Kants kritische Religionsphilosophie 9783110854596, 3110116812, 9783110116816

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Kants kritische Religionsphilosophie
 9783110854596, 3110116812, 9783110116816

Table of contents :
Einleitung: Die Frage nach dem Sinn des Lebens und Kants Lehre vom höchsten Gut
Erster Teil Die moralische Welt als das Reich Gottes: Der sinnlich-welthafte Aspekt des höchsten Guts des Menschen [Die drei Kritiken Kants]
A. Sittlichkeit und Glückseligkeit
§ 1. Philosophie als Lehre vom Endzweck des Menschen
§ 2. Kants Glückseligkeitsbegriff
§ 3. Die sittliche Form der Glückseligkeit
§ 4. Der Endzweck des Menschen: das höchste Gut als Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit
§ 5. Der moralische Vernunftglaube
Zweiter Teil Die moralisch geeinte Menschheit als das Volk Gottes: Der personale und gesellschaftliche Aspekt des höchsten Guts des Menschen [Kants Religionsschrift]
B. Natur und Freiheit
§ 6. Ziel und Methode der Religionsschrift Kants
§ 7. Naturkausalität, Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, unbedingte moralische Freiheit zum Guten und zum Bösen
§ 8. Gibt es eine Anlage zum Guten in der menschlichen Natur?
§ 9. Gibt es einen Hang zum Bösen in der menschlichen Natur?
§ 10. Exkurs: Kants Verwendung des Wortes ,Menschheit‘
C. Freiheit und Gnade
§ 11. Die Erkennbarkeit der radikalen Bosheit des Menschen
§ 12. Die Pflicht zu moralischer Selbsterkenntnis
§ 13. Die Erkenntnis des eigenen Wesens und ihr religiöser Ausdruck
§ 14. Kann der böse Mensch von sich aus ein guter Mensch werden?
§ 15. Kann moralische Schuld vergeben werden?
D. Vernunft und Offenbarung
§ 16. Offenbarungsglaube und Vernunftglaube
§ 17. Die wahre Religion
§ 18. Die Irrelevanz einer moralischen Selbstoffenbarung Gottes
§ 19. Die Unmöglichkeit einer metaphysisch verstandenen übernatürlichen Offenbarung
§ 20. Geheimnisse des Vernunftglaubens
E. Phänomenalität und Noumenalität
§ 21. Die Pflicht zur Gründung eines die gesamte Menschheit umfassenden ethischen Gemeinwesens
§ 22. Reich Gottes und Kirche
§ 23. Die Noumenalität des moralischen Glaubens an die Möglichkeit der noumenalen Entscheidung zum Guten
§ 24. Gebet, Liebe, Mystik
§ 25. Exkurs: Leben aus der Einheit
Dritter Teil Das Dasein von Mensch und Welt aus Gott und das Dasein Gottes im Menschen: Gott als das höchste Gut des Menschen [Das Opus postumum]
F. Theologie und Anthropologie
§ 26. Der Übergang zur Vollendung der Transzendentalphilosophie
§ 27. Der höchste Standpunkt der Transzendentalphilosophie: Transzendentaltheologische Fundierung der Anthropologie oder Anthropologisierung des Gottesbegriffs?
§ 28. Religionsphilosophische Reflexionen Kants im VII. Konvolut seines Nachlaßwerks
§ 29. Religionsphilosophische Reflexionen Kants im I. Konvolut seines Nachlaßwerks
§ 30. Die Bezeugung der Einheit des Lebens durch die Reflexion auf das Dasein Gottes im Begriff von ihm: Kants anselmischer Ansatz
Verzeichnis der angeführten Literatur
Personenverzeichnis

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Reiner Wimmer Kants kritische Religionsphilosophie

W DE G

Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft in Verbindung mit Ingeborg Heidemann f herausgegeben von Gerhard Funke und Rudolf Malter

124

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1990

Reiner Wimmer

Kants kritische Religionsphilosophie

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1990

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Universität Konstanz gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP- Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Wimmer, Reiner: Kants kritische Religionsphilosophie / Reiner Wimmer. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1990 (Kantstudien : Ergänzungshefte ; 124) Zugl.: Konstanz, Univ., Habil.-Schr., 1988 u.d.T.: Wimmer, Reiner: Religion des guten Lebens ISBN 3-11-011681-2 NE: Kantstudien / Ergänzungshefte

© Copyright 1990 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, D-1000 Berlin 30 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, D-1000 Berlin 61

Vorbemerkung Die vorliegende Untersuchung stellt die überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift dar, die unter dem Titel Religion des guten Lebens. Kants Lehre vom höchsten Gut als der eschatologischen Vollendung des menschlichen Daseins am 13. 1. 1988 von der Philosophischen Fakultät der Universität Konstanz angenommen wurde. Sie ist mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft gedruckt. Konstanz, April 1990

Reiner Wimmer

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Die Frage nach dem Sinn des Lebens und Kants Lehre vom höchsten Gut Erster Teil Die moralische Welt als das Reich Gottes: Der sinnlich-welthafte Aspekt des höchsten Guts des Menschen [Die drei Kritiken Kants] A. Sittlichkeit und Glückseligkeit

19

§ 1. § 2. § 3. § 4.

Philosophie als Lehre vom Endzweck des Menschen 19 Kants Glückseligkeitsbegriff 27 Die sittliche Form der Glückseligkeit 35 Der Endzweck des Menschen: das höchste Gut als Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit 57 § 5. Der moralische Vernunftglaube 77

Zweiter Teil Die moralisch geeinte Menschheit als das Volk Gottes: Der personale und gesellschaftliche Aspekt des höchsten Guts des Menschen [Kants Religionsschrift] B. Natur und Freiheit § 6. § 7.

Ziel und Methode der Religionsschrift Kants Naturkausalität, Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, unbedingte moralische Freiheit zum Guten und zum Bösen . . . § 8. Gibt es eine Anlage zum Guten in der menschlichen Natur? § 9. Gibt es einen Hang zum Bösen in der menschlichen Natur? § 10. Exkurs: Kants Verwendung des Wortes .Menschheit' C. Freiheit und Gnade § 11. Die Erkennbarkeit der radikalen Bosheit des Menschen . . . . § 12. Die Pflicht zu moralischer Selbsterkenntnis § 13. Die Erkenntnis des eigenen Wesens und ihr religiöser Ausdruck § 14. Kann der böse Mensch von sich aus ein guter Mensch werden? § 15. Kann moralische Schuld vergeben werden?

91 91 97 108 113 124 129 129 137 140 150 161

VIII

Inhaltsverzeichnis

D. Vernunft und Offenbarung § 16. § 17. § 18. § 19.

E.

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Offenbarungsglaube und Vernunftglaube Die wahre Religion Die Irrelevanz einer moralischen Selbstoffenbarung Gottes . Die Unmöglichkeit einer metaphysisch verstandenen übernatürlichen Offenbarung § 20. Geheimnisse des Vernunftglaubens

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Phänomenalität und Noumenalität

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§ 21. Die Pflicht zur Gründung eines die gesamte Menschheit umfassenden ethischen Gemeinwesens § 22. Reich Gottes und Kirche § 23. Die Noumenalität des moralischen Glaubens an die Möglichkeit der noumenalen Entscheidung zum Guten § 24. Gebet, Liebe, Mystik 25. Exkurs: Leben aus der Einheit

168 170 173

186 197 206 208 214

Dritter Teil Das Dasein von Mensch und Welt aus Gott und das Dasein Gottes im Menschen: Gott als das höchste Gut des Menschen [Das Opus postumum] F.

Theologie und Anthropologie

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§ 26. Der Übergang zur Vollendung der Transzendentalphilosophie § 27. Der höchste Standpunkt der Transzendentalphilosophie: Transzendentaltheologische Fundierung der Anthropologie oder Anthropologisierung des Gottesbegriffs? § 28. Religionsphilosophische Reflexionen Kants im VII. Konvolut seines Nachlaßwerks § 29. Religionsphilosophische Reflexionen Kants im I. Konvolut seines Nachlaßwerks § 30. Die Bezeugung der Einheit des Lebens durch die Reflexion auf das Dasein Gottes im Begriff von ihm: Kants anselmischer Ansatz

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224 230 241

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Verzeichnis der angeführten Literatur

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Personenverzeichnis

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Einleitung: Die Frage nach dem Sinn des Lebens und Kants Lehre vom höchsten Gut die Freyheit selbst [ist] nicht in meiner Gewalt (Kant, Refl. Nr. 7171 = XIX 263)

„Was ist der Sinn des Lebens, der Zweck des Daseins?" Das durch diese Frage angeregte Zwiegespräch eines alten, im Leben erfahrenen Ehepaars war schon zu Ende, bevor es überhaupt begonnen zu haben schien: „Der Sinn des Lebens? — Daß man es lebt!" Dem glaubte keiner von beiden noch etwas hinzufügen zu können. Die gleiche kurz angebundene Art, mit dieser Frage umzugehen, findet sich schon bei Meister Eckhart: Wenn man einen guten Menschen fragte: „Warum lebst du?", so würde er antworten: „Mein lieber Freund, ich weiß es nicht — ich lebe gerne!" Oder wenn jemand das Leben selbst befragte: „Warum lebst du?", gäbe es Antwort, so würde es nur das Eine sagen: „Ich lebe, um zu leben" (vgl. Quint 1969, 180, 384; Schulze-Maizier o.J., 178, 365). Der gute Mensch Meister Eckharts ist also der Mensch, der gerne lebt, der glückliche Mensch, dem es letztlich und entscheidend nicht darauf ankommt, wie sein Leben im einzelnen beschaffen ist. Er betrachtet es als Ganzheit und nimmt es so hin, wie es ist, mit seinen guten wie mit seinen schlechten Seiten, mit den zu Freude wie mit den zu Trauer und Leid Anlaß gebenden Widerfahrnissen, mit seinen Aufstiegen, aber auch mit seinem Niedergang und seinem Ende in Sterben und Tod. Der gute Mensch findet sich nicht einfach ab mit seinem Leben, läßt es nicht in Resignation enden, sondern ist seines Daseins froh, er ,liebt das Leben', wie eine geläufige Redensart lautet. Deshalb bedarf es keiner besonderen Anlässe im Leben, die ihn dessen versichern, daß sein Leben Sinn hat, daß es lebens- und liebenswert ist, und es gibt nichts, das diesen Glauben an den Sinn seines Daseins in Frage stellen könnte. Und so bedarf es auch keiner besonderen Vorbereitungen und Anstrengungen mehr, Leben und Sterben zu bestehen. Diese Grundhaltung bringen auch gewisse Geschichten zum Ausdruck, die im Zen-Buddhismus erzählt werden: Als Meister Ryutan seinem Ende zu ging, schrie er laut auf und hatte einen harten Todeskampf. Seine Schüler versuchten, seinem Schreien Einhalt zu gebieten. Da sagte Meister Ryutan: „Mein Schreien im Todeskampf unterscheidet sich in nichts von meinem fröhlichen Singen". — Ein alter Mann suchte Meister Bankei auf und bat

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ihn: „Meine letzte Stunde ist nahe. Bitte lehre mich, mich auf den Tod vorzubereiten". Meister Bankei antwortete: „Es ist keine Vorbereitung notwendig". Der alte Mann fragte: „Warum ist sie nicht notwendig?" Bankei erwiderte: „Wenn f r dich die Zeit kommt zu sterben, dann stirb" (Shibayama 1976, 389). In theistischer religi ser Sprache lie e sich dasselbe so sagen: Wer Freude am Dasein hat, wer das Leben Hebt, der hat auch an Gott Freude, der liebt und ehrt Gott, der der Quell des Lebens ist, der Grund des Daseins und sein Ziel. Und auch die Umkehrung gilt: „Οΐδαμεν δε ότι τοΐ$ άγαπώσιν τον θεόν πάντα συνεργεί εί$ αγαθόν" (Rom 8,28). Augustinus f gt diesem „diligentibus Deum omnia cooperantur in bonum" noch hinzu: „etiam peccata". Denn nichts kann uns trennen von der Liebe zu Gott, weil nichts uns trennen kann von der Liebe, die Gott zu uns hat (Rom 8,31—39), und das hei t nat rlich auch: Nichts kann uns trennen vom Sinn unseres Lebens — nicht einmal wir selbst! Denn was auch immer wir tun und getan haben, um uns von Gott und seiner Liebe, vom Leben und seinem Sinn zu trennen — faktisch erfahren wir uns immer schon als von Gott und vom Leben getrennt und entfremdet —, wir sind trotzdem nicht verloren, weil nichts ohne Sinn, ohne Gott — oder wie die Chinesen sagen: ohne Tao — sein kann; die R ckkehr bleibt m glich, weil wir auch in der Fremde nicht verlassen sind (vgl. Lk 15,11-32). Wer heimgekehrt ist aus der Fremde, der lebt hinfort „ohne Warum", wie Angelus Silesius und Meister Eckhart sagen; denn er benutzt Gott oder bestimmte gl ckliche Umst nde nicht mehr dazu, seinem Leben Sinn zu geben, weil er glaubt und im Glauben dessen gewi ist, da das Leben diesen Sinn immer schon hat, und zwar ganz unabh ngig davon, wie es im einzelnen aussieht. Der Glaube an Gott f gt dem Leben und seinem Sinn nichts hinzu, sondern bringt diesen Sinn und die Gewi heit von ihm nur zum Ausdruck. Sehr klar und einsichtig hat Wittgenstein diesen Bezug zwischen dem Glauben an Gott und dem Vertrauen auf den Sinn des Daseins in dem Tagebucheintrag vom 8. 7.1916 formuliert: „An einen Gott glauben hei t, die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen. — An einen Gott glauben hei t sehen, da es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist. — An Gott glauben hei t sehen, da das Leben einen Sinn hat". Allerdings ersch pft sich der Glaube an Gott nicht darin, Ausdruck der Erkenntnis zu sein, da das Leben sinnvoll ist. Das ist auch Kant gegen ber zu betonen, f r den — wie wir sehen werden — Gott bzw. der Glaube an ihn eine Funktion des moralischen Interesses an einer sittlichen Weltordnung ist; denn ein funktionalistisches Verst ndnis des Gottesglaubens wird der eigent mlichen Autonomie des Gottesbewu tseins und der Gottesverehrung des religi sen Menschen nicht gerecht. Wer ohne Warum, im Einklang mit sich und seinem Leben, mit Gott und der Welt lebt — ,Welt' verstanden als Inbegriff all dessen, was geschieht und

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dem Menschen widerfährt — , der lebt glücklich, wie Wittgenstein am gleichen Tage weiter notiert. Ein solcher Mensch kann den Sinn oder Zweck seines Daseins nicht mehr ernsthaft in Zweifel ziehen. Es gibt für ihn in dieser Hinsicht nichts mehr zu fragen, aber auch nichts zu antworten. Wenn sich der Affe in Waechters Glücklicher Stunde fragt: „Heißt das nicht gegen das Leben streben, wenn wir's auch noch mit Sinn erfüllen wollen?", dann bringt er — mit der Frageform jeden lehrhaft-dogmatischen Anspruch meidend — eine Wahrheit der ,Logik' menschlichen Daseins zum Ausdruck: Hätte unser Leben seinen Sinn nicht in sich, er könnte ihm von außen nicht gegeben werden. Auch der religiöse Verweis auf Gott würde in die Irre führen, wollte er nachträglich etwas bewerkstelligen oder berichtigen. Weil sich alles Gott verdankt, kann nichts ohne ihn, kann nichts ohne Sinn sein, und dieser Sinn kann grundsätzlich nicht aufgehoben werden. Eine so kurz angebundene und eigentlich nichts sagende Replik wie die angeführte — „Der Sinn des Lebens? Daß man lebt!" — verweist dann auf nichts außerhalb des Lebens, und sie verweist auf nichts, was sich nicht eigentlich und im Grunde von selbst verstünde: daß das Leben nicht ohne Sinn sein kann. Aber verstehen wir das wirklich? Weshalb können wir es gewöhnlich doch nicht unterlassen, nach dem Warum unseres Lebens zu fragen, nach seinem Woher und Wohin? Und dann befriedigt und befriedet uns auch nicht die philosophische Einsicht in die , Grammatik' unseres Lebens. Es bedarf einer unter Umständen langwierigen Belehrung, die uns das Leben selbst erteilen mag, damit die Unruhe unseres Herzens schwindet, unser unglückliches Bewußtsein sich aufhellt und schließlich heil wird. Hier kann und darf Philosophie nicht als Doktrin auftreten. Sonst wäre sie — in Abwandlung eines Aphorismus von Karl Kraus — doch auch nur ein Symptom jener Krankheit, für deren Therapie sie sich hält. Wie aber kann sie zur Heilung beitragen? Vielleicht dadurch, daß sie als eine Art ,philosophia negativa' jede inhaltlich-materiale, vergegenständlichende und dadurch partikularisierende Antwort auf die Sinnfrage demontiert. Schon die Aussage, der Sinn des Lebens bestehe in einem guten und glücklichen Leben, bedarf der kritischen Auslegung, weil sie das Mißverständnis nahelegt, als gebe es auch sinn- und zweckloses Leben und als lasse sich der Sinn eines Lebens an Merkmalen und Eigenschaften ablesen, als ob er doch von einer bestimmten Weise zu leben, von der Art der Lebensführung eines Menschen abhinge. Zwar ist es die vorzügliche Aufgabe einer Individualethik der Lebensführung, in deren Dienst beispielsweise die Psychotherapie steht, und die einer sozialen und politischen Ethik, die inneren und äußeren Bedingungen für ein im üblichen moralischen Sinne gutes und glückliches Leben anzugeben. Aber die Antwort auf die Frage nach dem ursprünglichen Sinn des eigenen Daseins greift hinter seine kontingente Verfassung zurück: Wie auch immer mein Leben im einzelnen aussieht, was auch immer mein Geschick ist — mein Leben hat einen von allen seinen möglichen Umständen unab-

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hängigen und unberührbaren — mit den christlichen Mystikern des Mittelalters gesprochen: weiselosen — Sinn. Dementsprechend gibt die vorhin angeführte Auskunft, der Sinn des Lebens, der Zweck des Daseins sei das Leben, das Dasein selbst, auch kein Kriterium mehr an, wie sinn- und zweckvolles von sinn- und zwecklosem Dasein unterschieden werden könnte. Aber schien die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht doch auf die Angabe eines solchen Unterscheidungsmerkmals hinauszulaufen? Sollte dies der Fall gewesen sein, dann erfährt die Frage mit der vorgenommenen Klarstellung keine wirkliche Beantwortung, sondern die Entgegnung suchte sie gerade als unangemessen zurückzuweisen. Stellt man sie aber im Sinne der ungegenständlichen, nicht-differenzierenden, ,weiselosen' Antwort, so mag sie, sich selbst durchsichtig geworden, einen existentiellen Schrecken auslösen über die fundamentale Entfremdung des Fragenden von sich selbst, der sucht, wo es nichts zu suchen gibt, und der deshalb auch nicht finden kann, jedenfalls solange nicht, als er nicht begreift, daß das, was er sucht, nicht gefunden zu werden braucht, weil es im eigentlichen Sinne nicht verloren werden kann — eine Einsicht, die Augustinus und Pascal in religiöser Sprache als Rede Gottes so wiedergeben: „Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht gefunden hättest", und die der Inhalt vieler ZenErzählungen ist. Eine von ihnen berichtet von einem Pilger, der sein Pferd bestieg, über Berge und über Flüsse setzte, um einen Meister zu suchen und ihn zu fragen, wie er die Erleuchtung finden könne. Nach Monaten des Suchens fand er endlich den Meister in einer Höhle. Der Meister hörte sich die Frage an und sagte nichts. Der Sucher wartete. Schließlich, nach Stunden des Schweigens, blickte der Meister auf das Roß, auf dem der Pilger gekommen war, und fragte ihn, warum er nicht nach einem Pferd suche anstatt nach Erleuchtung. Der Pilger erwiderte, er habe doch schon eines. Der Roshi lächelte und zog sich wieder in seine Höhle zurück. Indem die gegebene Antwort die Frage abweist, lenkt sie den Fragenden auf sein eigenes Leben: Was suchst du den Sinn deines Lebens in Eigenschaften von ihm oder gar außerhalb seiner, in Gedanken über dein Leben, in Sehnsüchten, Wünschen und Forderungen an dein Leben, in philosophischen oder theologischen Reflexionen über es? Warum suchst und findest du den Zweck deines Daseins nicht im Ganzen dieses Daseins selbst, als das es konkret da ist, sondern in einer anderen, ihm fremden und äußerlichen Gestalt, in Teilaspekten von ihm, in einzelnen Situationen und Lebenslagen? Für den, der richtig lebt, bringt sich der Sinn seines Lebens in jedem Moment zum Ausdruck, und im Durchgang durch den Augenblick lebt er diesen Sinn. Nichts Bestimmtes ist ihm deshalb sinnvoller, besser als anderes, weil alles auf das Ganze bezogen bleibt. Er nimmt alles so, wie es ist, und auch das, was sich zum Besseren hin wenden läßt, akzeptiert er als eine ihm gleichsam vom Leben gestellte Aufgabe, im letzten gleichmütig, ob sie ihm Mühe, Schmerz und Mißerfolg oder Freude, Zufriedenheit und Anerkennung bringt.

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Nichts ist weniger schwer — so scheint es nun — , als sich in Übereinstimmung mit dem Leben und seinem Tao zu befinden. Im Grunde kann man ja gar nicht aus dem Leben und seinem Sinn heraustreten, sich ihm entfremden. Und doch ist Entfremdung und die Befreiung von ihr das ausdrückliche oder unausdrückliche Thema aller Religionen und existentiellen Philosophien. Die vorliegende Studie widmet sich diesem Thema bei Kant. Sie soll dartun, daß Kants kritische Geschichts-, Moral- und Religionsphilosophie an der Aufhebung dieser Entfremdung zu arbeiten versucht, ohne daß ihr aber letztlich — wenigstens antizipatorisch (anders ist eine bloß gedankliche Bemühung um die Aufhebung der fundamentalen Spaltung der menschlichen Existenz ohnehin nicht möglich) — ein voller Erfolg beschieden wäre. Ausdruck für die Ambivalenz dieses Bemühens sind die vielfältigen Dualismen, die Kants Geschichts-, Moral- und Religionsphilosophie durchziehen. Sie werden zum Teil schon in den Überschriften zu den einzelnen Abschnitten dieser Untersuchung namhaft gemacht. Trotzdem führen Kants Gedankengänge, geleitet von grundlegenden Theologumena des christlichen Bekenntnisses, an die Schwelle zur — wenigstens gedanklichen — Aufhebung der Entzweiung von Sinn und Leben. Und Kant selbst scheint die Vorläufigkeit, das Ungenügen seiner Antwortversuche gespürt zu haben. Am Ende seines Lebens, in den Jahren 1800—1803, versucht er, Natur und Freiheit, theoretische und praktische Vernunft, Welt und Ich im „höchsten Standpunkt der Transzendentalphilosophie", in dem einer „transzendentalen Theologie" zu vereinigen. Mir scheint, daß Kant sich während seines gesamten kritischen Philosophierens auf diese Einheit hinbewegt, und zwar mit dem ihm von der griechischen Antike her überkommenen Gedanken des höchsten Guts, dem er aber eine besondere Wendung und nur ihm eigene Prägung gibt. Für Kant beinhaltet dieser Gedanke nicht nur abstrakt die Versöhnung von Sinnlichkeit und Sittlichkeit, die Harmonisierung des menschlichen Glücksstrebens mit dem moralischen Leben, die Vereinigung von Tugend und ihr angemessener Glückseligkeit, sondern konkret die moralische Vereinigung aller Menschen zu einem ,ethischen Gemeinwesen', das sich die menschheitliche Beförderung einer moralischen als der besten Welt zur Aufgabe stellt, in der mit der Hilfe Gottes als des allgütigen und allmächtigen Hauptes seiner zu einem corpus mysticum geeinten Menschheit Moralität und Wohlergehen, das sittliche und das glückliche Leben zu vollkommenem Ausgleich gebracht sind. Kant bedient sich zur näheren Kennzeichnung der Idee des höchsten Guts biblischer Ausdrücke: Die unter dem moralischen Gesetz geeinte Menschheit nennt er „das Volk Gottes" und die vollendete Welt „das Reich Gottes". Dieser bewußte Rückgriff auf die jüdisch-christliche Überlieferung hat aber nicht den Sinn der machtpolitischen Anbiederung an die kirchliche Orthodoxie und das preußische Staatskirchentum, wie Kant manchmal unterstellt wird. Wie seine Darlegungen vor allem im vierten Stück seiner Religionsschrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (RGV}

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und im Anhang zum ersten Abschnitt von Der Streit der Fakultäten zeigen, nutzt Kant die Anbindung seiner Lehre vom höchsten Gut an die ReichGottes-Verkündigung zur Kritik an der Pervertierung von Moral und Religion durch die Kirchen. Damit reiht er sich — ob bewußt oder nicht, sei dahingestellt — in die seit dem Hochmittelalter virulente, sich auf die Freiheit des Geistes berufende antinomistische und antidogmatische Bewegung derer ein, die die Herrschaft Gottes erhoffen und auf ihr Eintreten hinarbeiten (zur Geschichte dieser Bewegung und zur kontroversen Diskussion ihrer Bedeutung für die Entwicklung der europäischen Neuzeit vgl. Blumenberg 1966; Gogarten 1953; Kamiah 1969; Löwith 1953; Mittelstraß 1970; Wildmann 1974). Hegel, der in seiner Jugend, zusammen mit seinen Tübinger Studiengenossen Hölderlin und Schelling, in tiefer Übereinstimmung mit dieser eschatologischen Vorstellung eines baldigen Anbruchs des Gottesreichs, angeregt durch Kant und die Ereignisse seiner Zeit, fühlte und dachte (vgl. Peperzak 1960 und Harris 1972), hat später die von Kant konzipierte Konvergenz von Sinnlichkeit und Sittlichkeit im Begriff des höchsten Guts in Kants Werk nicht mehr wahrzunehmen vermocht und es der angeblich ausschließlichen Betonung der Lauterkeit der moralischen Gesinnung als des ethisch allein Ausschlaggebenden und den unbedingten Wert des einzelnen allein Begründenden wegen gescholten. Diese Kritik ist so häufig wiederholt worden, daß die Idee der vollendeten Welt nicht mehr als Kants systematischer Abschluß seiner Geschichts-, Moral- und Religionsphilosophie gesehen werden konnte, sondern als eine der theologischen Tradition verhaftete Seltsamkeit, der man mit Unverständnis begegnete, wenn sie nicht gar völlig übersehen wurde. Andererseits aber hat die Rezeption der Rechts- und Sozialphilosophie Hegels und der Schriften des jungen Marx seit den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts gerade auch dazu beigetragen, die zentrale Bedeutung des Ideals des höchsten Guts für Kants Moral- und Geschichtsphilosophie neu zu erfassen. Ein vorzügliches Beispiel für die Fruchtbarkeit dieses neuen Blicks auf Kant findet sich im fünften Teil von Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung, Doch sind es weniger marxistische als aus der analytischen angelsächsischen Tradition kommende Autoren wie L. W. Beck und J. R. Silber, die mit ihren Arbeiten zu Kant die Aufmerksamkeit nachhaltig auf seine Lehre vom höchsten Gut lenkten. Becks überragender Kommentar zur Kritik der praktischen Vernunft (KpV} und Silbers zahlreiche Arbeiten zum Thema (1956; 1959a; 1959b; 1959c; 1962-1963; 1965) lösten eine lebhafte Diskussion aus (vgl. Albrecht 1978, 152-183; Barnes 1968; 1970-1971; Murphy 1965-1966; Scott-Taggart 1966, 202-204; Yovel 1972; Zeldin 1971), die die vorliegende Arbeit in umfassender Weise weiterführen möchte. Ein bei Kant selbst liegender Grund für die Verkennung der Bedeutsamkeit des Begriffs des höchsten Guts darf freilich nicht unterschlagen werden: Kants Beschränkung der Moralphilosophie auf die Grundlegung einer nor-

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mativen Ethik von Verhaltensgrundsätzen für bestimmte Situationstypen. Kant behandelt innerhalb seiner Ethik nicht die ebenso bedeutsame, in Antike und Mittelalter gestellte Frage nach dem Grundverständnis der menschlichen Gesamtsituation und nach der die Einzelsituationen und ihre moralischen Erfordernisse übergreifende Führung eines im ganzen guten und sinnvollen Lebens. Aber es ist auch nicht so, daß Kant dieses Interesse an der Ganzheit des Menschen und seines Daseins nicht besäße — im Gegenteil, es beschäftigt ihn philosophisch intensiv. Aber von seiner normativen Ethik und diesbezüglichen Moralphilosophie aus gesehen erscheinen seine Überlegungen zum Endzweck des Daseins oder zum Primat der reinen praktischen Vernunft und Philosophie gegenüber der theoretischen zunächst eher als am Rande stehend (wie in der Logik} oder von der Gesamtanlage her betrachtet als ein zwar durchaus konsequenter Abschluß seiner systematischen Philosophie (wie er ihn in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft [ArK] und in der Kritik der praktischen Vernunft [A 215 ff. = V 119 ff.] skizziert), lassen aber einen diesen Abschluß vermittelnden Übergang vermissen — ein Problem, dem Kant sich allerdings in einer geänderten Fragesituation, gegen Ende seines Lebens, wie erwähnt, ausdrücklich stellt, wie sein Nachlaßwerk, das Opus postumum, bezeugt (s. §26). Unsere Untersuchung setzt nun aber mit Kants Reflexionen zum Endzweck des menschlichen Daseins und seiner sich hierauf beziehenden Zweckbestimmung der Philosophie als auf das Leben im ganzen bezogene Weisheitslehre ein, so daß eine Engführung im Sinne der geläufigen normativen Fragestellung der Ethik von vornherein unterlaufen wird. Insofern kann diese Studie zu Kants Religionsphilosophie auch als Korrektur und Erweiterung des in meiner Arbeit Universalisierung in der Ethik von den Grundlagen der kritischen Moralphilosophie Kants gezeichneten einseitigen Bildes betrachtet werden (1980, §§1.3 und 3.3). Nicht zuletzt durch den frühen Wittgenstein sind Bedeutungskomponenten des Wortes ,Ethik' wieder lebendig geworden, die für die Antike und das Mittelalter wichtig waren, während sie in der an Kant anschließenden Diskussion in den Hintergrund traten oder sogar diskriminiert wurden. Nach den letzten Sätzen des Tractatus und Wittgensteins Tagebucheintragungen vom Juni und Juli 1916 geht es in der Ethik um die Einstellung des Menschen zur Welt und zum Leben im ganzen. Damit wird die antike Frage nach dem guten im Sinne des glücklichen Lebens aufgegriffen und die Ethik in die unmittelbare Nähe einer ,negativen' Mystik gerückt. Wo demgegenüber die Ethik sich auf die normative Fragestellung einengte, geschah dies vor allem unter dem Einfluß Kants, nämlich seiner Kritik am Eudämonismus und der vor allem in seinen moralphilosophischen Hauptschriften erfolgten einseitigen Akzentuierung der Frage nach einem objektiven Kriterium für die Beurteilung von Maximen. Die vorliegende Studie verfolgt unter anderem die Absicht, die Kant-Interpretation aus dieser Engführung zu befreien und auf

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das Gewicht hinzuweisen, das der antike und .Wittgensteinsche' Ethikbegriff für Kant hat. Aber nicht nur von Wittgenstein, sondern auch von Heideggers Sein und Zeit aus hat sich diese Entgrenzung der ethischen Fragestellung vornehmen lassen (vgl. Tugendhat 1979). Heideggers Daseinsanalytik macht Gebrauch von der Kierkegaardschen Bestimmung des Menschen als eines Wesens, das sich immer schon vor die Frage nach dem Sinn seines Daseins gestellt sieht, vor die Frage zumal, wer er ist, wer er sein kann und sein soll und wie er sich zu diesem seinem Seinkönnen und Seinsollen verhalten soll. Dieser Grundfrage kann der Mensch sich nicht entziehen; denn auch das Ausweichen vor ihr bzw. vor ihrer Beantwortung bedeutet eine bestimmte Weise, sich zu seiner Existenz zu verhalten. Von diesem für die Frühphilosophie Wittgensteins und Heideggers zentralen existenzanalytischen Basisbegriff einer Grundentscheidung oder Grundentschiedenheit, die jeder moralischen oder sonstwie existentiellen Einzelentscheidung logisch voraus- und diese orientierend zugrundeliegt, macht schon Kant Gebrauch, wenn er von der „Denkungsart" und ihrer „Revolution" spricht und sie von der „Sinnesart" und deren „Reform" abhebt (s. §§ 14 und 23). Aber bei ihm ist diese Unterscheidung in eine Begrifflichkeit eingebettet, die zu metaphysizistischen Mißverständnissen Anlaß geben kann (vgl. § 7). Statt dessen ist die bei Kant gelegentlich absolut gesetzte Dichotomic von Noumenalität und Phänomenalität als die relative Entgegensetzung von daseins- und erkenntnismäßig Fundierendem und Fundiertem zu begreifen, wie dies in dieser Studie durchgängig versucht wird. Sie beschäftigt sich mit Kants kritischer Religionsphilosophie, .Kritik' hier über die gewöhnliche Bedeutung dieses Wortes hinaus im spezifisch Kantischen Sinne der transzendentalphilosophischen Frage nach den apriorischen Bedingungen, unter denen eine vernünftige religiöse Lebensorientierung — kurz: eine rationale Religion — möglich ist, verstanden. In diesem Sinne vorkritische Arbeiten Kants zur religionsphilosophischen Thematik finden keine Berücksichtigung. Aber auch Kants Destruktion der traditionellen rationalistisch-metaphysischen Theologie in der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft wird hier nicht noch einmal rekapituliert. Diese rein negative Kritik hat im Hinblick auf Kants religionsphilosopischen Neuansatz nur vorbereitende, das Terrain bereinigende Funktion, läßt diesen Neuansatz selber aber nicht hervortreten. Er wird erst in der Transzendentalen Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft angedeutet (dazu vgl. § 1). Im übrigen hat die Transzendentale Dialektik — im Unterschied zu Kants philosophischer Religionslehre — immer wieder kompetente Kommentatoren gefunden; aus jüngerer Zeit sind hier beispielsweise Heimsoeth (1967a), Bennett (1974) oder Wood (1978) zu nennen. Demgegenüber beansprucht diese Arbeit, mit Kants Begriff des höchsten Guts des Menschen erstmals jenen Einheitspunkt aufgezeigt zu haben, der es gestattet, die gesamte kriti-

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sehe Religionsphilosophie Kants als ein systematisches Ganzes zu begreifen. Auch die bedeutenderen Untersuchungen zu Kants kritischer Religionsphilosophie wie die Schweizers (1899) oder Woods (1970) behandeln diesen Gesichtspunkt lediglich als einen Aspekt unter anderen. Sie lassen sich in ihren systematischen Darlegungen lediglich von dem für jedermann klar zutageliegenden und deshalb häufig konstatierten, aber zu unspezifischen Gesichtspunkt von Kants Ableitung rationaler Religion aus den Grundlagen seiner Moralphilosophie bestimmen. Demgegenüber bringt der Begriff des höchsten Guts des Menschen „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft" (im Unterschied zum bloß Formalen ihrer vernünftigen Allgemeinheit) zum Ausdruck (KpV A 194 = V 108 11 f.). Dieser Begriff differenziert sich aber bei Kant im Fortgang der Entfaltung seiner religionsphilosophischen Konzeption: Zunächst, in den drei Kritiken, wird das höchste Gut als moralische Welt — biblisch ,Reich Gottes' genannt — begriffen (Erster Teil der Studie); in der Religionsschrift tritt das höchste Gut als ethisches Gemeinwesen — biblisch als ,Volk Gottes' bezeichnet — in den Vordergrund (Zweiter Teil}; im Opus postumum schließlich scheint gelegentlich Gott selbst als höchstes Gut des Menschen zu figurieren (Dritter Teil}, das dann ,ursprünglich' genannt wird, weil für Kant und die christliche Tradition nur Gott selbst Urheber und Begründer seines Reichs und seines Volks sein kann (vgl. KrV B 838/839 = A 810/811; KpV A 226 = V 125). Diese Analogizität des Begriffs des höchsten Guts bei Kant ist verantwortlich für den dynamischen Zug seiner Religionsphilosophie, wodurch das diese Philosophie organisierende Entfaltungsprinzip leicht übersehen werden kann. Die Heterogenität der religionsphilosophischen Stellungnahmen Kants muß dann als Inkonsistenz oder als sich ändernden Anschauungen geschuldet erscheinen, wenn man sich bei der Diskussion seiner Religionsphilosophie der Einfachheit halber nicht von vornherein auf die Religionsschrift als einer — dann allerdings eher als mißlungen anzusehenden — ,vierten Kritik' beschränkt. Ein weiterer Schwerpunkt unserer Untersuchung bedarf der Erläuterung. Sowohl in moral- wie in religionsphilosophischer Hinsicht ist Kants Religionsschrift häufig unterschätzt worden, wohl vor allem deshalb, weil man das Augenmerk in der Hauptsache auf die drei Kritiken richtete und glaubte, Kants „philosophische Religionslehre" (RGVB l u. ö. = VI 17 u. ö.) wende lediglich die dort erarbeiteten Einsichten auf die christliche Religion an oder verkürze sie gar, auf einen Ausgleich mit kirchlichen und staatlichen Instanzen bedacht. Doch damit wäre nicht nur Kants Charakter, sondern auch die durchgängige Originalität seines Denkens verkannt. Die Religionsschrift bringt nämlich gegenüber den voraufgehenden drei Kritiken eine weitere Vertiefung sowohl seiner moral- wie seiner religionsphilosophischen Einsichten. Auch neue Thesen und Konzepte tauchen auf, wie z. B. die umstrittene Lehre vom radikalen Bösen (im ersten Stück) oder die Entfaltung des Begriffs

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des höchsten Guts zu dem des ethischen Gemeinwesens (im dritten Stück). Schon aufgrund dieses Umstands ist es abwegig, die Religionsschrift lediglich als — zudem kompromißlerische — Anwendung der zuvor in den Kritiken erarbeiteten religionsphilosophischen Erkenntnisse Kants auf das Christentum anzusehen. Kant bedient sich zwar mannigfach der Aussagen der christlichen Dogmatik nicht nur seiner Zeit, wie Bohatec (1938) glaubt nachweisen zu können, sondern auch der Formulierungen einer älteren theologischen Scholastik, wie er auch in der theoretischen Philosophie die Grundaussagen einer älteren, durch Wolff und Baumgarten vermittelten philosophischen Scholastik aufnimmt und kritisch umdeutet. Aber er läßt sich seine religionsphilosophischen Thesen von der theologischen Lehre und dem christlichen Glauben nicht einfach vorgeben. Seinen diesbezüglichen methodischen Standpunkt hat er vor allem in den Vorreden zur ersten und zur zweiten Auflage der Religionsschrift und im (bereits erwähnten) Anhang zum ersten Abschnitt des Streits der Fakultäten dargelegt. Den Einwand gegen Kant in jener Form, in der Hegel ihn vortrug, zwar zurückweisend und auch die spekulative Geschichts- und Religionsphilosophie Hegels ablehnend kann die vorliegende Untersuchung doch so verstanden werden, daß sie ein zentrales Anliegen Hegels, nämlich das der Aufhebung von (gedanklichen und existentiellen) Dualismen und Antagonismen, teilt, allerdings nur für den moralisch-religiösen Bereich, in dem es um die Aufhebung der Entzweiung und Entfremdung des Menschen von sich und seinem Dasein geht. Nicht das Bedürfnis nach einer Synthese der Gegensätze, wohl aber die Art seiner Befriedigung bei Hegel fordert zur Kritik heraus. Die umfassendste und tiefgründigste hat Kierkegaard geleistet, und ohne daß von Hegel und von Kierkegaard in dieser Studie die Rede sein kann, begleitet sie doch untergründig das Bewußtsein der ständigen Gefahr des Philosophen, das Rätsel des Daseins bloß im Denken lösen zu wollen. Damit ist auf den größeren philosophiekritischen Zusammenhang verwiesen, dem diese Untersuchung entstammt, nämlich den letzten Konvergenzpunkt der transzendentalphilosophischen Moral- und Religionsphilosophie vom späten Kant des Opus postumum aus über Fichte und Kierkegaard bis Wittgenstein über jede Philosophie hinaus in der ,reinen' — d. h. ungegenständlichen und religionslosen — ,Mystik des alltäglichen Lebens* zu sehen, in dem die verloren geglaubte Einheit des Menschen mit sich und seinem Dasein wieder wahrgenommen und gelebt wird und die Frage nach dem Sinn seines Lebens aufgehoben ist. Konkret nimmt die vorliegende Studie folgenden Weg: In einem ersten Durchgang entfaltet sie die vor allem in den drei Kritiken Kants die ihren jeweiligen Abschluß bildende Lehre vom höchsten Gut als der moralischen Welt, in deren Begriff die Vereinigung von Sittlichkeit und Glückseligkeit gedacht ist. Diese moralische Welt, in der Religionsschrift in weniger objektivierender Terminologie als ethisches Gemeinwesen verstanden und in bi-

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blischer Sprache als ,Reich Gottes' bezeichnet, ist eschatologisches Endziel des menschlichen Daseins, und zwar nicht als real vorgegebenes, sondern als vom Menschen noch zu verwirklichendes. Zur Verfolgung dieses Endzwecks ist er unbedingt verpflichtet, ja er ist der eigentliche Gegenstand, der Inbegriff moralischer Verpflichtung selbst. Die Existenz des Menschen ist somit objektiv wie subjektiv in ihrer Totalität in Pflicht genommen, und zwar nicht von außen, sondern von ihr selbst her, insofern sie sich als vernünftig und darin als autonom verstehen muß. Alle anderen Ansprüche, die der Mensch erfahren mag, hat er von dieser Einheit unbedingter Objektivität und unbedingter Subjektivität her zu beurteilen. Bei Licht besehen besagt nämlich die moralische Welt bzw. das ethische Gemeinwesen das vollkommene Zu-sich-selber-Kommen der Existenz des Menschen in der physischen und moralischen Gemeinschaft mit allen Menschen. Für Kant spielt der Unterschied in der Kennzeichnung des höchsten Guts als der moralischen Welt, wie sie die drei Kritiken vornehmen, und als des ethischen Gemeinwesens, der sich die Religionsschrift bedient, offenbar keine besondere Rolle; jedenfalls hat er diesen Unterschied, soweit ich sehe, nirgends ausdrücklich bedacht. Er erscheint aber höchst bedeutsam, entscheidet er doch über den Skopus der jeweiligen religionsphilosophischen Bemühungen Kants: Während die drei Kritiken den sinnlich-welthaften Aspekt des höchsten Guts unter dem Namen der ,moralischen Welt' als der Versöhnung von Sittlichkeit und physischer Glückseligkeit hervorheben, betont die Religionsschrift den personalen und gesellschaftlichen Aspekt des höchsten Guts unter dem Namen des ,Volks Gottes' als der moralisch versöhnten, in einem ethischen Gemeinwesen geeinten Menschheit. Allerdings differenzieren sich beide Aspekte des höchsten Guts in analoger Weise gemäß einer beiden gemeinsamen moralisch-religiösen bzw. moral- und religionsphilosophischen Problematik: Während die Beförderung des höchsten Guts eine unbedingte moralische Forderung, ja den Inbegriff moralischen Könnens und Sollens darstellt, kann seine Verwirklichung nicht so angesehen werden, weil diese nicht mehr in das Vermögen der einzelnen Menschen bzw. der Menschheit im ganzen gestellt ist, sondern nur in einem jenseits moralischen Bemühens angesiedelten religiösen Glauben an und Hoffen auf das Wirken eines allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gottes angenommen werden kann. Terminologisch wird diese zu den beiden Aspekten des höchsten Guts quer verlaufende Unterscheidung im folgenden als Unterscheidung zwischen der (moralischen) Idee und dem (religiösen) Ideal des höchsten Guts artikuliert (vgl. vor allem § 4). Das höchste Gut und das Interesse an seiner Beförderung bzw. Verwirklichung sind von Kant, wie beispielsweise aus seinen Darlegungen in der Kritik der Urteilskraft (KU} unzweideutig hervorgeht (B 425 — 429 = V 451 f.), — entgegen einem landläufigen, vor allem von Schopenhauer und

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Nietzsche etablierten Vorurteil — nicht eudämonistisch gedacht. Das Interesse an einer moralischen Weltordnung hat selber moralisch zu sein; andernfalls wäre es moralisch pervertiert. Ein solches Interesse ist aber als moralisches möglich, wenn es der Bestimmung des moralischen Grundprinzips bzw. seines Kerngehalts — das höchste Gut als die sittliche Welt — logisch nicht vorausgeht, sondern folgt. Und der Begriff des höchsten Guts selbst ist nur unter Voraussetzung der Möglichkeit einer genuin moralischen Motivation sinnvoll, weil diese Bedingung gerade ein Konstituens jenes Begriffs darstellt. Dessen logische Möglichkeit kann aber ihrerseits nur verständlich werden, wenn das moralische Grundprinzip — der Kategorische Imperativ — dynamisch gedacht wird, wie Kant dies in der Grundlegung %ur Metaphysik der Sitten (GMS} vorführt: Das Moralprinzip entfaltet sich über verschiedene Stufen von der Gesetzes- als der Grundformel über die Selbstgesetzgebungs- und Selbstzweckformel bis zur Reich-der-Zweckeformel (vgl. Wimmer 1980, 174-184 = 1982, 293-300), womit sachlich der Begriff der moralischen Weltordnung, nun interpersonal-gesellschaftlich akzentuiert, erreicht ist. Von diesem Begriff macht Kant in der Religionsschrift unter den Bezeichnungen ,Volk Gottes' und ,ethisches Gemeinwesen' wieder Gebrauch. Die Verwirklichung des höchsten Guts, vor allem hinsichtlich der Korrespondenz von Wohlverhalten und Wohlbefinden, ist, wie gesagt, auch dem moralischen Menschen unmöglich, weil ihm dazu sowohl das notwendige Wissen als auch die notwendige Macht fehlt. Eine moralische Verpflichtung zur Realisierung dieses Ideals kann es somit für ihn nicht geben. Trotzdem muß er ein Interesse an ihr nehmen, das unabweislich ist: ein ,Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit' (vgl. Mt 5,6), und zwar „ganz unabhängig von der Rücksicht auf die eigene Person": „Wir empfinden es als eine Verletzung des eigentümlichen Interesses, welches wir am Sittlichen nehmen, wenn wir einen guten Menschen unglücklich sehen. Und wir empfinden es erst recht als ein Mißverhältnis, das unser sittliches Bewußtsein in Erregung versetzt, wenn wir minderwertige Menschen in glücklichen Verhältnissen antreffen" (Scholz 1921, 137 = 1922, 76), zumal dann, wenn sich diese Diskrepanz der Unmoralität selbst verdankt. Damit dieses unabweisliche moralische Interesse nicht in Widerstreit mit sich selbst gerät — seine Vergeblichkeit seine Notwendigkeit konterkariert — , muß es sich ein Subjekt denken, das vollkommen gut, allwissend und allmächtig ist, um ihm Genüge zu tun. Ein solches Subjekt trägt den Namen ,Gott'. Das Dasein Gottes ist somit die Voraussetzung für die Wirklichkeit einer moralischen Weltordnung. Dieses Urteil nennt Kant ,Postulat', weil es keine Tatsachenfeststellung ist, sondern eine denknotwendige Forderung des moralischen Selbstbewußtseins. In der Anerkennung dieses Postulats besteht für Kant wahre Religion. Insofern der Glaube an Gott die Bedingung des Glaubens an und der Hoffnung auf die Vollendung einer moralischen Welt ist, tritt jener Glaube an Gott in funktionale Abhängigkeit vom moralischen

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Interesse an einer moralischen Welt. Nur ein derart abgeleiteter religiöser Glaube erfüllt für Kant den Anspruch nach Rationalität und damit nach Wahrheit, freilich nicht im theoretischen, sondern nur im praktisch-moralischen Sinne. Der Preis für die so verstandene Vernünftigkeit der wahren Religion ist aber ihre Unselbständigkeit. Zwar kommt in Kants Konzeption die Eigenart der Religion durchaus zur Geltung — sie ist ja nicht Teil der Moralität —, aber sie besitzt keine Autonomie: „Die Religion erwächst nicht auf eigenem Grunde, sondern durch Vermittlung des sittlichen Denkens auf dem Boden der Moralität. Sie ist eine Konsequenz der Moral und nur dieses. [...] Sie steht und fällt mit der Reflexion auf die absolute kosmische Bedeutung des Sittlichen. Für den Begriff der Offenbarung, auf welchem das Selbständigkeitsbewußtsein der Religion sich aufbaut, hat die Kantische Theorie nicht den mindesten Raum. Sie ist nicht einmal imstande, ihn verständlich zu machen" (Scholz 1921, 144 = 1922, 83), wie vor allem in Abschnitt D (§§ 16 — 20) dieser Studie deutlich wird. Der autonome und der übervernünftige Charakter der lebendigen Religiosität kann in Kants Konzeption nicht begriffen werden. Darauf beruht ihre Fragwürdigkeit und Begrenztheit. Allerdings deuten gewisse Aussagen Kants ein alternatives, mehr phänomenologisch, am tatsächlichen religiösen Vollzug orientiertes Religionsverständnis an: Während die drei Kritiken vornehmlich in den Attributen der Allmacht und der Gerechtigkeit Gottes eine Antwort auf die religiöse Frage nach der Wirklichkeit des höchsten Guts in seinem sinnlich-welthaften Aspekt sehen, nähert sich die Religionsschrift bei dem Bemühen, eine individuelle und kollektive moralische Metanoia der Menschen als möglich und begreiflich erscheinen zu lassen, der spezifisch christlichen Erlösungslehre und dem Selbstverständnis Jesu an und macht von der neutestamentlichen Auffassung Gottes als Liebe Gebrauch, die jedem Menschen ohne Ansehen seiner Moralität zugetan ist (vgl. l Joh 4,7 — 16). Nach einem vorbereitenden Abschnitt über ,Natur und Freiheit' diskutiert der sich der Religionsschrift widmende zweite Teil unserer Untersuchung unter dem Titel,Freiheit und Gnade' zunächst die einander widersprechenden Aussagen Kants über Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit des radikal Bösen im Menschen und seiner Grundentscheidung sowie der auf diesem Hintergrund als paradox erscheinenden Pflicht zu moralischer Selbsterkenntnis (§§ 11 und 12), danach Ansatzpunkte, die für eine über das in der Postulatenlehre der Kritiken implizierte Gottesverhältnis hinausgehende Vertiefung der Religiosität als zentral anzusehen sind: 1. das Staunen über das Wunderbare der eigenen moralischen Anlage; in diesem Zusammenhang ist auf die Christologie der Religionsschrift einzugehen (§ 13); 2. die Erfahrung eines Auswegs aus der moralischen Verzweiflung an sich selbst in einer als Geschenk erlebten Umwandlung des eigenen Herzens, die Kant „Revolution der Denkungsart" nennt und von ihm mit der christlichen Rechtfertigungs-

