Kants »Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft«: Ein Kritischer Kommentar 3787315578

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Kants »Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft«: Ein Kritischer Kommentar
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KANT-FORSCHUNGEN Herausgegeben von Reinhard Brandt und Werner Stark

Band 13

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

KONSTANTIN POLLOK

Kants »Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft« Ein Kritischer Kommentar

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

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Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Pollok, Konstantin: Kants »Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft>So verdient der Vf. sich durch die Kritik der reinen und praktischen Vernunft um die Metaphysik und Moral gemacht hat: so gross ist das Verdienst, das er sich durch diese Schrift (... ] um die Physik und Mechanik erworben. Schwerlich konnten die Physiker hoffen, die allgemeinen Principien, die der theoretischen Physik zum Grunde liegen, und die sie blass postuliren mussten, jemals a priori demonstrirt zu sehen. Aber was darf derjenige nicht von unserm Vf. erwarten, der den Sinn und Zusammenhang seines Systems durchsieht? Rec. möchte beynahe sagen, dass dieses Werk selbst die Kritik des Vf. an Tiefsinn noch übertrift, und blass hieraus erklärt er sich das Stillschweigen, das [... ] bis jetzt noch darüber herrscht. Jetzt lassen wir's schon einmalSince the divisions of metaphysics were still seen as stemming from the nature of what exists rather than from >the essential nature of the thinking faculty itself< (MFNS, 4 72)- metaphysical ,foundations< of natural and practical philosophy had to precede the philosophical analysis and, by providing cases in concreto, vouchsafe the correctness of its methodological procedure. This became superfluous precisely with Kant's critical turn.« (E. Förster 1987, 539) Förster weist auch darauf hin, daß die MAdN nicht mit der 1781 angekündigten »Metaphysik der Natur« (KrVA XXI) gemeint sein können. Dies erhellt daraus, daß Kant 1787 in der B-Auflage vom nach wie vor unausgeführten Plan, eine >>Metaphysik der Natur« (KrV BXLIII) zu liefern, spricht (vgl. E. Förster 1987, 538). Diese Umstände bringen Förster zu dem Schluß: »The MFNS of 1786 arrived unannounced and unexpected- out of the blue, so to speak.Ich habe in dieser Abhandlung die mathematische Methode, wenn gleich nicht mit aller Strenge befolgt [... ], dennoch nachgeahmt [... ]. « (478zt ff.) Plaaß' Zuordnung der Vorredenfunktion zu einzelnen Absätzen scheitert jedoch völlig, wenn Bemerkungen, die die MAdN in einen größeren, textexternen Zusammenhang stellen, sich auch in anderen Absätzen finden. So ist der 11. Absatz, auf den rein äußerlich sich auch das »a ber« im Eingangssatz des 12. bezieht, eine Beschreibung des systematischen Zusammenhangs metaphysischer und mathematischphysischer Prinzipien, vor deren Hintergrund die Methodenreflexion des 12., 13. und 16. Absatzes erst verständlich ist. Die Bestimmung der Begriffe der Natur und der Wissenschaft in den ersten sieben Absätzen beispielsweise kann als Bedingung des Titelverständnisses nicht einfach zur >Einleitung< gezählt werden. Die aus der Methodenlehre der KrV (vgl. A 713) bekannte Differenz zwischen philosophischer Erkenntnis aus bloßen Begriffen und mathematischer aus der Konstruktion der Begriffe in Absatz 5 leitet hingegen zweifellos ein in die konkrete Argumentation der MAdN, deren erstes Hauptstück auf diesen Gedanken zurückgreift und ihn anwendet (vgl. 48636-48710).

6

Einleitung

gungen. Anknüpfend an Abs. 7 und dessen am Ende von Abs. 5 schon vorbereitete Erläuterung der Funktion der Mathematik für die Naturwissenschaft werden in den Abs. 8 und 9 Chemie und empirische Psychologieaufgrund ihrer unmöglichen Mathematisierung aus dem Kreis möglicher Naturwissenschaften ausgeschieden. Abs. 10 bestimmt die metaphysischen Bedingungen zur Anwendung der Mathematik auf Gegenstände der äußeren Sinne und damit das Programm der MAdN. In Abs. 11 rechtfertigt Kaut die >Einmischung< der Metaphysik in Fragen der Naturwissenschaft, um in den Abs. 12, 13 und 16 die von der reinen Mathematik, der empirischen Physik und der allgemeinen Metaphysik abgesonderte Behandlung der >> Metaphysischen Anfangsgründe der NaturwissenschaftHauptstrangs>Unter die vier Klassen derselben [sc. Tafel der Kategorien], die der Größe, der Qualität, der Relation, und endlich der Modalität, müssen sich auch alle Bestimmungen des allgemeinen Begriffs einer Materie überhaupt, mithin auch alles, was a priori von ihr gedacht, was in der mathematischen Konstruktion dargestellt, oder in der Erfahrung, als bestimmter Gegenstand derselben, gegeben werden mag, bringen lassen.>Über diese Tafel der Kategorien lassen sich artige Betrachtungen anstellen, die vielleicht erhebliche Folgen in Ansehung der wissenschaftlichen Form aller Vernunfterkenntnisse haben könnten. Denn daß diese Tafel im theoretischen Theile der Philosophie ungemein dienlich, ja unentbehrlich sei, den 58 Ich unterstelle hiermit, daß sich Kants naturphilosophische Position in der zweiten Hälfte der 80er Jahre nicht fundamental verändert hat. Abgesehen davon werden jedoch ohnehin Äußerungen Kants von nach 1786 nur gelegentlich angefiihrt.

Einleitung

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Plan zum Ganzen einer Wissenschaft, so fern sie auf Begriffen a priori beruht, vollständig zu entwerfen und sie systematisch59 nach bestimmten Principien abzutheilen: erhellt schon von selbst daraus, daß gedachte Tafel alle Elementarbegriffe des Verstandes vollständig, ja selbst die Form eines Systems derselben im menschlichen Verstande enthält, folglich auf alle Momente einer vorhabenden speculativen Wissenschaft, ja sogar ihre Ordnung Anweisung giebt, wie ich denn auch davon anderwärts '' eine Probe gegeben habe.« ->Anderwärts< sind die »Metaphys. Anfangsgr. der N aturwissensch.Sätze aus der allgemeinen Metaphysik< die Analogien der Erfahrung zitiert.60

Im Original heißt es hier >>mathematisch«. J. Vuillemin 1955, 29, P. Plaaß 1965, 73f., L. Schäfer 1966, 24, R. Butts 1986, 169-179, G. Buchdahl 1986, 133. Auch nach M. Friedman verschaffen die MAdN den transzendentalen Grundsätzen Sinn und Bedeutung (vgl. M. Friedman 1992[b], 167f.). Doch weicht Friedman mit seiner Interpretation der MAdN und damit auch deren Zusammenhang mit der KrV wesentlich von den vorgenannten Autoren ab (vgl. dazu unten Anm. 770). E. Watkins beschreibt den von ihm nicht geteilten »Standard view« folgendermaßen: »Fi rst, the transeendental principles [... ] that are applied to matter in order to obtain a special metaphysics of nature are the first Critique's Principles of Pure Understanding. [... ] Second, when Kant says that transeendental principles are applied to matter, the standard view interprets this to mean that the term >matterJene transzendentale Prinzipien< beziehen sich damit allgemein auf den »transzendentale[n] Teil der Metaphysik der Natur« (46937-4701), in dem Anschauungen und Begriffe hinsichtlich ihrer apriorischen Implikationen untersucht werden, und zwar geltungstheoretisch noch unabhängig von einer Aufteilung in inneren und äußeren Sinn. Diese Trennung findet sozusagen erst an der pforte zu den MAdN, deren Vorrede nämlich, statt. 61 Daß die Phoronomie auch tatsächlich von der Empirizität abstrahiert, d. h. diese prinzipiell voraussetzt, wird durch Kants dortige Redeweise vom >empirischenmateriellen< oder >beweglichen Raum< (vgl. Anmerkung 2 zu Erklärung 1) bestätigt. Thematisiert wird der empirische Raum in der Phoronomie also nur in Absetzung vom absoluten Raum, der als unbeweglich vorgestellt wird. Materialität und Absolutheit der Räume sollen hier vorgestellt werden, um die Relativität der Bewegung als solche vorstellen zu können. Abstrahiert werden muß aber schließlich von der Materialität, weil sonst die in Lehrsatz 1 durchgeführte Konstruktion der Bewegung, d. h. deren Darstellung in der reinen Anschauung, unmöglich wäre. Der phoronomischen Vorstellung genügen Punktverschiebungen in geometrischen Bezugsystemen. Klärende Hinweise auf diese vor-dynamische Einführung des Empirischen verdanke ich M. Friedman.

Einleitung

31

der Theorie relevant - kommentiert werden. Ersteres führt, wie gezeigt, zu willkürlichen Zäsuren im Gedankenablauf, insofern Argumentationszusammenhänge bisweilen einen Beweis, mehrere Zusätze und Anmerkungen enthalten. Letzteres macht die Form eines Kommentars als sukzessive Werkanalyse überhaupt unmöglich, deren Zweck es ist, werkspezifische Argumentationsstrategien nachzuvollziehen, um auf diese Weise der Karrtischen Auffassung von Naturphilosophie als Begründung von Naturwissenschaft so nahe wie möglich zu kommen. Es legt sich daher nahe, die Erklärungen und die Lehrsätze als Wegmarken des Kommentars zu nutzen. Bei der Vorrede entspricht mangels einer äußerlich vorgegebenen Organisation ein Absatz einer Schrittlänge, wodurch auch die oben dargestellte innere Organisation eingesehen werden kann. Um eine leichtere Orientierung in Kants Schrift und auch im Kommentar zu ermöglichen, ist der Kommentierung eine thesenartige Kurzzusammenfassung der Vorrede und eines jeden Hauptstücks (Synoptische Inhaltsangabe des Werks) vorangestellt. Dies kann jedoch nicht Überprüfung am Karrtischen Text durch den Leser ersetzen. Das bedeutet: der Kommentar versteht sich nicht als möglicherweise auch isoliert zu lesende Auslegung der MAdN. Vielmehr mußertrotz vieler Zitate aus den MAdN ohne die begleitende Lektüre des Bezugwerks unverständlich bleiben. Da nämlich eine durchgängige Zitation den Umfang des Kommentars gesprengt hätte, wird zum Beleg von Aussagen in der Regellediglich eine Seiten- und Zeilenangabe angeführt. Dabei beziehe ich mich - nolens volens - auf die Textedition A. Höflers in Kant's gesammelte[n] Schriften, herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. IV, S. 465-565, Berlin 1903 bzw. 1911.62 Um die Darlegung der Kantischen Argumentation nicht zu belasten, findet die Diskussion der Sekundärliteratur und das Verweisen auf weiterführende Literatur im Fußnotenapparat statt, d. h. im Haupttext befinden sich lediglich Textexegese, Quellenverweise sowie inhaltliche Kritik vom Standpunkt der Karrtischen Kritischen Philosophie selbst aus betrachtet. Solche Kritik wird in aller Regel in einer Passage geübt, die durch einen Gedankenstrich(-) von der Textexplikation getrennt ist und sich am Ende eines Gedankenganges befindet.

62 Vgl. K. Pollok 2000 zu den Schwierigkeiten, die mit diesem Band der Akademie-Ausgabe und insbesondere mit der darin enthaltenen Edition der MAdN durch A. Höfler verbunden sind.

2 SYNOPTISCHE INHALTSANGABE DES WERKES

Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft VORREDE

Absatz 1

Begriff der Natur (formale und materielle Bedeutung)

Absatz 2

Einteilung der Naturlehre in historische Naturlehre und (eigentliche oder uneigentliche) Naturwissenschaft

Absatz 3

Eigentliche Wissenschaft besitzt apodiktische Gewißheit; als rationale Wissenschaft ist sie System von (apriorischen) Gründen und Folgen

Absatz 4

Rationale Naturwissenschaft bedarf apriorischer Naturgesetze; Naturwissenschaft erhält Wissenschaftlichkeit (gesetzl. Notwendigkeit) durch reinen Teil

Absatz 5

Reine und empirische Prinzipien der eigentlichen Naturwissenschaft müssen getrennt werden; reine Vernunfterkenntnis ist philosophisch (begrifflich) oder mathematisch (anschaulich)

Absatz 6

Eigentliche Naturwissenschaft setzt Metaphysik der Natur voraus, weil sie sich gesetzmäßig auf Dasein der Dinge bezieht; Dasein ist nicht konstruierbar; Metaphysik der Natur befaßt sich mit Erfahrung überhaupt oder mit materieller (und seelischer) Erfahrung; dieser Differenz entspricht transzendentaler und besonderer Teil der Metaphysik der Natur

Absatz 7

Besondere Naturlehre bedarf zur Wissenschaft der Mathematik, weil Möglichkeit der Naturdinge nicht a priori aus Begriffen, sondern nur in anschaulicher Konstruktion erkannt werden kann

Absatz 8

Chemie (spez. Verschiedenheit der Materien und deren Dichten etc.) ist keine eigentliche Wissenschaft, weil nicht mathematisierbar

Absatz 9

Psychologie (empir. Seelenlehre) ist weder Wissenschaft noch Experimentallehre, weil nicht mathematisierbar und weil nicht objektiver Experimente fähig

Absatz 10

Naturwissenschaft (Körperlehre) bedarf Prinzipien der (mathematischen) Konstruktion der materiekonstitutiven Begriffe; Materiebegriff muß dazu analysiert werden

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Synoptische Inhaltsangabe

Absatz 11

Metaphysik ist weder willkürliche Begriffsdichtung noch aus der Empirie abstrahiert, sondern enthält die erfahrungskonstitutiven Begriffe und Grundsätze a priori; mathematische Naturphilosophen haben diese Prinzipien implizit vorausgesetzt

Absatz 12

Ungleichartige Prinzipien müssen _voneinander getrennt werden; von der physica generalis (metaphys. und mathem.) muß die physica rationalis (Metaphysik der Natur; MAdN) gesondert dargestellt werden

Absatz 13

Diese methodische Trennung hat mögliche Vollständigkeit (die nur . in der Metaphysik möglich ist) der metaphysischen Körperlehre zur Folge

Absatz 14

Vollständigkeit wird in jedem metaphysischen System der Natur also auch in dem der körperlichen Natur- durch die Kategorien garantiert; allg. Materiebegriff ist dadurch vollständig erfaßbar Verteidigung der Kategorien-Deduktion gegen Rezensenten von Ulrichs »Institutiones Zug= Gegenzug, Druck = Gegendruck (dynamisch); Anmerkung 1 Actio = Reactio erklärt Bewegungsmitteilung besser als vis inertiae oder Transfusion; mechanische Kraftäußerungen gründen in ursprünglich-dynamischen Kräften Anmerkung 2 Trägheitskraft ist kein naturwissenschaftlicher Begriff; Trägheit kann einer Bewegung nicht widerstehen, nur wiederum Bewegung; Gesetz der Selbständigkeit (Substanz), der Trägheit (Kausalität) und Gegenwirkung (Gemeinschaft) der Materien als Anwendung der Kategorien auf Materie

Zusatz 2

Allgemeine Anmerkung zur Mechanik Bewegungsmitteilung nur aufgrund wesentlicher Kräfte; Wirkung in einem Augenblick heißt Sollizitation; zunehmende Geschwindigkeit durch Sollizitation heißt Moment der Akzeleration; absolut-harte Körper unmöglich => Iex continui mechanica: nur kontinuierliche Retardation und Akzeleration

VIERTES HAUPTSTÜCK

Metaphysische Anfangsgründe der Phänomenologie

Erklärung Anmerkung

Materie ist Bewegliches als Gegenstand möglicher Erfahrung Bewegung nur a posteriori; muß als Erscheinung noch objektiviert, d. h. modal bestimmt werden, um Erfahrung zu werden; Modalität der Bestimmung der Materie durch Bewegung

Lehrsatz 1

Geradlinige Bewegung einer Materie bloß möglich, stets relativ zum Raum; absolute Bewegung unmöglich Zuordnung der Bewegung dem Körper oder dem Raum, ist objektunabhängig, subjektiv; nicht disjunktive (ausschließliche), sondern alternative (einschließliche) Wahl; absolute Bewegung kein Gegenstand möglicher Erfahrung Lehrsatz bestimmt phoronomische Bewegungsmodalität

Beweis

Anmerkung

Lehrsatz 2 Beweis

Anmerkung

Kreisbewegung einer Materie ist wirkliches Prädikat; Gegenbewegung des Raums ist bloßer Schein Kreisbewegung geht auf Realität zurück: bewegende Kraft => kontinuierliche Entstehung von Bewegung; Kreisbewegung des Raums ist unmögliche Erfahrung, bloßer Schein Lehrsatz bestimmt dynamische Bewegungsmodalität; Kreisbewegung beweist ursprüngliche Bewegkräfte der Materie; Konsequenz

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Synoptische Inhaltsangabe

des (Newtonischen) absoluten Raums ist noch zu lösendes Paradoxon

Lehrsatz 3 Beweis Anmerkung

Jeder bewegenden Bewegung entspricht notwendig eine gegengleiche Bewegung Wirklichkeit der Gegenbewegung nicht aufgrund äußerer Kräfte, sondern aufgrund des Begriffs der Relation Lehrsatz bestimmt mechanische Bewegungsmodalität; drei Lehrsätze entsprechen den Modalkategorien

Allgemeine Anmerkung zur Phänomenologie Drei Begriffe der Bewegung setzen Begriff des absoluten Raums voraus: Bewegung im beweglichen Raum, im unbeweglichen Raum und relative Bewegung überhaupt; absoluter Raum kein Gegenstand möglicher Erfahrung, notwendiger Vernunftbegriff, bloße Idee, um empirischen Raum beweglich zu denken (Bezugsystem); alle Bewegung und Ruhe ist relativ; im relativen Raum läßt sich Bewegung nicht bestimmen ohne Bezug auf absoluten Raum; den drei Modalitäten entsprechen alternatives, disjunktives und distributives Urteil; Kreisbewegung ist nicht absolute i.Ggs. zur relativen, sondern wahre Bewegung i.Ggs. zum Schein; leerer Raum = ab~oluter Raum (Phoronomie); leerer Raum = unerfüllt (Dynamik); leerer Raum =(hypothet., dynamisch unnötige) Bewegungsermöglichung (Mechanik); Leeres ist Unbegreifliches der metaphys. Körperlehre; erste Gründe sind als unbedingt immer unbegreiflich :=:} Aufforderung zu Vernunftkritik

3 TEXTKOMMENTAR

Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft

VORREDE

Absatz 1 Kant bestimmt in diesem ersten Absatz den Begriff der Natur als Klassi- 4672_17 fikationskriterium für die folgenden »Anfangsgründeformal< und ,formell< bzw. >material< und >materiell< ist in Kants Werk nicht festzustellen. Die Varianten werden synonym verwandt. Unter Natur in formaler Bedeutung sind diejenigen Gesetze zu verstehen, die die Existenz verschiedener sinnlicher Gegenstände bestimmen. Diese verschiedenen Gesetze ergeben »spezifisch verschiedene Dinge«, beispielsweise Luft, Öl oder Gold. Aufgrund dieser Spezifik ist hier also nicht die Rede vom Dasein eines Einzeldinges, sondern einer bestimmten Art von Dingen, d. h. von einem Begriff von Gesetzmäßigkeit, unter den diese Dinge fallen. Die Spezifikation der Dinge geschieht über verschiedene klassenbildende Gesetzmäßigkeiten, >>innere Prinzipien«. Der Pleonasmus »erstes [... ) Prinzip« erklärt sich als Betonung des dazwischen liegenden >>inneren« im Gegensatz zu äußeren Prinzipien, z. B. den mechanischen

63 Vgl. KrV A216 und 418 Anm., Proleg. IV 294-297, 318, GMS IV 421, 437. In dem Kompendium, das Kant bei Abfassung der MAdN seiner Physik-Vorlesung zugrunde gelegt hat, schreibt der Autor W.J. G. Karsten: »Die Natur einer Sache besteher nemlich in dem Inbegriff derjenigen Eigenschaften dieser Sache worin alles übrige, was derselben sonst noch zukommen kann, entweder ganz oder zum Theil gegründet ist. Oft aber brauchen wir das Wort Natur im besondern Sinn, und verstehen alsdenn die Natur der Körperwelt, den Inbegriff aller der Eigenschaften der Körper und ihrer Bestandtheile, worin alles übrige gegründet ist, was in der Körperwelt vorgehet. [... ] Zuweilen verstehen wir die Körperwelt selbst, wenn von Natur die Rede ist: in dem Sinne wird das Wort gebraucht, wenn man sagt, diese oder jene Sache sey in der Natur vorhanden, oder nicht in der Natur anzutreffen. In eben dem Sinne redet man von verschiedenen Reichen der Natur, vom Thierreich, vom Pflanzenreich, und vom Mineralreich; man verstehet alsdenn die Hauptelassen aller in der Welt wirklich vorhandenen Körper und materieller Stoffe. >[ ... ] versteht[ ... ] unter Natur, substantive (materialiter), den Inbegriff der Erscheinungen,-sofern diese vermöge eines inneren Prinzips der Kausalität durchgängig zusammenhängen. [... W]enn man von den Dingen der Natur redet, so hat man ein bestehendes Ganzes in Gedanken.« (KrV A418) Die (formal natur- bzw.)verstandesgesetzlich geordneten Gegenstände möglicher Erfahrung des Äußeren und des Inneren machen also den materialen Naturbegriff aus. Nach dem Dualismus von ausgedehnter und denkender Natur ergeben sich zwei mögliche Naturwissenschaften, nämlich die Wissenschaft von den Gegenständen des inneren Sinnes, eine Seelenlehre also, und die Wissenschaft von den Gegenständen der äußeren Sinne, die Körper lehre. Kant kann diese Identifikation von innerem Sinn und Seelenlehre, sowie äußeren Sinnen und Körperlehre in den MAdN ohne weitere Erklärung einführen, da sie hier nicht zum ersten Mal entwickelt wird, sondern zurückgreift auf eine mit der abendländischen Philosophiegeschichte extensional identische Begriffsgeschichte des Körpers und der Seele.76 Den Status, den diese Begriffe in seinem kritischen Werk haben, hat Kant im Rahmen der Systematisierung philosophischer Disziplinen in der Architektonik der KrV bestimmt: Den hier einschlägigen Teil der Metaphysik, der sich mit der Natur in materialer Bedeutung, d. h. mit Gegenständen möglicher innerer, oder davon unterschieden möglicher äußerer Erfahrung, beschäftigt, bezeichnet Kant als Physiologie: >>Die immanente Physiologie betrachtet[ ... ] Natur als den Inbegriff aller Gegenstände der Sinne, mithin so wie sie uns gegeben ist, aber nur nach Bedingungen a priori, unter denen sie uns überhaupt gegeben werden kann. Es sind aber nur zweierlei Gegenstände der76 Wesentlich für Kant ist natürlich die neuzeitliche Tradition dieses Dualismus, die prominenterweise mit Descartes beginnt (vgl. Meditationes de Prima Philosophia VI §§ 11-14, 19f.).

Vorrede · Absatz 1

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selben: 1. Die der äußeren Sinne, mithin der Inbegriff derselben, die körperliche Natur. 2. Der Gegenstand des inneren Sinnes, die Seele, und nach den Grundbegriffen derselben überhaupt die denkende Natur. Die Metaphysik der körperlichen Natur heißt Physik, aber, weil sie nur die Principien ihrer Erkenntniß a priori enthalten soll, rationale Physik. Die Metaphysik der denkenden Natur heißt Psychologie, und aus der eben angeführten Ursache ist hier nur die rationale Erkenntniß derselben zu verstehen.« (KrV A 846) Vorgreifend auf das in den folgenden Absätzen der MAdN Ausgeführte läßt sich hier bereits anführen, daß die MAdN innerhalb des Systems der Wissenschaften die Stelle der rationalen Physik besetzen, wohingegen die rationale Psychologie keine mögliche Wissenschaft ist, wofür die KrV explizite, die MAdN implizite Gründe anführen.77 Die architektonische Anweisung gilt somit lediglich hypothetisch, doch wird noch zu begründen sein, aus welchem Grund die rationale Naturlehre in der rationalen Physik aufgeht und nach der Intention der Vorrede umfangs- und inhaltsidentisch ist mit den MAdN. Bis zur Zeit seiner kritischen Philosophie hielt auch Kant eine rationale Erkenntnis der Seele für möglich. Dies hängt mit seiner Auffassung von Erkenntnis überhaupt zusammen, insofern er bis dahin den empirischen Teil einer Wissenschaft für subjektive Aussagen, den rationalen Teil derselben aber für objektive Aussagen über die Dinge vorgesehen hatte. Kant bestimmt in De mundi nach der Klärung des Phänomenbegriffs zunächst die beiden empirischen Wissenschaften vom Körper und der Seele: >> Phaenomena recensentur et exponuntur, primo, sensus externi in Physica, deinde, sensus interni in Psychologia empirica.>Cum itaque, ;l!J-Odcunque in cognitione est sensitive, pendeat a speciali indole subiecti [... ]; quaecunque autem cognitio a tali conditione subiectiva exempta est, non nisi obiectum respiciat, patet: sensitive cogitata esse rerum repraesentationes uti apparent, intellectualia autem sicuti sunt.> rationale Naturlehre>[ ... ]die Naturgesetze, die in ihr zum Grunde liegen, [werden] apriorierkannt [... ]« (46831 f.). Mit Ausblick auf die zu begründende Naturwissenschaft, die Physik, ist hier bereits festzuhalten, daß damit die Naturwissenschaft zwar nicht auf »bloße Erfahrungsgesetze « (46832) gegründet werden darf, sondern in ihr Gesetze anzutreffen sein werden, die sich einer metaphysischen Analyse erschließen, daß in ihr aber auch Erfahrungsgesetze enthalten sind, sie also sowohl reine als auch angewandte Vernunfterkenntnis umfaßt.97 95 T. Cavallo sieht in diesem Begriff das Zentrum der Chemie. Vgl. dazu die Kommentierung des Abschnitts über die Auflösung 530s-532J9· 96 Vgl. Absatz 3 (46823-29) sowie Absatz 8. 97 Im zweiten Satz dieses Absatzes >>Man nennt[ ... ] genannt.« (468 33f.) fällt ein unterschiedlicher Sprachgebrauch auf. Kant spricht nicht von reiner oder angewandter Naturerkenntnis bzw. reiner oder angewandter Vernunfterkenntnis, sondern von reiner Naturerkenntnis und angewandter Vernunfterkenntnis. Eine sachliche Differenz läßt sich weder aus dem vorausgehenden noch aus dem nachfolgenden Text ermitteln. Es geht um eine reine oder erfahrungsgestützte Erkenntnis der Natur; daß diese Erkenntnis durch Vernunft (im weitesten Sinne) geschieht, ist im Kamischen Denken nicht weiter erläuterungsbedürftig.

