpV V/151): „Unter der Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft ... wird ... die Art verstanden, wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüth, Einfluß auf die Maximen desselben verschaffen, d.i. die objectiv praktische Vernunft auch subjectiv praktisch machen könne"; — vgl. auch Kap. 3.5.1.3. 33 Diese ,Form' des Imperativs ist nicht zu verwechseln mit den verschiedenen Formulierungen (bzw. ,Formeln'), durch die Kant versucht, diese Forderung (d.i. den .Imperativ') sprachlich auszudrücken. 34 So kann intellektuelle .Bildung' die Klarheit innerer .Herzensbildung' fördern, oft jedoch scheint sie von abträglicher Wirkung zu sein: Immer dann, wenn .Bildung' als .toter' Informations-Ballast, und damit als strukturelle Ignoranz, die eigenen Lebens-Äußerungen behindert. 35 [Man denke hier allerdings auch an die .leicht verfuhrbare Unschuld' (QMS IV/404f)] — Vgl. KpV V/105: „ ... Grundsatz ... wo sie also als reine Vernunft selbst praktisch ist... Dieser Grundsatz aber bedarf keines Suchens und keiner Erfindung; er ist längst in aller Menschen Vernunft gewesen und ihrem Wesen einverleibt und ist der Grundsatz der Sittlichkeit"; — vgl. auch KpV V/8n: „Wer wollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen und diese gleichsam zuerst erfinden? gleich als

4. l Zur Frage einer möglichen , intellektuellen Anschauung'

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4. l Zur Frage einer möglichen , intellektuellen Anschauung' Das moralische Faktum ist also prinzipiell jedem Menschen zugänglich. Denkt man nun an den Vorwurf des „Aristokratismus", den Georg Lukacs gegen Schelling erhoben hat,36 so erhält Kants strikte Ablehnung der , intellektuellen Anschauung' — auch hinsichtlich der hier vorgebrachten ,teleologischen' Überzeugung Kants von der im Grunde f ü r j e d e n Menschen bestens strukturierten ,Welt'37 — ein ,äußerliches' (d.i. nicht system-immanentes) Aufklärerisch-demokratisches' Aussehen. Sollte Kant auch selbst geglaubt haben, keine ,Erfahrung' hinsichtlich solcher ,Anschauung' zu besitzen, so hatte er lediglich keine (,eigene') Grundlage, auf die bezogen (und damit auch eingeschränkt) theoretisches Denken und Reden ,(transzendental-)befugt' möglich wäre; Kant hatte aber — soweit ich sehe — k e i n e p h i l o s o p h i s c h e Basis,38 diese ,Anschauung' ,prinzipiell' f ü r a l l e Menschen als unmöglich zu erklären. Ist aber der ob vor ihm die Welt in dem, was Pflicht sei, unwissend oder in durchgängigem Irrthume gewesen wäre. Wer aber weiß, was dem Mathematiker eine Formel bedeutet ... wird eine Formel ... in Ansehung aller Pflicht ... nicht für etwas Unbedeutendes und Entbehrliches halten." 36 Und zwar im Zusammenhang mit Schellings Behauptung einer intellektuellen Anschauung, die jemand besitze oder nicht, es gäbe keine Hinfuhrung ,filr alle'. — Die Berechtigung für Lukäcs' Vorwurf bleibe dahingestellt; den Kontrast zu Schelling bietet für Lukäcs allerdings nicht Kant, sondern Hegel; vgl. Georg Lukäcs, Die Zerstörung der Vernunft, S. 131 ff. 37 Die Annahme, daß einigen Menschen Einsichten von Gewicht möglich seien, die ,den Vielen' grundsätzlich — in dem Sinn, daß etwas, das bloß empirisch-faktisch, also ,zur Zeit' nicht [aber, abgesehen von der,Zeit',,grundsatzlich'schon] möglich ist, dann, wenn die , Zeit abgelaufen' ist [letzter möglicher Zeit-Punkt: der Tod], , grundsätzlich nicht' [mehr] möglich ist — verschlossen sind, läßt sich nur dann in einen beachtenswerten Widerspruch zur genannten ideologischen Überzeugung, die Jeden Menschen' betrifft, bringen, wenn man - in sich widersprüchlich - voraussetzte, diese Einsichten seien ,für jeden' Menschen - unabhängig von seinem jeweiligen ,Entwicklungs-Stand' - wichtig [und das wäre hier gleichbedeutend mit: ,notwendig']. Auf Grund der mir bekannten Schriften glaube ich begründet annehmen zu können, daß Kant überzeugt - und insoweit ,Aufklärer' [in geistesgeschichtlich-inhaltlichem Sinn und im Gegensatz zu jeder , Romantik'] - war, daß alles für einen Menschen als Menschen wichtige Wissen jedem einzelnen Menschen, also allen, prinzipiell zugänglich sein müßte [Die richtigstellende Relativierung dieser Sicht beginnt allerdings schon mit der Formulierung des kategorischen Imperativs, die auf das ,Wollenkönnen' Bezug nimmt; vgl. Kap. 5]. 38 Kant hatte offenbar einen polemischen .Begriff' von .intellektueller Anschauung', der von analoger Verständnis-Unlust zeugt wie beispielsweise der empiristische .Begriff' von .Metaphysik'.

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4 .Transzendentalphilosophie' und das .Faktum der reinen Vernunft'

Ausschluß jeder ,intellektuellen Anschauung' durch das in Zeit und Raum existierende Individuum ,Kant' selbst nur ,faktisch'-zufallig und durch die Grundstrukturen seines philosophischen Begriffszusammenhanges nicht gedeckt, so steht Kants P h i l o s o p h i e der Möglichkeit eines solchen ,Faktums' g r u n d s ä t z l i c h offen.

Zusammengefaßt ist also zu sagen: Die (theoretische) Annahme des (moralischen) ,Faktums der reinen Vernunft' stellt keinen ,Bruch' im Kantischen Begriffszusammenhang dar, sondern gerade höchste Konsequenz; unter der Voraussetzung allerdings, der so Redende weiß, wovon er spricht bzw. ,kennt' die Realität dieser moralischen Dimension durch seine persönliche,,bewußte' Lebens-Praxis. Insofern nun Transzendental-Philosophie als Selbsterkenntnis spekulativer Vernunft primär »relativierenden* bzw. ,negativen'39 Charakter hat, kann diese ,transzendentale', innere Grenze nur für theoretischen Vernunftgebrauch gelten: ob ,relativ' (und damit eingeschränkt) auf diesen, oder - ,erweitert' - ,relativ' (und damit eingeschränkt) auf praktischen Vernunftgebrauch. Die Grenzen praktischer Vernunft können .theoretisch' nicht bestimmt werden [nur ,praktisch': in der moralischen Realisierung(sbemühung)]; auch das ist Ausdruck des ,,Primat[s] der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen" (KpV V/119ff). Ist aber im Rahmen Kantischer Philosophie sinnvolle Rede hinsichtlich des (theoretisch-)philosophisch-,transzendenten' moralischen , Faktums ' möglich, und zwar gerade durch äußerste K o n s e q u e n z , so ist damit die Denk-Möglichkeit auch a n d e r e r nicht-empirischer, , r e i n e r ' , F a k t e n' gerade nicht ausgeschlossen, sondern p r i n z i p i e l l eröffnet.40 39

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D.i. die (Selbst-)Erkenntnis der .inneren Grenze' der jeweiligen (theoretischen) Vernunftstrukturen; zum .negativen' Charakter dieser Philosophie vgl. die angegebenen Stellen in Anm. 6 meines Aufsatzes: Schelling und Kant... . Wobei die Frage, ob und in welcher Weise damit überhaupt eine jeder ,Vernunft' transzendente Dimension gemeint ist oder nicht, hier nicht weiter interessiert [Für den späten Schelling ist z.B. .negative Philosophie' - in deren Sphäre er auch den .ganzen' Kant sieht - der Inbegriff aller Vernunft-Wissenschaft im Kontrast zur .positiven Philosophie', dem .philosophischen Empirismus']. — Hinsichtlich des Kantischen Begriffszusammenhanges stellt sich vor allem bezüglich unseres .Wissens' des Moralgesetzes (KpVV/4) die .spekulative Frage': Ob dieses .Wissen' tatsächlich

4. l Zur Frage einer möglichen , intellektuellen Anschauung'

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nichts anderes bedeutet a/5 ausschließlich die moralische Praxis des menschlichen Alltags [vgl. auch KpV V/105f: „Denn es ist unsere Vernunft selber, die sich durchs höchste und unbedingte praktische Gesetz und das Wesen, das sich dieses Gesetz bewußt ist, (unsere eigene Person) als zur reinen Verstandeswelt gehörig ... erkennt"; bzw. ATjpFV/98: „ ... Bewußtsein seiner intelligibelen Existenz ..."]. Wenn Kant z.B. den Satz von Descartes „ich denke, ich bin" den Buchstaben Descartes' entsprechend — gleichgültig, ob: „wie Cartesius dafür hielt" (KrV B 422 Anm.) von Kant irrtümlich auf die - von ihm wie von Descartes selbst (vgl. Meditationen /Antwort auf die zweiten Einwände S. 127f) explizit abgelehnte - ,syllogistische Interpretation' des „ego cogito, ego sum" bezogen wurde oder auf seine eigene (und Descartes entsprechende), .nicht-syllogistische' Sicht dieses Satzes richtig reflektiert - „Daher kann meine Existenz auch nicht aus dem Satze, Ich denke, als gefolgert angesehen werden ... sondern ist mit ihm identisch"; Ä>KB 422 Anm. -, so tut er dies ,im Geiste' formaler Logik und nicht im Sinne ,innerer Einsicht" (vgl. Descartes: „mentis intuitus", Meditationen S. 128); denn auch wenn ,denken' im weiten Sinne von Descartes als .bewußt sein' verstanden wird - also als .theoretisch': intuitiv und diskursiv; und als .praktisch': wollen; auch als fühlen -, so kann man Descartes nicht folgen, solange formallogische Argumentation bestimmend ist: Denn aus einem analytischen (.identischen') Satz kann nichts ,Synthetisches' ohne Fehler erreicht werden. Versteht man Descartes' Meditationen aber als Erfahrungsbericht innerer Einsicht (vgl. Kap. 2.1.3), so wird klar, daß er bei der ,Erkenntnis' eigener .geistiger' Tätigkeit (im weiten Sinn) nicht stehen bleiben kann, sondern sich konsequent dem allumfassenden Geist-Wesen (,Gott') öffnet. — Ob man hier von .Mystik' oder von ,intellektueller Anschauung' sprechen will: Kants Kritik an Descartes kann jedenfalls nur soweit adäquat sein, als Descartes sich tatsächlich auf innere sinnliche Anschauung (.Introspektion') bezieht, aber eben nur insoweit [vgl. zu Descartes beispielsweise Ferdinand Alquio, Descartes]. — Der ,Zug' Kantischer Philosophie ist ähnlich: Das .Wissen' des geistig-moralischen Gesetzes führt zum (moralischen) Gottesbegriff - der a/5 moralischer primär nicht theoretische Begrifflichkeit, sondern praktisch-moralische Lebendigkeit bedeutet -; und alles nur theoretisch-formallogische Denken kann und will diesen .Einsichten' Kantischer Philosophie ebensowenig folgen, wie Kant selbst beispielsweise Descartes. Zum .Bewußt-Sein' von .Einsichten' vgl. z.B. Karl Jaspers, Die großen Philosophen, Bd. l, S. 518: „Das Neue bei Kant, sagen sie, sei ein totaler Irrweg. Aber ihnen ist zu antworten: dieses Neue, aus der Natur unserer Vernunft selber zum Bewußtsein gekommen, ist doch nur eine neue Weise der Bewußtwerdung uralten Grundwissens"

5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs (Die Rationalität der praktischen Vernunft) Diese Schrift ist ganz an der Frage menschlichen Denkens (als Aspekt menschlichen Lebens) orientiert; und zwar nicht eines vielleicht einmal gewesenen', sondern des ,hier und jetzt' möglichen. Durch s y s t e m a t i s c h e Aneignung der h i s t o r i s c h vorliegenden Philosophie Immanuel Kants1 bietet ,Kant' wesentlichste Denkmöglichkeiten einer ,Philosophie der Freiheit', die auch gegenwärtigem wissenschaftlichen Standard genügt.2 Die in dieser Hinsicht bisher erfolgte, und durch die 1

.Rationale Rekonstruktion' im Sinne der analytischen Philosophie geht an fremde Philosopheme als historische Objekte, , außen', heran; die hier genannte systematische Aneignung' gelingt aber nur, wenn sie den - immer .inneren' - Ursprung findet. — Vgl. den schon früher angeführten Ausdruck von Karl Jaspers: .Philosophieren aus dem Ursprung' bzw. die Unterscheidung Kants von .rationalem' Philosophieren und bloß .historischer' Lehre (bzw. subjektiv: Gelehrsamkeit). Dieser .Ursprung' ist analytischer Philosophie grundsätzlich verschlossen, insoweit sie nur ,theoretisch', und zwar im eingeschränkten Sinn des .Verstandes', ist. 2 Insoweit allerdings z.B. .theoretische', empiristisch-positivistische Denkhaltung aus einer — auf die Förderung empirischer Wissenschaft und Technik (von .Physik' bis .Soziologie' und von .Psychologie' bis .Chemie' beispielsweise) ausgerichteten — bloßen Methodologie umschlägt in eine, der Funktion nach dogmatische Weltanschauung, ist sie der adäquaten Auflassung jeder um .Freiheit' (in .kategorischem' Sinn) bemühten Philosophie verschlossen, kann ihr also - relativ auf den eigenen dogmatischen Boden - auch keinen wissenschaftlichen Standard in zeitgenössischem Sinn bestätigen. Ich habe schon im bisherigen Verlauf dieser Schrift verschiedentlich versucht deutlich zu machen, inwiefern ,Metaphysik der praktischen Vernunft' nicht .theoretisch' ist. Wesentliche Voraussetzung für dieses Verständnis ist die Einsicht (die sich im Sprachverhalten .ausdrückt', dieses aber nicht .ist'), daß praktische Vernunft nicht .theoretisch' erkannt werden kann. Damit ist der jeweils eigene Standpunkt verändert: Die Metaphysik praktischer Vernunft wird aus einer - theoretischem Mißverständnis sich notwendig so darbietenden Rumpelkammer obskurster Versatzstücke zur Erzählung' aus einer lichten LebensSphäre (vgl. auch Kap. 2.1.3). — Die Art des Zugangs? Dies ist ja .Inhalt' der .Erzählung'. — Ihre .Überprüfung'? Diese kann nicht durch Argumente einer möglichen Gedanken-re-konstruktion anderen .Inhalts' geschehen, sondern nur im konkreten Leben selbst (oder gar nicht). — Irrationalität? Diese Frage wird beispielsweise aufgelöst im Verständnis der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs.

5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

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Auslegung3 bestimmter Textteile gestaltete, Skizze der kritischen Philosophie Kants dient zugleich der Behauptung der systematischen Einheit dieser Philosophie als Beleg. — Systematische Bedeutung4 hat auch die Frage der (moralischen) A l l g e m e i n g ü l t i g k e i t ; ihre Auflösung daher hinsichtlich des bisher Dargelegten K o n s e q u e n z 5 und nicht bloß Vereinbarkeit. Es soll hier also nicht mehr vom Moralgesetz als konstitutiver Struktur eines j e d e n Vernunft-Wesens gesprochen werden, auch nicht mehr davon, daß die ,Natur' Gottes, des »Oberhauptes4 im ,Reich der Zwecke', und die »moralische Weltordnung' eins sind.6 Im folgenden geht es aus3

Diese Auslegung bekräftigt gerade in ihrer möglichsten Textnähe — um diese zu erreichen ist die Voraussetzung [die ja nicht willkürlich angenommen, sondern als Ergebnis langer Auseinandersetzung mit ,Kant' gewonnen wurde] der systematischen Einheit der kritischen Philosophie notwendig, weil sonst das Verständnis für die hier vorliegende .Metaphysik' verschlossen bleibt — die Behauptung der systematischen Einheit der Kantischen Philosophie als einzig adäquate Sichtweise [vor allem im Kontrast zur neukantianischen .Patchwork-Auffassung']. — Der Hinweis auf die bisherige Darstellung müßte als Begründung dafür genügen, daß hier kein fehlerhafter Zirkel vorliegt. 4 Sie ist innerhalb des systematisch strukturierten Begriffszusammenhanges nicht .zufällig' sondern .notwendig'. 5 Im folgenden wird zuerst diese Konsequenz aus dem hier bisher Entwickelten heraus vorgestellt, anschließend ein weiterer Textteil zur Grundlage genommen (KpV V/67ff: Von der Typik der reinen praktischen Unheilskraft). Es versteht sich von selbst, daß die in dieser Schrift systematisch angedeuteten tatsächlichen Denkanstrengungen, sich von der .Schwere' - sozusagen .natürlichen' .gegenständlichen Denkens' zu lösen (ohne jedoch in haltlose Schwärmerei zu geraten), auch für das Folgende notwendige Voraussetzung sind. 6 Die jetzt im Text folgenden Ausführungen sind substantiell im bisher Dargestellten schon enthalten. Bei allen Unterschieden im jeweiligen Begriffszusammenhang ist hier - wie an anderen Orten auch - die innere Nähe Kants und Spinozas zu spüren: Bei Kant erweist sich der Prozeß moralischer Läuterung nicht eigentlich als Weg zur religiösen Sphäre hin, sondern als schon immer in dieser gegründet, in ihr involviert (vgl. Jaspers: .das Umgreifende'); dies ist der Sinn der systematisch-korrekten Formulierung Kants, Moral führe (subjektiv-)notwendig zu Religion. Bei Spinoza führt der Prozeß der (Selbst-)Befreiung des Menschen aus den Verwirrungen und Verstrikkungen seiner Affekte zur zunehmenden Klärung und damit Einsicht in die Notwendigkeit der ,Natur' Gottes - „Alles, was ist, ist in Gott ..." (Ethik I/LS 15) -, und dies ist der Sinn der Formulierung, daß Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit sei: man wird frei, .wesentlich' zu sein (Spinozas Zentrum: .arnor dei intellectualis'). Demgegenüber ist die mögliche Erinnerung an Spinoza (,deus sive natura') anläßlich folgender Textstelle äußerlich: „Ja ... aber so, daß es euch gleich viel gelten muß, ob jemand sage, die göttliche Weisheit hat alles so zu seinen obersten Zwecken geordnet, oder die Idee der höchsten Weisheit ist ein Regulativ in der Nachforschung der Natur und ein Prinzip der systematischen und zweckmäßigen Einheit derselben nach allge-

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5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

schließlich um das Problem der Allgemeingültigkeit der moralischen Forderung an ,1ms'; um ihre ,objektive' Geltung also, die a l l e M e n s c h e n betrifft; sie mögen die Forderung nun ,subjektiv(-privat)' akzeptieren oder nicht. Diese Fragestellung muß auf Grund des bisher Entwickelten sofort berichtigt werden.7 Denn die Rede vom moralischen , Faktum der reinen meinen Naturgesetzen ... d.i. es muß euch ... völlig einerlei sein, zu sagen: Gott hat es weislich so gewollt, oder die Natur hat es also weislich geordnet" (KrVA 699/B 727). Der hier gebrauchte Gottesbegriff ist bloß , theoretisch'. ,Freiheit' bedeutet insofern für Descartes, Spinoza und Kant (zum Unterschied vom gewöhnlichen Neu-Kantianer) Ähnliches, als „Unentschiedenheit (indifferentia)", d.h. ,Wahlfreiheit', als „der niedrigste Grad der Freiheit" (Descartes, Meditationen S. 48) gilt. Zum scheinbaren Widerspruch der Rede von der alles in sich befassenden, ,gründenden' religiösen Sphäre und der Kantischen Feststellung, Moral sei die Basis der Religion (und nicht die Religion Basis der Moral) vgl. a.a.O. ' Was ich als notwendig-allgemeingültige Struktur (,Form') empirischer Objekte (einschließlich der Menschen als möglicher Gegenstände empirischer Wissenschaft und Technik) erkenne, muß (d.i.: Notwendigkeit!) für alle (d.i.: Allgemeingültigkeit!) dieser Objekte gelten; denn ohne diese - natürlich erkenntnistheoretisch und nicht empirisch gesprochen - ,konstituierenden Prinzipien' (bzw. ,Formen', ,Strukturen') wären diese empirischen Objekte als empirische Objekte gar nicht ,da': nichts würde unserer empirischen Erkenntnisbemühung Gegenstand sein können (Möglichkeit!). Die Erkenntnis der .Wahrheit' bzw. des .Wesens' dieser Objekte erfolgt an einzelnen Gegenständen stellvertretend für alle gleich gearteten [Hier ist sowohl, .extensional', an Elemente einer jeweils bestimmten Klasse von Gegenständen als auch, .intensional', z.B. an ,Wesensschau' (in Husserls Sinn) zu denken; bei aller Verschiedenheit: theoretische Erkenntnishaltung!]. Wäre kein Unterschied von theoretischer und praktischer (d.i. moralischer) Allgemeingültigkeit (d.h. wäre jede Art von Allgemeingültigkeit,theoretischer' Natur), so müßte das, was ich für mich - d.i. ein jedes Individuum für sich - als moralisch .richtig' (d.i. als .Pflicht') erkenne, für alle anderen Menschen in .vergleichbaren' Situationen nicht nur ebenfalls Pflicht sein sondern ich hätte für diese Menschen, an ihrer Stelle, .erkannt', was ihre Pflicht ist (bzw. religiös gesprochen: was Gott von ihnen fordert). — Daraus entspringt totalitäre Unduldsamkeit (im privaten wie im öffentlichen Bereich), zu allem Überfluß versehen mit vermeintlichen .Weihen' vermeintlichen .nicht-empirischen' ,lVissens\ In dieser Situation befindet sich, wer .moralische Erkenntnis' in theoretischem Sinn versteht als Erkenntnis von etwas Vorhandenem (.Positivem'). Wer das Mißverständnis spürt, aber - von der Position dieser Schrift aus gesehen - an der falschen Stelle dagegen ankämpft, dem bleibt - falls er .philosophiert' - aus Gründen intellektueller Redlichkeit, persönlicher Selbstachtung, also letztlich aus (im Sinne dieser Schrift) moralischen Gründen, nur der Versuch übrig, diese falsche Scheinerkenntnis zu vernichten. Dient der Empirismus als Boden dieses Kampfes um Humanität - und er scheint im theoretischen Bereich die einzig mögliche Grundlage zu sein (man denke hier auch an seine historisch-soziologisch festzustellende .Fortschrittlichkeit') -,