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lehre verbunden wird (§ 14); schließlich 3. die Erfahrung schuldvergebender Liebe bzw. die Antizipation solcher Erfahrung im Glauben an die Möglichkeit solcher Liebe jenseits allen möglichen moralischen Verdienstes, was Kant zu der Frage nach der Bedeutung der theologischen Satisfaktionslehre führt (§ 15). Darüber hinaus wird der Glaube an die Wirklichkeit oder auch nur an die Möglichkeit solcher .Wunder' selbst als des Staunens und des Dankens wahrhaft wertes Wunder erlebt. Es liegt nahe und erscheint mir berechtigt, in diesem Zusammenhang auf Wittgensteins moralisch-mystische Erfahrungen hinzuweisen, die er in einem Vortrag über Ethik (1929) mitteilte: die ,Erfahrung' des Daseins als eines zu Staunen Anlaß gebenden .Wunders', die ,Erfahrung' moralischer Schuld und die ,Erfahrung' absoluten Geborgenseins (wobei ich dazu neige, die letztere Erfahrung in einen Zusammenhang auch zur Schulderfahrung zu stellen, so daß sich die Geborgenheitserfahrung, moralisch vertieft, auch als Erfahrung verstehen läßt, trotz der eigenen Schuld angenommen, bejaht und geliebt zu sein). Der sich auf solche Erfahrungen beziehende Glaube ist kein begründeter Glaube im gewöhnlichen Sinne des Wortes ,Begründung'; denn er ist weder ein Glaube aus moralischer Vernunft noch ein Glaube aus Erfahrung in der üblichen Bedeutung des Ausdrucks ,Lebenserfahrung', weil der Glaube selbst diese ,religiöse' Art von Erfahrung ermöglicht und begründet. Insofern ist dieser Glaube grundlos, ein Glaube allein aus ursprünglicher transzendentaler Freiheit, und wird deshalb auch selbst als Wunder erfahren. In dem Abschnitt über .Vernunft und Offenbarung' (§§ 16—20) zeigt sich, daß jedwede Offenbarung bereits aus begrifflichen Gründen vernünftig sein oder einen vernünftig rekonstruierbaren Kern, wenn auch in historischzufälliger Umhüllung, enthalten muß, weil sowohl der Offenbarungs- als auch der Gottesbegriff nur auf dem Boden praktischer Vernunft sinnvoll zu denken sind. Insofern stellt eine rein historisch verstandene, auf bloß historisch legitimierte Autorität gegründete Offenbarung für Kant eine begriffliche Absurdität dar. Entsprechend begreift Kant die ,wahre Kirche' als ideale ethische Gemeinschaft, deren Mitglieder der Perspektive des höchsten Guts verpflichtet sind. Dagegen wäre eine nicht praktischer Vernunft, sondern historischer Autorität verpflichtete Kirche für Kant konsequenterweise lediglich eine auf Aberglauben gegründete Sekte. Die diesbezüglichen Ausführungen im Abschnitt .Phänomenalität und Noumenalität' (§§ 21 und 22) werden ergänzt durch Überlegungen zum eigentümlich umfassenden und fundamentalen, Einzelentscheidungen begründenden, seinerseits aber nicht mehr begründbaren und sich der objektivierenden Vergegenwärtigung entziehenden und insofern ,noumenalen' Charakter der zum Ganzen des Daseins stellungnehmenden Grundentscheidung der praktischen Vernunft (§ 23). Damit wird ein Thema bis in seine letzten Konsequenzen verfolgt, das schon mehrfach anklang und für dessen Bedeutsamkeit uns die frühe Philosophie Wittgensteins und Heideggers in der

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Nachfolge Kierkegaards, wie angedeutet, die Augen geöffnet hat. Legitimerweise schließt sich hieran die Erörterung eines von Mythologemen und Mystizismen gereinigten Begriffs des Mystischen an, in dem das Bewußtsein dieses einzigartigen Charakters eines moralischen und religiösen Lebensverständnisses festgehalten wird (vgl. § 25). Kant wendet sich allerdings ausdrücklich gegen Deutungen, die eine Ähnlichkeit zwischen seiner Religionsphilosophie und der Mystik sehen wollen; aber Kant ist hier einem depravierten Verständnis von Mystik verpflichtet, das er nun freilich völlig zu Recht ablehnt (§ 24). Der dritte Teil unserer Untersuchung, der dem Opus postumum gewidmet ist, gibt unter anderem Hinweise darauf, daß Kant selbst am Ende seines Lebens seine gesamte kritische Philosophie als Religionsphilosophie zu verstehen unternahm, indem er die transzendentale Theologie nun ausdrücklich als „höchsten Standpunkt" der Transzendentalphilosophie zu begreifen suchte. Der Untertitel dieses Teils, ,Theologie und Anthropologie', weist auf eine Zweideutigkeit hin, die sich in den religionsphilosophischen Aussagen von Kants Nachlaßwerk zeigt: Ist die transzendentale Theologie nun ihrerseits noch in einer transzendentalen Anthropologie zu fundieren oder bleibt es dabei, daß eine transzendentale Anthropologie ihren letzten Grund in einer transzendentalen Theologie hat — oder vertritt Kant eine Position, die diese Alternative noch einmal als vorläufige überschreitet und in den vom nachkantischen Idealismus teilweise aufgenommenen Traditionen einer philosophischen Mystik ihre nächste Parallelen hat (§ 27)? Daß Kant selbst mit dieser dritten Möglichkeit als Lösung der Konstitutionsproblematik der Transzendentalphilosophie rechnet, die zugleich als im Denken vollzogener Vorgriff auf die Lösung seiner religiösen Lebensproblematik anzusehen wäre, zeigen Texte, die eine große innere Nähe zu jenen begrifflichen Analysen aufweisen, die Anselm von Canterbury in seinem Proslogion vorgetragen hat (§ 30). Hier wie auch sonst im Opus postumum spricht Kant fast überhaupt nicht mehr vom höchsten Gut, von den Postulaten, vom Reich Gottes oder von Erlösung, Rechtfertigung oder Genugtuung. Diese Lehren machen einem unmittelbareren und ursprünglicheren denkerischen Zugang zu Gott Platz: Im Vollzug des Begriffs Gottes durch die reine praktische Vernunft begreift diese Gottes Dasein. In gewandelter Form bleibt das Reich-Gottes-Thema dennoch durchaus präsent, wenn es dem religiösen Bewußtsein um die Einheit des Lebens mit Gott und der Transzendentalphilosophie auf ihrem höchsten Standpunkt um die Vereinigung von Gott und Welt im Menschen geht; denn: „Nun wird Transzendentalphilosophie als die Lehre bezeichnet, in der Gott und die Welt durch den Menschen, der selbst ein Weltwesen ist, zur Einheit verbunden sind. Gott, die Welt und der Inhaber der Welt, der Mensch, der selbst ein Weltwesen ist, sind in der Transzendentalphilosophie in der Einheit eines Wissens und eines Seins offenbar. Kant hat auch hier, wie in seiner ganzen Philosophie, die Welt

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von ihrer Gegebenheit her gefaßt. Aber das Wissen der Transzendentalphilosophie ist solchen Erfassens der Welt ungeachtet dieses, daß die Welt in Gott eingeht und daß solches Eingehen der Welt in Gott auf die Weise des menschlichen Selbstbewußtseins geschieht. Gott, Mensch und Welt bilden nicht eine Dreiheit, sondern sie bilden eine Einheit. Menschliches Selbstbewußtsein ist das Sichfinden des Geistes Gottes auf die Weise der Welt. [...] In dieser Lehre des Opus postumum von dem Sichfinden Gottes auf die Weise der Welt, das als menschliches Selbstbewußtsein geschieht, hat die Kantische Transzendentalphilosophie sich für sich selbst ausdrücklich in ihre Wahrheit gestellt, Kant hat es noch vermocht, das Wissen der transzendentalen Reflexion in völliger Reinheit auszusprechen" (Kopper 1961, 126 f.). Das Reich Gottes ist die Welt, die in Gott ist und durch den Menschen und schließlich die Menschheit im ganzen zum Bewußtsein ihrer selbst aus Gott kommen soll. Vom „höchsten Standpunkt der Transzendentalphilosophie" aus gesehen mag sich dann auch ein Verständnis der Kantischen Philosophie nahelegen, das sie weitgehend, auch in ihren theoretischen Teilen, als Religionsphilosophie betrachtet. Ein solches Verständnis hat Georg Picht in einer zweisemestrigen Vorlesung der Jahre 1965/66, eine entsprechende These Heideggers aufnehmend (vgl. Heidegger 1963, 14 = 1976, 455), in bezug auf die theoretisch-kritische Philosophie Kants in der Kritik der reinen Vernunft zu entfalten versucht (Picht 1985). Unsere Erörterungen beschränken sich demgegenüber jedoch auf jene Gedankengänge Kants, die man — auch in seiner ersten Kritik — im weitesten Sinne zu seiner praktischen Philosophie rechnen muß, die gegenüber der theoretischen den Primat innehat. Ich glaube zeigen zu können, daß diese praktische Philosophie, die für Kant in der transzendentalen Theologie ihren letzten Bezugspunkt hat, auf eine kritische Religionsphilosophie hin ausgelegt nichts anderes als eine auf den Punkt gebrachte Philosophie der Existenz und des Lebens ist, in der unausgesprochen das Staunen über das Wunder des menschlichen Daseins sowohl am Anfang als auch am Ende steht und die Frage nach seinem Sinn, recht verstanden, gar nicht mehr aufkommen kann.

Erster Teil Die moralische Welt als das Reich Gottes: Der sinnlich-welthafte Aspekt des höchsten Guts des Menschen [Die drei Kritiken Kants]

A. Sittlichkeit und Glückseligkeit § 1. Philosophie als Lehre vom Endzweck des Menschen

Der von erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Interessen einseitig festgelegte Blick auf die Philosophie Kants sieht ihr bleibendes Verdienst in ihrer ,kopernikanischen Wende' zur Transzendentalphilosophie, mit der sie das menschliche Erkennen kritisch einschränkte, aber auch neu begründete. Die Einengung der Perspektive auf Kants theoretische Philosophie aber läßt übersehen, daß einer der stärksten Antriebe Kants zur Ausbildung seiner transzendentalphilosophischen Position in der kritischen Grundlegung rechtlich-politisch und ethisch gerechtfertigten Handelns lag. Das Jahr 1769 gab Kant zwar nach eigenem Zeugnis „großes Licht" (XVIII Refl. 5037), und die im folgenden Jahr vorgelegte Inauguraldissertation zeigt die ersten Ansätze einer Neuorientierung seiner theoretischen Philosophie (dazu vgl. Schmucker 1976). Auch erweisen sich seine Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen aus dem Jahre 1764 sowie seine Randbemerkungen aus diesem und dem folgenden Jahr (zur Datierung vgl. XX 472) in einem Druckexemplar seiner Beobachtungen noch weitgehend der moralpsychologischen und moralästhetischen Position der moral-sense-Philosophen Hutcheson und Shaftesbury verpflichtet. Aber in die gleichen Jahre fällt die Begegnung mit den Kant aufwühlenden Schriften Rousseaus: 1762 erschienen der Contrat Social und der Emile, und in den erwähnten Anmerkungen zu den Beobachtungen findet sich eine den Umbruch in Kants Lebens- und Denkhaltung tief erhellende Notiz, die eine Art moralischer Konversion auszudrücken scheint: „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiter zu kommen, oder auch die Zufriedenheit bei jedem Erwerb [von Erkenntnis]. Es war eine Zeit, da ich glaubte, dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen, und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren, und ich würde mich unnützer finden als den gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, daß diese Betrachtung allen übrigen einen Wert erteilen könne, die Rechte der Menschheit herzustellen" (XX 44). Kant hat später immer wieder die Fähigkeit auch und gerade des einfachen, ungebildeten Menschen zur Erkenntnis seiner wesentlichen moralischen und religiösen Bestimmung hervorgehoben und seine Moral- und Religionsphilosophie lediglich als eine Explikation dieses moralischen und religiösen Bewußtseins von jedermann angesehen (vgl. KrV B xxxiii, B 495, 835 = A 467, 807;

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A. Sittlichkeit und Glückseligkeit

CMS B 17, 20-23, 34, 36 = IV 402 13-15, 403-405, 411 9f., 412 16; KpV A 56 f., 63 f. = V 31 f., 36; KU B 412, 421 = V 443 I4f., 448 30f.; RGV B 279 f. = VI 181 f.). Vielleicht darf man mit Gehlen (1938, 308) und Lehmann (1954, 417) eine Stelle aus Kants später Anthropologievorlesung auf diese Umformung seiner moralischen „Denkungsart" beziehen und sie als Resonanz seiner eigenen Kämpfe verstehen: „Der Mensch, der sich eines Charakters in seiner Denkungsart bewußt ist, hat ihn nicht von der Natur, sondern muß ihn jederzeit erworben haben. Man kann auch annehmen: daß die Gründung desselben gleich einer Art der Wiedergeburt, eine gewisse Feierlichkeit der Angelobung, die er sich selbst tut, sie und den Zeitpunkt, da diese Umwandlung in ihm vorging, gleich einer neuen Epoche ihm unvergeßlich mache. — Erziehung, Beispiele und Belehrung können diese Festigkeit und Beharrlichkeit in Grundsätzen überhaupt nicht nach und nach, sondern nur gleichsam durch eine Explosion, die auf den Überdruß am schwankenden Zustande des Instinkts auf einmal erfolgt, bewirken. Vielleicht werden nur wenige sein, die diese Revolution vor dem 30sten Jahre versucht, und noch wenigere, die sie vor dem 40sten fest gegründet haben" (Anthropologie B 268 f. = VII 294). Und in der Religionsschrift schreibt Kant: Daß jemand ein im moralischen Sinne guter Mensch wird, „das kann nicht durch allmähliche Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muß durch eine Revolution in der Gesinnung [...] bewirkt werden; und er kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt, gleich als durch eine neue Schöpfung [...] und Änderung des Herzens werden" (RGV B 54 = VI 47). Jene lebensgeschichtlich bedeutsame Umwertung von Erkennen und Handeln, von Wissenschaft und moralisch gutem Leben, die Abkehr von der Hybris des Wissens hin zur Achtung vor der Würde jedes einzelnen Menschen hat das spezifische Selbstverständnis und die Systematik von Kants späterer kritischer Philosophie geprägt. Demnach ist Philosophie für Kant entweder Wissens- oder Weisheitslehre (vgl. KrV B 866-868 = A 838-840; Logik A 23 f. = IX 23 f.). Philosophie als Wissenslehre, als theoretische Philosophie also, bezeichnet er auch als Philosophie ,dem Schulbegriffe nach', womit ursprünglich, von Kant jedoch kritisch revidiert, das ,scholastische' Programm einer physisch-empirischen und einer metaphysischen Philosophie gemeint ist; Philosophie als Weisheitslehre, als (lebens-)praktische Philosophie, ist demgegenüber Philosophie ,dem Weltbegriffe nach' oder ,Weltweisheit'. Mit dieser traditionellen Bezeichnung wird Philosophie (als Weisheitswie als Wissenslehre) von der Theologie als ,Gottesweisheit' abgehoben. Kant steht dem Ausdruck ,Weltweisheit' allerdings kritisch gegenüber (vgl. Opus postumum XXI 14021-26). Als Wissenslehre geht es der Philosophie um die möglichst vollständige, methodisch geleitete, systematische Erkenntnis dessen, was ist oder was sein kann, und zwar entweder aus empirisch gegebenen Sachverhalten, wodurch

§ 1. Philosophie als Lehre vom Endzweck des Menschen

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sich letztlich ein System empirischer Wissenschaften ergibt, oder aus reinen, d. h. aller Erfahrung voraus- oder zugrundeliegenden Begriffen, was zum einen in die traditionelle Metaphysik oder in die kritische, von Kant begründete Transzendentalphilosophie als der Lehre von den notwendigen Bedingungen und damit auch Grenzen menschlichen Erkennens und Handelns führt, zum anderen in Logik, Mathematik, Geometrie und andere formale Wissenschaften. Philosophie nach ihrem ursprünglichen Wortsinn, als Weisheitslehre und Weisheitsliebe, ist demgegenüber „die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft" (Logik A 23 = IX 23 32 f.) bzw. „von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft" (KrV B 867 = A 839; vgl. auch die vielfältigen Bemerkungen Kants in dieser Richtung im Opus postumum, vor allem XXI 119 — 141). Sie hat das zum Gegenstand, „was jedermann notwendig interessiert"; Mathematik, Physik, Logik hingegen sind Disziplinen und Fertigkeiten, die zu „beliebigen Zwecken" eingesetzt werden können (Kr V B 867 Anm. = A 839 Anm. sowie Logik A 24 = IX 24 15), insofern lediglich Mittel darstellen und einen relativen Wert haben. Nur die Erkenntnis und Beachtung des letzten Zwecks der menschlichen Vernunft und des Menschen selbst, der Menschheit im ganzen und der Natur insgesamt haben „innern", „absoluten Wert", weshalb Kant ihnen „Würde" zuspricht (Logik A 23 = IX 23/24) eine Formulierung, mit der er den End- und Selbstzweckcharakter einer Person oder Tätigkeit prägnant hervorzuheben pflegt (vgl. GMS B 64—66, 77 = IV 428, 434 f.; MST A 93 = VI 434 f.). Solange aber noch von einer Vielzahl von Zwecken, gerade auch von „wesentlichen" oder „letzten" Zwecken, gesprochen wird, ist vom wirklichen Endzweck des menschlichen Daseins, der nur einer sein kann, noch nicht die Rede. Dieser umfaßt „die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral" (KrV B 868 = A 840). Während die Philosophie als Wissenslehre, als theoretische apriorische und empirische Philosophie, im wesentlichen Philosophie und Wissenschaft der Natur ist, ist Philosophie als Weisheitslehre praktische Philosophie, und weil „praktisch" alles ist, „was durch Freiheit möglich ist" (KrV B 828 = A 800), ist sie in erster Linie Philosophie der Freiheit, die vor allem den in Freiheit zu akzeptierenden Endzweck des Menschen betreffend Moralphilosophie ist (vgl. KU H 1-3 = XX 193f.; KU B xif. = V 171). Es ist vom heutigen Gebrauch des Wortes ,Moralphilosophie' her nicht selbstverständlich, es bei Kant auch auf das menschliche Leben im ganzen und seinen Sinn und auf die Philosophie als Weisheitslehre und -liebe bezogen zu sehen. Kant stößt hier von grundsätzlichen Erwägungen aus auf ein umfassendes Verständnis von Moralphilosophie vor, wie es die Antike mit ihrer Lehre vom guten oder richtigen Leben gewonnen hatte. Der Eintritt in dieses Leben bzw. seine Wiedergewinnung ist in Vertiefung des antiken

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A. Sittlichkeit und Glückseligkeit

Standpunkts, die sich für Kant dem Christentum verdankt (vgl. KrV B 845 = A 817; KpV A 149, 153/154, 229f. Anm. = V 83, 86, 127f. Anm.; KU B 463 Anm. = V 472 Anm.; RGW 67-72 = VI 57-60), nur als Befreiung von einem dem eigentlichen Zweck des Daseins entfremdeten Leben möglich. Moralphilosophie ist demnach von Kant umfassend verstanden: als Philosophie vom Endzweck des Menschen, als Philosophie der Freiheit zur Verwirklichung dieses Endzwecks in einem guten Leben und damit als »praktische' Philosophie im eminenten Sinne, nämlich als Weisheitslehre. Moralphilosophie als .Tugendlehre', d. h. als eine Lehre zu realisierender moralischer Einzelzwecke, Haltungen und Einstellungen wäre demgegenüber sekundär. Die Personifizierung der Idee von der Philosophie als Weisheitslehre ist das „Ideal des Philosophen" als eines Lehr- und Lebemeisters der Weisheit, das dem nach ihr Strebenden zum „Urbild" dienen soll, das er aber nie vollkommen wird erreichen können (KrV B 867 = A 839). Von ihm ist der Philosoph als Wissenslehrer zu unterscheiden, der nicht danach fragt, „wie viel das Wissen zum letzten Zwecke der menschlichen Vernunft beitrage; er gibt Regeln für den Gebrauch der Vernunft zu allerlei beliebigen Zwecken. Der praktische Philosoph, der Lehrer der Weisheit durch Lehre und Beispiel, ist der eigentliche Philosoph. Denn Philosophie ist die Idee einer vollkommenen Weisheit, die uns die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt" (Logik A 24 = IX 24). Für Kant hat der Lehrer der Weisheit selber ein Weiser zu sein, so daß auch die von ihm gelehrte Philosophie zugleich Praxis eines weisen Lebens ist, wozu ihm Sokrates als Beispiel dient (vgl. Logik A 34 = IX 29). Aber Lehre und Leben sind nicht notwendigerweise, weder begrifflich noch existentiell, eine Einheit. Die praktische Philosophie gibt nur den „Begriff, „die Idee einer vollkommenen Weisheit" und kann insofern nur den Endzweck des Menschen und seiner Vernunft vor Augen führen, stellt ihn aber nicht selbst dar. Dies ist der Vorbehalt, unter den man Kants Behauptung, Philosophie als Weisheitslehre habe absoluten Wert, unvermeidlicherweise stellen muß. Im Verhältnis zur Philosophie als Wissenslehre trifft diese Behauptung allerdings zu, weshalb man die Weisheitslehre rechtens auch „eine Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unsrer Vernunft", nämlich im Hinblick auf ihren Endzweck, dem als dem obersten alle übrigen Zwecke unterzuordnen sind, nennen kann (Logik A 24/25 = IX 24 29 f.). Die Unerreichbarkeit des Ideals der Weisheit hat Kant dann vor allem in Reflexionen seiner letzten Lebensjahre betont, wie sie uns im ersten Konvolut des Opus postumum überliefert sind, in denen er nur Gott als vollkommen weise erachtet, den Menschen aber wenigstens der „Bestrebung", der „Liebe" zur Weisheit für fähig hält (XXI 622-24, 11919 f., 27 f., 1201 f., 15-19, 12025-1217, 12416-20, 12713f., 20f., 128 lOf, 12918-1308, 131 4f., 11,

§ 1. Philosophie als Lehre vom Endzweck des Menschen

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133 21 f., 134 6f., 1383-6, 1417-13,22-26, 14921, 15525-27, 15710-14; Vgl. noch XXII 38 12 f.; s. aber schon Sokrates und Platon bei Diogenes Laertios I 12).

Kants bis in die spätesten Ansätze des Opus postum um (XXI 7 1—5, 95 19 f., 10413-16, 1061 f., 1083-6, 12025-1217, 12713-20, 12810-14, 13026, 134 1-5, 136 15-21, 138 3-6) aufrecht erhaltene Einteilung der Philosophie in einen theoretischen und einen praktischen Teil, in Natur- und Moralphilosophie, in Wissens- und Weisheitslehre findet auf dem Hintergrund seiner grundsätzlichen transzendentalphilosophischen Dichotomie der Wirklichkeit in einen phänomenalen, empirischen und einen noumenalen, intelligiblen Bereich statt. Der phänomenale Bereich ist der der Natur und Kultur, sofern sie der sinnlichen äußeren und inneren Anschauung des Menschen zugänglich sind und durch die Begriffe (Kategorien) seines Verstandes geordnet und der inneren und äußeren Erfahrung zugänglich gemacht werden. Der noumenale Bereich ist der menschlichen Erfahrung unzugänglich. Unsere Vernunft denkt sich zwar über alle Grenzen möglicher Erfahrung hinaus und bildet Begriffe (Ideen) von Gegenständen, ihrer Gesamtheit und der Gesamtheit ihrer Bedingungen, von denen uns aber keine Anschauung möglich ist, so daß wir über die objektive Geltung (Realität) dieser Gegenstände oder ihrer gesetzmäßigen Verknüpfung zu einer abgeschlossenen Gesamtheit (Totalität) keine Aussage machen können. Die metaphysischen Vernunftschlüsse, die zu den Ideen von Welt, Seele, Gott führen, lassen sich nun aber als falsch erweisen, wie Kant in der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft zeigt; trotzdem steht der Mensch auch nach Aufhebung der Scheinhaftigkeit jener Bemühungen unter dem Zwang, diese Ideen denken zu müssen. Weshalb und woher aber dieser Zwang? Kant sieht den Grund dafür in dem „großen Interesse", das sie für die Vernunft bei sich führen (KrV B 824 = A 796), wobei das spekulative Interesse der theoretischen Vernunft jedoch nur ein abgeleitetes und irregeführtes ist; das primäre und legitime Interesse an ihnen hat die moralisch-praktische Vernunft. Ihr Interesse ist „das moralische", und dies ist „das höchste" mögliche und zugleich schlechthin unbedingte, das von keinem anderen Interesse abhängt; es ist inhaltlich das unbedingte „Wohlgefallen" an der Existenz des unbedingt, d. h. moralisch Guten, das allein „absoluten Wert" hat (KU B 13 f. = V 208/209). Damit ist der „Primat der reinen praktischen Vernunft" aufgewiesen, „weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist" (KpV A 215, 219 = V 119, 12129-31; vgl. KrV B 825-830 = A 797-802; CMS B 21 = IV 404 10 ff.). Das bedeutet aber nicht, daß die moralisch-praktische Vernunft die theoretische bzw. Philosophie als Weisheitslehre die Philosophie als Kritik und Methode entbehren könnte (GMS B 22f. = IV 404f.; KpV A 291 f. = V 163). Aber es bedeutet, daß Theorie, Kritik, Methode - kurz: Wissenschaftlichkeit — nur Mittel zum Zweck sind, die wesentliche Bestim-

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A. Sittlichkeit und Glückseligkeit

mung des Menschen herauszuarbeiten, um ihn vor Selbstmißverständnissen und falscher Lebenspraxis zu bewahren, soweit dies überhaupt durch Theorie, Kritik und Methode bewerkstelligt werden kann. Der Mensch und seine Bestimmung — das ist letztlich der Gegenstand der Philosophie. Sie ist also wesentlich praktische Anthropologie, die auch in ihren theoretischen Erörterungen getragen ist von dem eigentlichen Interesse des Menschen, den Sinn seines Lebens, den Zweck seines Daseins zu erkennen und zu ergreifen. Die Grundfrage der Philosophie ist deshalb auch nach Kant: „Was ist der Mensch?" Um den lebenspraktischen, nicht nur den Philosophen angehenden existentiellen Sinn dieser Frage zu verdeutlichen, wäre sie in den Mund eines jeden Menschen zu legen: Wer bin ich? Wer soll ich sein? Wozu lebe ich? Wie kann ich erkennen und wie kann ich lernen, was ich „sein muß, um ein Mensch zu sein"? (XX 45 19; vgl. Beck 1981; Kamiah 1954, 39-62; Vonessen 1978, 93-103). Kant zerlegt die Frage des Menschen danach, was er sei, in die bekannten drei Unterfragen: „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?" Während die Beantwortung dieser Fragen in Kants Logik (A 25 = IX 25; vgl. auch Kants Brief an Stäudlin vom 4. 5.1793 in 'XI 414 = 2XI 429) einfach traditionellen philosophischen Disziplinen, nämlich der Metaphysik, der Moral- und der Religionsphilosophie, zugesprochen wird, ohne daß ihr systematischer Zusammenhang verdeutlicht würde, wird dieser von Kant in der Kritik der reinen Vernunft (B 833 = A 805) angedeutet: Die erste Frage betrifft die Möglichkeiten und Grenzen unserer Verstandes- und Vernunfterkenntnis, geht also zunächst auf das theoretische und hier vor allem auf das apriorisch-spekulative Interesse des Menschen. Ihre Beantwortung in ebendieser Kritik der reinen Vernunft, die genauer ,Kritik der reinen theoretischen (oder spekulativen) Vernunft' hieße, besteht, wie dargestellt, zu einem guten Teil und im Kern darin, den Menschen mit seinem spekulativen Bedürfnis, die Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit zu überschreiten, an die praktischmoralische Seite seines Wesens und damit an die Antwort auf die zweite Frage zu verweisen. Die spekulativen Vernunftideen von Seele, Welt, Gott, die zuvor Anlaß für eine unausweisliche Metaphysik mit ihren Untergliederungen einer apriorischen Psychologie, Kosmologie und Theologie waren, werden nun zu den praktischen Vernunftideen der Unsterblichkeit der Seele, der Willensfreiheit und des Daseins Gottes, die gedacht und als real unterstellt, ,postuliert' werden müssen, um an der objektiven Realität des Sittengesetzes und seines allumfassenden moralischen Gegenstandes, der Verwirklichung einer moralischen Welt als des höchsten Guts, festhalten zu können. Damit weist auch die zweite Frage über sich hinaus, so daß das praktische Frage-

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Bedürfnis des Menschen zur Gänze erst mit der Beantwortung der dritten Frage zur Ruhe kommt und befriedigt ist. Diesem Dreischritt entspricht auch im wesentlichen die Abfolge der drei Kritiken Kants, wenn auch nach Kants ursprünglichem Plan und Verständnis das kritische Geschäft mit der ersten Kritik als abgeschlossen zu gelten hatte (vgl. Beck 1960, 3 — 18). Kant beantwortet ja, wenn auch aus späterer Sicht nicht mehr zureichend, die dritte Frage in der Transzendentalen Methodenlehre nach Abschluß der kritischen Arbeit der Transzendentalen Dialektik, indem er die dort abgewehrten, einer Lösung durch apriorische theoretische Vernunft unzugänglichen Probleme der Metaphysik hier, in der Methodenlehre, ihrer Behandlung durch die praktische Vernunft zuführt, während er die zweite Frage überhaupt nicht als Gegenstand einer transzendentalphilosophischen Erörterung zuläßt (KrV B 833 = A 805). Diese zweite Frage erfahrt dann später in der Grundlegung %ur Metaphysik der Sitten und in der Metaphysik der Sitten ihre Bearbeitung. In der Grundlegung versucht Kant außerdem noch einen transzendentalphilosophischen Nachweis der objektiven Geltung des Moralgesetzes in Form des Kategorischen Imperativs als eines synthetischen Satzes a priori. Die Einsicht in das Mißlingen dieses Versuchs wird dann wohl einer der Beweggründe Kants zur Abfassung der Kritik der praktischen Vernunft, in der die Begründungsabsicht in bezug auf den Kategorischen Imperativ aufgegeben ist und das Moralgesetz bzw. das Bewußtsein von ihm und seiner objektiven Geltung als Tatsache hingestellt wird, die keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. Kant macht seine Position dadurch plausibel, daß er die Autonomie der reinen praktischen Vernunft herausarbeitet, deren Gesetzgebung keiner ihr fremden, z. B. empirischen Bestimmungsgründe bedarf. Es ist deshalb verständlich, daß Kant zu diesem Zweck die Autonomie- oder Selbstgesetzgebungsformel des Kategorischen Imperativs ins Zentrum seiner Darlegungen rückt. Die zweite Kritik kann aus diesem Blickwinkel als eine ,Kritik der empirisch-praktischen Vernunft' bezeichnet werden. Aber sie ist auch eine Kritik der reinen praktischen Vernunft, weil, wie sich für Kant nun herausstellt, nicht nur die reine theoretische, sondern auch die reine praktische Vernunft „ihre Dialektik" hat (KpV A 192 = V 107 6) und sich in eine Antinomie verstrickt, die ihren unbedingten Geltungsanspruch gefährdet. Diese Antinomie entzündet sich, wie noch näher zu zeigen sein wird (s. § 4), an den beiden dem Anschein nach unvereinbaren Bestandstücken der von der moralisch-praktischen Vernunft notwendig vorauszusetzenden Idee der moralischen Welt als des höchsten von ihr anzustrebenden Guts, in dessen Begriff sowohl Sittlichkeit wie Glückseligkeit als miteinander versöhnt und geeint gedacht werden. Als möglich läßt sich diese Einheit für Kant aber nur unter der Annahme der Existenz eines zugleich guten wie allmächtigen Gottes begreifen, so daß, wie schon die erste Kritik, so auch die zweite auf die Beantwortung der dritten Frage ausgreifen und die Möglichkeit von Religion ins Auge fassen muß.

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Die dritte Frage danach, was der Mensch hoffen darf, ist für Kant „praktisch und theoretisch zugleich" (KrV B 833 = A 805), weil die für die moralisch-praktische Vernunft notwendige Idee des höchsten Guts, wie angedeutet, zur Lösung jener Vernunftprobleme führt, die sich im Horizont der theoretisch-spekulativen Vernunft als unlösbar erwiesen hatten. Das ,Theoretische' dieser Lösung ist nun eben nicht mehr spekulativ-transzendierend gewonnen, sondern transzendental, und zwar nicht im Ausgang von jAnschauungs-', sondern von ,Geltungstatsachen£, deren Normativität inhaltlich darin besteht, daß das höchste Gut sein soll. Nicht nur die erste und die zweite, sondern auch die dritte Kritik, die der Urteilskraft, erhebt sich an ihrem Ende zur Beantwortung der dritten Frage, und zwar wieder im Ausgang von dem moralischen Erfordernis der Realisierung einer moralischen Welt als des höchsten Guts, das aber nur unter Voraussetzung der Existenz Gottes als möglich betrachtet werden kann, so daß die Frage nach dem Endzweck des menschlichen Tuns auch hier in die Möglichkeit der Religion mündet. Obwohl die Kritik der Urteilskraft diese Thematik weder als einzige Kritik noch ausschließlich behandelt — das höchste Gut und die Möglichkeit von Religion sind Gegenstand des teleologischen und nicht des ästhetischen Teils dieser Kritik —, so kommt ihrer Erörterung doch insofern besondere Bedeutung zu, als sie von ihrem Ausgangspunkt bei der Urteilskraft als dem zwischen theoretischer und praktischer Vernunft vermittelnden Vermögen (vgl. KU H 10-12 = XX 205-208; KU B liii-lviii = V 195-198) und von ihrer methodischen Einstellung her, Zweckmäßigkeit (Teleologie) der Natur als transzendentale Voraussetzung sowohl der Naturerkenntnis wie der menschlichen Handlungsfähigkeit und damit der Möglichkeit einer sittlichen Welt anzusehen, es unternimmt, die Zweckbestimmung des Menschen, diese Welt zu realisieren, mit der Eigengesetzlichkeit der Natur zu vermitteln und so die das Leben zu zerreißen drohende Dichotomic von Natur und Freiheit, Erkennen und Wollen, Sinnlichkeit und Sittlichkeit, Glück und Moral aufzuheben, so daß sich diese Welt als „die genaue Zusammenstimmung des Reichs der Natur mit dem Reiche der Sitten" darstellt (KpV A 262 = V 145 3l f.), in der „Natur und Sitten in eine, jeder von beiden für sich selbst fremde, Harmonie durch einen heiligen Urheber" gebracht sind (ebd. A 232 = V 12822-24). Immer wieder hat Kant, von verschiedenen Ausgangspunkten und Fragestellungen her die jeweils zuvor gewonnenen Einsichten klärend und vertiefend, „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts" (KpV A 194 = V 108 11 f.), thematisiert. Die drei Kritiken münden in die Behandlung dieses Themas als ihrem letzten Ziel und finden in der Explikation der Voraussetzungen der Realisierung der moralischen Welt ihren Abschluß, einer Explikation, die zugleich eine rationale Begründung für die Möglichkeit von Religion liefern

§ 2. Kants Glückseligkeitsbegriff

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soll. Es erscheint aber fraglich, ob Kant dieser Begründungsversuch gelingt, ja ob ein solcher Versuch überhaupt erfolgreich sein kann. Unsere These ist, daß die in der Forschung weithin ignorierte zentrale Stellung des Begriffs des höchsten Guts in Kants Ethik systematisch völlig zu Recht besteht, daß dieser Begriff jedoch nicht in der von Kant vorgesehenen Weise die Möglichkeit vernünftiger Religion begreiflich macht, weil er entgegen Kants Meinung nur in einer bestimmten Form, nämlich als Ideal und nicht als Idee gefaßt, den Übergang zum praktisch-moralischen Glauben an das Dasein eines allmächtigen und allgütigen Vernunftwesens gestattet. — Im folgenden werden zunächst die beiden im Begriff des höchsten Guts zusammengedachten Begriffe der Sittlichkeit und der Glückseligkeit am Werke Kants dargestellt und immanent entfaltet (§§ 2 und 3). Dann wird die Kritik an einem bestimmten Verständnis Kants vom Begriff des höchsten Guts und der sich daran anschließenden Postulatenlehre, wie soeben angedeutet, durchgeführt und begründet (§ 4). Schließlich wird die religiöse Bedeutsamkeit des als Ideal gefaßten Begriffs des höchsten Guts untersucht (§5). § 2. Kants Glückseligkeitsbegriff

Der Begriff des höchsten Guts, wie Kant ihn normalerweise verwendet, enthält zwei Bestandteile, den der Glückseligkeit und den der Sittlichkeit. Sie stehen aber nicht gleichrangig nebeneinander, sondern sind einander zugeordnet wie Bedingung und Bedingtes. Aber jede Komponente für sich stellt nach Kant schon ein Ganzes und als solches sogar ein Höchstes dar, freilich auf je eigene Weise: Die Sittlichkeit ist „diejenige Bedingung, die selbst unbedingt, d. i. keiner ändern untergeordnet ist (originarium)", die Glückseligkeit ist „dasjenige Ganze, das kein Teil eines noch größeren Ganzen von derselben Art ist (perfectissimum)". Weil die Sittlichkeit als „die Würdigkeit glücklich zu sein" die oberste Bedingung gerechtfertigter Glückseligkeit ist, ist sie zwar „das oberste Gut" (bonum supremum), nicht aber auch schon das vollendete Gut (bonum consummatum). Das vollendete Gut liegt erst in der Vereinigung von Sittlichkeit und Glückseligkeit vor, eben im sogenannten ,höchsten Gut (summum bonum)' (KpV A 198 = V 110). Es wird von Kant zweifach gedacht: als ursprünglich und als abgeleitet (KrV B 838/839 = A 810/811; KpV A 226 = V 125). Das höchste ursprüngliche Gut ist Gott, der als der ideelle und gegebenenfalls als der reale Ursprung des höchsten abgeleiteten Guts, nämlich der sogenannten ,moralischen' Welt, anzusprechen ist. — Zunächst nun soll Kants Begriff der Glückseligkeit entfaltet werden. Die Würdigkeit, glücklich zu sein, ist die Würdigkeit nicht des zufälligen und vorübergehenden Glücks im Sinne der fortuna und felicitas, sondern des wesentlichen und dauernden Glücks im Sinne der beatitudo, das Kant denn

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A. Sittlichkeit und Glückseligkeit

auch angemessener mit einem althergebrachten Ausdruck als ,Glückseligkeit' bezeichnet. Sie wird von ihm aber nicht als Bedürfnislosigkeit oder Zufriedenheit unter allen möglicherweise gegebenen Umständen verstanden, sondern als die systematische Befriedigung aller Bedürfnisse eines Menschen, sofern er sie auf die Bedingungen einer solchen Systematik eingeschränkt hat. (Moralische Qualität gewinnt diese Befriedigung allerdings erst dann, wenn sie auch auf die Bedingungen der systematischen Befriedigung der Bedürfnisse aller in einem Handlungs- und Wirkungszusammenhang stehenden Menschen eingeschränkt ist, soweit dieser Zusammenhang einseh- und voraussehbar ist. Doch dieser moralische Aspekt sei im Augenblick noch vernachlässigt; er wird in § 3 zur Sprache kommen.) Zur Bestätigung und Vertiefung der gegebenen Kennzeichnung des (vormoralischen) Begriffs der Glückseligkeit bei Kant seien einige zentrale Äußerungen aus seinen Hauptschriften angeführt, ausgehend von seinen Auffassungen in der Kritik der reinen Vernunft. Hier heißt es: „Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen (sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauer nach)". Die Mittel und Wege zu kennen, sie zu erreichen, ist Klugheit; ihr Vorgehen „gründet sich auf empirische Prinzipien; denn anders, als vermittelst der Erfahrung, kann ich weder wissen, welche Neigungen dasind, die befriedigt werden wollen, noch welches die Naturursachen sind, die ihre Befriedigung bewirken können" (B 834 = A 806; vgl. auch B 828 = A 800). In der Grundlegung sind aufgrund erkenntnistheoretischer Vorbehalte in bezug auf die Möglichkeit einer allgemeingültigen inhaltlichen Bestimmung dessen, was Glückseligkeit ausmacht, und der Erkenntnis der Mittel zu ihrer Erreichung Kants diesbezügliche Aussagen wechselhaft und mit Skepsis durchtränkt. Einmal begnügt er sich mit einer bloßen Aufzählung verschiedener „Glücksgaben", deren innerer Zusammenhang nicht sichtbar wird: „Macht, Reichtum, Ehre, selbst Gesundheit, und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande, unter dem Namen der Glückseligkeit [...]" (B l f. = IV 393). Ein andermal wählt er eine global-unbestimmte Kennzeichnung, wenn er von den „Bedürfnissen und Neigungen" des Menschen spricht, „deren ganze Befriedigung er unter dem Namen der Glückseligkeit zusammenfaßt" (B 23 = IV 405 7 f.). Schließlich aber holt er zu einer umfassenden Erläuterung aus, in der er die Gründe dafür darlegt, daß diese Unbestimmtheit unausweichlich ist: „Allein es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d. h. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens, in seinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zu-

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stände erforderlich ist. Nun ist's unmöglich, daß das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen bestimmten Begriff von dem mache, was er hier eigentlich wolle. Will er Reichtum, wie viel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch nicht auf den Hals ziehen. Will er viel Erkenntnis und Einsicht, vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, daß es nicht ein langes Elend sein würde? Will er wenigstens Gesundheit, wie oft hat noch Ungemächlichkeit des Körpers von Ausschweifung abgehalten, darein unbeschränkte Gesundheit würde haben fallen lassen, u.s.w. Kurz, er ist nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze, mit völliger Gewißheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum, weil hiezu Allwissenheit erforderlich sein würde. Man kann also nicht nach bestimmten Prinzipien handeln, um glücklich zu sein, sondern nur nach empirischen Ratschlägen, z. B. der Diät, der Sparsamkeit, der Höflichkeit, der Zurückhaltung u.s.w., von welchen die Erfahrung lehrt, daß sie das Wohlbefinden im Durchschnitt am meisten befördern. Hieraus folgt, [...] daß die Aufgabe: sicher und allgemein zu bestimmen, welche Handlung die Glückseligkeit eines vernünftigen Wesens befördern werde, völlig unauflöslich, mithin kein Imperativ in Ansehung derselben möglich sei, der im strengen Verstande geböte, das zu tun, was glücklich macht, weil Glückseligkeit nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft ist, was bloß auf empirischen Gründen beruht, von denen man vergeblich erwartet, daß sie eine Handlung bestimmen sollten, dadurch die Totalität einer in der Tat unendlichen Reihe von Folgen erreicht würde" (B 46-48 = IV 418f.). Ohne auf diesen Text im einzelnen einzugehen, sei doch auf einige Punkte aufmerksam gemacht. Wenn Kant auch nicht klar genug zwischen dem Zustand der Glückseligkeit und den Mitteln und Wegen, ihn zu erreichen, unterscheidet, so ist doch deutlich, daß er die Erkenntnisfähigkeit des Menschen in beiderlei Hinsicht für entscheidend begrenzt hält, und zwar in beiden Fällen aus demselben Grund: sowohl die Elemente der Glückseligkeit als auch die Mittel zu ihrer Realisierung sind empirisch; zugleich aber enthält der Begriff der Glückseligkeit die Idee eines „Maximums" der Intensität und der Extensität des Wohlbefindens und als Voraussetzung für seine Realisierung die totale Kenntnis und Verfügung über alle diesbezüglichen Bedingungen („die Totalität einer in der Tat unendlichen Reihe von Folgen"). Diese „Idee der Glückseligkeit" ist aber nur dann nicht in sich widersprüchlich, wenn Kants Aussage, daß sie „ein absolutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens" erfordere, einen definiten, wenn auch von Individuum zu Individuum möglicherweise variablen Glückszustand beinhaltet, weil die Glücksvorstel-

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lungen der einzelnen untereinander variieren können. Gäbe es für den einzelnen kein Glücksmaß, dann gäbe es für ihn auch kein Glück, weil das Bewußtsein der endgültigen Befriedigung und Erfüllung fehlte. Die Zielvorstellung von einem über jeden bestimmten Glückszustand hinausgehenden unendlichen Glück ist im Gegenteil die Quelle dauernden Unglücks, das sich beispielsweise über die kontingente Faktizität der Organisation der menschlichen Sinnesorgane beklagt oder Anstoß an der prinzipiellen Begrenztheit durch Sinnlichkeit und Leiblichkeit nimmt, usw. Die Glücksfähigkeit kann somit zu einer therapeutischen, ja moralischen Aufgabe werden, die die süchtige Unersättlichkeit des Glücksverlangens zu humaner Gelassenheit mildert (vgl. Kamiah 1949; 1973). Diese Aufgabe wäre individualethischer Art, der sozialethischen Aufgabe vorgeordnet, die eigenen Glücksansprüche mit denen anderer Menschen zu versöhnen. Aber auch, wenn Glück als eine (ggf. interindividuell variable) bestimmte Totalität der Bedürfnisse eines Menschen und ihrer Befriedigung (auch von diesem selbst) angesehen wird, trifft in der Regel Kants Beschreibung der relativen Unkenntnis dieser Bedürfnisse und ihrer Befriedigungsmöglichkeiten sowie der relativen Unfähigkeit, sie zu ergreifen, zu. Kant gewinnt aus diesem Sachverhalt ein ideologisches Argument für die Behauptung, daß Glückseligkeit nicht „der eigentliche Zweck der Natur" in bezug auf den Menschen sein könne, weil sie ihn weder mit genügend Instinkt noch mit genügend Verstand ausgestattet habe, um sich über den konkreten Gehalt eines glücklichen Lebens und über die Mittel, es zu führen, Klarheit verschaffen zu können, welche Sachlage darauf hindeute, daß nicht Glückseligkeit, sondern Sittlichkeit die wahre Bestimmung des Menschen sei (B 4 —6 = IV 395 f.). Trotz seiner Skepsis in bezug auf die Bestimmung von Inhalt wie Mitteln und trotz seiner Leugnung ihres Endzweckcharakters hält Kant nicht nur an der natürlichen Unabdingbarkeit der Verfolgung der eigenen Glückseligkeit fest, sondern auch an ihrer moralischen Unaufgebbarkeit (wenn natürlich auch unter dem Vorbehalt der allseitigen Zusammenstimmung der Glücksforderungen derer, die durch einen bestimmten Lebenszusammenhang miteinander verbunden sind): „Seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht (wenigstens indirekt)", und sei es auch nur — oder vielleicht gerade — um der Beförderung der eigenen Sittlichkeit willen (B 11 f. = IV 399; vgl. MST A 17/18 = VI 388). Die natürliche Unabdingbarkeit der Glückseligkeit bringt besonders folgende Stelle zum Ausdruck: „Es ist gleichwohl ein Zweck, den man bei allen vernünftigen Wesen (sofern Imperative auf sie, nämlich als abhängige Wesen, passen) als wirklich voraussetzen kann, und also eine Absicht, die sie nicht etwa bloß haben können, sondern von der man sicher voraussetzen kann, daß sie solche insgesamt nach einer Naturnotwendigkeit haben, und das ist die Absicht auf Glückseligkeit". Die sie zu befördern gebietenden Imperative, die „Vorschriften" oder auch „Ratschläge der Klug-

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heit", sind allerdings nur hypothetisch, weil sie nur die Mittel und Wege zu ihrer Verfolgung, nicht aber sie selbst vorschreiben, die man vielmehr „sicher und a priori bei jedem Menschen voraussetzen kann, weil sie zu seinem Wesen gehört" (GMS B 42 f. = IV 415 f.), und weil das, was ohnehin, ohne unser Zutun geschieht, nicht zum Gegenstand einer Verpflichtung — zumindest keiner direkten - gemacht werden kann (KpV A 45 = V 25; RGV B 50f. Anm. 2 = VI 45 f. Anm. 2; MST A 13, 16 = VI 386, 387). Die grundlegende anthropologische Auffassung Kants von dem naturgegebenen Streben des Menschen nach Glückseligkeit wurde zuerst von Aristoteles vertreten, dem sich die christliche Philosophie des Mittelalters anschloß. In der inhaltlichen Bestimmung der Glückseligkeit aber differierten sie. Während Aristoteles Glückseligkeit ( ) als ein für jeden erreichbares Ziel in seinem Leben ansieht, und zwar entweder durch eine vita activa als freier Bürger einer Polis, in der er sich in tugendhafter Gesinnung gleichermaßen um das Wohl seines Hauses wie des Staates kümmern kann, oder durch eine vita contemplativa als Mathematiker und Philosoph, in der er die kosmische Ordnung betrachtet, sieht christliche Philosophie und Theologie die Betrachtung der Natur als Schöpfung Gottes und die Überwindung dieser sündhaften und vergänglichen Welt und der eigenen Konkupiszenz als Wege zu einer Glückseligkeit in einem jenseitigen Leben an, das in der visio beatifica Dei kulminiert. Bei Kant finden sich Züge beider Auffassungen: Einerseits hält er mit der aristotelischen Konzeption von der vita activa am Bezug der Glückseligkeit auf das leibliche und soziale Wohlergehen fest; andererseits aber sieht er deutlicher mit der jüdisch-christlichen Tradition die Inkommensurabilität von Tugendgesinnung und Wohlergehen, ohne jedoch ihre Lösung dieses Problems voll zu übernehmen. Zwar verlegt auch er die Erlangung der endgültigen Glückseligkeit in ein Jenseits dieses Lebens, versteht sie aber nicht als Ziel, das man mit Hilfe tugendhafter Gesinnung — z. B. als ihr Lohn — anstreben könnte, weil die Verzweckung von Moral Moralität gerade vernichtet, sondern als eine unverfügbare Tat Gottes, zu der man sich nur , würdig* machen, sie aber nicht beanspruchen kann. Von der Tradition unterscheidet sich Kant aber noch in einer anderen Hinsicht, worin er die unaufhebbare Individualisierung des ,modernen' Glücksverständnisses spiegelt: Der Begriff des Glücks und der Glückseligkeit ist höchstens noch formal, aber nicht mehr inhaltlich allgemein bestimmbar; seine Inhalte wechseln nicht nur von Individuum zu Individuum, sondern auch intraindividuell im Verlaufe der Zeit und oft ohne erkennbaren Anlaß. Diese Sachlage, die auch neuere Autoren in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen (z. B. bei Hommes 1976; vgl. auch L. Marcuse 1972 und W. Schneider 1978), läßt den Begriff des Glücks und der Glückseligkeit als paradigmatischen Widerpart der Vernunft und ihres Kontroll-, Ordnungs- und Begründungsverlangens erscheinen. Kant trägt dem durch die Erkenntnis Rechnung, daß „Glückseligkeit nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft ist" (GMS B 47 = IV 418 36 f.).