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66

Textkommentar

Kant kommt im folgenden noch einmal zurück auf seine Erklärung des formalen Naturbegriffs (vgl. 4672ff.; 4683 ff.l und stützt darauf zwei unterschiedliche Argumentationen. Eine nicht-reine Naturwissenschaft, die Mechanik beispielsweise, die auch Erfahrungsgesetze enthält, erlangt ihre apodiktische Gewißheit, die sie erst zur Naturwissenschaft macht, nicht durch diese physikalischen Gesetze, sondern durch diejenige Wissenschaft, die allein apriorische Naturgesetze enthält, durch die Metaphysik also. Ein kurzer Vorgriff auf die Mechanik macht diese Vorstellung Kants einsichtig: die Lehrsätze 3 und 4 sind mindestens der Intention nach Weiterbestimmungen der Zweiten und der Dritten Analogie der Erfahrung (vgl. KrV A 189/ B232, A211/ B256). Diese Analogien der Erfahrung sind als Grundsätze des Verstandes apriorische Gesetze der Natur. Die MAdN spezifizieren diese metaphysischen Gesetze durch die Begriffe der beweglichen Materie und der bewegenden Kräfte. Nur diese apriorische Gesetzmäßigkeit verschafft den so begründeten physikalischen Bewegungsgesetzen, wie sie Newton in seinen Principia (Bewegungsgesetze I und III) aufgestellt hat, ihre apodiktische Gewißheit. Die zweite auf den formalen Naturbegriff aufbauende Argumentation dieses Satzes geht dahin, daß jede Naturlehre zur (Exaktheit der) Naturwissenschaft tendieren muß, weil Natur (materialiter) als der Inbegriff aller Gegenstände möglicher Erfahrung hinsichtlich ihrer Natur (formaliter) als der Gesetzmäßigkeit ihres Daseins unter der apriorischen Gesetzgebung des Verstandes steht. Naturlehre wird erst durch die Erkenntnis dieser Gesetzmäßigkeiteil eigentliche Erkenntnis. Naturlehre wird erst als Naturwissenschaft eigentliche Erkenntnis. Die Tendenz der Naturlehre hin zur Naturwissenschaft richtet sich damit auf diese eigentliche Erkenntnis; Naturwissenschaft ist das Regulativum aller Naturlehre. Die »Forderung[ ... ] der Vernunft>Ein solches Princip [sc. die regulative Idee einer höchsten Vernunft] eröffnet nämlich unserer auf das Feld der Erfahrungen angewandten Vernunft ganz neue Aussichten, nach teleologischen Gesetzen die Dinge der Welt zu verknüpfen und dadurch zu der größten systematischen Einheit derselben zu gelangen.« (KrV A686f.) Doch ist weder hier noch im Beweisgrund von 1763 die Etablierung einer Naturforschungsmethode, sondern die Warnung vor dem »theologischen System der Natur (Physikotheologie)>[ ... ] den Übergang von der Metaphysik zur mathematischen Naturwissenschaft schaffen sollen.« (Ebd. 122) Dies ist sicherlich zu pauschal und kann sich eigentlich nur auf die in den AllgemeinenAnmerkungen behandelten Themen und Begriffe beziehen, die hier eben nicht materiekonstitutiv, sondern lediglich grob skizziert und bisweilen nur als Vermutung diskutiert werden. Daß aber im Haupttext verschiedene Begriffe in ihrer möglichen mathematischen Konstruierbarkeit erörtert werden, bezeichnet nichts anderes als den (mindestens intendierten) Übergang von der Metaphysik zur mathematischen Naturwissenschaft. L.W. Beck formuliert die Notwendigkeit physikalischer Aussagen aus der Sicht der Metaphysik als eine >>regulative Notwendigkeit der empirischen Regelmässigkeiten, die nachträglich unter dem Systemgedanken der Einheit der Naturgesetze zusammenzubringen sind.« (L.W. Beck 1981, 56) Vom Standpunkt der KdU formuliert Beck daher: »Es ist die Idee der Kohärenz der Erfahrung, d. h. der Natur als eines Systems, die uns dazu berechtigt, eine Notwendigkeit aus uns unbek annten bzw. unerkennbaren Gründen in unsere Naturgesetze hineinzudenken. « (Ebd.) Daß dieser regulative Charakter von Gesetzmäßigkeiten aufgrundseiner Gebundenheit an die Urteilskraft in den MAdN nicht zentral thematisch sein kann, liegt auf der Hand . Auf die Problematik einer »[... ] Notwendigkeit der Prinzipien der reinen Naturlehre [sc. der MAdN; K. P.], die von den transzendentalen Grundsätzen und a priori konstruierbaren Anschauungen abgeleitet sind« (ebd .; Hervorhebung: K. P.), wie Beck annimmt, wurde bereits in der Einleitung, Anm. 60, eingegangen. 116 K. Cramer stellt unter Hinweis auf Kr VA 846 f. klar, daß die beiden >Beispiele< für empirische Begriffe, die die besondere Metaphysik zugrunde legt, nicht eigentlich als Beispiele gemeint sind, die beliebig vermehrt werden könnten. Vielmehr sind sie die einzig möglichen Gegenstände der >i mmanenten rationalen Physiologie; (vgl. K. Cramer 1985, 126).

Vorrede · Absatz 6

77

setzt wird. Insofern sich die Physik auf Gegenstände möglicher Erfahrung bezieht und nicht bloß auf reine Anschauungen (wie die Mathematik), setzt sie die Klärung dessen voraus, was überhaupt Erfahrung sein kann, wie dies in der KrV und den Prolegomena ausgeführt wird: »Wir müssen aber empirische Gesetze der Natur, die jederzeit besondere Wahrnehmungen voraussetzen, von den reinen oder allgemeinen Naturgesetzen, welche, ohne daß besondere Wahrnehmungen zum Grunde liegen, blos die Bedingungen ihrer nothwendigen Vereinigung in einer Erfahrung enthalten, unterscheiden; und in Ansehung der Ietztern ist Natur und mögliche Erfahrung ganz und gar einerlei[ ... ]Gesetze der Natur>transzendentale(m] Teil>weil Mathematik auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar ist, man müßte denn allein das Gesetz der Stetigkeit in dem Abflusse der inneren Veränderungen desselben in Anschlag bringen wollen, [... d]enn die reine innere_Anschauung, in welcher die SeelenErscheinungen konstruiert werden sollen, ist die Zeit[ ... ]>Die Natur[ ... ] tut[ ... ] keinen Sprung, weder in der Folge ihrer Veränderungen noch der Zusammenstellung spezifisch verschiedener Formen (Iex continui in natura) [... ]«162- kann jedoch sowenig eine Wissenschaft ausmachen wie eine >Longimetrie>Wenn zu dem, was geschieht, blos der Erklärungsgrund gefunden werden soll, so kann dieser entweder ein empirisches Princip, oder ein Princip a priori, oder auch aus beiden zusammengesetzt sein, wie man es an den physisch-mechanischen Erklärungen der Eräugnisse in der körperlichen Welt sehen kann, die ihre Principien zum Theil in der allgemeinen (rationalen) Naturwissenschaft, zum Theil auch in derjenigen antreffen, welche die empirische Bewegungsgesetze enthält. Das Ähnliche findet statt, wenn man zu dem, was in unserm Gemüthe vorgeht, psychologische Erklärungsgründe sucht, nur mit dem Unterschiede, daß, so viel mir bewußt ist, die Principien dazu insgesammt empirisch sind, ein einziges, nämlich das der Stetigkeit aller Veränderungen (weil Zeit, die nur eine Dimension hat, die formale Bedingung der innern Anschauung ist) ausgenommen, welches a priori diesen Wahrnehmungen zum Grunde liegt, woraus man aber so gut wie gar nichts zum Behuf der Erklärung machen kann, weil allgemeine Zeitlehre nicht so, wie die reine Raumlehre (Geometrie) genugsamen Stoff zu einer ganzen Wissenschaft hergiebt.>The problern is not that there are no laws of psychology, butthat such laws apparently cannot be constructed a priori except through the minimally informative construction of time as a line. But if no a priori construction is possible, psychology can at best be empirical, and can never admit of the necessity and universality that befits science.« (G. Hatfield 1992, 220) 161

162

Vorrede · Absatz 9

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mathematischen >Armut< der Psychologie, deren Gesetze mit Ausnahme des Stetigkeitsgesetzes empirisch sind. Der Grund jedoch, weshalb dieses eine Gesetz nicht ausreicht, ist merkwürdig und, man könnte fast sagen, kryptisch: im Gegensatz zur >RaumlehreZeitlehreZeitlehre< stünde systematisch unterhalb des Stetigkeitsgesetzes), zu wenig Stoff- man darf wohl an ein Analogon zu Euklids Axiomen denken - für eine Wissenschaft vom inneren Sinn. Mir scheint jedoch, daß dieses Argument dem bereits Bekannten nichts Neues hinzufügen kann, da der Begriff der Zeitlehre vollkommen unbestimmt bleibt. Kant spricht von der Lehre der Zeit ansonsten nur hinsichtlich der Transzende.ntalen Ästhetik, die hier aber keinesfalls gemeint sein kann, da die Geometrie nicht in deren Bereich fällt. Es ergibt sich vielmehr eine weitere unmögliche Wissenschaft: sowenig es Psychologie als Wissenschaft geben kann, sowenig kann es diese hier angeführte Zeitlehre geben (das konditionale Verhältnis ist natürlich umzutauschen), weil es keine genuin zeitlichen Gestalten (quanta) wie die der Geometrie gibt (vgl. KrVA 163), vielmehr die Zeit selbst nur räumlich vorgestellt werden kann, durch das »Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll)« (Kr VB 154). Kant kommt im Zuge der Widerlegung des Idealismusverdachts in derB-Auflageder KrV zu der Auffassung, daß die Räumlichkeit letztlich eine unabdingbare Voraussetzung jeglicher Erkenntnis ist. Dies drückt sich in vorstehendem Zitat aus, das sich in der A-Auflage nicht findet, und entsprechend urteilt Kant auch in Absatz 16 der MAdN: »Und so tut eine abgesonderte Metaphysik der körperlichen Natur der allgemeinen vortreffliche und unentbehrliche Dienste, indem sie Beispiele (Fälle in concreto) herbeischafft, die Begriffe und Lehrsätze der letzteren (eigentlich der Transzendentalphilosophie) zu realisieren, d. i. einer bloßen Gedankenform Sinn und Bedeutung unterzulegen.« (47815-19). Der Ausschluß bestimmter intensiver Größen von der möglichen Mathematisierung ist kein originär Kantischer Gedanke. Bereits N. Malebranche hat die Auffassung von der Unmöglichkeit der Messung seelischer Zustände vertreten164, doch 164 Malebranche ist der Ansicht, daß wir von den Zuständen unserer Seele im Gegensatz zu denen der Physik eine relativ dunkle Vorstellung haben. Er schreibt in seinen Untersuchungen De inquirenda veritate: >>Claras habemus ideas numerorum & partium extensionis, quia haec possunt inter se conferri. Numerus binarius euro quaternario potest comparari, quatuor euro sexdecim; & unusquisque numerus euro omni alio. Quadratum euro Triangulo, Circulus euro Ellipsi, Quadratum & Triangulus, euro omni alio Quadrato & omni alio Triangulo, conferri potest; & sie possunt clare cognosci relationes quae sunt inter illos numeros, illasque figuras. Sed mentem nostram euro aliis mentibus non possumus conferre, ut aliquam illius relationem clare cognoscamus. Relatio quae est inter voluptatem & dolorem, calorem & colorem non potest clare dignosci, vel, ut de modificationibus ejusdem generis duntaxat loquar, non potest exacte determinari relatio quae est inter viride & rubrum, flavum & violaceum, neque etiam inter violaceum & violaceum. Bene equidem cernimus alterum esse altero obscurius aut lucidius: sed nescimus neque quanto sit obscurius aut lucidius; neque quid sit esse obscurius aut lucidius. Nullam igitur claram habemus mentis aut ipsius modificationum ideam. Et quamvi

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Textkommentar

wahrscheinlicher als Kants Bekanntschaft mit dessen einschlägigem Werk ist seine Kenntnis von G. Ploucquets Methodus calculandi in logicis von 1763/64 und der darin enthaltenen Ablehnung einer Psychometrie, wie sie beispielsweise Ch. Wolff aufgestellt hatte.165 Ploucquet vertritt in diesem Werk die Ansicht, daß die Zahlen nicht auf intensive Größen und damit auch nicht auf Seelenzustände anwendbar sind: >> Sit gradus lucis datus, qui ponatur vel crescere vel decrescere. Quaeritur, num incrementa lucis et ejusdem decrementa exprimi possint quantitatibus arithmeticis vel geometricis? Respandeo negando. Nam Iux obscurior addita obscuriori in se non facit clariorem, id quod ostendam sequenti modo: Distinguatur in luce objectivum a subjectivo, seu causa externa lucem generans ab ipsa lucis perceptione [... ]. Id enim quod percipitur in ipsa visione lucis fortioris non est perceptio lucis debilioris et debilioris. Itaque lucis intensio qua imago non metienda est ex additione minoris et minoris, sed ex intensione unius ejusdemque imaginis, quae intensio et remissio toto coelo differt a positione et positione, seu repetitione plurium.«166 Bei Kant findet sich diese Ansicht nun in einer eingeschränkten Form: Er negiert weder in der KrV noch in gegenwärtigem Absatz der MAdN generell die Applizierbarkeit der Arithmetik auf intensive Größen, sondern bloß auf die des inneren Sinns, d. h. rein-zeitliche. videam aut sentiam colores, sapores, odores, possum dicere, ut dixi, me eas non cognoscere per ideam claram; cum illius relationes clare cernere non possim.>§. 522. [... ] Theoremata haec ad Psycheometriam pertinent, quae mentis humanae cognitionem mathematicam tradit et adhuc in desideratis est. In ea autem doceri debet, quomodo magnitudinem perfectionis ac imperfectionis nec non certitudinem judicii metiri debeamus, adeoque mensura perfectionis ac imperfectionis, itemque certitudinis judiciorum constituenda: neque enim theoremata ante ullius usus sunt, quam utraque mensura fu erit inventa. Haec non alio fine a me adducuntur, quam ut intelligatm; dari etiam mentis humanae cognitionem mathematicam, atque hinc Psycheometriam esse possibilem, atque appareat animam quoque in iis, quae ad quantitatem spectant, Ieges mathematicas sequi, veritatibus mathematicis, hoc est, arithmeticis & geometricis cum contingentibus non minus in mente humana, quam in mundo materiali permixtis.Anhang< zur Seelenlehre gedacht hat, kann dahingestellt bleiben. Das dieser Nachschrift zugrunde liegende Kompendium W.J. G. Karstens erwähnt die Seelenlehre mit keinem Wort. Kants Auffassung vom Status der Psychologie hat also ihr Fundament, wie ausgeführt, in der Kantischen Metaphysik. 472 1 _ 12 Absatz 10 Nach dem Ausgrenzen der Seelenlehre aus dem Bereich der Naturwissenschaft im vorausgehenden Absatz handelt es sich bei der Metaphysik der Natur fortan nur noch um eine »Metaphysik der körperlichen Natur« (47212). Kant wendet sich nun nach der bisherigen Klärung der Begriffe der Natur, der Wissenschaft und der Naturwissenschaft den Anfangsgründen der Naturwissenschaft zu.184 Nach einer Zäsur in dieser Begriffsklärung- in den Absätzen 8 und 9 werden Chemie und Psychologie als mögliche Naturwissenschaften abgewehrt wird in gegenwärtigem Absatz 10 nun die Aufgabe des bevorstehenden Werks skizziert. Anknüpfend an den Sprachgebrauch im Absatz zuvor ist mit der »Körperlehre«185 die zu begründende Wissenschaft der Physik und nicht mehr der allgemein auf Körper bezogene Teil der Naturlehre186 oder gar die rationale Physik und damit die MAdN187 gemeint. Wie bereits in den Absätzen 5 und 7 ausgeführt, müssen die Begriffe der Körperlehre, damit letztere überhaupt Wissenschaft genannt werden kann, konstruiert werden können, was bedeutet, » [... ] daß die dem Begriffe korrespondierende Anschauung a priori gegeben werde[n ... ]« (4702sf.l können muß. Nun sind zwar solche anschauliche Konstruktionen von Begriffen der Mathematik, deren Notwendigkeit für die eigentliche Naturwissenschaft in Absatz 7 dargelegt wurde, vorbehalten: »Reine Vernunfterkenntnis [... ],welche nur auf der Konstruktion der Begriffe, vermittelst Darstellung des Gegenstandes in einer Anschauung a priori, ihr Erkenntnis gründet, [wird] Mathematik genannt.«188 Doch ist die mathematische Konstruktion naturwissenschaftlich-konkreter Begriffe ihrerseits nicht voraussetzungslos, sie selbst bedarf metaphysischer Prinzipien: Mathematik liefert als solche lediglich formale Anschauungen, das Materiale dieser naturwissenschaftlich-mathematischen Anschauungen liefert sie nicht189: Philosophiae Naturalis Principia Mathematica haben also eine Philosophiae Naturalis Principia Metaphysica 184 Letzterer Begriff wird demnach äquivok verwendet, zum einen allgemein, auch die MAdN umfassend, zum anderen konkret die Physik betreffend Vgl. dazu die ersten sieben Absätze der Vorrede. 185 4721; vgl. 47134 und 47715. 186 Vgl. 467t6, 468t, 47117f. und 4781,7· 187 Vgl. 47031 und 47332. 188 46921-25; vgl. dazu Abs. 5 und 7. Daß Kant daneben auch von »metaphysische[n] [... ] Konstruktionen « (473n) spricht, ist eine Ausnahme, die seine Auffassung von der Mathematik als konstruierende Wissenschaft nicht in Frage stellt, in der Kommentierung von Absatz 12 jedoch berücksichtigt werden muß. 189 In diesem Sinne hat nur die physikbezogene Mathematik es mit Existenzbedingungen der zu konstruierenden Gegenstände zu tun, die reine Mathematik hingegen mit dem Wesen

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zur Voraussetzung. Diese der naturwissenschaftlich-mathematischen Konstruktion vorausgesetzten Prinzipien des Konstruktionsmaterials, d. h. des Begriffs der Materie, werden im Verlauf der auf die Vorrede folgenden vier Hauptstücke dadurch erarbeitet, daß der Begriff der Materie auf seine apriorischen Konstituentien hin vollständig untersucht wird. Konkret bedeutet dies: die mathematische Beschreibung einer Bewegung setzt die Bestimmung des Bewegungsbegriffs voraus, die mathematische Beschreibung einer materiellen Ausdehnung setzt die Bestimmung des Körperbegriffs voraus, die mathematische Beschreibung körperlicher Wechselwirkung setzt die Bestimmung der Trägheit voraus. Diese Begriffe der Bewegung, der Ausdehnung und der Trägheit sind Themen der ersten drei Hauptstücke, die Phänomenologie fügt diesen aus noch anzuführenden Gründen keinen weiteren hinzu. Sie sind die Konstituentien des Materiebegriffs,190 Dieser Begriff der Materie ist allgemein- »abgesondert >Die glückliche Erklärung der meisten Erscheinungen der Natur, die man daraus [sc. dem System der Attraktion] herleitet, beweist hinlänglich, daß diese Hypothese vollkommen wahr sey; so daß man es für die ausgemachteste Erfahrung halten kann, daß alle Körper sich einander wechselsweise anziehen. ]etzo kommt es darauf an, die wahre Quelle dieser anziehenden Kraft zu entdecken, welches aber eigentlich mehr für die Metaphysik als Mathematik gehört [... ].«191 Die Kantischen Anfangsgründe beziehen sich- als Metaphysik, nicht als Mathematik- auch auf die Quelle dieser Erscheinung, der Gravitation, indem die Materie selbst die Kraft der Anziehung als eine wesentliche, konstituierende Eigenschaft besitzt, wie die Dynamik ausführen wird. Was Kant mit einer >>vollständige[n] Zergliederung des Begriffs von einer Materie überhaupt« (472s) intendiert, kann befriedigend erst im Kontext des zwölften Absatzes geklärt werden, da erst dort der Begriff der >>metaphysische[n ... ] Konstruktion « (4737f.) eingeführt wird. Um die Interpretation nicht in eine schließlich falsche Richtung zu lenken, ist die Kenntnis des letzteren Begriffs jedoch schon an gegenwärtiger Stelle hilfreich, insofern die >>Zergliederung« hier nicht die Durchführung der Dinge: >>[ ... ]in den mathematischen Aufgaben ist hiervon [sc. möglicher Erfahrung] und überhaupt von der Existenz gar nicht die Frage, sondern von den Eigenschaften der Gegenstände an sich selbst, lediglich sofern diese mit dem Begriffe derselben verbunden sind.« (KrV A719) 190 Dies ist selbstverständlich nur eine skizzenhafte Vorstellung; im einzelnen spielen die Begriffe der Zurückstoßung, der Anziehung, der Substantialität, der Wechselwirkung etc. wichtige Rollen. Dies zeigt jedenfalls die Durchführung der einzelnen Hauptstücke. 191 L. Eu ler 1769, 228.

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Textkommentar

der analytischen Methode in den MAdN ankündigen soll, sondern die Explikation des formal-anschaulichen und erkenntnisbedingend gesetzlichen Gehalts des empirischen Materiebegriffs. Die Aufgabe der MAdN ist die Klärung (Analyse) des apriorischen Gehalts des Materiebegriffs . Nach der Logik ist das dieser philosophischen Methode entgegengesetzte Verfahren der Synthesis einerseits der (apriorischen) Mathematik und a ndererseits der (aposteriorischen) Naturwissenschaft vorenthalten.192 Doch obwohl die MAdN weder Mathematik noch Erfahrungswissenschaft sind, wird die Ausführung dieser Aufgabe - die Klärung des apriorischen Gehalts des Materiebegriffs - nicht analytisch, sondern aufgrund der methodischen Bezogenheit auf die Kategorientafel (vgl. Abs. 14f.) metaphysisch-synthetisch sein: Der Begriff der Materie wird auf seine apriorischen Synthesen hin analysiert.193 Mit der »vollständigen Zergliederung des Begriffs von einer Materie überhaupt> Die allgemeine Logik abstrahirt [ ... ] von allem Inhalt der Erkenntniß und erwartet, daß ihr anderwärts, woher es auch sei, Vorstellungen gegeben werden, um d iese zuerst in Begriffe zu verwandeln, welches analytisch zugeht.« (KrV A 76) Die Logik verfährt bloß nach dem Satz vom Widerspruch. Folgendermaßen ist das Verhältnis von Analysis und Synthesis in den MAdN zu denken: der empirische Begriff der Materie wird vorausgesetzt; insofern werden alle seine Bestimmungen vorausgesetzt; die MAdN schaffen keine neuen Begriffe, sondern liefern die Klärung metaphysischer Prinzipien in einem empirischen Begriff, eine Begriffszergliederung. Dennoch ist die philosophische Methode synthe-

192 »Diejenige Art der Deutlichkeit, die nicht durch Analysis, sondern durch Synthesis der Merkmale entspringt, ist die synthetische Deutlichkeit. Und es ist also ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Sätzen: Einen deutlichen Begriff machen und einen Begriff deutlich machen. Denn wenn ich einen deutlichen Begriff mache: so fange ich von den Theilen an und gehe von diesen zum Ganzen fort. Es sind hier noch keine Merkmale vorhanden; ich erhalte dieselben erst durch die Synthesis. Aus diesem synthetischen Verfahren geht also die synthetische Deutlichkeit hervor, welche meinen Begriff durch das, was über denselben in der (reinen oder empirischen) Anschauung als Merkmal hinzukommt, dem Inhalte nach wirklich erweitert. - Dieses synthetischen Verfahrens in Deutlichmachung der Begriffe bedient sich der Mathematiker und auch der Naturphilosoph. Denn alle Deutlichkeit des eigentlich mathematischen so wie alles Erfahrungserkenntnisses beruht auf einer solchen Erweiterung desselben durch Synthesis der Merkmale. Wenn ich aber einen Begriff deutlich mache: so wächst durch diese bloße Zergliederung mein Erkenntniß ganz und gar nicht dem Inhalte nach. Dieser bleibt derselbe, nur die Form wird verändert, indem ich das, was in dem gegebenen Begriffe schon lag, nur besser unterscheiden oder mit kläreremBewußtsein erkennen lerne.« (IX 63f.) 193 P. Plaaß spricht treffend paradox von einer >>synthetische[n] Zergliederung« (1965, 77), doch übergeht er die analytische Komponente dieses Begriffs, wenn er lediglich betont, daß die »[ .. .] Begriffe, die hier zu entwickeln sind,[ ... ] es nicht schon irgendwie [gibt], so daß man sie nur noch auffinden müßte[ ... ]« (76). Die Begriffe werden zwar methodisch entwickelt- darin bestehen die Synthesen-, doch sind sie im vorausgesetzten Begriff der Materie impliziert, sonst würde statt des Besitzes eines Begriffs der eines Hirngespinstes vorausgesetzt. Darauf, daß die Erklärungen den sie explizierenden Durchführungen vorangestellt werden, wurde bereits hingewiesen.