5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

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Vernunft' meint nichts ,Positives' im Sinne eines »gegebenen' Gegenstandes als synthetische Einheit von Form und Inhalt. Dieses moralische , d a ß ' hat lediglich ,negativen' Charakter: Es vermehrt die Neigungen nicht,8 es schränkt sie - wenn nötig - ein (,Nötigung'); es ist die bloße (moralische) F o r m der empirisch-realen Neigungen bzw. jeder moralischen Handlung. Der ,kategorische Imperativ' k a n n also in gegenständlichem Sinn9 n i c h t ,existieren': Nur deshalb ist auch die Rede von Autonomie angebracht; denn alles gegenständliche' steht uns , außen' (d.i. heteronom) entgegen.10 so wird ,Metaphysik' ohne Differenzierung .entlarvt' und zumindest der Zugang zu ihr unterschiedslos verlegt. Dieser Kampf um Humanität kostet zuviel: das Bewußtsein des Menschen nämlich (Humanität in ihrer zentralen, persönlichen Bedeutung). Die - im Sinne dieser Schrift -richtigeStelle hat z.B. Kant getroffen - aber nicht der übliche ,Kant' der Philosophiegeschichte, vor allem des Neukantianismus - durch die hart zu erarbeitende Einsicht, daß Metaphysik keine Wissenschaft in theoretischem Sinn sein kann, daß es aber von theoretischem Wissen streng zu unterscheidendes ,Wissen' gibt, das diesen Namen verdient: das moralische. 8 Der Hinweis auf das .intellektuell' (d.i. nicht sinnlich) .gewirkte Gefühl der Achtung' wäre kein Einwand. Denn psychologischer Untersuchung ist .Achtung' unzugänglich; was bleibt, ist vertraute .pathologische' (d.i. im Sinne Kants: sinnliche) .Materie'. 9 D.h. im Kantischen Begriffsrahmen: der kategorische Imperativ kann nichts positives' für die theoretische Vernunft sein; meint aber jemand: .dann eben für die praktische Vernunft', so ist genau zu prüfen, ob nicht die Haltung theoretischer Vernunft - z.B. durch die ,Subjekt-Objekt-Spaltung' charakterisierbar - beibehalten und lediglich das nichtverstandene Wort ,praktisch' an die Stelle von ,theoretisch' gesetzt wurde [im übrigen ist reine praktische Vernunft das Moralgesetz bzw. .für uns' der ,kategorische Imperativ']. — Vgl. auch in Kap. 3 den Unterschied des Begriffs vom Noumenon in positiver Bedeutung hinsichtlich (theoretisch-)dialektischer und praktischer Vernunft. 10 Dies alles und auch das anschließend Folgende wurde in seiner Substanz schon früher dargestellt. — Das Studium Spinozas (vgl. Ethik, Teil I) lehrt übrigens die auch hier wichtige Unterscheidung zwischen .heteronomer', sozusagen ,horizontaler' Kausalität (.Ursache-Wirkung' im auch heute geläufigen Sinn) auf der .Zeitlinie', materialisiert im endlosen Kausalzusammenhang der endlichen Modi, und .autonomer', sozusagen .vertikal' gerichteter Kausalität, .quer zur Zeitlinie' also, der .ewigen' .Kausalität' der Einen Substanz (vgl. auch das zur Zeit des aufblühenden Deutschen Idealismus), als deren .Wirkung' die einzelnen Modi .Bestand' haben. — Diese letztere .Kausalität' ist im Unterschied zur zeitlichen Ursache-Wirkungs-Relation zwar sinnvoll als zeitlose Grund-Folge-Beziehung zu denken, jedoch nicht in formallogisch-kraftloser Weise sondern als strotzende Potenz aller empirischen Realität. Wiederum: Bei aller Verschiedenheit von .Kant' und .Spinoza' ist hier ein innerer Berührungspunkt; im Interesse eines sinnvollen Begriffszusammenhanges ist die in der moralischen Handlung ver-wirk-lichte .Wirkung' des Kantischen Moralgesetzes - als Ordnungsprinzip einer intelligiblen Welt - auf die empirische Realität .vertikal', also .quer' zur .horizontalen' Zeitlinie zu denken.

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5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

Diese (moralische) Einschränkung der Neigungen kann also sinnvoll nicht als ,heteronom', , außen' kommend, gedacht werden: Es liegt hier eine Analogie zur Feststellung der Grenzen unserer theoretischen Erkenntnis vor. Denn auch da trifft nur jenes Denken Kantisches Niveau, das diese Einschränkung nicht ,positiv', durch , außen' gesetzte ,Grenzpfähle' (die letztlich immer willkürlich bleiben müßten) denkt, sondern als , innere Grenze'11, die an früherer Stelle tautologisch ausgedrückt wurde: daß nämlich Gegenstand theoretischer Erkenntnis nur sein kann, was Gegenstand dieser (theoretischen) Erkenntnis sein kann — und sonst nichts. Sollten also auch die synthetisch-apriorischen Strukturen theoretischer Vernunft ,autonom' genannt werden können?12 Die Antwort ist eindeutig: Ja. Dennoch ist die Bedeutung der Frage nach dem Unterschied der synthetisch-apriorischen Strukturen theoretischer Vernunft und jener der praktischen Vernunft für das Verständnis der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs (d.i. die synthetisch-apriorische Struktur praktischer Vernunft) offensichtlich; man denke nur an jene Formulierung, in der vom „allgemeinen Naturgesetze"13 die Rede ist, und daran, daß man in gewisser Weise sagen kann, die Gesetze der sinnlichen Natur würden dieser zwar vom Verstand vorgeschrieben'14, daß aber die Struktur sinnlicher Natur — vom Standpunkt moralischer Freiheit (»Autonomie') aus betrachtet — notwendigerweise Determination und insofern, nämlich relativ auf die einzelnen empirisch-realen ,Subjekte' (d.s. M e n s c h e n , als sinnliche Vernunft-Wesen gedacht), ,Heteronomie' bedeutet. 11

Vgl. dazu a.a.O.: die wesentlich ,negative' Bedeutung der Kantischen Philosophie (theoretischer Vernunft). 12 Vgl. z.B. KU V/185, wo Kant hinsichtlich .objektiv-gesetzgebender', auf sinnliche Natur bezogener Strukturen (theoretischer Vernunft) von .Autonomie' spricht. — Findet jedoch nicht die - selbstverständlich , autonome' - Spontaneität (Selbst-Tätigkeit bzw. -Gesetzgebung) der ,Einen Vernunft' zentrale Aufmerksamkeit sondern ihre innere Differenzierung - d.i. hier: theoretischer und praktischer Vemunftgebrauch bzw. die auf .Vernunft-Wesen' bezogene Frage nach .Freiheit' oder .Determination', dann ist die Sicht-Weise geändert: Jetzt geht es um .praktisch-moralische' Betrachtung [als eine Weise des .Sehens' bzw. .Schauens' ist sie .theoretisch', wie notwendigerweise jede Philosophie]; vom durch und durch (kausal-)determinierten Bereich theoretischer Vemunft(-Erkenntnis) ist jetzt die Sphäre (potentieller) moralischer Freiheit zu unterscheiden: (theoretische) Heteronomie von (moralisch-praktischer) Autonomie. 13 Vgl. z.B. GMS IV/421: „ ... handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte." 14 Vgl. Prolegomena § 36 [PMW IV/318ff; zitiert in Anm. 87/Kap. 5]; insofern. .Autonomie' der Prinzipien theoretischer Vernunft (vgl. Anm. 12/Kap. 5).

5.1 Die potentielle Einzigartigkeit jedes Menschen

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,Menschliches Denken', das n i c h t in seiner Wurzel terroristisch, sentimental geschwächt oder schöngeistig' ist, bedarf des Bodens mor a l i s c h e r A u t o n o m i e ; dieser aber wird nur verwirklicht in der Realisierung der unbedingten moralischen Forderung. Damit ist die zentrale Bedeutung der Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs für ,menschliches Denken' (im Sinne der vorliegenden Schrift) berührt. 5.7 Nochmals zur Unterscheidung von theoretischem und praktischem Vernunftgebrauch (Die potentielle Einzigartigkeit jedes Menschen) ,Apriorität' bedeutet ,notwendige Allgemeingültigkeit':15 Den letzten Unterschied der synthetisch-apriorischen Strukturen theoretischer bzw. praktischer Vernunft zeigt die Frage nach der ,einmaligen',,unersetzbaren' menschlichen Person. Denn da ist festzustellen, daß (theoretisch-)empirische Erkenntnis- bzw. Manipulations-Objekte p r i n z i p i e l l austauschbar16 sind im Rahmen der jeweils gegebenen Klassenmerkmale.17 ,Der Mensch', s o f e r n er als mögliches Objekt empirischer Erkenntnis und Manipulation, d.h. sofern er als mögliches ,Mittel' betrachtet wird, macht hier keine Ausnahme: Er ist, als (aktiver oder passiver) , F u n k t i o n s g e g e n s t a n d ' , grundsätzlich (wenn auch nicht immer und überall empirisch-real) in jeder seiner Funktionen ersetz b a r : durch andere Funktionsgegenstände (Menschen oder Tiere z.B., zunehmend auch durch Maschinen).18 15

Die Moralität der Maximen ist bestimmt durch deren Vermögen der Allgemeingültigkeit; jedoch nicht derjenigen theoretischer Vernunft (,theoretisch' gesehen: ,Autonomie'; unter moralischem Gesichtspunkt: ,Heteronomie'), sondern der Allgemeingültigkeit praktischer Vernunft (unter moralischem Gesichtspunkt gesehen: »Autonomie'). 16 Vgl. dazu Kap. 3.5.2.1. 17 Empirisch-real können natürlich gewisse Klassen (zu gewissen Zeiten, an gewissen Orten oder ,bisher( generell) den Umfang , (oder gar ,0') aufweisen; jedoch: prinzipiell gesehen ist das einzige empirisch-reale Element einer Klasse als Element einer Klasse ebenso austauschbar wie eine große Anzahl empirisch-realer Klassenelemente. 18 Das Denken eines technisch-möglichen Ersatzes von Menschen durch Maschinen bietet im Rahmen der Kantischen Philosophie keine Schwierigkeiten. Man könnte geradezu den Menschen in dieser Hinsicht als (vorübergehenden) Maschinenersatz verstehen. Aber auch jede Psycho-Technik kann als .Technik' den Bereich (moralisch gesehen:) der Heteronomie nicht verlassen (unbeschadet ihrer möglicherweise ,human' klingenden Terminologie).

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5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

Selbstverständlich gilt dies im Rahmen der Kantischen Philosophie n u r , s o f e r n der Mensch als möglicher empirischer Gegenstand betrachtet wird [ n i c h t aber als Behauptung seiner a u s s c h l i e ß l i c h empirischen Realität,19 denn damit wäre die Dimension moralischer Wirklichkeit zumindest dem Menschen abgesprochen].20 Die moralische Struktur der p r a k t i s c h e n Vernunft (d.i. der kategorische Imperativ) k o n s t i t u i e r t die Möglichkeit21 der jeweils e i n z i g a r t i g e n P e r s o n jedes Menschen, die nur ,wirklich' ist, i n d e m sie sich verwirklicht.22 Wie das Moralprinzip nichts positiv Gegebenes23 ist, so auch nicht die jeweilige moralisch-religiöse Persönlichkeit. Auf sie bezogen kann hier nur 19

Dies würde - ,theoretisch' - eine empiristische Reduktion der kritischen Philosophie Kants bedeuten und .praktisch" jener Formulierung des kategorischen Imperativs direkt widersprechen, die so zu handeln auffordert, daß „der Mensch ... nicht bloß als Mittel ... sondern ... jederzeit zugleich als Zweck" gewürdigt werde (GMS IV/428), denn er wäre dann ausschließlich »Mittel'. 20 Was aber nicht ,menschenartig' in irgendeiner Beziehung ist, das ist menschlicher Wirklichkeit (menschlichem Erkennen und Tun im weitesten Sinn) grundsätzlich unzugänglich; daher z.B. des späten Schelling Betonung eines allumfassenden Anthropomorphismus. 21 Die Verwirklichung dieser seiner ,Potenz' liegt in der Verantwortung des jeweiligen Menschen selbst. Hier ist zu beachten, daß diese .Verwirklichung' nicht das Glücken der moralischen Handlung meint - dieses ist ja (durch die empirische Materie der moralischen Handlung) dem vollen Einflußbereich jedes Menschen mehr oder weniger entzogen -, sondern die Realisierung der (moralischen) Maxime der moralischen Handlung (vgl. Kap. 3.5.1). 22 Dieser Prozeß der moralischen Läuterung ist als ,Selbst-Venvirklichung1' von allen jenen Formen gleichen Namens streng zu unterscheiden, die im Sog des grassierenden Psycho-Booms das ,anagogisch-vertikaP gerichtete geistig-moralische ,Selbst' vom .horizontalen' empirisch-individuellen ,Ego' nicht unterscheiden (können und wollen), weil sie nur das Ego kennen und daher - manch anders klingenden Reden (.Terminologien') zum Trotz - das Egozentrische immer stärker und fester machen. Denn der Prozeß moralischer Läuterung, die Verwirklichung des .vertikal' gerichteten .Selbst', hat die Tendenz der Auflösung bzw. Überwindung egozentrischer Verhärtung und bedeutet moralisch-religiöse Öffnung des neuen Zentrums: Liebe (natürlich in praktischem1, nicht in .pathologischem' Sinn). — Vgl. Anm. 6(Mitte)/Kap. 5 bzw. meinen Aufsatz: Schelling und Kant... . 23 Es ist uns bloß .negativ gegeben': Kontrast (.Nötigung') der positiv vorhandenen Selbstliebe (daher ist auch nur diese möglicher Gegenstand psychologischer Untersuchung). — Dies steht nicht in Widerspruch zu den diversen Formulierungsversuchen des kategorischen Imperativs (als positiv durch Kant gesetzte Formeln). Wer allerdings, sozusagen .sprachpositivistisch', die verbale Formel für das Moralprinzip selbst nimmt, dem muß nicht nur diese Unterscheidung unverständlich bleiben, er wird auch auf Probleme der Normenlogik im weitesten Sinn abgelenkt; Beispiele sind vor allem im Umkreis des Neukantianismus und der analytischen

5. l Die potentielle Einzigartigkeit jedes Menschen

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folgendes gesagt werden: Diese Persönlichkeit ist kein möglicher Gegenstand empirischer Erkenntnis. Sie repräsentiert die moralisch-religiöse ,Substanz', das ,Wesentliche', des einzelnen Menschen. Von ihrer E i n z i g a r t i g k e i t ist vor allem deshalb sinnvoll zu sprechen, weil k e i n Mensch f ü r einen a n d e r e n , an dessen Stelle, Moralität realisieren kann: Jeder Mensch kann nur das Seine leisten;24 und dazu ist er moralisch verpflichtet. Was er nicht verwirklicht (an Gutem wie an Bösem), das bleibt — sozusagen ,in Ewigkeit' — ungetan.23 Philosophie bis hin zu R. M. Hare zu finden. Die grundsätzliche Feme zur Kantischen Fragestellung zeigt sich auch darin, daß diese sich als besonders .zeitgemäß-wissenschaftlich' gebende Betrachtungsweise offenbar schon die objektive' Gültigkeit der synthetisch-apriorischen Verstandesprinzipien (Kategorien) nicht im Sinne Kants - dem z.B. die ,Realität der Außenwelt' kein Problem sondern, begründet durch die recht verstandene Objektivität der genannten Prinzipien, selbstverständlich war - verstehen kann und daher ,objektiv' hier eher nach Art z.B. Descartes' auffaßt [Beispiele sind - wie vorher - von Vaihinger bis Strawson zu nennen]. Wenn z.B. Joh. Chr. Friedrich v. Schiller (Über Anmut und Würde S. 276; vgl. auch Anm. 29/Kap. 5) fragt: „War es wohl bei dieser imperativen Form zu vermeiden, daß eine Vorschrift, die sich der Mensch als Vemunftwesen selbst gibt ... nicht den Schein eines fremden und positiven Gesetzes annahm" und fortsetzt: „ — einen Schein, der ... schwerlich vermindert werden dürfte!", so zeigt dies die Kenntnisnahme lediglich der Oberfläche — im Kontrast dazu mag erwogen werden, wieweit viele über Kant Schreibende sogar von dieser, immerhin .kantischen', Oberfläche entfernt sind — der von Kant gebotenen .Substanz' an: Denn dieser .Schein' entsteht auf der Ebene sprachlicher Äußerungen, der Darstellung. Er ist in den .inneren Räumen' der kritischen Philosophie, die erst .menschlichem Wohnen' dienen, nicht mehr vorhanden. Wenn Hegel den historisch-realen .moralischen' Terror (Aspekte der Französischen Revolution) auf die Kantische Philosophie bezieht, so teilt er offenbar die zitierte Meinung Schillers; darüber hinaus verlegt er damit - wie die Philosophiegeschichte zeigt: überaus erfolgreich - den Weg in diese wohnlichen Sphären [Bruno Liebrucks versucht sie gerade über Hegel (hinaus) zu gewinnen] und bereitet zugleich - die historische Realität bezeugt es - neue Wege totalitären Terrors. 24 Dies ist keine .Leerformel' oder leere Worthülse, die etwa .wertend' einen nicht vorhandenen (theoretisch-rationalen) Inhalt vortäuschen soll: Es geht hier ausschließlich unpraktisch-rationalen .Gehalt'; der größte Teil der vorliegenden Schrift ist gerade daraufhin ausgerichtet, das immer mögliche (und tatsächlich weit verbreitete) MißVerständnis .praktischer Vernunft' als .theoretischen Vemunftgebrauch' aufzulösen. 25 Wer den Ausdruck ^einzigartige Persönlichkeit' als .Individualität' nach dem Modell psychologischer Buntheit und Besonderheit denkt (wobei, genau genommen, auch psychologische Betrachtung nur klassifizierend auffassen kann), der wird bei Kant das Gegenteil des eben Angedeuteten finden: die Tendenz des Aufgehens der einzelnen Person in eine abstrakte Gleichförmigkeit und Ununterscheidbarkeit. — Macht man sich aber einmal klar, daß moralische Läuterung gerade das .Abarbeiten' empirischer Besonderheit bedeutet, so verschwindet das psychologische Denkmodell für die moralische Persönlichkeit — und damit auch die ihm entsprechende, abstoßende

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5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