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A. Sittlichkeit und Glückseligkeit

Nicht, daß Kant sich durch seine Einsicht in die inhaltliche Unbestimmbarkeit des Glückseligkeitsbegriffs von inhaltlichen Kennzeichnungen abhalten ließe. Aber auch der ziemlich unbekümmerte Wechsel zwischen ihnen spiegelt diese Einsicht wider wie auch sein Schwanken zwischen eher additiven und eher ganzheitlich orientierten Bestimmungen. Lassen wir eine Reihe von Kants Äußerungen Revue passieren! Einige wurden schon angeführt: „Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen (sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit desselben, als intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauer nach)" (KrV B 834 = A 806). Die Glückseligkeit ist „die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind" (KrV B 823 = A 800). „Glücksgaben" sind Macht, Reichtum, Ehre, selbst Gesundheit, und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande, unter dem Namen der Glückseligkeit" (GMS B l f. = IV 393). Unter diesem Namen faßt der Mensch „seine Erhaltung" und „sein Wohlergehen", die „ganze Befriedigung" seiner Bedürfnisse und Neigungen zusammen (GMS B 4, 23 = IV 395 8 f., 405 7 f.), „weil sich gerade in dieser Idee alle Neigungen zu einer Summe vereinigen", obwohl er „sich von der Summe" ihrer Befriedigung „keinen bestimmten und sichern Begriff machen kann" (B 12 = IV 399). Zur „Idee der Glückseligkeit [ist] ein absolutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich" (GMS B 46 = IV 418). Glückseligkeit ist „das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet" (KpV A 40 = V 2217-19). Sie ist „die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein" (A 45 = V 25 14). Sie ist „der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht, und beruhet also auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens" (A 224 = V 124). Die zweite Hälfte dieses Satzes verdankt sich dem Kontext, in dem der Zusammenhang von Sittlichkeit und Glückseligkeit im höchsten Gut erörtert wird und schlägt eine Brücke zu Kants Überlegungen in der ersten Kritik, die wir anführten, und weist auf seine teleologischen Erwägungen in der dritten Kritik voraus; die erste Hälfte stellt in den wechselnden Versuchen, den Begriff der Glückseligkeit zu erläutern, vielleicht die treffendste und umfassendste Formulierung dar, weil sie (entgegen Kants Darlegungen in der Kritik der praktischen Vernunft, A 39 —47 = V 22 — 26) keine Entscheidung zwischen einem hedonistischen und einem nicht-hedonistischen Verständnis der Glückseligkeit impliziert und weil sie auch offenläßt, ob dieses Wünschen und Wollen intraindividuell (mit der Zeit) und/oder interindividuell (zwischen Personen) variiert oder nicht (vgl. Kants Erwägungen zur Irrelevanz dieses Unterschieds für die Bestimmung des Wesens vormoralischer, individualistisch orientierter Glückseligkeit ebd. A 46 f. = V 25 f.). Die zuletzt angeführte Bestimmung des Glückseligkeits-

§ 2. Kants Glückseligkeitsbegriff

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begriffs findet sich in Kants Werk noch einmal, weshalb man mit seiner besonderen Zustimmung zu ihr rechnen kann (s. MST A 168 = VI 480 20f.). In der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten ist Glückseligkeit „Zufriedenheit mit seinem Zustande, sofern man der Fortdauer derselben gewiß ist" (MST A 16 = VI 387 26 f.). In dem „Bruchstück eines moralischen Katechismus" wird Glückseligkeit im gleichen Atemzug einerseits eher formal als Zustand beschrieben, in dem es dem Menschen „alles und immer nach Wunsch und Willen gehe", andererseits eher inhaltlich aufzählend als „das beständige Wohlergehen, vergnügtes Leben, völlige Zufriedenheit mit seinem Zustande" (MST A 168/169 = VI 48021-25); die ganzheitliche Sichtweise, die die Glückseligkeit als das systematische Ganze eines gelungenen und befriedeten Lebens begreift, fehlt hier und muß um der Konsistenz der Idee der Glückseligkeit willen vorausgesetzt werden, einer Idee, die auch als „Ideal der Einbildungskraft" den Minimalbedingungen formaler Rationalität für ihre Denk- und Vorstellbarkeit genügen muß. Auch in der Kritik der Urteilskraft gibt es unterschiedliche Beschreibungen der Glückseligkeit. Einmal heißt es, sie sei „der Inbegriff aller durch die Natur außer und in dem Menschen möglichen Zwecke desselben [...]; das ist die Materie aller seiner Zwecke auf Erden" (B 391 = V 431 18.20); ein andermal wird sie mit dem „Gefühl der Lust und der Summe derselben", mit „Wohlsein" und „Genuß (er sei körperlich oder geistig)" gleichgesetzt (B 411 — V 44230—33), was ein eher hedonistisches Verständnis zum Ausdruck bringt. In der Religionsschrift ist Glückseligkeit sehr knapp umschrieben, und zwar als beständiges Wohlergehen und als durch Klugheit bewerkstelligte „Zusammenstimmung" der natürlichen Neigungen „in einem Ganzen" (RGV B 50 f. Anm. 2, 69 f. = VI 45 Anm. 2, 581-7). Die zuletzt genannte Stelle ist die einzige, an der Kant darauf aufmerksam macht, daß auch schon die dem Menschen durch seine Bedürftigkeit aufgegebene Idee der Glückseligkeit eine (vor- und außermoralische) Beschränkung der natürlichen Neigungen durch Vernunft auf Bedingungen ihrer Vereinbarkeit miteinander erfordert: „Natürliche Neigungen sind, an sich selbst betrachtet, gut, d. i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen; man muß sie vielmehr nur bezähmen, damit sie sich untereinander nicht selbst aufreiben, sondern zur Zusammenstimmung in einem Ganzen, Glückseligkeit genannt, gebracht werden können. Die Vernunft aber, die dieses ausrichtet, heißt Klugheit. Nur das Moralisch-Gesetzwidrige ist an sich selbst böse, schlechterdings verwerflich, und muß ausgerottet werden; die Vernunft aber, die das lehret, noch mehr aber, wenn sie es auch ins Werk richtet, verdient allein den Namen der Weisheit"''. Im Vorübergehen sei bemerkt, daß Kants Ausdruck ,das Böse ausrotten' als metaphorische Wendung streng von seiner moralphilosophischen Grundauffassung und aus dem zitierten Kontext zu interpretieren ist: Nicht Neigungen können moralisch böse sein, sondern nur die Willensausrichtung eines Menschen, der

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A. Sittlichkeit und Glückseligkeit

oberste Grundsatz, nach dem er lebt. ,Auszurotten' ist hier im wörtlichen Sinne nichts; das Böse verschwindet allein durch eine Umkehr des Wollens (dazu ausführlicher § 14). Eine weitere Anmerkung: Der hier von Kant ausgesprochenen Einsicht in die — sowohl der Idee von Glückseligkeit wie der Möglichkeit ihrer Realisierung eingeschriebene — vormoralische Notwendigkeit der systematischen Einschränkung der Neigungen trägt er in der Kritik der Urteilskraft nicht bzw. nur um den Preis eines Widerspruchs in seinen Äußerungen Rechnung. Im Zusammenhang mit der ersten oben aus ihr angeführten Kennzeichnung der Glückseligkeit als dem „Inbegriff aller natürlicherweise möglichen Zwecke des Menschen betont Kant einerseits, daß der Begriff der Glückseligkeit die „bloße Idee eines Zustandes" sei, die „unter bloß empirischen Bedingungen" „unmöglich" zu realisieren ist, ja, selbst wenn wir von dieser Beschränkung absehen würden und des Menschen „Geschicklichkeit, sich eingebildete Zwecke zu verschaffen, noch so hoch steigern wollten: so würde doch, was der Mensch unter Glückseligkeit versteht, und was in der Tat sein eigener letzter Naturzweck (nicht Zweck der Freiheit) ist, von ihm nie erreicht werden; denn seine Natur ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genüsse aufzuhören und befriedigt zu werden"; ja, sie befindet sich sogar in einem Widerspruch mit sich selbst — Kant nennt dies „das Widersinnische der Naturanlagen" im Menschen —, insofern er seiner Glückseligkeit direkt entgegenhandelt, indem er — z. B. durch „die Barbarei der Kriege" — „an der Zerstörung seiner eigenen Gattung arbeitet, [so] daß, selbst bei der wohltätigsten Natur außer uns", Glückseligkeit für uns nicht erreichbar wäre, „weil die Natur in uns derselben nicht empfänglich ist" (KU B 388-390 = V 430). Andererseits spricht Kant, wie angeführt, von der „Glückseligkeit auf Erden" als dem „Inbegriff aller durch die Natur außer und in dem Menschen möglichen Zwecke derselben" und hält sie für einen Zweck, dessen „Möglichkeit [...] man allein von der Natur erwarten darf (B 391 = V 431). Kants Widersprüche lassen sich nicht entwirren und durch klare Unterscheidungen als nur scheinbar erweisen. Und gegen die Widersprüche, die er auf Seiten der Natur zu finden glaubt, ließe sich mit seinen eigenen Worten einwenden, daß eine in sich widersprüchliche Natur keinen Bestand haben kann (vgl. G MS B 53-55 = IV 422; zu Kants Naturbegriff und der Unmöglichkeit einer widersprüchlichen Natur vgl. Wimmer 1980, 333 — 348; 1982, 303 — 314). Aber selbst wenn man diesen Einwand als zu formalistisch am Nichtwiderspruchsprinzip orientiert zurückweisen und mit moderneren Auffassungen — z. B. mit Freud — der Ansicht wäre, der Mensch beherberge sowohl konstruktive als auch destruktive Antriebe, so würde gerade diese seine Verfassung ihm die Aufgabe eines Ausgleichs zwischen ihnen und der Indienstnahme des destruktiven durch den konstruktiven Anteil bzw. ihre fruchtbare Integration in den individuellen und gesamtmenschheitlichen Kräftehaushalt stellen — eine Aufgabe, die ja gerade Kant andernorts lebhaft

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bejaht (z. B. in Idee %u einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht; Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis; Zum ewigen Frieden). Und was speziell die Glückseligkeit betrifft, so wäre auf Kants generelle und plausible These zurückzugehen, daß der Mensch zwar ein natürliches Verlangen nach ihr hat — „denn wer wird nicht wollen, daß es ihm jederzeit wohl ergehe?" (RGV B 50 Anm. 2 = VI 45 26 f.) -, aber unfähig ist, es dauerhaft zu stillen, was darauf hinweist, daß der Endzweck der menschlichen Natur nicht die Glückseligkeit, sondern die aus eigener Vollmacht zu schaffende Sittlichkeit ist und die Glückseligkeit nur durch sie als der Würdigkeit zu ihr möglich sein soll. Das ist denn im Grunde auch der eigentliche Gehalt jenes Abschnitts der dritten Kritik, der die Überschrift trägt: „Von dem letzten Zwecke der Natur als eines ideologischen Systems", aus dem die angeführten Passagen, gelöst vom Kontext, dem Verständnis besondere Schwierigkeiten bereiten. Der Endzweck des Menschen ist, sich selber in Freiheit zum Guten zu bestimmen. Obwohl ihm vorgegeben durch seine Natur, nämlich die ihm verliehene praktisch-moralische Vernunft, kann er diesen Endzweck auch verfehlen. Er ist frei, seine Bestimmung zu realisieren; es liegt allein an ihm und nicht an seiner Natur, ob er diesen seinen Zweck erreicht.

§ 3. Die sittliche Form der Glückseligkeit Indem nach Kant jeder Mensch in moralischer Hinsicht gewissermaßen für sich selber sorgt, nämlich dadurch, daß er moralisch lebt, besorgt er auch, soweit es an ihm liegt, das höchste Gut, verstanden als die Einheit von Moralität und (ihr proportionaler individueller) Glückseligkeit (welche Proportionalisierung allerdings Gott überlassen werden muß). Dem Sittengesetz Folge leistend läßt er sich nämlich sowohl eigene als auch fremde Glückseligkeit angelegen sein, die eigene als, wie gezeigt, indirekte, die fremde als direkte moralische Pflicht. Obwohl, wie dargestellt, die außermoralische, ,naturwüchsige' Idee individueller Glückseligkeit eigentlich nicht prinzipienfähig ist, bezeichnet Kant in der Grundlegung den Grundsatz, das eigene Glück zum obersten Gesichtspunkt des Lebens und Verhaltens zu machen, als „das Prinzip der eigenen Glückseligkeit" (B 90 f. = IV 442/443). Ebenso formuliert er in der Kritik der praktischen Vernunft und bezeichnet es dort außerdem als „das allgemeine Prinzip der Selbstliebe" (A 40 ff., 60 ff., 147 f. Anm., 166 f. = V 22 ff., 34 ff., 83 Anm., 93). Auch die in der Grundlegung niedergelegten Ansichten und Einsichten Kants in das Wesen der Glückseligkeit finden sich hier im großen und ganzen wieder (vgl. vor allem A 45 — 48,107 f. = V 25 f., 61), angereichert allerdings um anthropologische Beobachtungen, die hier nicht kommentiert

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sein sollen (vgl. z.B. A 40-48, 60-68, 146-153 = V 22-26, 34-38, 82-85; zur Kritik vgl. u. a. Adorno 1966, 221-223, 250-255). In dieser Hinsicht bringt die Kritik der praktischen Vernunft gegenüber der Grundlegung eine sachliche und terminologische Verdeutlichung: Nicht nur das Prinzip eigener, sondern auch das fremder Glückseligkeit — selbst wenn es nicht das Glück einzelner und das von Gruppen, sondern das aller beträfe, in diesem Sinne also allgemein wäre — ist heteronom (A 60 f., 63 f. = V 34, 36). Kant begründet dies unter anderem mit der empirischen und zufälligen Abkunft und Eigenart der Glückseligkeit. Erst in Unterordnung unter die apriorische Vernunftnotwendigkeit des Sittengesetzes gewinnt das Verlangen nach eigenem Glück seine vernünftige Form, was bedeutet, daß es l. negativ auf die Bedingungen der Erfüllbarkeit der Glücksbestrebungen aller Menschen eingeschränkt wird und daß es 2. positiv auf die Beförderung der Glücksbedürfnisse aller Menschen erweitert wird, soweit diese Beförderung der erstgenannten Bedingung genügt und soweit sie in den eigenen Kräften liegt. Das Gebot, fremde Glückseligkeit zu befördern, spielt denn auch eine prominente Rolle in Kants Ethik, ja er führt die gesamte Tugendlehre auf zwei Grundpflichten zurück: die eigene Vervollkommnung und die Beförderung fremder Glückseligkeit (vgl. MST A 13-34 = VI 385-398 und die Einteilung der Ethischen Elementarlehre in die Pflichten gegen sich selbst [I. Teil] und gegen andere [II. Teil]). Aber die Pflicht, fremde Glückseligkeit zu befördern, bleibt auf jene Bedingung eingeschränkt, die der Kategorische Imperativ am deutlichsten mit seiner Selbstzweckformel zum Ausdruck bringt: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden ändern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest" (GMS B 66/ 67 = IV 429; zur Bedeutung des Wortes ,Menschheit' in dieser Formel vgl. § 10). Das besagt im Hinblick auf unsere Frage: Die Glückseligkeit anderer (als der ihnen von ihrer sinnlichen Natur vorgegebene Zweck) ist nur unter Beachtung ihres Selbstzweckcharakters, das heißt: ihres unbedingten, inneren Werts als Personen, ihrer Würde (GMS B 64-79 = IV 428-436), zu befördern. Der personalen Würde des Menschen gegenüber ist seine Glückseligkeit nur von bedingtem, relativem Wert. Es wäre deshalb moralisch unbedingt untersagt, einen Menschen z. B. durch einen Eingriff ins Gehirn oder die gesamte Menschheit z. B. durch Zerstäuben einer Chemikalie in der Atmosphäre ,wunschlos glücklich' zu machen (vgl. Spaemann 1982, 30/31). Es wäre aber selbst dann untersagt, wenn die Betroffenen zuvor diesem Tun und seinem Zweck zugestimmt hätten oder wenn ihr Einverständnis vorausgesetzt werden könnte. Die ,Schöne Neue Welt', die Aldous Huxley schildert (1932) und die B. F. Skinner herbeiführen will (1972), ist nicht die moralische Welt, von deren Herstellung Kant spricht. Das nach Kant (und Aristoteles) menschlich universelle Verlangen nach Glückseligkeit ist für sich genommen moralisch gesehen neutral, als solches

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weder moralisch suspekt noch schon durch sein pures Vorhandensein moralisch legitimiert. Aber weil allein Moralität Endzweck unseres Lebens ist, gewinnt Glückseligkeit ihre sittliche Dignität nur in Unterordnung unter jene und ist auch in bezug auf das Ausmaß ihrer Realisierung ein von jenem Endzweck abhängiger Zweck. So kann die eigene Glückseligkeit nur mittelbar und indirekt Zweck unseres Handelns sein; andererseits aber soll sie es auch sein, weil die Befriedigung der eigenen vitalen Bedürfnisse l. Bedingung der Existenz und des Überlebens und 2. darüber hinaus häufig eine notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit einer moralischen Lebensführung darstellt (vgl. GMS B 11-13 = IV 399) und weil schließlich 3. der gänzliche Verzicht auf Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zugunsten der Befriedigung der Bedürfnisse anderer, als universalisierte moralische Forderung verstanden, in sich widersprüchlich wäre: „Denn mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit ([der Befriedigung] seiner wahren Bedürfnisse) anderer ihre zu befördern, würde [eine] an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte" (MST A 27 = VI 39329-32). Unmittelbarer und direkter Zweck unseres Handelns aber soll die Glückseligkeit anderer sein (ebd. A 13-18, 26f. = VI 385-388, 393 f.), allerdings ebenfalls unter der genannten Bedingung der Wahrung eigener und fremder Würde, stellt also selbst eine nur unter den einschränkenden Bedingungen der personalen Selbstzweckhaftigkeit des Menschen stehende moralische Verpflichtung dar. Die Verfolgung eigener wie fremder Glückseligkeit steht also, genau besehen, unter denselben Bedingungen, nämlich 1. der des unbedingten Vorrangs, des absoluten Werts der eigenen und der fremden Person und 2. der der allseitigen Zusammenstimmung der materialen Glücksbedürfnisse und -erfüllungen zu einem lebendigen Ganzen, in dem die Einschränkung des eigenen ursprünglichen, naturhaften Glücksverlangens und die Erfüllung des fremden Verlangens nicht mehr als schmerzhaft, als Verlust — jedenfalls nicht nur so — empfunden wird, sondern (auch) als allseitiger Gewinn, als Grund zu (nun nicht mehr selbstbezogener) Freude. Hier kommt etwas von dem der Glückseligkeit eigenen Paradoxon ins Spiel (vgl. Wimmer 1980, 369 Anm. 34), insofern der moralisch legitimierte Verzicht nicht notwendig zu ihrer Einschränkung führt, sondern im Gegenteil zu ihrer Steigerung beitragen kann, wenn nur das Wollen gut ist und das natürliche Begehren durchdrungen hat. Das naturhafte ichbezogene Glücksbegehren bedarf also einer grundlegenden Umwandlung, gerade auch in Konsequenz des moralischen Standpunkts Kants — eine Konsequenz allerdings, die Kant in seinen veröffentlichten Werken fast nie oder jedenfalls nicht deutlich genug zieht (vgl. aber RGV B 52-56 = VI 46-49 sowie Refl. Nr. 6965, 6971, 6973, 7199 [S. I] = XIX 21527-30, 216/217, 21719-27, 272f.). Sie bringt eine Analogisierung des Begriffs der Glückseligkeit mit sich: Für eigene oder fremde Glückseligkeit

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zu sorgen als Bedingung dafür, daß ich selbst oder andere überhaupt ein moralisches Leben führen können, hat, obwohl selbst eine moralische Forderung, nicht nur einen anderen Stellenwert als die Sorge für eigene oder fremde Glückseligkeit in bezug auf die Idee eines ethischen Gemeinwesens als eines Reichs der Zwecke — jene Forderung erhebt sich z. B. angesichts eines rechtlosen Naturzustands, diese aber erst nach Eintritt in einen bürgerlichen Rechtszustand —, sondern der implizierte Begriff der Glückseligkeit selbst ist jeweils ein anderer: Dort geht es um den vitalen Bestand der Person und ihrer Würde, um ihre moralische Selbsterhaltung und Selbstbehauptung also, hier um ihre moralische Selbstintegration in das Ganze eines corpus mysticum als höchster Erfüllung ihrer Naturbestimmung, die unter Umständen durchaus den Verzicht auf den eigenen vitalen Bestand einschließen kann, ohne daß dadurch die gewonnene Glückseligkeit aufgehoben würde. Zusammenfassend darf festgestellt werden: Sowohl der Begriff, den jeder Mensch von der eigenen Glückseligkeit hat, als auch das Streben nach ihr ist ursprünglich naturhaft. Der Mensch hat aber nicht nur sein Streben nach ihr unter die Bedingungen des Moralgesetzes zu stellen, sondern sie auch in den Begriff von ihr aufzunehmen, was bedeutet, daß er sein Verständnis der eigenen Glückseligkeit zu wandeln hat. Er muß lernen, sein (zukünftiges) Glück als ein Glück zu sehen und anzunehmen, das nicht mehr das Glück seines naturhaften Glücksverlangens und Glückbegreifens ist. Diese Umformung der eigenen Glücksvorstellungen und -antriebe stellt selber eine moralische Aufgabe dar, die aus der Bejahung der Moralität als dem Endzweck des menschlichen Daseins folgt. Das Ergebnis dieser Selbsterziehung besteht im völligen Einverständnis mit der inneren und äußeren Bedingtheit der Glückseligkeit durch Sittlichkeit, wobei ,innere Bedingtheit' die Einschränkung des Glücks auf die Bedingungen des Moralgesetzes, ,äußere Bedingtheit' seine Abhängigkeit von dem erreichten persönlichen moralischen Zustand (von der Würdigkeit, glücklich zu sein) und von einer allmächtigen Ursache (Gott) besagt. Soll man auch dieses Einverständnis ,Glückseligkeit' nennen? Um Vieldeutigkeiten zu vermeiden, ist davon wohl abzuraten, wenn auch die Nähe dieser moralisch motivierten Zufriedenheit zu dem von Kant gelegentlich herangezogenen Begriff der moralischen Glückseligkeit nicht zu übersehen ist, auf den weiter unten eingegangen wird. Doch während moralische Glückseligkeit moralische Zufriedenheit mit der erreichten moralischen Vollkommenheit ist, die eine Selbsterkenntnis voraussetzt, die wir aber nach Kant nicht (aus eigenem Vermögen) erlangen können (dazu s. §§ 11 —13), besteht die oben angesprochene Zufriedenheit lediglich in dem Einverständnis mit den Implikationen des moralischen Standpunkts für das eigene Glückskonzept und Glücksverlangen. Kant scheint diesen notwendigen Einfluß der Moral auf das Glück und die damit dem einzelnen gestellte Aufgabe nicht deutlich gesehen zu haben. Aber es gibt Erwägungen bei ihm, die in diese Richtung deuten, und begriffliche Bestimmungen, die diese Aufgabe als gelöst

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voraussetzen, z. B. den Begriff der moralischen Welt, in dem die Ansprüche der Moral und des Glücks als miteinander versöhnt gedacht werden müssen. An welche Erwägungen Kants zu denken ist, sollen die folgenden Darstellungen zeigen. Sowohl die Beförderung eigener wie die fremder Glückseligkeit hat zwar nach Kant „nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht" zu geschehen (GMS B 11, 12/13 = IV 399 l f., 24 f.), und auch bezüglich des Liebesbegriffs unterscheidet er zwischen einer Liebe aus Neigung, die er „pathologische Liebe" nennt, und einer Liebe aus Pflicht, die er als „praktische Liebe" bezeichnet, richte sie sich nun auf den Liebenden selbst oder auf andere (vgl. GMS B 13 = IV 399; KpV A 146-149 = V 82f.). Aber der hier fast unvermeidlich erscheinende Vorwurf des Rigorismus ist trotzdem unbegründet, wie noch zu zeigen sein wird. Diesem Vorwurf tritt Kant selbst mehrfach — z. B. in seinen Erläuterungen des Tugendbegriffs (MST A 20 ff. = VI 390 ff.) und in seiner Kasuistik innerhalb der Tugendlehre — , wenn auch nur implizit, entgegen. Zwar könne Liebe aus Neigung nicht geboten werden, weil wir über unsere Neigungen nicht schlechthin Herr seien (vgl. GMS B 13 = IV 399 29; KpV A 148 = V 83 9-11; MST A 39 = VI 401); aber eine .Neigung' zum Guten kann doch Wirkung beständiger sittlicher Pflichterfüllung sein und wird dann Amoralische) Tugend' genannt. Solches ,Geneigtsein' beruht also nicht auf sinnlichen, sondern auf sittlichen Grundlagen, die sich allerdings durch beständige Aktivierung in den Bereich der Sinnlichkeit ausdehnen und die hier angesiedelten Neigungen allmählich umformen und dem moralischen Wollen angleichen bis zur zwangfreien Konformität, in der der Pflicht- und Gebotscharakter des Sittengesetzes zurücktritt und der Freude am Gesetz und der Liebe zu ihm (vgl. Psalm 118) Platz macht. Entsprechend heißt es bei Kant: „Wohltun ist Pflicht. Wer diese oft ausübt und es gelingt ihm mit seiner wohltätigen Absicht, kommt endlich wohl gar dahin, den, welchem er wohl getan hat, wirklich zu lieben. Wenn es also heißt: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst, so heißt das nicht: du sollst unmittelbar (zuerst) lieben und vermittelst dieser Liebe (nachher) wohltun, sondern: tue deinem Nebenmenschen wohl, und dieses Wohltun wird Menschenliebe (als Fertigkeit der Neigung zum Wohltun überhaupt) in dir bewirken!" (MST A 40/41 = VI 402). Und in der Kritik der praktischen Vernunft sagt Kant: „Gott lieben, heißt in dieser [moralischen] Bedeutung, seine Gebote gerne tun; den Nächsten lieben, heißt, alle Pflicht gegen ihn gerne ausüben. Das Gebot [der Gottesund Nächstenliebe] aber, das dieses [Gernetun] zur Regel macht, kann auch nicht diese [freudige] Gesinnung in pflichtmäßigen Handlungen zu haben, sondern bloß darnach zu streben gebieten. Denn ein Gebot, daß man etwas gerne tun soll, ist in sich widersprechend, weil, wenn wir, was uns zu tun obliege, schon von selbst wissen, wenn wir uns überdem auch bewußt wären, es gerne zu tun, ein Gebot darüber ganz unnötig und, tun wir es zwar, aber eben nicht gerne, sondern nur aus Achtung fürs Gesetz, ein Gebot, welches

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diese Achtung eben zur Triebfeder der Maxime macht, gerade der gebotenen Gesinnung zuwider wirken würde" (A 148/149 = V 83). Kant schließt also weder das Streben nach dauerhaftem eigenen Glück noch Gefühl und Empfinden der Liebe von einem moralischen Leben aus, sondern weist ihnen nur den ihnen gebührenden Rang zu bzw. klärt durch begriffliche Unterscheidungen moralisch verderbliche sprachliche oder begriffliche Verwirrungen (zur Vielfalt der Bedeutungen des Wortes ,Liebe' vgl. Wimmer 1980a, für eine seiner spezifisch christlichen Auslegungen, die dem Geist Kants nicht fernsteht, nämlich die Kierkegaards, vgl. Wimmer 1984). Kant sieht es als moralische Pflicht an, die eigenen geistigen, emotionalen und leiblichen Begabungen und Fähigkeiten zu kultivieren, und vertritt den Grundsatz: „ ,Baue deine Gemüts- und Leibeskräfte zur Tauglichkeit für alle Zwecke an, die dir aufstoßen können', ungewiß, welche davon einmal die deinigen werden könnten" (MST A 24 = VI 392 17-19; vgl. noch A 14—16 = VI 386 f.). Wenn diese Vorschrift auch, wie Kant betont, „von weiter Verbindlichkeit" ist, weil sie nicht festlege, wie weit man in der Kultivierung seiner Anlagen gehen soll (ebd.) und ihre Anwendung durch Kant in der Grundlegung (B 55/56 = IV 422/423) nicht unproblematisch ist (vgl. Wimmer 1980, 349-352; 1982, 315-317), so beweist sie doch seine Befürwortung der Pflege aller Kräfte im Menschen inner- wie außerhalb des Rahmens moralischer Zwecksetzung. Wie Kant zwischen pathologischer und praktischer Liebe und zwischen einem pathologischen und moralischen Gefühl unterscheidet — auf die letztere Unterscheidung sei hier nicht näher eingegangen (vgl. dazu MST A ix f., 15/16, 35-37 = VI 378, 387, 399f.) -, so unterscheidet er an einigen wenigen Stellen auch zwei Arten von Glückseligkeit, nämlich die physische und die moralische (RGV B 86 f., 100 Anm. = VI 67 f., 75 Anm.; MST A vii-x, 16/17 = VI 377 f., 387/388). Während die physische Glückseligkeit gemäß den gegebenen Kennzeichnungen „die Versicherung eines immerwährenden Besitzes der Zufriedenheit mit seinem physischen Zustande (Befreiung von Übeln und Genuß immer wachsender Vergnügen)" ist, besteht die moralische Glückseligkeit in der (Zufriedenheit mit der) „Wirklichkeit und Beharrlichkeit einer im Guten immer fortrückenden (nie daraus fallenden) Gesinnung", die man als „das beständige ,Trachten nach dem Reiche Gottes'" (vgl. Mt. 6,33; Lk. 12,31) ansehen kann, der „ ,das übrige alles (was physische Glückseligkeit betrifft) zufallen werde'" (RGV B 86/87 = VI 67/68). Kant trifft diese Unterscheidung aber vorbehaltlich der Möglichkeit des Menschen, seine moralische Gesinnung und den Fortschritt in ihr sicher zu erkennen. Doch diese Fähigkeit der sicheren moralischen Selbsterkenntnis spricht ihm Kant wiederholt ab (dazu §§ 11 — 12), so daß die getroffene Unterscheidung eher theoretische als praktische Bedeutung zu haben scheint, da das Gefühl der Zufriedenheit mit seinem moralischen Zustand kein Kriterium für das tatsächliche Bestehen eines moralischen Charakters darstellt, der als noume-

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naler (RGV B 54 = VI 4720) empirisch (z. B. psychologisch oder verhaltensmäßig) gar nicht zugänglich ist. Unter diesen Vorbehalt muß man auch Kants Beschreibung der moralischen Glückseligkeit, „die nicht auf empirischen Ursachen beruhete", in der Metaphysik der Sitten stellen: „Der denkende Mensch nämlich, wenn er über die Anreize zum Laster gesiegt hat und seine, oft sauere, Pflicht getan zu haben sich bewußt ist, findet sich in einem Zustande der Seelenruhe und Zufriedenheit, den man gar wohl Glückseligkeit nennen kann; in welchem die Tugend ihr eigener Lohn ist" (MST A vii/viii = VI 37718-22). Im übrigen geht es Kant an dieser Stelle nicht um die Erörterung der Möglichkeit dieses empirischen Zustands von angeblich transempirischer Herkunft oder seiner kriteriellen Zuverlässigkeit, sondern darum, sowohl die Zirkularität wie die Widersprüchlichkeit eines eudämonistisch-hedonistischen Standpunkts in der Frage nach den Beweggründen moralischen Wollens und Handelns nachzuweisen. Andernorts (MST A 16 = VI 387 34 f.) steht er der Wortverbindung ,moralische Glückseligkeit' ablehnend gegenüber, weil sie einen Widerspruch in sich enthalte, der auf einem Wortmißbrauch beruhe. Kant hat hier wohl das unvermeidlich Empirische und das von andersartigen Erfahrungen der Zufriedenheit mit sich selbst nicht sicher Unterscheidbare und deshalb möglicherweise Täuschende der ,moralisch' genannten Glückseligkeit im Auge. Aber wenn Kant mit der Möglichkeit rechnet, daß die praktisch-moralische Vernunft oder ihr Gesetz bzw. das Bewußtsein von ihm im Menschen ein Gefühl erzeugt, das er ,moralisch' nennt (vgl. GMS B 122 f. = IV 460f.; KpV A 67-69, 132ff., 141 ff. = V 38-40, 74ff., 79ff.; MST A 35-37, 41/42 = VI 399f., 402/403) und von dem er selbst vielfältig Zeugnis ablegt (vgl. KpV A 254, 288/289 = V 86, 161/162; MST A 93 f. = VI 434 f.; RGV B 57-59, 295 f. Anm. = VI 49 f., 190 Anm.; Streit der Fakultäten A 91—94 = VII 58 f.) — ein Gefühl der Achtung und Bewunderung zunächst seiner selbst, dann aber auch all der Wesen, die Urheber dieses Gesetzes sind —, dann wird er auch die Möglichkeit eines durch moralische Gesinnung und Tugend gewirkten Gefühls der Zufriedenheit mit sich selbst nicht ausschließen können, wobei natürlich ein abgesehen von ihrem unterschiedlichen Ursprung weiterer wesentlicher Unterschied zwischen diesen Gefühlen darin besteht, daß das erstere nach Kant (nichtempirisch gewirkter) Beweggrund — Kant sagt: „Triebfeder" — der Schätzung und Befolgung des Moralgesetzes um seiner selbst willen sein kann, das letztere nicht. Düsing (1971) zeigt, daß das Problem der Triebfeder in der Moral während der Periode von Kants kritischer Philosophie zwei grundlegend verschiedene Lösungen fand: in den siebziger Jahren, zur Zeit der Abfassung der Kritik der reinen Vernunft, war es das höchste Gut, das den Beweggrund für die Befolgung des Sittengesetzes abgab; später dann, schon in der Grundlegung, löst Kant die Problematik um das höchste Gut aus dem Zusammenhang der Frage nach dem Ursprung moralischer Motivation und

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sieht das vernunftgewirkte Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz als den einzig möglichen nicht-empirischen, nicht-sinnlichen Beweggrund an, es zu befolgen. Das höchste Gut bringt demgegenüber nun „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft" (KpV A 194 = V 108 11 f.) zum Ausdruck und nicht die Überlegenheit ihrer Kraft zu motivieren gegenüber nicht-moralischen Antrieben. Ob die Kantische Frage nach einem außerhalb der reinen praktischen Vernunft oder des Moralgesetzes bestehenden apriorischen Beweggrund für moralischen Gehorsam nicht einerseits die Autonomie der Vernunft und ihres Gesetzes und andererseits die Freiheit der menschlichen Entscheidung negativ berührt, kann hier unerörtert bleiben, weil wir uns vor allem der reifen Lehre Kants vom höchsten Gut widmen, die den Höhepunkt seiner Moral- und Religionsphilosophie darstellt, zu der die erste Kritik nur den Grund gelegt hat. In dieser Lehre finden die — freilich gewandelten — Ansprüche der sinnlichen Natur des Menschen und die Forderungen seiner moralischen Natur zur Einheit. Das Erfordernis, die sinnlichen Ansprüche umzuformen, ist nicht in einer manichäischen Sicht begründet, als ob die Sinnlichkeit des Menschen schlecht wäre oder der Ursprung des Bösen sein könnte. Wie Kant vor allem in der Religionsschrift betont, ist die Sinnlichkeit des Menschen von Natur gut und die einzige Quelle des Bösen sein freier Wille (RGV B 19, 31 f., 35, 37, 48/49, 69 mit Anm., 115 = VI 2812-14, 34/35, 37lOf., 44 15-24, 58 mit Anm., 83 15-22; Pädagogik A 18/19 = IX 448 13-17). Allerdings darf naturhaftes oder naturgegebenes Gutsein nicht mit moralischem Gutsein gleichgesetzt werden; wie der freie Wille die einzige Quelle des moralisch Bösen ist, so ist er auch die einzige Quelle des moralisch Guten. Die menschliche Sinnlichkeit und ihr Streben nach ,Glück' als dem Inbegriff der Erfüllung ihrer Bedürfnisse sind als natürliche oder kulturelle, der freien Stellungnahme des Individuums vorausliegende Gegebenheiten, moralisch gesehen, weder gut noch schlecht. Aber in ethischer Betrachtung kann sich die Notwendigkeit ihrer Einschränkung und Umorientierung ergeben, ja in extremen Situationen auch ihrer vollständigen Frustration. Diese Wechselbeziehungen zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit zusammenfassend läßt sich von mindestens vier unterschiedlichen Aufgaben moralischer Art im Hinblick auf die Realisierung eigenen und fremden Glücks sprechen: 1. Die persönliche Konzeption eigenen Glücks ist auf die Bedingung der Zusammenstimmung der Glücksforderungen all jener einzuschränken, die mit dem Betreffenden in einem Lebens- und Handlungszusammenhang stehen. 2. Der Mensch hat sein Leben so zu führen, daß er jederzeit sogar auf die Erfüllung seines derart eingeschränkten moralisch berechtigten Glücksverlangens verzichten kann. 3. Der Mensch darf Glück und Wohlergehen seiner Mitmenschen nur unter der einschränkenden Bedingung der Wahrung ihrer Personwürde verfolgen. Schließlich ergibt sich 4. für Kant aus einer fundamentalen Gerechtigkeits- oder Billigkeitsforderung als dem

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der Sittlichkeit eigenen, „unabweislichen Interesse an einer moralischen Weltordnung" (vgl. Scholz 1921, 135-140 = 1922, 75-79): Nur jenen steht die Befriedigung ihrer — voraussetzungsgemäß moralisch transformierten — Glücksbedürfnisse zu, die an der gesellschaftlichen Etablierung moralisch legitimierter Glücksverhältnisse uneigennützig, nämlich in beständigem und ausschließlichem Blick auf die moralische Notwendigkeit der Errichtung solcher Verhältnisse, gewirkt haben, und zwar steht ihnen diese Befriedigung in genauer Entsprechung zum Ausmaß ihrer inneren Beteiligung zu (auf das Ausmaß des äußeren Erfolgs ihres Wirkens hingegen kommt es in der wesentlichen Sicht der Moralität eines Verhaltens nicht an). Diese vierte Aufgabe muß nach Kant als moralisch ebenso notwendig gedacht werden wie die zuvor genannten Aufgaben; alle nämlich fließen gleichermaßen aus dem Begriff bzw. der Realität der moralisch-praktischen Vernunft. Denn wir müssen, insofern wir moralische Wesen sind bzw. insofern wir wenigstens provisorisch unserem Denken jenen Begriff von Vernunft zugrundelegen, „ein solches System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit auch als notwendig denken", so daß „das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich, aber nur in der Idee der reinen Vernunft verbunden" ist (KrVB 837/838 = A 809/810); nur in der Idee, weil — wie aus diesen und anderen Diskussionszusammenhängen bei Kant, wie später noch genauer zu zeigen sein wird, hervorgeht — 1. nicht vorausgesetzt werden kann, daß jeder auch tut, was er soll, und weil 2. es dem Menschen weder gegeben ist, das Vorhandensein und den Grad der Ausprägung eigener und fremder Moralität zu erkennen, noch die geforderte Proportionalität zwischen Moralität und Glückseligkeit handelnd herzustellen. Die Lösung des Dilemmas, vor das sich der Mensch gestellt sieht, eine moralische Welt vernunftnotwendig fordern zu müssen, zu deren Realisierung er sich aber zugleich als unfähig erkennt, geschieht durch die vertrauensvolle Selbsthingabe des Menschen an ein Wesen, das praktische Vernunft sowohl nach seiner moralischen wie nach seiner wirkungsmäßigen Seite hin in Vollkommenheit verkörpert. In den Kantischen Texten wird diese religiöse Lösung des Dilemmas nur unter beweistheoretischen Gesichtspunkten bezüglich der Existenz dieses Wesens reflektiert und in Hinsicht darauf festgestellt, daß sie seine Existenz nur als moralisch-praktisches Postulat behauptet und behaupten kann. Die Idee dieser gleichermaßen allgütigen wie allmächtigen Vernunft nennt Kant „das Ideal des höchsten ursprünglichen Guts" im Unterschied zur von dieser Vernunft notwendigerweise herzustellenden „moralischen Welt", dem „höchsten abgeleiteten Gut"; in beiden sind Sittlichkeit und Glückseligkeit zu vollkommener Harmonie gelangt (KrV B 838 f. = A 810 f.). Diese moralische Welt ist offenbar nicht mit der phänomenalen Welt identisch, in der Sittlichkeit und Glückseligkeit allem Anschein nach auseinanderfallen — ein Sachverhalt, den schon Hiob und die Psalmen lebhaft beklagten und der in den monotheistischen Religionen immer wieder Anlaß

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zum sogenannten ,Theodizeeproblem' gab; philosophische Versuche seiner Lösung müssen nach Kant grundsätzlich scheitern (s. seine Schrift von 1791 Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodi^ee; zum ideengeschichtlichen Kontext vgl. Geyer 1982 und Schulte 1988). Aus der angeblichen Unvereinbarkeit von intelligibler und phänomenaler Welt und der vernunftnotwendigen Forderung nach Aufhebung dieser Unvereinbarkeit folgt für Kant aber nicht nur das Postulat der Existenz Gottes, sondern auch die Zukünftigkeit der moralischen Welt im Sinne eines Jenseits zum Tode und damit der Fortdauer des Menschen über seinen Tod hinaus. Zu fragen ist, ob diese Auffassungen, die sich Kant von der kirchlichdogmatischen Tradition des Christentums und der antiken philosophischen Tradition (bezüglich der Unsterblichkeit der Seele) nahelegten, einer genaueren Prüfung standhalten (dazu vgl. § 5). Als Alternative innerhalb eines ,religiösen' Lebensverständnisses gelten dabei Auffassungen, die die gleichzeitige Identität und Nicht-Identität von intelligibler und phänomenaler Welt, von intelligiblem und phänomenalem Menschen annehmen und praktisch leben, wie die sogenannten ,mystischen' Überlieferungen inner- wie außerhalb des Christentums. Diese Alternative soll in einem Ausblick wenigstens angedeutet werden (in § 25). Es wird sich aber zeigen, daß auch Kant sich am Ende seines Lebens gedanklich auf diese Möglichkeit zubewegt (s. § 30). — Gewissermaßen als Anhang zur Darstellung der sittlichen Form der Glückseligkeit seien nun noch zwei Ergänzungen vorgenommen, die das Gesagte weiter erhellen: 1. soll dem gegen Kant nach wie vor erhobenen Vorwurf des Rigorismus konzentriert nachgegangen werden, wobei es zur Klärung des Vorwurfs unabdingbar ist, mindestens drei Arten des Rigorismus zu unterscheiden; 2. sollen Kants spärliche Äußerungen zu Begriff und Möglichkeit von moralischer Glückseligkeit in seinen veröffentlichten moralphilosophischen Schriften ergänzt werden durch Reflexionen, die er anläßlich seiner Vorlesungen zur Ethik im Anschluß an Baumgartens Kompendium der praktischen Philosophie während der siebziger und achtziger Jahre niederschrieb. Zunächst zur dreifachen Form, in der der Rigorismus-Vorwurf gegen Kant erhoben wurde. (a) Die Bezeichnung kategorischer Imperative als ,apodiktisch' oder »unbedingt gültig' wird von Kant manchmal so gedeutet, daß ihre Geltung sich im Unterschied zu der bedingten Geltung hypothetischer Imperative auf alle vernünftigen Wesen als solche erstrecke. Diese Interpretation ist mehrdeutig. Sie kann besagen, daß jedes vernünftige Wesen die Gültigkeit kategorischer Imperative prüfen und bestätigen kann — diese Möglichkeit muß aber auch in bezug auf hypothetische Imperative bestehen; denn auch sie erheben einen Rationalitätsanspruch —, oder sie kann besagen, daß kategorische Imperative aufgrund ihres apriorischen Charakters im Unterschied zu hypothetischen Imperativen schlechthin alle Vernunftwesen zu Adressaten haben, die demnach immer und überall dem zwecke- und handlungsnormierenden Anspruch

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dieser Imperative unterworfen sind. Doch letztere Ansicht — häufig Kant unterstellt und Anlaß zur ersten Version des Rigorismus-Vorwurfs gebend — wäre irrig; denn in den Vordersätzen der ,bedingten', nämlich als Subjunktionen formulierten kategorischen Imperative finden sich Situationsbedingungen empirischer Art, die erfüllt sein müssen, soll die im Nachsatz ausgesprochene Verpflichtung greifen (vgl. Patzig 1966). Damit wird ja nicht die Verpflichtung selber von empirischen Bedingungen abhängig, wie Kant gelegentlich nahezulegen scheint (vgl. GMS B viii, 35 = IV 389, 411 f.). Es wird nur der Gegenstandsbereich näher bestimmt, auf den sich eine Norm bezieht, und eine solche Spezifikation kann selbstverständlich auch anthropologische und psychologische Beschreibungen enthalten (vgl. Ewing 1938, 49; Gregor 1963, 5 — 12). Freilich läßt sich nicht davon ausgehen, daß diese Beschreibungen immer vollständig sind. Eine diesbezügliche Forderung dürfte die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen übersteigen, so daß nicht auszuschließen ist, daß der Wandel der Situation die Anwendung einer bestimmten Norm auf sie nicht mehr rechtfertigt, was mit einer genaueren Spezifizierung dieser Norm explizit gemacht werden kann. Oft zeigt sich die Notwendigkeit für solche Einschränkungen in einem Antagonismus zwischen konkurrierenden Normen. Deshalb ist grundsätzlich jede Norm, wie vor allem Singer in seiner groß angelegten Kantadaptation dargelegt hat, nur prima facie gültig und mit einer ceteris-paribus-Klausel versehen zu denken, die ihre Aufhebung zugunsten einer im konkreten Fall besser begründeten oder auch nur spezifizierten Norm gestattet (Singer 1961, 218, 223—233, 238, 253; vgl. Baier 1958,191-195; Kemp 1964, 87-89; Ross 1954, 32 f.; Williams 1968, 52-56). (b) In einer weniger trivialen Hinsicht läßt sich der Vorwurf des Rigorismus gegen Kant möglicherweise verschärfen. Kants Ethik wird häufig so verstanden, als verlange sie eine moralisch derart ideale Gesinnung und stelle derart anspruchsvolle Forderungen an das Handeln, daß sie sich im beruflichen, geschäftlichen, politischen ,Kampf ums Dasein' nur um den Preis des eigenen Ruins befolgen lasse; Kant berücksichtige nicht die faktische Bosheit, moralische Schwäche oder auch nur Unwissenheit der Menschen und die daraus resultierende Unvollkommenheit der Lebensverhältnisse und Institutionen; er entwerfe eine Ethik für eine Gemeinschaft vollkommen rationaler Wesen und ignoriere die Tatsache, daß wir in einer unvollkommen rationalen Welt leben (vgl. Hill 1972, 314 f.; Paton 1948, 194). Man hat gerade Kants Ethik im Sinne Max Webers (1919, 539) immer wieder als ,Gesinnungsethik' apostrophiert und statt dessen eine ,Verantwortungsethik' gefordert. Doch Kant selbst schon hat dieses Rigorismusproblem — freilich verkürzt — als die alte Frage nach der Angemessenheit der Mittel für einen guten Zweck zu identifizieren gesucht und es — wie nach ihm Max Weber — als die weitgespannte Frage nach dem Verhältnis von Moral und Politik artikuliert (vgl. Zum ewigen Frieden B 71 — 112 = VIII 370 — 386). Kant räumt der Moral