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tisch, insofern die im Begriff liegenden Bestimmungen am Leitfaden der Kategorien entwickelt werden (vgl. Abs. 14f.), der unterhalb der einzelnen vier Titel die synthetische Abfolge der jeweils drei Momente befaßt. Die MAdN sind analytisch und synthetisch zugleich in verschiedener Hinsicht. Wenn man unter den>>[ ... ] Gesetzen, welche schon dem Begriffe der Natur überhaupt wesentlich anhängen[ ... ]>Natur>[ ... ]die zu dieser Absicht sich keiner besonderen Erfahrungen, sondern nur dessen, was sie im abgesonderten (obzwar an sich empirischen) Begriffe selbst antr[effen ... ], in Beziehung auf die reinen Anschauungen im Raume und der Zeit (nach Gesetzen, welche schon dem Begriffe der Natur überhaupt wesentlich anhängen) bedien[en ... ]>Gesetze, d. i. Prinzipien der Notwendigkeit dessen, was zum Dasein eines Dinges gehört>Prinzipien der Konstruktion>jene[n] mathematische[n] Physiker[n]Anti-NewtoniansMathematikern< und Leibnizianischen •Metaphysikern< wurde ausgelöst durch den Briefwechsel zwischen G. W. Leibniz and S. Clarke (1715/16). Während Newtonianer- ihre Wortführer waren vor allem P.L.M. Maupertuis und L. Euler - die Absolutheit des Raums verteidigten, um die geometrischen Propositionen abzusichern, vertraten Leibnizianer - in erster Linie stand hier Ch. Wolff -eine Relativitätstheorie des Raums. Durch die Preisfrage der Preussischen Akademie der Wissenschaften (Darstellung und Kritik der Monadenlehre unter Berücksichtigung einer Deduktion des Ursprungs und der Bewegung von Körpern) - im Jahr 1747 wurde diese Debatte schließlich auf die Alternative zwischen prinzipieller Teilbarkeit des Raums und allem, was in diesem ist (Mathematiker), sowie letzter Elemente der Körper, die unteilbar und einfach seien (Metaphysiker), fokussiert. Zum Kontext der Preisfragen vgl. C. Buschmann 1989, insbes. 182-186. Der Preisträger des Wettbewerbs von 1747 war Johann Gottlob Heinrich von Justi. Seine Arbeit trägt den Titel Untersuchung der Lehre von den Monaden und einfachen Dingen (in: Dissertation qui a remporte Je prix propose par l'Academie Royale des Seiences et belles

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seines Studiums, also bereits in den vierziger Jahren, vertraut. Er besaß eine Ausgabe der Principia von 1714197 und eine zweite, lateinische Ausgabe der Optik von 1719. Da es Kant hier lediglich um ein Hierarchieverhältnis der Wissenschaften geht, spielen die Namen >>alle[r) NaturphilosophenBegriffsakrobatik< ohne Bezug zu Gegenständen möglicher Erfahrung ist. Es ist zu vermuten, daß hinter dieser Anspielung auf die Metaphysik Newtons Scholium Generale zu den Principia steht, woraus sich sowohl die Anerkennung - Newton verwahrt sich zu Recht wider den Anspruch der Metaphysik als auch die Kritik- er hat eine falsche Vorstellung von Metaphysik- erklärt: Newton verhält sich dort zum Problem der Fernwirkung: was kann die Ursache des Phänomens der Schwere sein, wenn man nicht auf die Hypothese einer experimentell ungesicherten Fernkraft zurückgreifen will? Es erschien Newton abwegig, daß ein Körper auf einen anderen ohne ein vermittelndes -materielles oder immaterielles -Medium durch den leeren Raum wirken könnte: »Den Grund für diese Eigenschaften der Schwere konnte ich aber aus den Naturerscheinungen noch nicht ableiten, und Hypothesen erdichte ich nicht. Nämlich alles, was sich nicht aus den Naturerscheinungen ableiten läßt, muß als Hypothese bezeichnet werden, und Hypothesen, gleichgültig ob es metaphysische, physikalische, mechanische oder diejelettres sur le systeme des monades avec !es pieces qui ont concouru. Berlin 1748, I-XLIII). Daß Kant von dieser Schrift Kenntnis genommen hätte, ist mir nicht bekannt. Auf die dominierende Rolle Leonhard Eulers, der 1746-1766 Direktor der mathematischen Klasse der Berliner Akademie war, bei der Auslobung dieses Wettbewerbs und der Zuerkennung des Preises an einen Wolff-Gegner- Euler versteht sich als Newtonianer, wenngleich der Titel »Eulerianer >aber>Die principien der mathematic der Natur sind selbst philosophisch und geboren noch nicht in die mathematic der Natur als ihre theile.«209 Newton wollte in seinen Principia dagegen- dies ist der von Kant intendierte Gegensatz210 - beide Ansprüche vereinigen. Die Principia

R. Specht (1985, 251-259) sowie H.-J. Engfer (1996, 230) und J. Colman (1997). Hinsichtlich der zitierten Passage aus Lackes Essay erscheint es problematisch, wenn L. Krüger schreibt: »Was wir hier [sc. in Lackes Theorie des empirischen Wissens] vor uns haben, darf man wohl zusammenfassend beschreiben als eine Ausdehnung der Theorie des mathematischen Wissens in das Feld der empirischen Naturwissenschaft hinein. Sie rückt Locke ein gutes Stück von Hume und vom späteren Empirismus ab und stellt ihn stattdessen an die Seite Kants, zu dessen Grundüberzeugungen es ja gehört, daß nicht nut reine Mathematik, sondern auch reine Naturwissenschaft ein unentbehrlicher Kern aller empirischen Wissenschaft ist. Anti-Locke< schreiben wollte, soll damit natürlich nicht gesagt sein. Es kann vielmehr schlicht von Kants Kenntnis dieser Ansicht und einer bewußten Opposition ausgegangen werden. Eine andere Quellschrift dieser Opposition kann auch Ch.A. Crusius' Anleitung sein, in der für die Naturlehre auch Sätze mit bloßer »Wahrscheinlichkeit« beansprucht bzw. »blosse Muthmassungen oder Möglichkeiten« und »Präsumtionen « (Ch.A. Crusius 1749, Vorrede, XIII, ohne Paginierung, sowie 59-66) akzeptiert werden sollen. 209 Refl. 41; XIV 162. 210 In Absetzung von E. Cassirer (31922, 585-647) konstatiert A. Boboc in diesem Sinne: »Neben Kant als Fortführer Newtons müssen wir einen Kant versus Newton annehmen.« (A. Boboc 1983, 257) Vorgreifend auf den Argumentationsgang der MAdN läßt sich in diesem Sinne bereits hier mit M. Carrier festhalten: »Insgesamt grenzt sich Kants Materietheorie [... ] deutlich von derjenigen Newtons ab. Für Kant ist (1) die Materie ins Unendliche teilbar (statt aus Newtons Atomen zu bestehen), und sie ist (2) ein Plenum (und keine Newtonsehe Nußschale). Zudem sieht Kant (3) die gravitative Fernwirkung als wesentliches Merkmal von Materie (statt als eine durch immaterielle Agentien vermittelte Wirkung auf Materie). Kants Materie ist aktiv und damit für Newton der Inbegriff aller Verderbnis. « (M. Carrier 1990, 190) Vgl. zu diesen Differenzen (und zusätzlich derjenigen im Trägheitsbegriff) auch K. Okruhlik 1983, 252-256. Hinsichtlich der Raumproblematik stellt Kants Bestimmung des Raums als Anschauungsform eine bewußte Gegenthese gegen die Newtonische (und auch

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sind in diesem Sinne nicht nur ein Werk der mathematischen Physik, sondern auch ein Werk der Metaphysik. Repräsentativ für die »physica generalis« (4737), in welcher Metaphysik und Mathematik durcheinander laufen, kann neben Newtons Principia und vielen anderen naturwissenschaftlichen Werken der Zeit auch eine der populären Darstellungen der Naturwissenschaft herangezogen werden. J. P. Eberhard beispielsweise unterteilt seine Naturlehre in einen allgemeinen (I) und einen besonderen (II) Teil (vgl. dazu unten Anhang II). Im allgemeinen Teil, d. h. der >physica generalisallgemeine Naturwissenschaft< (physica generalis) als Wissenschaft bezeichnet, die metaphysische Gesetze und Mathematik enthält.

gegen die Leibnizische) dar: >>Dagegen die, so die absolute Realität des Raumes und der Zeit behaupten, sie mögen sie nun als subsistirend oder nur inhärirend annehmen, mit den Principien der Erfahrung selbst uneinig sein müssen. Denn entschließen sie sich zum ersteren (welches gemeiniglich die Partei der mathematischen Naturforscher ist), so müssen sie zwei ewige und unendliche für sich bestehende Undinge (Raum und Zeit) annehmen, welche dasind (ohne daß doch etwas Wirkliches ist), nur um alles Wirkliche in sich zu befassen. Nehmen sie die zweite Partei (von der einige metaphysische Naturlehrer sind), und Raum und Zeit gelten ihnen als von der Erfahrung abstrahirte, obzwar in der Absonderung verworren vorgestellte, Verhältnisse der Erscheinungen (neben oder nach einander)[ ... ]. « (KrV A39f.) Vgl. dazu auch D. Dahlstrom: »Prominent among his differences with Newton, Kant countenanced theories of neither absolute space nor absolute motion nor matteras composed of >solid, massy, hard, impenetrable, movable particles [... ]>Es ist von der äußersten Erheblichkeit, Erkenntnisse, die ihrer Gattung und Ursprunge nach von andern unterschieden sind, zu isoliren und sorgfältig zu verhüten, daß sie nicht mit andern, mit welchen sie im Gebrauche gewöhnlich verbunden sind, in ein Gemisch zusammenfließen. « (KrV A 870) So versteht sich die Trennung der physica rationalis (MAdN), die (der einzig ausführbare) Teil der rationalen Physiologie ist, von der physica generalis: >>Man denke ja nicht, daß ich hierunter [sc. der physica rationalis] dasjenige verstehe, was man gemeiniglich physica generalis nennt und mehr Mathematik, als Philosophie der Natur ist. Denn die Metaphysik der Natur sondert sich gänzlich von der Mathematik ab, hat auch bei weitem nicht so viel erweiternde Einsichten anzubieten als diese, ist aber doch sehr wichtig in Ansehung der Kritik des auf die Natur anzuwendenden reinen Verstandeserkenntnisses überhaupt; in Ermangelung deren selbst Mathematiker, indem sie gewissen gemei-

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nen, in der That doch metaphysischen Begriffen anhängen, die Naturlehre unvermerkt mit Hypothesen belästigt haben, welche bei einer Kritik dieser Principien verschwinden, ohne dadurch doch dem Gebrauche der Mathematik in diesem Felde (der ganz unentbehrlich ist) im mindesten Abbruch zu thun. Um deswillen habe ich für nötig gehalten, von dem reinen Teile der Naturwissenschaft (physica generalis), wo metaphysische und mathematische Konstruktionen durch einander zu laufen pflegen, die erstere, und mit ihnen zugleich die Prinzipien der Konstruktion dieser Begriffe, also der Möglichkeit einer mathematischen Naturlehre selbst, in einem System darzustellen.« (473s-lo; Hervorhebung: K.P.) Was versteht Kant unter metaphysischen [... ] Konstruktionen? Sollte man Nachdruck auf diese Formulierung legen, so entstünde ein unlösbarer Widerspruch zu Kants andernorts geäußerter Ansicht. Denn es gibt keine einzige Stelle in Kants Werken und Briefen, an der die Metaphysik mit dem Konstruktionsbegriff in Verbindung gebracht würde. Vielmehr dient- wie auch das zuletzt angeführte Zitat aus der Architektonik der reinen Vernunft belegt - gerade der Begriff der Konstruktion als unterscheidendes Merkmal zwischen Metaphysik und Mathematik. Und nur wenige Seiten vorher hatte Kant die exakte Begriffsbestimmung eingeführt: >>Die philosophische Erkenntniß ist die Vernunfterkenntniß aus Begriffen, die mathematische aus der Construction der Begriffe. Einen Begriff aber construiren, heißt: die ihm correspondirende Anschauung a priori darstellen. Zur Construction eines Begriffs wird also eine nichtempirische Anschauung erfordert, die folglich, als Anschauung, ein einzelnes Object ist, aber nichts destoweniger als die Construction eines Begriffs (einer allgemeinen Vorstellung) Allgemeingültigkeit für alle mögliche Anschauungen, die unter denselben Begriff gehören, in der Vorstellung ausdrücken muß. So construire ich einen Triangel, indem ich den diesem Begriffe entsprechenden Gegenstand entweder durch bloße Einbildung in der reinen, oder nach derselben auch auf dem Papier in der empirischen Anschauung, beidemal

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aber völlig a priori, ohne das Muster dazu aus irgend einer Erfahrung geborgt zu haben, darstelle. [... ] Die philosophische Erkenntniß betrachtet also das Besondere nur im Allgemeinen, die mathematische das Allgemeine im Besonderen [... ]. In dieser Form besteht also der wesentliche Unterschied dieser beiden Arten der Vernunfterkenntniß und beruht nicht auf dem Unterschiede ihrer Materie oder Gegenstände.metaphysischen Konstruktion< nur zwei Möglichkeiten, diese Passage adäquat zu lesen. Die erste besteht darin, keinen Nachdruck auf diese Formulierung zu legen und im Sinne der Textumgebung mit den in der physica generalis durcheinander zu laufen pflegenden metaphysischen und mathematischen Konstruktionen schlichtweg metaphysische und mathematische Erklärungen der Natur zu verstehen, welche es zu trennen gelte; an einem konkreten Beispiel: die metaphysische Erörterung der Schwere (Fernkraft vs. Vermittlersubstanzen) und die mathematische Deduktion ihres Wirkungsgesetzes (Fg = Gm 1m 2/r2 ) sind voneinander zu trennen. Die andere mögliche Lesart verlangt eine höhere Investition, ist aber dennoch mit der vorstehenden vereinbar. Die Investition besteht in der unterstellten Ungenauigkeit in Kants Formulierung und einer damit verbundenen Textpräzisierung. Die Passage müßte demgemäß korrekt lauten: »Um deswillen habe ich für nötig gehalten, von dem reinen Teile der Naturwissenschaft (physica generalis), wo metaphysische [sc. Begriffe] und mathematische Konstruktionen durch einander zu laufen pflegen, die erstere, und mit ihnen zugleich die Prinzipien der Konstruktion dieser Begriffe, also der Möglichkeit einer mathematischen Naturlehre selbst, in einem System darzustellen.metaphysische KonstruktionPrinzipien< oder >Begriffe< hinter >metaphysischKonstruktionmetaphysisch< bezogen, bloß untechnisch gebraucht ist und eben auch nur Prinzip bedeutet. Tatsächlich ist die erste Möglichkeit die richtige, denn in eben dem angeführten Satz werden mit dem Wort >die erstere< (lies: die ersteren -wegen des folgenden >mit ihnenKonstruktionenmetaphysischer KonstruktionDas Ganze ist also gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio); es kann zwar innerlich (per intussusceptionem), aber nicht äußerlich (per appositionem) wachsen, wie ein thierischer Körper, dessen Wachsthum kein Glied hinzusetzt, sondern ohne Veränderung der Proportion ein jedes zu seinen Zwecken stärker und tüchtiger macht.Anfangsgründeallgemeinen Gesetzen des Denkens>[ ... ]Vollständigkeit [... ]kann nur eine Vollständigkeit der Principien, [... ]nicht der Anschauungen und Gegenstände sein.Nach ihrem Selbstverständnis ist diese Theorie [sc. die MAdN als Theorie der Möglichkeit einer mathematischen Naturlehre] also einer Erweiterung- etwa um eine Wissenschaft des Übergangs zur Physik- gar nicht fähig: denn sie grenzt selbst unmittelbar an die Physik als mathematische Naturlehre an, ja sie gehört sogar zu ihrem reinen Teil. Hier ist kein Raum für eine Kluft, noch für das Bedürfnis, sie zu überbrücken.> Die Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll, mußte Bewegung sein; denn dadurch allein können diese Sinne affiziert werden. >Weiterführung« gewisser Problematiken im Opus Postumum (vgl. B.-S. v. Wolff-Metternich 1995, 104ff.), aufgrund des hier neu thematisierten Begriffs der Selbstaffektion muß aber der ihre Abhandlung betreffende kritische Begriff der Transzendentalphilosophie transformiert werden. 219 XXII 405; Während B. Tuschling (1971, 34-46, 90-122; 1973, 1991; vgl. auch die Kritik von]. McCall 1988) den Beginn des Übergangsprojekts in Zusammenhang mit Kants Einsicht in das Ungenügen der MAdN bringt und ihn auf die Zeit nach dem Brief Kants an J. S. Beck vom 16.10.1792 (XI 375 ff.) datiert, sieht V. Mathieu (1989, 39-51) ihn im Kontext einer Revision der Konzeption der reflektierenden Urteilskraft der KdU und der damit verbundenen Umwandlung von regulativer Geltung epistemologischer Aussagen über die Natur in konstitutive Geltung. E. Förster (1987, 1989[b], 1991) geht aufgrund einer Überlegung, die sich an einen Brief von J. G. C. Ch. Kiesewetter an Kant vom 8.6.1795 (XII 23) anschließt, von einer Übergangs-Konzeption aus, die bereits nach einem Brief an K. L. Reinhold vom 28./ 31.12.1787 und der darin angedeuteten Rolle der reflektierenden Urteilskraft ihren gedanklichen Anfang nimmt. Damit ist in der Forschungsliteratur bereits der Begriff des ÜbergangsProjekts umstritten, ob es nämlich eine Revision der MAdN in ihrer wissenschaftsbegründenden Funktion ist, oder ob es eine Revision der Gesamtsystem-Funktion der KdU ist, oder ob es eine Fortsetzung der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik unter neuer Leitung (reflektierende Urteilskraft} in Richtung auf die >Physik als System< ist.

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Textkommentar

Absatz 14 Kant geht es in den MAdN nicht um die Form der Vernunfterkenntnis einer Natur überhaupt- diese ist Gegenstand der Transzendentalphilosophie -, sondern um diejenige der körperlichen Natur. Die Vollständigkeit der Vernunfterkenntnis wird jedoch nicht durch etwas garantiert, das den spezifischen Unterschied beider beträfe, denn dieser liegt in der Einschränkung oder Konkretion der allgemeinen Metaphysik zur besonderen dadurch, daß nun ein empirischer Begriff zugrunde gelegt wird. Die Vollständigkeit wird vielmehr durch die allgemeinen Gesetze des Denkens, die aus dem »Vermögen zu urteilen, (welches ebensoviel ist, als das Vermögen zu denken)« (Kr VA 81) abgeleitet sind220, garantiert, die in beiden Teilen der Metaphysik dieselben sind.221 Da Kant nun in der KrV diese Denkgesetze vollständig abgehandelt zu haben beansprucht und zugleich bewiesen haben will, daß diese Denkgesetze aufgrund ihres konstitutiven Ordnungscharakters die Gesetze der Natur darstellen (vgl. IV 320 u. ö.), sieht er sich nun in der Lage, auch für die metaphysische Körperlehre Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. In der KrV heißt es bezüglich der Vollständigkeit der allgemeinen Metaphysik: »Über diese Tafel der

220 Zur Diskussion der Vollständigkeit der Urteilstafel vgl. K. Reich 21948, L. Krüger 1968, R. Brandt 1991[b]. Während K. Reich in einer eher systematischen Rekonstruktion als einer Auslegung des Kr V-Textes die Ürteilstafel aus der objektiven Einheit der Apperzeption abzuleiten versucht, bestreiten sowohl L. Krüger als auch R. Brandt eine solche Deduzierbarkeit. Doch im Gegensatz zu Krüger, der keinen Vollständigkeitsbeweis, sondern nur eine Identifikation von vereinheitlichten Vorstellungen einerseits und den einheitsstiftenden Handlungen des Verstandes andererseits mit den Formen des Urteils für von Kant angestrebt und erwiesen hält, vollzieht Brandt den Kamischen Vollständigkeitsbeweis der Urteilstafel nach, indem er deren Titel und Momente aus den Elementen des Urteils, das selbst wiederum die formale Einheit des Denkens darstellt, erweist. Es handelt sich demnach bei der Tafel um eine Klassifizierung der Quantität des (Subjekt-)Begriffs, der Qualität der Verbindung, der Relation des Prädikats zum Subjekt oder von Sätzen untereinander sowie der Modalität des Urteils als Erkenntnisform, den Wert der Kopula. Vgl. kritisch zu dieser Rekonstruktion W. Hinsch I G.Mohr1994,61-65. 221 B. Tuschling hat gegeniiber E. Adickes (1924[b]) darauf aufmerksam gemacht, daß die enge Ankniipfung der MAdN an die Kategorientafel der KrV wesentlich flir das Verständnis der Schrift ist: »Man verfehlt den springenden Punkt der Schrift, wenn man wie Adickes >diese architektonische Spielerei< beiseiteschiebt und >die Gedanken ... mühelos aus ihrer Beziehung zum Kategorienschema lösen< zu können glaubt (Adickes Kant als Naturforscher, I 186). Allein diese Beziehung zum Kategorienschema und damit zum Kernstliek seiner kritischen Philosophie ist flir Kant von Interesse; er ist eben kein Naturforscher und daher auch zu keiner Zeit, weder in den Physikreflexionen noch in den MA noch im o.p. an einer Theorie der Materie um ihrer selbst willen interessiert. (... ]legt den empirischen Begriff einer Materie [... ] zum Grunde, und sucht den Umfang der Erkenntnis, deren die Vernunft über diese(n] Gegenst[and] apriorifähig ist Bewegung als Handlung des Subjektsch habe anfangs gezweifelt, ob die Bewegung mit zur transeendentalen Aesthetic gehöre. jetzt sehe ich ein, daß, da sie etwas im raume, was bewegt wird, mithin die Veränderung von Etwas in Ansehung der Verhältnisse enthält, sie rekonstruierte metaphysische Deduktion des Bewegungsbegriffs die Notwendigkeit des Bewegungsakzidens der materiellen Substanz zu zeigen: Materie kann danach a priori nur als Bewegliches vorgestellt werden; daß ein solcher Gegenstand in Erscheinung tritt, ist hingegen nicht a priori deduzierbar (vgl. P. Plaaß 1965, 99). Statt einer Erklärung des von Kant herausgestrichenen empirischen Status des Bewegungsbegriffs hält Gloy diesen schlicht für »völlig unplausibel« (K. Gloy 1976, 147). Vgl. dazu die umfassende Kritik an Gloys Rekonstruktion von W. Stegmaier 1980, 371ff. K. Cramer argumentiert bezüglich der >metaphysischen Deduktion< gegen P. Plaaß (vgl. 1985, 307ff.) und gegen K. Gloy (ebd. 363-368). Er stimmt zwar sowohl der Ansicht zu, daß der logische Inhalt des Bewegungsbegriffsapriori entspringen müsse, als auch der Bestimmung der objektiven Realität des Bewegungsbegriffs, die »[ ... ]nur im Rekurs auf die wirklich gemachte Erfahrung eines Gegenstandes, der ihrem logischen Inhalt korrespondiert, dargetan werden kann [... ]« (K. Cramer 1985, 160), wendet jedoch gegen Plaaß' Inhaltsbestimmung ein, daß eine so geartete metaphysische Deduktion übersieht, daß modale Bestimmungen konstitutiv für den Bewegungsbegriff sind, und die bloße Vereinigung von Raum und Zeit den Bewegungsbegriff unterbestimmt sein läßt: »Die metaphysische Deduktion des Bewegungsbegriffs müßte nachweisen, daß ein jeder Gegenstand äußerer Sinne mit Bezug auf seine Bestimmtheit, etwas im Raum zu sein, so bestimmt sein muß, daß er salva identitate sua in verschiedenen Verhältnissen zu einem gegebenen Raum sein können muß. Das ist nur im Nacheinander möglich.« (K. Cramer 1985, 309) Es ist Cramer zuzustimmen, wenn er schreibt: »Sowohl der Begriff der Ruhe als auch der Begriff der Bewegung enthalten mehr als diese Vereinigung, nämlich transzendentale Zeitbestimmungen verschiedenen Inhalts.« (Ebd.) Doch gäben diese Bestimmungen allein noch immer nicht den vollständigen Bewegungsbegriff, sondern lediglich den der Veränderung. Zum Bewegungsbegriff müßten über die Zeitmodi (Beharrlichkeit, Folge, Zugleichsein) hinaus noch die -von Kant in kritischem Kontext gar nicht als solche erwähnten - Modi des Raums, also die verschiedenen Gegenden im (Euklidischen) Raum (rechts/links, oben/unten, vorne/hinten), berücksichtigt werden (vgl. zu Kants vorkritischer Auffassung dieser Raummodi den Aufsatz über die Gegenden im Raume von 1768; vgl dazu auch die Diskussion der >inkongruenten Gegenstücke< in Anmerkung 3 zu Erklärung 2 der Phoronomie). Kants Unsicherheit hinsichtlich der Ableitbarkeit dieser Modi aus den Begriffen von der Zeit und vom Raum belegt Cramer anhand der entsprechenden Passagen der KrV (vgl. dazu K. Cramer 1985, 303-306). Nimmt man diese Unbestimmtheit als Ausdruck der notwendigen Aposteriorizität der modi, so enthält der Bewegungsbegriff und durch ihn auch der Begriff der Materie ein empirisches Element, das nicht nur die objektive Realität dieser Begriffe betrifft, sondern deren logischen Inhalt. Damit erschiene jedoch auch der Anspruch des Grundsatzes der MAdN- »Die Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll, mußte Bewegung sein« (4769t.l bzw. »Materie ist das Bewegliche« (4806, 4966, 5366, 5546) -fragwürdig. Die Fragwürdigkeit des apriorischen Anspruchs dieses Grundsatzes brächte ihrerseits den Gesamtanspruch der metaphysischen Anfangsgründe in Mißkredit. Nimmt man hingegen die modi von Raum und Zeit als apriorische Bestimmungen an, so besitzt der Bewegungsbegriff weiterhin apriorischen Inhalt. Für letztere Annahme spricht, daß von den Anschauungen der Zeit und des Raums abzüglich ihrer modi kein Gehalt übrig bleibt. Die modi der reinen Sinnlichkeit - gegenüber den von Kant schwankend vorgebrachten transzendentalen Zeitbestimmungen (Beharrlichkeit, Folge, Zugleichsein) haben die des früher/zugleich/später höhere Plausibilität für sich - wären demgemäß nichts anderes als die inhaltlichen Bestimmungen der beiden Anschauungsformen. Keine der beiden Annahmen kann sich jedoch eindeutig auf Kamische Texte stützen. Vgl. zum Begriff der objektiven Realität oben Anm. 135.