Die Frage nach dem adäquaten Verständnis moralischer Allgemeingültigkeit (im Sinne dieser Schrift) ist so wesentlich für , menschliches Denken' (Humanität), daß ich das grundsätzliche Kriterium der Unterscheidung theoretischer und praktischer synthetischer Prinzipien a priori nochmals, in anderer Weise, anzudeuten versuche. Dazu nehme ich als Ausgang Bezug auf jene Stelle dieser Schrift, wo theoretische von praktischer Erkenntnis unterschieden wurde. Da zeigte sich, daß die letzte Differenz nicht in der Formulierung zu finden ist, daß theoretische Erkenntnis Etwas — d.h. positives', ,Gegebenes', »Vorhandenes' — erkennt, praktische Vernunft aber Etwas ,realisiert' (,verwirklicht'), denn in gewisser Weise ist auch theoretisches Erkennen ein Verwirklichen, vor allem aber ist die ihm zugeordnete Technik (das /Technisch-Praktische') ein ,Wirklich-Machen'. Als letzter Unterschied beider Erkenntnis-Arten erwies sich der Begriff des einzelnen Menschen: die prinzipiell unvertauschbare Person des , k o n k r e t e n ' , ,lebendigen' M e n s c h e n (als , S u b j e k t ' ) praktischer Erkenntnis bzw. der prinzipiell austauschbare, , a b s t r a k t e ' (vom ,vollen', ,konkreten' Menschen abstrahierte, »abgezogene') — hegelisch gesprochen: ,tote' — ,Mensch' (wesentlich ,Obj e k t') theoretischer Erkenntnis.26 Kontrastanschauung einer gleichförmigen Masse ehemaliger' psychologischer Persönlichkeiten —; kantischer Art zu philosophieren steht hiefür überhaupt kein positives Denkmodell zur Verfügung, wohl aber gibt die oben genannte negative Bestimmung, daß kein Mensch einem anderen die geringste moralische Anstrengung abnehmen kann, sinnendem Denken die Richtung [zum Ausdruck , sinnendes Denken' vgl. z.B. Martin Heidegger, Gelassenheit]. Das moralisch-geistige Wesen als Subjekt der praktischen Vernunft kann im Rahmen theoretischer Vernunft deshalb nicht positiv gefaßt werden, weil alles für theoretische Vernunft Positive - sofern es ,befugter' (Erkenntm's-)Gegenstand ist - empirisch-zeitlich ist. — Daher auch die Schwierigkeit, von diesen ,Subjekten' in der Mehrzahl zu reden, da die Mehrzahl von gleich Strukturiertem nur im empirischen Rahmen (.sinnliche Form der Anschauung') möglich ist [vgl. z.B. A>FA263f/B 319f: „1. Einerleiheit und Verschiedenheit. ..."]. Dennoch spricht Kant selbst z.B. von einem ,Reich der Zwecke' (vgl. z.B. GMS IV/433f). — Die Erklärung liegt darin, daß von ,Subjekten' auf objekthafte Art gesprochen wird und daß begriffliche Sprache auch gar nicht anders kann. — Die Frage der Mehrzahl moralischer Wesen zeigt also keinen Widerspruch im Rahmen Kantischer Philosophie auf, sondern ein Problem sprachlicher Ausdrucksweise. 26 Der tierische Organismus als datenverarbeitende Maschine: Das scheint der , harte Kern' des zeitgenössisch wirksamen Menschenbildes (wissenschaftlich-)rationaler Art zu sein; deren ,andere Seite' - irrational und realitätsfremd - äußert sich z.B. in der Überzeugung, eine bestimmte Menge Kapital (am besten ,der Rüstung' entzogen) in Nahrungsmittel umgesetzt, könne die Überlebensprobleme der hungernden Teile der Weltbevölkerung lösen, und übersieht dabei, daß dieses Rezept nur das Sprichwort-

5. l Die potentielle Einzigartigkeit jedes Menschen

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Es geht also bei der Frage nach der moralischen Allgemeingültigkeit — und zwar relativ auf die potentielle Einzigartigkeit jedes Menschen — um die Fähigkeit einer angemessenen Unterscheidung von ,Abstraktem' und,Konkretem'.27 liehe ,01 ins Feuer' bedeutet. — Dieses weit verbreitete Elend (mit öffentlichen und mit privaten Konsequenzen) der hoffnungslosen Dichotomic einer so verstandenen Rationalität und der ihr .alternativen' Irrationalität bewältigen, bedeutet Hoffnung bzw. einen qualitativen (Fort-)Schritt am Weg in eine - global und geistig gemeinte bessere Zukunft. — Die Menschheit - auch in der extensionalen Bedeutung als .Population' - fördern, bedeutet wesentlich auch Mithilfe an der Überwindung dieses bewußtlosen ,Entweder-Oder'. Die Kantische Philosophie - wie sie in dieser Schrift skizziert wird - ist keine Lehre (Ideologie), sie zeigt die Richtung: Wie eine .bewußte' Haltung der .Humanität' zu gewinnen sei, die immer ,Geistes-Gegenwärtigkeit' bedeutet, bzw. die konstituiert ist durch das, was als .Sprach-Gegenstand' .kategorischer Imperativ' heißt [Diese Gedanken berühren sich mit z.B. jenen von C.F.v. Weizsäcker; ich habe in Kap. 2 einige diesbezügliche Zitate gebracht]. Gerade jene Kritik an Kant, seine Philosophie spreche vom Menschen schlechthin, sei aber - historisch-sozial betrachtet - sehr stark begrenzt auf eine gewisse .europäische' (manche meinen gar nur: .preußische') Lebensform, könnte als Hinweis der Frage dienen: Ob die Förderung von Humanität in ihrer hohen Bedeutung nicht gerade dort (moralische) Pflicht ist, wo man - aus Traditionen der Ökonomie, Bildung (die immer ein Prozeß, nie toter Ballast ist) heraus - prinzipiell dazu in der Lage ist. Diese Förderung geschieht aber zentral in der Verwirklichung der (moralischen) Freiheit jedes Einzelnen durch ihn selbst [Daß diese Realisierung der Freiheit jedes Einzelnen als moralische Pflicht nicht zu einem .moralischen Recht1 pervertieren darf, müßte klar sein]. — Die erwähnte Kritik an Kant bietet so den Hinweis darauf, daß Menschenfuhrung dort, wo Kants Philosophie ihren Platz hat, primär , Erziehung zur Freiheit' bedeutet; d.i. Förderung der Selbst-Erkenntnis des .konkreten' Menschen, die aber - im Gegensatz zur verbreiteten psychologischen Ver-Führung - aus den Verstrikkungen des eigenen Ego hinaus und nicht noch tiefer in sie hinein führt, bzw. Förderung der stetigen (moralischen) Läuterung aus eigener Kraft (d.i. .aus dem Ursprung') und damit eines ,bewußten', vollen, menschen-würdigen Menschen-Lebens. — Damit ist der Hinweis verbunden, daß gerade dort, wo moralische Unbedingtheit leidenschaftlich gesucht wird, vor allem dann Verführung geschieht, wenn diese Leidenschaften dazu benützt werden, Menschen durch Aktionismus und Verstrickung in äußere Dynamik sich selbst immer mehr zu entfremden und sie - allen .großen Worten' zum Trotz - als strukturell-bewußtloses Material zu demütigen. 27 .Konkret' verhält sich zu .abstrakt' nicht wie das Einzelne zum Allgemeinen; denn sowohl .Einzelnes' als auch .Allgemeines' sind als abstrakte, fixierte Momente einer lebendigen konkreten Ganzheit aufzufassen. Diese konkrete Totalität (zu .Totalität' vgl. Kap. 3.4 und 3.5) steht im gegebenen Zusammenhang für die jeweilige reale, unersetzbare, moralische Person, als deren - in .reflexionsphilosophischem' (Hegel) Rahmen notwendigerweise abstrakte - Momente das .allgemeingültige Moralgesetz' und die auf den Einzelfall bezogene .Maxime' bestimmbar sind. — Ich habe schon an früherer Stelle darauf verwiesen, daß die von Hegel an Kant vermißte .Synthese' beider Momente (eben diese .lebendige, konkrete Totalität') nach Kant nicht im

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5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

In diesem Zusammenhang sind zwei Bemerkungen zu machen: (1) Der Gedanke: , s c h ö n e Seele' 2 8 mag hier attraktiv erscheinen, er hilft jedoch nicht weiter. Denn menschlich-moralische Ebene ist durch die prinzipiell nicht auszuschließende Möglichkeit das Moralgesetz zu verfehlen, daher durch , I m p e r a t i v ' bzw. , A c h t u n g vordem G e s e t z ' , bestimmt. S o f e r n nun ,schöne Seele' h ö h e r e s moralisches Niveau bedeuten sollte,29 handelt es sich letztlich um »verblasenen Idealismus' Denken zu leisten ist, sondern in der Fülle des Lebens selbst, in der .Denken' nur einen - wenn auch bedeutenden - Aspekt repräsentiert. 28 Vgl. dazu Joh. Chr. Friedrich v. Schiller (Über Anmut und Würde S. 277f): „Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen derselben im Widerspruch zu stehen ... Die schöne Seele hat kein andres Verdienst, als daß sie ist. Mit einer Leichtigkeit, als wenn bloß der Instinkt aus ihr handelte, übt sie der Menschheit peinlichste Pflichten aus, und das heldenmütigste Opfer, das sie dem Naturtriebe abgewinnt, fällt wie eine freiwillige Wirkung eben dieses Triebes in die Augen." Vgl. auch Joh. Wolfgang v. Goethes Bekenntnisse einer schönen Seele [d.i. Buch VI von Wilhelm Meisters Lehrjahre; in: Goethes Werke, hrsg. von Karl Heinemann, Bibliographisches Institut Leipzig/Wien, o.J., Bd. 9, S. 391-459]. Diese in der ersten Person geschriebenen „Bekenntnisse" einer Frau von - auch soziologisch gesehen - „edlem" Stande, die unter anderem eine „hermhutische Schwester" (S. 435) geworden war, enden so: „Ich erinnere mich kaum eines Gebotes; nichts erscheint mir in Gestalt eines Gesetzes: es ist ein Trieb, der mich leitet und mich immer recht führet; ich folge mit Freiheit meinen Gesinnungen und weiß so wenig von Einschränkung als von Reue... niemals werde ich in Gefahr kommen, auf mein eignes Können und Vermögen stolz zu werden, da ich so deutlich erkannt habe, welch Ungeheuer in jedem menschlichen Busen, wenn eine höhere Kraft uns nicht bewahrt, sich erzeugen und ernähren könne" (S. 459). — Der „Oheim" [„ein Stiefbruder meines Vaters" (S. 419)] dieser ,schönen Seele' jedoch, der als überaus selbständiger, kunstsinniger und edler Mensch vorgestellt wird, hält die Kinder ihrer Schwester, deren Erziehung er lenkt, von ihr fern: „Ich ertrage es mit Geduld, daß der Oheim sie von mir entfernt hält, und sehe sie ... selten. ... | Aber das, was ich nicht ... billigen kann, ist, daß sie alles von den Kindern zu entfernen suchen, was sie zu dem Umgange mit sich selbst und mit dem unsichtbaren, einzigen treuen Freunde führen könne. Ja, es verdrießt mich oft von dem Oheim, daß er mich deshalb für die Kinder für gefährlich hält" (S. 457f). — Ein möglicher Grund dafür ist auch im Rahmen der Kantischen Philosophie formulierbar. Zum Ausdruck ,Schöne Seele' bei Kant vgl. KU V/300; auch Rudolf Eisler, KantLexikon. — Zur Reaktion Kants auf Schiller vgl. RGV VI/23f (Anm.). 29 Vgl. z.B. Joh. Chr. Friedrich v. Schiller (Über Anmut und Würde S. 276): „Womit aber hatten es die Kinder des Hauses verschuldet, daß er nur für die Knechte sorgte? ... Mußte schon durch die imperative Form des Moralgesetzes die Menschheit angeklagt und erniedrigt werden und das erhabenste Dokument ihrer Größe zugleich die Urkunde ihrer Gebrechlichkeit sein?" (vgl. auch Anm. 23 und 28/Kap. 5).

5. l Die potentielle Einzigartigkeit jedes Menschen

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(Adorno, Liebrucks). Meint,schöne Seele' aber die ästhetische Dimension, so ist auch dies nicht zielfuhrend. Denn entweder würde die ästhetische Sphäre als der moralischen überlegen gedacht [Schönheit ist für Kant aber sinnlicher Schein des (moralischen) Übersinnlichen] oder man wäre vom Besonderen' — und doch apriorischen — ,ästhetischen Urteil' fasziniert [moralische Realität aber hat u.a. gegenüber der bloß subjektiv-,reflektierenden' Urteilskraft objektiv-,bestimmende' Struktur].30 30

Vgl. dazu folgendes vereinfachtes (im Vergleich zu Kap. 2.1.2.1 jedoch erweitertes) Schema, in dem Momente aller drei Kritiken zusammengefaßt sind: M O R A L I S C H E H A N D L U N G

Form Moralische M a x i m e Fonn 1) Materie MoraJgesttz (.Pflicht1)

Materie Empirische H a n d l u n g

Neigungen

ÄSTHETISCHER GEGENSTAND Form Ästhetische 2 > Urteilskraft

TELEOLOGISCHER GEGENSTAND (.Organismus1) Materie Form 3 ) Teledogiscbe Urteilskraft

Materie

l l

E M P I R I S C H E R G E G E N S T A N D Form

E

4)

• kalegoriale • [(regulative) Wmu/ifl-Elabeit)

Materie sinnlich Faßbare« (.Mannigfaltiges·)

') Der unversöhnliche Gegensatz zu .Pflicht' ist .Neigung' [(.analytische') Form (der Maxime) der Selbstliebe], .Neigungen* sind notwendiger materieller Aspekt (auch) der .moralischen Maxime' [.synthetisch-apriorische Form(-Einheit)' praktischer Vernunft]; vgl. Kap. 3.5.1, auch Kap. 5.2.1.2. 2 ) Vgl. die Übersicht .Ding an sich-Erscheinung* (im Text nach Fuflnotenreferenz 3/Kap. 3): das Schöne als Symbol des Sittlichen. — Ästhetische Urteilskraft kann nicht zur Struktur praktischer Vernunft gezahlt werden. 3 ) Teleologische Urteilskraft kann zur Struktur theoretischer Vernunft gezahlt werden [vgl. z.B. KU V/194; auch KU V/168, 179]. 4 ) Vgl. die graphische Darstellung [Abb. 1] in Kap. 3.1. 5 ) Zu den Unterschieden hinsichtlich des .Bereichs* der , bestimmenden Urteilskraft* theoretischer bzw. praktischer Vernunft vgl. Kap. 3.5.1 und Kap. 3.6.1.

[Abb. 4]

Dieses Schema zeigt anschaulich die - auf seinen Begriffszusammenhang relative Konsequenz Kants, jede ,schöne' Überhöhung der als ,kalt' mißverstandenen moralischen Pflicht eindeutig zurückzuweisen bzw. sie als hybriden Hochmut (vor allem ,feuriger' Charaktere), der sich der moralischen Stufe der Achtung vor dem Gesetz enthoben dünkt und der - wie das Sprichwort sagt - vor dem Fall kommt (man

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5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

Führt ,schöne Seele' weiter zum Gedanken vom ,Leben als Kunstwerk', so zeigt sich die für Menschen-Würde (Humanität) gefahrliche Potenz dieses Begriffs besonders offensichtlich: Der — m o r a l i s c h e r Anstrengung entgegengesetzte — Egozentrismus ist die zu erwartende Folge;31 denkt man nämlich jetzt noch an ,romantische Ironie', deren Extrem die »Erkenntnis' enthält, daß Kunstwerke durch ihre willentliche Zerstörung von der ihnen notwendig anhängenden empirischen Begrenzung ,befreit' werden können, wodurch dem ,Künstler' die Möglichkeit zur Schöpfung des ,absoluten Kunstwerks' eröffnet scheint: so mag ein solcherart »totales Leben' im Selbstmord (vgl.: ,Frei-Tod') enden.32 (2) Philosophische Rede, als ,Objekt' bzw. , außen' betrachtet, ist notwendig abstrakt. Auch wenn sie sich im Sinne dieser Schrift selbst als systematischen Begriffszusammenhang (bzw. als dessen Entwurf) versteht, der ,Konkretes' meint.33 denke an ,Lucifer'), zu erkennen. — So bleibt ,Schönheit' für Kant die Repräsentation [bzw. der ,(Durch-)5c/je/w'] der Sittlichkeit im Sinnlichen. Wer nur das Sinnliche als Realität setzt, der empfindet die , dünne Luft' der moralischen Sphäre als impotente, bleiche Abstraktion; wer dagegen das „einzige Factum der reinen Vernunft" (ÄjpFV/31), also die Realität der moralischen Sphäre, kennt (und bei Kant wiedererkennt), der würdigt ihre konkrete Kraft und Durchsichtigkeit, die (praktische) Einsicht gibt in die Gesetzmäßigkeit der ,geistigen Welt'. — Hier ist übrigens wieder ein wesentlicher Berührungspunkt von Kant und Spinoza gegeben: Nur indem und insofern sich der einzelne Mensch von der „Knechtschaft ... der Affekte" (Ethik Teil IV) befreit, sich ,läutert', gelangt er zu der ihm eigenen Freiheit, die sich in der Einsicht in die „ewige", notwendige Gesetzmäßigkeit der göttlichen Natur zeigt (Spinozas „amor dei intellectualis"). 31 Wenn auch nicht notwendig empirisch-reale Folge. — Die von marxistischer Seite manchmal betonte Verknüpfung von .Ästhetik' und ,Faschismus' scheint mir hier ihren Ort zu haben; -wenn man unter .Faschismus' nicht einen sozio-politisch zu bekämpfenden Feind sondern .gewalttätige Gesinnung', gleich wo sie auftritt (auch im eigenen Herzen), versteht. — ^Gewalttätiger Idealismus1 (vgl. Kap. 2) ist eben nicht Merkmal dieser oder jener Mora/-Ideologie, sondern Merkmal jeder Ideologie als Ideologie. 32 Ob etwa Kleist (unabhängig von .äußeren' biographischen .Daten') hier ganz zu Unrecht genannt würde? — Tiefenpsychologisch gesehen geht es bekanntlich bei ,Mord' immer um Aggression: Die Frage ist .nur' ihre Richtung; nach innen (,Selbst-Mord') oder nach außen (,Mord'). Der Boden jeder Aggression ist egozentrische Verhärtung. 33 hi einer auf die Ebene analytischer Philosophie bezogenen und deshalb etwas entfernten Analogie könnte man sagen, die Einheit von Syntax, Semantik und Pragmatik entspreche dem .Konkreten', Syntax und Semantik (bzw. Syntax allein) dem .Abstrakten'. — In diesem Zusammenhang ist auch verständlich, warum man einen Autor .besser verstehen kann' als er sich selbst (was auch die Meinung Kants war), bzw. daß die empirisch-realen Bedingungen als Möglichkeiten und Grenzen eines histo-

5.1 Die potentielle Einzigartigkeit jedes Menschen

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5.1.1 Zur Unterscheidung von ,konkreter' und ,abstrakter' Metaphysik (,Toleranz' und »Anteilnahme') Dies führt in Probleme, die daraus entstehen, daß praktische Erkenntnis' losgelöst (d.i. ver-absolutiert, ,abstrahiert') von der existentiellen Situation des jeweiligen konkreten Menschen nicht denkbar ist. Wer immer versucht, diese persönlichsten (aber gerade n i c h t ,privaten'33*) Erfahrungen geistig-moralischer Art zu , e r z ä h l e n ' , und zwar in einer, von der konkreten Person notwendig abstrahierenden, Sprache der logisch strukturierten Begriffszusammenhänge (z.B. die praktische Philosophie Kants), dem werden abstrakt-allgemeingültig scheinende Formulierungen unumgänglich, obwohl sie in adäquater Weise nur ,konkret' — aber eben nicht als ,subjektiv-privat', nur für jeweils bestimmte Individuen gültig, sondern, im Kontrast dazu, aber mißverständlich formuliert, als , f ü r a l l e ' gültig — zu verstehen sind.34 Kant zum Beispiel kennzeichnet , k o n k r e t ' Gemeintes durch das Wort ,(moralisch-)praktisch'. Wer nun Kants theoretische Philosophie nur abstrakt aufgefaßt, d.h. eben n i c h t als a b s t r a k t verstanden hat und nun die ,praktische Philosophie' Kants als weiteres Studien-Objekt zur Hand nimmt, der muß glauben, daß jene Auffassung zu Recht besteht, die konsequenterweise d a n n überzeugt, wenn man Kants praktische Philorisch-realen Menschen kaum identisch sein können mit dem, was logisch-analytisch in den Texten des jeweiligen Autors (wieder .pragmatisch') faßbar vorliegt. 33a Auch in Kants Terminologie ist apriorische Subjektivität in allen ihren Formen ,Innerliches' und grundsätzlich nichts Un-Wesentliches, Privat-Besonderes. 34 Karl Jaspers verstand seine eigene philosophische Sprache als an den Leser (Hörer) ,appellierend': Das ist sein - oft unverstandener - Lösungsversuch des genannten Problems. Indem er sich dem anderen konkreten Menschen .appellierend' zuwendet, läßt er ihn frei vom logischen Zwang einer theoretisch-wissenschaftlich-abstrakten Mitteilung über ihn (die .einteilend' wäre) — und teilt doch potentiell gerade dadurch mit diesem Menschen die geistig-moralisch-religiöse Sphäre, deren persönliche (.dynamische', .verwirklichende') Erfahrung Jaspers im Medium der Sprache auszudrükken versucht und damit jenen, die seine Mit-Menschen sein wollen (Freiheit!), hinsichtlich ihrer - nur durch sie selbst möglichen - Erfahrungen (.Realisierungen') hilft; — ,existentielle Kommunikation': einzelne .Flammen' vereinigen sich und wachsen zusammen; im .ewigen mV (Meister Eckhart), das keinen Platz in der Zeit hat. Hierher gehört beispielsweise auch, daß in den Geschichten der chassidischen Rabbinen diese, nachdem sie .geklärt' haben, dem Fragesteller ein Gleichnis zu erzählen und nicht .technisch-praktische' Handlungsanweisungen zu geben pflegen [Man denke hier auch, ein anderes Beispiel, an die .Evangelien' des .Neuen Testaments'].