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zurecht absolute Priorität ein — in diesem Sinne muß ein moralisch denkender und handelnder Mensch stets ,Rigorist' sein, weil für ihn letztlich nur die Pflicht zählt, die die praktische Vernunft auferlegt (vgl. RGV B 9, 13 Anm. = VI 22 24 f., 24 f. Anm.). Aber er erlaubt zumindest an der gerade aus der Schrift Zum ewigen Frieden angeführten Stelle, die Bosheit und die Unvollkommenheit der Menschen und der menschlichen Verhältnisse bei dem Versuch, das Rechte zu tun, in Rechnung zu stellen (B 78 f. Anm., 90, 92 = VIII 373 Anm., 3782-4, 37834-3794). Andernorts lehnt Kant diesen Weg offenbar ab, wenn er glaubt, man dürfe beispielsweise den SS-Mann nicht über den Aufenthaltsort eines schuldlos Verfolgten belügen. Daß Kant die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Kasuistik aufgrund des unvollkommenen Verpflichtungscharakters ethischer Pflichten als „Pflichten von weiter Verbindlichkeit" anerkennt (MST A 18-28, 56 = VI 388-394, 411) und sie in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten auch praktiziert, zeigt, daß er Güterabwägung beim Einsatz von Mitteln zur Realisierung moralisch notwendiger Zwecke wohl nicht grundsätzlich ausschließt. Täte er dies, so würde er sich weitgehend der Möglichkeit zu ihrer Verwirklichung berauben und in der Tat einer puren Innerlichkeitsethik das Wort reden. Muß die gegenteilige Meinung als eine unangemessene Deutung der Kantischen Moralphilosophie gelten, die weder dem materialen Aspekt seiner Ethik noch dem systematischen Stellenwert seiner politischen und Rechtsphilosophie gerecht wird, dann reduziert sich der Rigorismus-Vorwurf gegen ihn in der hier zur Debatte stehenden Dimension auf die Uneinigkeit mit ihm über die Priorität gewisser Zwecksetzungen in bestimmten Situationen bzw. über die Priorität der entsprechenden Moralnormen. Im Disput mit Kant wäre etwa zu zeigen, daß der unbedingte Vorrang der Wahrhaftigkeit gegenüber allen anderen Moralnormen in allen denkbaren Situationen auch dann nicht zwingend bewiesen ist, wenn die Wahrhaftigkeit eine transzendentale Bedingung moralischen Urteilens und Handelns überhaupt darstellt, worin im übrigen zwischen Kant und Habermas, der diesen Sachverhalt vor allem wieder ans Licht gehoben hat (vgl. Wimmer 1980, 37—42), Einigkeit bestehen mag. Denn im Gegensatz zum Kategorischen Imperativ selbst kann von einer einzelnen materialen Norm nie a priori gesagt werden, daß sie für jede, wenn nicht denk-, so doch realmögliche Situation Geltung hat, so bedeutend ihr Rang auch ist; ihre Verabsolutierung wäre widervernünftig. Nur die praktische Vernunft selbst nötigt unter allen möglichen Bedingungen, und dies bringt der Kategorische Imperativ zum Ausdruck. Hill bringt dies auf die bündige Formel: „Once I know that an act is my duty, I should do it regardless of how irrationally others behave; but it does not follow that I should disregard their irrationality when I am trying to determine what my duty is. To adopt our principles as ideal legislators seems a good idea; but to make them for ideal law-followers does not" (1972, 314 f.). Die Frage, wieweit ein Zweck die Mittel ,heiligt', ist deshalb nur in dieser Perspektive

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überzeugend beantwortbar. Radikale Ansätze zur Weltverbesserung stehen schnell vor dieser Frage; eine dogmatische Treue zum einmal vorgesetzten Ziel kann es durch die zur Anwendung kommenden Mittel unmöglich machen. Die Aufgabe des Ziels kann auf der anderen Seite in moralische Verzweiflung und selbstzerstörerischen Defätismus münden. Dieses Dilemma hat Kant durch seinen moralisch-praktischen Glauben an Gott als den Urheber sowohl des Sittengesetzes wie der moralischen Welt am ,Ende der Zeiten' für sich auflösen können; auch von Weizsäcker sucht in dieser Richtung die Lösung für „das moralische Problem der Moral" (1977, 116—121). (c) In einer dritten Hinsicht — und sie ist vor allem von Paton (1948, 48 — 57) herausgearbeitet und vor einiger Zeit wieder von Funke (1974a, 63—66) bestätigt worden — ist der Vorwurf des Rigorismus gegen Kant allerdings völlig unbegründet, der Vorwurf nämlich — zuerst von Schiller in Über Anmut und Würde und in einigen Distichen artikuliert, dem Kant selbst geantwortet hat (RGV B 10-12 Anm. = VI 23 f. Anm.; vgl. Messer 1929, 124-126), von Schopenhauer (1819, II 624; 1840, IV 133 f.) erneuert und bis in unsere Zeit, z. B. von Kamiah (1973, 145) als Vorurteil festgehalten —, es sei Kants persönliche Meinung gewesen bzw. es ergebe sich aus seiner Grundlegung der Ethik als Konsequenz, daß der Mensch nur auf dem Wege der Unterdrückung seiner Neigungen und Gefühle, seines Strebens nach Glück und Anerkennung ein moralisch guter Mensch werden könne. Kant sagt zwar ausdrücklich und zurecht, daß etwa Gefühle der Liebe für sich selbst kein untrügliches Kennzeichen für ein im moralischen Sinne vernünftiges Wollen und Handeln darstellen. Nicht die Liebe als Gefühl, sondern die Liebe als Grundsatz, als „praktische und nicht pathologische Liebe, die im Willen liegt und nicht im Hange der Empfindung, in Grundsätzen der Handlung und nicht [in] schmelzender Teilnehmung", kann von der praktisch-moralischen Vernunft geboten werden (CMS B 13 = IV 399; vgl. KpV A 148 f. = V 83; MST A 39-41 = VI 401 f.). Aber nicht nur die Ordnung, sondern auch die Kultivierung und Förderung von Gefühlen und Neigungen finden in Kants Ethik Platz, so daß gilt: „Der sittliche Wert der Handlungen liegt zwar immer nur in der pflichtmäßigen Gesinnung. Aber die Gründung einer günstigen Neigung und die Formierung des natürlichen Charakters sind doch selbst gebotene Handlungen" (Henrich 1954-1955, 30; vgl. noch Refl. Nr. 6987-6989, 6992 = XIX 22013-221 13, 2222f.). Aber trotz dieser günstigen Beurteilung der Rolle von Neigungen und Gefühlen in Kants Ethik bemängelt Henrich, sich der Kritik Schillers und Hegels an Kant anschließend, daß Kant z. B. die Nächstenliebe nur unter dem Aspekt der geforderten Pflicht sehe, so daß der Eigenwert dessen, der geliebt werden soll, und der Eigenwert der Liebe um der Erfüllung einer Vernunftpflicht willen Kant aus dem Blick gerate (ebd. 33; 1963, 364 — 366). Dem ist entgegenzuhalten, daß sich Hegels Kritik an Kants normativer Ethik ausschließlich an der ersten, der Gesetzesformel des Kategorischen Imperativs

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orientiert, und zwar an ihrer formalistischen Fehldeutung, wie an anderer Stelle gezeigt wurde (Wimmer 1980, 200-202). Hegel übersieht die Bedeutung der Selbstzweckformel für ein angemessenes Verständnis von Kants Ethik. Die Rigorismus-Problematik abschließend seien noch drei Stellen aus der Kritik der praktischen Vernunft zitiert, die in allgemeiner Form die Ansicht Kants über das Verhältnis von Gefühl und Vernunft, Sinnlichkeit und Sittlichkeit, Glück und Moral verdeutlichen: „Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört und so fern hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag, von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern und sich praktische Maximen, auch in Absicht auf die Glückseligkeit dieses, und, wo möglich, auch eines zukünftigen Lebens, zu machen. Aber er ist doch nicht so ganz Tier, um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu sein, und diese bloß zum Werkzeuge der Befriedigung seines Bedürfnisses, als Sinnenwesens, zu gebrauchen" (A 108 = V 61). Daß das Streben nach eigenem Wohlergehen und Glück von Kant nicht, wie die geläufige Meinung will, von vornherein im Widerstreit zur Moralität gesehen wird, belegt folgender Text: „Aber diese Unterscheidung des Glückseligkeitsprinzips von dem der Sittlichkeit ist darum nicht so fort Entgegensetzung beider, und die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben, sondern nur, so bald von Pflicht die Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht nehmen. Es kann sogar in gewissem Betracht Pflicht sein, für seine Glückseligkeit zu sorgen; teils weil sie (wozu Geschicklichkeit, Gesundheit, Reichtum gehört) Mittel zu Erfüllung seiner Pflicht enthält, teils weil der Mangel derselben (z. B. Armut) Versuchungen enthält, seine Pflicht zu übertreten. Nur, seine Glückseligkeit zu befördern, kann unmittelbar niemals Pflicht, noch weniger ein Prinzip aller Pflicht sein" (A 166 f. = V 93; vgl. auch RGV B 19, 31, 48, 69 mit Anm. = VI 28, 34f., 44, 58 mit Anm.; Anthropologie B 30-34 = VII 143_146; Refl. Nr. 6665 = XIX 12722; vgl. außerdem § 8). Als Folgerung daraus formuliert Kant schließlich: „Daher ist auch die Moral nicht eigentlich die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen" (KpV A 234 = V 1306-8). ,Glückseligkeitslehre' kann dann die Sitten- oder Tugendlehre nur in diesem sekundären Sinne heißen (vgl. ebd. A 165 f., 234 f. = V 92 f., 130 f.); eher kommt ihr der Name ,Weisheitslehre' zu. Deshalb steht Kant zwar jenem Teil der antiken philosophischen Tradition ablehnend gegenüber, der die primäre Aufgabe des Menschen im Erlangen der Glückseligkeit sieht und damit Sittlichkeit auf Glückseligkeit, Ethik auf Eudämonologie reduziert (Epikuräismus); aber er verwirft auch die Überzeugung derer, die, wie die Stoiker, glauben, der Mensch bedürfe zur vollen Verwirklichung seiner Bestimmung nicht auch der Erfüllung seiner Glücksstrebungen, weil er seine Seligkeit ganz und ausschließlich in der Erfüllung

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seiner sozialen Pflichten und in der Loslösung von solchen Strebungen finden könne und solle, womit Glückseligkeit auf Sittlichkeit reduziert bzw. mit ihr gleichgesetzt werde (vgl. KpV A 69-71, 200-202, 208f., 227-229 = V 39-41, U l f . , 115 f., 126 f.; Refl. Nr. 6584, 6601, 6607, 6611 zweite Hälfte, 6616, 6617, 6620, 6621 Ende, 6624, 6625, 6630, 6632, 6634, 6637, 6708, 6825, 6827, 6831, 6837, 6838, 6840, 6842, 6872-6882, 6894, 7237, 7312 = XIX 94_96, 106f., 109f., 11123-27, 1122f., 11327ff., 1157-15, 116, 11813-23, 120, 121 28ff., 13720-24, 173 12f., 1743f., 28, 1764-17710, 18724-19114, 19627 — 19829, 292 11, 309 13ff.). Kant geht also einen mittleren Weg zwischen dem Amoralismus Epikurs und dem Moralismus der Stoa (zum Unterschied der Glücksauffassung Kants von der Platons, Aristoteles', Spinozas und des Utilitarismus vgl. Rotenstreich 1975). Dies noch einmal in expliziter Auseinandersetzung mit dem gegen Kant gerichteten Vorwurf des Rigorismus hervorzuheben ist schon aufgrund der Unausrottbarkeit des rigoristischen Mißverständnisses nicht überflussig (vgl. noch zuletzt H.-E. Richter 1986, 179/180). Aber es ist auch deswegen nicht überflüssig, weil Kants mittlere Position auch Einwände im Namen der Moral auf sich zieht, und zwar nun nicht im Sinne Schopenhauers als Verdacht auf Eudämonismus, sondern derart, daß Kant Moralität in eudämonistischer Hinsicht gerade unterbestimmt habe, weil er von Glücklichkeit, Seligkeit und Zufriedenheit nur im öÄ/fermoralischen Sinne spreche, die Möglichkeit des moralischen Einverständnisses mit sich selbst und dem eigenen Tun und Wollen, sofern es doch in eminentem Sinne beglückend und beseligend sei, nicht oder kaum in den Blick nehme, so daß die zweite Quelle menschlichen Glücks fast nicht zur Sprache komme, obwohl sie insofern die ursprünglichere von beiden sei, als sie das moralische Maß für das leibseelische und soziale Glück des Menschen abgebe (für eine derartige Kritik Kants von Aristoteles her vgl. Trendelenburg 1867). Dem könnte man im Sinne Kants folgendes entgegenhalten: 1. läßt es die Verschiedenheit der Natur der beiden Glücksquellen nicht geraten erscheinen, sie mit dem gleichen Wort zu bezeichnen, auch wenn sich ihre psychischen Auswirkungen möglicherweise zumindest in jenen Situationen phänomenal kaum voneinander unterscheiden lassen, in denen die leibseelisch-sozialen Glücksbedürfnisse voll befriedigt sind. 2. aber wäre grundsätzlicher dahingehend zu argumentieren, daß phänomenale, in diesem Fall psychische Sachverhalte gar nicht eindeutig einem noumenalen Ursprung, wie es denn das moralische Einverständnis eines Menschen mit seiner sittlichen Vernunft darstellt, zugeordnet werden können (dazu vgl. § 12). Schließlich wäre 3. Kants dynamische Konzeption moralischer Vollkommenheit anzuführen, nach der auch der gute Mensch immer auf dem Wege bleibt, so daß auch objektiv nicht gesagt werden kann, er sei am Ziel, weswegen jede statische Auffassung von der dem moralischen Gutsein eigenen Seligkeit fernzuhalten ist, wie sie doch wohl den Begriff des leibseelisch-sozialen Glücks kennzeichnet.

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Diese Vorbehalte rechtfertigen m. E. vollauf Kants äußerste Zurückhaltung in seinen veröffentlichten Schriften, moralische Glückseligkeit überhaupt zu thematisieren. Ihm lag darüber hinaus offenbar sehr daran, auch nicht den leisesten Verdacht eudämonistischer Abirrung aufkommen zu lassen und jeden Anlaß zu Mißverständnissen in einem für seine reife Moralauffassung im Unterschied zu den eigenen vorkritischen Überzeugungen so entscheidenden Punkt zu vermeiden. Ohne einen Beitrag zur moralphilosophischen Entwicklung Kants leisten zu wollen, seien doch eine Reihe von Reflexionen Kants näher analysiert, die er vornehmlich in den siebziger Jahren zu den hier interessierenden beiden Begriffen der physischen und der moralischen Glückseligkeit bzw. ihrer unterschiedlichen Quellen und ihres Verhältnisses zueinander anstellte, und zwar im Zusammenhang mit moralphilosophischen Vorlesungen anhand der Initia philosophiae practicae primae Baumgartens. (Die Schreibung und Zeichensetzung der Kant-Zitate sind im folgenden durchgehend modernisiert.) Eine frühe Reflexion, wahrscheinlich aus den Jahren 1769 oder 1770, unterscheidet zwischen Wohlfahrt, Glückseligkeit, Selbstzufriedenheit und Seligkeit folgendermaßen, ohne für Selbstzufriedenheit und Seligkeit schon einen Bezug zum Bewußtsein der eigenen Moralität ausdrücklich herzustellen: „Die Zufriedenheit aus der Befreiung von Schmerz ist die Wohlfahrt. Die Zufriedenheit aus der Befriedigung der Neigungen Glückseligkeit. Die Zufriedenheit aus einem Besitze des Wohlbefindens, der von äußeren Dingen unabhängig ist, ist Selbstzufriedenheit. Die Selbstzufriedenheit, zu der die Welt keinen äußeren Zusatz enthält, Seligkeit" (Refl. 6616 = XIX 111 15-22). Aus späterer Zeit, etwa aus den Jahren 1776 — 78, stammen Anmerkungen und Überlegungen, die ausdrücklich von moralischer Glückseligkeit sprechen, aber stets nur so, daß sie (implizit oder explizit) Einwände gegen eine solche Sprechweise artikulieren, und zwar entweder im Anschluß an Systematisierungen antiker Positionen (vgl. die S. 49 angeführten Stellen ab Refl. 6831 bis Refl. 6894, soweit sie sich gegen die stoische Gleichsetzung von Moralität und Glückseligkeit richten) oder indem Kant den begrifflichen Unterschied zwischen (physischer) Glückseligkeit und (moralischer) Selbstzufriedenheit herausarbeitet. In Refl. 6867 (XIX 186 17 ff.) sagt Kant: „Der gute Gebrauch der Freiheit ist mehr wert als die zufällige Glückseligkeit. Sie hat einen notwendigen inneren Wert. Daher besitzt der Tugendhafte in sich selbst die Glückseligkeit (in receptivitate), so schlimm auch die Umstände sein mögen. Er hat in sich, so viel an ihm ist, das principium der epigenesis der Glückseligkeit. Hierbei muß vorausgesetzt werden, daß ursprünglich ein freier Wille, der allgemeingültig ist, die Ursache der Ordnung der Natur und aller Schicksale sei. Als denn ist die Anordnung der Handlungen nach allgemeinen Gesetzen der Einstimmung der Freiheit zugleich ein principium der Form aller Glückseligkeit". Mit ,zufälliger Glückseligkeit' ist die Glückseligkeit als „Natur- oder

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Glücksgabe" (186?) gemeint. Die Glückseligkeit, die dem Tugendhaften zukommt, ist die ihm aufgrund seiner moralischen Würdigkeit zukommende und vor dem Forum der Vernunft mit den gerechtfertigten und moralisch verdienten Ansprüchen aller anderen Menschen, nämlich „nach allgemeinen Gesetzen der Freiheit" (l 86 5 f.) in Einklang gebrachte Glückseligkeit, die insofern „allgemeingültig" ist, die der Tugendhafte aber nicht für sich verwirklichen kann, so daß er ihr gegenüber nur „in receptivitate" ist und nur „das principium der epigenesis der Glückseligkeit", also nur ihrer „Form", darstellt, nicht aber ihr kausales Prinzip. Aber mit der Formulierung, der Tugendhafte besitze „in sich selbst die Glückseligkeit", scheint Kant der stoischen Auffassung doch nahe zu kommen. Diese Formulierung ist jedoch wohl durch die des folgenden Satzes zu präzisieren: Der Tugendhafte besitzt „in sich selbst" lediglich „das principium der epigenesis der Glückseligkeit". Die Entsprechung zur moralischen Glückseligkeit artikuliert Kant gewöhnlich unter der Bezeichnung der (moralischen) „Zufriedenheit" oder „Selbstzufriedenheit". Die (moralische) Zufriedenheit mit sich selbst ist von Kant phänomenologisch gefaßt und teilt damit die Problematik aller sogenannten ,moralischen Phänomene' — ein Ausdruck, der für Kant eine contradictio in adiecto enthalten muß. Die Rede von moralischer Glückseligkeit betrachtet er demgegenüber (in Refl. 6883 = XIX 191 15-23) als den — unmöglichen — Versuch der Beschreibung eines noumenalen Sachverhalts: „Von der bloß moralischen Glückseligkeit oder der Seligkeit verstehen wir nichts. Wenn alle Materialien, die die Sinne unserem Willen liefern, aufgehoben werden: wo bleiben da Rechtschaffenheit, Gütigkeit, Selbstbeherrschung, welche nur Formen sind, um alle diese Materialien in sich zu ordnen? Da wir also alle Glückseligkeit und das wahre Gut nur in dieser Welt einsehen können, so müssen wir glauben, wir übertreten die Grenzen unserer Vernunft, wenn er uns neue und auch höhere Art Vollkommenheit vormalen will". Der Begriff der moralischen Glückseligkeit wäre danach ein überschwenglicher, schwärmerischer Begriff, weil er etwas Formales inhaltlich faßt bzw. etwas Noumenales so beschreibt, als wäre es phänomenal gegeben und dazu auch noch von physisch-psychischer Art. In Refl. 6892 (XIX 195 f.) bringt Kant zunächst sehr klar seinen Begriff einer allgemeingültigen Glückseligkeit zum Ausdruck, führt dann erstmals den Begriff der Selbstbilligung oder Selbstzufriedenheit ein, scheut sich aber nicht, ihn mit einem Begriff des Glücklichseins zu verknüpfen, der weder mit dem der zufälligen noch mit dem der allgemeingültigen Glückseligkeit identisch ist, und weist schließlich darauf hin, daß der praktische Begriff eines höchsten Wesens nur deshalb anzunehmen notwendig ist, weil die allgemeingültige Glückseligkeit sich nicht naturnotwendig herstellt. Refl. 6907 (XIX 202 f.) unterscheidet in aller Ausdrücklichkeit zufällige und allgemeingültige Glückseligkeit und charakterisiert erstere als „äußerlich

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von der Natur abhängige Wirkung", letztere als „von allem in der Natur unabhängig", einzig vom geeinten, gemeinsamen Wollen und Handeln vernünftiger Wesen abhängig, weshalb sie die „wahre", die „eigentliche", die „Glückseligkeit der Verstandeswelt", die „gute Welt" darstellt. Refl. 6910 (XIX 203 18—26) betont, daß die derart „allgemeine" Glückseligkeit ein praktischer Vernunftbegriff ist, weshalb sowohl „alle sinnliche stimuli und motiva felicitatis a posteriori" bei seiner Verwirklichung ausgeschlossen sind als auch „der Genuß der Sinne bei weitem kein echtes Stück" von ihm ausmacht — was wohl besagen soll, daß die sinnlichen Bedürfnisse und ihre Befriedigung nicht unmittelbar, sondern erst nach ihrer moralisch-vernünftigen Transformation Bestandteil einer „allgemeinen" Glückseligkeit sein können. Nur ihr Begriff ist ja ein Vernunftbegriff und insofern „a priori" (Refl. 6911 = XIX 203 28), und zwar ist er der Begriff einer moralischen „Welt", die „dem Verstande" mit Notwendigkeit „gefällt" (ebd. 204 3). Kants Bewußtsein der sachlichen Verschiedenheit von vernunftgemäßer Glückseligkeit und moralischer Selbstzufriedenheit wird auch an folgender Äußerung deutlich: Moralisch gute Handlungen sind „ein Grund der Selbstzufriedenheit, nämlich seiner eigenen Person, aber nicht mit seinem Zustande"; denn der könnte — so muß man ergänzen — ja gerade zu äußerster Unzufriedenheit Anlaß geben (Refl. 6915 = XIX 205 28 f.). Die motivationale Beziehung zwischen allgemeiner und eigener Glückseligkeit bringt Refl. 6965 (XIX 21527-30) zur Sprache: „Das Wohlgefallen an der Glückseligkeit des Ganzen ist eigentlich ein Verlangen nach den Bedingungen der Vernunft nach eigener Glückseligkeit. Denn ich kann nicht hoffen, glücklich zu sein, wenn ich etwas Besonderes haben soll und das Schicksal eine besondere Beziehung auf mich haben soll". Die Realisierung der eigenen Glückseligkeit wird in Refl. 6989 (XIX 221) unter eine Regel gestellt, die auf zweifache Weise, aber ohne sachliche Differenz formuliert ist: „Suche deine Glückseligkeit unter allgemeingültigen Bedingungen derselben", und: „Suche deine Glückseligkeit unter der Bedingung eines allgemeingültigen Willens". Diese Regel ist keine Handlungsanweisung; sie „zeigt nicht den Weg zur Glückseligkeit, sondern schränkt die Bemühung dazu auf Bedingungen ein, ihrer würdig zu werden, indem sie solche mit dem allgemeinen System einstimmig macht". Bei dieser Regel handelt es sich aber auch nicht um ein oder gar das Grundprinzip der Moral; denn dann wäre diese Moral als eudämonistisch zu qualifizieren, wenn auch als universalistischer Eudämonismus, wie er im Utilitarismus J. Benthams und J. S. Mills vorliegt. In der Moralauffassung Kants steht diese Regel grundsätzlich unter sich aus dem Kategorischen Imperativ — und hier vor allem der Selbstzweckformel — ergebenden einschränkenden Bedingungen. Unter diesen Vorbehalt müssen dann auch Erörterungen gestellt werden, die Kant in den achtziger Jahren „zur praktischen Philosophie" auf einem losen Blatt durchführte, in denen es u. a. heißt: „Die erste und wichtigste

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Bemerkung, die der Mensch an sich selbst macht, ist, daß er durch die Natur bestimmt sei, selbst Urheber seiner Glückseligkeit und sogar seiner eigenen Neigungen und Fertigkeiten zu sein, welche diese Glückseligkeit möglich machen". Oder: „Die Moralität besteht in den Gesetzen der Erzeugung der wahren Glückseligkeit aus Freiheit überhaupt" (Refl. 7199 = XIX 272 12-15, 273 8 f.). Auf einem anderen losen Doppelblatt aus demselben Zeitraum (Refl. 7202 = XIX 276 — 282) umkreist Kant die Beziehung zwischen (allgemeingültiger) Glückseligkeit und (moralischer) Selbstzufriedenheit in immer neuen Anläufen. So heißt es etwa: „Glückseligkeit ist eigentlich nicht die größte Summe des Vergnügens, sondern die Lust, aus dem Bewußtsein seiner Selbstmacht zufrieden zu sein; wenigstens ist dieses die wesentliche formale Bedingung der Glückseligkeit, obgleich noch andere materiell (wie bei der Erfahrung) erforderlich sind" (27630—2772). „Bewußtsein seiner Selbstmacht" bedeutet, wie der Kontext belegt, das Bewußtsein der Freiheit, sich selbst zum Guten bestimmt zu haben. Die Moralität ist insofern „selbst die ursprüngliche Form der Glückseligkeit, bei welcher man der Annehmlichkeiten gar wohl entbehren und dagegen viel Übel des Lebens ohne Verminderung der Zufriedenheit, ja selbst zur Erhebung derselben, übernehmen kann" (2778—11). Diese Zufriedenheit ist nämlich von äußeren Umständen ganz unabhängig und hängt nur von dem Bewußtsein des inneren moralischen Werts der eigenen Person ab. Daß Kant wenig später den unbedingten Wert in dem die Tugend begleitenden Bewußtsein (von ihrem Wert!) sieht, nämlich in der Selbstzufriedenheit, aber nicht in der Tugend selbst, ist eine Absurdität, die wohl auf das Konto von Kants ungenauer Ausdrucksweise in folgendem Abschnitt geht: „Es ist wahr, die Tugend hat den Vorzug, daß sie aus dem, was Natur darbietet, die größte Wohlfahrt zuwege bringen würde. Aber darin besteht nicht ihr hoher Wert, daß sie gleichsam zum Mittel dient. Daß wir es selbst sind, die als Urheber sie unangesehen der empirischen Bedingungen (welche nur partikuläre Lebensregeln geben können) hervorbringen, daß sie Selbst%ufriedenheit bei sich führe, das ist ihr innerer Wert" (277 29-35). Richtig wäre etwa zu formulieren, daß der unbedingte Wert der Tugend auch ihren Urheber unbedingt gut mache und daß Selbstzufriedenheit das Bewußtsein dieser eigenen unbedingten Güte und ihrer ,Urheberschaft' sei. Ohne diese Selbstzufriedenheit ist, so führt Kant weiter aus, „keine Glückseligkeit möglich" (278 2-4). Gemeint ist natürlich die eigentliche', ,wahre', ,allgemeingültige' Glückseligkeit, die allein auf der moralischen Güte eines Menschen beruht. Diese Güte begründet seine Würdigkeit, glücklich zu sein, und das moralische Bewußtsein von sich selbst, seine moralische Selbstzufriedenheit. Sie nennt Kant auch „das Intellektuelle der Glückseligkeit", die den Menschen instandsetzt, auf die ihm zukommende sinnliche Erfüllung seines Glücksbedürfnisses zu verzichten; denn er hat nun „das Vermögen, auch ohne Lebensannehmlichkeiten zufrieden zu sein und glücklich zu machen" (27818-20). Das

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bedeutet doch, daß das Bewußtsein des Lebens selbst nun ein anderes ist: Von welcher Art auch immer seine sinnliche „Materie" (278 21 f.) ist — seine „Form" (27831) bestimmt nun seinen „Wert" (27824) und ist deshalb für das Selbstbewußtsein „eine Spontaneität des Wohlbefindens" (278 25), unabhängig vom besonderen Inhalt des Lebens und der Welt (278 28 f.). Dieses „Intellektuelle der Glückseligkeit" ist es denn wohl auch, das Kant in einem gleichzeitigen Zusatz so zu fassen sucht: „Die Glückseligkeit ist nicht etwas Empfundenes, sondern Gedachtes. Es ist auch kein Gedachtes. Es ist auch kein Gedanke, der aus der Erfahrung genommen werden kann, sondern der sie allererst möglich macht" (27833 — 2791). Die Schwierigkeit dieser Formulierungen besteht darin, daß man die Glückseligkeit, zunächst wenigstens und im eigentlichen Sinne, nicht für etwas Gedachtes, einen Gedanken hält (der dann, absurderweise, die Glückseligkeit selbst — als Gedanken oder als Wirklichkeit? — möglich machen soll), sondern für ein Erleben seiner selbst, eine Selbst- und Daseinserfahrung, eine Art Gestimmtsein des Lebens. In seiner bedeutungsvollsten und das Dasein selbst tragenden und tragbar machenden Hinsicht ist Glückseligkeit dann soviel wie das Sich-als-gut-Erleben des Lebens selbst, gewissermaßen das Selbstgefühl des Daseins, wenn es sich im ganzen als gut weiß. Das Leben weiß sich nach Kant aber nur dann als im eigentlichen und unbedingten Sinne gut, wenn es die moralisch-praktische Vernunft zur Leitidee des Selbstverständnisses und der Lebensführung gemacht hat. Diese Vernunftidee enthält damit, daß sie die Idee einer allgemeingültigen, weil vernunftbegründeten Glückseligkeit enthält, den Begriff einer allgemeingültigen, vernünftigen Selbsterfahrung — oder besser: eines vernünftigen Selbsterlebens, weil das Glücklichsein, auch das vernünftige, ein Erleben ist, und zwar nicht gegenständlicher, sondern zuständlicher Art; denn es geht aus dem Leben als ganzem hervor und macht dessen spezifische Färbung aus. Es ist die dem guten Leben eigene Art des durchgängigen seligen Gestimmtseins (um eine moderne existenzphilosophische Weise zu wählen, diesen Sachverhalt auszudrücken), das diese Art des Selbsterlebens des Lebens charakterisiert; denn kein menschliches Leben lebt oberhalb seiner organischen Vorgänge, ohne sich selbst zu erleben; das Leben ist sich seiner Art zu leben im Erleben seiner selbst bewußt. Aber da es sich um ein Bewußtsein handelt, das dem Dasein als ganzem zugehört, läßt es sich als solches nicht gegenständlich bewußt machen. Insofern eignet dem Selbsterleben des Lebens, seinem .Selbstbewußtsein' eine dem reflexen Bewußtsein, das sich dieses allen Vollzügen voraus- und zugrundeliegenden Bewußtseins vergewissern will, eigene Ungreifbarkeit. Hierin liegt auch die der Sprechweise Kants von der Selbstzufriedenheit wesentliche Schwierigkeit: Der Mensch kann sich letztlich keine Kenntnis von der Güte seines Willens verschaffen. Gerade für Kant ist die moralische Qualität des Menschen und seines die eigene Lebensführung begründenden Wollens ein noumenaler Sachverhalt (s. §§11 und 12). In

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seinen Reflexionen kommt Kant anders als an vielen Stellen seiner von ihm publizierten Schriften auf diese Schwierigkeit nicht zu sprechen. Hier machen seine Äußerungen den Eindruck einer gewissen Naivität, die der sonstigen Strenge seiner philosophischen Kritik nicht entspricht und für die auch der anscheinend ungeschützte Gebrauch des, moralisch betrachtet, zweifelhaften Ausdrucks Amoralische) Selbstzufriedenheit' sprechen könnte. Aber daß moralische Selbstzufriedenheit bei Kant nicht in die Nähe moralischer Selbstgefälligkeit gerät, dafür stehen seine Äußerungen über das ,Gefallen', das die Vernunft notwendigerweise an der Moralität hat (wobei ,Moralität' hier in doppeltem Sinn verstanden werden darf, nämlich sowohl als Vernunftforderung wie auch als deren Erfüllung in einem guten Willen): „Damit aber die Moralität über alles und zwar schlechthin gefalle, ist nötig, daß sie nicht aus dem Gesichtspunkte der einzelnen und eigenen Zuträglichkeit, sondern aus einem allgemeinen Gesichtspunkte a priori, d. h. vor der reinen Vernunft, gefalle und zwar, weil sie allgemein zur Glückseligkeit notwendig und derselben auch würdig ist. Gleichwohl vergnügt sie darum doch nicht, weil sie das Empirische der Glückseligkeit nicht verspricht" (27912-18; vgl. Refl. 7260 = XIX 29027-31). Sachliche wie terminologische Klärungen bezüglich der Rede vom ,Gefallen' am Moralgesetz und an der eigenen moralischen Verfassung finden sich vor allem in einer Fußnote Kants im ersten Stück seiner Religionsschrift (RGV B 50-52 = VI 45 Anm. 2). Gewöhnlich aber akzentuiert Kant das dem Moralgesetz, der Vernunft als seinem Ursprung und dem guten Willen als seiner Erfüllung notwendigerweise gezollte vernünftige ,Gefühl' als das der Achtung und nicht des Gefallens (vgl. RGV B 10-12 Anm. = VI 23 Anm. 2 sowie unsere weitergehenden Erörterungen in § 13). Damit verliert Kants Gebrauch des Wortes ,Selbstzufriedenheit' ein wenig von dem Anrüchigen, das es umgibt. Wenn Kant in der vorliegenden Reflexion Nr. 7202 dann noch mehrfach vom „Prinzip der Selbstzufriedenheit" spricht (280 19, 281 29), so ist deutlich, daß er damit das Prinzip meint, dessen Befolgung den Menschen gut macht und dadurch Anlaß und Berechtigung verleiht, sich selbst entsprechend zu schätzen (dazu vgl. noch Refl. 7204, 7237, 7242, 7311 = XIX 28329-31, 2841-3, 292ll-l3, 293 5-9, 3096-11) - wenn denn, so bleibt allerdings hinzuzufügen, eine Einsicht in die eigene Güte dem Menschen überhaupt möglich ist. Daß Kant moralische Selbstzufriedenheit ganz unpharisäisch und frei von falschem Selbstvertrauen versteht, zeigt im übrigen auch seine Ablehnung des Eigendünkels (vgl. Refl. 7312 = XIX 309, bes. Z. 26-29). Aus all dem geht hervor, daß Kants Begriff der Selbstzufriedenheit sachlich weitgehend mit dem der moralischen Glückseligkeit identisch ist, daß Kant den Ausdruck ,Glückseligkeit' hier aber um der Eindeutigkeit seiner antieudämonistischen Position willen meidet und ihn der physischen, aber allgemeingültigen Glückseligkeit vorbehält, d. h. einer Glückseligkeit, deren

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Form moralisch ist. Des weiteren jedoch fällt in die Augen, daß Kant sich der erkenntnistheoretischen Problematik des Begriffs der moralischen Selbstzufriedenheit in seinen Reflexionen (noch) nicht bewußt geworden zu sein scheint und sie erst in seinen späteren moralphilosophischen Werken ausdrücklich bedenkt. Dort ist die Unerkennbarkeit der moralischen Güte eines Menschen und die daraus folgende humane Unmöglichkeit einer seiner moralischen Würdigkeit entsprechenden Befriedigung seiner Glücksansprüche eines der Motive, eine höchste Vernunft zu postulieren, die diese Kenntnis besitzt und ihr entsprechend handelt. Es bleibt somit dabei, daß die Auffassung der Glückseligkeit als physischer für Kants Begriff des höchsten Guts konstitutiv ist, ohne die dessen Antinomie auch unverständlich wäre. Insofern sind Albrechts Stellungnahmen (1974; 1978, z. B. 52 Anm. 181) gegen „immer wiederkehrende" Versuche, Kants „Begriff der Glückseligkeit zu ,entsinnlichen"' (1978, a.a.O.), im Recht. Es sollte aber anerkannt werden, daß Kant auch den Begriff der moralischen Glückseligkeit bildet (vgl. Düsing 1971; 1973; Kambartel/Spaemann 1984b, 339 f.; Winter 1983, 366/367), von ihm allerdings in seinen Druckschriften — wohl aus den angegebenen Gründen — kaum Gebrauch macht. Kants ,mittlerer Weg' zwischen Eudämonismus und asketischem Moralrigorismus beruht auf dem Ernstnehmen der physisch-moralischen Doppelnatur des Menschen. Dieser anthropologischen Grundorientierung entspricht Kants Konzeption des höchsten Guts als dem Endzweck des menschlichen Daseins, in dem das aus der leib-seelischen, sozial-kulturellen Sphäre des Menschen aufsteigende Glücksverlangen mit seiner moralischen Bestimmung als der notwendigen Bedingung der Erfüllung dieses Verlangens verknüpft und versöhnt ist. Dabei erscheint aber die moralische Bestimmung des Menschen insofern noch unterbestimmt, als Kant den Eindruck erweckt, als sei der Mensch um des moralischen Gesetzes willen da, so daß sich seine Bestimmung in der Erfüllung dieses Gesetzes selber erfülle. Dieser Eindruck beruht wohl auch auf der Kant eigentümlichen anthropologischen Sicht des Menschen als (End- und Selbst-)2Vi^ und der dem modernen Menschen allgemein eigentümlichen Frage nach dem Zweck oder Sinn seiner selbst und seines Daseins. Diese Frage und ihre (Kantische) Antwort sind nicht schlechthin falsch, wohl aber sekundär. Sie sind nicht nur Zeichen dafür, daß der Mensch sich fragwürdig geworden ist, daß er, bildlich gesprochen, aus dem Ursprung, in dem er fraglos mit sich selbst im Einklang war, herausgefallen ist, sondern das Vokabular selbst, in dem sie formuliert sind, ist sekundär: Der Frage des Menschen nach dem Zweck seines Daseins liegt das Dasein selbst zugrunde, und entsprechend geht der Anerkennung der Aufforderung, diesem Zweck zu entsprechen, die Bejahung des Daseins selbst begrifflich voraus. Die Ethik im üblichen moralischen Sinne, die die Grundsätze menschlichen Verhaltens für bestimmte Situationen im Leben formuliert und be-

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gründet, bedarf der Vertiefung im Blick auf ihre existentielle Voraussetzung, die Bejahung des Lebens selbst und seiner moralischen Bedeutsamkeit. Nicht als ob Kant diese Sicht fehlte — er gibt ihr beredten, ja von religiösem Enthusiasmus erfüllten Ausdruck (s. § 13). Aber sie wird nicht existenzphilosophisch eingeholt und weder zum moral- noch religionsphilosophischen Ausgangspunkt gemacht.

§ 4. Der Endzweck des Menschen: das höchste Gut als Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit Nach den zu Beginn von § 2 gegebenen terminologischen Vorklärungen zu Kants Begriff des höchsten Guts und nach der Behandlung der in ihm vereinigten Teilbegriffe der Sittlichkeit und der Glückseligkeit anhand der Kantischen Texte in den beiden vorausgehenden Kapiteln ist es nun an der Zeit, den Begriff des höchsten Guts selbst kritisch zu entfalten und seine der Darstellung bei Kant immanente Problematik herauszuarbeiten sowie ihn seiner Funktion als Begründungsinstanz für Kants Postulatenlehre, wenigstens teilweise, zu entkleiden. Dies geschieht am besten im Durchgang durch die einschlägigen Abschnitte der drei Kritiken Kants und seiner Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift, wobei die von ihm durchaus gesehene, aber nicht wirklich behobene Problematik des Begriffs des höchsten Guts besondere Aufmerksamkeit verdient. In dem Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft „Von dem letzten Zwecke des reinen Gebrauchs unserer Vernunft" (B 825 ff. = A 797 ff.) hat Kant diesen Gebrauch als praktischen identifiziert, näherhin als moralischen: „[...] so ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellet" (B 829 = A 801). Alle übrigen theoretischen und praktischen Lebensperspektiven hängen von diesem letzten Zweck ab. Aber worin besteht er? Kant bestimmt ihn inhaltlich näher in dem folgenden Abschnitt mit dem Titel „Von dem Ideal des höchsten Guts, als einem Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft" als das höchste Gut (B 832 ff. = A 804 ff.). Was ist das höchste Gut in Kants Verständnis zur Zeit der Abfassung der ersten Kritik? Das höchste Gut wird hier als „moralische Welt" beschrieben. Kant gibt diesem Ausdruck folgende Bedeutung: Sie ist „die Welt, so fern sie allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre (wie sie es denn, nach der Freiheit der vernünftigen Wesen, sein kann, und, nach den notwendigen Gesetzen der Sittlichkeit, sein soll}" (B 836 = A 808). Diese Welt ist also eine Forderung der reinen Vernunft. Soll diese Forderung aber nicht leer sein, muß vorausgesetzt werden, daß reine Vernunft praktisch sein kann. Nun hat „die Vernunft zwar in Ansehung der Freiheit überhaupt, aber nicht in Ansehung der gesamten Natur Kausalität", d. h. der Mensch kann „zwar freie Handlungen,

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aber nicht Naturgesetze hervorbringen" (B 835 = A 807). Der Mensch ist nicht Schöpfer der Natur und ihrer Gesetze, die Natur setzt seiner Freiheit die Grenze. Damit er aber überhaupt handeln kann, muß er annehmen, daß die Natur ideologisch verfaßt ist, seinen Zwecksetzungen nicht völlig fremd und abweisend gegenübersteht. Kant denkt diese unter den bekannten Naturgesetzen stehende moralische Welt nur ihrer Form nach oder, wie er sich ausdrückt, „bloß als intelligibele Welt", „weil darin von allen Bedingungen (Zwecken) und selbst von allen Hindernissen der Moralität in derselben (Schwäche oder Unlauterkeit der menschlichen Natur) abstrahiert wird. So fern ist sie also eine bloße, aber doch praktische Idee, die wirklich ihren Einfluß auf die Sinnenwelt haben kann und soll", nämlich mittels des moralisch formierten Handlungsvermögens des Menschen (B 836 = A 808). Kants Äußerung erweckt den Anschein, als ob sich die Kennzeichnung der moralischen Welt als intelligibel lediglich dem beschriebenen Abstraktionsvorgang verdanke. Doch der entscheidende Gesichtspunkt, sie ,intelligibel' (oder ,noumenal') zu nennen, besteht in ihrer moralischen Verfassung, und diese erstreckt sich nicht nur auf den Handlungsaspekt — den Vollzug von dem Moralgesetz konformen Handlungen sowie deren ihm konforme Ergebnisse und Folgen (zu diesen Termini vgl. von Wright 1963, 39 — 42; 1971, 66) —, sondern auch auf den Gesinnungsaspekt, bei dem es um die subjektiven Grundsätze des Handelns — von Kant ,Maximen' genannt (KrV B 840 = A 812; CMS B 15 Anm., 51 Anm. = IV 400 Anm., 420 Anm.; KpV A 35 = V 19; MS R A 25 = VI 225 2 f.) bzw. um den obersten persönlichen Handlungs- und Entscheidungsgrundsatz geht. Diese Seite der Freiheit nun gehört ausschließlich dem intelligiblen oder noumenalen Bereich an. Die Idee einer moralischen Welt ist der Inbegriff einer Welt, in der alle Menschen die Forderungen der Sittlichkeit zu realisieren suchen. Im Hinblick auf sie charakterisiert Kant die moralische Welt als „ein corpus mysticum der vernünftigen Wesen [...], so fern deren freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat" (KrV B 836 = A 808). Diese Charakterisierung weist Analogien auf zu Kants von Rousseau inspirierter Bestimmung der rechtlich legitimen Handlung, „nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann" (M S R A 33 = VI 230). In sachlich engerer Beziehung steht sie zur moralischen Idee eines Reichs der Zwecke, wie sie in der entsprechenden Formel des Kategorischen Imperativs zum Ausdruck kommt (vgl. GMS B 74, 77, 83 f. = IV 433, 434 f., 438 f.), und zur moralischen Forderung der Konstitution eines ethischen Gemeinwesens, wie sie im dritten Stück der Religionsschrift erhoben wird (dazu vgl. § 21). Vor allem der Begriff des ethischen Gemeinwesens vermag den in der ersten Kritik nicht explizierten Begriff des corpus mysticum näher zu erläutern.