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Vorrede · Absatz 15

161

nicht die bloße Sinnlichkeit, sondern einen intellectuellen Begrif enthalte. [... ] was da wider ist, daß unsere Erkenntnisse nicht aufs Gerathewohl oder beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt sind [... ]« (KrV A 104), den Begriff der Beweglichkeit. Die Notwendigkeit dieser Beweglichkeit folgt also aus der in der Transzendentalen Ästhetik vorgestellten Notwendigkeit der Zeitlichkeit und Räumlichkeit »[ ... ] eines Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll[ ... ]« (47610): >>Daß schließlich die transseendentale Ästhetik nicht mehr als diese zwei Elemente, nämlich Raum und Zeit, enthalten könne, ist daraus klar, weil alle andre zur Sinnlichkeit gehörige Begriffe, selbst der der Bewegung, welcher beide Stücke vereinigt, etwas Empirisches voraussetzen. Denn diese setzt die Wahrnehmung von etwas Beweglichem voraus. Im Raum, an sich selbst betrachtet, ist aber nichts Bewegliches: daher das Bewegliche etwas sein muß, was im Raume nur durch Erfahrung gefunden wird, mithin ein empirisches Datum.« (KrV A41; Hervorhebung: K.P.) Die Wahrnehmung dieses Beweglichen als eines äußeren Gegenstands wird verlangt, um die Willkür dieser Verbindung von Raum und Zeit im Bewegungsbegriff zu vermeiden und damit den Bereich der konstruierenden Geometrie zu verlassen. Die Objektivierung der Verbindung der Raum- und Zeitbestimmung ist der Begriff des äußeren Gegenstands. Dieser Gegenstand wird durch den Bewegungsbegriff bestimmt zum Begriff der Materie.275 273 274 275

Refl. 4652; XVII 626. Refl. 4648; XVII 624 f. Auf eine eher systematische Rekonstruktion des Bewegungsbegriffs als der Grundbe-

162

Textkommentar

Die perzeptionstheoretische Implikation dieser metaphysischen Erklärung materieller Erfahrung ist, daß Farben, Töne, Geschmack, Geruch und Temperatur als solche nicht direkt auf Materie schließen lassen, obwohl sie als Farben, Töne etc. nur auf Materie appliziert werden. Der Sinn, der als solcher ohne weitere Sinnenvermittlung auf Materie schließen läßt, ist der Tastsinn.276 Nur er fühlt die >> Undurchdringlichkeit (worauf der empirische Begriff der Materie beruht)« (IV 295). Kant hat diese These nicht weiter verfolgt, sondern ist im zweiten Hauptstück der MAdN, das sich mit der Wahrnehmung der Materie befaßt, ohne weitere Erläuterung ihr gemäß verfahren, wenn er schreibt, daß die Materie >>[ ••• ] ihr Dasein uns nicht anders, als durch den Sinn, wodurch wir ihre Undurchdringlichkeit wahrnehmen, nämlich das Gefühl, offenbart, mithin nur in Beziehung auf Berührung [ .. .].«277 Daß Kant bezüglich der Affektion von äußeren Sinnen (Plural) und nicht vom äußeren Sinn spricht, hat seinen Grund jedoch auf einem anderen Theorieniveau. Es geht bei dieser Bestimmung des Materiebegriffs nicht um den äußeren Sinn und dessen Inbegriff, den Raum (vgl. KrV A22, B41). Gegenstände des äußeren Sinnes sind auch die Objekte der reinen Geometrie, Gegenstände der äußeren Sinne sind ausschließlich solche, deren Kenntnis eine Wahrnehmung voraussetzt.278 Durch diesen Kontext wird nun auch festgesetzt, welche Art der Affektion hier nur intendiert sein kann. Es geht in gegenwärtigem Absatz nicht um die Affektion durch die Dinge an sich, eine transzendente Affektion also, wie sie Kant anzusprechen scheint, wenn er in der KrV schreibt: »wie Dinge an sich selbst (ohne Rücksicht auf Vorstellungen, dadurch sie uns afficiren) sein mögen, ist gänzlich außer unsrer Erkenntnißsphäre.« (KrV A 190) Diese erkenntnistheoretische Perspektive der Affektion, die die Kantforschung seit Erscheinen der KrV beschäftigt, ist an dieser Stelle nicht angesprochen, da raumzeitliche Bewegung - und von einer anderen ist in den MAdN nicht die Rede - nicht als Eigenschaft der Dinge an sich angesehen werden kann.279 Es kann daher in diesem Interpretationszusammenhang auch von

stimmung des Materiebegriffs hat mich M. Friedman in einem Gespräch hingewiesen: Damit Materie ein Gegenstand äußerer Erfahrung werden kann, muß irgendetwas Äußeres wahrgenommen werden. Und dies bedeutet nichts anderes als, daß die räumliche Entfernung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt auf irgendeine Weise überwunden werden muß. Diese Überwindung von Entfernung ist nun nichts anderes als Kants Begriff der Relativbewegung, der Veränderung äußerer Verhältnisse. Kantische Belege finden sich meines Wissens für diese schlüssige erkenntnistheoretische Erklärung jedoch nicht. 276 Kant dürfte Molyneux' Problem, ob also ein schließlich geheilter blindgeborener Mensch spontan allein durch den Gesichtssinn eine Kugel von einem Würfel unterscheiden könne, aus J. Lockes Essay und G. Berkeleys Treatise bekannt gewesen sein, und würde vermutlich deren Lösung, daß nämlich zu dieser Bestimmung der Tastsinn erforderlich sei, zugestimmt haben. 277 51018ff.; vgl. dazu auch unten Anm. 492. 278 Auf diese wichtige Differenz verweist bereits K. Cramer 1985, 137. 279 In § 12 seiner InauguralDissertation von 1770 schreibt Kant bereits: >>Quaecunque ad sensus nostros referuntur ut obiecta, sunt Phaenomena.« (II 397) Vgl. dazu auch K. Cramer

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1985, 148.

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>angewandte[n] Metaphysikmathematischen> materielle Substanz >Die Endabsicht, worauf die Speculation der Vernunft im transseendentalen Gebrauche zuletzt hinausläuft, betrifft drei Gegenstände: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes. In Ansehung aller drei ist das bloß speculative Interesse der Vernunft nur sehr gering, und in Absicht auf dasselbe würde wohl schwerlich eine ermüdende, mit unaufhörlichen Hindernissen ringende Arbeit transseendentaler Nachforschung übernommen werden, weil man von allen Entdeckungen, die hierüber zu machen sein möchten, doch keinen Gebrauch machen kann, der in concreto, d. i. in der Nachforschung, seinen Nutzen bewiese.[ ... ] Mit einem Worte, diese drei Sätze bleiben für die speculative Vernunft jederzeit transscendent und haben gar keinen immanenten, d. i. für Gegenstände der Erfahrung zulässigen, mithin für uns auf einige Art nützlichen Gebrauch, sondern sind, an sich betrachtet, ganz müßige und dabei noch äußerst schwere Anstrengungen unserer Vernunft. Wenn demnach diese drei Cardinalsätze uns zum Wissen gar nicht nöthig sind und uns gleichwohl durch unsere Vernunft dringend empfohlen werden: so wird ihre Wichtigkeit wohl eigentlich nur das Praktische angehen müssen.unterhalb< der reinen Verstandeserkenntnis im Bereich der induktiv-mathematisch verfahrenden Naturwissenschaft. Nun ist zwar der Zweck auch der MAdN nicht, »Naturerkenntnise [... ] zu erweitern (welches vielleichter und sicherer durch Beobachtung, Experiment und Anwendung der Mathematik auf äußere Erscheinungen geschieht)« (47726ff.), doch erschöpft sich ihr Zweck im Gegensatz zu dem der allgemeinen Metaphysik in der Klärung der Bedingungen dieser experimentellen und mathematischen Naturwissenschaft. Kant spricht mit Bezug auf die Trennung der MAdN von der Empirie einerseits und von der Mathematik andererseits von einer »inneren Notwendigkeit« (47714), weil diese Trennung aus der logischen Struktur der MAdN folgt und Einfluß auf den Inhalt der MAdN hat. Von einem »äußere[n], [... ] nur zufällige[n] « (477ts) Grund der gesonderten Behandlung der allgemeinen und der besonderen Metaphysik der Natur spricht Kant, weil es sich um einen den Wissenschaften externen Beziehungspunkt handelt, ihren Zweck nämlich, der, wie bereits ausgeführt, auf der einen Seite im Bereich des Praktischen liegt und auf der anderen in der Naturwissenschaft, der die MAdN eben die Begründung liefern sollen. Hinsichtlich ihres metaphysischen Charakters könnten also die MAdN sehr wohl innerhalb der (allgemeinen) Metaphysik verbleiben, doch ist es aufgrund der ihr eigenen Zwecksetzung (konstitutive Begründung von Naturwissenschaft im Gegensatz zu regulativer Annäherung an praktische Ideale) sinnvoll, sie getrennt zu behandeln. Daß der »äußere[ ... ], [... ] nur zufällige[ ... ]« (477ts) Grund der >besonderen Pflanzung< der MAdN ein >>gleichwohl wichtiger Grund« (477ts) ist, wird noch deutlicher, wenn man den Zweck, den Kant mit dem Verfassen der KrV und der Prolegomena verfolgt hat, berücksichtigt: Die Metaphysik, wie Kant sie historisch vorfindet, befindet sich seiner Auffassung nach in einem desolaten Zustand. Es muß alles daran gesetzt werden, damit sie den »sicheren Gang einer Wissenschaft« (KrV B VII u. ö.) nehmen kann. Zu diesem Zweck muß sie von allem befreit werden, was die Gleichförmigkeit dieses Gangs stören könnte: von Erkenntnissen a priori, die sich durch eine Vernunftkritik als Scheinerkenntnis entlarven lassen - und von Erkenntnissen a priori, die empirische Begriffe zugrundelegen, den MAdN.287

287 G. W. Leibniz ist, was den »sicheren Gang einer Wissenschaft« (Kr V BVII) anlangt, ähnlicher Auffassung wie Kant. Er verfolgt eine analoge Prinzipienscheidung zwischen Dynamik und Geometrie, metaphysischer und mathematischer Naturwissenschaft also, mit dem Ziel eines »[... ] ungestörte[n] Schritt(es] nicht weniger in der Philosophie als in der Mathematik« (G. W. Leibniz 1982, 5). Die Tatsache, daß Leibniz dennoch weniger radikal mit der Schulmetaphysik umzugehen gedenkt und die »überlieferte Lehre der Peripatetiker über Formen und Enteleebien (die mit Recht als rätselhaft betrachtet [... ] wurde)« (ebd.) verständlich machen will, macht in Kants Augen auch eine Überwindung der Leibnizianischen Monadologie erforderlich. Zu dieser Überwindung sollen nicht zuletzt die MAdN beitragen (vgl. Lehrsatz 4 der Dynamik).

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168

Textkommentar

Neben dieser zweckspezifischen Differenzierung der Metaphysik deutet Kant jedoch auch eine inhaltliche Beziehung ihrer Teile aufeinander an - nach der in den Absätzen 6 sowie 13 und 14 dargelegten systemarchitektonischen Abhängigkeit der besonderen von der allgemeinen Metaphysik der Natur nun die >>vortreffliche[n) und unentbehrliche[n) Dienstewie reine Verstandesbegriffe auf äußere Erscheinungen angewandt werden können< (vgl. KrV A 138). Wenn Kant also in gegenwärtigem Absatz von »objektive[r) Realität, d. i. Bedeutung und Wahrheit Bedeutung< bei Kant nicht unterschieden werden, geht aus folgender Formulierung hervor: »Daher erfordert man auch, einen abgesonderten Begriff sinnlich zu machen, d. i. das ihm correspondirende Object in der Anschauung darzulegen, weil ohne dieses der Begriff (wie man sagt) ohne Sinn, d.i. ohne Bedeutung, bleiben würde.Um[ ... ) des Nachweises willen, daß die Kategorien für die systematische Begründung einer Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft, unentbehrlich sind, sind die MA überhaupt geschrieben worden, und nicht, um dem

Vorrede· Absatz 16

169

Doch wenngleich Kant im gegenwärtigen Absatz keine deutliche Trennung zwischen den Zuständigkeiten des Schematismus auf der einen Seite und der MAdN auf der anderen vornimmt, so lassen sich dennoch Gründe gegen eine solche Identifikation anführen. Zum einen wird im Schematismus nicht die Seele thematisiert, wie in den MAdN die Materie thematisiert wird. Von einem Gegenstand des inneren Sinns, auf den die

Publikum die mindestens nicht unproblematischen Reflexionen des Autors zur Materietheorie um ihrer selbst willen mitzuteilen. Deshalb war die Publikation der MA für Kant auch so dringlich, daß er die materiellen Bedenken, die er ausweislich des angeführten Materials gehabt hat, zurückstellte und anscheinend hoffte, den Schwierigkeiten dadurch zu entgehen, daß er sich auf den Begriff von Materie überhaupt und die allgemeinsten Momente der Materietheorie beschränkte, während er die spezifischen Probleme auszuklammern bzw. bloß hypothetisch zu behandeln versuchte.Sinn und Bedeutung< der MAdN sehr konkret:»[ ... ] Newton's Principia represents a realization- perhaps the realization- of the trauseendental principles [... ] contained in the first Critique. As such, it provides Kant's system with an >example in concreto< that confers >sense and meaning< on the exceedingly abstract concepts and principles of transeendental philosophy. [... ]in this sense, Newton's Principia serves as the object of an important application of transeendental philosophy [... ].« (M. Friedman 1986,26 f.) Friedman fixiert die Legitimationsproblematik zwischen allgemeiner und besonderer Metaphysik der Natur am empirischen Materiebegriff, wie er in den MAdN ausgeführt wird, folgendermaßen: »The empirical concept of matter, a representation having one foot in the a priori basis for empirical knowledge provided by a combination of metaphysics (that is, general metaphysics) and mathematics, and the other foot in the necessary conditions for the application of this a priori basis to the actual objects of perception we in fact find arranged about us {the system of heavenly bodies), thus emerges naturally as the solution to Kant's problem. The system of heavenly bodies described by Newtonian universal gravitation thereby confers objective reality on the empirical concept of matter, and it is precisely the need for actual perceptually given instances here that makes this concept a genuinely empirical one.Beispielen, Fällen in concreto< (vgl. 478!7), indem sie die Newtonische Physik begründen. Die empirischen Begriffe der Materie und der Bewegung in der Newtonischen Formulierung der Principia sind damit Kants prominente Beispiele, die Vernunftprinzipien wissenschaftlich zu realisieren (vgl. zu Friedmans Position auch unten Anm. 770). Doch Kant beansprucht mit seinen MAdN (nicht mit Newtons Physik) der Transzendentalphilosophie Sinn und Bedeutung zu verschaffen. Friedman nivelliert also die Grenze zwischen den MAdN und der Newtonischen Physik. Die Grenze zwischen allgemeiner und besonderer Metaphysik der Natur (konkret: Schematismus und MAdN) nivelliert hingegen E. Förster, wenn er aufgrund der gleichlautenden Formulierungen im Schematismus-Kapitel und im gegenwärtigen Absatz der MAdN letztere als Teil der Transzendentalphilosophie einstuft, woraus dann im Sinne des Opus postumum überhaupt erst das Bedürfnis entstehen kann, erneut einen Übergang zur Physik zu schaffen, da dieser eben mit den MAdN noch nicht geleistet sei (vgl. dazu E. Förster 1987, 545-552).

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Textkommentar

Kategorien appliziert würden, kann im Schematismus keine Rede sein: zum einen nicht im Sinne der psychologia empirica, denn dem Schematismus darf (im Gegensatz zu den MAdN; vgl. 470t-12l kein empirischer Begriff zugrunde gelegt werden. (Abgesehen davon kennzeichnet Karrt in Absatz 9 der MAdN- Vorrede die psychologia empirica als eine unmögliche Wissenschaft.) Zum anderen kann im Schematismus von der Seele auch nicht im Sinne der psychologia rationalis die Rede sein, da sich sonst der spätere Aufweis eines diesbezüglichen Paralogismus erübrigt hätte. Umgekehrt wird in den MAdN auch nicht der Raum thematisiert, wie im Schematismus die Zeit thematisiert wird. Zwar spielt der Raum eine wichtige Rolle mindestens in dem Sinne, daß Materie nur den äußeren Sinnen und damit im Raum gegenwärtig sein kann -, doch ist nicht der Raum der Grundbegriff der Körperlehre, sondern eben der Begriff der Materie, welcher durch den Begriff der Bewegung bestimmt werden soll. Konkret: Karrt schreibt nicht: >Die Anschauung des Raums mußte daher durch alle vier genannte Funktionen der Verstandesbegriffe (in vier Hauptstücken) durchgeführt werden, in deren jedem eine neue Bestimmung derselben hinzu kam.< Karrt schreibt vielmehr: »Der Begriff der Materie mußte daher durch alle vier genannte Funktionen der Verstandesbegriffe (in vier Hauptstücken) durchgeführt werden, in deren jedem eine neue Bestimmung desselben hinzu kam.transzendentales Prinzipmetaphysische Prinzipien> [... ] daß wir, um die Möglichkeit der Dinge zu Folge der Kategorien zu verstehen und also die objective Realität der letzteren darzuthun, nicht bloß Anschauungen, sondern sogar immer äußere Anschauungen bedürfen. «290 Als Beispiele führt Kant hier die reinen Begriffe der Substanz oder der Kausalität an; sie besitzen objektive Realität nur deshalb, weil wir die räumlichen Anschauungen von Materie bzw. Bewegung haben. Die alle Kategorien umfassende 289 Anonyme (Garve/Feder) Rezension der KrV in den Zugaben zu den Göttingeisehen Anzeigen von gelehrten Sachen vom 19. Januar 1782, 3. Stück, 40-48 (wiederabgedruckt in A. Landau 1991, 10-17). E. Förster weist zu Recht auf die große Bedeutung dieser Rezension für Kant hin: »Üne can, I think, scarcely overestimate the importance of this review for the further development of Kant's position. His immediate reaction is wellknown. In three Notes (§ 13) and an Appendix to the Prolegomena, Kant tried to defend hirnself against the >unpardonable and almost intentional misconception< of linking his critical position to such >phantasms< as is Berkeley's >mystical and visionary idealism.< [... ] The argument, I believe, is not convincing as it stands; yet its main point is further developed and eventually finds a more forceful expression in the second edition of the Critique, in the Refutation of Idealism and in the General Note on the System of the Principles: All experience, as involving change, requires something >permanent in perception< in relation to which the alterations can be determined. Yet what allows us to represent something as abiding during change is the simultaneity of its manifold. And we can only represent a manifold as simultaneaus because we have the original representation of space.« (E. Förster 1987, 543) Vgl. zur Göttinger Rezension und ihrer Bedeutung meine Einleitung in die Prolegomena, K. Pollok 2001. 290 KrV B291 .

172

Textkommentar

Begründung für diese Veräußerlichung besteht (neben dem Abweis des IdealismusVerdachts) in folgendem: Die kategoriale Behandlung des Gegenstands des inneren Sinns, der Seele, steht, wie die Kommentierung von Absatz 9 der MAdN- Vorrede bereits gezeigt hat und der Beginn dieser Kautischen Argumentation nahelegt, unter Paralogismus-Verdacht, weshalb eine Seelenwissenschaft auch nicht möglich ist. Dies bedeutet nicht, daß das, was legitimerweise vom empirischen Ich ausgesagt werden kann, nicht unter den Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes stehen müßte, sondern nur, daß die Objektivität der Zustände des inneren Sinns aufgrund ihrer jeweiligen Meinigkeit und der damit undurchführbaren Mathematisierung (Darstellung in einer Anschauung a priori) nicht zu realisieren ist. Es bleiben also nur »Form und[ ... ] Prinzipien [ ... ] wird in den Kräften der Elemente, vermöge deren sie einen Raum einnehmen, doch aber so daß sie diesem selbst Schranken setzen, durch den Conflictus zweier Kräfte, die einander entgegengesetzt sein, Anlaß zu vielen Erläuterungen gegeben, worin ich glaube zu einer deutlichen und zuverlässigen Erkenntnis gekommen zu sein, die ich in einer andern Abhandlung bekannt machen werde.« (II 180; Hervorhebung: K.P.) Kant spricht sowohl hier als auch 1786 von >>eine[r] ursprüngliche[n] Anziehung im Konflikt mit der ursprünglichen Zurückstoßung>Kant versucht also einen Begriff mathematischer Negativität zu entwickeln, der vollständig relational ist. Das Negativsein ist demnach keine Eigenschaft von Größen; in Wirklichkeit ist es ein bestimmtes Verhältnis, und zwar ein Verhältnis der Entgegensetzung zwischen Gliedern eines Paares, die für sich genommen nicht negativ, sondern positiv sind. Nur im Verhältnis zum anderen kann man jeweils eins der beiden positiven Glieder >negativAufheben< zur Folge hat. Aber was aufgehoben wird, ist nicht die Wahrheit der prädikativen Urteile; das Aufgehobene ist auch nicht das Ding, von dem das Prädikat ausgesagt wird.« (M. Wolff 1981, 67) 293

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Textkommentar

Größen eine Begriffsbestimmung, die auch noch für die MAdN gilt: »Die Realrepugnanz findet nur statt, in so ferne zwei Dinge als positive Gründe eins die Folge des andern aufhebt. Es sei Bewegkraft ein positiver Grund: so kann ein realer Widerstreit nur statt finden, in so ferne eine andere Bewegkraft mitihr in Verknüpfung sich gegenseitig die Folge aufheben. Zum allgemeinen Beweise dient Folgendes. Die einander widerstreitende Bestimmungen müssen erstlieh in eben demselben Subjecte angetroffen werden. Denn gesetzt, es sei eine Bestimmung in einem Dinge und eine andre, welche man will, in einem andern, so entspringet daraus keine wirkliche Entgegensetzung. Zweitens, es kann eine der opponirten Bestimmungen bei einer Realentgegensetzung nicht das contradictorische Gegentheil der andern sein; denn alsdenn wäre der Widerstreit logisch und [... ] unmöglich. Drittens, es kann eine Bestimmung nicht etwas anders verneinen, als was durch die andre gesetzt ist; denn darin liegt gar keine Entgegensetzung. Viertens, sie können, in so ferne sie einander widerstreiten, nicht alle beide verneinend sein, denn alsdenn wird durch keine etwas gesetzt, was durch die andre aufgehoben würde. Demnach müssen in jeder Realentgegensetzung die Prädicate alle beide positiv sein, doch so, daß in der Verknüpfung sich die Folgen in demselben Subjecte gegenseitig aufheben. > Vor allem aber hat Lichtenberg offenbar in seiner Vorlesung das verwirklicht, was Kant sich im Vorwort seiner Schrift gewünscht hatte, daß >durch diesen Entwurf veranlaßt, mathematische Naturforscher es nicht unwichtig finden sollten, den metaphysischen Teil, dessen sie ohnedem nicht entübrigt sein können, in ihrer allgemeinen Physik als einen besonderen Grundteil zu behandeln und mit der mathematischen Bewegungslehre in Vereinigung zu bringen.Kontrastfolie> Der absolute Raum ist also nicht, als ein Begriff von einem wirklichen Objekt, sondern als eine Idee, welche zur Regel dienen soll, alle Bewegung in ihm bloß als relativ zu betrachten, notwendig [ ... ].« (5602-5) Soll dieser Raum Gegenstand einer Anschauung sein, so muß er als materiell vorgestellt werden - ein absoluter Raum ist keine mögliche Anschauung; da er jedoch lediglich als Voraussetzung zur materiellen Beweglichkeit gedacht werden muß, kann von seiner Materialität abstrahiert werden (vgl. 481n-482J). Die Argumentation besitzt >antinomischen Charakter>logische Allgemeinheit auch> [... ] die Erfahrung ständig schon [d. h. also auch in der Kr V; Anm. K. P.] als physikalische exakte Erfahrungswissenschaft versteh[t]« (L. Schäfer 1966, 50f.), erscheint der Verdacht berechtigt, daß Kant die Phoronomie im ausschließlichen Vorblick auf die Mechanik, die ihrerseits die Newtonische Mechanik