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5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

sophie - gleich wie dessen Philosophie theoretischer Vernunft - aus der Haltung theoretischer Vernunft heraus betrachtet:35 Das Mißverständnis nämlich, Kant habe die - aus der theoretischen Philosophie entfernte Metaphysik in seiner , praktischen Philosophie' w i e d e r h e r g e s t e l l t . 3 6 An der philosophischen Möglichkeit menschlichen Denkens ausgerichtet habe ich in der vorliegenden Schrift zu zeigen versucht, daß die ,Metap h y s i k der p r a k t i s c h e n V e r n u n f t ' eine andere, , k o n k r e t e ' , ist als die abgelehnte theoretische, »abstrakte'. Ich glaube,37 daß diese ,neue', ,konkrete Metaphysik' ein ständiger Aspekt der Großen Tradition der Philosophie ist; daß also ,philosophia perennis' in diesem Sinne zwar immer wieder ,neu' formuliert werden muß, daß ihre (innere) , Konkretheit' jedoch niemals veraltern kann.38 35

Genauer: Aus der Haltung des Verstandes heraus. Vgl. z.B. die Rede vom Janus-köpfigen' Kant, der zugleich in die Zukunft [theoretische Vernunft: Wissenschaft(stheorie)] und in die Vergangenheit [praktische Vernunft: (überholte) Metaphysik] blickt (Ernst Topitsch). — Das 1975 erschienene Buch von Ernst Topitsch: Die Voraussetzungen der Transzendentalphilosophie kann als ein Beispiel jener empiristischen Haltung dienen, deren fundamentale Inadäquatheit - bezogen auf Philosophien wie z.B. die von Kant; wahrscheinlich aber adäquat in bezug auf vieles, das Philosophie-Historiker gewöhnlich als ,Kants Lehre' darstellen an verschiedensten Stellen dieser Schrift aufgezeigt wurde; und zwar unter gleichzeitiger Würdigung ihrer (möglichen) Konsequenz und unter gleichzeitigem Aufweis der (ontologisch-dogmatischen) Voraus-Setzungen dieser Konsequenz. — Wobei diese Voraus-Setzungen im Rahmen empiristischer Philosophie (d.i. ,explizit') empiristisch-folgerichtig nicht gemacht werden (sollten), die genannte Konsequenz jedoch nur mit diesen - im Rahmen empiristischer Philosophie (als metaphysisch') nicht möglichen Voraussetzungen denkbar ist. — Ein Beispiel für die - relativ auf die vorliegende Schrift gesehen - grundsätzliche (.weltanschauungsanalytische') Fehl-,Beleuchtung' Kants: Man vergleiche Kap. 3 dieser Schrift [Aufweis der systematisch-differenzierten Einheit des Begriffs des Dinges an sich] mit Topitsch [Voraussetzungen, S. 159 (vgl. z.B. auch S. 73)]: „Aus alledem geht auch hervor, daß Kant etwas wie eine einheitliche Lehre vom Ding an sich gar nicht entwickeln konnte". 37 In Übereinstimmung z.B. mit dem späten Schelling (auch mit Kant; vgl. z.B. MSI R, Vorrede, VI/207), der meint, die Unterscheidung von positiver (,konkreter') und negativer (.abstrakter') Philosophie habe zwar erst er explizit getroffen, beide Linien seien aber - vordergrundig zwar ungeschieden (zumindest hinsichtlich Kants bin ich hier anderer Meinung) - in der philosophischen Tradition wirksam gewesen. 38 Meine Hinweise auf Descartes und Spinoza - abgesehen von allen sonstigen Verschiedenheiten - sind in diesem Kontext zu sehen. Anders gesagt: Die so total wirkende Kritik jeder ,vorkantischen' Metaphysik durch Kant trifft nur Metaphysik in theoretischem Sinn, und auch diese nur, wenn sie nicht - z.B. in der Art Hegels dialektisch ist [eine grundsätzliche Kritik auch dieser Art von Metaphysik scheint mir vom Boden .konkreter Metaphysik' aus möglich; der späte Schelling hat dies andeutungsweise, aber leider polemisch, getan]. 36

5. l Die potentielle Einzigartigkeit jedes Menschen

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Ein Beispiel für den Unterschied von ,abstrakter' und ,konkreter' Metaphysik:39 Wenn im Rahmen theoretischer Vernunft gesagt wird, daß die synthetisch-apriorische Form der sinnlichen Anschauung (Zeit) f ü r a l l e O b j e k t e 4 0 möglicher Erkenntnis gilt, d.h. daß jedes empirisch-reale Objekt notwendig zeitliche Struktur aufweist, so gibt dies kein Problem im Rahmen Kantischer Terminologie.41 Wenn aber im Kontext p r a k t i s c h e r Vernunft analog Klingendes gesagt wird, beispielsweise: daß die synthetisch-apriorische Form des kategorischen Imperativs , f ü r alle M e n s c h e n ' (als Subjekte praktischer Vernunft) gilt — d.h. daß j e d e r M e n s c h , als geistig-moralisches Wesen betrachtet,42 v e r p f l i c h t e t ist, seinen persönlichen Läuterungsweg zu gehen —, da kommt es dann vor, daß sich der einzelne Hörer bzw. Leser wehrt: er fühlt sich ,eingeteilt', er findet es hybrid und ,verblasen', ja größenwahnsinnig, daß jemand die Stirn hat, letztlich ,höheres Wissen' zu beanspruchen und damit andere Menschen - zumindest potentiell - unter Druck zu setzen;43 m i t R e c h t : dann nämlich, w e n n solche Äußerungen den Charakter ,abstrakter' Metaphysik haben. 39

Auf der bloßen Sprachebene scheint solcher Unterschied nur aufzeigbar, wenn strenge Terminologie .abstrakter' Metaphysik vorbehalten bleibt, die Sprache ,konkreter Metaphysik' dazu kontrastierend z.B. weithin als .poetisch' (wie z.B. gewisse Schriften Martin Bubers) oder auch als .undeutlich-schwimmend' (wie z.B. Schriften von Karl Jaspers, dessen .Schweben' z.B. präzis im .konkreten' Sinn ist) empfunden wird. Kant dagegen pflegt in seiner gesamten Philosophie die gleich strenge Terminologie. Dies mag z.B. hinsichtlich des möglichen Vorwurfs des Irrationalismus vorteilhaft sein, da jedoch niemals alle Fehldeutungen vermeidbar sind, so hat sich Kant die ihm entsprechenden Mißverständnisse zugezogen. Ich habe schon öfter darauf verwiesen: Die Tatsache, daß diese Mißverständnisse zentralster Punkte Kants (z.B. .Ding an sich', .kategorischer Imperativ') von Deutschen Idealisten (vor allem Hegel; auch Schelling), (.naturalistischen') Marxisten (daher z.B. nicht Max Adler), Neukantianern, Positivisten (von der Theo- und Anthroposophie bis zum Sinnesdaten-Empirismus) und der analytischen Philosophie partiell geteilt werden, macht diese Fehlsicht nicht wahrer; die Begründung für diese überwältigend anmutende Phalanx liegt in der allen gemeinsamen Betrachtung der Kantischen (praktischen) Philosophie mit, theoretischen' Augen. 40 Einschließlich der - möglicherweise oder tatsächlich - empirisch-real existierenden Menschen. 41 Und auch außerhalb der Kantischen Philosophie wird weniger die zeitliche Qualifizierung in Frage gestellt als ihre apriorische Dignität. 42 Analog zum empirischen Objekt; unabhängig davon also, ob jemand seine moralische Pflicht annimmt bzw. ob er sich seiner selbst als eines solchen geistig-moralischen Wesens bewußt ist oder nicht. 43 Die Gemeingefährlichkeit der in abstrakter Weise ,anständigen' Menschen bzw. .Idealisten' kommt im politischen Sinn des Wortes .Säuberung' beispielhaft zum

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Diese emotionale Abwehr einer idealistischen' Zumutung steht aber nicht im Gegensatz zur kritischen Philosophie Kants. Diese stellt vielmehr in ihrem systematischen Gesamtentwurf unter anderem die begriffliche Abwehr eben dieser »idealistischen4 Ideologie dar. Denn im Rahmen theoretischer Vernunft gilt Kants Ergebnis, daß Metaphysik, als Wissenschaft (d.i. die genannte ,abstrakte Metaphysik', die nur »Objekte' meinen kann), nicht möglich ist; im Rahmen praktischer Vernunft aber steht die moralische Struktur der A u t o n o m i e gegen jeden (»heteronomen') Druck von außen (und damit auch gegen jede theoretische Metaphysik oder »historische L e h r e ' ) bzw. für die moralische Freiheit der jeweiligen (moralisch-religiösen) Person. » K o n k r e t e M e t a p h y s i k ' ist substantiell k e i n e ,Lehre', die als Lehre immer heteronom ist; sie repräsentiert die grundsätzlich p r o z e ß h a f t e E i n s i c h t des jeweiligen konkreten Menschen in die geistig-moralische Gesetzmäßigkeit, die dieser n i e m a l s » s t e l l v e r t r e t e n d ' (weder »für andere' noch »von anderen') haben kann. Der Unterschied zwischen abstrakter und konkreter Metaphysik ist zweifach darstellbar: (1) Abstrakte Metaphysik bedeutet immer eine Statik als (moralisch gesehen: heteronome) »Lehre', 4 4 konkrete Metaphysik aber die Dynamik45 des Gewinnens der , L e e r e ' — kantisch gesprochen: des »Platz Schaffens', des Verlassens der Sphäre der Gegen-Stände — und damit des Freiwerdens für die (»Ein-Sicht' in die) Gesetzmäßigkeit der geistigen (»intelligibelen') Welt,46 deren Grundstruktur moralisch ist. Ausdruck. — Vgl. z.B. G.W.F. Hegel (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Glockner-Jubiläumsausgabe Bd. 19, S. 553): „ ... und Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören. Der Fanatismus der Freiheit ... wurde fürchterlich." 44 Das Faktum der ,Lehre' bedeutet,Statik1; gleichgültig, ob die betreffende Lehre sich selbst als ,dynamisch' darstellt oder nicht. 45 Das ,Leer-Werden' ist Prozeß, gleichgültig, wie ,statisch' die betreffende Terminologie, die in ihrer Substanz ,Erzählung' dieses Prozesses ist, anmuten mag. 46 Wer die vorliegende Schrift nicht als bloße Anhäufung und Kombination von Information betrachtet sondern in ihr vor allem den philosophischen (d.i. in der Form methodisch-systematischen Begriffszusammenhanges) Bericht einer Bewußtseinsentwicklung sieht, und wer diesen Prozeß zumindest nach-denkt, der kann hier nicht wieder in das alte Mißverständnis der ,Zwei-Welten-Theorie' zurückfallen. Die Frage der ,konkreten Allgemeingültigkeit'' des kategorischen Imperativs ist so zugleich Prüfstein für das Verständnis der theoretischen Philosophie Kants: Wieweit nämlich der .theoretische Agnostizismus' als ,Leere von allen Gegenständen'' nachvollzogen oder ob die primär ,negative' Bedeutung der ,Transzendental-Philosophie' doch - wie das gewöhnlich geschieht - als ,positive Lehre' mißverstanden wurde [vgl. dazu vor allem Kap. 3.4 und 3.5 (auch 3.3)].

5. l Die potentielle Einzigartigkeit jedes Menschen

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(2) Unterscheidungskriterium ist die Bewährungsfrage der T o l e r a n z : (Konkret-)Praktische Erkenntnis der verpflichtenden moralischen Forderung betrifft , m i c h ' nicht als empirisch-privates Objekt (bzw. sogenanntes ,Subjekt') sondern als ({zumindest:}potentiell-)moralisches S u b j e k t , und insofern jedes m o r a l i s c h e Wesen. Die Sphäre des Subjektes ist die der (moralischen) Autonomie, der ,Ich-Du-Beziehung' (Martin Buber). Ich kann mich gar nicht an ein ,Gegenüber' wenden, das (moralisches) Subjekt wäre, denn jedes Gegenüber entspricht theoretischer Haltung, es wäre notwendigerweise ,0bjekt' bzw. - in Bubers Sprache ,Es'.47 Die genannte praktische Erkenntnis ist insofern A l l g e m e i n g ü l t i g ' , da gilt, daß jeder Mensch,48 der diese Erkenntnis hat, des unbedingten moralischen Imperativs gewiß ist.49 Die Bemerkung, dies sei tautologisch: „Wer Subjekt des Moralgesetzes ist, der ist Subjekt des Moralgesetzes", ist zwar richtig, aber kein möglicher Einwand. Denn theoretisch-abstrakte Sprache (und anders sind philosophische Begriffszusammenhänge nicht darstellbar) kann - logisch gesehen - nur (apriorisch-)analytische Sätze enthalten50, die nichts , Positives' aussagen, oder (aposteriorisch-)synthetische Sätze, die auf Empirisch-Positives Bezug haben. Nicht-tautologisch, also in der ,logischen Form' von empirisch-synthetischen Sätzen nicht unterscheidbar, kann obige praktische Erkenntnis beispielsweise so ausgedrückt werden: „Der kategorische Imperativ ist eine Realität". Dieser Satz würde empiristischer Sprachanalyse sofort als ,Scheinaussage' zum Opfer fallen, und zwar ganz in Übereinstimmung mit Kant bzw. mit der vorliegenden Schrift:51 w e n n er positives' aussagen 47

D.i. im .Grundwort Ich-Es'; vgl. Kap. 2 (nach Fußnotenreferenz 25). D.i. der .konkrete' Mensch als (potentielles) Subjekt des Moralgesetzes bzw. als nicht austauschbare, einzigartige Persönlichkeit; nichts anderes entspricht dem vorliegenden Kontext. 49 Aus dem bisher wiederholt Vorgebrachten müßte klar sein, daß diese Amoralische Gewißheit"" nicht mit der empirisch-privaten Willkür der Wahlfreiheit des Akzeptierens (oder auch Ablehnens) verwechselt werden darf. — Es ist hier der Unterschied von .Freiheit' im Sinne beispielsweise Descartes' und Kants einerseits, der analytischen Moralphilosophie andererseits, angesprochen. 50 Also Tautologien, wenn es wahre Sätze sind. 5 * So sorgt empiristische Sprachkritik verdienstvoll im empirischen Bereich für die hier nötige Abwehr von allem .Metaphysischen'. Vollkommen inadäquat und maßlos wird diese Sprachkritik allerdings dadurch, daß sie tiefsinnig scheinendes ,Bla-Bla' und tatsächliche Potenz .sinnenden Denkens' grundsätzlich nicht auseinanderhalten kann (weil sie ausschließlich theoretisch-abstrakter Verstandeshaltung verpflichtet ist) bzw. will und deshalb beide mit ungebremster Angriffslust unterschiedslos und überall zu destruieren sucht. Eine neuere Form — deren Wurzeln allerdings auch schon im 48

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wollte, d.h. wenn es ein Satz theoretisch-abstrakter Metaphysik w ä r e . Als Satz einer konkret-praktischen Metaphysik drückt er keine theoretische sondern p r a k t i s c h e E r k e n n t n i s aus. Damit ist allerdings wieder die /Tautologie' im Blickfeld, die ja den Vorteil hat, nicht einmal anscheinend etwas »Positives' zu meinen; doch sie ist »analytisch', der »kategorische Imperativ' gilt aber als s y n t h e t i s c h -praktisch-apriorisches Prinzip.52 Diese Schwierigkeit ist leicht behoben wenn man bedenkt, daß die analytisch-apriorische Tautologie »theoretischer', formallogischer Natur ist, das p r a k t i s c h e synthetisch-apriorische Moralprinzip aber nicht.53 Neukantianismus sichtbar sind: Man denke nur an die Versuche, Kants .Wissenschaftstheorie' aus seiner ,Metaphysik' herauszupräparieren und dem damals modernen Wissenschaftsstandard anzupassen — ist die der , rationalen Rekonstruktion' verschiedenster Philosopheme [Eine grundsätzliche Verdrehung liegt schon im Ansatz, wenn .Philosophien', die wesentlich keine ,Lehren' sind, selbstverständlich als solche aufgefaßt und dargestellt werden]. Der scheinbare Eindruck größtmöglicher Offenheit (empiristisch-natur-)wissenschaftlicher Philosophie entspricht nicht der permanenten Umdeutung gewichtiger (,konkret'-)metaphysischer Probleme in die Sprache der analytischen Philosophie. Der Einsatz modemer symbolischer Logik dient dabei primär dazu, die Reduktion und wesentliche Verfälschung tradierter Probleme der Metaphysik zu verschleiern. — Hilary Putnam hat in der von Richard Rorty geleiteten Sektion am Stuttgarter HegelKongreß 1981 beispielhaft vorgeführt, wie eine intelligent und witzig veranstaltete Begriffsverwirrung Metaphysik von moralisch-geistigem Gewicht in nihilistisches Licht tauchen und diese so - bei entgegengesetztem Anschein einer ,Rettung' für zeitgenössisches Bewußtsein - zum Verschwinden bringen kann. 52 Vgl. dazu die entsprechenden Erörterungen in früheren Teilen dieser Schrift. — Richard Kroner konstatiert übrigens bei Kant einen , analytischen Idealismus1. Der Zusammenhang scheint vordergründig anders geartet, doch es geht hierbei (Richard Kroner, Von Kant bis Hegel, Bd. 2, S. 213ff) um die Frage des Dualismus von „zwei Wahrheiten" (S. 213; theoretisch gesehen: einer begreifbaren und einer unbegreifbaren): „Die Kantischen .Grenzpfähle' gelten ihm [d.i. Schelling; G.R.] ebenso wie Fichte letzthin als unverrückbar" (S. 214). „Mit Hegel verglichen stehen daher Kant, Fichte und Schelling gemeinsam auf dem Boden des endlichen, des analytischen Idealismus" (S. 215). — Der Unterschied des Zusammenhanges besteht darin, daß die .theoretische Haltung' Hegels durch dessen spezifische Dialektik das .Positive' jener theoretischen Haltung, die den .Widerspruch' nicht in sich aufgenommen hat, permanent .abzuarbeiten' bemüht ist [Deshalb bedeutet die .Negation der Negation' nicht formallogische Identität mit der .zuerst' negierten Position: Prozeß-Charakter!]. — Ich habe schon an anderer Stelle die Vermutung geäußert, daß Hegels Dialektik deshalb notwendig war, weil .konkrete' Metaphysik, aber unter dem Primat der theoretischen Vernunft, angestrebt wurde; jetzt kann hinzugefügt werden: weil Vernunft - soll ihr das ,heteronome' Positive angehören (d.h. ,ftlr sie' Realität sein) - dieses .Positive' sich aneignen, .vermitteln' muß, indem sie es in den .Begriff' ,auflöst'. 53 Ich habe an einer früheren Stelle am Beispiel von L.W. Beck aufgezeigt, welche kapitalen Fehler aus dem Grundirrtum entstehen, das Moralgesetz als ,theoretisch' aufzufassen. Aber auch die Bezeichnung des .kategorischen Imperativs' als praktisch,