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Es fragt sich, wie sich diese Bestimmung des höchsten Guts im Sinne eines ethischen Gemeinwesens (eines corpus mysticum), die Kant in der Kritik der reinen Vernunft, in der Grundlegung und in der Religionsschrift entwickelt, sich zu seiner eben, in § 3, dargelegten Bestimmung des höchsten Guts im Sinne einer Vereinigung von Sittlichkeit und Glückseligkeit verhält, die er vor allem in der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft entwickelt. Am angemessensten erscheint mir, diese Bestimmungen so aufeinander bezogen zu denken, daß die sich zu einem universalen ethischen Gemeinwesen vereinigende Menschheit neben dem personalen vor allem den gesellschaftlichen Aspekt (das .Reich der Zwecke' als das ,Volk Gottes'; s. die Überschrift zu Teil II), die durchgängige Vereinigung von Sittlichkeit und Glückseligkeit den sinnlich-welthaften Aspekt des höchsten Guts betrifft (die ,moralische' als die ,beste Welt', als das ,Reich Gottes'; s. die Überschrift zu Teil I). In der Vereinigung beider Aspekte wird das höchste Gut als ein moralisches Ganzes begriffen, als „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft" (KpV A 194 = V 108 11 f.). In der Kritik der reinen Vernunft ist zwischen diesen Aspekten noch nicht differenziert, wie die angeführten Äußerungen Kants zeigen: Das höchste Gut wird sowohl als moralische Welt wie als sittlich geeinte Menschheit gesehen. Die Differenzierung bedeutet aber nicht nur eine Bereicherung im Verständnis des Begriffs des höchsten Guts, sondern hat auch Auswirkungen auf den moralischen Glauben an Gott: In bezug auf das Konzept des höchsten Guts als die moralische Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit wird Gott als der geglaubt, ohne den diese Einheit nicht realisiert werden kann, in bezug auf das Konzept des höchsten Guts als der moralischen Vereinigung aller Menschen wird er als der geglaubt, ohne dessen Befreiung der Menschen aus den von ihnen selbst geschaffenen Fesseln ihrer moralischen Bosheit eine solche Vereinigung unmöglich ist. — Fahren wir in der Auslegung dessen fort, was Kant in der Kritik der reinen Vernunft zur Idee einer ethischen Gemeinschaft als eines corpus mysticum äußert! Der Begriff des corpus (Christi) mysticum wurde von Augustinus im Anschluß an die paulinischen Leib-Christi-Aussagen in die christliche Theologie eingeführt. Er soll die besondere Existenzform der unsichtbaren Kirche aller an Christus Glaubenden und mit ihm in ,mystischem', d. h. vor allem: sakramentalem Austausch Stehenden zum Ausdruck bringen. Kant löst diesen Begriff aus seinem engeren dogmatischen Kontext, läßt ihn aber Ähnliches bedeuten, nämlich die Idee einer moralisch geeinten Menschheit, die der religiösen, ja kirchlichen Dimension nicht entbehren muß, wie sich später zeigen wird (s. § 22). Entwickelt man den Begriff der moralischen Welt als einer ethischen Gemeinschaft von Vernunftwesen, „deren freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat" (KrV B 836 = A 808), dann begreift man

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diese Welt zugleich als ein „System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit [...], weil die durch sittliche Gesetze teils bewegte, teils restringierte Freiheit selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Prinzipien, Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt sein würden" (B 837 = A 809). Dies ist deshalb der Fall, weil jedes in jener Welt in Gemeinschaft mit anderen lebende Vernunftwesen als der Voraussetzung nach moralisches Wesen seine eigenen Glücksansprüche auf die Bedingung ihrer Vereinbarkeit mit den Ansprüchen aller anderen eingeschränkt hat und als ein solches moralisch vollkommenes Wesen sowohl die eigenen wie die aller anderen derart eingeschränkten Ansprüche in Kooperation mit allen anderen ohne Parteilichkeit und mit dem vollen Maß seines Vermögens zu befriedigen bestrebt ist. In einer solchen moralisch vollkommenen Welt gibt es für die Individuen keinen Abstand zwischen Glück und Glücksverlangen, da alles Verlangen zurück- und in Harmonie gebracht ist mit den in bezug auf jedes andere Individuum gerechtfertigten Glücksansprüchen und ihrer Stillung. Wie ein solches moralisches System allseitig befriedigter Bedürfnisse verwirklicht werden kann, ob es nicht unter anderem ein übermenschliches Wissen über die Vereinbarkeit von Ansprüchen und die Möglichkeiten ihrer Erfüllung voraussetzt, darüber spricht Kant nicht. Aber dieses Problem tangiert sein Konzept einer moralischen Welt selbst, sofern sie notwendiger Vernunftzweck des Menschen ist. Kant nimmt die Möglichkeit ihrer Verwirklichung an einer anderen Stelle zurück, nämlich dort, wo die Erfahrung mit sich selbst und mit anderen Menschen darüber belehrt, daß man dem Moralgesetz nur unvollkommen Folge leistet. Damit ist das Verhältnis von Sittlichkeit und Glückseligkeit gestört, jedenfalls dann, wenn man Sittlichkeit unter anderem als „Würdigkeit, glücklich zu sein", versteht (B 834, 838, 841 = A 806, 810, 813), und Glück bzw. Glückseligkeit durchweg im empirischen Sinne auffaßt, wie Kant dies nachgewiesenermaßen (s. § 2) tut. Aber Kants Darlegungen zum Begriff der moralischen Welt haben auch noch eine andere Seite. Insofern jeder in ihr Lebende sein natürliches Glücksverlangen auf die Möglichkeit der Sättigung des Verlangens aller anderen beschränkt und diese Beschränkung nicht als von außen auferlegt, sondern als von seiner moralischen Vernunft und Freiheit selbst ergriffen in seine Gesinnung aufnimmt, sorgt er zugleich für die innere Angleichung seiner naturhaften Glücksstrebungen an die Forderungen der moralischen Vernunft. Aber läßt sich annehmen, daß zumindest bei einem moralisch vollkommenen Wesen die Umwandlung von Strebungen der ersten, wildwüchsigen Natur in solche einer zweiten, moralischen Natur immer gelingt? Und dürfte Glückseligkeit als die „völlige Zufriedenheit mit seinem Zustande" (MST A 169 = VI 480 25), als die „ganze Befriedigung" all seiner Bedürfnisse und Neigungen (GMS B 23 = IV 405 8) vom Gelingen dieser Harmonisierung

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abhängig sein? Denn dann könnte es der Fall sein, daß jemand moralisch vollkommen in einer moralisch vollkommenen Welt lebte und trotzdem der vollen Glückseligkeit ermangelte. Diese Fragen mögen als erste Hinweise darauf genommen werden, daß der Begriff des höchsten Guts differenzierter gefaßt werden muß, als es Kant durchgängig tut, um derartiger Probleme Herr werden zu können. Kant behauptet ferner, es sei denknotwendig, daß sich in einer moralischen Welt die physische Glückseligkeit aller in ihr Lebenden von ihnen selbst herstellen lasse. Einsichtig ist diese Behauptung aber nur, wenn man davon ausgeht, daß das kooperativ faktisch erreichbare Maß solcher Glückseligkeit auch das moralisch allein legitimierte ist. Diese Voraussetzung darf als gerechtfertigt gelten: Ultra posse nemo obligatur. Das bedeutet dann aber, daß kein Fall denkbar ist, daß gerechtfertigte Glücksbedürfnisse in jener Welt ungestillt bleiben, was aber lediglich besagt, daß jeder seine Bedürfnisse stets auf die Bedingungen ihrer Erfüllbarkeit einschränkt bzw. immer schon eingeschränkt hat. Der Begriff der moralischen Welt ist von Kant somit offenbar so gefaßt, daß in ihr Sittlichkeit und Glückseligkeit gar nicht auseinanderfallen können, Glückseligkeit in bezug auf diese Welt überhaupt keine quantitative Größe darstellt, kein Mehr oder Weniger zuläßt, weil sie zwar material identisch ist mit Art und Ausmaß physischen und psychischen Wohlergehens, das sich in jener Welt faktisch realisieren läßt, formal jedoch davon unabhängig ist. Der theoretisch denkbare Graben zwischen naturwüchsigem und moralisch geleitetem Glücksverlangen existiert für die Bewohner jener Welt nicht (mehr). Sie leben in vollkommenem Einverständnis mit sich und ihrer Welt und bedürfen, da sie selber Urheber dieser vollkommenen Welt sind, keines Schöpfers oder Garanten der moralischen Ordnung in ihr, z. B. in bezug auf einen etwaigen Ausgleich von Sittlichkeit und Glückseligkeit. Das bedeutet auch, daß physische und moralische Glückseligkeit stets zusammen realisiert sind, interindividuell nicht auseinanderfallen. Anders aber verhält es sich nach Kant mit der tatsächlich bestehenden Welt, in der wir leben. In dieser moralisch unvollkommenen Welt ist die Bedingung nicht erfüllt, „daß jedermann tue, was er soll, d. i. alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich, oder unter sich befaßt, entsprängen" (KrV B 838 = A 810). Hier sind Sittlichkeit und Wohlergehen, moralische und physische Glückseligkeit nicht durch Verhalten und Gesinnung der Menschen systematisch-notwendig miteinander verknüpft. Damit diese moralisch notwendige Verknüpfung trotzdem Wirklichkeit werde bzw. die Notwendigkeit, sie zu denken, keinen Widerspruch enthalte und sich so selbst vernichte, bedarf es (des Postulats) einer allgütigen und allmächtigen Vernunft. Die Idee einer solchen Vernunft nennt Kant „das Ideal des höchsten Guts" und bezeichnet diese Vernunft, insofern sie sowohl Gesetzgeber wie Urheber einer noch herzustellenden moralischen Welt ist, als ,höchstes ursprüngliches Gut' und die von

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ihm zu schaffende Welt als ,höchstes abgeleitetes Gut' (B 838/839 = A 810/ 811). Weil faktisch bestehende und moralische Welt nicht identisch sind, die moralische Welt noch nicht besteht, obwohl sie moralisch notwendig ist, müssen wir sie „als eine für uns künftige Welt annehmen", was unsere Existenz über den Tod hinaus bedeutet. „Gott also, und ein künftiges Leben, sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen" (B 839 = A 811). Aber der Begriff des höchsten Guts als der Vereinigung von Sittlichkeit und Glückseligkeit bzw. der (zukünftigen) moralischen Welt erscheint in der Kritik der praktischen Vernunft widerspruchsvoll: Mit ihm — so meint Kant — gerate die Vernunft in eine Antinomie, eine Dialektik, einen Widerstreit mit sich selbst, der ihre Kritik erforderlich mache (vgl. A 193 = V 107). Diese Kritik bezieht sich aber nun nicht mehr auf die irreführenden Prätentionen der empirisch-praktischen Vernunft, denen sich das erste Buch, die Analytik, widmete, sondern auf die reine praktische Vernunft, die — entgegen anderslautenden früheren Versicherungen Kants (A 3, 30 = V 3 8, 15/16) — überraschenderweise nun doch, wie schon die reine theoretische Vernunft, eine Dialektik aufweist und daher der Kritik bedarf. Kants Äußerungen zu dieser angeblichen Dialektik geben jedoch kein ganz einheitliches und stringentes Bild ab. Einerseits glaubt er sie darin zu sehen, daß angesichts der Ungleichartigkeit von Sittlichkeit und Glückseligkeit im Begriff des höchsten Guts die Frage auftaucht, wie dieses praktisch möglich sei, worauf nur eine transzendentale Deduktion dieses Begriffs antworten könne (vgl. A 202 f. = V 112/113); andererseits scheint er die Dialektik letztlich in dem Widerspruch zwischen der unbedingten sittlichen Forderung an den Menschen, das höchste Gut zu realisieren, und seiner Unfähigkeit dazu zu sehen (vgl. A 204 ff. = V 113 ff.). Doch an dieser Stelle bestehen weitere Unklarheiten; denn wenn man Kants eigene Formulierung der angeblichen Antinomie näher betrachtet, so entdeckt man, daß sie gar keine Antinomie darstellt. Bei der nun folgenden kritischen Analyse kann ich mich auf die umsichtig erarbeiteten Ergebnisse von Albrechts Studie Kants Antinomie der praktischen Vernunft stützen (1978, 184 ff.). Kants Fassung der Antinomie lautet: „Es muß also entweder die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend, oder die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein" (A 204 = V 113). Bezeichnet man mit Blick auf die Antinomienlehre der Kritik der reinen Vernunft die erste Hälfte des Satzes als /Thesis' und die zweite Hälfte als .Antithesis', so fällt erstens auf, daß sich im Unterschied zu den beiden Seiten der entsprechenden Antinomien in der ersten Kritik die beiden Behauptungen der angeblichen Antinomie der zweiten Kritik einander gar nicht widersprechen: „Während in der ,Thesis' von ,Begierde nach Glückseligkeit' die Rede ist, spricht die Antithesis' von der ,Glückseligkeit'; hier eine ,Begierde nach Glückseligkeit' hineinzuinter-

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pretieren, ist unmöglich: Tugend soll Glückseligkeit, nicht etwa eine Begierde nach Glückseligkeit verursachen. Ferner läßt die Tugend als ,wirkende Ursache der Glückseligkeit' noch andere Ursachen zu (Tugend ist nur die conditio sine qua non), während in der Thesis die Glückseligkeit als ,Bewegursache' die conditio per quam ,zu Maximen der Tugend' darstellt. Der Begriff der Ursache ist also in beiden Sätzen nicht identisch" (Albrecht, a.a.O. 184). Als ^weites fällt auf, daß, entgegen den Anforderungen Kants an eine Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft, Thesis und Antithesis nicht je für sich „eben so gültige und notwendige Gründe der Behauptung" auf ihrer Seite haben (KrV B 449 = A 421); sie sind Aussagen „von ganz unterschiedlicher Dignität" (Albrecht, a.a.O. 186): Die Thesis ist „schlechterdingsfalsch", die Antithesis jedoch „nur bedingter Weise" (KpV A 206 = V 114); denn die Thesis hat überhaupt nicht Sittlichkeit als das Unbedingte der reinen praktischen Vernunft im Auge, sondern kehrt das Verhältnis von Sittlichkeit und Sinnlichkeit gerade um, indem sie Moralität von Glückseligkeit abhängig macht und dadurch Moral zur Unmoral pervertiert. Nur die Antithesis beinhaltet ein moralisches Verhältnis zur Glückseligkeit, insofern sie an der Sittlichkeit oder Tugend als dem bonum supremum, als der obersten Bedingung für die ihr angemessene Glückseligkeit festhält (KpV A 198 = V 110). Die Ergebnisse seiner Analyse des sachlichen Gehalts der Kantischen Titel „Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut" (KpV ebd.) und „Die Antinomie der [reinen!] praktischen Vernunft" (KpV A 204 = V 113) zusammenfassend schreibt Albrecht, dem ich mich auch hier zustimmend anschließe: „So liegt denn auch die Dialektik, die ebenfalls im wesentlichen nur in den Überschriften angekündigt und nicht im Text verdeutlicht wird, nicht im Verhältnis zwischen Thesis und Antithesis, sondern allein in der Antithesis. Immerhin läßt sich hier das Sachproblem der Dialektik, wie es in der Kritik der reinen Vernunft verstanden wird, ziemlich eindeutig festmachen: Die Antithesis ist eine notwendige [...] Aussage über die Wirklichkeit; sie überschreitet dabei aber die Grenzen möglicher Erfahrung. Dies macht insbesondere die der Antithesis gegenübergestellte Aussage deutlich, die in etwa in einer Parallele zur Reihe der Antithesen in der Kritik der reinen Vernunft steht. Auch wenn man sich nicht auf den Wortlaut des ,Antinomie'-Abschnitts stützen kann, darf man also behaupten, daß die ,Antithesis' ein Dialektischer Schluß' ist. Da dies an keiner anderen Stelle der Kritik der praktischen Vernunft mit ähnlicher Deutlichkeit gezeigt wird, kann man hierin die eigentliche Bedeutung dieses Abschnitts sehen. Zwar gilt nicht nur für den Begriff der Antinomie, sondern auch für den der Dialektik, daß er nur hier und sonst weder früher noch später von Kant auf die Problematik des höchsten Gutes, mit der sich Kant sein Leben lang auseinandersetzte, angewendet wird; der Verdacht, die Anwendung der Begriffe sei hier konstruiert, trifft also zunächst beide Begriffe gleichermaßen. Während aber die

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aufgestellte ,Antinomie' den Maßstäben, die Kant zufolge anzulegen sind, bei weitem nicht genügt, ist die Dialektik sachlich begründet. Will man ein jarchitektonisches* Streben (im Sinne Schopenhauers) annehmen, so hätte es insoweit zu bemerkenswerten, gerade auf so etwas wie Wirklichkeitsnähe hinauslaufenden Konsequenzen geführt" (186/187). Albrecht stößt hier wie schon früher in seiner Studie (vgl. vor allem 167 — 183) auf die seines Erachtens schwer zu beantwortende Frage, „warum es die reine praktische Vernunft ist, die hier unbedingte Totalität sucht und damit in eine Dialektik führt. An Kants Festlegungen in diesem Punkt gibt es zwar nichts zu deuteln, sie liefern jedoch keine Begründung — außer der einen, daß die reine praktische Vernunft eben reine Vernunft sei. Kant war anscheinend so sehr vom ,dialektischen' Charakter der Vernunft überzeugt, daß er auch ohne detaillierte Begründung glaubte auskommen zu können" (ebd. 187). Um Verständnis für Kants Position zu gewinnen, wäre auf seine hier (in § 1) ausgebreitete Auffassung von dem letztlich nut praktischen Zweck der menschlichen Vernunft, der seinen Bestimmungsgrund im Ideal des höchsten Guts hat, zurückzugehen (vgl. KrV B 825 ff. = A 797 ff.; KpV A 215 ff. = V 119 ff.; KU B 388 ff. = V 429 ff.). In der Verwirklichung sowohl der sinnlich-welthaften als auch der personal-gesellschaftlichen Seite des höchsten Guts sieht der Mensch die seinem Wesen angemessene Erfüllung, die Realisierung des Endzwecks seines Daseins. In dieser hier nur mehr anzudeutenden existenzphilosophischen Grundauffassung Kants ist die Begründung für das Streben der in solch letztem Bezug immer nur praktischen, weil auf das Dasein des Menschen im ganzen gehenden Vernunft auf „unbedingte Totalität" (KpV K 194 = V 107 11) zu sehen. Dieses Streben führt in eine Dialektik, weil dem Menschen die Verwirklichung seines Endzwecks nicht möglich ist, er aber nicht unterlassen kann, ihn zu erstreben und zu erhoffen, weil er für ihn den umfassenden Sinnhorizont seines Daseins abgibt. Diese Dialektik wird nur durch die Annahme der Existenz eines allmächtigen und allwissenden moralischen Vernunftwesens aufgelöst. Die eigentliche Aufhebung der in der ,Antithesis' angelegten Antinomie geschieht denn auch erst mit der Aufstellung des Postulats des Daseins Gottes (KpV A 223 ff. = V 124 ff.). Ein weiterer Unterschied zu Kants Behandlung der Antinomien der reinen theoretischen Vernunft in der ersten Kritik und seiner Behandlung der Antinomie der reinen praktischen Vernunft in der zweiten Kritik besteht darin — worauf Albrecht ebenfalls zurecht aufmerksam macht (a.a.O. 188 Anm. 623) —, „daß die Suche der reinen praktischen Vernunft nach unbedingter Totalität ,unter dem Namen des höchsten Gutes' in einer Welt der Naturgesetzlichkeit (von der die Glückseligkeit abhängig ist) nicht von vornherein irrig oder zumindest der ,kritischen' Einschränkung bedürftig ist [...]: Mag es auch unmöglich sein, Tugend oder die ihr proportionierte Glückseligkeit zu erkennen, so ist es doch möglich, daß es das höchste Gut schon in

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dieser Welt gibt [...] — wenn es Gott gibt. Die Frage nach einer unbedingten Totalität, die zu einem wesentlichen Teil von der Natur abhängt, wird nicht damit beantwortet, daß sie falsch gestellt sei [...] oder daß der naturabhängige Teil eliminiert werden müsse; sie mündet vielmehr in eine Annahme, die die Bedingung der Möglichkeit einer solchen Totalität darstellt: Gott als intelligibeler Urheber der Natur". Die Aufhebung der Antinomie der reinen praktischen Vernunft hat also nicht den Sinn, diese Vernunft, ihr Gesetz und die unbedingte Totalität ihres Gegenstandes in Frage zu stellen, sondern sie demonstriert die unbedingte Überlegenheit der reinen praktischen über die theoretische und spekulative Vernunft. „Gerade in der ,Dialektik' der Kritik der praktischen Vernunft findet so, obwohl hier eine , Antinomie der praktischen Vernunft' aufgestellt wird, Kants immer wieder ausgesprochene Absicht, im praktischen Vernunftgebrauch den Halt zu finden, den die reine Vernunft im theoretischen bzw. spekulativen Gebrauch nicht hat, einen besonders klaren Ausdruck. Die reine praktische Vernunft (und darum würde man Kants Intentionen völlig mißachten, schriebe man hier die Suche nach dem Unbedingten wieder dem theoretischen Vernunftgebrauch zu) gibt Vernunftgründe für den Glauben an" (ebd. 189). Es sind somit Gründe der praktischen Vernunft. Daß Kant, um dies und damit den Unterschied zwischen Wissen und Glauben so deutlich wie möglich zu machen, die Superiorität der praktischen Vernunft auf eine Weise demonstriert, die im Gegenteil ihre Defizienz anzuzeigen scheint — daß sie sich nämlich (entgegen seinen ursprünglichen Beteuerungen) in eine Dialektik verwickle — mag, wie Albrecht vermutet, darin begründet sein, daß grundlegende Überzeugungen Kants sich für ihn nur auf diese Weise verwirklichen konnten, „wenn auch nicht immer auf geglückte Weise" (ebd.). Nicht nur, daß Albrecht die fundamentale und zentrale Bedeutung des Begriffs des höchsten Guts für Kants gesamte kritische Philosophie mit ihrer Behauptung der Priorität und Superiorität der praktischen Vernunft und der daraus resultierenden moral-, religions- und schlechthin existenzphilosophischen Dynamik unterstreicht und die diesbezüglich bis in die jüngste Zeit herrschende Ignoranz der Kantforschung tadelt (a.a.O. 43 — 49); Albrecht weist darüber hinaus mit Nachdruck auf den auch von uns betonten und verteidigten, in der Kantrezeption jedoch seit Fichte, Schleiermacher und Schopenhauer meist als eudämonistische Inkonsequenz zurückgewiesenen phänomenal-sinnlichen Charakter der Glückseligkeit in Kants Konzeption des höchsten Guts hin. So beschließt er seine gewichtige Arbeit mit folgenden Sätzen: „Nicht nur im Blick auf die Sekundärliteratur zu diesem Thema dürfte Kants ,Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut' (A 198) gegenüber allen Versuchen einer endgültigen Trennung von Tugend und Glückseligkeit oder einer Nivellierung der Unterschiede ihre Bedeutung behalten. Sie versucht nämlich, die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit zu denken, ohne eine der beiden Seiten zu verkürzen.

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Manche Schwierigkeit in den Ausführungen Kants rührt gerade daher, daß einerseits die Tugend nicht in Hinsicht auf ihre Folgen relativiert wird, sondern daß der unbedingte Vorrang des Moralgesetzes gewahrt wird, und daß andererseits die Glückseligkeit nicht ihres empirischen Charakters entkleidet wird, um sie leichter mit der Tugend verbinden zu können, sondern daß gerade die Naturunabhängigkeit der Glückseligkeit betont wird. Kants Versuch, die Distanz zwischen Tugend und Glückseligkeit gerade in der Verbindung beider Begriffe zu bewahren, könnte trotz der Kritik, die der Wolffianismus, der Idealismus, der Neukantianismus und der Utilitarismus an ihm unter verschiedenen Aspekten übten, ein bleibendes Ergebnis darstellen, dessen Fruchtbarkeit sich vielleicht gerade darin zeigt, daß immer wieder an ihm Anstoß genommen wurde und wird. Gegenüber manchen alten und neuen Versuchen, es sich mit der Sittlichkeit und mit der Glückseligkeit des Menschen leicht zu machen, könnte er sich als Maßstab bewähren" (189). Erst seit etwa dreißig Jahren, angestoßen durch die Arbeiten Silbers (1956; 1959a, 1959b; 1959c; 1960; 1962-1963; 1965) und den Kommentar zur Kritik der praktischen Vernunft von Beck (1960) sind, wie in der Einleitung erwähnt, ein größeres Interesse und ein tieferes Verständnis für Kants Konzeption des höchsten Guts zu bemerken. Während Silber weitgehend als Verteidiger des Standpunkts Kants auftritt, daß das höchste Gut ein notwendiger Gegenstand der reinen praktischen Vernunft sei, steht Beck ihm kritisch gegenüber. Er meint, daß keine der Formulierungen des Kategorischen Imperativs bei Kant das höchste Gut zu ihrem Inhalt habe (a. a. O. 244). Er übersieht dabei jedoch, daß schon die Reich-der-Zwecke-Formel diesen Inhalt angibt. Allerdings sind die Worte ,Gegenstand' (oder ,Objekt') und ,Inhalt' (oder ,Materie') hier nicht im üblichen Sinne zu verstehen, der mit der wesentlichen Formalität des Sittengesetzes unvereinbar wäre; stellt das höchste Gut doch keinen einzelnen Gegenstand, keinen partikulären Inhalt dar, sondern eine „unbedingte Totalität" (KpV A 194 = V 108 11), in der Form und Materie „zu einem möglichen Reiche der Zwecke, als einem Reiche der Natur, zusammenstimmen sollen" (GMS B 80 = IV 43624-26). Weder darf Kants Rede von der Form als alleinigem Bestimmungsgrund des Sittengesetzes formalistisch noch seine Rede von dem notwendigen Gegenstand der reinen praktischen Vernunft als seiner Formalität widersprechend mißverstanden werden. Daß dieser Gegenstand eine unbedingte Totalität darstelle, heißt doch, daß er nicht von der Art jener Gegenstände ist, die den Inhalt einzelner Maximen ausmachen, der von der Kontingenz der Situationsgegebenheiten abhängt, sondern von einer sie grundsätzlich übergreifenden und damit das menschliche Dasein und Wirken umfassenden Art, die dem Leben im ganzen unbedingten Sinn, weil unbedingte Erfüllung verleiht, wie auch immer dieses Leben im einzelnen aussehen mag. Deshalb hat Beck recht — allerdings in einem anderen Sinne, als er meint —, wenn er schreibt, daß der Auftrag der

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Vernunft, das höchste Gut zu befördern, nicht besteht „as a separate command, independent of the categorical imperative", unrecht aber, wenn er fortfahrt, der Kategorische Imperativ sei „developed without this concept [of the highest good]" (a. a. O. 244). Auf sicherem Boden bewegt sich Beck allerdings wieder mit seiner Unterscheidung zwischen der moralischen Forderung, das höchste Gut nach Kräften zu befordern, und dem (nicht moralisch geforderten) Ideal, es zu verwirklichen, und von letzterem sagt, dies könne nicht mehr menschliche, sondern nur noch göttliche Aufgabe sein, und daraus folgert, daß das Postulat der Existenz Gottes insofern moralisch grundlos sei, als es keine notwendige Bedingung (der Befolgung und Erfüllung) des moralischen Gebots der (im Rahmen des Menschenmöglichen liegenden) Beförderung des höchsten Guts artikuliere, sondern lediglich eine solche seiner (die Kräfte des Menschen übersteigenden) Verwirklichung, die natürlich nicht moralisch geboten sein könne (ebd. 253 f.; zur Kritik Silbers an Beck in diesem Punkt vgl. die Gegenkritiken von Murphy 1965 — 1966 und Albrecht 1978, 156-159). Indem Kant selbst nicht einfachhin von der Notwendigkeit der Realisierung oder Realität des höchsten Guts spricht, sondern durchweg von der Notwendigkeit seiner Beförderung (vgl. KpV A 205, 225 f., 235, 257, 259 Anm., 262 = V 1142, 125 4 f., 25, 1262, 13024, 14221, 1436, 144 33 f., 14534), stellt er eine Möglichkeit zur Verfügung — ohne sie allerdings selbst zu nutzen —, die Antinomie von Notwendigkeit und Unmöglichkeit des höchsten Guts zu unterlaufen. Dieser Ausweg bedeutet eine Entkoppelung von moralischer Forderung und theologischem Postulat: Das moralische Gebot der Beförderung des höchsten Guts schließt den Gedanken an einen diese Beförderung ermöglichenden göttlichen Urheber aus, weil allein der Mensch in seiner Freiheit der Adressat dieses Gebots sein kann; dort aber, wo das Postulat greift, nämlich in bezug auf das Ideal der Verwirklichung des höchsten Guts, kann es sich nicht mehr um eine an den Menschen gerichtete moralische Forderung handeln. Das bedeutet aber nicht, daß dieses Ideal unbegründet wäre. Es hat seinen Grund in der sich auf das Leben im ganzen beziehenden unbedingten praktischen Vernunft, die Sinn und Zweck dieses Lebens — gerade auch in seiner moralisch-normativen Perspektive — nicht ohne die Verwirklichung des höchsten Guts als erfüllt begreifen kann. Insofern ist das höchste Gut Gegenstand einer unaufgebbaren Hoffnung, die sich auf den Glauben an Gottes Dasein stützt, um nicht bodenlos zu sein. Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch zu bedenken — worauf Kant aber erst in der Religionsschrift hinweist (vgl. RGV B 135 f. = VI 97/ 98; dazu s. § 21) — , daß die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts nicht nur die Pflicht jedes einzelnen Menschen ist, sondern die Pflicht der Menschheit insgesamt, als Kollektiv, so daß die Beförderung des höchsten Guts die Konstituierung eines ethischen Gemeinwesens, eines „Reichs der Zwecke", erforderlich macht. Das Ideal eines solchen „Reichs Gottes auf Erden" verliert

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nicht schon dadurch seinen Verpflichtungscharakter, daß sich einzelne Menschen dieser Aufgabe entziehen. Ein jeder bleibt verpflichtet, auch unter den Umständen der ,Verzögerung' oder des ,Ausbleibens* der ,Parusiec der ,Gottesherrschaft' — um den Sachverhalt einmal in der Sprache der neutestamentlichen Theologie auszudrücken —, an ihrer ,Herbeikunft' zu arbeiten, soweit es in seinen Kräften steht und die Umstände es erlauben. In bezug auf das, was die Pflicht eines jeden einzelnen ist, bedarf es somit noch keines Rekurses auf eine höhere Macht, die die Ohnmacht des moralisch guten Menschen kompensiert und seine guten Absichten, soweit sie in Harmonie mit dem Ganzen einer (möglichen) moralischen Welt stehen, zum Erfolg führt. Oder greifen hier andere Überlegungen moralischer Art, etwa Gerechtigkeitserwägungen, die gebieterisch einen Ausgleich zwischen den erlittenen Verlusten der moralisch Guten an ihnen zustehenden Glückserfahrungen und den ungerechtfertigten Gewinnen der moralisch Bösen verlangen? Muß nicht Kants Übersetzung von ,Moralität' als ,die Würdigkeit, glücklich zu sein' in diesem Sinne gelesen werden? Aber bedeutet diese Lesart schon zwingend, daß es eine Macht geben muß, die jenen Ausgleich schafft, ohne deren Annahme das Moralgesetz selber zu einer ,Chimäre', zu einem ,Hirngespinst' wird (vgl. GMS B 17, 95 = IV 402 13, 4456; KpV A 89, 274 = V 51 I9f., 154 14), das heißt, daß es keine objektive Geltung mehr hat? Oder ist es nicht vielmehr so, daß das höchste Gut zwar Inbegriff der Materie des Moralgesetzes ist, daß aber die faktische Unmöglichkeit seiner Realisierung — die ja immer nur für den Augenblick konstatiert werden kann und keine Voraussagen für die Zukunft erlaubt — in Geduld, Ausdauer, Hoffnung ausgehalten werden muß (vgl. Schaeffler 1983, 84, 226) und daß dies gerade eine moralische Grundforderung darstellt? Kants Alternative — entweder gibt es eine höhere Macht oder das Moralgesetz und mit ihm das moralische Leben sind sinnlos — erscheint auf diesem Hintergrund als Ausdruck moralischer Verzweiflung (vgl. Wood 1970, 159 f.). Diese Verzweiflung kann die Konsequenz moralischen und politischen Terrors zeitigen, wenn man die Forderung des Moralgesetzes, das höchste Gut zu befördern, nicht in erster Linie als an sich selbst gerichtet ansieht, sondern als Forderung an die anderen Menschen (vgl. Kambartel/Spaemann 1984a; Lübbe 1977; von Weizsäcker 1977, 116-121). Moralisch legitime Verzweiflung findet sich nicht dort, wo der moralisch sich verstehende Mensch die Realisierung des ,Reichs Gottes auf Erden' an der Unmoralität seiner Mitmenschen scheitern sieht, sondern wo er sieb selbst als in Wirklichkeit unmoralisch erfährt, die prätendierte moralische Integrität als Hybris, als Selbsttäuschung, als pharisäerhaften Dünkel wahrzunehmen lernt. Die gleichzeitige Erfahrung der unbezweifelbaren Wahrheit des Moralgesetzes und der unbezweifelbaren Unwahrheit der eigenen Existenz — eine paradoxe Erfahrung (vgl. §§14 und 23) — ist der wahre Ort einer Religiosität, die nicht mehr ideologisch in der Funktion einer Stütze für die objektive Geltung des moralischen Gesetzes erscheint. Ohne seine Ursprung-

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liehe Auffassung aufzugeben, hat Kant später diese Wurzel moralischer Religion deutlicher gesehen, wie das erste und zweite Stück seiner Religionsschrift zeigen, womit er an die zentrale menschliche und christliche Erfahrung (Paulus, Luther) von der selbstverschuldeten moralischen Unfreiheit und damit Unfähigkeit des Menschen zum Guten anknüpft, auf die Leben und Verkündigung Jesu eine Antwort ist, insofern hier die Möglichkeit einer neuen Freiheit zum Guten, die jenseits der eigenen Bosheit liegende Möglichkeit einer „Revolution in der Gesinnung", einer „Änderung des Herzens" (RGV B 54 = VI 47 24, 28) zutage tritt — einer Möglichkeit, die nicht dem durch eigenes Verschulden unfrei gewordenen Vermögen des Menschen entstammen kann (s. § 14; vgl. von Weizsäcker 1977, 484 — 487 u. ö.; dazu Wimmer 1988). In der Kritik der praktischen Vernunft ist jedoch von der nur durch Gott möglichen Erneuerung der ursprünglichen Freiheit des Menschen noch nicht die Rede. Vielmehr dienen die Einführung des Begriffs Gottes und das Postulat seiner Existenz hier dazu, die Synthesis von Sittlichkeit und Glückseligkeit im Begriff des höchsten Guts und seine Realmöglichkeit begreiflich zu machen. Kant bezeichnet die derart vorgenommene Einführung des Gottesbegriffs als „transzendentale Deduktion" (A 203 = V 113 8; vgl. A 227 = V 126 14), weil er die Bedingung der Möglichkeit des Begriffs des höchsten Guts als moralischer Welt darstellt. Zugleich dient die Deduktion für Kant im Ausgang vom Faktum (des Bewußtseins) des Moralgesetzes und seines Gegenstandes, nämlich der Forderung, die moralische Welt zu realisieren, dem moralisch-praktischen Nachweis der Existen^ Gottes. Er wird eigens in einem besonderen Abschnitt unter dem Titel „Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft" geliefert (A 223 ff. = V 124 ff.). Aber dieser Nachweis genügt Kant nicht. Während das Postulat des Daseins Gottes die Möglichkeit der Glückseligkeit in ihrer Vereinigung mit der Sittlichkeit betrifft, entwickelt Kant, eigentlich überraschenderweise, noch einen besonderen Beweis für die Möglichkeit der anderen Komponente des höchsten Guts, der Sittlichkeit. Als Bedingung ihrer Möglichkeit sieht er die zeitlich unbegrenzte Existenz des Menschen an, weil das Moralgesetz moralische Vollkommenheit, also Heiligkeit, fordere, deren aber „kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins, fähig" sei, weshalb seine sittliche Vollkommenheit „nur in einem ins Unendliche gehenden Progresses zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden" könne (Kp V A 220 = V 122). Mit dieser der Anlage nach zweiten transzendentalen Deduktion glaubt er, die traditionelle metaphysisch-religiöse Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele moralisch-praktisch eingeholt und auf ihren vernünftigen Kern zurückgeführt zu haben. Neben dem Problem, was moralische Vervollkommnung und physische Glückseligkeit bei Wesen besagen, die angeblich jenseits der Todesgrenze leben, besteht die weitere Schwierigkeit, daß der postulierte unendliche Progreß auf die Heiligkeit zu aufgrund

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der Unfähigkeit, sie zu irgendeinem Zeitpunkt zu realisieren, doch nichts anderes als ihre schlechthinnige Unerreichbarkeit besagt und damit doch gerade wieder beim Ausgangspunkt angelangt ist, der die Notwendigkeit einer transzendentalen Begründung zu erfordern schien. Wenn moralische Vollkommenheit grundsätzlich an keinem bestimmten Zeitpunkt im Leben realisierbar ist, dann ist sie es auch nicht in einer unendlichen Abfolge von Zeitpunkten. Nun ist aber schon die Rede von der ,Zeitlichkeit' eines Lebens nach dem Tode in gewisser Hinsicht problematisch: Zum einen ist jenes Leben nicht einfach eine Fortsetzung des Lebens diesseits des Todes; zum anderen — und das ist der wesentlichere Gesichtspunkt — sind die sittliche Grundentscheidung und die durch sie konstituierte Moralität des Menschen keine zeitlichen Vorgänge oder Zustände, sondern noumenale Sachverhalte, die zudem kein Mehr oder Weniger zulassen, geht es doch hier um eine unbedingte und totale Entscheidung und Entschiedenheit zum Guten. Dann erscheint aber die Vorstellung von der Möglichkeit eines sittlichen Fortschritts im Sinne eines graduellen und damit zeitlichen Prozesses als unangemessen, jedenfalls im noumenalen Bereich, während im phänomenalen Bereich der Integration der Sittlichkeit in die physisch-psychische Sphäre Zu- und Abnahme, Wachstum und Minderung möglich erscheinen. Diesem Unterschied trägt Kant in der Religionsschrift Rechnung, wenn er zwischen der Revolution der Denkungsart als einem nicht-graduellen und nicht-zeitlichen Geschehen und der Reform der Sinnesart unterscheidet (vgl. RGV B 52 ff. = VI 46 ff.; s. dazu § 14). Aber auch hier findet sich noch die Vorstellung von der stetigen Annäherung an das Ideal der moralischen Vollkommenheit und seiner prinzipiellen Unerreichbarkeit (B 84 ff. = VI 66 ff.). Aber nicht die Realisierbarkeit des Ideals der moralischen Vollkommenheit, sondern die des Ideals des höchsten Guts ist das Problem, und das Postulat der Unsterblichkeit der Seele muß als Antwort darauf begreiflich sein. Zwei Gesichtspunkte sind hier leitend: 1. geschieht der Ausgleich zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit faktisch — so scheint es — nicht im Leben des Menschen diesseits des Todes; er muß deshalb für ein Leben ,jenseits' des Todes erhofft werden. 2. wird dieser Ausgleich in ein gemeinsames Leben aller Menschen guten Willens verlegt; ein solches Leben ist aber nur außerhalb des raumzeitlichen Rahmens unseres gewohnten Lebens denkbar, also Jenseits' des Todes. Beiden Gesichtspunkten wird die traditionell metaphysische, von Platon und Aristoteles herkommende Rede Kants von der ,Unsterblichkeit der Seele' nicht gerecht. Statt dessen wäre hier sachlich sehr viel angemessener von einem ,neuen' Leben des ganzen Menschen, nämlich in Entfaltung und Erfüllung seiner sinnlichen und sittlichen, individuellen und sozialen Bestimmungen, zu sprechen. Die christliche Theologie beschreibt den Beginn jenes neuen Lebens als Offenbar we r den der Herrschaft Gottes, die sich an Leib und Geist des einzelnen Menschen wie an der Welt und der Menschheit

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im ganzen als Gericht und als Verwandlung vollzieht: Der alte Mensch, die alte Welt kommen an ihr Ende, ein neuer Mensch — an Leib und Seele neu — , eine neue Erde tritt ins Dasein. In dieser Neuschöpfung erfahrt der Mensch die endgültige Erfüllung seiner Bestimmung, sofern er dieser Bestimmung gemäß und auf ihre Erfüllung hin gelebt hatte. Indem Kant mit dem Ideal des höchsten Guts den Inbegriff dessen philosophisch zu explizieren unternimmt, was zu realisierende anthropologische Grundbestimmung, was also Endzweck des Daseins des Menschen und der Menschheit ist, und indem er einsichtig macht, daß die Realisierung dieser Grundbestimmung göttlichen Handelns bedarf, holt er — auch nach eigenem Verständnis, wie vor allem die Religionsschrift bezeugt — philosophisch die zentralen Aussagen der jüdisch-christlichen Eschatologie ein, und Kant hätte, statt die Unsterblichkeit der menschlichen Seele zu postulieren, die in seinem Begriff vom höchsten Gut angelegten Momente der Leiblichkeit und der Gesellschaftlichkeit des ,neuen' Menschen lediglich zu explizieren brauchen. Wie christliche Eschatologie und menschliche Lebenssinnsuche und -erfahrung aufeinander verweisen, wie die Frage des Menschen nach dem Endzweck seines Daseins im Glauben an und Hoffen auf das Kommen des Reichs Gottes ihre Antwort findet, haben in jüngerer Zeit von theologischer Seite vor allem Arbeiten Pannenbergs gezeigt (1962, 34-40, 56-58; 1968; 1973; 1974; 1978). Wenden wir uns nun der Lehre vom höchsten Gut in der Kritik der Urteilskraft zu! Als systematischer Traktat Kants zur Zweckmäßigkeit der Natur (im einzelnen wie im ganzen) und zum Vermögen der menschlichen Urteilskraft, diese Zweckmäßigkeit einerseits im Hinblick auf die Empfindungen des Schönen und Erhabenen zu beurteilen — die ästhetische Urteilskraft — , andererseits als regulative Idee bei der Erforschung der Gesetzlichkeiten der belebten Natur anzusetzen — die ideologische Urteilskraft — , stellt diese Kritik den Begriff des höchsten Guts in den ihm gebührenden systematischen Rahmen der Frage nach dem Endzweck der Natur und des Menschen. „Endzweck ist derjenige Zweck, der keines ändern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf (KU B 396 = V 434 7 f.). Er ist also unbedingter Zweck und wird von Kant auch als ,oberster' und ,letzter Zweck', als ,Zweck an sich (selbst)' oder als ,Selbstzweck', „dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat" (GMS B 64 = IV 428 3 f.), bzw. als .unbedingtes Gut' oder als .absoluter Wert' oder als .Wert an sich' bezeichnet (KU B 13, 388 ff., 411, 421-423 - V 208/209, 429 ff., 442 f., 448 f.). Die Natur kann nun nicht Zweck für sich selbst sein, weil der Mensch sie zu allerlei selbstgesetzten Zwecken benutzen kann und darf. Allerdings kann er sich selbst, insofern er Naturwesen ist, zum Endzweck oder Selbstzweck seines Tuns und Lassens machen; es würde bedeuten, daß er sein Wohlergehen, die Glückseligkeit, das Ziel seines Lebens sein läßt. Das jedoch würde gegen seine Verfassung als Vernunftwesen verstoßen, die ihm vorschreibt, den Endzweck seines Daseins

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in ein menschheitlich sittliches Leben, in die Realisierung eines umfassenden Reichs der Zwecke — das ethische Gemeinwesen als das höchste Gut, in dem Sittlichkeit und Glückseligkeit versöhnt sind — zu setzen. Die Natur hat so ihren letzten Zweck im Menschen, und zwar nicht, insofern er selbst der Natur angehört, sondern insofern er ein moralisches Wesen ist. „Von dem Menschen nun (und so jedem vernünftigen Wesen in der Welt), als einem moralischen Wesen, kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Wert selbst in sich, dem, so viel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann, wenigstens welchem zuwider er sich keinem Einflüsse der Natur unterworfen halten darf (KU B 398 = V 435). Ein moralisches Wesen hat deshalb „den höchsten Zweck selbst in sich", weil es als moralisches Wesen sich selber Gesetz ist und zu sein hat und insofern von absolutem Wert ist, nämlich keiner anderen Gesetzgebung unterworfen ist bzw. unterworfen werden darf, auch nicht durch sich selbst. In dieser Darstellung zeigt sich Kants Begriff des End- oder Selbstzwecks in den Spannungsfeldern von Sein und Sollen und von Individuum und universaler Gemeinschaft: Der einzelne Mensch ist (als mit reiner praktischer Vernunft begabtes und insofern autonomes Wesen) für sich selbst und für andere Selbstzweck, insofern er autonomes Vernunftwesen ist; aber insofern er sinnliches Naturwesen ist, ist er für sich und andere noch nicht Selbstzweck; deshalb soll er es werden. Zugleich aber ist für den einzelnen sowohl jeder andere Mensch als auch die Gemeinschaft aller derart unter dem gleichen Anspruch der Autonomie stehenden Menschen Selbstzweck; aber als Naturwesen werden sie noch nicht von vornherein als Selbstzwecke angesehen und behandelt; deshalb soll ein jeder auch jeden anderen (individualiter) wie alle Menschen insgesamt (universaliter) als Selbstzweck ansehen und behandeln. Die Diastase von Indikativ und Imperativ rührt aus der Entscheidungsfreiheit des Menschen: Sein Dasein hat absoluten Wert, aber er soll ihm diesen Wert auch „geben" (KU B 13, 395 f. Anm., 411, 471 = V 208 37, 434 Anm., 443 8, 477 18), d. h. es frei als das anerkennen, was es ist. Die Spannung zwischen individueller und universeller Betrachtungsweise läßt es so erscheinen, als sei der einzelne nun doch nicht wirklich Selbst- und Endzweck, sondern das Kollektiv aller Menschen, die Menschheit. Doch dies wäre eine Täuschung: Das Reich der Zwecke als das höchste Gut ist nicht ein weiterer Zweck über den Zweck des eigenen Daseins hinaus, der dann ggf. zum bloßen Mittel herabzusetzen wäre, sondern er stellt die systematische Vereinigung aller individuellen Selbstzwecke gerade unter dem ,Gesetz' der Autonomie dar, das jedem Individuum, sofern es Vernunftwesen ist, zukommt und praktische Vernünftigkeit als solche und damit Universalität zum Inhalt hat. Vernunft ist strikt selbstzwecklich, autonom, aber als Vernunft unterscheidet sie sich nicht von ,anderer' Vernunft, schließt sie sich gerade nicht von ,anderer' Vernunft ab; ihr kann Vernunft, die in anderen Individuen

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verkörpert ist, nicht als fremd erscheinen. Einzuschränken sind lediglich die Ansprüche menschlicher Bedürftigkeit und die Freiheit, sie auf Kosten anderer zu befriedigen. Und nur auf diesem Feld der sinnlichen Natur des Menschen gibt es Unterscheidung und Entgegensetzung von eigen und fremd, mein und dein. Die Aufgabe, diesen Antagonismus zu überwinden, um den Selbstzweckcharakter jedes einzelnen Menschen zu wahren bzw. wiederherzustellen, ist gerade von der allen Menschen eigenen Vernunft jedem einzelnen und allen zusammen aufgetragen. Der Inbegriff dieser Aufgabe ist die Beförderung des Reichs der Zwecke, der moralischen Welt als des höchsten Guts. Wie schon früher, so auch in der Kritik der Urteilskraft konstatiert Kant zwar die moralische Notwendigkeit des höchsten aus Freiheit möglichen Guts (B 423 = V 450 8 f.), behauptet aber zugleich seine Unrealisierbarkeit durch den Menschen und postuliert die Existenz eines allmächtigen und allgütigen Vernunftwesens, durch das allein das höchste Gut real möglich sei (B 414, 424 = V 444, 450). Auch der Grund für seine Unrealisierbarkeit ist der gleiche wie zuvor, daß wir nicht in der Lage sind, die Angemessenheit des durch Naturursachen zu bewirkenden physischen Guts der Glückseligkeit an die moralische Bedingung der gesinnungsmäßigen Übereinstimmung des Menschen mit dem Moralgesetz herzustellen, ja nicht einmal fähig sind, uns diese Angemessenheit überhaupt vorzustellen (was wohl heißt: sie begrifflichkonkret auszudenken) (B 424 = V 450). Kant hält den von ihm geführten „moralischen Beweis des Daseins Gottes" für logisch unanfechtbar: Er sagt, man könne ihm „leicht die Form der logischen Präzision anpassen" (KU B 425 = V 450 31 f.). Doch die logische Stringenz dieses Beweises wird von Kant offensichtlich nicht mit seiner vernünftigen, moralisch-praktischen Überzeugungskraft gleichgesetzt oder gar identifiziert; er schreibt nämlich: „Dieser Beweis [...] will nicht sagen: es ist eben so notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen, als die Gültigkeit des moralischen Gesetzes anzuerkennen; mithin, wer sich vom [erstem] nicht überzeugen kann, könne sich von den Verbindlichkeiten nach dem [letzteren] los zu sein urteilen. Nein! nur die Beabsichtigung des durch die Befolgung des [letzteren] zu bewirkenden Endzwecks in der Welt [...] müßte alsdann aufgegeben werden. Ein jeder Vernünftige würde sich an der Vorschrift der Sitten immer noch als strenge gebunden erkennen müssen; denn die Gesetze derselben sind formal und gebieten unbedingt, ohne Rücksicht auf Zwecke (als die Materie des Wollens). Aber das eine Erfordernis des Endzwecks, wie ihn die praktische Vernunft den Weltwesen vorschreibt, ist ein in sie durch ihre Natur (als endlicher Wesen) gelegter unwiderstehlicher Zweck, den die Vernunft nur dem moralischen Gesetze als unverletzlicher Bedingung unterworfen, oder auch nach demselben allgemein gemacht wissen will, und so die Beförderung der Glückseligkeit, in Einstimmung mit der Sittlichkeit, zum Endzwecke macht. Diesen nun, so viel (was die ersteren betrifft) in unserem Vermögen ist, zu befördern, wird uns durch das moralische Gesetz

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geboten; der Ausschlag, den diese Bemühung hat, mag sein welcher er wolle. Die Erfüllung der Pflicht besteht in der Form des ernstlichen Willens, nicht in den Mittelursachen des Gelingens" (B 425 f. = V 450 f.). Kants Stellungnahme wurde ausführlicher wiedergegeben, um unter anderem darauf aufmerksam zu machen, daß er auch hier — wie schon in der zweiten Kritik (s. o. S. 67) — lediglich die Beförderung des höchsten Guts als oberstes moralisches Gebot ansieht und in diesem Sinne sagen kann: „Die Erfüllung der Pflicht besteht in der Form des ernstlichen Willens" und nicht im Vollbringen; die „Beabsichtigung" des höchsten Guts genügt! Damit wird aber unser von verschiedenen Seiten erreichtes Ergebnis bestätigt, daß der moralische Beweis Kants legitimerweise nicht an der moralischen Idee der Beförderung des höchsten Guts, verstanden als moralische Pflicht, anknüpfen kann, sondern nur an sie als moralischem Ideal, das heißt: als das von der praktischen Vernunft des Menschen notwendig als systematischen Abschluß seiner moralischen Praxis zu denkendes, jedoch für ihn prinzipiell unerreichbares Endziel. Aber Kant ist auch in der dritten Kritik in diesem Punkt nicht eindeutig, so daß seine Äußerungen zur Reichweite des moralischen Beweises widersprüchlich erscheinen. So äußert er sich unmittelbar vor der zitierten Stelle in Form einer Schlußfolgerung, was er als die einzig mögliche Synthese aus der praktischen Notwendigkeit, aber physischen Unmöglichkeit der Verwirklichung des höchsten Guts durch den Menschen betrachte: „Folglich müssen wir eine moralische Weltursache (einen Welturheber) annehmen, um uns, gemäß dem moralischen Gesetze, einen Endzweck vorzusetzen; und, so weit als das letztere notwendig ist, so weit (d. i. in demselben Grade und aus demselben Grunde) ist auch das erstere notwendig anzunehmen: nämlich es sei ein Gott" (B 424 = V 450). Und am Schluß von § 87 heißt es, der moralische Mensch müsse „in praktischer Absicht, d. i. um sich wenigstens von der Möglichkeit des ihm moralisch vorgeschriebenen Endzwecks einen Begriff zu machen, das Dasein eines moralischen Welturhebers, d. i. Gottes, annehmen" (B 428/429 = V 453). An beiden angeführten Stellen erscheint das Postulat der Existenz Gottes wieder als transzendentale Voraussetzung des Verpflichtungscharakters des Moralgesetzes selbst, und es ist nicht einzusehen, wieso es weniger „notwendig [ist], das Dasein Gottes anzunehmen, als die Gültigkeit des moralischen Gesetzes anzuerkennen" (B 425 = V 450/ 451). Es ist eben klar zu unterscheiden zwischen der Pflicht, das höchste Gut zu befordern, zu deren Einsicht und Bestand das Dasein Gottes nicht vorausgesetzt werden muß, und dem Ideal der vollkommenen Verwirklichung des höchsten Guts, zu der es der Annahme der Existenz Gottes bedarf. Die Zweideutigkeit setzt sich in Kants Anmerkung zur zitierten Synthese der (einander widersprechenden) praktischen Notwendigkeit und physischen Unmöglichkeit des höchsten Guts im Postulat des Daseins Gottes fort: „Dieses moralische Argument" besage nicht, es sei „%ur Sittlichkeit notwen-

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dig, die Glückseligkeit aller vernünftigen Weltwesen gemäß ihrer Moralität anzunehmen; sondern: es ist durch sie notwendig" (B 424 f. Anm. = V 450 f. Anm.). Kant will die objektive Geltung des Moralgesetzes unabhängig von dem mittels dieses Gesetzes möglichen moralischen Argument des Daseins Gottes halten. Aber soweit er es als transzendentales Argument versteht, das die Bedingung formuliert, unter der allein die moralische Idee des höchsten Guts objektiv gültig ist, ist jene Unabhängigkeit nur Schein. Aber auch hier ist wie oben zu differenzieren: Nicht die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts enthält einander ausschließende Komponenten, die ihre Synthetisierung mittels einer dritten Komponente notwendig machten, sondern nur das Ideal der Verwirklichung des höchsten Guts bedarf zu seiner Denkbarkeit der Aufhebung des Widerspruchs zwischen praktischer Notwendigkeit und physischer Unmöglichkeit durch ein vermittelndes Drittes, die Existenz Gottes. Diese Synthese ist also zugleich die Ableitung der praktischen Möglichkeit des höchsten Guts als Ideals und der praktischen Notwendigkeit der Idee Gottes, während das höchste Gut, als den Menschen verpflichtende Idee verstanden, keiner Ableitung ihrer Möglichkeit — jedenfalls nach der Kritik der praktischen Vernunft — bedarf, weil sie als Inbegriff des Sittengesetzes Faktum ist, (normative) Tatsache unseres unmittelbaren sittlichen Bewußtseins bzw. leicht aus ihm analytisch entwickelt werden kann und keine Widersprüche enthält. Sofern man der Ansicht ist, daß das Ideal des höchsten Guts ebenfalls eine Gegebenheit unseres sittlichen Bewußtseins ist, so wird man folgern dürfen, daß es auch hier lediglich einer begrifflichen Analyse bedarf, um einerseits die Unterscheidung zwischen der den Menschen verpflichtenden Idee und dem ihn nicht verpflichtenden Ideal zu treffen und andererseits die nur durch eine Synthese zu behebende Widersprüchlichkeit des Ideals zu erkennen. Mit dieser Scheidung ist die Unabhängigkeit der das menschliche Wollen und Handeln verpflichtenden Moral vom moralischen Glauben an das Dasein Gottes gewahrt. Der Widerspruch in Kants Moralphilosophie, das höchste Gut als die Quintessenz des Sittengesetzes einerseits nur unter der Bedingung des Daseins Gottes als real möglich, als objektiv gültige Idee denken zu können, andererseits aber die grammatische Unabhängigkeit sittlichen Verpflichtetseins vom Glauben an das Dasein Gottes behaupten zu müssen, weil sonst der Begriff sittlichen, d. h. schlechthin unbedingten Verpflichtetseins selber nichtig würde, ist so beseitigt. Die Standardinterpretation der Postulatenlehre Kants nimmt an, daß ohne das Postulat der Existenz Gottes sich das Sittengesetz selber (in Kants Augen) als ,Hirngespinst', nämlich als geltungs- und begründungsleer erweise, weil das höchste Gut als „die unbedingte Totalität" des Inhalts dieses Gesetzes ohne das Wirken eines allmächtigen, allwissenden und vollkommen guten Wesens nicht Wirklichkeit werden könne. Die Crux dieser Interpretation besteht einmal darin, daß sie die Vielfalt der Äußerungen Kants zum Problem