Erstes Hauptstück · Erklärung 2

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Mit einer anderen Intention als in gegenwärtiger Erklärung kritisiert Kam schon 1758 im Lehrbegriff die Unterbestimmtheit der Bewegungsdefinition als Ortsveränderung. Hier geht die Weiterbestimmung des Begriffs als Veränderung der äußeren Verhältnisse zu einem gegebenen Raum nicht mit der Bestimmung der Drehbewegung einher. Vielmehr soll 1758 durch die Betonung des Relationalen (actio gegengleich reactio) die Unmöglichkeit einer (Newtonischen) absoluten Bewegung gezeigt werden. Im Gegensatz zur Konzeption des absoluten Raums als eines ideellen Bezugsystems jeglicher Bewegung in den MAdN geht Kam hier jedoch von einer realen, dem unendlichen Regreß offenen Relativität, d. h. Gegenbewegung der Umgebung (=Erdrotation), aus: die Mauer in der Gegend von Paris, gegen die eine Kanonenkugel geschossen wird, bewegt sich mit einer masseabhängigen Geschwindigkeit auf die Kugel zu.324 So wie eine absolute Bewegung nach dem Lehrbegriff unmöglich ist, könne auch absolute Ruhe nicht angenommen werden: »Ich soll [sc. die Begriffe der Bewegung und Ruhe] niemals in absolutem Verstande brauchen, sondern immer respective. Ich soll niemals sagen: Ein Körper ruhet, ohne dazu zu setzen, in Ansehung welcher Dinge er ruhe, und niemals sprechen, er bewege sich, ohne zugleich die Gegenstände zu nennen, in Ansehung deren er seine Beziehung ändert. [... ]Ein jeder Körper, in Ansehung dessen sich ein anderer bewegt, ist auch selber in begründen soll, konzipiert hat, was der Phoronomie mindestens in bezug auf die Allgemeinheit ihres Begründungsanspruchs abträglich ist, insofern nicht vom Begriff der Bewegung überhaupt die Rede ist. Bewegung ist in der Phoronomie als Inertialbewegung und damit als eine Abstraktion bzw. ein Sonderfall von beschleunigten Bewegungen aufzufassen und setzt somit das Trägheitsgesetz voraus, das erst in der Mechanik eingeführt werden kann, da hierfür der Kraftbegriff vorausgesetzt wird (vgl. auch M. Friedman 1990[b], 242f.; 1992, 41f., 132ff.). Das genuin Kantische an der phoronomischen Bewegungszusammensetzung ist jedoch andererseits der Verzicht auf mechanische Implikationen unter Beibehaltung des Geschwindigkeitsbegriffs. Dies ist die Neuerung gegenüber Kants Vorgängern und auch gegenüber seiner eigenen vorkritischen Theorie. In § 4 der Wahren Schätzung von 1746 schreibt Kant im Sinne der Mechanik von der Absicht, >> [... ] den Ursprung dessen, was wir Bewegung nennen, aus den allgemeinen Begriffen der wirkenden Kraft herzuleiten.§.56. [... ]die Bewegung ist der Kraft die in den Körper würkt proportionirt. [... ] §.58. [... ] daß die Würkung des KörpersAder Gegenwürkung von B gleich sei. [... ] §.59. [... ] Zwei gleiche Kräfte, die zu gleicher Zeit nach entgegengesezten Richtungen würken, heben sich einander auf, und verursachen keine Bewegung: sind die Kräfte aber ungleich, so erfolgt die Bewegung nach der Richtung der grösseren Kraft, und zwar mit dem Unterschied beider Kräfte. [... ] §. 60. [... ]Wenn ein Körper von 2 Kräften zugleich, nach der Lage derer Seiten eines Parallelogrammi getrieben wird, so durchläuft er die Diagonal desselben, in eben der Zeit, worin er die Seiten durchlauffen wäre. Man sagt die Bewegung des Körpers A durch AC, sei aus den Kräften AB und AD zusammengesetzt. Und man sieht hieraus leicht ein was eine zusammengesezte Bewegung sei.« (J.P. Eberhard 21759, 47-53) Wie Eberhard so nimmt auch ]. A. v. Segner diese Trennung nicht vor; er diskutiert bereits im Kontext der Punktbewegung die Masseabhängigkeit der Bewegungsphänomene (vgl. J. A. v. Segner 31770, 17-37). Die bewegenden Kräfte behandelt Segner jedoch erst im Anschluß daran. Im Unterschied dazu setzt nach Kant der Massebegriff den Begriff einer bewegenden Kraft voraus. Meines Erachtens ist der einzige Autor, auf den Kant sich mit dieser Konstruktion beziehen könnte, W.j. G. Karsten, denn nur bei ihm findet sich eine Bewegungszusammensetzung im Gegensatz zu einer Kraftzusammensetzung. Vgl. dazu unten die Beschreibung des dritten Falles von Lehrsatz 1. 348 XXIX,1,1 76; vgl. in diesem Sinne auch die Danziger Physik-Nachschrift, XXIX,l,l 141. 349 Vgl. dazu Newtons Erstes Bewegungsgesetz (I. Newton 1999, 33).

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Textkommentar · Phoronomie

487 15 Grundsatz 1 Der Titel dieses Abschnitts ist irreführend. Die Phoronomie enthält - 488Js nur diesen einzigen Grundsatz, weshalb die beigestellte Ziffer 1 überflüssig ist. Ob Kant in einer ursprünglichen Konzeption weitere Grundsätze vorgesehen hat, ist nicht ausgemacht. Die beigestellte Ziffer 1 mag dafür sprechen.350 Darüber hinaus enthalten aber die MAdN als Ganzes nur diesen einzigen Grundsatz. Dies wirft ein eigentümliches Licht auf die Titulierung der einzelnen Abschnitte als solche, wofür das einzige Argument in Absatz 17 der Vorrede genannt wurde: Zeitmangel bei der Textredaktion.351 Eine Inhaltsanalyse ergibt, daß erstens entweder ein jedes weitere Hauptstück ebenfalls einen Grundsatz besitzen müßte, was bei der endgültigen Gestalt der Hauptstücke jedoch schwer vorstellbar ist352, oder daß zweitens Aussagen, die den Status von Grundsätzen verdienten, in den MAdN fehlen und dieser phoronomische >GrundsatzGrundsatzEine jede Bewegung, als Gegenstand einer möglichen Erfahrung [... ]« (48716; Hervorhebung: K.P.). An der Fehlerhaftigkeit der Bezeichnung ändert jedoch weder di~s etwas, noch auch die Tatsache, daß in der Phoronomie ausschließlich von geradlinigen Bewegungen (nicht von krummlinigen) die Rede sein soll, denn dann gilt er wiederum nur für die Phoronomie, die alleine zur Erklärung der Erfahrung nicht hinreicht. Diesen Grundsatz systematisch als den Lehrsätzen und nicht den Erklärungen, die prinzipiell nicht mit Beweisen, sondern mit Anmerkungen versehen werden353, vergleichbar einzuordnen, liegt nahe, weil seine Formulierung aufgrund ihres thetischen Charakters die eines Lehrsatzes ist und die darauffolgende Anmerkung den entsprechenden Beweis führt. Letzteres geschieht in drei Schritten (4881-7, 48815-20, 4887-14): Es ist empirisch nicht festzustellen, ob der uns gegenwärtige Bezugsraum nicht in einem umfassenderen Raum enthalten ist (4881-7). Argument Nr. 2 folgt erst an dritter Stelle: ein absoluter Fixpunkt ist empirisch nicht zu bestimmen (48815-20). Argument Nr. 3 besagt: es gibt keinen (anschaulichen) Unterschied zwischen der Bewegung des Körpers und der Bewegung des Raums. Die Folge ist: die · Begriffe der Körperbewegung und der Raumbewegung sind vertauschbar und können nur willkürlich (>>wollen«; 48814) durch den Verstand den jeweiligen Objekten zugeordnet werden (488s-14). Daß der Grundsatz nicht den Status einer Erklärung besitzt, kann auch darauswenngleich nicht zwingend - geschlossen werden, daß die ihn umgebenden Erklärungen 4 und 5 thematisch zusammengehören und etwas anderes ansprechen als der Grundsatz. In jenen geht es nicht wie in diesem um die Relativität der Bewegung, sondern um die Definition und die Bedingungen zusammengesetzter Bewegungen. Überdies -als letzter Aspekt der irrtümlichen Bezeichnung- kehrt derselbe Inhalt dieses Grundsatzes im vierten Hauptstück unter modalem Aspekt als Lehrsatz 1 der Phänomenologie wieder: »Eine jede Bewegung, als Gegenstand einer möglichen Erfahrung, kann nach Belieben, als Bewegung des Körpers in einem ruhigen Raume, oder als Ruhe des Körpers und dagegen Bewegung des Raumes in entgegengesetzter Richtung mit gleicher Geschwindigkeit angesehen werden.>Die geradlinige Bewegung einer Materie in Ansehung eines empirischen Raumes ist, zum Unterschiede von der entgegengesetzten Bewegung des Raums, ein bloß mögliches Prädikat.>als Gegenstand einer möglichen Erfahrung « (48716f.) ist nicht als eine Einschränkung, sondern als eine Erweiterung zu verstehen: der Grundsatz gilt nicht nur für phänomenale Bewegungen (anstatt für geometrische), sondern sowohl für geometrische, relational beliebig vorzustellende Punktbewegungen als eben auch für die Erfahrung von Bewegung. Die Ordnungsfunktion des Verstandes (vgl. 488uf.) bezieht sich auch auf Gegenstände möglicher Erfahrung: die Naturwissenschaft soll sich nicht in einer >> reine[n] Größenlehre (Mathesis) der BewegungenBewegungen < desselben Sternenhimmels von der Erde und zugleich beispielsweise vom Pluto aus wären unter dieser Prämisse unvereinbar und damit unmöglich. Kant expliziert diese Einschränkung mit dem Satz: »Ich nehme hier aber alle Bewegungen als geradlinig an.>Soliditätund anderen>§. 19. Wir können uns keinen Körper vorstellen, ohne uns denselben als ausgedehnt zu gedenken. Die Ausdehnung des Körpers hat ihre Gränzen, und der Körper in so fern eine gewisse Figur. Da wir aber keinesweges alles was ausgedehnt ist, deswegen gleich für einen Körper würden gelten lassen, so erhellet, daß zu dem Wesen des Körpers ausser der Ausdehnung noch etwas erfordert werde, das wir Materie nennen und das den Körper undurchdringlich macht, oder verhindert, daß da, wo ein gewisser Körper ist, nicht zu gleicher Zeit ein anderer Körper seyn kann.TätigkeitWirk-

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Textkommentar · Dynamik

ist neben Leibniz auch der auf diesen aufbauende Georg Erhard Hamberger von Bedeutung, denn auch dieser macht für die Undurchdringlichkeit der Körper eine wesentliche vis insita verantwortlich: >> § 35. Resistentia est actio corporis in corpus, qua huius corporis actio quaecunque, [ ... ] quocunque modo [ ... ] determinatur. [ ... ] Ergo resistentia est a vi insita determinata.«400 Und in § 37 derselben Schrift heißt es: >>Corpora dicuntur impenetrabilia, quatenus resistunt; ergo impenetrabilitas quoque est a vi insita, et corpora sunt in perpetua actione.Lambert und andere>Nach diesem anfänglichen Begriffe hätte man nun meines Erachtens ohne Bedenken das Solide unter die Substanzen rechnen können. Denn dieses liegt dabey zum Grunde, daß wir Eigenschaften existiren sehen [... ]. Die andere Hauptelasse von Substanzen geben uns die Kräfte an, weil diese das Solide in Verbindung erhalten, und eben dadurch von demselben verschieden sind. [... ] §. 621. Dem Soliden eignen wir, als eine wesentliche Eigenschaft, die Undurchdringbarkeit zu, so nämlich, daß es jedes andere Solide von dem Orte ausschleußt, da es ist. [... Es]läßt sich die Kraft nicht als eine bloße Eigenschaft des Soliden ansehen, sondern sie muß eine von dem Soliden verschiedene Substanz seyn,,,402 Kant wendet sich nun nicht nur gegen diesen Sprachgebrauch, sondern führt den Begriff des Soliden auf den Kraftbegriff zurück, d. h.

samkeit< (activitas) zum Kraftbegriff ohne weitere Argumentation stattfindet. Die Sphäre der Wirksamkeit wird mit dem Wirkungsbereich von Kräften lediglich identifiziert (vgl. E. Adickes 1924[b], 153 f.). Dieselbe Identifikation findet sich jedoch bereits bei Leibniz selbst, von dem Kant offenkundig den Gedanken der raumerfüllenden Repulsionskraft- wenngleich ohne die aristotelischen Relikte verschiedener Materiearten-übernommen hat: >>Und zwar macht die ursprüngliche Kraft des Leidens oder des Widerstehens genau das aus, was in der Schulphilosophie, wenn man richtig interpretiert, erste Materie genannt wird, wodurch es freilich geschieht, daß ein Körper von einem anderen Körper nicht durchd~ungen wird, sondern ihm ein Hindernis stellt, und zugleich mit einer gewissen Trägheit, um es so auszudrücken, das heißt einem Widerstand gegen die Bewegung ausgestattet ist[ ... ]. « (G. W. Leibniz: Specimen dynamicum I 3, 1982, 9) Die sich bereits in diesem Leibnizischen Textstück abzeichnende Schwierigkeit, zwischen einer Kraft der Undurchdringlichkeit und einer Kraft der Trägheit unterscheiden zu können, führt noch in Kants MAdN zu konzeptionellen Brüchen. Auch Kant kann kein phänomenales Kriterium anführen, das zwischen dynamischem und mechanischem Widerstand entscheiden ließe (vgl. Anmerkung zu Erklärung 1 der Dynamik, Anmerkung zu Erklärung 1 der Mechanik sowie Zusatz 2 zu Lehrsatz 4 der Mechanik der MAdN). 400 G.E. Harnherger 41750, 16. 401 Ebd. 20; zu Kants Stellung zu Harnhergers Theorie in der Wahren Schätzung vgl. dort I 25 ff., GOf. Vgl. dazu auch P. Grillenzoni 1998, 94 ff. Ohne weitere Begründung läßt E. Adickes in den MAdN den Aufbau des Dynamismus erst mit Erklärung 2 beginnen (vgl. E. Adickes 1924[b], 191). Gegen die dort gesetzte Zäsur spricht aber der nominaldefinitorische Charakter dieser Erklärung 2, denn eine Begriffsklärung allein läßt die Zielsetzung der Theorie noch nicht erkennen; Kant spricht beispielsweise immer wieder vom leeren Raum, ohne aber dessen Wirklichkeit erklären zu wollen. 402 J. H. Lambert 1771, II 257 f. Vgl. auch die Grundsätze und Postulate, die der Begriff des Soliden gibt, ebd. I 68.

Zweites Hauptstück · Lehrsatz 1

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Solidität und räumliche Existenz stehen nicht in einem bloßen analytischen Verhältnis, wie es die Lambertische Wesensaussage des Soliden unterstellt: »Ohne Solides und Kräfte, oder überhaupt ohne etwas Substantiales existirt nichts [... ].ein positives Bestreben seinen Zustand zu erhaltenDer Anfang ist verunglückt; will man möglichst wenig ändern, so muss man durch umstellen: nach nicht statt vor ihre. So wie der Text lautet, hat die zweite Hälfte des Satzes von denn an gar keinen Sinn, weil ja auch die erste Hälfte schon von einer (freilich von Kant als ungenügend bezeichneten) Erklärung der Undurchdringlichkeit redet. « (Ebd.)

Zweites Hauptstück · Erklärung 4

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Quantitäten bezeichnen, die eine extensiv, die andere intensiv. Hinsichtlich ihrer Eigenschaft der Größe überhaupt sind sie demnach kommensurabel. Denn auch die Qualität der Kraft ist nichts anderes als eine bestimmte Form der Quantität, wie Kant im Beweis der Antizipationen der Wahrnehmung anmerkt: »Es ist merkwürdig, daß wir[ ... ] an aller Qualität[ ... ] (dem Realen der Erscheinungen) nichts weiter a priori, als die intensive Quantität derselben, nämlich daß sie einen Grad haben, erkennen können [... ].Auch hieraus zeigt sich der Unterscheid des physikalischen und mathematischen Körpers. Im mathematischen Körper befinden sich keine Zwischenräume, er ist stetig wie der Raum, und seine Theile hangen alle an einander. Kurz ein mathematischer Körper gehört so wenig unter die würklichen Wesen, als die fabelhaften Helden des Alterthums.Soliden< besteht. Daß hier (wie andernorts bisweilen auch) eine bloße Nominalerklärung der mathematischen Raumerfüllung vorliegt, zeigen die dazugehörigen beiden Anmerkungen, in deren zweiter von der absoluten Undurchdringlichkeit als einer »qualitas occulta« (502n) die Rede ist. Die Realerklärung der Raumerfüllung muß gemäß Kants Dynamismus auf den Kraftbegriff rekurrieren. Argumentativ für den Dynamismus bringt diese Erklärung nichts Neues, da die relative Undurchdringlichkeit und mit ihr natürlich die relative Durchdringlichkeit der Materie auf der Zurückstoßungskraft als einer intensiven Größe beruhen und im Zusammenhang der vorstehenden dynamischen Lehrsätze diskutiert wurden. Der Status dieser Erklärung ist daher weniger vergleichbar mit dem der metaphysischen Argumentation des Haupttexts, sondern eher mit dem der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik, und zwar hier nicht mit den Diskussionen von physikalischen Einzelbegriffen (52526-53219), sondern mit der Gegenüberstellung der »mathematisch-mechanische[n] Erklärungsart« (5244o) und der »metaphysisch-dynamische[n]« (5251) Erklärungsart der. Materie zu Beginn und am Ende dieser Allgemeinen Anmerkung: es wird hier wie dort die Kautische Theorie gegen eine mögliche Alternative abgegrenzt und gegen mögliche Einwände verteidigt. Kant spricht in der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik ganz im Sinne gegenwärtiger Erklärung von der absoluten Undurchdringlichkeit als einem »leeren Begriff« (52514). Da die mathematisch-mechanische Erklärungsart der Materie, der Atomismus, dort eingehend behandelt wird, kann sich Erklärung 4 auf eine kurze Abgrenzung von dieser Theorie beschränken, um zusammen mit Erklärung 5 die Diskussion der (unendlichen) Teilbarkeit der Materie vorzubereiten (vgl. Lehrsatz 4). Während der Atomismus von einer Vereinigung des Vollen mit dem Leeren ausgeht, um die Konstitution materieller Körper zu erklären, basiert der Dynamismus auf einem raum-zeitlichen Kontinuum bestimmter Kräfteverhältnisse. Genauer kann hier darauf noch nicht eingegangen werden, da der Begriff der Attraktion als zweite wesentliche Grundkraft der Materie und damit der Begriff des Kräfteverhältnisses noch nicht systematisch eingeführt wurden. Die Kritik, die hier am Atomismus geübt wird, besteht in dem Vorwurf, daß dieser auf die Frage nach einer Ursache für die faktische, relative Undurchdringlichkeit keine Antwort geben kann. Vielmehr muß er, um diese zu erklären, eine Kombination absoluter Undurchdringlichkeiten einerseits mit absoluten Durchdringlichkeiten andererseits postulieren, Atome und Leeres also. Der Nachteil dieser Erklärungsart liegt in der phänomenalen Unbeweisbarkeit dieser HypotheseAbsolutvolles und Absolutleeres sind qualitates occultae -, wohingegen sich der Dynamismus auf die intensive Größe der Wahrnehmung eines relativen Widerstands gegen eine äußere Kraft als Ursache der Raumerfüllung berufen kann. Als Grundkraft kann diese Repulsion gelten, insofern sie (in Verbindung mit der zweiten Grundkraft der Attraktion) den phänomenalen Befund materieller Gegenstände er-

Zweites Hauptstück · Erklärung 5

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klären kann. 443 Die Zurückstoßungskraft ist nichts anderes als der phänomenale Widerstand.

Erklärung 5 Der Kraftbegriff überhaupt wurde bis jetzt eingeführt als räumlicher Widerstand, ursprüngliche Elastizität und damit Ausdehnungskraft. Diese Repulsivkraftist der Grund der Raumerfüllung. Karrt kommt nun auf das Problem der Teilbarkeit der Materie zu sprechen (Erklärung 5 und Lehrsatz 4), bevor er im Anschluß daran auf die zweite wesentliche Grundkraft, die Attraktion, die der ersten Grundkraft, der Repulsion, entgegengerichtet ist, eingeht (ab Lehrsatz 5). Wenn Karrt hier nun von Substanz spricht, so steht im Hintergrund noch die Konzeption der Monadologia physica, innerhalb derer die Monade als das ursprüngliche Element, die Substanz, bestimmte Kräfte als Akzidentien besitzt (vgl. I 481 u. ö.). Ob dies eine systematische oder bloß eine terminologische Nähe bezeichnet, wird der Fortgang der gegenwärtigen dynamistischen Argumentation zeigen. Es läßt sich aber bereits auf den ersten Blick ausmachen, daß der Begriff der Substanz in den MAdN mindestens explizit unter dem strengen Vorbehalt steht, weder Monaden noch Atome zu thematisieren (vgl. insbes. Lehrsatz 4 der Dynamik). Während Karrt in der Monadologia physica einer ontologischen Monadenkonzeption Leibnizischer Prägung seine Restriktion des Monadenbegriffs auf phänomenale Gegebenheiten, d. h. Körper, entgegensetzte444, ist Ziel der MAdN, den in der Monadologia physica noch verwendeten Begriff des Einfachen (vgl. I 477 u. ö.) aus dem phänomenalen Kontext überhaupt zu verweisen. Entgegen der früheren Auffassung wird die materielle Substanz nicht als das Einfache bzw. als die Zusammensetzung von Einfachem aufgefaßt, sondern als das, was unabhängig von anderen Gegenständen im Raum beweglich ist. Gemäß der Grundbestimmung der Materie (vgl. 4769ff.l als dem Beweglichen ist nun nach der Einführung des Begriffs der Raumerfüllung (vgl. 4966-9) ersichtlich, daß es abgesehen von der noch ausstehenden zweiten Grundkraft keines weiteren metaphysischen Begriffs bedarf, um materielle Substanz zu erklären. Syllogistisch führt Karrt in der gegenwärtigen Anmerkung diese Phänomenalisierung durch: Über den Mittelbegriff des >letzten Subjekts der Existenzsphere of activity< could gradually fade away or diminish, without violaring the conservation of substance in the least. Hence, by breaking the cruciallink between substantiality and spatial extent - by rejecting the idea that material substance must consist of substantial spatial parts external to one another - the theory of physical monads renders a quantitative conservation law impossible.additivity of massconservation< [... ] version of the First Analogy: the quantity of substance (as such) is conserved. But, the argument continues, since the quantity of matter is the arithmetic sum of its parts, and since the parts of matter are themselves substances, the quantity of matter must itself be conserved. [... ] The theory of physical monads renders a quantitative conservation law impossible by breaking the crucial link between substantiality and additivity.Sphäre der Wirksamkeit>At best, I suggest, continuity or infinite divisibility is to be taken as a >regulative< principle and argued for on pragmatic grounds.>[ ... ] der Raum, wenn er in sich betrachtet wird, nur eine ideelle Sache ist, wie die Zeit [... ]>daß der absolute Raum [... ] eine eigene Realität habe« (II 378), mit Eulers Argumentation gegen die bloße Idealität des Raums spricht aber vielmehr dagegen, daß Kant an der gegenwärtigen Stelle der MAdN Euler gemeint haben könne. Darüberhinaus erwähnt Kant in der Phoronomie und in der Phänomenologie der MAdN, wo er selbst den Be-