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Dem Unbehagen jedes theoretischen, formal-logisch-,linearen' Denkens, daß wir uns hier im Kreis drehen, ist damit aber nicht zu helfen.54 Es ist letzten Endes Ausdruck der einsichtigen Tatsache,55 daß die Realität praktischer Vernunft nicht aus theoretischem (bzw. durch theoretisches) Denken hergeleitet werden kann, sondern daß sie ihre Realität nur durch sich selbst beweist. Das aber bedeutet: Alle theoretisch-abstrakte R e d e ü b e r moralische Wirklichkeit bleibt notwendigerweise theoretisch-abstrakt (d.i. die früher genannte Tautologie). Der ,konkrete Mensch' jedoch ,erfährt' [d.i.: praktisches Erkenntnis'] diese Wirklichkeit, i n d e m er sie - in seinen Möglichkeiten und Grenzen - v e r w i r k l i c h t . Für ihn bzw. durch ihn kann die strukturell anonyme,56 theoretisch-abstrakte Sprache konkrete, moralisch-religiöse Realität ausdrücken.57 So fallt es mir doppelt schwer, theoretisch-abstrakt - hier schriftlich mir unbekannten (,anonymen') Menschen ,Konkretes' sagen zu wollen; die hier sichtbaren Ansätze, es dennoch zu tun, m ü s s e n theoretisch-abstrakter Betrachtungsweise absurd scheinen;58 es sei d e n n , diese theoretisch-abstrakte Haltung erkennt sich a l s theoretisch-abstrakt.59 — wie Beck dies tut, ändert nichts an dem grundsätzlichen theoretischen Mißverständnis auch dieses Imperativs als formal-logisch zu analysierende Formulierung [,Nonnenlogik' hat in der Sicht dieser Schrift mit .technisch-praktischen' Strukturen zu tun, die im Sinne Kants der theoretischen Vernunft zuzuzählen sind]. 54 Denn dieses .Rotieren des Verstandes' bedeutet seine - im vorliegenden Zusammenhang notwendige - Insuffizienz angesichts des .Primats der praktischen Vernunft' [Ganz analog dem Kontext der .Grenzpfähle' der - theoretischen - Erkenntnis, die in den ersten Teilen dieser Schrift .theoretisch' und dennoch weder .positiv' noch .dialektisch' sondern in tautologischer Weise sprachlich ausgedrückt wurden]. 55 Vgl. dazu Kap. 3.5 und Kap. 4. 56 .Strukturell-anonym' deshalb, weil im Gebiet theoretisch-abstrakter Vernunft kein Platz für (.endliches') Individuelles im Sinne prinzipieller Einzigartigkeit ist. — Antoine de Saint-Exupe"ry zeigt in den Kapiteln XX und XXI seines Buches Der kleine Prinz sehr anschaulich den Unterschied zwischen kostbarer Einzigartigkeit und austauschbarer Anonymität. 57 Auch hier ist die Vorstellung einer Ergänzung von Syntax und Semantik durch Pragmatik eine nur sehr entfernte Analogie, weil dabei innerhalb dieser .theoretischen' Vorstellung das Wesentliche zu kurz kommen muß; die Unterscheidung nämlich, um die es der ganzen vorliegenden Schrift geht: tfieonrtwcA-abstrakte und praktisch-konkrete Vernunft. 58 Zur möglichen Lächerlichkeit solcher philosophischer Bemühungen „für die, die auf dem festen Lande sicher sitzen und befriedigt sind", vgl. z.B. Karl Jaspers, Einfuhrung in die Philosophie (Ende von Kap. XI: Philosophische Lebensführung). Hinsichtlich der Frage .metaphysischer Vergegenständlichung' vgl. beispielsweise vom selben Autor Metaphysik (d.i. Philosophie Bd. 3), S. 6 f. 59 Dies ist der erste Schritt auf das Niveau der kritischen Philosophie Kants hin; vgl. frühere Teile dieser Schrift hinsichtlich der .inneren', .tautologischen' Grenze [n]

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Merkmal konkreter Metaphysik ist T o l e r a n z : Aus der konkreten praktischen Erkenntnis, daß jeder Mensch - als (potentiell) moralisch-religiöses Wesen betrachtet - zu seinem persönlichen Läuterungsweg moralisch verpflichtet ist, kann k e i n m o r a l i s c h e r D r u c k folgen.60 Wenn dies dennoch geschieht, so liegt ein Fehler61 vor, der aber nicht bloß (theoretischer) Erkenntnis: Die Realisierung dieser Grenzen — nicht in abstrakten Worten sondern in der sie gründenden Haltung [vgl. Bubers Formulierung vom , Aussprechen des Grundwortes' ,Ich-Du' bzw. ,Ich-Es'] — relativiert diese Haltung und macht frei für die Haltung (moralisch-religiöser) praktischer Vernunft. 60 Weder auf andere Menschen noch auf sich selbst. — (l) Moralischer Druck auf sich selbst wäre ein Zeichen für die Überschätzung der eigenen moralischen Kraft bzw. des eigenen moralischen Niveaus. Man möchte ,mehr leisten' als man kann; »weniger' ist offensichtlich nicht gut genug: Ein klarer Fall von .Selbstliebe' und insofern von Verstricktheit ins eigene ,Ego' anstelle der moralischen Autonomie. — Aber nicht jede moralische Forderung an sich selbst ist .moralischer Druck' im hier gemeinten Sinn, nur die - relativ zu den eigenen Möglichkeiten (die aber nicht .theoretisch', nur .praktisch' .gewußt' werden können) - .übersteigerte': Die soviel scharfsinnige .theoretische' Kritik auf sich konzentrierende Formel: .Sollen impliziert Können' zeigt hier ihre einfach zu verstehende, praktisch-konkrete Bedeutung. — (2) An andere Menschen (eigentlich: .gegen sie') gerichtet, ist allerdings jede sogenannte moralische Forderung gleich moralischem Druck; .sogenannt' deshalb, weil hier nur konkret1" Verbindliches als theoretisch-abstrakter Gültigkeitsanspruch auftritt. 61 Denn diese Forderung ist nicht mehr ,un-bedingt moralisch' sondern .bedingt moralistisch' [nämlich relativ auf die jeweiligen, empirisch-realen Wertvorstellungen (.Ideologie')]. Die Frage der Existenz pseudo-moralischen Drucks wird durch das Niveau der moralischen Entwicklung der involvierten Menschen entschieden: Einflußnahmen, die dem einen konkrete moralische Verpflichtung sind, sind dem ändern vielleicht moralistische Zumutung; oder: Einflußnahmen, die der eine aus moralisch-autonomen Gründen unterläßt, erscheinen dem ,im Stich Gelassenen' moralisch gefordert; oder: Was [Inhalt!] .gestern' moralische Verpflichtung ist und .heute' keine Verpflichtung, das kann .morgen' in gegenteiliger Weise moralische Verpflichtung sein. — Die Frage des jeweiligen moralischen Niveaus [.Standard' könnte .inhaltlich' mißverstanden werden] zeigt so die Bedeutung der rein .formalen' Bestimmung der Moralität und damit die inhaltliche - .theoretisch' gesprochen: grenzenlose Flexibilität des apriorischen kategorischen Imperativs. Da dieses Moralprinzip als .autonomes' moralisch und nicht .heteronom' bzw. .technisch-praktisch' ist, kann es auch nicht zur .Herstellung' bzw. .organisierten' Erhaltung irgendwelcher (Sozial-)Ordnungen dienen. Denn dafür ist u.a. - heteronome Kontrolle nötig: Die empiristische Erkenntnis des .Leerformel-Charakters' des kategorischen Imperativs besteht in gewissem Sinn zu Recht; nicht aber die damit verbundene Kritik: Denn nicht der formale Charakter des kategorischen Imperativs ist zu kritisieren, sondern dessen Verwechslung mit einem technisch-praktischen Prinzip. — Tritt diese Verkehrung ein - die die empiristische Philosophie nicht sichtbar machen kann, da sie nur .technisch-praktischen' Prinzipien analoge Regem kennt -, so ist die Gefahr .totaler Diktatur' [in der persönlich-privaten wie der politisch-gesellschaft-

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als intellektuell gegründet zu betrachten ist: Denn primär erscheint hier ein m o r a l i s c h e s D e f i z i t 6 2 des Fordernden. Dieser ist offensichtlich (noch) nicht ,so weit', andere Menschen m o r a l i s c h f r e i zu lassen [Ebendies ist aber die zentrale Bedeutung der Formulierung, man solle den anderen Menschen immer auch ,als Zweck (an sich)' achten]. Dieses ,moralische Defizit' kann aber - nun umgekehrt - kein Gegenstand moralischer Verurteilung sein. Denn jetzt gilt dasselbe: Die (potentielle) moralische Freiheit eines jeden Menschen ist von niemandem antastbar — nur von jedem selbst. Denn in der moralischen Sphäre gilt, daß seine eigene Freiheit verletzt, wer versucht, die moralische Freiheit anderer zu verletzen. Auf dieser Ebene gelten juristische Gleichungen nicht: Daß beispielsweise die Pflicht des einen gegen den ändern das (einforderbare) Recht dieses ändern gegen den einen darstelle. Hier gilt vielmehr, daß - von der ,Pflicht' her gesehen: - Selbstverständliches' unter dem Blickwinkel des vermeintlichen , Rechtes darauf (und damit unter dem Aspekt potentiellen Zwangs) zu ,Nichts' wird; denn was einerseits ,selbstverständliche' moralische Pflicht ist, das ist andererseits ,unverdientes' Geschenk; und wer glaubt sein vermeintliches Recht darauf geltend machen zu können, der verliert eben dadurch das ihm - ,eigentlich' - Zukommende. Sehr deutlich ist hier der innere Zusammenhang der moralisch-religiösen Sphäre spürbar, ihre m o r a l i s c h - r e l i g i ö s e E i n h e i t . 6 3 liehen Sphäre] um so größer, je höheres Freiheitsniveau einem zum moralistischen Anspruch verkommenen .kategorischen Imperativ' zugeschrieben oder auch von ihm erhofft wird [vgl. Kap. 2 Anfang und nach Fußnotenreferenz 11 ]. 62 Denn die intendierte moralische Einschränkung der moralischen Autonomie ist in sich widersprüchlich. Da aber kein Mensch moralisch vollkommen ist, bedeutet , moralisches Defizit* die selbstverständliche menschliche Lebenssituation der .unendlichen Aufgabe' (,Sollen') und Möglichkeit (.Können") zugleich: „es besser machen" zu können und zu sollen. 63 Wer nur die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zur Kenntnis nimmt und - wie so viele - an den dort gebotenen und vergleichsweise .äußerlich' abgehandelten Beispielen Kants (vgl. dazu Kap. 5.2.1) hängen bleibt, der mag vielleicht glauben, die hier gegebenen Andeutungen als ,Überinterpretation' bzw. einfach als falsch betrachten zu sollen. Die Richtung der gegenwärtigen Erwägungen zeigt jedoch - gegen die übliche Sichtweise - an: (1) daß der formale kategorische Imperativ und materiale Wertethik solange einander notwendig ergänzen, als materiale Wertethik nicht .objektive' Wertpyramiden (.ideale Gegenstände") errichtet: Sind doch feinsinnige phänomenologische Analysen der Tugenden und Wertempfmdungen begrifflicher Ausdruck jener .materialisierten', .verwirklichten' Humanität, um die es ^menschlichem Denken1 zu tun und deren formale, innerlich-konstitutive Struktur ^praktische Vernunft' ist; — und (2) daß Hegels Theologische Jugendschriften nicht diesen Niveauunterschied zu Kant

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Die ,Würde' des ,konkreten Menschen' ist nichts,64 das er als (moralisches) Recht gegen andere Menschen (»statisch') besäße; sie ist nur im Prozeß der persönlichen moralischen Läuterung (Klärung) aktualisierbar.65 Es wäre widersprüchlich, das ,für alle' Menschen gültige Moralgesetz (Autonomie) als ,äußerliche' (und damit ,heteronome') Einschränkung menschlicher Möglichkeit^« (und damit »Freiheite«') denken zu wollen:66 Es kann nur im »Gewissen' des »konkreten Menschen' leben und konstituiert dessen Freiheit. »Allgemeingültigkeit' des kategorischen Imperativs hat nicht Freiheitsberaubung bzw. -einschränkung der Menschen untereinander67 zur Folge, sondern im Gegenteil die Ausrichtung auf zu haben scheinen, den sie beanspruchen [z.B. weil,Liebe' (im Sinn der christlichen ,Agape') - anders lautenden philosophiegeschichtlichen Berichten entgegen - die ,Substanz' der Kantischen praktischen Philosophie ist]. 64 Nämlich nichts »Positives'. 65 Und dies steht in wesentlichem Zusammenhang mit der Achtung der Würde aller anderen (.konkreten')Mit-Menschen. Hier ist eine Berührung mit Bubers Rede vom ,Zwischen-Menschlichen' gegeben: Bubers ,Ich-Du-Beziehung' (im Kontrast zum Bereich des ,Ich-Es') kann nicht verstehen, wer meint, dem ,Ich' stehe ein ,Du' entgegen, denn das ,Du' ist kein Gegen-Stand; jedes Objekt, unter welchem Namen immer, ist ,Es': Wer das „Grundwort: Ich-Du ausspricht", der ist aus der SubjektObjekt-Spaltung des Grundwortes ,Ich-Es' herausgetreten; analog demjenigen, dessen Struktur in der Weise von GMSIV/429 entsprechenden Ausdruck findet: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden ändern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst." 66 Wenn dies dennoch hinsichtlich empirischer ,Möglichkeiten', die in ,moralischer Sicht' abzulehnen sind, weitverbreitet geschieht, so zeigt dies nur das Unverständnis der , moralischen Autonomie1 im Sinne Kants. Der systematisch-einheitliche Begriffszusammenhang der kritischen Philosophie Kants eröffnet den (moralisch-religiösen) Sinn, in dem die moralische Person (,an sich') dem empirischen Individuum (,Erscheinung') vorgeht, ohne jedoch empirische Realität zum Schein verblassen zu lassen: Denn nur hier im , Alltag' findet .konkretes' Leben statt. — Dies ist die Botschaft jeder konkreten Metaphysik, z.B. der Kants, Bubers, Jaspers' etc. [Daß übrigens auch Martin Buber - wahrscheinlich durch neukantianische Information bedingt - Kant .theoretisch' mißversteht und sich gerade in dem von Kant zu unterscheiden glaubt (nämlich dem .konkreten Leben'), das zentral für Kantische Philosophie ist: dazu vgl. z.B. Ich und Du (in: Werke Bd. l, S. 143) und Gottesfinsternis (in: Werke Bd. l, S. 540f)]. 67 Dies wäre nur in der falschen Auffassung des Imperativs als einer inhaltlich un-bedingten Forderung die Konsequenz, die moralische Forderung ist aber rein formal: Nicht die (materielle) Situation ist moralisch geboten (das ,Was'), sondern die Art und Weise (das ,Wie') ihrer Bewältigung; und dazu gehört die Achtung der moralisch-religiösen Würde der jeweiligen Mit-Menschen. — Wird so gesprochen, dann mag beispielsweise der Gedanke an die Inquisition auftreten, zu deren ideologischem Umfeld auch die Ansicht gehörte, es sei .gut' - weil

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größtmögliche gegenseitige (besser: ,gemeinschaftliche') Achtung dieser moralischen Freiheit, also auf Toleranz: Es geht dabei um die nur praktisch-konkret und immer nur unvollkommen (d.h. nie ,endgültig' sondern ständig ,neu') zu lösende Aufgabe, jeden ,nach seiner Facon selig werden' zu lassen, also nicht zu moralisieren (,predigen', propagieren', ,missionieren'etc.);68 — und dabei d e n n o c h keine Gleichgültigkeit aufkommen zu lassen, sondern stetig A n t e i l zu nehmen: mit möglichster Dichtigkeit'.69 Denn die zu spürende Anteilnahme zeigt belastende Aspekte geistliche (Not-)Hilfe - für die erbarmungswürdige ,Seele' des jeweiligen Opfers, diese vom verdorbenen irdischen Leib zu befreien. — Wird gesagt: Nicht auf das ,Was', nur auf das ,Wie' kommt es an, so scheint auch organisierter Massenmord letztlich nur eine .ästhetische' (,Wie?'-)Frage der Art und Weise seiner Veranstaltung' zu sein (vgl. auch Anm. 13/Kap. 2). Hier zeigt sich die systematische Bedeutung des Kantischen Begriffszusammenhanges: Denn die moralische Realität wird hier erst hinsichtlich einer Sphäre denkbar - also intellektuellem Bewußtsein zugänglich -, die auch Platz dafür bietet. Dieser ,leere Raum" wurde durch die ,tautologische' Einsicht unseres Denkens in die Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit geschaffen, also durch die Einsicht in die Unmöglichkeit theoretischer Metaphysik, d.h. aber: durch die Einsicht in die Haltlosigkeit von ^Lehren', die nicht-empirischen Charakter haben. Ohne solche Lehren aber keine Ideologie - daher auch keine ,Lehre' von der kategorischen moralischen Forderung -; ohne Ideologie aber auch keine (theoretisch-)raft'oHui/e Grundlage für solches ,Was' (der Inquisition etc.). Hier treffen sich Kantische Philosophie (im Sinne dieser Schrift) und empiristische Ideologiekritik - aber nur kurz: Denn der gravierende Unterschied zwischen beiden ist, daß empiristische Ideologiekritik (als .Empirismus') , vornherein' auf (theoretische) Vernunft (.Verstand') festgelegt ist und daher die .Erzählung' ,]aonkiet-praktischen Wissens' von theoretisch-abstrakter Metaphysik (.Lehre') gar nicht unterscheiden kann und deshalb beide gleichermaßen (als .Lehre'), z.B. ,im Lichte der Weltanschauungsanalyse', zu vernichten sucht. — ,Konkret-praktisches Wissen' steht aber für das , lebendige menschliche Bewußt-Sein'. 68 Lauter Bezeichnungen, die ohne inhaltliche Zielsetzung nicht gedacht werden können — und sei dieser .Inhalt' auch bloß die .Richtung' einer .Bewegung'. In diesem Sinne verstehe ich die gelegentliche Äußerung Martin Bubers, in der er - der sonst von sich sagt, er habe keine Lehre anzubieten, nur eine Richtung zu weisen - auch verneint, eine .Richtung' zu haben. Denn alles kann .positives' Objekt sein, oder: alles kann Ideologie (,Lehre') sein, auch das .Wissen der Richtung' (bzw. des .Weges'); und in diesem Sinne wäre das Weisen der Richtung .belehrend', moralistisch, propagandistisch, ideologisch-heteronom [und zwar nicht nur hinsichtlich anderer Menschen, auch in bezug auf sich selbst]. 69 ,Leichtigkeit' bedeutet hier Freiheit von den eben genannten beschwerenden .Inhalten' moralistisch-ideologischer Natur. — Dieser Kontext bietet dem ,ekstatisch-kathariischen' Denkmodell deshalb konsequenterweise keinen Raum, weil dieses - wie die übrigen .Modellvorstellungen' auch - substantiellen Bezug ausschließlich auf ,iheoretisch-&bstiakie' Metaphysik haben kann, die aber schon von Kant philosophisch überwunden wurde.

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moralisierender Kontrolle usw. ,Richtige' Anteilnahme70 würde n u r sichtbar, w e n n sie gebraucht wird; z.B. daß man , d a n n ' aktiv ,da ist' bzw. ,Zeit hat'. Wer solches p r a k t i s c h a n s t r e b t — wie unzufrieden er hinsichtlich seiner erbrachten ,Leistung' auch immer sein mag: dies ist ja zugleich der Aufruf zum ,Besser-Machen'; und zwar nicht aus Launen (,Spaß haben'), Klugheitserwägungen oder (heteronomen) ,Lehren'71 heraus —, 70

,Richtige Anteilnahme' könnte geradezu ,negative Anwesenheit' genannt werden, bezogen auf jene Zeiten, da sie nicht aktuell gebraucht wird. — Solche Anteilnahme ist - in den jeweils situationsbedingten Begrenzungen - wesentlich .gegenseitig-gemeinschaftlich' [Denn einer lehnt als ,Druck' ab, was ein anderer notwendig zu brauchen vermeint (vgl. auch Anm. 61/Kap. 5)]. Zur hier auftretenden Frage der Unterscheidung von - manchmal dringend erforderlichem - ^psychischem Druck' und (grundsätzlich falschem) moralistischem Anschlag auf die Autonomie des anderen wäre viel zu sagen. Hier muß folgendes genügen: Wem es zufallt, einem anderen Menschen in dessen .konkretem' Klärungsprozeß zur Seite zu stehen, der muß sich selbst - wie immer: so gut er eben kann - unter anderem der Frage der Unterscheidung von Psychotherapie als - zumindest potentiellem technischem Eingriff und der moralischen Ebene (,existentieller Kommunikation' bzw.) menschlich-konkreter Freiheit stellen. — Die Allgemeine Psychopathologie, mit der sich der 1908 zum Dr.med. promovierte Karl Jaspers 1913 habilitierte - die verschiedenen Auflagen wurden von Jaspers zum Teil stark verändert; 9. Auflage 1973 -, bietet dazu klare und hilfreiche Bemerkungen. Daß die jeweils .konkrete' Antwort auf diese Frage letzten Endes nicht .theoretisch' sondern nur in der möglichst behutsamen und kräftigen ,Praxis' erfolgen kann (und soll), das versteht sich im Kontext der vorliegenden Schrift wohl von selbst. 71 Wie schon öfter betont: Jede .Lehre' ist - unabhängig von ihrem Inhalt, als Lehre heteronom. Dennoch ist ihr Inhalt nicht gleichgültig: Denn nur ,Lehren' der Autonomie können - und zwar nicht als abstrakt-heteronomer Lehrinhalt sondern in ihrer inneren Folgerichtigkeit - die .Richtung weisen': die abstrakte .Lehre der Autonomie' in konkret gelebter Autonomie aufzulösen. Hier ist die ,Aufgabe' jeder ,Philosophie der Freiheit' in ihrem dreifachen Sinn angesprochen: (1) die begriffliche Fassung von Freiheit nicht statisch, als .Lehre', zu konservieren suchen, sondern als intellektuellen Klärungsprozeß zu vollziehen; (2) so vorbereitet diesen .lehrhaften', notwendig starren Begriffszusammenhang .loszulassen' in der .fließenden', .konkreten Realisierung'; — und dennoch (3) den erworbenen (nun .beweglichen') intellektuellen Horizont zu erhalten: als hilfreiche Möglichkeit ,denkender Vergewisserung' (Karl Jaspers). Das ,kreisende Denken' (Karl Jaspers) zeigt sich hier darin, daß ja die Möglichkeit von (1) in der konkreten Realisierung von (2) und (3) besteht: Die vorliegende Schrift enthält diesbezügliche Ausführungen vor allem hinsichtlich der Denkbarkeit moralischer Realität. — Für ,Lehren der Heteronomie' - wie z.B. für alle empiristischen Philosopheme, aber auch für jede .theoretisch-abstrakte' Metaphysik bzw. Theologie - ist die genannte .Richtung-Weisung' entweder selbst .Lehre' oder .irrational'. Hier führt nicht .innere Folgerichtigkeit' (insofern: .Irrationalität') zur Befreiung vom logischen Zwang begriff-