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und die in ihnen angelegten Deutungsalternativen ignoriert, zum anderen darin, daß sie Kant die Verletzung eines seiner fundamentalsten Grundsätze unterstellen muß, der besagt, daß (moralisches) Sollen entsprechendes Können impliziert. Der hier vorgelegte Versuch teilt zwar nicht diese Schwierigkeiten, aber handelt sich dafür andere ein: Mit der (vielleicht gegen Kant) vorgenommenen (deutlicheren) Trennung von Moral und Religion — das höchste Gut als moralische Forderung bedarf Gottes nicht; das höchste Gut, das göttlichen Wirkens bedarf, ist nicht moralisch gefordert — scheint der Status des Begriffs des höchsten Guts selbst ins Zwielicht zu geraten: Für Kant ist das höchste Gut, wie gesagt, „die unbedingte Totalität" des Sittengesetzes — nun aber soll lediglich seine Beförderung Inhalt dieses Gesetzes sein, während seine Realisierung bzw. Realität in religiösem Glauben Gott anheimgestellt wird. Der Unterschied zwischen jener Idee und diesem Ideal beruht jedoch nicht auf einem Unterschied im Begriff des höchsten Guts selbst, sondern darauf, daß nur die Bestrebung, es zu verwirklichen, nicht aber der Erfolg dieser Bemühung moralisch gefordert sein kann. Die Frage ist, ob — wie Kant, jedenfalls gemäß der Standardinterpretation, zu glauben scheint — die Erfolglosigkeit dieses Bemühen selbst sinn- und wertlos macht. Zumindest in bezug auf partielle moralische Zwecke bestreitet Kant, daß die Ergebnislosigkeit einer moralischen Anstrengung diese selbst moralisch entwerte (vgl. CMS B 3, 13 = IV 394, 399/400; KpV A 78/79, 100/101 = V 45/46, 57/ 58). Er wird diesen Standpunkt wohl nur für solche Situationen einnehmen wollen, von denen sich erst im nachhinein herausstellt, daß das Handeln in ihnen erfolglos war; bezöge er ihn auch auf Situationen, für die schon im voraus die moralische Erfolglosigkeit eines etwaigen Handlungsversuchs feststeht, so würde er gegen das Axiom ,Ultra posse nemo obligatur' verstoßen. Aber auch in letzterem Fall wird der reine moralische Wille nicht überflüssig oder sinnlos; seine Entschiedenheit für das Gute wird ja nicht dadurch berührt, daß es sich in einer bestimmten Situation nicht realisieren läßt, ob nun die Einsicht in diese Unmöglichkeit sich von vornherein oder erst nachträglich einstellt. Läßt sich diese auf partielle moralische Zwecke bezogene Überlegung nicht umstandslos auch auf „die unbedingte Totalität" sittlichen Handelns ausdehnen? Auch wenn feststeht, daß das höchste Gut faktisch unrealisierbar ist — vorausgesetzt nur, daß es begrifflich möglich ist —, so büßt es dadurch doch nicht seine normierende Kraft ein (vgl. den 1. Abschnitt des 2. Stücks der Religionsschrift). Allerdings kann der Mensch seine Realisierung dann nicht mehr von sich selbst und seinesgleichen, sondern nur noch von Gott erwarten. Ein diesbezüglicher Glaube würde die moralische Idee der Beförderung des höchsten Guts nicht stützen können, wäre dazu aber auch nicht erforderlich. Im übrigen erscheint das Unternehmen einer Ableitung des Glaubens aus dieser Idee zum Zwecke ihrer Fundierung als zirkulär. Insofern kann die Standardinterpretation, wie sehr sie auch einer

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gewissen Tendenz in Kants Äußerungen selbst nahekommen mag, keine gute Basis für die (rationale Rekonstruktion von) Vernunftreligion sein, wie Kant sie sieht. Somit ergibt sich: Die (Annahme der) Realität der moralischen Welt (im Glauben an Gott) ist weder eine notwendige Bedingung für die Denk- noch eine solche für die Ä&z/möglichkeit der (moralischen Idee der) Beförderung dieser moralischen Welt. Dies bedeutet eine — zumindest partiell (s. aber §§ 13 — 15 sowie §§20 und 30) sich gegen Kant wendende — Lösung der Moralität von der Religion und natürlich auch umgekehrt eine größere Autonomie der Religion gegenüber der Sittlichkeit. Der .moralische Vernunftglaube' ist für unser sittliches Leben nicht mehr unabdingbar, wie auch der Glaube an Gott nur noch eine seiner Wurzeln in der reinen praktischen Vernunft hat. Die mit solchem Glauben gegebene Religiosität erscheint nun vom Bewußtsein unseres moralischen Verpflichtetseins stärker getrennt. Später, im Zusammenhang der menschlichen Erfahrung moralischen Versagens, die Kant in der Religionsschrift bedenkt, wird sich uns die Möglichkeit abzeichnen, das Bewußtsein moralischen Verpflichtetseins wieder enger mit dem Glauben an Gott zu verknüpfen. Diese Verknüpfung wird nicht von der Art einer begrifflichen Synthese oder transzendentalen Deduktion sein können und dürfen, die uns ein Faktum unseres sittlichen Bewußtseins verständlich macht, weil eine Notwendigkeit zu solcher Selbstverständigung nicht mehr besteht, sondern sie wird in der auf keinen Vernunftanspruch, insofern auf gar nichts gegründeten Hoffnung auf das Ereignis einer Metanoia vom Bösen zum Guten, einer „Revolution der Denkungsart" bestehen, die der Mensch, der sich als böse ansieht, nicht von sich selbst, sondern nur von Gott erwarten kann. Eine solche Erwartung aber richtet sich nun nicht mehr an einen Gott der Allmacht, sondern an den der Liebe. § 5. Der moralische Vernunftglaube

Das moralische Argument für das Dasein Gottes stellt nach Kant „keinen objektiv-gültigen Beweis", sondern nur „ein subjektiv, für moralische Wesen, hinreichendes Argument" dar (KU B 424 f. Anm. = V 450 f. Anm.). Was bedeuten hier die Ausdrücke ,objektiv' und ,subjektiv'? Sie besagen, daß Gottes Dasein nicht aufgrund (der Überzeugung von der Geltung) empirischtheoretischer Vernunft, sondern nur aufgrund (der Überzeugung von der Geltung) moralisch-praktischer Vernunft erkannt werden kann. Während der Mensch aber ohne empirisch-theoretische Vernunft (und das heißt auch: ohne die Überzeugung von ihrer Gültigkeit) in der Welt nicht leben kann, vermag er in ihr sehr wohl ohne moralisch-praktische Vernunft bzw. ohne die Anerkennung ihrer Geltung zu existieren. Modern ausgedrückt: Die empirisch-

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theoretische Lebensform ist für das Dasein des Menschen in der Welt unverzichtbar (ohne sie gibt es keine Welt für ihn); die moralisch-praktische Lebensform ist nicht in dieser Weise für den Menschen selbstverständlich und nicht einmal für sein soziales Dasein konstitutiv; er kann sie verwerfen, ohne damit aus dem Lebenszusammenhang mit anderen Menschen auszuscheiden, und sie nicht anzuerkennen widerspricht nicht seiner theoretischen Vernunft. Die moralisch-praktische Vernunft ist demgegenüber erst durch einen Akt freier Anerkennung in Geltung gesetzt; insoweit ist ihre Gültigkeit subjektiv. Dies betont Wood (1970) zurecht und stellt Kant deshalb bezüglich seines Glaubensbegriffs in eine Reihe mit Pascal und Kierkegaard, wodurch er allerdings das Mißverständnis hervorruft (z. B. bei Kuehn 1985, 157 — 160; vgl. aber Malter 1974a und Walsh 1971), Kants praktisch-moralischer Ansatz schließe formale und materiale Allgemeingültigkeit (und damit Rationalität) von solchem Glauben aus. Ihm kommt jedoch formale Allgemeingültigkeit insofern zu, als nicht nur empiric- und theoriegeleitete, sondern auch moralische, d. h. normativ unbedingte Praxis argumentations- und begründungsorientiert verfahrt und insoweit mit Recht den Anspruch auf Vernünftigkeit, auf Allgemeingültigkeit erhebt (vgl. Wimmer 1980); und materiale Allgemeingültigkeit kommt ihm zu, insofern in der moralischen Lebensform alle Menschen Selbstzwecke sind und daher auch so angesehen und behandelt werden (müssen). Das moralische Argument für die Existenz Gottes ist somit für Kant deshalb subjektiv, weil das moralische Selbstverständnis von jedem einzelnen für sich selbst und sein Leben angeeignet und in Geltung gesetzt werden muß, damit auch der Glaube real möglich wird. Die die Geltung der moralisch-praktischen Lebensform begründende autonome Entscheidung des einzelnen erstreckt sich auch auf die vernunftnotwendigen Implikate dieser Lebensform. Kant nennt sie ,Postulate der moralisch-praktischen Vernunft', d. h. Vernunftforderungen, die erfüllt sein müssen, wenn der Geltungsanspruch der moralischen Vernunft nicht leer sein soll. Sie sind begriffliche Konsequenzen aus der Entwicklung des Begriffs der moralischen Vernunft oder Lebensform selbst. Da sie kein Wissen in dem Sinne darstellen, daß sie begriffliche oder sonstwie theoretische Folgerungen aus Begriffen oder Sachverhalten empirischer oder theoretischer Art sind, ist das Verhältnis des für die moralische Lebensform entschiedenen Menschen zu ihnen nicht das des theoretischen Wissens, sondern das des moralischpraktischen Glaubens, allerdings nicht eines seiner Sache und seiner selbst Ungewissen Glaubens im außermoralischen und außerreligiösen Sinne von ,Glauben', der seine Stelle auf der Stufenleiter verschiedener Grade der Sicherheit bzw. Unsicherheit des ,Meinens' (griech.: ) hat, sondern eines sach- und selbstgewissen existentiellen und religiösen Glaubens (griech.: ). Kant wird nicht müde zu betonen, daß dieser Glaube unsere (theoretische) Erkenntnis und unser (theoretisches) Wissen nicht erweitert und insofern immer Glaube bleibt trotz der für ihn charakteristischen Vernünftig-

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keit und Gewißheit (vgl. KrV B 848ff. = A 820ff.; KpV A 238ff. = V 132 ff.; KU B 429 ff. = V 453 ff.). — Wenden wir uns nun um eines genaueren Verständnisses dieses moralischen Glaubensbegriffs willen den Darlegungen Kants im einzelnen zu! In der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet Kant in bezug auf das gewöhnliche, alltägliche Verständnis des Begriffs des Fürwahrhaltens oder der Überzeugung „drei Stufen: Meinen) Glauben und Wissen. Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es Glauben. Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten das Wissen. Die subjektive Zulänglichkeit heißt Überzeugung (für mich selbst), die objektive Gewißheit (für jedermann)" (B 850 = A 822). Meinen (und Glauben) gibt es jedoch nicht in bezug auf Urteile aus reiner Vernunft, d. h. analytische oder synthetische Urteile a priori, seien sie nun theoretischer oder praktischer Art, weil sie sich nicht auf Erfahrungsgründe stützen. Solche Urteile sind objektiv notwendig und daher völlig gewiß und gestatten kein Meinen und Glauben (im üblichen Sinne des Wortes ,Glauben') (B 850/851 = A 822/823). Vom (theoretischen) Glauben als einem bestimmten Grad des Fürwahrhaltens von grundsätzlich der sinnlichen Erfahrung zugänglichen Sachverhalten unterscheidet Kant den praktischen Glauben und in bezug auf ihn wieder die Dreiheit von pragmatischem Glauben, der vor allem die Zulänglichkeit bestimmter Mittel zu feststehenden Zwecken betrifft, doktrinalem Glauben, der darin besteht, daß, subjektiv unvermeidlich, von regulativen Ideen der Naturerforschung, die für objektive Gesetze der Natur selbst erscheinen, auf ihren Urheber geschlossen wird, und moralischem Glauben (B 851—856 = A 823-828). In diesem letzteren, .transzendental' zu nennenden Sinne erhält das Wort ,Glauben' eine über die bisherigen Bedeutungen hinausgehende entscheidend neue Bedeutung: Während die reine Vernunft — wie ihre Kritik durch Kant zeigt — sich jedes Urteils in metaphysisch-spekulativer Hinsicht enthalten muß, vermag sie sich in praktisch-moralischer Hinsicht erfolgreich und zwingend zu betätigen, indem sie nämlich das höchste Gut als unbedingt zu verfolgenden Endzweck allen Wollens und Handelns vorschreibt. „Der Zweck ist hier unumgänglich festgestellt, und es ist nur eine einzige Bedingung nach aller meiner Einsicht möglich, unter welcher dieser Zweck mit allen gesamten Zwecken zusammenhängt, und dadurch praktische Gültigkeit habe, nämlich, daß ein Gott und eine künftige Welt sei; ich weiß auch ganz gewiß, daß niemand andere Bedingungen kenne, die auf dieselbe Einheit der Zwecke unter dem moralischen Gesetze führefn]. Da aber also die sittliche Vorschrift zugleich meine Maxime ist (wie denn die Vernunft gebietet, daß sie es sein soll), so werde ich unausbleiblich ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben, und bin sicher, daß diesen Glauben nichts wankend

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machen könne, weil dadurch meine sittliche Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen eigenen Augen verabscheuungswürdig zu sein. [...] Zwar wird freilich sich niemand rühmen können: er wisse, daß ein Gott und daß ein künftig Leben sei". Kein Wissen, aber absolute Gewißheit führt der moralische Glaube mit sich, eine Gewißheit, die „moralische Gewißheit'''' ist, weil sie im Grunde der Überzeugung von der objektiven und unbedingten Geltung des Moralgesetzes entstammt; und „da sie auf subjektiven Gründen (der moralischen Gesinnung) beruht, so muß ich nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei etc., sondern ich bin moralisch gewiß etc. Das heißt: der Glaube an einen Gott und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, daß, so wenig ich Gefahr laufe, die [letztere] einzubüßen, eben so wenig besorge ich, daß mir der [erste] jemals entrissen werden könne" (B 856 f. = A 828 f.). Dreierlei ist zu diesen Ausführungen Kants kritisch anzumerken: 1. kehrt die beschriebene Zweideutigkeit wieder, ob die Verwirklichung oder die Beförderung des höchsten Guts als Endzwecks unbedingte Pflicht ist. 2. erscheint die Annahme der Existenz Gottes als transzendentale Voraussetzung der Geltung des Sittengesetzes (dessen Inbegriff die Pflicht zur Verwirklichung bzw. Beförderung des höchsten Guts ist), womit die Unbedingtheit seiner Geltung in Frage gestellt scheint. 3. erscheint die moralisch gute Gesinnung als transzendentale Voraussetzung des moralischen Glaubens. Auf die sich hier ergebende Schwierigkeit — „Das einzig Bedenkliche, das sich hiebei findet, ist, daß sich dieser Vernunftglaube auf die Voraussetzung moralischer Gesinnungen gründet" — geht Kant im folgenden Abschnitt ein (B 857 f. = A 829 f.). Die Schwierigkeit läßt sich aber dadurch vermeiden, daß Kant die Überzeugung von der Geltung des Sittengesetzes, das Faktum (des Bewußtseins) des Sittengesetzes (und nicht die gute Gesinnung) als die einzig legitime Voraussetzung moralischen Glaubens ansetzt (so Kant selbst KU B 421 f. Anm. = V 448 f. Anm.). Allerdings träfe ihn an dieser Stelle dann besagter Vorwurf der Zweideutigkeit: Nicht die moralische Verpflichtung zur Beförderung (oder gar Verwirklichung) des höchsten Guts, sondern nur das moralische Ideal seiner Realisierung macht die Annahme des Daseins Gottes und eines zukünftigen Lebens notwendig. Eines ist noch zu Punkt 2 und 3 und der anschließenden Auflösung der in ihnen artikulierten Schwierigkeiten zu bemerken. Sie beinhalten von Seiten Kants jeweils transzendentale Deduktionen, die zusammengenommen einen Zirkel zu ergeben scheinen. Korrigiert besagt Punkt 2: Die transzendentale Voraussetzung, die Bedingung der Realmöglichkeit der Geltung des Ideals (der Verwirklichung) des höchsten Guts ist die (Annahme der) Existenz Gottes. Korrigiert besagt Punkt 3: Die transzendentale Voraussetzung, die Bedingung der Möglichkeit der (Annahme der) Existenz Gottes ist die Geltung der unbedingten Pflicht der Beförderung des höchsten Guts. Im einen Fall scheint das höchste Gut Bedingung der Möglichkeit der Existenz

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Gottes zu sein, im anderen Fall die Existenz Gottes Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts. Darauf könnte man mit der von Kant in anderem Zusammenhang auf einen ähnlichen Einwand gegebenen Erwiderung antworten, daß die Existenz Gottes die ratio essendi des höchsten Guts, das höchste Gut jedoch die ratio cognoscendi der Existenz Gottes sei (vgl. KpV A 5 Anm. = V 4 Anm.). Aber entscheidend für die Auflösung des Zirkels ist es, die Unterscheidungen zu beachten: In den beiden Sätzen ist von verschiedenen Konzeptionen des höchsten Guts, nämlich als vom Menschen zu befördernde Idee und als nicht vom Menschen, sondern von Gott zu verwirklichendes Ideal, und dementsprechend von unterschiedlichen Arten des Verpflichtetseins auszugehen. Ausführlicher als die erste Kritik widmet sich die Kritik der praktischen Vernunft der Verdeutlichung des erkenntnis- und begründungstheoretischen Status der Postulate der reinen praktischen Vernunft (A 238 — 266 = V 132 — 148). Die Postulate — hier ergänzt um das der noumenalen Freiheit (dazu vgl. die Klärungen in § 7) — sind in Kants Auffassung die notwendigen Bedingungen des Sittengesetzes bzw. seines Inbegriffs, des zu realisierenden höchsten Guts. Für den bloßen Begriff von Sittlichkeit wären nur die Begriffe von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit vorauszusetzen. Nun ,erfährt' oder ,weiß' der Mensch sich aber nach Kants Grundüberzeugung unmittelbar, in seinem ,Bewußtsein', als unter einem unbedingten Anspruch an sein Wollen und Handeln stehend. Die Unmittelbarkeit dieser Unbedingtheit bedeutet die Geltung dieser ,Erfahrung' im Sinne ihrer (subjektiven) Unbezweifelbarkeit und ihrer (objektiven) Gültigkeit; die ,Erfahrung', das ,Bewußtsein' dieses unbedingten (und das heißt: moralischen) Verpflichtetseins ist dieses Verpflichtetsein selbst, wenn man von dem konkreten ,Gegenstand', zu dem man verpflichtet ist — die Befolgung eines bestimmten Grundsatzes —, einmal absieht. Weil ohne Vermittlung fowußt, kann man auch sagen, daß das moralische Verpflichtetsein .gewußt sei. Aber dieses Wissen ist eben selbst das moralische Verpflichtetsein; denn moralisches Verpflichtetsein ist phänomenal gesehen immer be- oder gewußtes Verpflichtetsein. Moralisches Verpflichtetsein ist nur als unmittelbares Bewußtsein, als in und für sich geltendes Wissen denkbar. Seinen Verpflichtungscharakter erhält es nicht von dem Inhalt, dem ,Gegenstand', der ,Materie* her, zu deren Verwirklichung jemand verpflichtet ist. Es geht also bei der transzendentalen Fragestellung Kants um die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen eines Faktums, einer Wirklichkeit, einer Tatsache jedoch von besonderer Art: nämlich einer unmittelbar gegebenen unbedingten (d. h. moralischen) Normativität. Das bedeutet, daß ihre transzendentalen Voraussetzungen selber real sind, aber nur in bezug auf ihren normativen Charakter; denn nur den sollen und können sie ja verständlich machen. Die Postulate sind demnach objektiv, gültig, wirklich, aber nicht in bezug auf das Erkenntnisvermögen des Verstandes oder der reinen theoretischen und spekulativen Vernunft, sondern in bezug auf die reine praktisch-

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moralische Vernunft — im Grunde nur ein anderes Wort für das besprochene unbedingte Verpflichtetsein — und des ihr (und dem Menschen als ganzem) eigenen transzendentalen Erkenntnisvermögens, das für die vorgetragene Analyse der Andersartigkeit (der Wirklichkeit) des moralischen Verpflichtetseins gegenüber nicht-normativen Sachverhalten und für das kritisch-transzendentale Philosophieren insgesamt verantwortlich ist. Deshalb betont Kant, daß die derart zustande gekommene bzw. rekonstruierte Erkenntnis der Postulate kein Erkennen im üblichen Sinn sei, sondern ein Glauben, und um es von anderen Verwendungen des Wortes abzuheben, nennt er es .praktisches' oder ,moralisches' Glauben. Auf diese Seite des Vorgangs macht natürlich auch schon der Terminus ,Postulat£ aufmerksam. Mit Kant läßt sich dieses Ergebnis so formulieren: Unsere Erkenntnis wird auf solche Art wirklich erweitert, über die kritisch zu setzenden Grenzen der spekulativen Vernunft hinaus, aber nicht in theoretisch-metaphysischer, sondern nur in praktisch-moralischer Hinsicht. „Denn wir erkennen zwar dadurch weder unserer Seele Natur [was der Gegenstand der ,rationalen' Psychologie ist, die aber in die Paralogismen führt], noch die intelligible Welt [der Gegenstand der ,rationalen' Kosmologie mit ihren Antinomien], noch das höchste Wesen [der Gegenstand der ,rationalen' Theologie], nach dem, was sie an sich selbst sind, sondern haben nur die Begriffe von ihnen im praktischen Begriffe des höchsten Guts vereinigt, als dem Objekte unseres Willens, und völlig a priori, durch reine Vernunft, aber nur vermittelst des moralischen Gesetzes, und auch bloß in Beziehung auf dasselbe, in Ansehung des Objekts, das es gebietet. Wie aber auch nur die Freiheit möglich sei, und wie man sich diese Art von Kausalität theoretisch und positiv vorzustellen habe, wird dadurch nicht eingesehen, sondern nur, daß eine solche sei, durchs moralische Gesetz und zu dessen Behuf postuliert. So ist es auch mit den übrigen Ideen bewandt, die nach ihrer Möglichkeit kein menschlicher Verstand jemals ergründen, aber auch, daß sie nicht wahre Begriffe sind, keine Sophisterei der Überzeugung, selbst des gemeinsten Menschen, jemals entreißen wird" (Kp V A 240 f. = V 133/134). Es gibt keinen anderen Weg, die Realität von Unsterblichkeit, Freiheit und Gott zu erweisen als dieser vom unbedingten Verpflichtetsein ausgehende. Das so gewonnene Postulat läßt sich deshalb auch nicht weiter (von außen) kontrollieren. Die Überzeugung von der unbedingten (Geltung der moralischen) Pflicht hat denn auch allein die Überzeugung von jenen Realitäten zu tragen. Sie kann deshalb durchaus in Anlehnung an die religiöse Verwendung des Wortes als ,Glaube' bezeichnet werden. Allerdings handelt es sich hier nicht um einen empirisch bedingten, offenbarungs- und autoritätsabhängigen Glauben, sondern um einen souveränen, autonomen Glauben der reinen praktischen Vernunft, den Kant zu recht .(moralischen) Vernunftglauben' nennt, weil er Glaube der Vernunft (genitivus subiectivus) und zugleich Glaube an die Vernünftigkeit der Postulate im Sinne ihres apriorisch

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notwendigen und das heißt vernünftigen Abgeleitetseins aus der reinen praktischen Vernunft ist (genitivus obiectivus). Kant führt die Art der Erweiterung unserer Erkenntnis durch praktische Vernunft im einzelnen an der Bildung eines rationalen Begriffs Gottes vor. Die Kritik an der Metaphysik hatte jeden Anthropomorphismus mit dem ihn begleitenden Aberglauben und jeden Mystizismus mit dem ihm folgenden schwärmerischen Fanatismus unmöglich gemacht (KpV A 244/245 = V 135/ 136). Auch ein an der Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welt sich orientierender Versuch, Gottes Dasein und Wesen zu bestimmen, scheitert, weil er nicht die Einheit, Einzigkeit, Allwissenheit, Allgüte, Allmacht, Allgegenwart, Ewigkeit Gottes zu erweisen vermag (A 251 = V 139). Demgegenüber zeigt sich der praktischen Vernunft „ein genau bestimmter Begriff dieses Urwesens" (ebd.), indem sie ihn an ihr „Objekt", nämlich das höchste Gut, hält (A 252 = V 140 l f.), die moralische und als solche „intelligibele Welt", das „Reich Gottes" (A 230, 232, 235, 246 = V 128 l, 22, 130 24, 137 l f.). Der Übergang der Vernunft von ihrem Gegenstand, dem höchsten Gut, zu seinen transzendentalen Voraussetzungen ist für sie „subjektiv notwendig" oder, wie Kant auch sagt, „Bedürfnis", und nicht objektiv notwendig oder „Pflicht" (A 6, 226/227, 255-263 = V 4/5, 125/126, 142-146; vgl. RGV B vii —ix = VI 5 f.). Moralische Pflicht ist allein die Beförderung des höchsten Guts; insofern und weil Bedingungen nicht unter das von ihnen selbst Bedingte fallen können, kann der moralische Vernunftglaube nicht moralisch geboten sein, sondern ist moralisch nicht qualifiziert. Aber ist er deshalb auch schon freiwillig, wie Kant zu meinen scheint (A 263 = V 1466)? Er spricht ja doch gerade von der ,subjektiven Notwendigkeit', von dem Bedürfnis' der reinen praktischen Vernunft, das Dasein Gottes anzunehmen, zu glauben, und zwar aufgrund des objektiv notwendigen Zusammenhangs zwischen (der unbedingten Geltung) besagter unbedingter Pflicht und ihren Möglichkeitsbedingungen. Der moralische Glaube ist insofern, wenn man diese Nomenklatur überhaupt benutzen will, sowohl subjektiv wie objektiv notwendig, weil er sowohl der Vernunft entspringt wie ihr entspricht. Insofern es beim Moralgesetz um das eine schlechthin Unbedingte im Dasein des Menschen geht, das seinen Lebenszweck ausmacht, überträgt sich ihm die Überzeugung hiervon auf seine praktische Einsicht, sein praktisches Wissen, seinen praktischen Glauben an die notwendigen Voraussetzungen jenes Unbedingten. Der derart Glaubende kann dann sozusagen in vernünftiger Leidenschaft, in existentieller Begeisterung mit Kant ausrufen: „ich will, daß ein Gott, daß mein Dasein in dieser Welt, auch außer der Naturverknüpfung, noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich auch daß meine Dauer endlos sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen; denn dieses ist das einzige, wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen darf, mein Urteil unvermeidlich bestimmt" (A 258/259 = V 143). Aber dieses persönlichste Interesse, dieses subjektivste Bedürfnis ist zugleich das schlechthin vernünftige, aus sich selbst gerechtfertigte.

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A. Sittlichkeit und Glückseligkeit

Der Übergang zum moralischen Vernunftglauben ist zugleich der Übergang zur moralischen Vernunftreligion, weil er ja den Glauben an das Dasein Gottes enthält. Moralisch vernünftige Religion ist für Kant die „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote" (A 233 = V 129 18 f.), d. h. u. a.: Erkenntnis Gottes als des moralischen Gesetzgebers. Die Erörterung dieses Religionsbegriffs geschieht später (in § 17), dann nämlich, wenn auch innerhalb des Kantischen Kontextes andere Verständnismöglichkeiten von Religion erkennbar geworden sind. Stellen wir die kritische Beurteilung von Kants Darlegungen zu Möglichkeit und Notwendigkeit des moralischen Vernunftglaubens in der Kritik der praktischen Vernunft zurück und wenden uns gleich den entsprechenden Abschnitten in der Kritik der Urteilskraft zu! Es wird sich nämlich zeigen, daß Kants Erörterungen in beiden Kritiken inhaltlich weitgehend übereinstimmen, so daß auch die Haupteinwände gegen sie gemeinsam vorgetragen werden können. Die Besonderheit des moralischen Beweises für die Realität der Vernunftideen von Gott und moralischer Welt diskutiert Kant zunächst unter dem Titel der „Beschränkung der Gültigkeit" dieses Beweises (KU B 429 = V 453). Der durch reine praktische Vernunft konstituierte Endzweck unseres Daseins ist die Beförderung des höchsten Guts: „Wir sind a priori durch die Vernunft bestimmt, das Weltbeste", d. h. das höchste Gut, „nach allen Kräften zu befördern" (ebd.). Die Natur — die Kant auch als ,Schöpfung' bezeichnet, ohne damit schon Gott als den Urheber der Natur voraussetzen zu wollen (vgl. B 421 f. Anm. Schluß = V 448 f. Anm. Schluß) - läßt von sich allein her nicht erkennen, ob sie Selbstzweck ist oder einen Endzweck hat. Reine praktische Vernunft bestimmt ihr den Endzweck, weil Natur in Gestalt der Glückseligkeit als des einen Elements des notwendigen Gegenstands der Vernunft, nämlich des höchsten Guts, selber zu bearbeitendes und zu transformierendes Objekt der Vernunft ist. Natur ist somit durch Vernunft auf Vernunft und ihr Wirken bzw. auf das Ergebnis ihres Wirkens, die sittlich transformierte Natur oder moralische Welt hingeordnet. Das ist also ihr Endzweck. „Es ist nun die Frage: ob die objektive Realität des Begriffs von einem Endzweck der Schöpfung nicht auch für die theoretischen Forderungen der reinen Vernunft hinreichend, wenn gleich nicht apodiktisch, für die bestimmende, doch hinreichend für die Maximen der theoretisch-reflektierenden Urteilskraft könne dargetan werden" (B 431 = V 454). (Eine bestimmende Urteilskraft gibt es nicht, weil die Urteilskraft nicht wie der Verstand ein Erkenntnisvermögen ist, das einen Begriff durch eine gegebene empirische Vorstellung bestimmt, sondern nur ein Beurteilungsvermögen, das, zwischen Verstand und Vernunft stehend, „reflektiert", d. h.: gegebene Vorstellungen entweder mit anderen Vorstellungen oder mit Verstandes- oder Vernunftbegriffen konfrontiert [vgl. KU, Erste Fassung der Einleitung, H 16, 41—44 = XX 211, 235-237; KUB xxv-xxviii = V 179-181].) Die aufgeworfene

§ 5. Der moralische Vernunftglaube

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Frage ist negativ zu beantworten, weil reflektierende Urteilskraft Teleologie lediglich als regulative Idee bei der Erforschung der Natur benutzen und zudem die so gefundenen Reihen von Unter- und Oberzwecken nicht zu einem definitiven Abschluß in einem allumfassenden Endzweck bringen kann. Der Begriff des Endzwecks ist somit für die reflektierende Urteilskraft leer, weil unbrauchbar. „Es ist kein Gebrauch von diesem Begriffe möglich, als lediglich für die praktische Vernunft nach moralischen Gesetzen" (B 432 = V 454/455). Die praktisch reflektierende Urteilskraft, die zwischen physischer (theoretischer) und moralischer (praktischer) Teleologie vermittelt, hat aber nicht nur, wie Kant sich ausdrückt, „einen moralischen Grund", einen Endzweck der Natur, sondern auch ein allmächtiges und allwissendes und zugleich „moralisches Wesen" als Urheber der moralisch zu transformierenden Natur anzunehmen, weil, „nach der Beschaffenheit unseres Vernunftvermögens, wir uns die Möglichkeit einer solchen auf das moralische Geset^ und dessen Objekt bezogenen Zweckmäßigkeit, als in diesem Endzwecke ist, ohne einen Welturheber und Regierer, der zugleich moralischer Gesetzgeber ist, gar nicht begreiflich machen können" (B 434 = V 455). Damit ist aber gerade nichts physisch oder metaphysisch bezüglich eines göttlichen Welturhebers bestimmt; das Argument für die Existenz Gottes und seine physischen und moralischen Grundeigenschaften ist gänzlich und ausschließlich praktischmoralisch und erfolgt auch nur in praktisch-moralischer Absicht, nämlich um die unbedingte Gültigkeit der praktisch-moralischen Idee einer moralischen Welt nicht unverständlich erscheinen zu lassen. Es sagt nichts über das Ansich Gottes, sondern nur etwas über sein Für-uns aus, nämlich in bezug auf unsere praktisch-moralische Vernunft. Wie in der ersten, so unterscheidet Kant auch in der dritten Kritik drei Weisen des Fürwahrhaltens: Meinen, Wissen und Glauben (KrV B 848 ff. = A 820 ff.; KU B 454 ff. = V 467 ff.). Meinen ist nur möglich in bezug auf Gegenstände möglicher Erfahrung. Was gewußt wird, sind Tatsachen, seien es solche, die durch Erfahrung, oder solche, die vor jeder Erfahrung durch reine Vernunft gewußt werden. Hier ist bemerkenswert, daß Kant die Geltung der Vernunftidee der Freiheit nicht postuliert, sondern unter die Tatsachen zählt, von deren Realität es also ein Wissen gibt, weil sie „sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft, und, diesen gemäß, in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung, dartun läßt" (B 457 = V 468, ebenso B 467 f. = V 474). In dieser Auffassung macht sich die durchgängige Unklarheit Kants bezüglich der Unterscheidung zwischen der Freiheit, die dem menschlichen Handlungsvermögen zukommt, und der Freiheit des Menschen zur Bildung oberster Maximen geltend (dazu vgl. §§ 7 und 14). Glauben — sofern man es vom Meinen und vom Fürwahrhalten aufgrund des Zeugnisses eines anderen Menschen unterscheidet — findet sich nur beim „pflichtmäßigen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft", und zwar in bezug auf Gegenstände, die

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A. Sittlichkeit und Glückseligkeit

„als Folgen, oder als Gründe" dieses Gebrauchs „a priori gedacht werden müssen", wie „das höchste durch Freiheit zu bewirkende Gut in der Welt" (als Zweck oder ,Folge') und das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele (als die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit dieses Guts oder als seine ,Gründe') (B 457/458 = V 469). Hier überrascht, daß Kant das höchste Gut als Glaubensgegenstand ansieht. Außerdem irritiert wieder, wie schon in der zweiten Kritik (vgl. KpV A 263 = V 1466; s. o. S. 83), die gleichzeitige Betonung der Notwendigkeit des Übergangs vom moralischen Verpflichtetsein zu seinen Möglichkeitsbedingungen und der Freiwilligkeit dieses Übergangs: Glauben ist „ein freies Fürwahrhalten, und auch nur als ein solches mit der Moralität des Subjekts vereinbar" (B 458 Anm. = V 469 Anm.; vgl. B 463 = V 472 9). Glauben ist hier (praktische) Einsicht und als solche ein Vollzug der reinen Vernunft selbst, also ganz und gar autonom; aber als diese ist sie zugleich notwendig, ,zwingend', allerdings eben vernunftnotwendig und nicht etwa naturnotwendig, heteronom. Außerdem ist dieser Glaube praktische Einsicht, moralischer Glaube, der nichts in theoretischer Hinsicht bedeutet, sondern allein unsere moralische Praxis und ihre Voraussetzungen ausleuchtet und unserer Vernunft begreiflich macht. Die Gegenstände sowohl des Wissens wie des (moralischen) Glaubens sind für Kant konsequenterweise „Tatsachen" (B 468 = V 475), weil der Mensch ihrer Realität vernünftigerweise — freilich aufgrund zweier voneinander völlig verschiedener Vernunftwege — absolut gewiß ist. Die Vernunftidee des höchsten Guts ist nach Kant deswegen „bloße Glaubenssache der reinen Vernunft", weil sie zwar „für uns in praktischer Beziehung objektive Realität hat", wir ihr aber „in theoretischer Absicht diese Realität nicht verschaffen können" (B 459 = V 469/470). In dieser Betrachtungsweise Kants wird die Möglichkeit des höchsten Guts selbst, ja sogar das Moralgesetz zu einem Postulat: „Wenn das oberste Prinzip aller Sittengesetze ein Postulat ist, so wird zugleich die Möglichkeit ihres höchsten Objekts, mithin auch die Bedingung, unter der wir diese Möglichkeit denken können, dadurch zugleich mit postuliert" (B 459/460 = V 470). Gerechtfertigt ist diese Sprechweise insofern, als moralisches Verpflichtetsein (Sollen) sowohl die Realmöglichkeit dessen, wozu man verpflichtet ist, als auch die Fähigkeit des Adressaten der Verpflichtung, sie zu erfüllen, voraussetzt (wobei natürlich die Realmöglichkeit des Objekts von der Fähigkeit des Subjekts abhängen kann wie auch umgekehrt). Aber die Realmöglichkeit des höchsten Guts ist nur praktisch eingesehen; theoretisch läßt sie sich nicht einsehen, allerdings auch nicht seine Unmöglichkeit (vgl. B 462/463 = V 471/472). Diese Einsicht ist unbedingt gewiß, aber diese Gewißheit ist Glaubensgewißheit, jedoch nicht im Sinne distanzierter, theoretischer Vernünftigkeit, sondern im Sinne einer Rationalität, die die Existenz des Subjekts, seine Subjektivität, die Sinnhaftigkeit seines Lebens unentrinnbar zugleich anspricht und zum Ausdruck bringt.

§ 5. Der moralische Vernunftglaube

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Kant stellt diese Auffassung selbst in großer Klarheit noch einmal gegen Ende der Kritik der Urteilskraft heraus (vgl. B 477-479 = V 481 f.). Kants Philosophie schränkt hier systematisch und konsistent durch ihre vernunftmoralische Deutung Religion darauf ein, existenztragend zu sein, und weiß sich damit in innigster Übereinstimmung mit dem unentfremdeten Selbstverständnis religiöser Subjektivität. Wird diese Einschätzung nicht aber durch den schon gegenüber Kants Lehre vom höchsten Gut in der ersten und zweiten Kritik vorgetragenen Einwand relativiert, ja aufgehoben, wonach die notwendige Unterscheidung zwischen der den Menschen moralisch verpflichtenden Idee der Beförderung des höchsten Guts und dem ihn moralisch nicht verpflichtenden Ideal der Verwirklichung des höchsten Guts zur Folge hat, daß sich ein religiöses Selbstverständnis des Menschen — zumindest vorderhand (s. aber den zweiten Teil dieser Studie) — nur an das Ideal, nicht aber an die Idee vom höchsten Gut anschließen läßt? Die Sachlage ist bezüglich der Kritik der Urteilskraft insofern eine andere als bei den zwei anderen Kritiken, als Kant selbst nun erstmals ein deutlicheres Bewußtsein von der Notwendigkeit jener Unterscheidung erkennen läßt. Es heißt nämlich in § 91, daß, „obzwar die Notwendigkeit der Pflichtf, das höchste Gut zu befördern,] für die praktische Vernunft wohl klar ist, doch die Erreichung des Endzwecks derselben, sofern er nicht ganz in unserer Gewalt ist, nur zum Behuf des praktischen Gebrauchs der Vernunft angenommen, also nicht so, wie die Pflicht selbst, praktisch notwendig ist" (B 461 = V 470/471). In einer Anmerkung hierzu begründet Kant diese Unterscheidung mit der Unterscheidung zwischen der Form von Handlungen, die in ihrer Allgemeingültigkeit bestehe (zur Bedeutsamkeit dieser Aussage für eine moderne nicht-formalistische Interpretation des Kategorischen Imperativs, eventuell entgegen manchen Zügen im Selbstverständnis der Ethik Kants, vgl. Wimmer 1980, §§ 1.3.6 und 1.3.7), und ihrer Materie, die in den vorgeschriebenen Zwecken bestehe. „Diese formale Beschaffenheit meiner Handlungen [...], worin allein ihr innerer moralischer Wert besteht, ist gänzlich in unserer Gewalt; und ich kann von der Möglichkeit, oder Unausführbarkeit, der Zwecke [...] gar wohl abstrahieren (weil in ihnen nur der äußere Wert meiner Handlungen besteht), als [von] etwas, welches nie völlig in meiner Gewalt ist, um nur auf das zu sehen, was meines Tuns ist" (B 461 Anm. = V 471 Anm. 1). Doch diese Begründung Kants ist nicht triftig. Ich kann zwar um begrifflicher Analyse- und Unterscheidungsabsichten willen von Handlungen und ihren unmittelbaren Zwecken abstrahieren und mein Augenmerk allein auf die möglichen ihnen zugrundeliegenden Maximen (obersten Grundsätzen und Zwecksetzungen) richten — ein das Defizit des vorliegenden Textes mitverursachender Mangel ist Kants hier ungenügend durchgeführte Unterscheidung zwischen Handlungen und Handlungsmaximen — , aber ich kann nicht bei der Frage nach der Allgemeingültigkeit von Handlungen bzw. Hand-

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A. Sittlichkeit und Glückseligkeit

lungsmaximen von meinem Wissen darüber absehen, daß ihr oberster Zweck, ihr Endzweck, schlechterdings für mich (und für Menschen überhaupt) unrealisierbar ist. Eine als für den Menschen schlechthin unrealisierbar aufgefaßte Sachlage kann von dem so Urteilenden nicht — außer per accidens, in Momenten von Unachtsamkeit — zu einem Zweck seines Handelns gemacht werden; er kann ihre Wirklichkeit wünschen, sie aber nicht im eigentlichen Sinne wollen. Die begriffliche Klärung führt dann zu dem Ergebnis, daß das höchste Gut nach Kräften zu befördern unbedingte Pflicht für den Menschen ist, er die vollgültige Verwirklichung des höchsten Guts jedoch nur wünschen kann, aber sie auch wünschen soll, weil sie ein notwendiges moralisches Ideal der reinen praktischen Vernunft darstellt, dem er nicht gleichgültig gegenüberstehen kann und darf, dessen Realisierung er aber einem zu postulierenden allmächtigen moralischen Urwesen anheimstellen muß. Nur das moralische Ideal der Verwirklichung, nicht aber die moralische Idee der bloßen Beförderung des höchsten Guts macht demnach das Postulat des Daseins Gottes notwendig. Während der unbedingte Existenzernst des Menschen durch diese Klärung keine Einbuße erleidet, verliert sein religiöses Selbstverständnis — jedenfalls in der hier von Kant vorausgesetzten Form — die ihm von Kant zugewiesene starke Basis in der menschlichen Erfahrung unbedingten Verpflichtetseins. Dieses „Faktum der Vernunft" bedarf für seine Realgeltung, seine „objektive Realität" nicht des Rekurses auf Gott und eine auf ihn sich beziehende religiöse Selbstauffassung. Ausgeschlossen ist damit jedoch nicht ein religiöses Selbstverständnis, in dem das ,Wunder' jenes Faktums selbst (s. § 13) und das ,Wunder' der Befreiung von der eigenen Bosheit (s. § 14) im Mittelpunkt steht. Aber für den Glauben an derartige (moralische) ,Wunder' steht keine Ableitung mehr — wenn auch nur aus reiner praktischer Vernunft — zur Verfügung, wie sie Kant anhand der transzendentalen Deduktion der Realmöglichkeit des höchsten Guts beabsichtigt.

Zweiter Teil Die moralisch geeinte Menschheit als das Volk Gottes: Der personal-gesellschaftliche Aspekt des höchsten Guts des Menschen [Kants Religionssehrif t]

B. Natur und Freiheit § 6. Ziel und Methode der Religionsschrift Kants Der erste Teil dieser Untersuchung hatte sich vornehmlich an Kants religionsphilosophischen Erörterungen in den drei kritischen Hauptschriften orientiert mit dem Ziel, den dort entwickelten Standpunkt eines moralischen Vernunftglaubens und der entsprechenden moralischen Vernunftreligion darzulegen und in seiner Berechtigung wie seiner Begrenztheit aufzuzeigen. Im zweiten Teil aber soll nun am Leitfaden von Kants Religionsschrift eine Erweiterung der Basis seines kritischen Glaubens- und Religionsverständnisses erfolgen. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft enthält nämlich eine Reihe von Ansatzpunkten für einen Glaubens- und Religionsbegriff, die über den in den drei Kritiken zugrundegelegten hinausweisen, aufgrund seiner Prävalenz auch in der Religionsschrift aber nicht recht zur Entfaltung kommen. Allerdings wird sich zeigen, daß die neuen Verständnismomente ohne die Voraussetzung des moralischen Vernunftbegriffs von Glaube und Religion als moralische Wunder gar nicht wahrnehmbar und verständlich wären und gemacht werden könnten. Daß sie aber als Wunder erscheinen, weist auf ihre die moralischer Vernunft verpflichteten Erwartbarkeiten transzendierende Natur hin. Ein zu moralischem Staunen Anlaß gebendes Wunder ist zunächst einmal die — wie Kant sich in der Religionsschrift und andernorts ausdrückt — „ursprüngliche moralische Anlage in uns überhaupt" (RGV B 57 = VI 49 9 f.), worunter die reine praktische Vernunft und unser Vermögen zu moralischer Freiheit zu verstehen ist. Diese Anlage ist unableitbar und aus der physisch-psychischen Natur des Menschen nicht zu erklären (dazu s. § 13). Ein ebenso bedeutendes, aber gänzlich anders geartetes Wunder stellt die moralische Umkehr eines Menschen vom Bösen zum Guten dar, deren Möglichkeit aufgrund seiner radikalen Bosheit schlechthin uneinsichtig ist (dazu s. § 14). In der Sprechweise der monotheistischen Religionen ist es Gott, der den Sünder begnadigt, rechtfertigt, ihm seine Schuld vergibt und ihn (so wieder) zu einem guten Menschen macht (vgl. §15). Die (so wiederhergestellte) Gemeinschaft mit Gott erscheint dem Gläubigen als fortgesetztes, ihn immer neu beglückendes Wunder. Aber auch dem nicht an einen personalen Gott glaubenden religiösen Menschen erscheint die Überwindung seiner radikalen Entfremdung vom Leben und seinem Sinn als ein unaufhörliches Wunder. Schließlich wird der Glaube an moralische Wunder selbst als Wunder erfahren; die Möglichkeit und die Fähigkeit zu glauben erscheinen als wunderbare Befreiung zu einem neuen Leben.