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Textkommentar · Dynamik

ger (50716) bezieht sich schlicht auf >Leibnizianer< wie Wolff478 und Baumgarten479, die nach Kants Ansicht in ihrer Interpretation und Weiterführung von Leibniz' Philosophie diese mißverstanden hätten, indem sie den Raum durch die Ordnung einfagriff des absoluten Raums behandelt, Euler nicht mehr (vgl. auch B. Gerlach 1998, 21 ff.). A. Speiser interpretiert also in die falsche Richtung, wenn er zur gegenwärtigen Stelle ,, Ein großer Mann ... «schreibt: >>Diese Auslegung [sc. der Euleeschen Raumlehre durch Kant] ist soweit richtig, als man das Wort •nur< auf die äußeren Dinge bezieht, denn Euler spricht [ ... ] den geistigen Dingen alle Räumlichkeit ab. Aber daß die äußeren Dinge, so wie wir sie sehen, •nur Erscheinungen< sind, das ist gewiß nicht seine Meinung. Die Physik hat es mit wirklichen Dingen zu tun, und ein zusätzliches ·Ding an sich>große Mann« gewesen ist. Diese Vermutung erweist sich jedoch als unzutreffend, zu deren Stützung zwar zeitgenössische Literatur in beträchtlichem Umfang angeführt wird, die jedoch die naheliegendsten Belege außer Acht läßt, namentlich den Gedankengang 50711-50810 und vor allem die oben zitierte Parallelstelle in der Entdeckung (VIII 248 ff.). Diese Passage wird von Gerlach nicht einmal erwähnt. Er geht von vornherein davon aus, daß ein >Leibnizianer< gemeint sein muß (vgl. B. Gerlach 1998, 23). Die Weise, wie Gerlach in einem einzigen kurzen Absatz die Vermutung auf Leibniz ausschließt, offenbart bei ihm selbst jedoch ein Mißverständnis: »Handelt es sich bei dem •großen Mann< um Leibniz? Dieser Vorschlag überzeugt am wenigsten, da sich doch in unserem Text nicht das geringste Anzeichen für einen zirkulär angelegten Gedankengang findet. Das Mißverständnis der Monadologie soll die Fehlinterpretation der Gegner jenes Mannes erklären, nicht aber mit dieser selbst zusammenfallen. Wenn es Kants propädeutische Absicht ist, eine deutliche Problemsituation vor Augen zu stellen, wäre es ein wenig adäquates Verfahren gewesen, Leibnizens oder gar Wolffs >wahre< Raumtheorie gegen die Schüler ins Feld zu führen, obgleich doch Kant selbst an anderen Stellen in gleicher Absicht beide Seiten nicht unterscheiden möchte.« (B. Gerlach 1998, 20) Zum einen möchte Kant durchaus beide Seiten, Leibniz und seine >SchülerUnableitbarkeit von anderen Grundkräftenstrong< position is that matter really is an a priori concept. Any >really possible< world must be one in which the concept of matter finds application. The >weak< position is that in our world the spatially extended permanent required by the unity of consciousness is in fact identical with matter. Matter happens to function as the perceptible representation of spatial and temporal relations, but (perhaps) we can conceive of other sorts of change besides movement in terms of which these relations could be defined. [... ] What seems to me tobe crucial isthat there are obvious differences between the Categories and Newton's laws in Kant's respective treatment of them (the former required for the unity of consciousness, the latter not) which lumping them together as synthetic a priori principles only obscures. In any event, whatever necessity Newton's laws have is not by virtue of the fact that they imply or are implied by the Categories, but because they articulate conditions that, at least in our world, must be satisfied if the concept of matter is to find application.« (G.G. Brittan 1978, 137f.) G. Buchdahl reklamiert für die metaphysischen Gesetzesaussagen der Naturlehre einen solchen >schwachen< regulativen Status und verteidigt von daher in Kantischen Termini den Kamischen Konstruktionsabweis: »[ ... ] the concern is with the possibility of such laws [sc. of motion] and concepts [sc. of repulsion and attraction]- not with their actuality, which is not a matter of >certainty< at all; that is, the concern is with the ontological and not the phenomenological side of things. [... ] The metaphysics of natureisnot concerned with the derivation a priori of the laws of mechanics, or of any laws whatever, but only with the question of >lawlikeness< in general.« (G. Buchdahl1986, 140; zur unmöglichen Konstruktion des Kraftbegriffs vgl. auch G. Buchdahl1968, 97-102) M. Friedman hingegen betont hinsichtlich des Konstruktionsbegriffs die Scheidung in Kants Argumentation zwischen dem metaphysisch-dynamischen und dem mathematisch-mechanischen Materiebegriff: »[ ... ] the dynamical concept of matter, in sharp contrast to the mathematical concept, can by no means be constructed in pure intuition. [... ] Therefore, we can only exhibit the real possibility of the two fundamental forces constituting Kant's dynamical concept of matter by perceiving their actuality in experience itself [... ].« (M. Friedman 1998c, 6) Die Nicht-Konstruierbarkeit der beiden Grundkräfte beruht danach auf deren Empirizität, ihrem Wahrnehmungscharakter

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Textkommentar · Dynamik

Prinzipien einer solchen eventuell möglichen Konstruktion besteht. Der Metaphysik geht es nur um die begriffliche Klärung der Prinzipien einer Konstruktion: Materie ist die wechselseitige Einschränkung einer nicht weiter ableitbaren Zurückstoßungsund einer nicht weiter ableitbaren Anziehungskraft. Dies ist eine metaphysisch-qualitative Beschreibung des Begriffs. Die mathematisch-quantitative Beschreibung, die ein aktuelles, exaktes Verhältnis der beiden Kräfte zueinander beinhalten würde, gehört nicht in den Rahmen der metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Metaphysik befaßt sich nicht mit Gesetzen, die ein quantitatives Verhältnis gewisser Größen bestimmen. Daß die beiden Grundkräfte sich wechselseitig einschränken, um eine bestimmte Materiemenge im Raum zu konstituieren, ist eine metaphysische Aussage. Die Bestimmung des Verhältnisses, wie sie sich einschränken, ist eine mathematische Aufgabe. Sollte es der Mathematik nicht möglich sein, eine Regel zur quantitativen Bestimmung dieses Verhältnisses zu finden, so tangiert dies nicht den Wert der metaphysisch-dynamischen Theorie der Materie, denn die Akten der Metaphysik sind an diesem Punkt bereits geschlossen. Die mathematische Aufgabe bestünde darin, die ursprüngliche Zurückstoßungskraft FR und die ursprüngliche Anziehungskraft FA in ein quantitatives Verhältnis zueinander zu setzen. Kant läßt dabei noch vollkommen unbestimmt, wie die beiden Kräfte sich jeweils zur Entfernung vom Kraftzentrum verhalten. Die Annahme, daß sie mit der Entfernung abnehmen, scheint unproblematisch (Kant geht in der folgenden Anmerkung darauf etwas näher ein), so daß für beide Kräfte, bevor ihr Verhältnis zueinander bestimmt werden kann, eine quantitative Bestimmung der Form F"'1/rx gefunden werden müßte. Derartige Untersuchungen liegen aber sozusagen jenseits der metaphysischen Anfangsgründe. In Zusatz 2 knüpft Kant an das in Lehrsatz 5 und dessen Ausführungen Gesagte an, jedoch tastet er sich hier bereits weiter an die mathematische Beschreibung der Materie heran, insofern nun von der Bestimmtheit des Grades der Raumerfüllung die Rede ist.- Ob sich das >>der erstereDie verschiedene Dichtigkeit einer gegebenen Quantität Materie rührt aber nicht von dieser ihrer Anziehung denn die ist zu klein sondern von der des ganzen Universi her.>[ ... ] ursprüngliche Anziehung im Konflikt mit der ursprünglichen Zurückstoßung einen bestimmten Grad der Erfüllung des Raums, mithin Materie möglich machen [... )expansiver< und >attraktiver< Elastizität (vgl. 546 Gleich zu Beginn von Newtons Principia findet sich die entsprechende Definition V: »Die Zentripetalkraft ist eine solche Kraft, von welcher die Körper von überall her zu irgendeinem Punkt hin als Mittelpunkt gezogen werden, gestoßen werden bzw. infolge deren sie dorthin irgendwie zu gelangen versuchen.« (I. Newton 1999, 24) Und im Scholium zu Proposition V. Theorem V in Buch III heißt es: »Bislang haben wir jene Kraft, von welcher die Himmelskörper auf ihren Umlaufbahnen gehalten werden, als Zentripetalkraft bezeichnet. Daß ebendiese die Schwere ist, läßt sich nicht bestreiten, und deshalb werden wir sie künftig Schwere nennen. Die Ursache für jene Zentripetalkraft, von welcher der Erdmond auf seiner Bahn gehalten wird, muß sich nämlich gemäß der Regeln I, II und IV bis zu sämtlichen Planeten hin erstrecken.> mathematische Aufgabe > einer solchen vielleicht möglichen Konstruktion>Frage 29. Bestehen nicht die Lichtstrahlen aus sehr kleinen Körpern, die von den leuchtenden Substanzen ausgesandt werden? Denn solche Körper werden sich durch ein gleichförmiges Medium in geraden Linien fortbewegen, ohne in den Schatten auszubiegen, wie es eben die Natur der Lichtstrahlen ist.«554 Diese Emanationstheorie hat nach Kant jedoch die bereits genannte Schwierigkeit, gleichmäßig erleuchtete Flächen nicht direkt erklären zu können. Es bedarf der Zusatzprämisse der Brechung/Beugung eines Lichtstrahls an einem ätherischen Medium, um diesen einen Lichtstrahl in mehrere schwächere aufzufächern. Die Wellentheorie des Lichts, die Kant, wie bereits ausgeführt, als Analogon zur Wirkungsweise der ursprünglichen Zurückstoßungs- und Anziehungskraft betrachtet, kann im Gegensatz zur Emanationstheorie die gleichmäßige Beleuchtung einer Fläche ohne Zusatzannahmen erklären. Wenn Kant diese Theorie L. Euler zuschreibt, so kann er sich damit auf dessen Nova theoria lucis et colarum beziehen, wo es in§ XXII heißt: >>Lumen igitur ante omnia simili modo quo sonum per medium quoddam elasticum ope pulsuum propagari statuo [... ].§.XXIII. Hoc igitur medium, per quod Iumen undique diffundi pono, non erit diversum ab eo, quod apud philosophos aetheris nomine consideratur: quare uti sonus per aerem, ita simili modo Iumen per aetherem propagatur. Est ergo aether fluidum subtile elasticum, quod omnia loca in mundo ab aliis corporibus relicta adimplet [... ]. [... ] daß der Schall in verschiedenen Stücken mit dem Lichte übereinstimme, und man kan auf die Gedanken kommen, daß selbst die Farben etwas dergleichen seyn dürften, als die Töne. Sollte also das Licht nicht ebenfalls in einer schütternden Bewegung einer elastischen Materie bestehen, wie der Schall von nichts anders als von einer schütternden Bewegung der Luft herrühret?,,556 Kant war also bereits vor der Kenntnis von Eulers Briefen an eine deutsche Prinzessin557 von dessen Wellentheorie unterrichtet und schloß sich dieser an, wie sich über die gesamte Schaffenszeit Kants dokumentieren läßt. In der Allgemeinen Naturgeschichte spricht Kant vom >> [ ... ] Licht, wel-

554 I. Newton 1983, 244f. Dieser Emanationstheorie des Lichts schließt sich auch P. Muschenbroek an: » §. 842. Dasjenige, welches macht, daß die Seele vermittelst des Auges sieht, wird das Licht genannt. Dieses Licht fließt entweder in einer geraden Linie aus dem leuchtenden Körper ins Auge, oder es prallt von den erleuchteten Körpern ins Auge.« (P. Muschenbroek 1747, 475) Die Differenzierung, die Muschenbroek hier vornimmt, bezieht sich prominenterweise auf die Differenz zwischen Sonnen- und Mondlicht. 555 L. Euter 1746, 181f. 556 ]. A. Segner (31770, 454) Dieselbe Auffassung vom Schall findet sich auch bei]. P. Eberhard (21759, 267-273). Unter expliziter Berufung auf Segner (ebd. 304) schließt sich Eberhard auch dessen Lichttheorie an (ebd. 293, 301-305). 557 In diesen Briefen schließlich finden sich längere Passagen zur Lichtthematik und insbesondere auch zur Theorienopposition Emanations- vs. Undulationslehre und zur Analogie von Licht und Schall. Vgl. die Briefe 17-27 sowie 134-36 (L. Euler 1769, I 54-93, 222-233).

Zweites Hauptstück · Lehrsatz 8

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ches nur eine eingedrückte Bewegung ist( ... ].« (I 308) Ebenfalls 1755 schreibt Kant in De igne: »Si hypothesin naturae legibus maxime congruam et nuper a clarissimo Eulero novo praesidio munitarn adoptaveris, lucem nempe non effluvium esse corporum lucidorum, sed pressionem aetheris ubique dispersi propagatam [... ] confiteberis. « (I 378) Die Auffassung der MAdNsteht also in einer Linie, die sich von den frühesten Äußerungen Kants herschreibt, und auch über die MAdN hinaus zu verlängern ist.558 Eine Abweichung zugunsren der Emanationstheorie scheint sich in der späteren Anthropologie zu finden: »Auch das Gesicht ist ein Sinn der mittelbaren Empfindung durch eine nur für ein gewisses Organ (die Augen) empfindbare bewegte Materie, durch Licht, welches nicht wie der Schall blos eine wellenartige Bewegung eines flüssigen Elements ist, die sich im Raume umher nach allen Seiten verbreitet, sondern eine Ausströmung, durch welche ein Punkt für das Object im Raume bestimmt wird, und vermittelst dessen uns das Weltgebäude in einem so unermeßlichen Umfange bekannt wird [ ... ]. Ausströmung< mit wirklicher (Newtonischer) >Emanation< gleichzusetzen. Die Differenzierung bezieht sich damit nur auf das Medium, in dem sich die Welle verbreitet. Ein Medium (die Luft), das zwar sehr flüssig, dennoch aber aus diskreten Partikeln zusammengesetzt ist, erlaubt die Bewegungen des Schalls um Ecken herum. Ein Medium (der Äther), das »ursprünglich>gar sehr zweifle«.

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Textkommentar · Dynamik

sage, die den Vorteil der Wellentheorie kommentiert, eine Verbindung zur Wärmelehre herstellt und dabei auch die Ausbreitungsmedien-denÄther als das »fluidum originarium,,559- berücksichtigt: >>Ohne Wärme ist kein Körper flüßig außer dem Äther, dieser ist eine ursprünglich flüßige Materie. Ohne ihn können wir keine Wärme Licht etc. erklären. [... ] Phaenomena aus dem motu tremulo der Materie 1. Das Licht. Geht durch die Leere des Himmels und auch durch Körper als Glas etc. [... ] 2. Die Wärme durchdringt alle Körper, aber mit dem Unterschiede, das Licht in einem Augenblick, die Wärme aber langsam. Ferner, Wärme breitet sich nach allen Seiten, das Licht aber geht nach geraden Linien und daher muß es nach den Entfernungen abnehmen. Das Licht a. beleuchtet die kuglichte Fläche b.c.d. und daßelbe auch f.g.e.560 Die Kugel Flächen verhalten sich wie die quadrate der Entfernungen der diametrorum. Mit welcher Geschwindigkeit? Cartesius glaubt mit keiner, sondern in dem Augenblick da es entsteht, ists auch überall zu sehen. Er stellte sich das Licht als viele Kügelchen vor; wenn die erste berührt wird, so bewegt sich zugleich die letzte. Roemer, ein Schwedischer Mathematicus entdeckte zuerst, daß das Licht einige Zeit brauche um sich fortzubewegen, und zwar aus den Finsternißen der Trabanten des Jupiters, deren Anfang später als nach der Berechnung geschah; V2 Viertelstunde braucht das Licht der Sonne bis zu uns zu kommen. Das System der Emanation nach Newton ist ein Ausflu.ß des leuchtenden Körpers. Nach diesem System müßten in der Entfernung die Lichtstrahlen sich so ausdehnen, daß sie auch Lichtleere Räume !aßen. Euler vergleicht das Licht mit dem Schall und nach diesem werden alle Theile auch in der Entfernung beleuchtet. Diese Meynung ist viel richtiger. Was der Ton in Ansehung des Schalls ist, das sind die Farben in Ansehung des Lichts. Was der Schall in Ansehung der Luft ist, das ist das Licht in Ansehung des Äthers. [... ] Die Modification des Lichts durch dichte Körper giebt Farben. Es sind also keine Farben selbst ständig da, sondern sie entstehen durch die Modification des Lichts, so wie durch die Modification des Schalles die Töne entstehn. Licht und Schall, Farben und Töne sind analogisch. Erstere entstehn durch Bewegung des Äthers, die zweiten durch Bewegung der Luft. [... ) Die Wärme besteht in motu tremulo aber nicht nach geraden Linien wie das Licht sondern sie breitet sich nach allen Seiten aus. Der Punktabreitet seine Wärme nach allen Seiten aus, theilt sie auch m mit und m wieder nach allen Seiten. Wärme wird allen Seiten mitgetheilt. - Keine Wärme geht durch einen leeren Raum aber wohl Licht [sc. aber natürlich nicht ätherleer; K.P.). Denn Wärme bedarf einen Körper dem sie sich mittheilt, Licht aber keinen leuchtenden Körper dem es sich mittheilen könnte. ,,561

XXIX,l,l 86. Die Punkte b., c., d. liegen auf einer Kugelfläche, die einen geringeren Abstand vom Strahlungszentrum hat als die Kugelfläche mit den Punkten f., g., e. (Anm. K. P.) 561 XXIX,l,l 83 ff.; Vgl. neben dem bereits zitierten Abschnitt aus L. Euler 1746, 181f. auch dessen 19. Brief an die Prinzessin: "Wenn uns nun die Erschütterungen der Luft den Schall verschaffen, was werden wohl die Erschütterungen des Aethers hervorbringen? Ich glaube, Ew. H. werden es leicht errathen, daß es das Licht oder die Lichtstraten seyn. Es scheint 559

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Zweites Hauptstück · Lehrsatz 8

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Die Danziger Physik-Nachschrift bringt zwar gegenüber der Berliner PhysikNachschrift keine wesentlichen Neuerungen, doch findet sich hier ausnahmsweise ein gewisser Vorbehalt gegenüber dem Eutersehen Modell: >>Newton glaubte auch, daß das Licht, wenn es eine elastische Materie ist, sich nach allen Seiten ausbreiten müßte. Euler hat diese Schwierigkeit zwar beantwortet aber noch nicht hinreichend.«562 Abgesehen davon, daß es sich bei dieser Passage um eine VorlesungsNachschrift handelt, deren Wortlaut nicht mit Kants Auffassung übereinstimmen muß, fällt- wenn ich nicht irre- in L. Euters Nova theoria lucis et colarum kein einziges Mal das Wort >unda< bzw. das Wort ,fluctusMomenten der spezifischen Verschiedenheit der Materie[n] < (vgl. 52522). Daneben beinhaltet dieser Abschnitt aber auch eine Metareflexion auf den Materiebegriff: Ausgehend vom Problem des Leeren reflektiert Kant bewertend die Unterschiede zwischen zwei konkurrierenden Materietheorien, dem Atomismus und dem Dynamismus. Letztendlich überwiegen die Vorteile des letzteren dessen Unzulänglichkeiten. Damit soll die mit dieser Anmerkung abgeschlossene Dynamik innerhalb der Naturphilosophie auch eine methodische Legitimation erhalten. Gemäß diesen beiden Aspekten läßt sich die Allgemeine Anmerkung folgendermaßen gliedern: Nach einer Einleitung (a), die bereits die Differenz zwischen Atomismus und Dynamismus aufstellt (5232t-525t9), geht Karrt in einem Mittelteil (b), der seinerseits in vier Punkte gegliedert ist, auf einzelne Begriffe ein, die mit dem Materiebegriff derart unmißverständlich verknüpft sind, daß eine Materietheorie auf ihre Erläuterung nicht verzichten darf (5252o-532t9). Ihre Erklärbarkeit stellt einen nervus probandi der Materietheorie dar und ist damit eine Entscheidungshilfe für den Widerstreit zwischen den beiden genannten Materietheorien. Im Schlußteil (c) wird dieser Widerstreit (vorsichtig) für den Dynamismus entschieden (5322o-5351Q). a) 5232t-52519 Kant beginnt den ersten Abschnitt der Allgemeinen Anmerkung mit der Diskussion der Unterschiede zwischen dem Atomismus- Kant spricht auch von der »mathematisch-mechanische[n] Erklärungsart>die Realitaet der Körper(:) Der Raum wird erfüllt durch attractive und expansive Kräfte. Undurchdringlichkeit kann man besser vis repulsiva nennen. Des Newton attractio universalis ist die Ursache der Schwere, welches a priori schon nöthig ist, um der expansiven Kraft zu widerstehen, und auch aus der Erfahrung von der Bewegung der Himmels Körper geschlossen werden kann.« (XXIX,l,l114f.; Hervorhebung: K. P.) Erst beide Grundkräfte vereinigt bezeichnen hier die Realität eines Körpers. Von einer Limitation ist dabei keine Rede.

342

Textkommentar · Dynamik

der »metaphysisch-dynamische[n]It [sc. Atomism] is >mechanical< insofar as the [... ] basic properties attributed to matter are extension, hardness, impenetrability, mobility and inertia and insofar as natural phenomena are explained in terms of these properties and contact and impact forces. Ir is >mathematical< insofar as the resulting concept of matter is quantitative; in Kant's own favored vocabulary, it can be >constructed> Ort, Ausdehnung und Figur>daß alles Reale der Gegenstände äußerer Sinne, die das, was591 nicht bloß Bestimmung des Raums (Ort, Ausdehnung und Figur) ist, als bewegende Kraft angesehen werden müsse [... ].Menge der Materie in einem gegebenen Raumeursprünglichen Anziehung>Momente[n], worauf ihre spezifische Verschiedenheit sich insgesamt a priori bringen (obgleich nicht eben so ihrer Möglichkeit nach be-

Zweites Hauptstück · Allgemeine Anmerkung zur Dynamik

351

greifen) lassen muß« (525nHJ, zusätzlich unterstrichen wird.596 Alle vier Punkte müßten demnach kategoriale Bestimmungen der Qualität der Materie sein, da es sich um eine Anmerkung zur Dynamik handelt. Die Begriffe des Körpers, des Volumens und der Dichte müßten der Quantität der Materiequalität, der Begriff des Zusammenhangs sowie das Phänomen der Aggregatzustände müßten der Qualität der Materiequalität, der Begriff der Elastizität müßte der Relation der Materiequalität, und der Begriff der chemischen Auflösung müßte der Modalität der Materiequalität zuzuordnen sein. Diese Parallelisierung läßt sich jedoch inhaltlich nicht eindeutig festmachen. Explizit findet sich ohnehin kein Hinweis darauf.597 1. (52526-52611) Unter dem ersten Punkt definiert Karrt die Begriffe des Körpers, des Volumens und der Dichte. Im Gegensatz zur späteren Definition (vgl. Erklärung 2 der Mechanik) soll hier unter einem Körper lediglich eine Materie mit einer gewissen Gestalt, d. h. eine begrenzte Materie verstanden werden.598 Wird nun nur auf 596 Vgl. E. Adickes 1924[b], 226f. sowie]. Vuillemin 1955, 170-189. E. Adickes verwechselt jedoch die Karrtischen Begriffe >Titel< und >MomenteDie elektrische Materie>[ •.• ]wie können zwei verschiedene Materien in gleichen Räumen verschiedene Mengen des Beweglichen enthalten, wenn sie beide in ganz gleicher Weise ins Unendliche teilbar sind?!« (E. Adickes 1924[b], 293; vgl. auch 217, 294) 654 Vgl. zu diesem Begriff auch die Kommentierung der Anmerkung des nachfolgenden Lehrsatzes 1. 655 Die Begriffsbestimmung, ein Körper sei eine Masse von bestimmter Gestalt (vgl. 53717 ff.) findet sich auch bei W.J. G. Karsten: »[ ... ] die Richtigkeit des Sprachgebrauchs erfodert, daß man die Bedeutung der Wörter: Masse und Körper, gehörig unterscheide. Holz, Bley,

394 53723 -54126

Textkommentar ·Mechanik

Lehrsatz 1 Nachdem die vorstehende Erklärung den Begriff einer Quantität der Materie eingeführt hat, geht es in gegenwärtigem Lehrsatz 1 und den dazugehörigen Erläuterungen um die naturwissenschaftliche Praktikabilität dieses Begriffs: es werden Möglichkeiten seiner physikalischen Füllung, d. h. seiner Quantifizierung, diskutiert. Inhalt des Lehrsatzes ist die These, daß die Quantität der Materie im Vergleich mit beliebig gearteter anderer Materie nur in Bewegung, und hier durch die mechanische Bewegungsgröße, den Impuls, und die bloß phoronomische Bewegungsgröße, die Geschwindigkeit, gemessen werden kann (m 1 : m 2 wie p 1 : P2> wenn v const.).656 Weshalb diese Behauptung eine Betonung auf dem Vergleich mit jeglicher anderer Materie besitzt, liegt in der aus einer solchen Bestimmung resultierenden Invarianz gegenüber der Dichte der betreffenden Materien. Impuls und Geschwindigkeit sind physikalische Größen, die unabhängig von der Dichte der bewegten Materie bestehen. Im Gegensatz dazu kann eine Materiequantität mit einer anderen hinsichtlich des Volumens nur verglichen werden, wenn die beiden Materien dieselbe Dichte besitzen (m 1 : m 2 wie V1 : V2, wenn p const.). Kant hatte auf diesen Umstand bereits in der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik hingewiesen. Dort ging es um die Bestimmung der Dichten zweier ungleichartiger Materien, die im Rahmen der Dynamik unmöglich ist, denn der dazu erforderliche Begriff der Masse ist ein mechanischer (vgl. 5264-11). Im Beweis zu diesem Lehrsatz 1 schließt Kant auf die Dynamik rekurrierend die Möglichkeit einer direkten Bestimmung der Materiequantität aus. Die Quantität der Materie als die Menge des Beweglichen in einem Raum kann über die Bestimmung der Teile dieser Materie nicht gefunden werden, da der Begriff des Teiles aufgrund der unendlichen Teilbarkeit der Materie kein konstitutiver Begriff innerhalb einer dynamistischen Materietheorie ist.657 Diese Begründung steckt angedeutet hinter

Eisen, sind Massen, ein hölzerner, bleyerner oder eiserner Würfel sind Körper.Masse< ohne jeden Unterschied diese Materiemenge. Man kennt diese durch das Gewicht des jeweiligen Körpers. Denn ich habe mit Hilfe sehr genau durchgeführter Pendelversuche herausgefunden, daß sie dem Gewicht proportional ist [... ].Eingedrückte Bewegung< erhält sichnur solange, wie eine äußere Kraft auf den bewegten Körper einwirkt, solange der Körper also angeschoben wird (vgl. §§ 15-18, 114-121). Das Cartesische Kräftemaß gilt, so der junge Kant, für >eingedrückte Bewegungen< - die Kraft des Körpers bemißt sich nur nach der Geschwindigkeit (mv); es handelt sich um eine tote, eingedrückte Kraft. Das Leibnizische Kräftemaß gilt für >freie Bewegungen> Daher theile ich alle Bewegungen in zwei Hauptarten ein. Die eine hat die Eigenschaft,