S.I Die potentielle Einzigartigkeit jedes Menschen

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der ,weiß', was die unbedingte (moralische) Forderung ,ist' [auch wenn er es ablehnen sollte, dies in der einen oder anderen Weise auszudrücken (Ablehnung von bestimmten Terminologien!) oder überhaupt darüber zu reden (Ablehnung von praktischer Philosophie bzw. von Philosophie überhaupt!)], und der , w e i ß ' auch, was deren ,(konkrete) A l l g e m e i n g ü l t i g k e i t ' im G r u n d e bedeutet: nämlich (1) daß es - potentiell; und damit zu verwirklichende - menschliche G e m e i n s c h a f t 7 2 gibt und (2) daß kein Mensch berechtigt ist,73 die ihm zukommende „praktische Erkenntnis" seiner Entscheidungswillkür auszusetzen; oder anders formuliert: daß jeder Mensch verpflichtet ist, seine „praktische Erkenntnis" anzunehmen, sie zu realisieren (denn aktuelle praktische Erkenntnis , i s t ' nur in der Verwirklichung); oder nochmals in lieber Erstarrung, sondern der ,Sprung' (man denke an Kierkegaard). Die Alternative: rationale Folgerichtigkeit oder irrationaler , Sprung' ist also nicht echt; relativ auf sie verwirrt sich die Frage konkreter Freiheit in dezisionistische Irrwege auf irrationalem Grund, die einmal .rational', einmal,irrational' scheinen. — Denn die Frage rationaler Konsequenz oder irrationalen Ausbruchs ist relativ auf die Struktur des jeweiligen .kontrastierenden' Begriffszusammenhanges: Eine Philosophie wie die von Kant zeigt verschiedene Aspekte von Rationalität (theoretische und praktische Vernunft); - und sonst nichts. Philosophien, die einseitig theoretisch-rational festgelegt sind, konstituieren als ihren Kontrast, obwohl sie ihn zu bekämpfen scheinen, die Irrationalität. 72 D.i. die nicht soziologisch (z.B. als .Verein') bestimmbare Gemeinschaft ,freier1 Menschen [d.s. Menschen, die auf dem Weg der Freiheit sind] bzw. die „Gemeinschaft der Guten" Kants [vgl. z.B. RGV VI/101: „unsichtbare Kirche"]; vgl. dazu auch meinen Aufsatz Schelling und Kant... . Daß ,/cA' nicht allein ist, ist ja die Voraussetzung menschlicher Realität in jeder Weise [vgl. auch Martin Buber; die Einheit seiner beiden „Grundworte" ist nicht: ,Ich' bzw. ,Du' oder ,Es', sondern: „Ich-Du" bzw. „Ich-Es"]. 73 Auch dies ist eine ^praktische Erkenntnis1", ich habe verschiedentlich versucht darzulegen, warum dieser Zirkel theoretisch-abstrakten Redens ,über' Praktisch-Konkretes auftreten muß: Weil praktische Vernunft den Primat hat, also relativ auf theoretische Vernunft das .Umgreifende' ist. Als praktische Erkenntnis schärft sie den Blick für - eigene oder fremde - Verstöße gegen diese Verpflichtung, ohne jedoch theoretisch-abstrakte Beurteilung zu sein, die meist fest-legende Ver-urteilung ist. Hierher gehört z.B. der Satz von Hegel (und Sartre), daß Abstraktion tötet; denn indem sie fixiert, nimmt sie dem Menschen das (geistige) Leben: seine immerwährende Möglichkeit der ,Umkehr', der Realisierung moralischer Freiheit. Wer dies - angesichts empirisch-realer Not - für leichthin Formuliertes hält, der denke z.B. an die Psychiater Karl Jaspers, dessen Allgemeine Psychopathologie ein Entwicklungsschritt zu seiner Philosophie ist, und Viktor Frankl, der sein .Wissen' um menschliche Freiheit auch im Konzentrationslager bewähren - und damit vertiefen bzw. stärken - konnte.

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5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

anderer Formulierung: daß kein Mensch berechtigt ist, sich auch nur der Möglichkeit nach A u s n a h m e n vom Allgemeinen' Moralgesetz zu gestatten [Eine solche Ausnahme bedeutete willkürliche, nur durch egozentrische Verstrickung begründete Absonderung von der — von allen empirischen Sonderheiten freien, insofern: — a l l g e m e i n e n Gesetzmäßigkeit der geistigen, ,intelligiblen' Welt bzw. des ,Reichs der Zwecke'].

5.2 Die Form bloßer Allgemeingültigkeit (Das Naturgesetz als ,Typus' des Moralgesetzes) Nach dem Versuch, die Bedeutung der ,Allgemeingültigkeit' des kategorischen Imperativs aus den bisherigen Darlegungen dieser Schrift heraus verständlich zu machen, wende ich mich nun einem kurzen, die Klärung dieser Frage fördernden Textteil der zweiten Kritik zu: „Von der Typik der reinen praktischen Urtheilskraft".74 Wie bei anderer Gelegenheit früher ist auch hier festzuhalten, daß vordergründiges Kant-,Verständnis'75 mit Abschnitten wie diesem wenig 74

D.i. KpV V/67-71. — Ich meine zwar nicht, daß dies der einzige zentrale Text für das genannte Problem ist; allerdings glaube ich, daß gerade dieser Text unter dem Blickwinkel der Frage der ,Allgemeingültigkeit' (bzw. des .despotischen Imperativs') für die systematische Bedeutung von Autonomie auch Leser aufschließen kann, die den vorangegangenen Ausführungen vielleicht nicht folgen wollten. Das Wort J'ypik' ist übrigens in Kants ,Werken' (Bde. I-IX der Akademie-Ausgabe) nur viermal nachzuweisen [ausschließlich in Bd. V (KpV)], das Wort ,Typusl kommt zweimal in den vorkritischen Schriften (Bde.I und II), einmal in Bd. VII (oder VIII) und sechsmal in Bd. V (KpV) vor, das Wort Jypen1 einmal in Bd. VI [nach: Gottfried Martin, Allgemeiner Kantindex, Bde. 16/17: Zweite Abteilung: Wortindex: Wortindex zu Kants gesammelten Schriften, Bde. 1/2: Wortindex zu Band I-IX, Bd. 2, S. 900]. Alle vier Orte von ,Typik' sowie alle sechs Orte von .Typus' befinden sich im schon genannten Abschnitt: Von der Typik der reinen praktischen Urtheilskraft:

,Typik' auf den Seiten KpV V/67, 70; ,Typus' auf den Seiten KpV V/69, 70. ,Typus' wird hier von Kant im Sinne eines Begriffs zur Bezeichnung einer gemeinsamen Grundstruktur verwendet, aber so, daß das .Sinnliche' als ,Typus' des .Übersinnlichen' angesprochen wird, und nicht umgekehrt ,Typus' als die zugrundeliegende .Urgestalt'; in Wortzusammensetzungen Kants ist übrigens ,-typus' dieser Unterscheidung gegenüber neutral: vgl. z.B. KU V/408: .intellectus archetypus' bzw. .intellectus ectypus'. Die Nähe zu ,Symbol' ist nicht zu übersehen und findet auch im Text Unterstützung: „Eben dieselbe Typik bewahrt auch vor dem Mysticism der praktischen Vernunft, welcher das, was nur zum Symbol diente, zum Schema [im Sinne der .Versinnlichung'; G.R.] macht..." (KpVVHO), 75 Nicht nur vordergründig, sondern auch weit verbreitet. — .Vordergründig' meint hier jeden Interpretations versuch, der meint, Kantische .Metaphysik' von .Erkenntnis-

5.2 Die Form bloßer Allgemeingültigkeit

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anfangen76 und hier keine Förderung der philosophischen Klarheit sehen kann, sondern schon eher Gegenteiliges: etwa Kants Verstrickung in die Tücken seiner eigenen Terminologie oder äußerlich-zwanghafte Versuche, die Form seiner zweiten Kritik bei aller Verschiedenheit doch jener der ,ersten' anzugleichen. theorie' oder von ,Ethik' abtrennen zu können [denn damit ist die Sicht für die systematische Einheit der kritischen Philosophie verloren]: Das voreilige Desinteresse an .Metaphysik' führt zu keiner ihr entsprechenden Einsicht, sie wird .theoretisch' mißverstanden [und gem im Habitus des Erkenntnisfortschritts des 20. Jahrhunderts abgelehnt, anscheinend ohne zu realisieren, daß diese Art von Metaphysik Gegenstand schon der Kantischen Destruktion war]. Damit wird ,Ethik' auf ,Logik' und auf .(vernünftige) Argumentation' reduziert, die Sphäre (moralisch-)praktischer Verbindlichkeit und Freiheit aber letztlich verschlossen [Terminologisch wird dies z.B. an der ,Sein-Soll-Dichotomie' manifest]. — Gerade seiner Bemühung um kantische Sichtweise wegen ist jemand wie der schottische .Kantianer' H. J. Paton [Der kategorische Imperativ, 1962] besonders gut als Beispiel für diesen Irrtum und seine Folgen geeignet (vgl. dazu Anm. 76/Kap. 5). 76 Man lese beispielsweise den entsprechenden Text im Kommentar von L.W. Beck (Kap. IX/§ 10, S. 151-157). — Wenn Beck an anderer Stelle (S. 101) sagt: „ ... denn ein [moralisches; G.R.] Gesetz muß ein vereinender, kein trennender Faktor in der Welt sein" und in der dazugehörigen Anm. 18 (S. 273): „Dies ist der entscheidende Punkt in Kants Lehre vom Typus des moralischen Gesetzes", so könnte dies im Sinne meiner Schrift so verstanden werden, daß das .moralische Gesetz' die Gemeinschaft (.der Guten') konstituiert (und damit fordert) bzw. das moralische .Reich der Zwecke'. — Doch wenn Beck .Zweck' sagt, meint er Teleologie im Sinne Patons, und das heißt: teleologische Urteilskraft. Hier scheint die autonome Sphäre unbedingter moralischer ,End-Zwecke (an sich selbst)' unterzugehen im heteronomen Bereich der bedingten sinnlichen Naturzwecke hypothetischer Imperative [vgl. dagegen Kants Unterscheidung von .moralischer Teleologie' und .physischer Teleologie' (KU V/447) bzw. von .Ethikotheologie' (KU V/442ff) und .Physikotheologie' (KU V/436ff)]. — Vgl. dazu (in: L.W. Beck, Kommentar) S. 154 und die dazugehörige Anm. 69 (S. 284), wo Beck unter Hinweis auf Paton (Der kategorische Imperativ) die gesetzmäßige Ordnung der Natur primär Ideologisch versteht; wie Beck meint im Unterschied zu Paton, der dies ausschließlich behaupte [Dies trifft einerseits auf Paton zu (Der kategorische Imperativ S. 177), zwei Seiten weiter (S. 179) drückt sich aber auch Paton - oder ist es bloß eine in gewissen englischen Büchern oft zu bemerkende Ungenauigkeit, die sich vordergründig als .Leichtigkeit' darstellt? - im Sinne des .Primären' aus: „Daß Kant sich mehr auf das teleologische Gesetz als auf die Kausalität der Natur beruft ..."]. Um Paton gerecht zu werden müßte man viel mehr sagen: auch über seine verdienstvollen Bemühungen, diverse verbreitete Fehldeutungen Kants zu korrigieren [denn alles, was Verwirrung lichtet, ist verdienstvoll]. — Hier nur noch folgende Bemerkung: Paton spricht im Vorwort seines Buches (Der kategorische Imperativ S. VI) von einem „der letzten Dinge, die ich in meinem Kantstudium entdeckte ... daß Kant in seiner Anwendung moralischer Prinzipien ... sich in der Tat auf eine teleologische

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5 Zur Frage der AJlgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

Kant stellt das „Naturgesetz" dem „Gesetz der Freiheit" gegenüber;77 wobei ,Naturgesetz' hier eindeutig auf heteronome Kausaldetermination78 Auffassung des Menschen und des Universums gründet". Liegt die Betonung auf .Anwendung', so muß dies nicht heteronome, .teleologische' Ethik [im Unterschied zu autonomer, ,deontologischer' Ethik] bedeuten. — Auch die Unterscheidung Patons von: „Naturgesetz" als „Prüfstein" und „Wesen des moralischen Handelns" bzw. „Geist, in dem wir [moralisch handeln]" (S. 181) entspricht - im Kontext Patons kantischer Tendenz; sie bleibt aber wie andere, hinsichtlich Kant anscheinend die ,richtige' Richtung weisende Bemerkungen Patons seltsam kraft- und daher folgenlos; trotz (in gewisser Hinsicht plausibel scheinender) verbaler Bezugnahmen. — So sagt Paton beispielsweise auf S. 213 (im Sinne ,teleologischer Ethik'): „ ... die eigentliche Ethik [befaßt] sich mit Zwecken (und daher mit Motiven) ..."; vgl. dagegen Kant (QMSIV/437): „ ... so wird der Zweck hier nicht als ein zu bewirkender, sondern selbstständiger Zweck, mithin nur negativ gedacht werden müssen ...." — Diese fundamentale Fehlsicht Patons folgt - systematisch gesehen - aus dessen Auffassung, „Kants Ethik" sei von Kantischer „Metaphysik" „nicht" „abhängig" (vgl. Der kategorische Imperativ S. 350). Um hier ganz klar zu sein: Im Sinne der vorliegenden Schrift ist die Realität reiner praktischer Vernunft vollkommen unabhängig von jeder Metaphysik, die ja grundsätzlich Ausdruck theoretischen Vernunftgebrauchs ist; die Theorie der Realität der reinen praktischen Vernunft [d.i. die (Mora\-)Philosophie bzw. Ethik] aber ist Metaphysik [bzw. theoretischer Vemunftgebrauch (am Boden realer/verwirklichter reiner praktischer Vernunft)]. So gesehen ist „Kants Ethik" von Kantischer „Metaphysik" nicht nur „abhängig", sondern darüberhinaus aus ihrem metaphysischen (Denk-)Zusammenhang gar nicht herauslösftor. 77 Vgl. KpV V/68: „ ... nicht Naturgesetz, durch empirische Bestimmungsgründe, sondern ein Gesetz der Freiheit... "; — KpVV/69: „Dem Naturgesetze ... muß ein Schema, d.i. ein allgemeines Verfahren der Einbildungskraft (den reinen Verstandesbegriff, den das Gesetz bestimmt, den Sinnen a priori darzustellen), correspondiren. Aber dem Gesetze der Freiheit ... kann ... kein Schema ... in concrete untergelegt werden"; — vgl. auch KpVV/65: „Da indessen die Handlungen einerseits zwar unter einem Gesetze, das kein Naturgesetz, sondern ein Gesetz der Freiheit ist, folglich zu dem Verhalten intelligibeler Wesen, andererseits aber doch auch als Begebenheiten in der Sinnenwelt zu den Erscheinungen gehören ..." 78 Weder dem Abschnitt Von der Typik ... (KpV V/67-71) noch dem vorhergehenden oder nachfolgenden Kontext ist unvoreingenommen anderes zu entnehmen als das „Naturgesetz" im Sinne der - ,mechanisch' wirkenden - Kausaldetermination. Es geht im vorliegenden Textzusammenhang nicht um die Vereinbarkeit von , subjektiv-apriorischer', teleologischer Urteilskraft und .objektiv-apriorischer' Kausaldetermination (.Mechanismus'); diese Vereinbarkeit stellt der zweite Teil der KU klar fest. Es geht um zwei grundlegende Dinge, deren klare Distanz durch die - hier nicht gerechtfertigte - Betonung der Teleologie gefährdet wird: (l) Praktische Vernunft ist ein objektiv-apriorisches Prinzip, ihre (.praktische') Urteilskraft ist „bestimmend" — die Brisanz der Frage .moralischer Allgemeingültigkeit' ist ja gerade ihre diesbezügliche Ähnlichkeit zur ebenfalls „bestimmenden" theoretischen Urteilskraft; Kausaldetermination! —, sie gilt als konstitutives „Gesetz" einer „übersinnlichen Natur" (vgl. KpVV/43); (2) Teleologische Urteilskraft ist ein subjektiv-apriorisches

5.2 Die Form bloßer Allgemeingültigkeit

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verweist im Kontrast zur autonomen moralischen „Bestimmung des Menschen". In beiden Fällen geht es um b e s t i m m e n d e — theoretische bzw. praktische — Urteilskraft. „Urtheilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Princip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urtheilskraft, welche das Besondere darunter subsumirt . . . b e s t i m m e n d . " 7 9 Dementsprechend ist im Abschnitt: „Von der Typik der reinen praktischen Urtheilskraft" (KpV V/67-71) von „Subsumtion" die Rede und davon, daß das, was theoretisch-bestimmender Urteilskraft die „Subsumtion"80 ermöglicht, ein „Schema" ist, „ein allgemeines Verfahren der Prinzip, bloß „reflektierend" und als theoretisches Vermögen ausschließlich - und zwar bloß „regulativ" - auf „sinnliche Natur" bezogen. Die Verwischung beider genannter Punkte geschieht relativ leicht bei vomehmlicher Beachtung bloß logischer Argumentationsstrukturen — verbunden mit dem Desinteresse an „transzendental-logisch-inhaltlicher" Denkweise, was wiederum jede Möglichkeit des Verständnisses Kantischer Metaphysik ausschließt — und fuhrt dann zur irrigen Vorstellung, die „Vereinigung" von Kantischer Ethik und Utilitarismus sei eine lohnende, vor allem aber sinnvolle, philosophische Aufgabe (vgl. dazu Kap. 5.2.1). — Mit H. J. Paton bereitet auch L.W. Beck dieser Verwirrung den Boden; auf diesem gedeihen nicht nur kurzsichtige, wenn auch möglicherweise .scharfsinnige' .Analysen' an Hand der vier Beispiele Kants (in der GMS) im genannten Sinn .teleologischer Ethik'; er ist selbst Teilaspekt einer sich anbahnenden philosophischen Totalvenvirrung, die glaubt, real existierende analytische Philosophie der Heteronomie und Deutschen Idealismus [der mit Kant (Autonomie!) beginnt] auf längere Sicht miteinander vereinigen zu können: Am Stuttgarter Hegel-Kongreß 1981 sprachen sich beispielsweise Dieter Henrich [derzeit (1983) Präsident der Hegel-Gesellschaft] und Hilary Putnam bzw. Richard Rorty (von analytischer Seite) programmatisch für diese ,Koinzidenz' aus: Es ist dies — unter Beteiligung marxistischer Kräfte (z.B. Oskar Negt) — letzten Endes ein Programm der totalen Abschaffung jeder Art von .anagogischem' und insofern von .menschlichem' Denken (bzw. Bewußtsein). 79 Und weiter: „Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urtheilskraft bloß reßectirend" (KU V/179). 80 Vgl. dazu die entsprechenden Abschnitte dieser Schrift über das Verständnis des Ausdrucks ,Ding an sich' (Kap. 3). Die Sprache Kants legt hier ein .gegenständliches' Mißverständnis nahe; analog der in früheren Abschnitten dieser Schrift klargestellten Rede Kants von den Gegenständen, die uns durch Sinnlichkeit gegeben, durch den Verstand aber gedacht werden. Denn dem Kantischen Begriffszusammenhang ist jede Auffassung widersprechend, derzufolge dem .Gegenstand' sinnlicher Anschauung der Verstandesbegriff (Kategorie) - sozusagen .von außen' - aufgeprägt würde: Dieser sinnliche .Gegenstand' ist als empirisch-reales Objekt nur denkbar u.a. auf Grund seiner .inneren' .Konstitution' durch eben diesen Verstandesbegriff [Dies ist jener Sinn

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5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