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B. Natur und Freiheit

Der Begriff des Wunders löst Befremden aus. Glaube aus Wundern und der Glaube an Wunder sind obsolet, erinnern an irreligiösen Mirakelglauben. Die erkenntnistheoretische Unmöglichkeit von (physischen) Wundern, ,übernatürlichen' Eingriffen in Naturabläufe, aber auch von sogenannten ^übernatürlichen, göttlichen) Offenbarungen' ist zu offensichtlich. Aber es geht bei moralischen Wundern nicht um Eingriffe von außen: Das Wunder der Existenz des Menschen als moralisches Wesen und nicht als pures Naturwesen wird nicht geringer, wenn es nicht auf dem Hintergrund eines theistischen Glaubens an einen Schöpfergott gesehen wird, und das Wunder der Wiederherstellung der Freiheit eines Menschen zum Guten ist kein Eingriff in den Ablauf von Ereignissen, sondern die Erneuerung der Möglichkeit zu verantwortungsvollem Handeln — zum Guten sowohl wie zum Bösen. — Wenden wir uns nun direkt der Absicht und der Methode der Religionsschrift Kants zu! In der Vorrede zur zweiten Auflage seiner philosophischen Religionslehre' — so Kants eigene Bezeichnung in den Überschriften zu den vier Teilen seines Werkes — äußert sich Kant zum genauen Verständnis des Titels „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (B xxi-xxiii = VI 12 f.). Danach schließt der Begriff der Offenbarung nicht aus, daß ihre Inhalte sich (wenigstens zum Teil) auch als Gegenstände einer reinen praktischen Vernunft erweisen lassen. Gelingt im Ausgang von einer bestehenden Religion ein solcher Nachweis, so bedeutet dies eine (zumindest teilweise) inhaltliche Übereinstimmung zwischen den entsprechenden religiösen und moralischen Begriffen. Diesen Weg will Kant gehen. Er möchte untersuchen, ob sich der in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelte Glaubens- und Religionsbegriff in der ihm am nächsten stehenden christlichen Religion auffinden lasse. Das bedeutet aber nun, daß Kant aus ihr nur das analytisch erhebt, was mit jenem Vernunftbegriff von Religion übereinstimmt. Genau dies will er mit dem Titel „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" zum Ausdruck bringen. Bestätigt wird diese Deutung durch Kants Vorarbeiten zur Vorrede der zweiten Auflage. Dort bemerkt er lapidar, Religion könne „auch aus der Schrift kommen", weshalb es im Titel seines Werkes „innerhalb" der Grenzen der bloßen Vernunft heiße, „nicht aus der Vernunft" (XXIII 9031). An anderer Stelle seiner Vorarbeiten gibt er mehrere Gründe dafür an, warum er den Titel so und nicht anders gewählt habe: „Er soll nicht heißen Religion aus bloßer Vernunft; denn nicht allein, daß diese ein bloßes Ideal sein würde, weil allem Anschein nach keine daraus allein entsprungen ist, so würde ich mir auch zu viel hierin zugetraut und doch auch mein Feld zu sehr eingeschränkt haben. Nun kann ich alle wirklich vorhandenen Glaubensarten unter den Namen der Religion nehmen und daraus das aussuchen, was bloß zur Vernunft gehört, ohne es den Meinungen der Religionsgenossen beilegen zu wollen, und so suche ich nur die Grenzen sowohl des Sinnlichen und Empirischen im Glauben als auch die der Vernunft zu bestimmen" (XXIII

§6. Ziel und Methode der Religionsschrift Kants

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91; Schreibweise und Zeichensetzung von mir modernisiert). Jahre später hat Kant den Titel seiner Religionsschrift in der Vorrede zum Streit der Fakultäten erstmals öffentlich im genannten Sinne erläutert: „Diese Betitelung war absichtlich so gestellt; damit man jene Abhandlung nicht dahin deutete: als sollte sie die Religion aus bloßer Vernunft (ohne Offenbarung) bedeuten. Denn das wäre zu viel Anmaßung gewesen; weil es doch sein konnte, daß die Lehren derselben von übernatürlich inspirierten Männern herrührten: sondern daß ich nur dasjenige, was im Text der für geoffenbart geglaubten Religion, der Bibel, auch durch bloße Vernunft erkannt werden kann, hier in einem Zusammenhange vorstellig machen wollte" (A viii Anm. = VII 6 Anm.). Wenn die Vernunft auch der bestehenden Religion(en) zu bedürfen scheint, um den Begriff einer reinen Vernunftreligion angemessen entfalten und erläutern zu können (vgl. XX 435, 439), so bedarf sie ihrer nicht, wenn es um die Bildung dieses Begriffs geht. Auf ihn führt nämlich moralische Vernunft sich selbst „unumgänglich", „unausbleiblich" (RGV B ix, xiii Anm. = VI 6, 8 Anm.; vgl. XX 440 16), d. h. aus der ihr innewohnenden, durch ihre Dialektik vorangetriebenen Bewegung, wie in der Kritik der praktischen Vernunft gezeigt wird. Die Vernunftmoral „erweitert" sich so zur Vernunftreligion (RGV B ix = VI 6) und vollendet sich in ihr — aber, wie es scheint, für Kant zunächst nur begrifflich. Es bedarf des Vernünftigen in einer bestehenden Religion, damit Vernunftreligion praktisch sein und gelebt werden kann. Darin scheint Kant die zweite Grenze einer apriorischen Konzeption von Religion zu erblicken, daß sie nämlich nicht nur für ihre begriffliche Entfaltung, sondern vor allem für ihre praktische Realisierung auf bestehende Religiosität angewiesen ist, wie eine andere Passage aus seinen Entwürfen der Vorrede zur zweiten Auflage der Religionsschrift andeutet: „Ich wollte die Religion im Felde der Vernunft vorstellig machen, und zwar so, wie solche auch in einem Volke als Kirche errichtet sein könne. Da konnte ich nun solche Formen nicht füglich erdenken, ohne wirklich vorhandene zu benutzen. — Daher konnte ich nicht eine Religion entspringend aus der Vernunft ankündigen, sondern Religion, die allenfalls auch in der Erfahrung gegeben war (als Kirche), aber das an ihr, was innerhalb der Grenzen der Vernunft gehört" (XXIII 93 5-12; Schreibweise und Zeichensetzung modernisiert). Es geht Kant also weder um die Behauptung (von der er auch nicht glaubt, daß sie einlösbar ist), daß bestehende Religionen (wenigstens in ihrem rationalen Teil) aus bloßer Vernunft entsprungen sind (ebd. 913-6, 937-9, 9425-30), noch um die Behauptung, die Offenbarungslehren seien „bloße auf besondere Art eingekleidete Vernunftlehren", wodurch „der Bibel der Sinn habe aufgedrungen werden wollen, nichts als ein philosophisch moralisches Gebäude vorzustellen" (ebd. 9323-26; vgl. 93 12, 9423-25). Kants Erörterungen setzen drei mögliche Arten von Religion voraus: 1. die allein aus reiner praktischer Vernunft begründete oder begründbare Re-

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B. Natur und Freiheit

ligion (reine Vernunft- oder moralische Religion), die für ihn das ist, „was eigentlich Religion ausmacht" (ebd. 95 16, 18f.; vgl. 955), 2. die allein aus Prinzipien der Sinnlichkeit und Selbstliebe oder aus einem die Grenzen der Vernunft transzendierenden spekulativen Bedürfnis ableitbare Religion bzw. Religiosität und 3. die zugleich Vernunft- und Sinnlichbedingtes, Vernunftgemäßes und Vernunftübersteigendes, ggf. sogar Widervernünftiges in sich befassende (also u. U. auch in sich widersprüchliche) Religion. Kant geht von der Hypothese aus, daß die ihm am nächsten stehende christliche Religion von der dritten Art ist, das heißt, daß sie auch als „positive (statutarische) Religion" (XXIII 95 27) einen vernunftmoralischen Kern enthält, so daß sich Vernunft und Schrift, Vernunft und Kirche nicht wie zwei einander ausschließende (exzentrische) Kreise zueinander verhalten, sondern wie zwei (konzentrische) Kreise, deren einer (Schrift bzw. Kirche) den anderen (praktisch-moralische Vernunft) inhaltlich in sich befaßt (ebd. 9520-34, 9623-26; RGV B xxi —xxiii = VI 12f.). Kants Religionsschrift dient u.a. dem Nachweis, daß diese Hypothese für die christliche Religion weitgehend zutrifft: Kant nimmt die dogmatischen Lehren von der Erbsünde und der Rechtfertigung bzw. Erlösung (1. Stück), von Person und Werk Christi (2. Stück), von der Kirche (3. Stück) und vom geistlichen Amt und den Gnadenmitteln (4. Stück) auf und deutet sie im Sinne seines Verständnisses von einer vernünftigen Religion. Dabei vernachlässigt er jedoch die, philosophisch gesprochen, transzendenten theologischen Lehren von der Trinität, der Inkarnation, der leiblichen Auferstehung Jesu oder der Geistsendung, wenn er sie auch gelegentlich streift und ihnen dann eine nicht-transzendente Deutung verleiht (vgl. RGV B 73-75, 79, 91-94, 220-222 = VI 60f., 64, 70f. [Haupttext ohne Anm.], 145 — 147). Ein philosophisches Verständnis der christlichen Proto- und Eschatologie breitet Kant in separaten Schriften aus: in Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) einerseits und in Das Ende aller Dinge (1794) andererseits. Die sich zwischen solchem derart bedachten Anfang und Ende der Menschheit erstreckende Weltgeschichte — christlich als Heilsgeschichte aufgefaßt — macht Kant zum Gegenstand weiterer Schriften, der Idee %u einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) sowie dem zweiten Abschnitt im Streit der Fakultäten (1798), der sich der Frage widmet, „ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei"; des weiteren greift er das Thema in Rezensionen (1785) auf, die er dem ersten und zweiten Teil von Herders Ideen %ur Philosophie der Geschichte der Menschheit angedeihen läßt. Kant geriet mit seiner religionsphilosophischen Hauptschrift in Zensurschwierigkeiten. Über deren erste Phase berichtet Wobbermin (Ak.-Ausg. VI 497 — 500): Zunächst hatte Kant die einzelnen Stücke separat in der Berliner Monatsschrift erscheinen lassen wollen, doch erhielt er für das zweite Stück kein Imprimatur von der berlinischen Zensurbehörde in Kirchen- und Schulsachen. Er wandte sich daraufhin, nach Fertigstellung aller vier Stücke, an

§6. Ziel und Methode der Religionsschrift Kants

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die theologische Fakultät einer preußischen Universität — wohl der von Königsberg — und fragte an, „ob die theologische Facultät sich die Censur derselben" — nämlich der nun von Kant ausdrücklich als „philosophische Religionslehre" bezeichneten Stücke — „anmaße zu überreichen, damit die philosophische [Fakultät] ihr Recht über dieselbe gemäß dem Titel den diese Schrift führt unbedenklich ausüben könne" ('XI 344 = 2XI 358). Die angesprochene Fakultät gab Kant freie Hand, sich an eine philosophische Fakultät zu wenden, und so unterbreitete er seine Schrift der philosophischen Fakultät der Universität in Jena und erhielt das Imprimatur. Die zweite Phase der Schwierigkeiten begann nach dem Erscheinen des Buches; über sie berichtet Kant selbst in der Vorrede zum Streit der Fakultäten. Der König von Preußen, Friedrich Wilhelm II., hatte sich durch seinen Minister Woellner an Kant gewandt und ihm vorgeworfen, er habe seine „Philosophie zu Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christentums mißbraucht"; er forderte Kant auf, sich zu verantworten und „künftighin Nichts dergleichen" sich zuschulden kommen zu lassen (A ix f. = VII 6). Kant setzt sich in seiner Antwort energisch gegen den Vorwurf der Entstellung und Herabwürdigung christlicher Lehren zur Wehr und legt dar, daß seine philosophische Religionslehre „gar keine Würdigung des Christenthums", sondern „nur die Würdigung der natürlichen Religion" enthalte; das Anführen von Schriftstellen habe u. a. gerade dem Erweis der Übereinstimmung der Offenbarungslehre mit dem reinen Vernunftglauben gedient; außerdem habe er die Bibel „als das beste vorhandene, zur Gründung und Erhaltung einer wahrhaftig seelenbessernden Landesreligion auf unabsehliche Zeiten taugliche Leitmittel der öffentlichen Religionsunterweisung darin [...] angepriesen" (zu Kants Bibelauslegung vgl. Kaiser 1967 und Kvist 1978a). Kant schließt nun aber, in einer Art Übererfüllung des von ihm geforderten Gehorsams, die zugleich jedoch eine, obzwar geheime, zeitliche Begrenzung einschließt, mit der Erklärung an die Adresse des Königs, daß er, „um auch dem mindesten Verdachte darüber vorzubeugen", sich „fernerhin" — von Kant, wie er anmerkt, (in einer reservatio mentalis) verstanden als: während der Lebenszeit seines Souveräns (vgl. auch 'XII 406/407 = 2XII 380/381) - „aller öffentlichen Vorträge die Religion betreffend, es sei die natürliche oder geoffenbarte, sowohl in Vorlesungen als in Schriften gänzlich enthalten werde" (A xv — xxiv = VI 8-10). Nach dem Tod Friedrich Wilhelms II. (16.11.1797) und der Aufhebung der verschärften Zensurmaßnahmen (27.12.1797) konnte Kant wieder daran denken, sich in Sachen Religion öffentlich zu äußern, und er tat es mit ebendieser Vorrede und dem ersten , Abschnitt' des Streits der Fakultäten. Die drei ,Abschnitte' dieser Schrift sind je für sich konzipierte und ausgearbeitete Abhandlungen, die Kant erst nachträglich, im April 1798 (vgl. VII 341), zusammengestellt und unter dem vorliegenden Titel, mit besagter

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B. Natur und Freiheit

Vorrede, im gleichen Jahr publizierte. Die erste Abhandlung hatte Kant noch vor Erhalt des königlichen Reskripts (12.10.1794) abgeschlossen, dann aber nicht mehr publiziert (vgl. VII 338). Wie sehr Kant aber an ihrer Publikation lag, zeigen die von Vorländer angeführten Zeugnisse (VII 338). Die Kenntnis der damaligen religionspolitischen Situation in Preußen ist erforderlich, um Kants Bemühungen zu verstehen, die Freiheit der wissenschaftlichen, speziell philosophischen, Forschung und Äußerung auch die Religion betreffend zu wahren, und zwar durch eine Aufgabentrennung der mit Religion befaßten außeruniversitären, staatlichen Instanzen (Religionsministerium, Zensurbehörde), denen der Schutz des religiösen Bekenntnisses obliegt, und der inneruniversitären Instanzen (Universitätsleitung, Fakultätsleitung), die die Denk- und Diskussionsfreiheit innerhalb der Fakultäten und zwischen ihnen zu schützen haben. Wenn Kant auch ohne Schwierigkeit jede inneruniversitäre Zensur als dem allein der Wahrheitssuche verpflichteten Geist der Wissenschaft widersprechend aufzuweisen vermag, mußte ihm der Versuch eines Ausgleichs zwischen den nicht nur die Ausübung des religiösen Bekenntnisses, sondern auch seine Inhalte zu schützen beanspruchenden staatlichen Instanzen mißlingen, weil er mit ihnen die Auffassung teilte, daß die Inhalte des religiösen Bekenntnisses nicht lediglich kirchlicher-, sondern auch staatlicherseits zu schützen seien. Kant hätte die Trennung von Staat und Kirche und damit die Aufhebung des preußischen Staatskirchentums fordern müssen, um hier zur Klarheit und Eindeutigkeit zu gelangen. Das aber hätte ihn in einen tiefergehenden und über zeitlich begrenzte und punktuelle Zensurmaßnahmen hinausreichenden Konflikt mit dem Staat gebracht. Schon eine Äußerung der Art, wie sie sich in einem der Entwürfe zur Vorrede (für die erste Auflage) der Religionsschrift findet, vermeidet Kant dann später, daß nämlich auch die Polizei gehalten sei, die Daseinsbedingungen einer Gelehrtenrepublik zu beachten, „um nicht der vermeynten Sicherheit halber die allgemeine bürgerliche Freyheit auszurotten" (XX 439 11 f.). Kant hat publizistisch dann lediglich in dem (inneruniversitären) Streit zwischen der philosophischen und der theologischen Fakultät bezüglich der Kompetenzverteilung in Sachen Schriftauslegung mehrfach eindeutig und überzeugend Stellung bezogen, so in dem genannten Teil der Vorrede zur Religionsschrift, weiter in deren drittem Stück (vor allem B 161 — 166 = VI 112 — 114), schließlich in der ersten Abhandlung des Streits der Fakultäten. — Wenn man Kants Religionsphilosophie auslegt, möchte man sich auch Rechenschaft über die theologischen Quellen geben, aus denen Kant bei der Darlegung des christlichen Glaubensgehalts schöpfte, und über die religiösen oder auch religionskritischen Einflüsse, die er dabei aufnahm. Kants „Anpassung an die Offenbarungstheologie hat zur Voraussetzung, daß er vor Abfassung der Religionsschrift eingehende theologische Studien getrieben haben muß. Das geht sowohl aus dem Text wie aus der Einteilung des Stoffes hervor" (Delekat 1963, 346). Bohatec (1938, 19-32), der sich mit der Quel-

§ 7. Naturkausalität, Handlungs-, Entscheidungs- u. moralische Freiheit

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lenfrage eingehend befaßt, möchte nachweisen, daß Kant hauptsächlich aus der zwölfbändigen Grundlegung %ur wahren Religion des schweizerischen Theologen Stapfer (1708 — 1775) geschöpft habe, dann aber auch aus der (handschriftlich überlieferten) Vorlesung Theologia tbetico-antitbetica von Kants Lehrer Schultz, schließlich auch aus dem Königsberger Katechismus von 1732/ 33, den Kant nach dem Zeugnis Borowskis vor Abfassung der Religionsschrift (wieder) gelesen habe (nach dem er vielleicht sogar selber unterrichtet worden war). Delekat, der sich Bohatec in globo anschließt, behauptet außerdem (a. a. O. 357 Anm. 10): „Einen Einfluß auf Kants Gedankenführung haben ausgeübt Hermann Samuel Reimarus (1694—1768), für die Unterscheidung von Vernunftwahrheiten und historischen Wahrheiten Gotthold Ephraim Lessing (1729 — 1781) und in den historischen Abschnitten vermutlich auch Johann Salomo Semler (1725 — 1791)". Dazu sind aber die differenzierten Darlegungen bei Bohatec heranzuziehen (s. dortiges Namenregister). In einem allgemeinen Sinne weist Delekat mehrfach auf die spezifisch reformatorische Ausprägung der Rechtfertigungslehre bei Kant hin (a.a.O. 258 — 262, 266, 270 u. ö.); manche Autoren betrachten ihn aus diesen und anderen Gründen als den Philosophen des Protestantismus (vgl. Adorno 1966, 375 letzte Zeile; Kaftan 1904; Paulsen 1900; Werner Schultz 1960). Wie dem auch sei - diese systematisch orientierte Studie beteiligt sich nicht an der Erkundung der Vorgeschichte der kritischen Religionsphilosophie Kants, weder in bezug auf ihre vorkritische Entwicklung bei Kant selbst (dazu vgl. u. a. die vorzüglichen Studien von Schmucker 1980 und 1983), noch in bezug auf äußere Abhängigkeiten, sondern verweist lediglich bei Gelegenheit auf einschlägige Forschungsergebnisse, wenn sie etwas zum Verständnis eines Gedankens von Kant beizutragen versprechen. — Im folgenden bewegen wir uns größtenteils im Raum der Probleme, die die Religionsschrift aufwirft. Davon, daß wir Kants Gedankengänge im Detail verfolgen und zu ihrer Erhellung auch auf seine Ausführungen in anderen Werken zurückgreifen, versprechen wir uns ein tieferes Eindringen in die Sachfragen selbst und damit einhergehend Hinweise und Angebote zu ihrer Beantwortung. Um aber die von Kants Texten aufgeworfenen inhaltlichen Probleme angemessen lokalisieren und verstehen zu können, ist einleitend ein Rückgriff auf seine vornehmlich in den moralphilosophischen Schriften niedergelegte Freiheitslehre erforderlich, wozu ich frühere Erörterungen wieder aufnehme (s. Wimmer 1980, 135-143). § 7. Naturkausalität, Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, unbedingte moralische Freiheit %um Guten und %um Bösen

Die systematische Grundunterscheidung der kritischen Philosophie Kants zwischen einem phänomenalen und einem noumenalen Bereich der Wirklichkeit stellt einen Versuch dar, die universale Gültigkeit der Naturkausalität

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mit der Annahme der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit des menschlichen Willens — bei Kant: der Willkür — zu versöhnen. Er faßt das Problem in der Kritik der reinen Vernunft als ,Widerstreit' der trans2endentalen Ideen der spekulativen Vernunft, als These und Antithese (B 472 — 479 = A 444 — 451). Die These behauptet, daß es außer der Naturkausalität noch eine „Kausalität durch Freiheit", nämlich „eine absolute Spontaneität [...], eine Reihe von Erscheinungen [...] von selbst anzufangen", oder „transzendentale Freiheit" geben müsse, um zur Totalität der Bedingungen bzw. zu einem unbedingten Anfang der kausal bedingten Ereignisreihen in der Natur zu gelangen. Die Antithese behauptet demgegenüber die unbeschränkte Geltung des Kausalgesetzes in der gesamten Wirklichkeit. Der ,Beweis' einer jeden These wird als Widerlegung der Gegenthese versucht. Auf die Art, in der diese Scheinbeweise von Kant angelegt sind, kann nicht eingegangen werden (vgl. dazu Röttges 1974, 33—40). Für die Erörterung des Freiheitsbegriffs Kants unmittelbar relevant ist jedoch die Diskrepanz zwischen der Exposition der Antinomie und ihrer ,Auflösung' (B 560 ff. = A 532 ff.). Denn während die Thesen und ihre ,Beweise' offensichtlich das spekulative Interesse der reinen theoretischen Vernunft am Abschluß bzw. an der Totalität von Bedingungsreihen thematisieren und deshalb eigentlich aufgrund der von Kant in der Transzendentalen Analytik aufgestellten kritischen Maßstäbe kurzerhand abzuweisen wären, überrascht Kant in der ,Auflösung' nicht nur mit einem Sowohl-Als-Auch von naturgesetzlichem Kausalitätsbegriff und Freiheitsbegriff, sondern mit einer Umorientierung der ursprünglichen Fragestellung: Nun führt nicht mehr das spekulative Interesse der reinen theoretischen Vernunft das Wort, sondern das moralische Interesse der reinen praktischen Vernunft; nicht mehr der Begriff Gottes als des Aristotelischen primus motor immobilis, der in absoluter Spontaneität die Welt des Bedingten allererst setzt (B 478 = A 450), ist die strittige Vernunftidee, sondern der Begriff der Spontaneität menschlichen Handelns, der freilich schon in Kants , Anmerkung' zur These angeklungen war (B 476 = A 448), zumal der von Kant sogenannte „kosmologische" oder „transzendentale" Freiheitsbegriff, der „das Vermögen" bezeichnet, „einen Zustand von selbst anzufangen" (B 561 = A 533), beide Weisen spontaner Aktivität zu umfassen scheint. In diesem Zusammenhang führt Kant noch den Begriff der praktischen Freiheit ein: „Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit". Dieser negative Freiheitsbegriff läßt sich mühelos aus dem Begriff der absoluten Spontaneität der Willkür zum Handeln ableiten, so daß verwundert, daß Kant es als „überaus merkwürdig" ansieht, daß auf die dargelegte „transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe" (B 561/562 = A 533/534). Diese praktische Freiheit darf nicht mit jener empirisch beweisbaren Handlungsfreiheit verwechselt werden, die Kant ebenfalls „praktische Freiheit" oder „Freiheit im praktischen Verstande" nennt (B 829 — 831

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= 801—803). Die mit dieser Stelle verknüpften interpretatorischen und systematischen Schwierigkeiten seien im Augenblick ausgeklammert, um den laufenden Gedankengang nicht zu unterbrechen, werden aber an späterer Stelle in diesem Kapitel diskutiert werden. Kant glaubt, mit der Unterscheidung zwischen einer phänomenalen und einer noumenalen Welt eine Alternative zu der von der Transzendentalen Analytik her geforderten Abweisung eines die Erfahrung transzendierenden Kausalitätsbegriffs gefunden zu haben, die aber in Wirklichkeit auf eine Revision oder gar Liquidation der kritischen Grundsätze der Analytik hinausläuft, wenn Kant sie nicht nur als denkmöglich, also als widerspruchsfrei, sondern auch als realmöglich, d. h. als mit den Bedingungen der Erfahrung vereinbar ansehen sollte. Denn seinem erkenntnistheoretischen Standpunkt nach ist das Denkbare mit dem Erkennbaren, das Denkmögliche mit dem Realmöglichen deshalb nicht identisch, weil sich nur das erkennen läßt, „was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt" (B 265 = A 218), während sich schon denken läßt, was diesen Bedingungen zwar nicht genügt, wenigstens aber den formalen Bedingungen der Logik. „Denn die Möglichkeit des Begriffs von einer Sache (daß er sich nicht widerspricht) ist noch nicht hinreichend dazu, um die Möglichkeit der Sache selbst (die objektive Realität des Begriffs) anzunehmen" (MST A 6 = VI 382; vgl. KrV B xxvi-xxix; KU B 453 = V 466). Nun spricht sich Kant zwar in der Schlußbemerkung zur ,Auflösung' dahin aus, daß er eigentlich nur die Z?i«^möglichkeit des transzendentalen Freiheitsbegriffs im Auge gehabt habe (KrV B 586 = A 558); aber da es ihm um die Denkmöglichkeit dieses Begriffs nicht in bezug auf einen göttlichen Urheber der gesamten Natur, sondern auf menschliches Verhalten angesichts des faktisch bestehenden Kausalzusammenhangs geht, muß sich das Denken mit der Vereinbarkeit jener Idee und dieser Wirklichkeit befassen, das heißt aber mit der Ä^z/möglichkeit einer Kausalität aus Freiheit. Deshalb ist es unrichtig, die von Kant behauptete Nichtwidersprüchlichkeit zwischen Freiheits- und Naturkausalitätsbegriff (B xxviii; B 586 = A 558) darin zu sehen, wie manchmal geschieht (vgl. Bennett 1974, 194), daß transzendentale Freiheit, mit dem kritischen Blick der Analytik betrachtet, ein pures ens rationis sine fundamento in re sei. Es ist Kants innerstes Bedürfnis, die Möglichkeit sittlichen Handelns angesichts des naturbeherrschenden Kausalmechanismus zu wahren. Diese „Begierde des Rettens" (Adorno 1966, 376) wurde für ihn buchstäblich systembildend (vgl. KrV B xxvii —xxx). Sie führte ihn zur These von der transzendentalen Idealität der Erscheinungen und damit zur Teilung der Wirklichkeit in eine von Kausalgesetzen durchgehend beherrschte Welt der Phänomene und eine noumenale, unerfahrbare Welt, auf der aber die phänomenale Welt gründet. Obwohl Kausalität als Kategorie des Verstandes auf Erfahrung angewiesen ist, um zur Erkenntnis zu taugen, zögert Kant nicht,

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von Kausalität auch in bezug auf die noumenale Sphäre zu sprechen. Besitzt der Mensch solche Kausalität aus Freiheit, dann ist er ein Wesen zweier Welten: Die noumenale Spontaneität seines Wollens und Handelns gebiert Wirkungen in der Erfahrungswelt, die ihrerseits weitere Vorgänge in der Empirie verursachen. Seine Kausalität läßt sich somit nach Kant unter zwei Hinsichten betrachten: als „intelligibel", insofern er nicht der Natur, sondern der geistigen Welt angehört und spontan handelt, und als „sensibel", insofern er „Erscheinung in der Sinnenwelt" ist, wodurch er selbst und „seine Handlungen, als Erscheinungen, durch und durch mit ändern Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhange" stehen (B 566/567 = A 538/ 539). Ein solches Konzept muß die Möglichkeit der Einwirkung einer intelligiblen Ursache auf den empirischen Kausalzusammenhang annehmen, ohne daß dieser Zusammenhang dadurch unterbrochen sein kann; denn dies verbietet der universale Gebrauch, den der menschliche Verstand von der Kausalkategorie in bezug auf die Welt der Erscheinungen macht. Es läuft deshalb auf die Annahme hinaus, daß ein und dasselbe Ereignis in der Sinnenwelt die Wirkung zweier kategorial verschiedener Ursachen sein kann: „Wir würden uns demnach von dem Vermögen eines solchen Subjekts einen empirischen, imgleichen auch einen intellektuellen Begriff seiner Kausalität machen, welche bei ein und derselben Wirkung zusammen stattfinden". Und Kant versichert: „Eine solche doppelte Seite, das Vermögen eines Gegenstandes der Sinne sich zu denken, widerspricht keinen von den Begriffen, die wir uns von Erscheinungen und von einer möglichen Erfahrung zu machen haben" (B 566 = A 538). Aber diese Versicherung geht in eine falsche Richtung. Es mag ja sein — was hier nicht entschieden werden soll —, daß die zweifache Verursachung desselben empirischen Ereignisses — etwa durch Gott und durch eine innerweltliche Ursache (vgl. RGV B 215/216 = VI 142 26ff.; Zum ewigen Frieden B 47 ff. Anm. = VIII 361 f. Anm.) — widerspruchsfrei denkbar ist. Im Problemzusammenhang Kants interessiert aber eher die schon angedeutete Frage, ob sich ein naturkausal angeblich vollständig determiniertes Ereignis ohne Widerspruch zugleich auch einer frei handelnden Ursache zuschreiben läßt; denn für eine in Kants Sinne transzendental freie Ursache ist es kennzeichnend, daß sie gegebenenfalls auch anders hätte handeln können. Diese Folgerung ergibt sich sowohl aus dem die freie Handlung charakterisierenden Begriff der Spontaneität (B 577 f. = A 549 f.), also der Zurechenbarkeit eines bestimmten Verhaltens, als auch aus der Erfahrung des moralischen Sollens (B 562, 575 = A 534, 547), das ein entsprechendes Können voraussetzt. Aber es ist nicht zu sehen, wie ein naturgesetzlich vollständig bestimmtes Geschehen auch hätte nicht stattfinden können. Den Begriff eines naturgesetzlich nicht vollständig bestimmten Ereignisses, das zur vollen Bestimmung seines Verursachtseins noch einer Kausalität aus Freiheit bedarf, kennt Kant aus

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systemimmanenten Gründen nicht. Seine Auffassung von der vollkommenen Determiniertheit einer jeden Erfahrungswirklichkeit durch den Kausalmechanismus der Natur läßt dann aber jede Zurechnung einer Handlung als ungerechtfertigt erscheinen. Kants Versuche, sie trotzdem als möglich hinzustellen (z. B. Kr V B 582 -584 = A 554-556; KpV A 168-185 = V 94103), sind vom Boden seiner eigenen Position aus unzulässig. Daß die zur Lösung der Freiheitsproblematik von Kant konzipierte ZweiWelten-Theorie das der metaphysischen Tradition zu verdankende Dilemma von Natur und Freiheit nicht behebt, sondern gerade akzentuiert und noch vertieft, ist in der Kant-Kritik häufig bemerkt worden, in jüngerer Zeit u. a. von Beck (1960, 192), Bennett (1974, 200-203) und Röttges (1974, 44-48). Es gibt jedoch eine Reihe von Überlegungen Kants selbst, die mit seiner Zwei-Welten-Theorie unvereinbar sind, aber plausible Hinweise für handlungstheoretische Neuansätze liefern, die auch für eine Lösung des traditionellen Determinismusproblems von Bedeutung sein können. Sie seien kurz skizziert: Kant möchte 1. entgegen seiner üblichen Auffassung den „empirischen Charakter" eines Menschen, seine „Sinnesart", denn doch gelegentlich als „das sinnliche Zeichen" seines „intelligiblen Charakters", seiner „Denkungsart", gelten lassen (KrV B 574, 579 = A 546, 551), so daß moralische Verhaltensurteile, wie wir sie gewöhnlich fällen, prinzipiell begründet erscheinen (zur Problematik vgl. noch Heimsoeth 1967a; 1967b; Zeltner 1967, 340344; Adorno 1966, 281-292 sowie §§11, 12, 14, 21-23 der vorliegenden Arbeit). Kant möchte 2. eine Form der metempirischen Selbsterkenntnis, die er unter dem Titel der „reinen" oder „ursprünglichen Apperzeption" zuerst in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft als den „Actus der Spontaneität" explizierte, mit dem sich das Selbstbewußtsein als Einheit des Mannigfaltigen der Vorstellungen im Denken konstituiert (B 132 f.), auch im Bereich des menschlichen Handelns gelten lassen: „Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann" (B 574 = A 546). 3. Eine mit der letzten These verwandte Argumentation vertritt Kant in der Grundlegung, daß nämlich jemand, der handelt, sich, insofern er handelt, notwendigerweise als frei auffassen muß: „Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum, in praktischer Rücksicht, wirklich frei". Aber die Verknüpfung von Handlung und Freiheit ist nicht nur für den Handelnden selbst unvermeidlich, sondern auch für einen Außenstehenden, vorausgesetzt, er betrachtet ihn als Handelnden: „Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d.i. Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat. [...] Sie muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen,

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folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens, von ihr selbst als frei angesehen werden" (B 100/101 = IV 448). 4. Diese für den Bereich menschlichen Handelns in seiner Gesamtheit gültige Betrachtung ergänzt Kant durch eine spezifisch moralphilosophische Überlegung, die er schon in der ersten, dann aber vor allem in der zweiten Kritik und in der Religionsschrift wiederholt anstellt, daß sich nämlich aus der Berechtigung des unbedingten Geltungsanspruchs des moralisch-praktischen Vernunftgesetzes, der sich z.B. mit Hilfe des Gewissens zu unmittelbarer Erfahrung bringt, aufgrund des Axioms ,(Moralisches) Sollen setzt Können voraus' sowohl die Entscheidungs- wie prinzipiell auch die Handlungsfreiheit als gegeben behaupten lasse (vgl. KrV B 575 f., 835 = A 547 f., 807; KpV A 4, 53-56, 65, 82-100 = V 3, 29-32, 37 12f., 47-57; RGV B 43, 50, 54, 58 Anm., 60, 76, 85, 209 = VI 41 20f., 457-9, 4732, 49 Anm., 5020f., 6214, 66/67, 13816-24; MST A 45 = VI 40423-4059; Streit der Fakultäten A 92 = VII 58 32f.; Gemeinspruch A 229 = VIII 287 35; Zum ewigen Frieden B 71, 96 = VIII 3706-9, 380 23f.). 5. Beck (1960, 192—194) macht auf die von Kant in der sogenannten ,Dialektik der teleologischen Urteilskraft' der dritten Kritik (KU 311—363 = V 385—415) entwickelte .Antinomie' zwischen zwei verschiedenen „regulativen Grundsätzen" der Naturforschung aufmerksam, dem Grundsatz, alles Geschehen unter dem Aspekt der effizienten oder mechanischen Kausalität zu betrachten, und dem Grundsatz, manche Vorgänge in der Natur unter dem Aspekt der finalen oder teleologischen Kausalität zu erforschen (B 314 = V 387). Charakteristisch für diese ,Antinomie' ist es, daß in ihr nicht wie in der Transzendentalen Dialektik der ersten Kritik für die Wirklichkeit angeblich konstitutive Vernunftideen einander gegenübertreten, sondern regulative Prinzipien der Urteilskraft, die keinen wirklichkeitskonstituierenden Anspruch erheben. Kant selbst wendet diese neue Sichtweise auf das Problem der Vereinbarkeit von Naturkausalität und Handlungsfreiheit an (KU B 342 f. = V 403 f.): Beide Konzepte schließen einander unter dieser Perspektive nicht mehr aus. Natürlich hat Kant ihre Deutung als regulative Prinzipien nicht als Alternative zu ihrer transzendentalen Bedeutung angesehen. Entschließt man sich jedoch, diese Deutung als Alternative zu Kants Zwei-Welten-Theorie im Sinne einer Zwei-Aspekte-Theorie auszuarbeiten, wie es Beck versucht (1960, 29-37; 1975; vgl. aber schon Paton 1948, 217 f., 267 f., 271—275), dann werden eine Reihe von Revisionen Kantischer Philosopheme bis in die Transzendentale Analytik hinein notwendig. 6. Wie schon in § l dargelegt, gibt es ausdrückliche Bemerkungen Kants über den Vorrang der praktischen gegenüber den theoretischen Vermögen des Menschen. So kommt der reinen praktischen Vernunft gegenüber der theoretisch-spekulativen nach Kant der „Primat" zu (KrV B 825 ff. = A 797ff.; KpV A 215ff. = V 119 ff.). Aber auch dem mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkennen liefert das Handeln — vor allem in den

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speziellen Formen des Konstruierens und Experimentierens — die Richtschnur, weil „die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt"; denn die technisch-praktische Vernunft entwirft Hypothesen und entwickelt Programme, die „die Natur nötigen [...], auf ihre Fragen zu antworten [...]; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt" (KrV B xiii). Dieser Hinweis Kants auf die aktive, handelnde Erkenntnishaltung der Naturwissenschaften — von Kant als „Revolution" gegenüber einer kontemplativen oder metaphysischen Einstellung zur Natur bezeichnet (B xi, xiii) — könnte u. a. als Anknüpfungspunkt dafür dienen, im Sinne der Untersuchungen von Wrights (1971; 1974) ganz allgemein die Priorität des Handlungsbegriffs vor dem naturgesetzlichen Kausalitätsbegriff zu begründen (vgl. Wimmer 1983). Die genannten Punkte geben Anlaß, von Ansätzen Kants selbst her eine handlungstheoretische Alternative zu seiner Zwei-Welten-Theorie zu entwikkeln, ohne daß diese Aufgabe allerdings hier geleistet werden kann. Überzeugende Ansätze bietet von Wright (1963; 1968; 1971; 1974; 1977; dazu vgl. Martin 1976; Stoutland 1970; 1976a; 1976b sowie von Wright 1976). Bisher haben wir aus Gründen der Übersichtlichkeit einen Begriff von Freiheit nicht erörtert, der in der Kritik der reinen Vernunft mehrfach an prominenter Stelle auftaucht und eigene Probleme mit sich führt, den der sogenannten praktischen Freiheit'. Wir begegnen ihm zum einen bei der ,Auflösung* der dritten Antinomie in der Transzendentalen Dialektik, zum anderen bei der Darlegung des letzten Zwecks des reinen Vernunftgebrauchs in der Transzendentalen Methodenlehre. In der Transzendentalen Dialektik heißt es nach Einführung des Begriffs der kosmologischen oder transzendentalen Freiheit: „Es ist überaus merkwürdig, daß auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe, und jene in dieser das eigentliche Moment der Schwierigkeiten ausmache, welche die Frage über ihre Möglichkeit von jeher umgeben haben. Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. [...] Man siehet leicht, daß, wenn alle Kausalität in der Sinnenwelt bloß Natur wäre, so würde jede Begebenheit durch eine andere in der Zeit nach notwendigen Gesetzen bestimmt sein, und mithin, da die Erscheinungen, so fern sie die Willkür bestimmen, jede Handlung als ihren natürlichen Erfolg notwendig

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machen müßten, so würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen. Denn diese setzt voraus, daß, obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen, und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten gan^ von selbst anzufangen" (B 561 f. = A 533 f.). Und in der Transzendentalen Methodenlehre macht Kant zunächst darauf aufmerksam, daß es in ihr u. a. um die Aufstellung des Kanons der reinen praktischen Vernunft, d. h. des Systems der apriorischen Grundsätze ihres richtigen Gebrauchs gehe und daß dieser Gebrauch ihren letzten Zweck, nämlich das höchste Gut betreffe (B 823 ff. = A 795 ff.). Um zu verdeutlichen, daß es sich bei diesem Gebrauch um den moralischen, und das heißt: einen schlechthin unbedingten, handelt, differenziert Kant die Begriffe des Praktischen, der Freiheit und der Vernunft nach der Seite des Empirisch-Bedingten und nach der des Apriorisch-Unbedingten hin, womit er die entsprechenden Unterscheidungen der Grundlegung und der zweiten Kritik vorwegnimmt: „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist. Wenn die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür aber empirisch sind, so kann die Vernunft dabei keinen anderen als regulativen Gebrauch haben, und nur die Einheit empirischer Gesetze zu bewirken dienen, wie z. B. in der Lehre der Klugheit die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind, in den einigen, die Glückseligkeit, und die Zusammenstimmung der Mittel, um dazu zu gelangen, das ganze Geschäfte der Vernunft ausmacht, die um deswillen keine andere als pragmatische Gesetze des freien Verhaltens, zu Erreichung der uns von den Sinnen empfohlenen Zwecke, und also keine reine Gesetze, völlig a priori bestimmt, liefern kann. Dagegen würden reine praktische Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist, und die nicht empirisch-bedingt, sondern schlechthin gebieten, Produkte der reinen Vernunft sein. Dergleichen aber sind die moralischen Gesetze, mithin gehören diese allein zum praktischen Gebrauche der reinen Vernunft, und erlauben einen Kanon" (B 828 = A 800). Dann aber macht Kant einige befremdliche Äußerungen. Zunächst merkt er an, daß der augenblickliche Gegenstand der Erörterung, das Praktische und seine Gesetze, eigentlich „der transzendentalen Philosophie" fremd sei und fügt in einer Fußnote hinzu: „Alle praktische Begriffe gehen auf Gegenstände des Wohlgefallens, oder Mißfallens, d. i. der Lust und Unlust, mithin, wenigstens indirekt, auf Gegenstände unseres Gefühls. Da dieses aber keine Vorstellungskraft der Dinge ist, sondern außer der gesamten Erkenntniskraft liegt, so gehören die Elemente unserer Urteile, so fern sie sich auf Lust oder Unlust beziehen, mithin der praktischen, nicht in den Inbegriff der Transzendentalphilosophie, welche lediglich mit reinen Erkenntnissen a priori zu tun

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hat" (B 829 = A 801). Es verwundert, das Praktische hier ganz auf das durch Empfindung und Gefühl Bedingte herabgesetzt zu sehen, nachdem zuvor eine angemessene Differenzierung stattgefunden hatte. Es scheint, daß Kant zur Zeit der Erstfassung der Kritik der reinen Vernunft den Begriff des Moralischen noch nicht rein und frei von allem Empirischen zu fassen vermochte wie einige Jahre später zur Zeit der Umarbeitung (der ersten Hälfte) der Kritik für die zweite Auflage (1787), als er die Grundlegung (1785) und die Kritik der praktischen Vernunft (1788) schrieb. Dafür scheint auch folgender Satz — jedenfalls auf den ersten Blick — zu sprechen: „Moralische Begriffe sind nicht gänzlich reine Vernunftbegriffe, weil ihnen etwas Empirisches (Lust oder Unlust) zum Grunde liegt" (B 597 = A 569). Man hat den Eindruck, daß Kant sich erst in der Zeit nach 1781 völlig aus dem Bann der moral-sense-Philosophie seiner früheren Jahre zu lösen vermochte. Er hätte es dann aber unterlassen, die die Moralphilosophie betreffenden korrekturbedürftigen Passagen in der zweiten Hälfte der Kritik der reinen Vernunft zu überarbeiten, und zwar vielleicht deshalb, weil die beiden moralphilosophischen Werke schon auf dem Weg waren und eine überzeugendere Klärung zu leisten versprachen als Revisionen innerhalb eines mit anderer Stoßrichtung abgefaßten Werkes (Genaueres zum Verhältnis der ersten Kritik zu den moralphilosophischen Grundschriften Kants und ihrer Entwicklung u. a. bei Beck 1960, 3-28). Die inkriminierten Äußerungen Kants lassen sich aber auch wohlwollender interpretieren, insofern sie lediglich atn faktischen Gebrauch moralischer bzw. praktischer Begriffe beschreiben könnten. Kant hebt nämlich durchaus die Notwendigkeit der Reinigung solcher Begriffe von ihren empirischen Beimengungen bzw. der Neubildung reiner praktischer Vernunftbegriffe hervor. So fährt Kant z. B. im Anschluß an den vorhin zitierten Satz „Moralische Begriffe sind nicht gänzlich reine Vernunftbegriffe, weil ihnen etwas Empirisches (Lust oder Unlust) zum Grunde liegt" fort: „Gleichwohl können sie in Ansehung des Prinzips, wodurch die Vernunft der an sich gesetzlosen Freiheit Schranken setzt (also wenn man bloß auf ihre Form Acht hat), gar wohl zum Beispiele reiner Vernunftbegriffe dienen. Tugend, und, mit ihr, menschliche Weisheit in ihrer ganzen Reinigkeit, sind Ideen. Aber der Weise (des Stoikers) ist ein Ideal, d. i. ein Mensch, der bloß in Gedanken existiert, der aber mit der Idee der Weisheit völlig kongruieret. So wie die Idee die Regel gibt, so dient das Ideal in solchem Falle zum Urbilde der durchgängigen Bestimmung des Nachbildes, und wir haben kein anderes Richtmaß unserer Handlungen, als das Verhalten dieses göttlichen Menschen in uns, womit wir uns vergleichen, beurteilen, und dadurch uns bessern, obgleich es niemals erreichen können. Diese Ideale, ob man ihnen gleich nicht objektive Realität (Existenz) zugestehen möchte, sind doch um deswillen nicht für Hirngespinste anzusehen, sondern geben ein unentbehrliches Richtmaß der Vernunft ab, die des Begriffs von dem, was in seiner Art ganz vollständig ist, bedarf, um

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darnach den Grad und die Mängel des Unvollständigen zu schätzen und abzumessen. [...] Die Absicht der Vernunft mit ihrem Ideale ist dagegen die durchgängige Bestimmung nach Regeln a priori; daher sie sich einen Gegenstand denkt, der nach Prinzipien durchgängig bestimmbar sein soll, obgleich dazu die hinreichenden Bedingungen in der Erfahrung mangeln und der Begriff selbst also transzendent ist" (B 597-599 = A 569-571). Kant nähert sich schon hier den Begriffen des höchsten ursprünglichen Guts (Gott) und des höchsten abgeleiteten Guts (Reich Gottes, moralische Welt), die er als solche erst in der Transzendentalen Methodenlehre als zum Kanon des rechten Gebrauchs der reinen praktischen Vernunft gehörig vorstellt (B 838 f. = A 810 f.). In ähnliche Richtung bewegt sich Kant, wenn er hier in der Methodenlehre schreibt, daß er sich, auch wenn das Praktische kein Gegenstand transzendentaler Philosophie sein könne, doch „so nahe als möglich am Transzendentalen halte, und das, was etwa hiebei psychologisch, d. i. empirisch sein möchte, gänzlich bei Seite setze" (B 829 = A 801). Er fährt dann fort und gibt dadurch einen Hinweis zum Verständnis seiner Behauptung, daß der transzendentalen Methode das Praktische unzugänglich sei, daß er sich jetzt „des Begriffs der Freiheit nur im praktischen Verstande bedienen werde, und den in transzendentaler Bedeutung [...] bei Seite setze". Damit nun aber scheint er der früher zitierten Behauptung aus der Transzendentalen Dialektik zu widersprechen, wonach sich der praktische Freiheitsbegriff auf dem transzendentalen gründe (B 561 = A 533). Offenbar muß aber der Ausdruck praktische Freiheit' oder .Freiheit im praktischen Verstande' an den beiden Stellen in unterschiedlichem Sinne genommen werden: Eine Freiheit, deren Grund laut Transzendentaler Dialektik noumenal ist, ist empirisch nicht zugänglich; insofern hat praktische Freiheit an der erfahrungsmäßigen Unerweislichkeit transzendentaler Freiheit teil. Demgegenüber behauptet die Methodenlehre: „Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden" (B 830 = A 802) und „Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung" (B 831 = A 803). Gemeint ist wohl vor allem die Erfahrung, daß wir uns gegen unsere eigenen unmittelbaren Bedürfnisse zu behaupten oder auch gegen soziale Zumutungen durchzusetzen vermögen, unser Entscheiden, Wählen und Handeln offensichtlich nicht immer von den aufdringlichsten Situationszügen diktiert wird, sondern, sich auf Vernunftgründe berufend, sich über sie frei erhebt. Aber es bleibt die Frage, ob die Vernunft nicht, während sie sich anscheinend selbst bestimmt, ihr selbst verborgen doch wieder anderen, tiefer ansetzenden, ihr fremden Einflüssen unterliegt. Transzendentale Freiheit wäre gegenüber solch relativer Freiheit „eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst", jedoch nicht nur, wie Kant meint, „in Ansehung ihrer Kausalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen" (B 831 = A 803), also der Handlungsfähigkeit der menschlichen Willkür (als Handlungsvermögen), sondern auch sowohl ihrer Entscheidungsfähigkeit (als

§7. Naturkausalität, Handlungs-, Entscheidungs- u. moralische Freiheit

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Vermögen zur Bildung von Maximen) wie der absoluten Autonomie der Vernunft selbst (nämlich als unbedingt praktische, d. h. moralische Gesetzgebungsinstanz). Wesentlicher als die Aufklärung der Doppeldeutigkeit des Ausdrucks praktische Freiheit' in der Kritik der reinen Vernunft (dazu vgl. auch Kvist 1978, 91 f.) ist aber die Frage, ob die Lösung des Problems der Realgeltung der Begriffe der Freiheit des Handelns, des Entscheidens und der moralischen Vernunftgesetzgebung für das praktisch-moralische Interesse des Menschen wirklich „gleichgültig" ist, weil sie „bloß das spekulative Wissen" betreffe, wie Kant meint (B 831/832 = A 803/804). Hier ist nun aber energischer Widerspruch angezeigt, und wenn es der Fall ist, wie eben dargelegt, daß Kants innerstes Bedürfnis, das das Philosophieren seiner Reifezeit antrieb und geradezu systembildend wurde, dahin ging, die Möglichkeit sittlichen Handelns angesichts eines naturbeherrschenden Kausalgesetzes zu wahren, dann setzt sich diese Äußerung in eklatanten Gegensatz zum eigentlichen Gehalt seiner kritischen Philosophie. Ihr theoretisches Interesse stammt doch im Wesentlichen von dem praktisch-moralischen Interesse des Menschen Kant an dem Endzweck seines Daseins. Zwar ist das Problem der Freiheit nicht theoretisch lösbar, und die theoretische Philosophie kann nicht weiter kommen, als auf rein begrifflicher Ebene die Nichtwidersprüchlichkeit von noumenaler Freiheit und Naturkausalität zu zeigen und die Frage nach der Realgeltung dieses Freiheitsbegriffs an die praktische Philosophie weiterzugeben. Sie aber nun trifft die Feststellung — so möchte ich jedenfalls Kants Lehre in der Kritik der praktischen Vernunft vom moralischen Gesetz bzw. dem Bewußtsein von ihm als einem apodiktisch gewissen Faktum der Vernunft und der Identität dieses Bewußtseins mit dem Bewußtsein der Freiheit lesen (A 55/56, 72, 82-87, 96/97 = V 31, 42, 47-50, 55) -, daß das angebliche ,Problem' immer schon seine Lösung gefunden hat, daß nämlich die Erfahrung unbedingten Verpflichtetseins das Bewußtsein unbedingter Freiheit bei sich führt. Der Begriff der unbedingten Freiheit (und des entsprechenden Könnens nach dem Axiom ,Moralisches Sollen setzt Können voraus') ist natürlich nicht mit dem der Handlungsfreiheit, sondern mit dem der Entscheidungsfreiheit im Sinne der grundlegenden Entscheidung für das Gute zu verknüpfen; die Freiheit zu handeln, ja selbst die Freiheit, sich für oder gegen bestimmte Ansprüche und Normen zu entscheiden, kann bekanntlich mannigfach eingeschränkt sein, was Kant ignoriert (vgl. z. B. Kp V A 54 = V 30; dazu Adorno 1966, 221 —223, 265 f.). Aber in einem fundamentalen Sinne muß jeder Mensch den Zweck seines Daseins realisieren können, welche konkrete Gestalt auch immer sein Leben haben mag, und in diesem Sinne, aber auch nur in diesem, ist er absolut frei. Vor allem in Kants Religionsphilosophie tritt dieser grundlegende Freiheitsbegriff in den Vordergrund, während die Erörterungen in der Kritik der reinen Vernunft sich vornehmlich

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B. Natur und Freiheit

um den Begriff der mit der Fähigkeit zu handeln verknüpften transzendentalen oder kosmologischen Freiheit bewegten und in den beiden moralphilosophischen Hauptschriften der Begriff der mit der Fähigkeit, sich Handlungsgrundsätze und -regeln (Maximen) zu bilden, gegebenen Wahl- und Entscheidungsfreiheit vorherrschte. Um jene Freiheit, die jeder Einzelentscheidung vorausund zugrundeliegt, geht es in den folgenden Diskussionen, die sich an das erste Hauptstück der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft anschließen.