Drittes Hauptstück · Lehrsatz 1

399

nen den Körpern nicht genuine Bewegungskräfte bei, die für die Fortdauer einer Bewegung verantwortlich wären, vielmehr können Druck und Stoß gleich behandelt werden. Sollte ein Körper, der angeschoben wird, zum Stillstand kommen, sobald der Druck fortfällt, so liegt dies nicht an fehlender lebendiger Kraft, sondern an einem Reibungswiderstand; fällt dieser Reibungswiderstand und jegliche Fremdeinwirkung (z. B. Gravitation) fort, so bewegt sich der Körper gleichförmig und geradlinig ohne Geschwindigkeitsverlust fort. Da der Trägheitssatz an dieser Stelle zu Beginn der Mechanik jedoch noch nicht zur Verfügung steht, geht Kant auf diesen explizit auch nicht ein; er wird im Kontext von Lehrsatz 2 behandelt.665 Wollte man unbedingt an dieser Nomenklatur von toten und lebendigen Kräften festhalten, so könnte man nach Kant allenfalls die in der Dynamik eingeführten, ursprünglichen Kräfte der Materie, die ihr unabhängig von ihrem Bewegungszustand zukommen, als tote Kräfte bezeichnen und die nun in der Mechanik eingeführten, auf den ursprünglichen beruhenden, gleichwohl aber nur in der Bewegung wirkenden Kräfte als lebendige. Mit der Geschwindigkeit, die eine Masse bei ihrer Wirkung durch Bewegung besitzt, hat diese Differenz jedoch nichts zu tun. -Die bereits vorher und auch zuletzt angesprochene Einebnung der Differenz zwischen Druck und Stoß, die Kant hier vornimmt, ist jedoch in folgendem Sinne mindestens hinsichtlich der Differenz von dynamischen und mechanischen Kräften problematisch: sollen tote und lebendige Kräfte der Dynamik bzw. der Mechanik zugeordnet werden, »ohne auf den Unterschied der Geschwindigkeit zu sehen>[ ... ] it is the principle of the equality of action and reaction that connects gravitation with the force of motion. [... ]lt follows that usage of the balance - in cantrast to other alternatives for measuring mass - is actually not rejected but reconstrued as >mechanical< - if >only indirectly so.< Weighing is supposed to be based on the determination of the relevant body's force of motion. This shows that Kant does actually not obtain his mass values from collision processes but from employing scales.>[ ... ] auf subjektiven Gründen[ ... ] der Verstandeserkenntnis selber [sc. beruht], nämlich auf den Bedingungen, durch die es ihm leicht und bequem erscheint, seine Scharfsichtigkeit zu gebrauchen.« (II 418) Andererseits bezieht das Prinzip sich auf den mundus sensibilis, insofern es besagt, >> [... ] daß schlechterdings nichts an Stoff entstehe oder vergehe, und daß aller Wechsel der Welt allein die Form betreffe; [... ] wenn man den Stoff selber als fließend und vorübergehend zuließe, bliebe gar nichts Festes und Beharrliches übrig, das eine Erklärung der Phaenomena nach allgemeinen und beständigen Gesetzen und so den Gebrauch des Verstandes weiter förderte.«673 Dieser Grundsatz der Beharrlichkeit ist dieser Schrift

nämlich den nachfolgenden drei Lehrsätzen und nicht auch dem Lehrsatz 1 jeweils eine Kategorie zugeordnet werden kann, beseitigt (vgl. ebd. 8 f.). Während Carriers Rekonstruktion der Kantischen Theorie der Massebestimmung auf die Gravitationserscheinung beim Wiegen abzielt, geht die entsprechende Rekonstruktion M. Friedmans auf die Gravitationserscheinungen zwischen Himmelskörpern. Wie Carrier, so hat vor diesem bereits Friedman an den von Kant hergestellten Zusammenhang zwischen Gravitation und Massebestimmung in 54114-26 angeknüpft. Doch bewertet Friedman weniger das Wiegen der Körper als zentral, sondern vielmehr die astronomische Bestimmung der Massebestimmung. Entscheidend für Friedmanist demnach die These Kants (die dieser auch Newton unterstellt), daß die Proportionalität von Masse und Gravitation der Planeten (vgl. 51532-37) die Anziehung als eine ursprüngliche Materieeigenschaft erfordere. Daher lasse sich die astronomische Massebestimmung der Materie als theoretisches Ziel der Mechanik ansehen. Oder in einem größeren Zusammenhang formuliert: nur wenn (wie nach der Kantischen Konzeption) die Gravitation ein wesentliches Merkmal der Materie ist, läßt sich der Begriff der Materie auch auf Erfahrung anwenden, d. h. die Quantität der Materie bestimmen. (M. Friedman 1986, 41-51; vgl. auch 1992, Kap. 3) Auf die Problematik, die diese Interpretation hinsichtlich der textlichen Grundlage besitzt, wurde bereits hingewiesen (vgl. Robert DiSalle 1990). M. Carrier faßt die wiederholte Kritik an Friedmans Rekonstruktion folgendermaßen zusammen: >>I am prepared to grant that Kant's argument, as reconstructed along Friedman's lines, is subtle and brilliant. The drawback is, however, that the textual evidence in its favor is somewhat scarce. Friedman's reconstruction says how Kant could have improved his argument or how he should have argued rather than he actually did.« (M. Carrier 1999, 11) 673 li 418f. Eine weitere noch allgemeinere Konstanz bezieht sich, wie Kant in Sectio I dieser Schrift ausführt, auf die wesentliche Form der Welt. Die Identität der Grundform - Kant

Drittes Hauptstück · Lehrsatz 2

407

zufolge methodisch problematisch, weil der Verstand ihn für einen Grundsatz des Phänomenalen hält, während er doch vielmehr »[ ... ] lediglich durch die Zusammenstimmung mit einem uneingeschränkten und ausgedehnten Gebrauch des Verstandes, nach dessen eigentümlicher Natur[ ... ]>allgemeinen Metaphysik« (54132) spricht, welcher ein (Grund-)Satz als Fundament dieses mechanischen Gesetzes. entnommen werden soll, so bezieht er sich unmißverständlich auf die Erste Analogie der Erfahrung in der Analytik der Grundsätze der KrV.677 Bereits in den Ausführungen zu dieser Ersten Analogie nimmt Kam eine Restriktion auf materielle Substanz vor, insofern sich hier eine Identifikation der Substanz mit der Materie findet (vgl. KrV B 228, 230), doch ist diese Einschränkung der transzendentalen Argumentation der KrV nicht wesentlich. Da die entsprechenden Formulierungen in den MAdN denen der B-Auflage der KrV ähnlich sind (vgl. 54hs-35 und KrV B 224), kann sie hier als Referenztext dienen. Auf eine nähere Interpretation des Beweises dieser Analogie sowie eine Diskussion von deren Unterschieden in den beiden ersten Auflagen der KrV muß hier jedoch verzichtet werden. Die Analogie enthält den >>Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz«, der folgendermaßen lautet: »Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, 601) Und Friedman fährt fort: >> [... ) the whole point oftheinfinite divisibility of material substance, in the Metaphysical Foundations, is precisely to secure a quantitative conservation law- to ensure that matter is always divisible into further substantial spatial parts, so that the persistence of matter is represented by the division and recombination (without any disappearance) of such substantial spatial parts.« (Ebd. 609) Vgl. auch oben Anm. 457. 675 Ch. Wolff 1736(a], 215 f. Zuerst verbindlich formuliert wurde der Substanzerhaltungssatz von Lukrez (vgl. 1993, 22f. u. ö.). 676 Ebd. 216. 677 C. F. v. Weizsäcker geht bei seiner Deutung des Zusammenhangs von Transzendentalphilosophie, genauer der Ersten Analogie, und der Physik auf Kants gegenwärtige Ausführungen in den MAdN nicht ein, obwohl er der Ansicht ist, daß Kants Gedanken »unmittelbar physikalisch relevant « (1973, 165) seien. Vgl. zur Interpretation der Ersten Analogie mit einschlägiger weiterführender Literatur auch A. Melnick 1973, 58-77, sowie B. Thöle 1998, 275-281.

Drittes Hauptstück · Lehrsatz 2

409

und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert.« (KrV B 224) Oder in einer anderen Formulierung: »Aller Wechsel (Succession) der Erscheinungen ist nur Veränderung; denn Entstehen oder Vergehen der Substanz sind keine Veränderungen derselben, weil der Begriff der Veränderung eben dasselbe Subject mit zwei entgegengesetzten Bestimmungen als existirend, mithin als beharrend voraussetzt.« (KrV B 233) Aller Wechsel in den Erscheinungen ist nur denkbar, sofern diesen etwas Konstantes zugrundeliegt, an welchem der Wechsel stattfindet. Die Zeit als die Form der inneren Anschauung und damit aller Erscheinungen ist die Grundlage des Zugleichseins und der Folge in den Erscheinungen; sie selbst unterliegt demnach keinem Wechsel und ist in diesem Sinne das Substrat der Erscheinungen. Da sie jedoch lediglich die Form der Erscheinungen ausmacht, der Wechsel sich aber nicht bloß auf diese Form, das Zugleich und die Folge bezieht, muß neben dieser idealen Form ein realer Gehalt angenommen werden, an dem sich aller materialer Wechsel in der Erscheinung vollziehen kann. Kant spricht daher von der»[ ... ] Substanz in der Erscheinung, d. i. das Reale derselben, was als Substrat alles Wechsels immer dasselbe bleibt.Der Begriff einer Substanz bedeutet das letzte Subjekt der Existenz, d. i. dasjenige, was selbst nicht wiederum bloß als Prädikat zur Existenz eines anderen gehört. Nun ist Materie das Subjekt alles dessen, was im Raume zur Existenz der Dinge gezählt werden mag; denn außer ihr würde sonst kein Subjekt gedacht werden können, als der Raum

678

Vgl. zur Kritik an Kants Beweis der Ersten Analogie B. Thöle 1998, 277-281.

410

Textkommentar · Mechanik

selbst; welcher aber ein Begriff ist, der noch gar nichts Existierendes, sondern bloß die notwendigen Bedingungen der äußeren Relation möglicher Gegenstände äußerer Sinne enthält. Also ist Materie, als das Bewegliche im Raume, die Substanz in demselben. Aber eben so werden auch alle Teile derselben, so fern man von ihnen nur sagen kann, daß sie selbst Subjekte und nicht bloß Prädikate von anderen Materien seien, Substanzen, mithin selbst wiederum Materie heißen müssen. Sie sind aber selbst Subjekte, wenn sie für sich beweglich und also auch außer der Verbindung mit anderen Nebenteilen etwas im Raume existierendes sind. Also ist die eigene Beweglichkeit der Materie, oder irgend eines Teils derselben, zugleich ein Beweis dafür, daß dieses Bewegliche, und ein jeder beweglicher Teil desselben, Substanz sei.« (5035-19) Kant kann sich aufgrund dieser Darlegung in der Dynamik, wenngleich ohne expliziten Rekurs auf sie, in der Mechanik auf den eigentlichen Zusammenhang mit der Analogie konzentrieren. (Unausgesprochen steht hinter dem »Wesentliche[n]allgemeinen Metaphysikphysische TeilungCorpus omnejeder Körper .. . >Die vis insita der Materie ist die Fähigkeit, sich zu widersetzen, infolge deren jeder Körper, quantum in se est, in seinem Zustand entweder des Ruhens oder des Sich-geradliniggleichförmig-Bewegens verharrt. Diese Kraft ist ihrem Körper stets proportional [... ]. Durch die Trägheit der Materie kommt es, daß sich jeder Körper nur schwer aus seinem Zustand entweder des Ruhens oder des Sich-Bewegens bringen läßt. Daher könnte man die vis insita auch sehr treffend Trägheitskraft nennen. Allerdings übt ein Körper diese Kraft nur bei einer Veränderung seines Zustandes aus, die durch eine andere in ihn eingeprägte Kraft hervorgerufen wird; und diese Ausübung äußert sich je nach Standpunkt als Widerstand oder als impetus: als Widerstand insofern, als sich ein Körper einer eingeprägten Kraft zu widersetzen versucht, um seinen Zustand beizubehalten; als impetus insofern, als derselbe Körper dadurch, daß er nur schwer der Kraft eines Widerstand leistenden Hindernisses nachgibt, bestrebt ist, den Zustand jenes Hindernisses zu verändern. [... ] Definition IV. Eine eingeprägte Kraft ist eine auf einen Körper ausgeübte Einwirkung, um seinen Zustand entweder des Ruhens oder des Sich-geradlinig-gleichförmig-Bewegens zu verändern. Diese Kraft besteht nur in der Einwirkung und dauert nach der Einwirkung in dem Körper auch nicht an. Ein Körper verharrt nämlich in jedem neuen Zustand nur durch seine Trägheitskraft. Eine eingeprägte Kraft kann aber verschiedene Ursprünge haben, zum Beispiel einen Stoß, einen Druck, eine Zentripetalkraft.«691 Genau

691 I. Newton 1999, 23f. Vgl. zur Proportionalität von Masse und Trägheitskraft auch P.L.M. de Maupertuis: >>Die Körper, sie mögen in Ruhe, oder in Bewegung seyn, haben eine gewisse Kraft, in demjenigen Zustande, worinne sie sind, zu bleiben. Diese Kraft, welche allen Theilen der Materie zugehöret, ist allezeit der Menge der Materie, welche diese Körper in sich enthalten, proportional, und heißt ihre Verbleibungskraft (Inertie).« (1751, 86) Dieser Satz ist der Eingangssatz eines Anhangs zum Versuch, der mit Mathematische Untersuchung der Gesetze der Bewegung und der Ruhe überschrieben ist, und bereits 174 7 in den Memoires de l'Academie Royale des Seiences de Prusse publiziert worden war. Kant kennt die Maupertuis'sche Formulierung der Bewegungsgesetze und ist auch mit dessen »Grundsatz der kleinsten Größe der Wirkunginertia>innere Bestimmungen und Bestimmungsgründe> Dagegen sind die innern Bestimmungen einer substantia phaenomenon im Raume nichts als Verhältnisse und sie selbst ganz und gar ein Inbegriff von lauter Relationen. Die Substanz im Raum kennen wir nur durch Kräfte, die in demselben wirksam sind; entweder andere dahin zu treiben (Anziehung), oder vom Eindringen in ihn abzuhalten (Zurückstoßung und Undurchdringlichkeit); andere Eigenschaften kennen wir nicht, die den Begriff von der Substanz, die im Raum erscheint, und die wir Materie nennen, ausmachen . [ ... ] was kann ich mir für innere Aceidenzen denken, als diejenigen, so mein innerer Sinn mir darbietet, nämlich das, was entweder selbst ein Denken, oder mit diesem analogisch ist? Daher machte Leibniz aus allen Substanzen, weil er sie sich als Noumena vorstellte, selbst aus den Bestandtheilen der Materie, nachdem er ihnen alles, was äußere Relation bedeuten mag, mithin auch die Zusammensetzung in Gedanken genommen hatte, einfache Subjecte, mit Vorstellungskräften begabt, mit einem Worte Monaden. « (KrV A 265 f.) Nicht daß sich Kant damit gegen einfache Subjekte mit Vorstellungskräften wendete, nur sind diese nicht Gegenstand äußerer Erfahrung. Wohl hat das Noumenale seinen architektonischen Ort, nur ist dieser jenseits der 694

532g).

Andere Formen der Anziehung sind für Kam in den MAdN nicht zentral (vgl. 515s-th

422

Textkommentar · Mechanik

Grenze des Theoretischen bzw. er ist dessen Grenzbegriff. Dies aber besagt nichts anderes, als daß die Berufung auf innere Bestimmungsgründe nicht innerhalb des konstitutiven Bereichs äußerer Erfahrung liegen könne: die Philosophie des Organischen und a fortiori die Praktische Philosophie kennt derart innere Bestimmungen, sei es die Erkenntnis regulativ oder das Handeln konstitutiv bestimmend. Die Naturwissenschaft kennt sie nicht: »Denn da zeigt sich, daß eine beharrliche Erscheinung im Raume (undurchdringliche Ausdehnung) lauter Verhältnisse und gar nichts schlechthin Innerliches enthalten und dennoch das erste Substratum aller äußeren Wahrnehmung sein könne.A< vertauscht werden, oder das >umgekehrt< muß fortfallen.

Drittes Hauptstück · Lehrsatz 4

437

Indifferenz des Gesetzes der Wechselwirkung gegenüber den beiden Wirkungsarten sowie gegenüber der Systemgeschwindigkeit darlegt, so bezieht er sich konkret auf die Erläuterungen zu Gesetz III in Newtons Principia sowie das Scholium zu den Bewegungsgesetzen, auf das Newton selbst bereits am Ende der Ausführungen zu Gesetz III vorverweist'. Es geht in diesen beiden Passagen um die Demonstration des Gesetzes >actio gegengleich reactio< für die Phänomene sowohl des Druckes als auch des Stoßes als auch der Anziehung.719 Ein erster Anklang des Gesetzes der Wechselwirkung findet sich bereits in der Nova dilucidatio von 1755. Jedoch geht es Kant hier vor allem um eine Integration der Newtonischen Physik in ein im weiteren Sinne Leibnizianisches Denkgebäude: die Differenzierung zwischen allgemeiner und besonderer Metaphysik der Natur wird hier noch nicht gezogen: »Ferner machen, da die Bestimmungen der Substanzen sich aufeinander beziehen, d. h. die voneinander verschiedenen Substanzen wechselweise wirken (denn eine bestimmt einiges in der anderen), die verbundenen Wirkungen der Substanzen, mit denen immer eine Gegenwirkung verknüpft sein muß, den Begriff des Raumes aus. Wenn die äußere Erscheinung dieser allgemeinen Wirkung und Gegenwirkung durch den ganzen Umkreis des Raumes, in dem sich Körper aufeinander beziehen, in ihrer wechselseitigen Annäherung besteht, wird sie Anziehung genannt, die in allen beliebigen Abständen vorkommt, da sie durch die bloße Mitgegenwart zustande gebracht wird, und dies ist die Newtonische Anziehung oder allgemeine Schwerkraft; folglich wird sie wahrscheinlich durch dieselbe Verknüpfung der Substanzen zustande gebracht, durch die sie den Raum bestimmen, und ist daher das ursprünglichste Naturgesetz, an das der Stoff gebunden ist, das aber nur, wenn es von Gott unmittelbar erhalten wird, beständig dauert [... ].>Da in der Phoronomie [... ]>[ ... ]in his criticism of transfusionism, he argues that such explanations are vacuous because >they destroyed all reaction, i. e., all really reacting forceUnd gewiß die Schwierigkeiten, welche aus Mittheilung der Bewegung herkommen, haben zu allerzeitunauflöslich gegeschienen [sie!], wenn man sich solche als einen Guß (transfusionem) der bewegendenKrafft von einem (subiecto) in das andere einbildet. Es löset auch solche die Cartesianische Verschaffung (transcreatio) der bewegendenKrafft aus einem (subiecto) in das andere nicht auf. Dahero erhellet, daß man wider alle Gründe der 737 738

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450

Textkommentar · Mechanik

cum: >>[ ... ] wenn der Stoß derselbe ist, wem auch immer schließlich die wahre Bewegung zukommt, folgt, daß die Wirkung des Stoßes unter den beiden gleichmäßig verteilt wird, und daß beide beim Zusammenstoß auf gleiche Weise leiden, auf gleiche Weise agieren, und daß die eine Hälfte der Wirkung aus der Aktion des Einen, die andere Hälfte aus der Aktion des Anderen entsteht[ ... ] und wir bedürfen keines Einfließens des Einen in das Andere, auch wenn von der einen Aktion der Anlaß für das Andere geboten wird, eine Veränderung in sich selbst hervorzubringen. [... ]Aus dem Gesagten wird auch einsichtig, daß es eine Aktion von Körpern niemals ohne Reaktion gibt, und daß beide untereinander gleich und direkt entgegengesetzt sind.,,741 Daß auch noch J. Rohault und J. Locke742 in Kants Auffassung zu den Transfusionisten gehören, erhellt, wenn man Leibniz' Nouveaux Essais in Betracht zieht, die sich als Quelle auch deshalb nahelegen, weil auch hier der von Kant angeführte >>Grundsatz[ ... ] accidentia non migrant e substantiis in substantias>Daher hat die Materie überall einen gewissen Grad sowohl von Unnachgiebigkeit wie von Flüssigkeit und es gibt keinen Körper, der im höchsten Grade hart oder flüssig wäre: also weder ein Atom von unüberwindlicher Härte, noch irgendeine gegen die Teilung vollkommen gleichgültige Masse. Auch hebt die Ordnung der Natur und besonders das Kontinuitätsgesetz in gleicher Weise das eine wie das andere auf.>5. En effet, un pareil principe de durete ne scauroit exister; c'est une chimere qui repugne a cette loy generale que Ia nature observe constamment dans toutes ses operations; je parle de cet ordre immuable & perpetuel, etabli depuis Ia creation de l'Univers, qu'on peut apeller LOY DE CONTINUITE, en vertu de laquelle tout ce qui s'execute, s'execute pardes degrez infiniment petits. [... ] Si Ia nature pouvoit passer d'un extreme a l'autre, par exemple, du repos au mouvement, du mouvement au repos, ou d'un mouvement en un sens a un mouvement en sens contraire, sans passer par tous !es mouvemens insensibles que conduisent de l'un a l'autre; [... ] puisque n'y ayant aucune Iiaison necessaireentre ces deux etats, point de passage du mouvement au repos, du repos au mouvement, ou d'un mouvement a un mouvement opose [... ]. 7. Concluons clone que Ia durete, prise dans le sens vulgaire, est absolument impossible, & ne peut subsister avec Ia loy de continuite.>Entkleiden wir die Schrift dieses Philosophenmantels, so werden wir zuerst den vierten Theil ganz fallen lassen. Er enthält auf der einen Seite nichts, was, wie obige Sätze [sc. die Drei Gesetze der Mechanik], in unserer Physik noch Platz hätte, auf der anderen Seite hat er lediglich die Bestimmung, die vorhergehenden Theile, welche wirklich Naturwissenschaft enthalten, mit der Kautischen Erkenntnißtheorie zu vermitteln [... ].« (G. Reuschle 1868, 61f.) Die Literatur zu den MAdN aus dem 20. Jahrhundert gelangt weitgehend zu einer positiveren Beurteilung der Phänomenologie (sofern sie sich überhaupt mit diesem Hauptstück befaßt), da die Perspektive, unter der die MAdN betrachtet werden, eine philosophische und keine genuin naturwissenschaftliche mehr ist. So schreibt beispielsweise J. R. Alvarez: >>Phenomenology is not a fourth partat the same Ievel of the previous three. It is really a second order part, wherein the interconnection of the remaining parts is established exactly. This condition of Phenomenology must be firmly stressed. On a first glance its three supporting terms are •possible motionin compound ratio to the quantity of their matter and their speed< (538u-Js). And a privileged frame of reference is thereby picked out for viewing any interaction between bodies: namely, their center of mass frame. In this frame of reference action and reaction are necessarily equal, the total quantity of motion is necessarily conserved, and - since for Kant the quantity of matter can only be estimated, in turn, via the quantity of motion (Proposition 1 [sc. of the Mechanics chapter]) - so is the quantity of matter.[ ... ] the final or Phenomenological chapter [... ] then outlines a step-wise procedure for constructing such a privileged frame of reference - which Kant here refers to as >absolute space.< The procedure is modelled on the argument of Book III of the Principia [sc. of Newton], and, in application to this argument, it proceeds as follows. In the first stage, which corresponds to the Phoronomy chapter, we record the merely relative motions of the planets and satellites in the solar system. In particular, we note that these merely relative motions are described, in all cases, by Kepler's laws. In the second stage, which corresponds to the Dynarnies chapter, we then infer inverse-square attractive forces directed towards the center of each primary body in question from Kepler's laws. In the third stage, which corresponds to the Mechanics chapter, we apply the action=reaction principle to conclude that the attractive forces of the second stage must be equal and opposite (so that the attracted body, in turn, must exert an equal and opposite attraction on the attracting body) and also, in conjunction with an

Viertes Hauptstück · Erklärung

475

jedoch nichts mehr, als daß >>die Beweglichkeit eines Gegenstandes im Raum a priori und ohne Belehrung durch Erfahrung [exakter: ohne Belehrung durch die Sinne; K.P.] nicht erkannt werden kann« (482 7 ff.), wie Kant dies in der Phoronomie und an anderen Stellen erläutert hat (vgl. KrV A 41, B 155, MAdN 4769-47713). Wenn Kant nun in der Anmerkung zwischen der Redeweise von Erscheinung und von Erfahrung differenziert, so ist eine gewisse Abweichung von anderen Verwendungsweisen dieser beiden Begriffe festzustellen. Die auffälligste ist die, die sich im Vergleich mit der Vorrede ergibt, denn dort hieß es: »Die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft sind also unter vier Hauptstücke zu bringen, deren [... ] vierte[s ... ] ihre Bewegung oder Ruhe bloß in Beziehung auf die Vorstellungsart, oder Modalität, mithin als Erscheinung äußerer Sinne, bestimmt, und Phänomenologie genannt wird.also« (554t6) verweist auf die Conclusio eines Syllogismus, der aber ungültig ist. Aus den beiden Prämissen (a) >Bewegliches wird Gegenstand der Erfahrung, wenn die Materie durch das Prädikat der Bewegung bestimmt gedacht wird< und (b) >Bewegung ist Veränderung der Raumrelation< folgt nicht (c) >Also sind immer zwei Correlata, auf die sich die Modalität bezieht
n der Kritik geht es um die >Bedingung der Möglichkeit der ErfahrungBedingung der Möglichkeit der Gegenstände/Materie< (Materieprinzipien).« (]. Tharakan 1993, 3) Es gibt aber nach dem eben zitierten Grundsatz Kant zufolge keine Gegenstände, die außer zu sein auch noch erkannt werden können, wie Tharakan es nahelegt. Die Interpretation Tharakans, in der folgende »Isomorphien >Einbildungskraft

Quantität

Phoronomie

Bewegungskraft

Spontaneität (Verstand)

Qualität

Dynamik

Repulsivkraft

Rezeptivität (Sinnlichkeit)

Relation

Mechanik

Anziehungskraft

Reine Vernunft

Modalität

Phänomenologie

Äther-Basis«

(J. Tharakan 1993, 39) Mehr noch als diese (und weitere) Parallelisierungen irritiert die dazu gehörige Erläuterung, in der Tharakan schreibt, >> daß von einer >physikalischen Einbildungskraft< des denkenden Wesens ausgegangen werden kann « (ebd. 40). Kant spricht von einer produktiven und einer reproduktiven Einbildungskraft, nie von einer physikali-schen. Auch ist die Anziehungskraft Kant zufolge der Dynamik nicht weniger zuzuordnen als die Repulsivkraft. Inwiefern die Spontaneität des Verstandes den Qualitätskategorien ähnlicher- J. Tharakan spricht von »Isomorphie (Homologie)« (ebd. 38) - sein soll als allen anderen, ist den Schriften Kants nicht zu entnehmen. Vgl. dazu auch die Kritik in V. Mudroch 1997.