Einbildungskraft (den reinen Verstandesbegriff, den das Gesetz bestimmt, den Sinnen a priori darzustellen)" (KpVV/69), das dem „Naturgesetze als Gesetze, welchem die Gegenstände sinnlicher Anschauung als solche unterworfen sind ... correspondiren" (KpV V/69) muß. A n a l o g e s gilt hinsichtlich der p r a k t i s c h e n Urteilskraft:81 „Hier aber ist es nicht um das Schema eines Falles nach Gesetzen, sondern um das S c h e m a ... e i n e s G e s e t z e s selbst zu thun, weil die Willensbestimmung (nicht der Handlung in Beziehung auf ihren Erfolg) durchs Gesetz allein ... den Begriff der Causalität82 an ganz andere Bedingungen bindet, als diejenige sind, welche die Naturverknüpfung82a ausmachen" (KpV V/68f). „Folglich hat das Sittengesetz kein anderes die Anwendung desselben ... vermittelndes Erkenntnißvermögen, als den Verstand (nicht die Einbildungskraft), welcher einer Idee der Vernunft83 ... ein N a t u r von , Autonomie', der allen - theoretischen und praktischen - synthetisch-apriorischen Vemunftprinzipien, als ,transzendental', gemeinsam ist]. So ist auch - bei allen sonstigen Unterschieden - die synthetische Einheit Amoralische Handlung* nicht nachträglicher Beurteilung wegen [also als etwas ,schon' gestehendes' (damit schon Vergangenes', geschehenes')] unter das ,Gesetz (der Freiheit)' subsumierbar. Die mögliche Subsumtion dieser Handlung unter das moralische Gesetz - genauer: die Subsumtion der Maxime dieser Handlung unter das moralische Gesetz, die eben nur dann ,möglich' ist, wenn die Form der Maxime Gesetzes-Form ist - bedeutet die moralische [nicht physische; vgl. z.B. KpV V/68: „Allein hier eröffnet sich doch wieder eine günstige Aussicht für die reine praktische Urtheilskraft—"] Konstitution dieser Handlung, also .Gege/iwurr/g-Zukünftiges'. — Vgl. dazu KpVV/69: „ ... Regel der Urtheilskraft ... Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast..." 81 Ich habe schon zu Beginn dieser Schrift klargestellt, daß hier, wenn der Kontext eindeutig ist, z.B. „praktische Vernunft" immer „reine praktische Vernunft" bedeutet; dies gilt für alle in Frage kommenden Ausdrücke; auch im gegenwärtigen Zusammenhang. 82 Als „Causalität aus Freiheit" (vgl. z.B. KpVVHO). 82a D.i. dem Kontext entsprechend: Verknüpfung der sinnlichen Natur'. 83 Naturgesetz als „Typus" bzw. als „Schema (wenn dieses Wort hier schicklich ist)" (KpV V/68) ermöglicht ja erst - eben durch die bloße „Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt" (KpV V/70) - den Begriff eines so verstandenen Moral-Gesetzes. — Der Ausdruck „Idee der Vernunft" statt „Moralgesetz" (oder „Sittengesetz") verliert seine Bedenklichkeit, wenn man an Kants Begriff der „transzendentalen Ideen (der theoretischen Vernunft)" denkt: Diese sind „Begriffe der reinen Vernunft", wie die Kategorien „reine Verstandesbegriffe" sind (vgl. z.B. KrV A 31 l/B 368). Kategorien aber sind keine ,Gegenstände' sondern synthetisch-apriorische, gesetzgebende Prinzipien. Analog spricht Kant hinsichtlich der Ideen theoretischer Vernunft vom - allerdings regulativen (weil theoretischen) - „Gesetz der Vernunft", „die systematische Einheit... der Natur" „zu suchen" (KrV A 651/B 679); vgl. dazu Kap. 3.2, 3.3

5.2 Die Form bloßer Allgemeingültigkeit

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g e s e t z, aber nur seiner Form nach, als Gesetz zum Behuf der Urtheilskraft unterlegen kann, und dieses können wir daher den T y p u s des S i t t e n g e s e t z e s nennen" (KpV V/69).84 „Es ist also auch erlaubt, die Natur der Sinnenwelt als T y p u s einer intelligibelen Natur zu brauchen, so lange ich ... blos die F o r m der G e s e t z m ä ß i g k e i t überhaupt (... blos zum reinen praktischen Gebrauche der Vernunft ...) darauf beziehe.85 Denn Gesetze als solche86 sind so fern einerlei, sie mögen ihre Bestimmungsgründe hernehmen, woher sie wollen" (KpV V/70). Reine praktische Vernunft ist „berechtigt und auch benöthigt", „die Natur (der reinen Verstandesform derselben nach87)" „zum Typus der Urtheilskraft ... zu gebrauchen" (KpVV/lQ). Warum „bewahrt" diese „ T y p i k der Urtheilskraft ... vor dem Empirism der praktischen Vernunft", vor einem „durch Selbstliebe bestimmten und 3.4. — Dies entspricht genau Kants wiederholter und systematisch gegründeter Versicherung (ich habe sie a.a.O. belegt), wir könnten von den Postulaten der praktischen Vernunft - die ja meist viel zu .gegenständlich' (d.i. beharrend-substantiell) aufgefaßt werden (vgl. Kap. 3.5.2.2) - nichts .wissen' als das moralische Prinzip, d.i. eine Jdee der (praktischen) Vernunft' (vgl. Kap. 3.5). 84 Vgl. auch KpVV/70: Der Verstand „macht" „in Fällen, wo die Causalität aus Freiheit beurtheilt werden soll, jenes Naturgesetz" - das „allen seinen gewöhnlichsten, selbst den Erfahrungsurtheilen immer zum Grunde" liegt - „blos zum Typus eines Gesetzes der Freiheit", denn sonst könnte er „dem Gesetze einer reinen praktischen Vernunft nicht den Gebrauch in der Anwendung verschaffen". 85 Vgl. dazu die Unterscheidung von heteronomer sinnlicher Natur (natura ectypa) und autonomer übersinnlicher Natur (natura archetypa); z.B. KpVV/43. 86 D.i. in ihrer bloßen Form der Gesetzmäßigkeit. 87 Vgl. Prolegomena § 36 (PMJFIV/318ff): „ ... Natur in materieller Bedeutung, nämlich der Anschauung nach, als der Inbegriff der Erscheinungen; ... Raum, Zeit, und das, was beide erfüllt ... | ... Natur in formeller Bedeutung, als der Inbegriff der Regeln [des Verstandes; G.R.], unter denen alle Erscheinungen stehen müssen ... |... | ... die Gesetzmäßigkeit in Verknüpfung der Erscheinungen, d.i. die Natur überhaupt, können wir durch keine Erfahrung kennen lernen ... | ... das allgemeine Gesetz der Natur ... \ ... die oberste Gesetzgebung der Natur... [müsse] in unserm Verstande [liegen] ... | ... der Verstand schöpft seine Gesetze (apriori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor." — Vgl. auch QMS IV/437: „Weil die Gültigkeit des Willens als eines allgemeinen Gesetzes für mögliche Handlungen mit der allgemeinen Verknüpfung des Daseins der Dinge nach allgemeinen Gesetzen, die das Formale der Natur überhaupt ist, Analogie hat ..."; — CMS I V/421: „Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wornach Wirkungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach)" - „d.i. das Dasein der Dinge, ... so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist" - „heißt," „so könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte."

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5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

Willen[s]"?88 Der Grund ist offensichtlich — wenn man ihn einmal eingesehen hat: Gesetze der sinnlichen Natur sind zwar Gesetzen89 einer übersinnlichen Natur „einerlei", s o f e r n die bloße Form der Gesetzmäßigkeit90 betrachtet wird (und sonst nichts); dies ist ja der (einzige) Grund für die Berechtigung reiner praktischer Vernunft „die Natur ... [zum Typus] ... zu gebrauchen". Als Gesetze sinnlicher bzw. als Gesetze übersinnlicher Natur sind sie jedoch grundsätzlich verschieden: durch ihren — relativ auf „vernünftige Wesen überhaupt" — h e t e r o n o m e n bzw. autonomen Charakter. Würde, „was blos zur Typik der Begriffe gehört ... zu den Begriffen selbst gezälilt" (KpV V/70) werden, so wäre ebendieser fundamentale Unterschied beseitigt; und zwar eindeutig zugunsten der Heteronomie.91 „Denn das würde so viel sein, als die moralische Gesinnung92 in ihrer Quelle verunreinigen",93 was „allen sittlichen Werth ... aufheben würde" (KpVV/93). 88

KpV V/70. — Die gleichzeitige Bewahrung vor dem ,Mystizismus der praktischen Vernunft' ist hier keine Frage, denn da geht es um das spekulative theoretische Problem einer nicht-sinnlichen Anschauung; deshalb kann „der Mysticism" - im Unterschied zum .Empirismus der praktischen Vernunft' - „sich doch noch mit der Kernigkeit und Erhabenheit des moralischen Gesetzes zusammen" (KpWHl) vertragen. 89 Daß hier die Mehrzahl gebraucht wird, hat stilistischen Anlaß (auch bei Kant sind solche Fälle feststellbar); zugleich aber gibt der Plural zu bedenken, daß auch die Einzahl genau genommen dann nicht angebracht ist, wenn man meint, die Mehrzahl zugunsten der Einzahl kritisieren zu sollen. Denn dann zeigt sich die zugrundeliegende falsche Voraussetzung: ,gegenständliche' Auflassung (im Sinne von - empirischen - Objekten), die ,Zwei-Welten-Theorie' ausdrückend. Dasselbe gilt hinsichtlich des Ausdrucks ,Ding an sich' [Kants Wechsel von Ein- und Mehrzahl wird ja bezeichnenderweise besonders im empiristisch orientierten Umkreis kritisiert; z.B. von Erich Adickes]. 90 D.h. der notwendigen Allgemeingültigkeit, die keine Ausnahmen zuläßt. 91 Denn jeder materiale „Bestimmungsgrund des Willens" ist letzten Endes empirisch [trotz ÄTpI/V/39(Zeiien 5-11 bzw -13); vgl. Ä>KV/93(Zeiien 21-23)] und bedeutet somit Heteronomie. 92 D.i. die moralische Maxime. 93 Zur Fortsetzung dieses Zitates vgl. Anm. 125/Kap. 3.5. — Daß aber Sinnlichkeit, die (mögliche) Materie moralischer Handlung, nicht ,Grund dieses Bösen' (der ..Verunreinigung') ist, dazu vgl. z.B. RGWl/34: „Der Grund dieses Bösen kann nun 1) nicht, wie man ihn gemeiniglich anzugeben pflegt, in der Sinnlichkeit des Menschen und den daraus entspringenden natürlichen Neigungen gesetzt werden"; und RGV VI/58n: „ ... das eigentliche Böse aber besteht darin: daß man jenen Neigungen, wenn sie zur Übertretung anreizen, nicht -widerstehen will, und diese Gesinnung ist eigentlich der wahre Feind". Die Auffindung verschiedener Zitate Kants, in denen die Sinnlichkeit selbst als Grund des Bösen zu erscheinen scheint, berechtigt zwar unter , sprach-

5.2 Die Form bloßer Allgemeingültigkeit

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Jede f i x i e r e n d e (Sprach-)Logik, die das S u b j e k t der Autonomie genauso — und nicht z.B. ,in der Schwebe' (Karl Jaspers) — denken will wie beispielsweise das grammatische ,Subjekt' eines Satzes, d.i. den ,Satz- G e g e n s t a n d ' , ,über den' Fest-Stellungen getroffen werden (können), verfehlt mit dem »Subjekt der Autonomie' die Sphäre der Autonomie selbst und bleibt somit notgedrungen im heteronomen Bereich der Objekte (welchen Namen diese auch tragen mögen).94 Keines ihrer Argumente, wie -positivistischem', nicht aber unter systematischem Gesichtspunkt zur Feststellung verschiedener diesbezüglicher Positionen Kants; denn: Auch in der GMS und in der KpV ist die Sinnlichkeit (die einzig mögliche) Materie moralischer Handlung (vgl. Kap. 3.5.1), nicht erst in der Schrift über die Religion (AG V), die von der .intelligiblen Tat' spricht. — Vgl. dazu auch meine Anmerkungen (vor allem in Kap. 3.5.1) zur Struktur des , höchsten Guts' - dieser Begriff ist schon der KrV bekannt - und der .intelligiblen Tat': In beiden Fällen geht es - unter dem Aspekt des .Sittlich-Guten'; abgesehen von sonstigen Unterschieden - um die in sich gegliederte ,notwendige' Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit (Selbstliebe) unter dem Primat der Sittlichkeit. 94 D.h. sie würde „was blos zur Typik der Begriffe gehört ... zu den Begriffen selbst" (KpV V/70) zählen. — Es ist - mit S c h e 11 i n g zu reden - die Frage, ob ein Denken neben ,gegenständlichen' (als positiv oder negativ gesetzten) Positionen noch Platz für „Nicht-Seyendes" hat oder nicht. Ganz abgesehen vom anders gearteten Kontext kann eine Textstelle aus seiner Philosophie der Mythologie (PAM/I/288-294) die Sicht klären helfen für das Problem, .Subjekt' zu denken; und zwar von: „Wer könnte z.B. sagen, daß das bloße reine Subjekt des Seyns nicht das Seyende sey ..." bis: „ ... Hunger nach Seyn ...'..." [„'... Selig die arm sind dem Geiste (tö pneumati als Dativus attractions ...)."]. Auch eine andere Textstelle [aus seiner Philosophie der Offenbarung (fViO/I/124f)] kann — wiederum abgesehen von ihrem aktuellen Kontext, der Schellings Abgrenzung der „positiven Philosophie" von der Theosophie Jakob Böhmes bzw. dem Rationalismus Hegels betrifft —jene Art des Denkens andeuten, der allein .Autonomie' (und insofern auch .Subjekt') zugänglich sein kann: „Das Wissen nämlich, in welchem der Rationalismus sein Wesen hat, ist substantiell zu nennen inwiefern es allen Actus ausschließt. Dem [.theoretischen'; G.R.] Rationalismus kann nichts durch eine That, z.B. durch freie Schöpfung, entstehen, er kennt bloß wesentliche Verhältnisse. Alles folgt ihm ... bloß logischer Weise ... Die substantielle Bewegung, in welcher der Rationalismus befangen ist, geht von einem negativen Prius, d.h. von einem nichtseyenden aus, das sich erst ins Seyn zu bewegen hat;..." — — dies kann als Ausdruck jener, zum Denken des , Subjekts der Autonomie' unfähigen, gegenständlich-flxierenden, , linearen' Denkhaltung genommen werden, die keine Offenheit für ,Nicht-Seyendes' kennt. Was Schelling unmittelbar anschließend formuliert, wäre - wiederum ganz abgesehen vom aktuellen Kontext Schellings - auf .kreisendes' bzw. .sinnendes Denken' zu beziehen, dem allein .autonomes Subjekt' u.a. zugänglich ist [Jaspers spricht da von .erhellen', nicht von ,be-greifen' oder ,er-fassen' etc.]; weiters ist beachtenswert, daß Schelling hier von ,Gott' spricht, dem ja auch bei Kant jede .Nötigung' fern ist [.heiliger Wille'] —

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5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

immer sie sonst geartet sein mögen, kann konsequenterweise diese Ebene gegenseitiger Aufrechnung und Einschränkung verlassen. Es herrscht hier s t r u k t u r e l l e r logischer Mechanismus.95

5.2.1 Zur Frage des logischen Mechanismus bzw. des Utilitarismus (Die vier Beispiele der GMS) An dieser Stelle muß einem Einwand Raum gegeben werden, der sagt, genau das — nämlich Beurteilung der moralischen Qualität von Handlungsmaximen auf l o g i s c h - m e c h a n i s c h e Weise — habe Kant selbst vorgeschlagen bzw. auch selbst vorgeführt,96 unter anderem im Kontext der bekannten vier Beispiele in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS I V/421 ff). Die Auflösung dieser Bemerkung erfolgt nun schrittweise im Ausgang von den erwähnten Beispielen. „Man muß w o l l e n k ö n n e n , daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurtheilung97 derselben überhaupt. Einige Handlungen sind so beschaffen, daß „[... hat;] aber die geschichtliche Philosophie geht von einem positiven, d.h. von dem seyenden Prius aus, das sich nicht erst ins Seyn zu bewegen hat, also nur mit vollkommener Freiheit, ohne irgendwie durch sich selbst dazu genöthigt zu seyn, ein Seyn setzt,..." — — das Folgende, wiederum vom Kontext Schellings abgelöst und relativ auf das begrenzt-menschliche Subjekt der Autonomie hin gelesen, zeigt die .Verwirklichung' des moralischen Subjektes im Hingegebensein an Anderes [das meist als , Selbstverwirklichung' (miß-)verstandene Gegenteil dazu wäre .egozentrisch': die Richtung auf das eigene Ich; Selbstliebe] — „[... setzt,] und zwar nicht sein eignes unmittelbar, sondern ein von seinem Seyn verschiedenes Seyn, in welchem jenes ... nur mittelbar gesetzt ist. Es geziemt Gott, gleichgültig gegen sein eignes Seyn zu sein, nicht geziemt ihm aber, sich um sein eignes Seyn zu bemühen ... ". 95 Dominierender Fluchtpunkt dieser Perspektive sind Computerausdrucke, die - nach allen Regeln normenlogischer Kunst hergestellte - .Information' über - relativ auf die jeweiligen Programme (.frame-work'): .rationale' -Handlungs-,Entscheidungen' des möglichen .moralischen Agenten' bieten: ein ,zweck-rationales' .Service'. 96 Wenn auch .technisch' nicht perfekt; verschiedenste Vertreter analytischer Ethik (z.B. R. M. Hare) halten irrtümlicherweise ihre Versuche zur Frage der .Universalisierbarkeit' moralischer Urteile für eine Fortsetzung kantischer Tendenz mit anderen - nämlich logisch besseren - Mitteln. 97 Zur Frage moralischer Beurteilung vgl. Kap. 5.2.1.1.

5.2 Die Form bloßer Allgemeingültigkeit

245

ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz g e d a c h t werden kann; weit gefehlt, daß man noch w o l l e n könne, es s o l l t e ein solches werden. Bei ändern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde" (GMSI V/424). Die Beispiele: „1) ... Es fragt sich nur noch, ob dieses Princip der Selbstliebe98 ein allgemeines Naturgesetz werden könne. Da sieht man aber bald, daß eine Natur, deren Gesetz es wäre ... ihr selbst widersprechen und also nicht als Natur bestehen würde, mithin jene Maxime unmöglich als allgemeines Naturgesetz stattfinden könne und folglich dem obersten Princip aller Pflicht gänzlich widerstreite" (GMSIV/421f). „2)... Ich verwandle also die Zumuthung der Selbstliebe" in ein allgemeines Gesetz und richte die Frage so ein: wie es d a n n stehen würde, wenn meine Maxime ein allgemeines Gesetz würde. Da sehe ich nun sogleich, daß sie niemals als allgemeines Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern sich nothwendig widersprechen müsse. Denn die Allgemeinheit eines Gesetzes100 ... würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, daß ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung als eitles Vorgeben lachen würde" (GMS I V/422). „3) ... allein er kann unmöglich wollen, daß dieses101 ein allgemeines Naturgesetz werde ... Denn als ein vernünftiges Wesen will er nothwendig, daß alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind" (GMS I V/422f). „[4] ... unmöglich zu wollen, daß ein solches Princip102 als Naturgesetz allenthalben gelte. Denn ein Wille, der dieses beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche eräugnen können, wo er anderer Liebe und Theilnehmung bedarf, und wo er durch ein solches aus 98

D.i.: „wenn das Leben bei seiner langem Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen" (GMS IV/422). 99 D.i.: „wenn ich mich in Geldnoth zu sein glaube, so will ich Geld borgen und versprechen es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen" (GMS I V/422). 100 D.i.: „ ... daß jeder, nachdem er in Noth zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten ..." (GMS IV/422). 101 D.i.: „seine Maxime der Verwahrlosung seiner Naturgaben" (GMS IV/423). 102 D.i.: „was gehts mich an? ... ich werde ihm nichts entziehen ... nur zu seinem Wohlbefinden oder seinem Beistande in der Noth habe ich nicht Lust etwas beizutragen!" (GMS IV/423).

246

5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

seinem eigenen Willen entsprungenes Naturgesetz sich selbst alle Hoffnung des Beistandes, den er sich wünscht, rauben würde" (GMSlV/423).

Wenn Kant wenig später (GMS IV/425) sagt: „Wir haben so viel also wenigstens dargethan, daß, wenn Pflicht ein Begriff ist, der Bedeutung und wirkliche Gesetzgebung für unsere Handlungen enthalten soll, diese nur in kategorischen Imperativen, keinesweges aber in hypothetischen ausgedrückt werden könne", so mag dies als kühne Behauptung gewertet werden angesichts des utilitaristischen Anscheins der eben zitierten Begründungen.103 Jedoch: Apriorische Moraltheorie kann durch (empirische) Beispiele prinzipiell nicht gestützt104, nur ,illustriert' werden; ,theoretisch' dargebotene Beispiele105 können also, wenn sie glücken, das Verständnis der Theorie erleichtem,106 andernfalls erschweren; — mehr nicht. 103 philosophisch anspruchsloser - wenn auch mitunter intellektuell brillanter - Kantexegese sind diese Beispiele auch besonders lieb; sei es, um Kant .Widersprüche' nachzuweisen, oder um den als ungenügend empfundenen .Formalismus' Kants zu überwinden, oder um kantische Ethik und utilitaristische Positionen irgendwo in der Nähe von R.M. Hare zu .vereinigen'. — Den - zumindest im Kantischen Kontext grundsätzlichen Fehler aber, Beispiele überhaupt als Grundlage einer Moraltheorie anzunehmen, drückt Kant so aus: „Man könnte auch der Sittlichkeit nicht übler rathen, als wenn man sie von Beispielen entlehnen wollte. Denn jedes Beispiel, was mir davon vorgestellt wird, muß selbst zuvor nach Principien der Moralität beurtheilt werden" (GMS IV/408); — und an anderer Stelle (GMS IV/407) ist zu lesen: „In der That ist es schlechterdings unmöglich, durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen, da die Maxime einer sonst pflichtmäßigen Handlung lediglich auf moralischen Gründen und auf der Vorstellung seiner Pflicht beruht habe ... weil, wenn vom moralischen Werthe die Rede ist, es nicht auf die Handlungen ankommt, die man sieht, sondern auf jene innere Principien derselben, die man nicht sieht". — Im folgenden wird der hier zugrunde liegende Unterschied von .Pflicht' und .Pflichte«' nähere Beachtung finden (vgl. Kap. 5.2.1.2). 104 Daher auch nicht gestürzt; vgl. Anm. 103/Kap. 5. 105 Ein ,praktisches' Beispiel bietet jeder Mensch durch seine konkrete Lebensführung: in ihr , legt er Zeugnis ab'; vgl. dazu Kp V V/44: „ ... Maxime, nach der ich ein Zeugniß abzulegen gesonnen bin ... ". 106 Das Verständnis der Moraltheorie wird - im Sinne der Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft (KpV V/149ff) - durch die Vorstellung alles dessen erleichtert, was „den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüth, Einfluß auf die Maximen desselben verschaffen" (KpV V/151) kann. — Vgl. die zweite Stufe („Übung") der Methodenlehre (KpV V/160), „wodurch der Lehrling doch auf das Bewußtsein seiner Freiheit aufmerksam erhalten wird". Dies geschieht „in der lebendigen Darstellung der moralischen Gesinnung an Beispielen die Reinigkeit des Willens bemerklich zu machen, vorerst nur als negativer Vollkommenheit desselben, so fern in einer Handlung aus Pflicht gar keine Triebfedern der Neigungen als Bestimmungsgründe auf ihn einfließen". — ..Verstehen' - und

5.2 Die Form bloßer Allgemeingültigkeit

247

Zur Frage der ,Beispiele' wäre somit hier nichts weiter zu sagen, wenn nicht diese Frage selbst als Beispiel dienen könnte (bezogen auf die ,Typik der reinen praktischen Urteilskraft'); so ist es möglich, die — wie sich zeigen wird: gemeinsame — Auflösung des Utilitarismusproblems und des Einwandes logisch-mechanisch gegründeter, moralischer Beurteilung dadurch zu fördern, daß beide Probleme in den Begriffszusammenhang der Kantischen Philosophie gestellt werden. Kant schreibt (KpV V/69f): „Wie, wenn ein jeder, wo er seinen Vortheil zu schaffen glaubt, sich erlaubte, zu betrügen, oder befugt hielte, sich das Leben abzukürzen ... oder anderer Noth mit völliger Gleichgültigkeit ansähe, und du gehörtest mit zu einer solchen Ordnung der Dinge, würdest du darin wohl mit Einstimmung deines Willens sein? Nun weiß ein jeder wohl: daß, wenn er sich ingeheim Betrug erlaubt, darum eben nicht jedermann es auch thue, oder, wenn er unbemerkt lieblos ist, nicht sofort jedermann auch gegen ihn es sein würde; daher ist diese Vergleichung der Maxime seiner Handlungen mit einem allgemeinen Naturgesetze auch nicht der Bestimmungsgrund seines Willens. Aber das letztere ist doch ein T y p u s der Beurtheilung der ersteren nach sittlichen Principien. Wenn die Maxime der Handlung nicht so beschaffen ist, daß sie an der Form eines Naturgesetzes überhaupt die Probe hält, so ist sie sittlich unmöglich."

Indem so die „Typik" vor dem „Empirism der praktischen Vernunft" (KpV V/70) bewahrt, müßte sie dem Militarismus jeden Boden entziehen; allerdings s c h e i n t dies nur hinsichtlich der ,vollkommenen' (GMS IV/421) oder ,unnachlaßlichen Pflichten' (GMS IV/424), also auf die Beispiele „!)" und „2)" zuzutreffen.107 das gilt nicht nur für Kants Philosophie - bedeutet hier nicht unverbindliche, passiv-,historische' Informationsaufnahme aus der Distanz, auch nicht .vernetzende' Informationskombination, sondern rationale Selbst-Tätigkeit [im Sinne der schon öfter gebrauchten Formulierung von Karl Jaspers: ,Philosophieren aus dem Ursprung'; vgl. dazu auch KrV A 835f/B 863f: „ ... so ist alles Erkenntnis ... entweder historisch oder rational"; vgl. auch MSIRL, Vorrede, VI/207: „ ... es ist nur Ein -wahres System ... aus Principien möglich ... "]. Diese rationale Selbst-Tätigkeit bedeutet aber relativ auf praktische Vernunft die (Anstrengung der) Realisierung des Moralprinzips (d.i. praktisch-rationale Selbst-Tätigkeit): Die praktische Erkenntnis des Sittlich-Guten ist dessen Verwirklichung; das theoretische Miß-Verständnis glaubt, .zuerst' das ,Sittlich-Gute' als Objekt erkennen zu müssen, um es ,dann' - vielleicht: ,aus guten Gründen' - zu ,wählen', oder um sich ,dann' - .Zweck-rational' - für (oder gegen) ,es' [wie für (oder gegen) ein positiv gegebenes Objekt] entscheiden zu können. 107 Ygi QMS I V/421 n: Kant versteht „hier unter einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet"; vgl. dazu Kap. 5.2.1.2.

248

5 Zur Frage der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs

5.2.1.1 »Moralische Beurteilung' in »praktischer' und »theoretischer' Bedeutung (»Praktische Erkenntnis' und »moralisches Urteil') Hier ist auf die Bedeutung des Ausdrucks » m o r a l i s c h e B e u r t e i l u n g ' zu achten.108 — Die moralische Grundfrage drückt Kant so aus: „Was soll ich tun?"109 Sie geht nicht auf schon »Vorhandenes', sie ist ganz auf Verwirklichung, auf den Prozeß des »Wirklich-Machens' abgestimmt; sie fragt nicht nach moralischen Urteilen sondern nach moralischem Tun: »Wie soll ich handeln?' Das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft" antwortet in der Formulierung durch Kant: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer a l l g e m e i n e n G e s e t z g e b u n g gelten könne",110 und die „Regel der Urtheilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft ist diese: Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Theil wärest, geschehen sollte, sie du wohl als durch deinen Willen möglich ansehen könntest" (KpVV/69). Die Frage geht auf eine Handlung, „ d i e du v o r h a s t " , die erst zu tun ist. Sie ist,offen', denn sie fragt nach zu Gestaltendem, nach Werdendem; und indem sie fragt, konstituiert sie ,es' — durch die ihr zugehörige »Antwort des kategorischen Imperativs': sie konstituiert (in der »Geistes-Gegenwart') existierende Zukunft.111 108 ^yeji von

Aufgabe jeder Philosophie der Freiheit

- der praktischen Vernunft 144, 265 - der theoretischen Vernunft 274,224, 265 - der Vernunft 16,103,200 -»

VemwR-Philosophie

- des Subjekts 27,28 -, subjektive 27 -»

Monlphilosophie

philosophisch-systematisch 1,262 Platz, leerer 720,141f, 186,191 Plausibilitfits-Argument 9 Polemik l, 7,25, 73 polemisch 72,143,167,186f, 186f, 207

299

C. Sachen Postulat 3, 22,112,131,142f, 144,155f, 161,170,180f, 181-184, 183ff, 187f, 187f, 195,241, 258,265 praktisch | -moralisch 252,254,266 -» praktisch-moralische Betrachtung / Beurteilung / - Lebendigkeit // praktischmoralisches Bemühen II moralisch-praktisch

- -rational 217,247 —»

objektiv-praktisch/ technisch— // praktische Erkenntnis / - Freiheit / - Liebe / - Rationalittt / - Vernunft / - Vernunfterkenntnis / - Vemunftidee / konkret— Metaphysik // praktischer Imperativ / - Vemunftgebrauch // praktisches Erkenntnisvermögen / - Vernunft-Gesetz / - Gut / -Noumenon/ -Vernunftprinzip/ -Wissen

Praxis, moralische 209, 258f Primat | der praktischen Vernunft 27, 30, 38,133,135f, 144,154,180,188f, 195, 204,208, 229, 235, 269 - der spekulativen Vernunft 750,185, 189,198 - der theoretischen Vernunft 27,112, 228, 256 - des praktischen Vernunft-Gebrauchs 14, 202, 249 - des theoretischen Vernunft-Gebrauchs 188 Prinzip | der Autonomie 132,132 -, moralisches 750,169, 772, 757,190, 237, 241,256 —»

Moral-Prinzip

-, objektives 115f, 776, 148,156,175, 238 -, regulativ-subjektives 716 -, subjektiv-apriorisches 28, 48 -, subjektiv-objektiv-apriorisches 28 -, subjektiv-objektives 43 -, subjektiv-subjektiv-apriorisches 28, 28 -, subjektiv-subjektiv-objektiv-apriorisches 28 -, subjektiv-subjektiv-subjektiv-apriorisches 28 -, subjektives 727,148,156 -, subjektives transzendentales 54 —»

VenvmR-Prinzip

Prozeß 72, 770,174, 277, 219, 226, 262 - -Charakter 225 - der moralischen Läuterung 277, 275, 232

- des Wirklich-Machens 248 -, autonomer 262 -»

Erkenntnis-Proie/J / Verstehens— // Oenkprozeß l KUrungs-

Prüfung, moralische 249 pseudo-moralisch 17 Qualität 10, 70,14, 90,152, 253, 255 -, Kriterium der moralischen 164 -, logische 261 -, moralische 755,164,170,249, 255 -» Beurteilung der moralischen Qualität

-, theoretische 755 -, theoretische Erkenntnis der moralischen 249,249 -, vollkommene moralische 166 ->

moralische Vollkommenheit

Ratio 16.250.26P rational 3,6, 6, 9, 10, 16, 20, 33ff, 34, 47, 77, 52, 75P, 169,179,199, 204, 210, 218, 235,244, 247, 250 -» moralisch-rafiorni// praktisch—/ theoretisch—/ zweck— // rationale Rekonstruktion

Rationales 28,31-37,33 Rationalisierung 55 Rationalismus 5,7, 10,12,243 rationalistisch 7 Rationalität 2,3,4,6ff, 10,12,14,17, 19, 20, 56, 219, 235 - der Darstellung 194 ff - der praktischen Vernunft 112,141, 192,210,260,269 - des theoretischen Denkens 792 -, menschliche 6 -, moralische 4 -, praktische 39, 268, 269 -, theoretische 17f, 77,260 -, unmenschliche 6 -»

Form [en] der Rationalität/ Subjekt der praktischen - / Verstandes- - / Zweck- -

Raum, | leerer 3,25, 50, 79, UOf, 114, 120,124f, 128f, 130, 730,141,163, 178f, 186, 192, 194, 233, 250,268 - offener 50,192, 194, 795,196 Realisierung | der Freiheit 27P, 235 - der praktischen Vernunft 770 - des Moralgesetzes 189,254 - des Moralprinzips 247

300

Register

- des Sittlich-Guten 169,182,184,196 -, moralische 43,208 -»

Grenze [n] praktischer Realisierung/ Materie moralischer-/ Subjekt der -

Realität | der Freiheit 167 -»

Wirklichkeit der Freiheit

- der moralischen Sphäre 129 - des Freiheitsbegriffs 21, 24,196, 7 < - des Moralgesetzes 742, 707,180f, 181, 187, 195, /PS - des moralischen Gesetzes 146, 204f -, menschliche 39, 235 -, moralisch-religiöse 229, 234 -, moralische 48,163,179,221, 233 -.objektive -> Realität, objektive

-, subjektive 133 -, übersinnliche 92, 176 ->

Form empirischer Realität! - der praktischen Vernunft // Wirklichkeit

Realität, objektive 50, 97, 99, 99, 122,

-, -, -, -, —>

125,137,177 des Moralgesetzes 137,142,146, 204f des praktischen Vernunftgebrauchs 133 einer reinen praktischen Vernunft 132 eines reinen Willens 132 empuisch-objektive Realität

Recht, moralisches 11, 219,232 Rekonstruktion, rationale l, 210,228 Rezeption, historische l Rezeptivität | des Subjekts 62 -, sinnliche 65 Richtschnur 125,174, 188,188 Satz-Gegenstand 243 Scharfsinn 80,147 scharfsinnig 1,230,239 Scharfsinnigkeit 96 Schein, sinnlicher 221 Schema 72,118, 121 f, 121f, 127,133, 236, 238, 239, 240, 258 - der bloßen Form der Gesetzmäßigkeit 265 - der Idee 50,111,120,120,127,127f, 140,156,182,184 -»

transzendentaler Gegenstand als Schema der Idee

- der Ideeneinheit 130 - der Sinnlichkeit 102,117f, 122 - der Vemunfteinheit 123,127 -»

Vemunfteinheit als Schema

- des Moralgesetzes 121, 140,141

-

des regulativen Prinzips 122,125 des Verstandesbegriffs 72 eines Gesetzes 747,240,258 von dem Begriffe eines Dinges überhaupt 122 Schema [im Sinne von .Übersicht'] 27, 30, 32, 32, 35, 37, 39,41, 41, 49, 54, 192,192,194ff, 195f - der moralischen Handlung 40,42, 43, 146, 221 - der Vernunft 3,26,35,38,41,48, 58, 73, 90,116,118f, 121,177 - des Dinges an sich 48,191 - ,Ding an sich-Erscheinung' 84,196 -»

Schema reiner Form[en]

schematisch 88,192,192 - -abstrakt 60 schematisiert 255 Schematismus 68, 72,74, 76 Schwärmerei, moralische 25,167 Selbst | -Achtung, persönliche 212, 267 - -Befreiung 211 -

-Begrenzung -»Selbstbegremung

- -Beobachtung, psychologische 148, 150,163 - -Bestimmung 261 -

-Bewußtsein

-»Selbstbewußtsein

- -Erkenntnis 188,191,2Q\,202f,2Q%, 208, 219,262f - -Gesetzgebung 36,39,214,261 -»

autonome Gesetzgebung l Moral—

- -Geständnis 263 -

-Liebe -»Selbstliebe

- -Mord 222, 222, 255 - -Schätzung 773,263 - -Tätigkeit 28,81,214,247,251,254, 266, 266 - -Tätigsein 142,254 - -Überheblichkeit 757 - -Vergewisserung 255 - -Vergottung 262 -

-Verständnis -» Selbstverstandms

-

-Verwirklichung -»Selbstverwirklichung

301

C. Sachen -, denkendes 82 -, menschliches 5 -, moralisches 134,216 -, unsichtbares 131 Selbstbegrenzung | der Vernunft 39 - des Verstandes 103 Selbstbewußtsein 81, 81f, 85,141, 202 - des Subjekts 28 Selbstliebe 136,150,152,159,159f, 168,168f, 171,172, 190, 200,204, 205f, 216, 221, 230, 241, 243f, 245, 249, 255, 257 -, analytische Form der 163 -»

Zumutung der Selbstliebe II Form der Selbstft

Aufgabe moralischer (Selbst-Verwirklichung

Sinnliches 75,21 f, 26, 33, 33, 35, 38, 35, 50, 757, 222, 236 Sinnlichkeit 75,29, 30,37/, 32f, 37/, 38, 40, 41,47, 52, 53, 57/, 60f, 63, 65, 65, 67,69,71 f, 74f, 74, 76, 79f, 57/, 83, 85f, 56/, 90, 91, 92, 93, 94f, 98f, 99,102, 702, 705,107f, 108, 777, 773, 116ff, 720-723, 725, 128, 129f, 740, 754, 156, 757, 762,199, 239, 242f, 253, 259 -, apriorische 33, 34,66, 70 -, begrifilose 49 -, bloße 53/, 66, 68, 65-73, 73, 76ff, 83f, 91, 94, 113, 775, 725^, 7P2 -, isolierte 49, 68f, 70, 75, 83,91, 92, 109, 702 -, reine 34, 36, 52, 62f, 62, 87, 91 -, rezeptive 36, 67 -, transzendentale 35 ->

Einschränkung der Sinnlichkeit l ... Form[en] der / [äußere/innere] Grenze[n] der - / Sphäre der // Ding an sich l Sinnlichkeit

- [technisch-praktische] 179,216,244 Sinn, | äußerer 29, 29,57f, 61, 63, 66 - innerer 29, 57, 59, 61, 66, 76 Sinnengegenstand 57 Sinnenwelt 33, 50, 54f, 69, 74, 74, 79, 79, 83f, 92, 92ff, 94, 98, 99,100, 705/, 109, 772, 114, 774,123f, 124f, 128,128f, 136f, 737,140f, 144% 145f, 150, 755, 757, 765, 167, 770, 171 f, 176, 757,183, 190, 7PO, 194, 202, 238, 241, 249, 258, 264

Sinnlichkeit / bloße Materie 74, 80 Sinnlichkeit /Noumenon 80 Sinnlichkeitsbedingung 32,34 Sittlich-Gutes 757, 155, 755, 157, 755, 159, 767-764, 162, 165f, 765^, 169, 172, 774, 179, 194, 243, 247, 24P, 265



-

Form der Sinnenwelt/ Einschränkung der -/ [innere] Grenze der - / [Ein-] Wirkung des Moralgesetzes auf die -

Sinnenwesen 62, 94, 139, 777 sinnlich 30,40f, 55, 59, 60, 67/, 64f, 72, 75, 75, 77, 79, 80, 81 f, 84f, 55, 94, 96, 96, 98f, 102, 702, 705, 777, 720, 137f, 146,147, 148, 755, 755, 159, 760/, 765, 166ff, 766, 765, 770, 171f, 775, 777, 180, 750, 273, 237, 239 - -affizierbar 777,200,207,205 - -affiziert 76P/ - -bedingt 736, 765 - -pathologisch 772 - -unbedingt 736, 139, 765 —»

sinnlich Faßbares / -Gegebenes/ -(gegebenes) Mannigfaltiges // sinnliche Anschauung/ -Begierde/ - Einheit des Mannigfaltigen / -Empfänglichkeit/ -Materie/ -Natur/ - Rezeptivitat // sinnlicher Schein II sinnliches VemunA-Wesen



Realisierung des Sittlich-Guten l Verwirklichung des- // Gutes

bzw. Sittlich-Böses 40, 149 -»

Gutes und/oder/bzw. Böses

soll/kann 173,234 soll/sein 737 soll/will 25,90,274,245,248,245, 267, 264, 264 Sollen 765,775,261 -, kategorisches 746 -, moralisches 755, 765,264 Sollen/Können 757, 230/, 252 -»

Wollentonnen

Sollen/Sein 765 Sollen/Wollen 755,765,264 Sphäre 3, 5, 74,48, 79, 87, 93, 98, 109, 205, 274, 277, 226f, 237, 233, 237, 259, 262, 262,269 - der Autonomie 12,243 - der Sinnlichkeit 67,91,07

302

Register

- des Verstandes 67,10,90 -, ästhetische 221 -, autonome 237 -, magische 254 -.moralisch-religiöse 774,231 -, moralische 129, 221, 222f, 231, 252, 263 -»

Realität der moralischen Sphäre

-, religiöse 48, 211f, 223 Spontaneität, moralische 253 Sprach-Gegenstand 219 Statisch-Objektiviertes 262 Struktur [en], | autonome 12 - autonome, der theoretischen Vernunft 214,214 - autonome, freier Gemeinschaft 263 - moralische 7,216,226

-, transzendentales 82,86f -, unmenschliches 39 -, wahrnehmendes 77 -» Erkenntnis-Sub/ofcf / Mensch als- // Einheit des Subjekts l Philosophie des - / Rezeptivitat des - / Selbst-Bewußtsein des -

subjekt-bezogen 133 Subjekt-Objekt-Beziehung 60 Subjekt-Objekt-Spaltung 213,232 subjektiv 13, 20, 25, 28, 33, 43, 50, 54, 58f, 63, 67, 117, 777,120,125,127f, 134,138,148,150,153,156,166ff, 173, 775, 757, 196, 205f, 210, 221, 251,257,252 - -apriori 770,775,181,754,195 - -apriorisch 116,127,156,176,182, 197,255 -» subjektiv-apriorische Einheit/ -Geltung/ -Gültigkeit/ -Objektivität // subjektjv-[..-}apriorisches Prinzip

-» Struktur der praktischen Vernunft/ -der Subjektivität/ - der theoretischen Vernunft / Vernunft--

Studienobjekt 223 Subjekt 2, 75,17,17, 27f, 39, 50,59, 62, 64, 75, 81,115,119,130,148,154, 156,156,179,187, 202, 243, 262 - alsNoumenon 775 - der Autonomie 243, 243f - der Freiheit 132,138,175 - derMoralität 253 - der praktischen Rationalitat 268, 2