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Textkommentar · Phänomenologie

(vgl. 554u-22). Die Restriktion der Menge der Relata müßte eigens legitimiert werden. Dieses Problem einer unausgewiesenen Restriktion wird zwar von den vorausliegenden Hauptstücken geerbt, insofern Kant bei Bewegung stets die räumliche Relationsänderung zweier Entitäten (wovon eine auch der Raum sein kann) im Auge hat. Doch wird das Problem erst hier virulent, da die eingeführte Disjunktion auf die von Kant vorgeschlagene Weise n11r gilt, wenn die Menge der möglichen Zuschreibungsobjekte nicht mehr als zwei Elemente enthält. Diese Modalitäten sind nun, so Kant, nicht schon in der Bewegungserscheinung selbst enthalten. Letztere bezieht sich lediglich auf die Veränderung äußerer Relationen als solche, d. h. auf die >> Relation in der Bewegungbloßer>Phänomenologie oder Lehre vom ScheinDie Phänomenologie beschäfftigt sich überhaupt damit, daß sie bestimme, was in jeder Art des Scheins real und wahr ist, und zu diesem Ende entwickelt sie die besondern Ursachen und Umstände, die einen Schein hervorbringen und verändern, damit man aus dem Schein auf das Reale und Wahre schließen könne.>EindruckIndessen würde diese Benennung das ausdrücken, was uns diese Gegenstände, der Empfindung nach, zu seyn scheinen.Die Bewegung v komnl't entweder dem Körper A oder dem empirischen RaumS zuFadenversuchFadenversuch>von Westen nach Osten« statt »von Osten nach Westen « 56hs), als fehlerhaft zu erweisen. 784 I. Newton 1999, 32.

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keit der Relationsänderung zweier Körper ist vielmehr aus Begriffen und in diesem Sinne im absoluten Raum erkennbar (vgl. 5443s-54527). Damit ist auch für diesen dritten Fall der Bewegung deren Absolutheit ausgeschlossen. Bewegung heißt auch hier Relationsänderung, zwar nicht unbedingt hinsichtlich einer empirischen Umgebung, in jedem Fall aber hinsichtlich des jeweils angezogenen oder gestoßenen bzw. anziehenden oder stoßenden Körpers. Aus dieser Unmöglichkeit einer absoluten Bewegung hinsichtlich der Gemeinschaft zweier (und a fortiori mehrerer) Materien leitet Kant abschließend die Unmöglichkeit einer absoluten Bewegung überhaupt ab. Das bisherige Ergebnis ist: absolute Bewegung als geradlinige Bewegung einer Materie gegenüber dem empirischen Raum ist nicht möglich, absolute Bewegung als Kreisbewegung ist nicht möglich, absolute Bewegung in dynamischer Gemeinschaft mehrerer Materien ist nicht möglich. Die ein?-ige verbleibende Möglichkeit einer absoluten Bewegung wäre diejenige geradlinige; Bewegung, die die Welt als Ganze gegenüber dem absoluten Raum, d. h. nicht in Relation zu anderer Materie, besäße. Nun kann aber umgekehrt gesagt werden, daß eine geradlinige Bewegung entweder des relativen Raums oder aber des dynamischen Zusammenhangs der bewegten Materie mit anderer Materie bedarf. Letztere Bewegung, die wechselseitig-entgegengesetzte und gleiche Bewegung, würde zwar der Bedingung entsprechen, die erfüllt sein muß, um von der Bewegung des Weltganzen sprechen zu können, d. h. sie kann im absoluten Raum gedacht werden, zu ihrer Kenntnis sind äußere Relationen nicht erforderlich. Doch bleibt, um überhaupt eine Bewegung denken zu können, die aus diesem dritten Lehrsatz folgende Forderung, für jede Bewegung mindestens zwei bewegliche Entitäten zu denken. Damit wird das Gesetz der Wechselwirkung zu einem Argument gegen die geradlinige Bewegung des Weltganzen, und die einzig verbleibende Bewegungsform des Weltganzen wäre die Kreisbewegung, deren Annahme zwar nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, die jedoch auch keinen weiteren Erklärungswert besitzt. Notizen aus der ersten Hälfte der 70er Jahre liefern darüber hinaus Argumente, die auch im Kontext der MAdN gültig erscheinen: »Eine Bewegung kann von einem Körper innerlich erzeugt werden, aber nur dadurch, daß er auch einen andern bewegt; also kann er sich nicht von selbst ohne einen andern bewegen: Iex reactionis. Die Materie kan die Bestimmung der Kraft zur Bewegung nicht von selbst anfangen: Iex inertiae. Daher können die bewegende Krafte in der Welt keine Bewegung des universum im leeren Raum hervorbringen, weder drehende, noch fortrükende. « (Refl. 42; XIV 195) Und in Reflexion 43 heißt es: »Bewegung der Welt im leeren Raum und die Veranderung des Anfangs der Welt in der leeren Zeit sind leere Vorstellungen, indem sie eine Beziehung auf nichts ausdrücken. «785

785 XIV 270; entgegen dieser Aussagen versucht M. Carrier die Offenheit von Kants Aussage hinsichtlich der Kreisbewegung des Universums in den MAdN zu begründen: >> [ ••• ] Kant does explicitly not preclude an overall rotation of the universe [... ]. This appears puzzling at first sight since the embedding procedure should equally work for rotating frames as for

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Textkommentar · Phänomenologie

Abschnitt 3 (5631o-56433) geht, anschließend an die Bewegungsdiskussion und den darin verwendeten Begriff des absoluten Raums, näher auf den Begriff des leeren Raums und entsprechende erforderliche Differenzierungen ein.786 Gemäß der Unterscheidung der Bewegungsbegriffe, wie sie in den drei vorstehenden modalitätsbestimmenden Lehrsätzen durchgeführt wurde, und der dieser Unterscheidung zugrundeliegenden Werkstruktur müssen nach Kant drei verschiedene Begriffe des leeren Raums bestimmt werden. Der absolute Raum, der im Kontext der Phoronomie, d. h. der geradlinigen Bewegung, angenommen werden mußte, sollte eigentlich nicht als leer bezeichnet werden, da er im Gegensatz zum relativen Raum als Bewegungshintergrund, d. h. Bezugsystem, ruhig und sogar unbeweglich, d. h. immateriell und ideal vorgestellt wird. Er ist nicht selbst der reale Raum, der stets selbst beweglich, d. h. materiell, sein muß, sondern eine Abstraktion von jeglicher empirischen Füllung eines materiellen Raums (vgl. 481]3-4823). Dieser phoronomisch-leere Raum ist eine Idee und kann als solcher nicht existieren, d. h. Gegenstand einer möglichen äußeren Erfahrung sein, da jede äußere Erfahrung auf Materialität angewiesen ist. Die weiteren Differenzierungen des Begriffs des leeren Raums besitzen folgende Form: Der dynamisch-leere Raum, d. h. ein Raum, in welchem keine repulsiven Kräfte wirken würden, kann als innerweltliches Leeres, (1) >vacuum mundanumvacuum extramundanumvacuum disseminat umvacuum coacervatumvacuum disseminatum< findet sich positiv bei]. P. Eberhard 21759, 21 (§ 19), bei J. Chr. P. Erxleben 41787, 27 (§ 22) sowie bei Chr. A. Crusius 1749, I 139. Um das Kautische >vacuum coacervatum< zu bezeichnen, spricht Eberhard (ebd.) von >vacuum absolutumvacuum disseminatum< und dem >vacuum coacervatumvacuum disseminatum< tragen und dem >vacuum continuum< andererseits, das sinnlich sein sollte und daher unmöglich ist. Das sinnlich unmerkliche >vacuum disseminatum< muß jedoch angenommen werden, um gewisse Erscheinungen zu erklären (ebd. 144-150). Zur notwendigen Annahme des Leeren schreibt Crusius: »Nimmt man Elemente an, welche ihre Figur zu vergrössern in Bemühung sind, und sich dahero eben dadurch wirksam erzeigen, daß sie dieselbe wirklich vergrössern: So ist sogleich klar, daß bey der Vergrösserung in ihrer Höhlung ein von aller Materie leerer Raum entstehen müsse. Wollte man aber auch darauf nicht sehen: So müßte man doch einen von Materie leeren Raum in einer Welt allezeit unter der Bedingung zugestehen, wenn man voraus setzet, daß in der Welt in allen Directionslinien Bewegung möglich sey.« (Ch.A. Crusius 21753, 710) Positiv hinsichtlich des Leeren zur Ermöglichung der Bewegung drückt sich auch P. Muschenbroek aus: »§. 83. Ueberdem, wie ists möglich, die Körper aus ihrem Orte zu bewegen, wenn kein leerer Raum da ist? [... ] §. 84. [... ]Wären nun diese flüßige Materien [sc. Quecksilber, Wasser, Luft] in ihren Zwischenräumen entweder mit Körpern oder flüßigen Materien erfüllt, so müßten sie einem und eben demselben Körper gleich stark widerstehen; indem eine gleiche Anzahl der Materie aus dem Orte wegzutreiben wäre. Nun aber geschieht dieses gar nicht, sondern die Luft widersteht am wenigsten: folglich muß die Menge der Körper geringer in der Luft, als im Wasser seyn. Im Wasser ist diese Anzahl weit kleiner, als im Quecksilber. Folglich wird vielleeres Raumes in der Luft [Original: im Wasser; Korrektur: K. P.] vorhanden seyn. Weit weniger wird man davon im Wasser, und am wenigsten im Quecksilber antreffen.« (1747, 59 f.) Damit wird von Crusius und Muschenbroek- in Kantischer Terminologie- nicht nur das >vacuum coacervatumvacuum disseminatum< behauptet. Bereits Jahre zuvor hat J. Keill (wenngleich ohne die gegenwärtige Terminologie) dieselbe Annahme formuliert: »Dari spatiuminane constat ex motu corporum.« (J. Keill1708, 97) Dieses atomistische Theorem des bewegungsermöglichenden Leeren läßt sich zurückverfolgen bis zu Lukrez, in dessen Lehrgedicht De rerum natura es heißt: »Wäre das Leere nicht da, dann könnt' auf keinerlei Weise I Irgend ein Ding sich bewegen. Denn Widerstand zu entwickeln, I Das ist des Körpers Amt[ ... ].« (Lukrez 1993, 33; vgl. auch 40141) Eine Unschlüssigkeit hingegen findet sich zunächst bei ]. Locke, der im Kontext der Solidität (vgl. dazu in den MAdN 49731) schreibt: »Ich frage nicht: ob Körper auf solche Weise da sind, daß die Bewegung des einen Körpers ohne die Bewegung eines andern nicht wirklich erfolgen kann? Mit ja oder nein dieses bestimmen ist so viel, als einen leeren Raum, davon noch die Frage ist, für gewiß annehmen oder ihn verwerfen. Das frage ich nur: ob man nicht den Begriff von einem sich bewegenden Körper haben kann, wenn andere ruhen? Ich denke keiner wird das läugnen. Ist nun das wahr: so giebt uns alsdenn der Ort, den er verlassen hat, einen Begriff von einem bloßen Raume ohne Dichtheit, in welchen sich ein anderer Körper begeben kann, ohne daß sich etwas demselben entweder widersetzet, oder ihn fortstößt.« (J. Locke 1757, 104f., Buch II, Kap. 4, 3) Die Körperbewegung, die erforderlich ist, um einen Körper zu teilen, führt Locke schließlich doch noch zu der Annahme des Leeren: »Die Bewegung der Körper, die wir vor und um uns sehen, scheint uns davon [sc. vom leeren Raum] augenscheinlich zu überzeugen. Denn ich

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Textkommentar · Phänomenologie

Im Zusammenhang mit der Ersten Antinomie trifft Kant auch in der KrV die Unterscheidung zwischen dem leeren Raum in der Welt, d. h. einem solchen, der durch Erscheinungen begrenzt sei, und dem leeren Raum außer der Welt, d. h. einem solchen, der den Bereich der Erscheinungen begrenze. Wenn es lediglich auf eine Übereinstimmung mit transzendentalen Prinzipien ankommt, so kann nach der KrV die Möglichkeit des ersteren eingeräumt werden (ohne aber behauptet zu werden), während die Möglichkeit des letzteren a limine abgewiesen werden kann: gemäß der Transzendentalen Ästhetik werden nicht die Erscheinungen von einem ihnen vorgängigen, allumfassenden Raum bestimmt, sondern umgekehrt, der Raum ist nichts anderes als die Form der Erscheinungen. Damit ist ein Leeres, das durch diese Erscheinungen bestimmt wird, wenigstens möglich, das Leere außerhalb der Erscheinungen dagegen unmöglich (vgl. KrV A431f.). Wenn es jedoch nicht nur um die formale Möglichkeit des Leeren geht, sondern um dessen objektive Realität, so ist nach der KrV auch der leere Raum in der Welt unmöglich, denn eine Erfahrung vom Schlechthin-Leeren ist unmöglich: »Ohne Gemeinschaft ist jede Wahrnehmung (der Erscheinung im Raume) von der andern abgebrochen, und die Kette empirischer Vorstellungen, d. i. Erfahrung, würde bei einem neuen Object ganz von vorne anfangen, ohne daß die vorige damit im geringsten zusammenhängen oder im Zeitverhältnisse stehen könnte. Den leeren Raum will ich hiedurch gar nicht widerlegen: denn der mag immer sein, wohin Wahrnehmungen gar nicht reichen, und also keine empirische Erkenntniß des Zugleichseins stattfindet; er ist aber alsdann für alle unsere mögliche Erfahrung gar kein Object. « (Kr V A213f.; vgl. auch A 487, 521) Eine eigenständige Argumentation gegen die leere äußere Empfindung, die vorausgesetzt werden müßte, wenn der leere Raum objektive Realität haben sollte, findet sich schließlich im Kontext der Antizipationen der Wahrnehmung. Diese Argumentation steht der gegenwärtigen dynamistischensehr nahe- Kant kommt in ihr auch auf die dynamistische Konzeption der Materie zu sprechen. Sofern -Gegenstände äußerer Erfahrung eine intensive Größe besitzen, die kontinuierlich verringert (bzw. vergrößert) werden kann, ist eine Erfahrung des leeren Raums nicht möglich. Nun setzt jede Erfahrung eine Empfindung voraus und jede Empfindung besitzt intensive

wollte, es theilete einmal einer einen dichten Körper von beliebiger Größe, so daß er es auch möglich machet, daß die dichten Theile sich innerhalb den Schranken seiner Fläche auf und nieder, und gegen alle Seiten frey bewegen können, wenn nicht darinnen ein leerer Raum so groß gelassen wird, als das kleinste Theilchen ist, in welches er besagten Körper gerheilet hat. [... ]Und es sey auch dieser leere Raum so klein als er will: so wirft er den angenommenen Satz, daß alles voll sey, über den Haufen.« (1757, 169f.; Kap. 13, 23) In einer Reflexion aus der ersten Hälfte der 70er Jahre scheint Kant zwar bereits derselben Meinung hinsichtlich des >vacuum coacervatum< zu sein, doch drückt sich hier noch eine größere Unbestimmtheit aus, insofern der erste Satz assertorisch formuliert ist: »Es giebt leere Räume zur Bewegung, aber nicht zur Zusammensetzung der Korper. Doch sind auch eine leere Räume zur moglichkeit der Bewegung nicht nöthig, haben auch nicht die Schwierigkeit.vacuum disseminatum< (1.1), annimmt, so deswegen, um die verschiedenen Dichten der Materien zu erklären. Ihm korrespondiert der Begriff des Atoms. Aus dem Verhältnis des vollen Raums, der Atome, zum leeren Raum würde die Dichte einer gewissen Materie bestimmt. Kant verweist an gegenwärtiger Stelle zurück auf die Argumentation in der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik (vgl. 52321-525t9 sowie 5322o-53510), deren Ziel es war, die Erklärbarkeit der verschiedenen Dichten der Materien mindestens ihrer Möglichkeit nach aus dem Verhältnis zwischen ursprünglicher Zurückstoßungskraft und ursprünglicher Anziehungskraft zu demonstrieren. Mit diesen dynamischen Begriffen -Kraft als intensive Größe- kann die Raumerfüllung beliebig differieren, ohne einen leeren Raum, d. h. einen solchen Raum, in dem die Repulsionskraft den Wert 0 besäße, annehmen zu müssen. Diese Alternative der dynamischen Raumerfüllung hat gegenüber derjenigen Erklärung, die sich auf Atome und das Leere beruft, den Vorteil, daß sie nicht beim Begriff des schlechthin Soliden stehen bleiben muß, sondern die Solidität der Materie als eine Wirkung von Kräften erklären kann (vgl. 497Jo-49815) . Dennoch enthält die Hypothese der Atome und des Leeren zur Erklärung der Raumerfüllung keinen logischen Widerspruch. Die Unmöglichkeit eines >vacuum disseminatumvacuum disseminatum< negativ beantworten. Diese Zusammendrückung, die für die Kohäsi-

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Textkommentar · Phänomenologie

on verantwortlich wäre, könnte natürlich nicht von anderen Körpern herrühren, denn es geht um die Kohäsion eines unterscheidbaren Körpers, der also nicht selbst unmittelbar von Körpern umgeben ist. Vielmehr müßte die Zusammendrückung von einer körperlosen, d. h. gestalt- und (nahezu) gewichtslosen Materie, dem Äther, herrühren. Der Ätherdruck, der seinerseits durch die Gravitation- im Gegensatz zur Kohäsion wurde sie von Kant als wesentliche Eigenschaft der Materie eingeführt (vgl. 51817-31) - hervorgerufen wird (und damit auf eine wenngleich minimale Masse des Äthers verweist), kann also dazu dienen, das Leere, das sich innerhalb der Körper befinde, als leere Hypothese zu entlarven. In einer Notiz aus der zweiten Hälfte der 70er Jahre bzw. aus den 80er Jahren deutet Kant diesen Zusammenhang zwischen Leere und Kohäsion an: »Es kan kein Raum von aether leer seyn, wenn der Zusammenhang der Körper von diesem aether herrührt; denn alsdenn würde, wo das Leere des aethers wäre, der Zusammenhang aufhoren. Auch hat der äußere aether mit dem Inwendigen in Korpern Gemeinschaft. Denn wenn ienes Druk verringert wird, so wird der Zusammenhang der Theile vermindert, und der innere dehnt sich aus. Alle schwankungen des äußeren müssen mit denen des innern correspondiren.>[ ... ] wenn man die letztere [sc. Zusammensetzung einer Materie überhaupt] nur besser einsähevacuum extramundanumvacuum disseminatum< (1.1) auf, so erscheint auch ein solcher extramundaner leerer Raum unmöglich. Die Dichtigkeit des Äthers richte sich nach der Gravitation, die die Weltkörper auf ihn ausüben. Da diese Anziehungskraft eine intensive Größe ist, kann sie und mit ihr die Dichtigkeit des Äthers zwar ins Unendliche abnehmen, ohne aber jemals den Wert 0 zu erreichen. - Das Argument enthält insofern einen Mangel, als aus der Tatsache, daß die Gravitation, die auf den Äther wirkt, mit zunehmender Entfernung von den Himmelskörpern abnimmt, ohne den Wert 0 zu erreichen, nicht folgt, daß in jeglicher Entfernung auch noch Äther existiere. Die beiden Argumente sind logisch voneinander unabhängig: Daß die Gravitation sich ins Unendliche erstreckt, kann aus ihrem Begriff als einer · intensiven Größe eingesehen werden. Daß sich in allen diesen Entfernungen erfüllter Raum befinde, bedürfte eines gesonderten Arguments. Denn Kant ging an anderer Stelle explizit davon aus, daß die Attraktion eine Kraft auch durch den unerfüllten Raum ist, d. h. nicht nur dort anzutreffen ist, wo Raumerfüllung ist (vgl. 51419-26). Die Koppelung des Äthers an die kontinuierlich abnehmende Gravitation wird von Kant nicht legitimiert. - Andeutungsweise führt Kant noch ein weiteres Argument gegen den leeren Raum außerhalb der Welt an. Er spricht davon, daß die Entschei-

Viertes Hauptstück · Allgemeine Anmerkung zur Phänomenologie

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dung für oder gegen das Leere außerhalb der Welt nicht dogmatisch entschieden werden könne. Die These für oder gegen dieses Leere läßt sich auch in diejenige für oder gegen die Annahme einer Grenze der Welt umformulieren. Damit sind jedoch Thesis und Antithesis der Ersten Antinomie (vgl. KrV A426-433) benannt, die bekanntlich nicht dogmatisch entschieden werden kann: »Wenn ich nun nach der Weltgröße dem Raume und der Zeit nach frage, so ist es für alle meine Begriffe eben so unmöglich zu sagen, sie sei unendlich, als sie sei endlich. Denn keines von beiden kann in der Erfahrung enthalten sein, weil weder von einem unendlichen Raume oder unendlicher verflossener Zeit, noch der Begrenzung der Welt durch einen leeren Raum oder eine vorhergehende leere Zeit Erfahrung möglich ist; das sind nur Ideen. Also müßte diese auf die eine oder die andre Art bestimmte Größe der Welt in ihr selbst liegen, abgesondert von aller Erfahrung. Dieses widerspricht aber dem Begriffe einer Sinnenwelt, die nur ein Inbegriff der Erscheinung ist, deren Dasein und Verknüpfung nur in der Vorstellung, nämlich der Erfahrung, stattfindet, weil sie nicht Sache an sich, sondern selbst nichts als Vorstellungsart ist.« (IV 342) Die Behauptung eines leeren Raums außerhalb der Welt kann also auch ohne Rekurs auf die Äther-Hypothese abgewiesen werden, insofern sie in keinem Zusammenhang mit den Gegenständen möglicher Erfahrung steht. Die zweite Form des innerweltlichen leeren Raums, das >vacuum coacervatum< (1.2), bezieht sich auf Zwischenräume, die die Körper voneinander trennen sollen. Ihn bezeichnet Kant als mechanisch-leeren Raum, da er für die freie Bewegung der Körper im Raum vorausgesetzt werden soll. Im Gegensatz zum vorausgehenden >vacuum extramundanumschwer aufzuschließende Naturgeheimnis> Der Satz: daß sich alles in der Natur müsse a priori erkennen und bestimmen lassen, worauf gründet er sich. Imgleichen: daß eine Mannigfaltigkeit der Wirkungen Einheit der Ursachen zum Grunde habe. Imgleichen: daß die Materie fortdaure oder vielmehr die daurende Erscheinung Materie heiße. Ohne Zweifel auf die Einheit der Erkentniskraft, wodurch allein die Erscheinungen Verhaltnisse und Verbindung bekommen können, damit ein Ganzes daraus werde. Denn die Verbindung der Zeit und des Raums ist nicht gnug. « (Refl. 43; XIV 271) Kritische Metaphysik kann daher die Belästigung der fragenden Vernunft nicht beseitigen. Aber sie kann mindestens ein Versuch sein, die Gründe der Belästigung einzusehen.

789 Darin mag eine implizite Opposition zum Schluß des Physik-Kompendiums von J. P. Eberhard liegen, der ansonsten in demselben Duktus geschrieben ist, wenn er »Von dem Weltgebäude> Doch dieses sind Muthmassungen die sich nicht wohl durch die Erfahrung ausmachen lassen [... ].Ist es aber nicht seltsam, daß wir eine Wissenschaft mit Muthmassungen beschliessen, in welcher doch so oft richterliche Machtsprüche geschehen!>Essential Properties Kraft< und >GravitationSelbstsetzungslehre> Supplemente von A-Z« Leipzig 1799. Gerlach, Burkhard [1998]: Wer war der »große Mann «, der die Raumtheorie des transzendentalen Idealismus vorbereitet hat? In: Kant-Studien 89/1, 1-34. Gloy, Karen [1976): Die Kamische Theorie der Naturwissenschaft. Eine Strukturanalyse ihrer Möglichkeit, ihres Umfangs und ihrer Grenzen. Berlin. Gräffe, Johann Friedrich Christoph [1798]: Commentar über eine der schwersten Stellen in Kant's metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, das mechanische Gesetz der Stetigkeit betreffend. Celle. Grillenzoni, Paolo [1998]: Kante Ia scienza. Vol. I. 1747-1755. Mailand. Guyer, Paul [1987): Kant and the Claims of Knowledge. Cambridge. Guyer, Paul I Wood, Allen W. [1998]: lntroduction to lmmanuel Kant: Critique of pure Reason. Cambridge, 1-80. Hall, Alfred Rupert [41989]: The revolution in science, 1500-1750. London.

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- [MS 2000a): •Fabricating a world in accordance with mere fantasy ...