§ 8. Gibt es eine Anlage %um Guten in der menschlichen Natur? In der Religionsschrift zählt Kant drei Anlagen („Klassen als Elemente der Bestimmung des Menschen") auf (RGV B I S = VI 26), die zusammen die dem Menschen angeblich von Natur aus und wesentlich zukommende Anlage zum Guten ausmachen: 1. die Anlage für die sogenannte „Tierheit" (animalitas) des Menschen, die ihn zum Sinnenwesen macht; 2. die Anlage für die sogenannte „Menschheit" des Menschen, die Kant durch Vernunft charakterisiert sieht, weshalb er sie wohl besser als die Anlage zur Vernünftigkeit (rationalitas) bezeichnet hätte, weil die spezifische Menschheit (humanitas) des Menschen doch erst mit der 3. Stufe erreicht ist, der Anlage für seine „Persönlichkeit" (personalitas), worunter seine moralische, der moralischen Zurechnung fähige Persönlichkeit zu verstehen ist. Es ist zu beachten — was bei Kants knappen Formulierungen leicht übersehen wird — , daß für ihn die höherstufige Anlage die niederstufige(n) in sich begreift, so daß jene trotz ihrer seinsmäßigen Überlegenheit durch diese spezifische Modifikationen erfährt, wie auch diese durch jene: Die Anlage für die rationalitas des Menschen ist eine durch seine Anlage für die animalitas spezifizierte und eingeschränkte, wie auch seine animalitas durch seine rationalitas spezifisch modifiziert ist; entsprechend erfährt die Anlage für die moralische Persönlichkeit des Menschen durch die für ihn spezifischen Anlagen für die Sinnlichkeit und Rationalität ihre besondere Prägung. Welcher Art diese Prägung ist, erläutert Kant in den auf die Aufzählung der Anlagen folgenden drei Punkten (B 16-19 = VI 26-28). Bemerkenswert für Kants anthropologische Analyse ist die Erweiterung der klassischen Zweiheit der Wesensbestimmung des Menschen (animal rationale, ) zu einer Dreiheit. Diese Erweiterung begründet Kant in einer Anmerkung eigens (B 15 f. = VI 26): Die Anlage für die (moralische) Persönlichkeit oder Zurechnungsfähigkeit des Menschen ist nicht schon mit seiner Anlage zur Vernünftigkeit gegeben. „Denn es folgt daraus, daß ein Wesen Vernunft hat, gar nicht, daß diese ein Vermögen enthalte, die Willkür unbedingt, durch die bloße Vorstellung der Qualifikation ihrer Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung zu bestimmen, und also für sich selbst praktisch

§8. Gibt es eine Anlage zum Guten in der menschlichen Natur?

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zu sein: wenigstens so viel wir einsehen können. Das aller/vernünftigste Weltwesen könnte doch immer gewisser Triebfedern, die ihm von Objekten der Neigung herkommen, bedürfen, um seine Willkür zu bestimmen, hiezu aber die vernünftigste Überlegung, sowohl was die größte Summe der Triebfedern, als auch die Mittel, den dadurch bestimmten Zweck zu erreichen, betrifft, anwenden: ohne auch nur die Möglichkeit von so etwas, als das moralische schlechthin gebietende Gesetz ist, welches sich als selbst, und zwar höchste, Triebfeder ankündigt, zu ahnen. Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es, als ein solches, durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen". Diese Erläuterung ist ein Ausdruck der Grundüberzeugung Kants von der Unbedingheit der moralisch-praktischen Vernunft des Menschen und seiner von allen möglichen außermoralischen Antrieben unabhängigen Freiheit, sich selbst jener Vernunft gemäß zu bestimmen. Kant gelangt zur Dreiteilung der Anlage zum Guten im Menschen durch die Unterscheidung einer autonomen und einer heteronomen praktischen Vernunft und der entsprechenden unbedingten und bedingten Freiheit, wie er in seinen moralphilosophischen Schriften ausführt. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht spricht Kant in bezug auf das praktische Vermögen des Menschen ebenfalls von drei „Anlagen", der technischen zur „Handhabung der Sachen", der pragmatischen, „andere Menschen zu seinen Absichten geschickt zu brauchen", und der moralischen, „nach dem Freiheitsprinzip unter Gesetzen gegen sich und andere zu handeln" (B 314 = VII 322). Dieser Einteilung entspricht Kants Aufteilung der Imperative in technische, pragmatische und moralische (GMS B 44 = IV 416/417), die er auch „Regeln der Geschicklichkeit", „Ratschläge der Klugheit" und „Gebote (Gesetze) der Sittlichkeit" nennt (B 43 = IV 416). Im Ergebnis bedeutet die Rede der Anthropologie von drei praktischen Anlagen lediglich eine weitere Unterteilung der zweiten Anlage der Religionsschrift. Entscheidend ist auch für die Anthropologie wie für Kants praktische Philosophie insgesamt die Unterscheidung zwischen autonomer und in fremden Diensten stehender Vernunft bzw. zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen (vgl. GMS B 39-51 = IV 414-420). Die ersten beiden Anlagen, nämlich die für Sinnlichkeit und die für die technisch-pragmatische Rationalität, bringt Kant unter den Titel der physischen Selbstliebe (RGV B 16 f. = VI 26 f.), wobei es sich im ersten Fall um vernunftlos-instinktive, „mechanisch" genannte Selbstliebe handelt, worunter die Erhaltung seiner selbst, die Erhaltung der Art durch den Sexualtrieb und die Herstellung und Erhaltung des Zusammenlebens durch den Trieb zur Vergesellschaftung zu verstehen ist, während es im zweiten Fall nicht mehr um instinktive, sondern schon um vernunftgeleitete, „vergleichend" genannte Selbstliebe geht, für die dann die genannten beiden Klassen hypothetischer Imperative — die Regeln der Geschicklichkeit und die Ratschläge der Klug-

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B. Natur und Freiheit

heit — gelten. Der Ausdruck ,Selbstliebe' ist hier von Kant nicht nur in einem sehr weiten Sinne gebraucht, insofern er alle natürlichen Bestrebungen des Menschen, auch die ,altruistischer' Art, wie die Erhaltung der Gattung oder die Beförderung von Gemeinschaft, Zivilisation und Kultur, in sich befaßt, sondern auch in einer von jeder moralischen Beurteilung freien Bedeutung. Erst Selbstliebe als Grundsatz der Immoralität pervertiert diese Anlagen, indem sie sie unmoralischen Zwecken dienstbar macht und auf sie, wie Kant sich ausdrückt (ebd.), Laster pfropft. Kant betont: „Alle diese Anlagen im Menschen sind nicht allein (negativ) gut (sie widerstreiten nicht dem moralischen Gesetze), sondern sind auch Anlagen %um Guten (sie befördern die Befolgung desselben)" (B 19 = VI 28). Wenn es auch schwierig ist, den positiven zweiten Teil dieses Satzes angemessen zu verstehen — eine Schwierigkeit, die mit Kants Titel für diesen Abschnitt („Von der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur") und seiner Sachaussage im ganzen gegeben ist und die eigenes zu behandeln sein wird —, so macht der erste Teil unbezweifelbar klar, daß Kant die Ansicht zurückweist, Sinnlichkeit und (physische) Selbstliebe (bzw. die Anlagen hierzu) seien die Wurzeln oder die Urheber des moralisch Bösen oder könnten für es verantwortlich gemacht werden. In bezug auf die Sinnlichkeit wiederholt Kant seinen Standpunkt mehrfach (RGVB 31, 48, 69 mit Anm., u. ö. = VI 34 f., 44, 58 mit Anm., u. ö.; vgl. noch Anthropologie B 30—34 = VII 143 — 146; Refl. Nr. 6665 = XIX 12722), und auch bezüglich des die hypothetischen Imperative regierenden Prinzips der Selbstliebe oder der Glückseligkeit betont Kant die im Wesen des Menschen bzw. in seiner Natur begründete Notwendigkeit, die als solche und für sich gesehen moralisch neutral ist, sich das eigene Wohl zum — freilich vorläufigen, nicht letzten — Zweck zu machen, wie wir in § 3 sahen. Sinnlichkeit als solche, Selbstliebe, Glücksverlangen oder die Anlagen hierzu können deswegen nicht Urheber des moralisch Bösen sein, weil das Böse nur Resultat einer freien Entscheidung sein kann und zwar einer Entscheidung, die selber notwendig ist, das heißt: der sich das freie Wesen nicht entziehen kann. Nicht nur, daß der Mensch ein in moralischer Hinsicht freies Wesen ist, sondern auch, daß er diese moralische Freiheit notwendig vollziehen muß, bringt Kant durch die Hinweise auf die Gegebenheit des Sittengesetzes bzw. des Bewußtseins von ihm (KpV A 55/56, 81, 96 = V 31, 47, 55) und auf die Anlage für die moralische Persönlichkeit (RGV B 18 f. = VI 27 f.) zum Ausdruck. Diese „Anlage für die Persönlichkeit ist die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür. Die Empfänglichkeit der bloßen Achtung für das moralische Gesetz in uns wäre das moralische Gefühl, welches für sich noch nicht einen Zweck der Naturanlage ausmacht, sondern nur, sofern es Triebfeder der Willkür ist. Da dieses nun lediglich dadurch möglich wird, daß die freie Willkür es in seine [Ak.-Ausg.: ihre] Maxime aufnimmt: so ist Beschaffenheit einer solchen

§ 8. Gibt es eine Anlage zum Guten in der menschlichen Natur?

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Willkür der gute Charakter; welcher, wie überhaupt jeder Charakter der freien Willkür, etwas ist, das nur erworben werden kann, zu dessen Möglichkeit aber dennoch eine Anlage in unserer Natur vorhanden sein muß, worauf schlechterdings nichts Böses gepfropft werden kann. Die Idee des moralischen Gesetzes allein, mit der davon unzertrennlichen Achtung, kann man nicht füglich eine Anlage für die Persönlichkeit nennen; sie ist die Persönlichkeit selbst (die Idee der Menschheit ganz intellektuell betrachtet). Aber, daß wir diese Achtung zur Triebfeder in unsere Maximen aufnehmen, der subjektive Grund hiezu scheint ein Zusatz zur Persönlichkeit zu sein, und daher den Namen einer Anlage zum Behuf derselben zu verdienen". Machen wir uns den genauen Sinn dieses schwierigen Abschnitts so weit als möglich klar! Im ersten Satz ist ,die Empfänglichkeit der Achtung' als genitivus obiectivus zu verstehen; zu ergänzen ist nämlich ,die Willkür' als Subjekt, wie aus dem Zusammenhang und aus parallelen Erörterungen der Metaphysik der Sitten hervorgeht (so Bohatec 1938, 232 Anm. 33). Der Satz bedeutet dann: Die Anlage für die moralische Persönlichkeit ist die Empfänglichkeit der Willkür für die Achtung des moralischen Gesetzes. Diese Achtung kann die Willkür zu ihrer Triebfeder machen, indem sie sie in ihre Maxime aufnimmt, oder besser: indem sie sie zum alleinigen Bestimmungsgrund all ihrer besonderen Maximen macht. Geschieht dies, so ist die Willkür moralisch gut. Macht sie die Achtung nicht zum ausschließlichen Bestimmungsgrund, so ist sie moralisch schlecht. Da es sich jeweils um den Grund der Bestimmung von Maximen handelt, so daß die Willkür ihre moralische Beschaffenheit nicht mit der vordergründigen moralischen Qualität ihrer Maximen ändert, nennt Kant diese Beschaffenheit ihren guten oder schlechten Charakter. Auch der schlechte Charakter behält die Empfänglichkeit für die Achtung des Sittengesetzes. Sowohl das Bewußtsein von diesem Gesetz als auch die Empfänglichkeit für dessen Achtung stellen, weil sie unverlierbar sind, auch dem schlechten Menschen die Möglichkeit zu einer völligen Umwandlung seiner selbst bereit, wie Kant später ausführt (B 52 — 53, 56 — 59 = VI 46-50). Kants anthropologische Analyse ist ideologisch ausgerichtet; er spricht von den Naturanlagen des Menschen sowohl „in Beziehung auf ihren Zweck", d. h. auf ihren unmittelbaren Naturzweck, nämlich für die animalitas, rationalitas, personalitas des Menschen (B 15 = VI 264), als auch in Beziehung auf ihren übergeordneten moralischen Zweck: Die Naturanlagen sind „Anlagen %um Guten" (B 15, 19 = VI 262, 28 14). Während sich nun aber bei den ersten beiden Naturanlagen Naturzweck und moralischer Zweck unterscheiden, sind sie bei der dritten Anlage identisch, so daß ihre natürliche Bestimmung aufgrund der freien Entscheidung des Menschen zum Bösen auch vereitelt werden kann; denn nur dann, wenn die Willkür sich die Achtung des Gesetzes zur Triebfeder macht, erreicht die Naturanlage — nämlich die moralische Persönlichkeit als Empfänglichkeit für solche Achtung - ihren Zweck (B 18 - VI 27).

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B. Natur und Freiheit

Inwiefern sind aber auch die übrigen beiden Anlagen Anlagen zum Guten? Um dies zu verstehen, ist wieder zu beachten, daß die Anlage für die Persönlichkeit die Anlagen für die Sinnlichkeit und die Vernünftigkeit in sich befaßt. Selbstzweck ist der Mensch als ganzer. Würde seine Selbstzwecklichkeit auf seine Anlage zur Moralität beschränkt, so wäre sie inhaltslos, material leer. Die „Menschheit ganz intellektuell betrachtet" (B 19 = VI 28 3 f.) — zum Verständnis dieser Formulierung vgl. den Exkurs § 10 —, d. i. die Anlage für die moralische Persönlichkeit, läßt sich nicht zweckabhängig von den übrigen Anlagen betätigen, die der Mensch „zwar zweckwidrig brauchen, aber keine derselben vertilgen" kann (B 19 = VI 28 16 f.); und sie statten jene mit ihrer Leibhaftigkeit und Welthaltigkeit, mit Inhalten also, aus. Insofern sind sie für die Aktivität der moralischen Anlage im Menschen unabdingbar, und in diesem Sinne ,befördern' sie die Befolgung des Moralgesetzes, nämlich als notwendige Bedingungen für die Betätigung der moralischen Anlage. Damit ist die Titelfrage dieses Kapitels beantwortet: Der Mensch besitzt Naturanlagen zum Guten; die Anlage für die Persönlichkeit, die in der Empfänglichkeit des Menschen für die Achtung vor dem Moralgesetz besteht, hat diesen Zweck unmittelbar, die übrigen Anlagen haben ihn durch sie vermittelt. Natürlich ist der Mensch aufgrund dieser Anlage(n) nicht schon moralisch gut. Um dies zu sein, muß er die Achtung vor dem Sittengesetz zum alleinigen Bestimmungsgrund seines moralisch relevanten Entscheidens und Handelns machen. Abschließend und überleitend sei noch die auffällige und befremdliche Verwendung des Ausdrucks ,Prinzip' durch Kant vor allem in den Überschriften zum ersten, zweiten und dritten Stück seiner Religionslehre diskutiert, den die obige Darlegung wegen seiner Mißverständlichkeit tunlichst vermieden hat. Zu seinem angemessenen Verständnis sei dies gesagt: Der Mensch hat sich selbst böse gemacht. Wäre dem nicht so, könnte nicht im strengen Sinne von seiner Bosheit gesprochen werden. Sein böser Wille ist das böse Prinzip in ihm, seine gesetzgebende, anklagende, richtende Vernunft ist das gute Prinzip in ihm. Es kämpft, wie Kant der traditionellen christlichen Metaphorik entsprechend formuliert, mit dem bösen Prinzip „um die Herrschaft über den Menschen" (RGV, zweites Stück). Natürlich stehen beide ,Prinzipien' einander nicht auf derselben Ebene gegenüber: In einem Fall ist der Wille (synonym bei Kant: die Wilkür) ,Prinzip' genannt, im anderen Falle die dem Willen das Gesetz vorschreibende Vernunft. Frei ist nur der Wille, und deshalb kann er im moralischen Sinne gut oder böse heißen, und nur er macht den Menschen im ganzen moralisch gut oder böse. Die Vernunft als ,das gute Prinzip' zu bezeichnen, ist nur gerechtfertigt, weil sie, wie Kant sich im ersten Stück seiner Religionsschrift ausdrückt, eine „Anlage zum Guten" im Menschen ist, d. h. insofern die Vernunft ihn auffordert, das Gute zu wollen und zu tun, also gut zu sein. Auch suggeriert die Formulierung vom ,Kampf um die Herrschaft über den Menschen' die Vorstellung — die vielleicht von Luthers Schrift De servo

§ 9. Gibt es einen Hang zum Bösen in der menschlichen Natur?

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arbitrio gegen Erasmus aus dem Jahre 1525 herrührt —, als ob von Herrschaft und Knechtschaft in Bezug auf das Gute und das Böse in gleichem Sinne die Rede sein könnte. Doch nur die freie Entschiedenheit für das Böse ist Knechtschaft im eigentlichen, und zwar moralischen Sinne, weil sie ein Aufgeben und Sichabwenden von der wesentlichen Bestimmung des Menschen zum Guten bedeutet; sie ist daher freie Entschiedenheit für die Unfreiheit, die Abhängigkeit von dem, was der eigentlichen Bestimmung des Menschen widerspricht. Insofern ist die freie Entschiedenheit für das Gute keine Knechtschaft im eigentlichen Sinne — höchstens ,Knechtschaft' in metaphorischer Redeweise (vgl. Rom 6,16—22; l Kor 7,22; Eph 6,6) —, weil sie die Aneignung jener wesentlichen Bestimmung zum Guten und die Abweisung der Fremdbestimmtheit durch das Unvernünftige darstellt, welche Fremdbestimmtheit nur selbstverschuldet sein kann. Weil die freie Entscheidung für das Böse eine Aufgabe der Freiheit zum Guten ist, ist die Umkehr vom Bösen zum Guten nicht als Möglichkeit erkennbar; wenn der Wille ganz böse geworden ist, wie kann er dann noch aus sich selbst heraus wieder gut, wieder frei zum Guten werden? Diese Frage stellt sich Kant im Schlußabschnitt des ersten Stücks seiner Religionsschrift (B 49/50, 54, 59/60 = VI 44/ 45, 47 29-32, 50 12-21). Sie ist theoretisch unbeantwortbar. Trotzdem darf, ja soll man an diese Möglichkeit glauben. Aber weil sie nicht einsichtig ist, reiht Kant sie im Schlußabschnitt des dritten Stücks unter die Geheimnisse eines reinen Vernunftglaubens ein (B 216 = VI 143; vgl. §20). § 9. Gibt es einen Hang ^um Bösen in der menschlichen Natur?

Kant unterscheidet zwischen ursprünglichen und zufälligen Anlagen. Ursprünglich sind jene, die „zur Möglichkeit der menschlichen Natur [...] notwendig gehören", zufällig jene, die nicht notwendig dazugehören (RGV B 19 = VI 28). Eine Anlage ist nach Kant „der subjektive Grund" der Möglichkeit von etwas (B 1 9 f. = VI 28 5, 27). Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß sich Anlagen „unmittelbar auf das Begehrungsvermögen und den Gebrauch der Willkür beziehen" (B 20 = VI 28 23 f.). Die Frage nach dem gerechtfertigten, objektiv gültigen Grund für ein bestimmtes aktuelles Begehren taucht auf dieser Ebene der Konstitution des Bedingungsgefüges eines Begehrungsvermögens noch nicht auf. Der Hang zum Bösen ist nun im Unterschied zu den besprochenen Naturanlagen keine ursprüngliche, sondern eine zufällige, wenn auch dem Menschen von Natur aus zukommende, weil in seiner Natur begründete Anlage. (Auf die Zweideutigkeit des Wortes , Natur' wird später einzugehen sein.) Als ,Hang (propensio)' bezeichnet Kant den in diesem Sinne zufälligen „subjektiven Grund der Möglichkeit einer Neigung", und , Neigung' ist für ihn vor jeder moralischen Qualifizierung ,habituelle Begierde' oder in Über-

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B. Natur und Freiheit

nähme eines augustinischen Terminus, der aber schon die als böse zu qualifizierende Begierde bezeichnet, ,Konkupiszenz' (B 20 = VI 28). In einer Anmerkung erläutert Kant diese Bestimmung: Ein Hang ist in seiner Terminologie nicht schon die Neigung oder Disposition zu etwas — obwohl ,Hang' im üblichen Sprachgebrauch und von seiner lateinischen Wiedergabe mit ,propensio' her nichts anderes als ,Neigung' bedeutet —, sondern die Prädisposition zu einer Neigung oder Disposition, „welche Bekanntschaft mit dem Objekt des Begehrens voraussetzt". Ähnlich formuliert Kant in der Anthropologie: „Die subjektive Möglichkeit der Entstehung einer gewissen Begierde, die vor der Vorstellung ihres Gegenstandes vorhergeht, ist der Hang (propensio)" (B 225 = VII 265). Daß Kants Verhältnisbestimmung von Hang und Neigung andernorts anders ausfällt (vgl. Bohatec 1938, 242 Anm. 9), ist weniger bedeutsam als die Frage nach dem Verständnis dessen, was Kant mit ,Hang' bezeichnet. Kant unterscheidet weiter zwischen einem physischen und einem moralischen Hang: „Aller Hang ist entweder physisch, d. i. er gehört zur Willkür des Menschen als Naturwesens; oder er ist moralisch, d. i. zur Willkür desselben als moralischen Wesens gehörig. — Im ersteren Sinne gibt es keinen Hang zum moralisch Bösen; denn dieses muß aus der Freiheit entspringen; und ein physischer Hang (der auf sinnliche Antriebe gegründet ist) zu irgend einem Gebrauche der Freiheit, es sei zum Guten oder Bösen, ist ein Widerspruch. Also kann ein Hang zum Bösen nur dem moralischen Vermögen der Willkür ankleben" (RGV B 24/25 = VI 31). Diese Unterscheidung wiederholt die zuvor von Kant in bezug auf die ursprünglichen Anlagen des Menschen zum Guten getroffene (B 15 —19 = VI 26—28) nun für die zufälligen Anlagen zu Neigungen. Die Feststellung, daß der Hang (zum moralisch Guten oder zum moralisch Bösen) eine Anlage ist, die für die Denk- und Realmöglichkeit des Menschen nicht notwendig ist, läßt die Frage nach seiner Herkunft anscheinend offen. Aber da es sich um einen Hang zum moralisch Guten oder Bösen handelt, ist er „nur als Bestimmung der freien Willkür möglich", und sofern es um den Nachweis eines Hanges zum moralisch Bösen geht, kann er nur „in dem subjektiven Grunde der Möglichkeit der Abweichung der Maximen von moralischen Gesetze bestehen"; er hat also den Menschen in der Freiheit seiner moralischen Selbstbestimmung zum Urheber und kann deshalb als von ihm selbst „sich ^uge^pgen gedacht werden" (RGV B 21 = VI 29). Trotzdem bezeichnet Kant den Hang zum Bösen als .angeboren' und als ,natürlich* oder ,zur menschlichen Natur gehörig'. Was bedeuten diese höchst mißverständlichen Formulierungen, die Kant der zeitgenössischen protestantischen Dogmatik entlehnt, teilweise aber umdeutet (dazu vgl. Bohatec 1938, 241 — 286)? Angeboren ist er, weil er als erster subjektiver, sich der noumenalen Freiheit verdankender Grund moralisch böser Maximen „kein Faktum sein kann, das

§ 9. Gibt es einen Hang zum Bösen in der menschlichen Natur?

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in der Erfahrung gegeben werden könnte", und deshalb „vor allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit (in der frühesten Jugend bis zur Geburt zurück) zum Grunde gelegt wird, und so, als mit der Geburt zugleich im Menschen vorhanden, vorgestellt wird" (B 8 = VI 22). Diese Vorstellung vom Angeborensein richtet keinen Schaden an, wenn man sich ihrer Unangemessenheit bewußt bleibt: Der Hang zum Bösen geht als „ein Actus der Freiheit" „vor aller in die Sinne fallenden Tat" vorher (B 6 = VI 21) und ist, wie jeder Akt noumenaler Freiheit, erfahrungstranszendent und geschieht außerhalb der Zeit, weil er keinen Zeitbestimmungen unterliegt. Natürlich ist dieser Hang, weil er „als allgemein zum Menschen (also, als zum Charakter seiner Gattung) gehörig angenommen werden darf (B 21 = VI 29). Diese Erläuterung gibt Kant mehrfach (B 7, 23, 27 = VI 21 22f., 3021 — 23, 32 16 f.). Aber vielleicht verleitet durch den gewöhnlichen Sprachgebrauch vermischt er die terminologischen Festlegungen für ,angeboren' und ,natürlich' bzw. , Natur' oder ,in der menschlichen Natur'. So schreibt er: „Die eine oder die andere Gesinnung [= einen Hang zum Guten oder zum Bösen] als angeborne Beschaffenheit von Natur haben, bedeutet hier auch nicht, daß sie von dem Menschen, der sie hegt, gar nicht erworben, d. i. er nicht Urheber sei; sondern, daß sie nur nicht in der Zeit erworben sei [...]. Weil wir also diese Gesinnung, oder vielmehr ihren obersten Grund nicht von irgend einem ersten Zeit-Actus der Willkür ableiten können, so nennen wir sie eine Beschaffenheit der Willkür, die ihr (ob sie gleich in der Tat in der Freiheit gegründet ist) von Natur zukömmt" (B 14 = VI 25). Später heißt es, wegen „der tiefen Einwurzelung" des Hanges zum Bösen „in die Willkür" müsse man sagen, „er sei in dem Menschen von Natur anzutreffen" (B 31 = VI 35). Hier klingt eine weitere Bestimmung des Hangs zum Bösen an: seine Radikalität. Sie wird in der Überschrift dieses ersten Stücks von Kants Religionsschrift aufgeführt. Die ,tiefe Einwurzelung' des Hangs zum Bösen ,in die Willkür' verdankt sich seiner Urheberschaft aus Freiheit: Die Willkür ist durch sich selbst böse geworden, und ihr Hang zum Bösen ist nichts anderes als diese selbstverschuldete Umwandlung ihres Wesens. „Dieses Böse ist radikal, weil es den Grund aller Maximen verdirbt; zugleich auch, als natürlicher Hang, durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen, weil dieses nur durch gute Maximen geschehen könnte, welches, wenn der oberste subjektive Grund aller Maximen als verderbt vorausgesetzt wird, nicht statt finden kann" (B 35 = VI 37). Im zweiten Stück macht Kant noch auf einen anderen Aspekt der Radikalität des (Hangs zum) Bösen aufmerksam (der allerdings schon mit seinem Angeborensein gegeben zu sein scheint), nämlich daß es sich um eine Schuld handelt, die „vor jedem Guten", das ein Mensch tun mag, vorhergeht (B 94 = VI 7212-14; vgl. B 36 = VI 38l: „angeborne Schuld").

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B. Natur und Freiheit

Daß Kant sich bei der Verwendung der angeführten Prädikate für den Hang zum Bösen nicht streng an die von ihm selbst vorgeschlagenen Gebrauchsregeln hält, ist sachlich unerheblich, wenn auch für das Verständnis störend. Sachlich zentral ist dagegen die Frage nach der Begründung der für Kants philosophische Religionslehre fundamentalen These eines vom Menschen — und zwar ausnahmslos von jedem Menschen — in ihm selbst verursachten Hangs zum moralisch Bösen, welche Verursachung selber schon, weil allein durch Freiheit möglich, die Grundverfehlung (Ursünde, Urschuld) jedes einzelnen ist. Sie geschieht nicht in der Zeit, sondern zeitlos; sie ist nicht erfahrungsimmanent, sondern erfahrungstranszendent. Sie betrifft nicht Handlungen und deren Maximen in ihrer Vielfalt, sondern die allen einzelnen Maximen zugrundeliegende „oberste Maxime" oder den „Grund der Maximen", das, was die moralische „Gesinnung", die moralische „Denkungsart" eines Menschen ausmacht (B 6, 7f., 14, 23, 25f., 34—38, 53 — 56 u. ö. = VI 20 30-34, 21 f., 25, 30, 31 f., 36-38, 47-48 u. ö.). Die Grundverfehlung, deren Ergebnis der Hang zum Bösen ist, ist auch kein einzelner Willensakt, sondern hat es mit der Art des Wollens zu tun, mit seiner Ausrichtung: Es ist nicht mehr auf die Befolgung des Gesetzes um seiner selbst willen aus. Die Grundverfehlung ist ein Geschehen der „absoluten Spontaneität der Willkür" (B 12 = VI 24 4 f.), also jener Freiheit der Grundentscheidung, die jeder Einzelentscheidung voraus- und zugrundeliegt, und ist als Vollzug von Freiheit zurechnungsfähige „Tat" — das Wort aber nicht in der gewöhnlichen Bedeutung verstanden, weil sie jeder einzelnen Tat als ihr letzter moralischer „Bestimmungsgrund [...] vorhergeht [...]. Jene ist intelligibele Tat, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbestimmung erkennbar; diese sensibel, empirisch, in der Zeit gegeben (factum phaenomenon)" (B 25 f. = VI 31). Wie ist es aber möglich, von dieser Tat Kenntnis zu haben? Was berechtigt zu der Behauptung, es existiere im Menschen ein Hang zum Bösen, und zwar in jedem Menschen? In einer Anmerkung zu dem Ausspruch des Apostels Paulus, es gebe keinen, der gerecht ist, auch nicht einen, keiner tue Gutes, auch nicht ein einziger (Rom. 3,10 — 12), den Kant am Schluß des dritten Abschnitts des ersten Stücks seiner Religionsschrift anführt, schreibt er: „Von diesem Verdammungsurteile der moralisch richtenden Vernunft ist der eigentliche Beweis nicht in diesem, sondern im vorigen Abschnitte enthalten; dieser enthält nur die Bestätigung desselben durch Erfahrung, welche aber nie die Wurzel des Bösen, in der obersten Maxime der freien Willkür in Beziehung aufs Gesetz, aufdecken kann, die als intelligibele Tat vor aller Erfahrung vorhergeht". Im weiteren Verlauf der Anmerkung unterscheidet Kant zwischen der „intellektuellen" und der „empirischen Beurteilung" eines Menschen; erstere habe seine intelligible, letztere seine sensible Tat zum Gegenstand, die „nur Beurteilung der Moralität des Menschen in der Erscheinung" sei, während jene — so darf man Kant ergänzen — auf seine Moralität im eigentlichen Sinne, als homo noumenon, abziele (B 39 Anm. = VI 39 Anm.).

§ 9. Gibt es einen Hang zum Bösen in der menschlichen Natur?

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Ist demnach „die intellektuelle Beurteilung", die Beurteilung eines Menschen nach seiner Moralität nicht unmöglich? Wie kann man dann von einem Hang zum Bösen im Menschen sprechen? In der zitierten Anmerkung lokalisiert Kant den Beweis für seine These im zweiten Abschnitt des ersten Stücks der Religionsschrift. Doch hier werden lediglich Begriffsbestimmungen entfaltet und erläutert, und auch die Beschreibung der drei Stufen des Hangs zum Bösen (B 21—23 = VI 29 f.) bilden davon keine Ausnahme: „Man kann sich drei verschiedene Stufen denken" (Hervorhebung von mir). Erst der darauffolgende dritte Abschnitt führt der Erfahrung entnommene Hinweise auf ihn an, die aber nicht als Beweis dienen sollen, obwohl ein solcher — jedenfalls in bezug auf die strikte Allgemeinheit des Vorkommens dieses Hangs (alle Menschen, die menschliche Gattung ist moralisch verderbt) — zuvor mehrfach angekündigt worden war (B 14/15, 23 = VI 25 17—25, 30 23): „Daß nun ein solcher verderbter Hang im Menschen gewurzelt sein müsse, darüber können wir uns, bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Taten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen" (B 27/28 = VI 32/33). Kurz zuvor hatte Kant leitsatzartig formuliert: Der Mensch „kann nach dem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders beurteilt werden" denn als von Natur, d. h. seiner Gattung nach, böse, bzw. „man kann es, als subjektiv notwendig, in jedem, auch dem besten, Menschen voraussetzen" (B 27 = VI 32). Besagt dies, daß man sich einen Beweis, der auf nicht-empirischer Basis erfolgte, ersparen könne, weil schon die Empirie so überwältigend Zeugnis ablege von der Verderbtheit des einzelnen Menschen und des menschlichen Geschlechts? Wenn das aber unstatthaft ist, gibt es dann wenigstens einen nicht-empirischen Beweis? Kant selbst hat in diesen Fragen nicht zur Klarheit gefunden. Lehnt er einerseits Erfahrungsbeweise für das Bestehen eines noumenalen Sachverhalts ab, so läßt er sie andererseits zu, beschränkt sie jedoch in ihrem Geltungsbereich: „Wenn nun aber gleich das Dasein dieses Hanges zum Bösen in der menschlichen Natur, durch Erfahrungsbeweise des in der Zeit wirklichen Widerstreits der menschlichen Willkür gegen das Gesetz, dargetan werden kann, so lehren uns diese doch nicht die eigentliche Beschaffenheit desselben [nämlich dieses Hanges], und den Grund dieses Widerstreits; sondern diese [Beschaffenheit], weil sie eine Beziehung der freien Willkür (also einer solchen, deren Begriff nicht empirisch ist) auf das moralische Gesetz als Triebfeder (worin [A: wovon] der Begriff gleichfalls rein intellektuell ist) betrifft, muß aus dem Begriffe des Bösen [...] a priori erkannt werden" (B 32/33 = VI 35). Das heißt: Worin die moralische Güte oder Bosheit eines Menschen (bzw. seiner Willkür oder seines Hanges) besteht, wissen wir vor aller Erfahrung aufgrund des moralischen Gesetzes, das fordert, es selbst zum obersten Gesichtspunkt der Lebensführung zu machen. Aber ob wir dieser Forderung tatsächlich nachkommen, scheint eine Frage aposteriorischer Nachforschung zu sein.

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B. Natur und Freiheit

Aber die Gutheit oder Bosheit eines Charakters, einer Gesinnung scheint an den Handlungen und Handlungsweisen eines Menschen — in der Regel jedenfalls — nicht ablesbar zu sein; denn ihre Richtigkeit oder Legalität und die ihnen unmittelbar zugrundeliegenden Maximen können über die Immoralität ihres letzten Bestimmungsgrundes hinwegtäuschen, so wie andererseits ihre Falschheit sich kognitiven Irrtümern des Handelnden bei vollkommener moralischer Integrität seines Willens und Charakters verdanken mag. Es läßt sich also weder von der Richtigkeit von Handlungen umstandslos auf die Moralität des Handelnden schließen, noch von deren Unrichtigkeit auf seine Immoralität. Allerdings läßt sich der erste Schluß nach Kant dann mit größerer Berechtigung ziehen, wenn der Handelnde mit dem von ihm moralisch Geforderten auf innere und äußere Widerstände stößt, die er zu überwinden hat (vgl. CMS B 8-13 = IV 397-399; RGV B 75 = VI 61; MST A 32/33, 46f. = VI 397, 405; Refl. Nr. 6916, 6968 = XIX 206 10f., 216 12). Je größer der überwundene Widerstand war — so darf man, wohl auch im Sinne Kants, generell formulieren —, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß der Schluß vom rechten Tun auf das rechte Wollen gültig ist. Gibt es Sachverhalte, die in analoger Weise den zweiten Schluß auf die radikale Bosheit des Wollens eines Menschen stützen? Kant gibt einen bedeutsamen Hinweis mit seinem Konzept des Widerstreits (RGV B 32 — 36 = VI 35 —37). In der Erfahrung, die der Mensch mit sich und seinesgleichen macht, findet er einen Widerstreit zwischen dem Anspruch des Sittengesetzes nach unbedingtem Gehorsam und der Tatsache vor, mehr oder weniger weit hinter diesem Anspruch zurückzubleiben. Er schreibt dieses Defizit sich selbst zu, macht sein Wollen dafür verantwortlich, auch wenn er im Einzelfall zugleich die Erfahrung macht, daß dem Anspruch des Gesetzes zu genügen momentan nicht in seiner Gewalt liegt. Er erfährt sich als in seiner Freiheit eingeschränkt, ohne daß er diesen Umstand als schuldmindernd erführe, weil er ihn ebenfalls verantworten zu müssen glaubt. Die Tiefenpsychologie belehrt uns über Beschränkungen der Freiheit, über die Kant noch meinte, unbekümmert hinwegsehen zu dürfen (z. B. in KpV A 54, 178/179 = V 30, 99/100; RGV B 58 Anm. = VI 49 Anm.), und zwar im Namen seines Grundaxioms, (moralisches) Sollen impliziere Können. Wie aber schon angemerkt (s. S. 107 f.), kann es uneingeschränkt Geltung nur für den noumenalen Bereich der Entscheidungsfreiheit, wo es um die Grundentscheidung für oder gegen das Gute geht, beanspruchen, nicht jedoch für den — physischen, psychischen und sozialen Bedingungen unterliegenden — Bereich der situationsspezifisch-partikulären Entscheidungs-, Wahl- und Handlungsfreiheit. Aber gerade, wenn man diesen Vorbehalt akzeptiert, tritt die eigentliche Natur jenes Widerstreits hervor, den Kant im Auge hat. Sein Ursprung und Schauplatz ist der noumenale Bereich, wirkt sich aber bis in den phänomenalen hinein aus, so daß er auch dem empirischen, reflektierenden Bewußtsein

§ 9. Gibt es einen Hang zum Bösen in der menschlichen Natur?

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bemerkbar wird. Phänomenal aber erscheint dieser Konflikt als zweideutig, weil er sich unter Umständen Vernunft- und freiheitsfremden Ursachen verdankt, die, wenn sie sich tiefenpsychologisch als Neurosen identifizieren lassen, der Vernunft und der Freiheit des betroffenen Menschen die Aufgabe stellen, sie in seine Verantwortung zu nehmen, um sie dadurch in seine Persönlichkeit zu integrieren und so seinen eigenen Freiheitsraum und den Bereich seiner moralischen Verantwortung zu erweitern. In kritischem tiefenpsychologischen Verständnis stellen Neurosen der Verantwortung für sich selbst nicht nur die beschriebene Aufgabe, sondern sie sind selber Ausdruck des Ausweichens und der Flucht vor der Selbstverantwortung und somit Ausdruck jenes Widerstreits (vgl. Horney 1937; 1945; 1950). Trotzdem bleibt die Zweideutigkeit seines Erscheinungsbildes, ob er letztlich der moralischen Persönlichkeit eines Menschen zuzurechnen ist oder nicht, solange bestehen, als es dem Betroffenen noch nicht gelungen ist, ihn zu integrieren, d. h. ihn aus einer Behinderung seiner Freiheit zum Instrument ihrer Erweiterung zu machen. Zusammenfassend ist demnach an der Asymmetrie festzuhalten, die darin besteht, daß von dem Fehlen des Widerstreits im phänomenalen Bereich — Handlungen und untergeordnete Maximen sind legal, d. h. konform zum Sittengesetz — nicht auf sein Fehlen im noumenalen Bereich, nämlich auf die Moralität des Charakters des Handelnden geschlossen werden kann, wohl aber in aller Regel und in globo, wenn auch nicht in jedem Einzelfall und für jede konkrete Situation, vom Bestehen des Widerstreits, vor allem in der Selbsterfahrung, auf sein Bestehen im noumenalen Grunde der Person, vor allem der eigenen. Kant gibt drei Stufen dieses Widerstreits als Stufen des Hangs zum Bösen an: 1. die Gebrechlichkeit oder Schwäche des moralischen Wollens in bezug auf die Durchführung des in der rechten Weise Gewollten, 2. die Unlauterkeii des Wollens, insofern es nicht rein moralisch ist, d. h. sich nicht ausschließlich vom Gesetz bestimmen läßt, und 3. die Bösartigkeit oder Verderbtheit des Wollens, sofern es sich von nicht-moralischen Grundsätzen leiten läßt (RGV B 21 —23 = VI 29 f.). Eine denkbare letzte Stufe, auf der von einem teuflischen oder satanischen Wollen gesprochen werden kann, weil der Widerspruch gegen das Gesetz und das gebotene Gute selbst es ist, der den Willen beherrscht, scheint Kant für den Menschen nicht für möglich zu halten, weil er sie mit einer „Verderbnis der moralisch-gesetzgebenden Vernunft" identifiziert (B 31 = VI 35 9f.). Eine verderbte Vernunft wäre allerdings unmöglich, weil begrifflich eine contradictio in adiecto. Doch einer intakten Vernunft könnte „ein schlechthin böser Wille" (B 32 = VI 35 21 f.) — eindeutiger gesagt, weil Kant ,Wille' häufig synonym mit ,reiner praktischer (moralisch-gesetzgebender) Vernunft' verwendet: eine schlechthin böse Willkür — entgegengetreten und widerstreiten, so daß entgegen Kants Meinung in der Tat „der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder (denn ohne alle Triebfeder kann die

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B. Natur und Freiheit

Willkür nicht bestimmt werden) erhoben, und so das Subjekt zu einem teuflischen Wesen" würde (B 32 = VI 35 22-25), das „das Böse als Böses zur Triebfeder" macht (B 36 = VI 37 20 f.). Wenn Kant äußert: „Der Mensch (selbst der ärgste) tut, in welchen Maximen es auch sei, auf das moralische Gesetz nicht gleichsam rebellischerweise (mit Aufkündigung des Gehorsams) Verzicht" (B 33 = VI 36 1—3), so muß ihm gerade aufgrund der Erfahrungen, die der Mensch mit seinesgleichen gemacht hat, und z. B. der vielfachen Beschäftigung mit dem teuflisch gewordenen Menschen in der Literatur, die die Vertrautheit der Schriftsteller und ihrer Leser mit einer solchen Gestalt bezeugt, widersprochen werden (so auch Silber 1960, cxxv, cxxix, und Schulte 1988, 103 — 106). Silber meint (ebd. cxxiv —cxxx), Kants Leugnung dieser Möglichkeit des Menschen sei in einer Auffassung begründet, wie sie die mittelalterliche Theologie prägte, daß das Böse lediglich in einem Mangel bestehe, nämlich am ,Guten', d. h. am guten Wollen, so daß das böse Wollen je nach dem Grad seiner Bosheit lediglich negativ, als mehr oder weniger vollkommene Abwesenheit des guten Wollens, zu begreifen wäre, weshalb das teuflische Wollen als vollständiges Fehlen des guten Wollens nicht existieren könnte. Das würde zugleich bedeuten, daß der Mensch gar nicht die Freiheit hat, teuflisch-böse zu werden. Nun läßt sich aber zeigen, daß Kant die Lehre von der Sünde als einer privatio boni abgelehnt hat (s. z.B. RGV B 71 Anm. = VI 59 Anm.; vgl. Bohatec 1938, 271). Sie hätte ja auch vorausgesetzt, daß mit fortschreitender Bosheit der Freiheitsgrad des Wollens abnimmt. Diese Vorstellung der Gegenläufigkeit von Bosheit und Freiheit bedeutet aber letztlich ihre wechselseitige Aufhebung; denn Moralität (moralische Gutheit und Bosheit) und Freiheit sind Wechselbegriffe. Das Böse besteht nach Kant denn auch nicht in einer Schwäche des Wollens — noch weniger allerdings, wie Platon (und vor ihm vielleicht Sokrates) meint, in einer Unkenntnis, einem Nichtwissen, also in einer intellektuellen Schwäche —, sondern in seiner (des Wollens) falscher, aber bewußter und freiwilliger Selbstbestimmung, in der freien, selbstverantwortlichen Abweichung vom Gesetz (vgl. Nabert 1970 und Reboul 1971 [nach Malter 1974, 172*]). Daß Kant die Möglichkeit einer teuflischen Verderbtheit des Wollens als einer totalen Rebellion gegen das Gesetz beim Menschen ausschließt, weil sie, wie gesagt, die „ Verderbnis der moralischgesetzgebenden Vernunft" selbst bedeute (RGV B 31 = VI 35 9 f.), mag darauf zurückzuführen sein, daß sich Kant eine solche totale Rebellion nur bei einem Wesen als möglich vorzustellen vermochte, das nicht wie der Mensch ein Wesen zweier Welten ist, bei dem gesetzgebende Vernunft und stellungnehmende Willkür voneinander geschiedene Funktionen der praktischen Vernunft sind und das von den Ansprüchen der Sinnlichkeit und Selbstliebe zur Übertretung des Gesetzes versucht werden könnte (vgl. RGV B 47 f. = VI 43 f.). Welchen Nachdruck Kant auf den Ursprung des Hangs zum Bösen aus Freiheit legt, bezeugen seine wiederholten längeren Ausführungen zu dieser

§ 9. Gibt es einen Hang zum Bösen in der menschlichen Natur?

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Thematik sowohl im dritten als auch im vierten, diesem Punkt und dem Problem seiner Vereinigung mit der Behauptung des Naturursprungs des Hangs ausschließlich gewidmeten Abschnitt des ersten Stücks der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (B 31 -38, 39-48 = VI 34-38, 3944). So sehr nach Kant der Ursprung des Hangs zum Bösen als angeboren und in der menschlichen Natur gegründet vorgestellt werden muß, so sehr betont er seinen Ursprung aus Freiheit. Von der gewöhnlichen und auch sonst bei Kant üblichen Verwendung des Ausdrucks ,Natur' her scheinen diese Hinsichten einander auszuschließen. Unter ,Natur' versteht er nämlich sonst immer den Zusammenhang von Gegenständen „nach notwendigen Regeln, d.i. nach Gesetzen" (KrV B 263 = A 216; vgl. GMS B 36 = IV 41226), die phänomenale Natur nach empirischen Gesetzen, die noumenale Natur nach intellektuellen Gesetzen und eine freie noumenale Natur nach Gesetzen noumenaler (transzendentaler) Freiheit. Die Konstitution solcher Natur geht dem Freiheitsw//^»^ begriffslogisch als seine Möglichkeitsbedingung voraus. In diesem Sinne ist das Wort ,Natur' (= Natur l) im ersten Abschnitt des ersten Stücks der Religionsschrift, „Von der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur", und im letzten Abschnitt (B 48 ff. = VI 44 ff.) verwendet. In den übrigen Abschnitten dieses Stücks — „Von dem Hange zum Bösen in der menschlichen Natur", „Der Mensch ist von Natur böse", „Vom Ursprünge des Bösen in der menschlichen Natur" — erscheint Natur (= Natur 2) als das Resultat eines Vollzugs noumenaler Freiheit, und zwar als das Resultat einer wider seine ursprüngliche Natur 1Bestimmung gerichtete Tat freien Willens, wodurch dieses Wollen selbst radikal böse wird und diese Bosheit gewissermaßen als ,zweite Natur' alle Maximen und Handlungen, mögen sie auch legal, dem Moralgesetz gemäß sein, verdirbt. Der Hang zum Bösen ist nichts anderes als die Prädisposition des Wollens zum Bösen, die darin besteht, die gelegentliche Abweichung vom Gesetz in seine oberste Maxime aufgenommen zu haben (RGV B 26/ 27 = VI 32 15 f.). ,Natur' hat für Kant, wie schon festgestellt (s. S. 115), in diesem Zusammenhang auch noch die Bedeutung, die Allgemeinhait dieser Prädisposition zu bezeichnen, daß sie nämlich ausnahmslos allen Menschen zukommt als von jedem einzelnen Menschen sich selbst in freier Selbstbestimmung zugezogen und jedem einzelnen zurechenbar. Ist dies verstanden, kann man die genannten höchst mißverständlichen Formulierungen Kants verabschieden, der Hang zum Bösen sei angeboren und komme dem Menschen von Natur zu. Sie sind Kants Bedürfnis entsprungen, sich an die Wendungen der christlichen Dogmatik möglichst eng anzuschließen, ohne aber ihre Ungereimtheiten zu akzeptieren, die in dem Begriff einer allgemeinen, überpersönlichen, nichtsdestoweniger jedem einzelnen Menschen moralisch zurechenbaren Schuld kulminieren, weshalb die Theologie die Erbsündenlehre in dieser Form heute fast allgemein aufgegeben hat. Kants These ist demnach, daß das grundlegende Wollen eines jeden

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B. Natur und Freiheit

Menschen sich selbst schon immer, vorgängig zu seinem ersten Akt der Bildung einer Maxime widergesetzlich bestimmt hat und so radikal böse geworden ist. Dieser erste Akt der Bildung einer Maxime ist ein phänomenaler Vorgang in der Zeit, der aber kaum je nachweisbar sein dürfte, weil er gewöhnlich in die ersten Lebensjahre fallt. Demgegenüber ist das zugrundeliegende Wollen und vor allem seine moralische Qualität nach Kant ein die Zeit transzendierender Sachverhalt, „intelligibele Tat, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar" (RGV B 26 = VI 31 32 f.; vgl. B 39 Anm. = VI 39 Anm.). Die kritische Diskussion der These Kants vom radikal Bösen in der menschlichen Natur hat folgende Klärungen und Einschränkungen erbracht: 1. Das moralisch Böse kann — schon aus begrifflichen Gründen — nur als ,erworben', selbstverschuldet, nicht aber als ursprünglich ,angeboren', ,übertragen', ,vererbt' verstanden werden; ,Natur' kann dann lediglich den Sinn von (durch freie Entscheidung oder durch kulturell-gesellschaftliche Prägung erworbener) sogenannter ,zweiter Natur' haben. 2. Wie sich aus einem umfassenderen Interpretationsansatz in § 11 bestätigen wird, ist Kants theologische These der strikten Universalität der radikalen Bosheit — die gesamte Menschheit (als ,Gattung') sei betroffen — rational unerweislich; es läßt sich lediglich die These von einer weitgehenden (generellen) moralischen Verderbtheit stützen; zwingende Argumente gibt es aber auch hierfür nicht. 3. Es mag aber im Einzelfall Hinweise geben, die die moralische Bosheit bzw. Gutheit eines bestimmten Menschen wahrscheinlich(er) machen. 4. Es gibt Grund zu der Annahme, daß die Erkenntnis der eigenen Bosheit eher gelingt als die anderer Menschen; zumindest ist sie allein das im Rahmen unserer Möglichkeiten moralisch Geforderte, weil man nur selbst die eigene moralische Besserung und Umkehr vollbringen kann; der Erkenntnis und Berücksichtigung der Bosheit anderer Menschen bedarf es lediglich zum Zwecke der Wahl von Handlungen und Handlungsweisen, die diesem Sachverhalt — der Bosheit anderer nämlich — moralisch angemessen sind (s.o. S.45—47). An Kants These von der radikalen Bosheit des menschlichen Herzens, die Jaspers als „eines der im Kantischen Philosophieren wesentlichsten Rätsel" bezeichnete (1935, 196), nahmen seine an das Gute im Menschen glaubenden aufgeklärt-humanistischen Zeitgenossen Anstoß. Goethe, Schiller und Herder empfanden sie als Ärgernis und als Rückfall in dogmatischen Obskurantismus christlicher Orthodoxie (vgl. Kvist 1980, 249 — 251). Auch später hat man Kants Standpunkt als mit seiner kritischen Position unvereinbar und in philosophischer Hinsicht uneinsichtig angesehen (vgl. nur Pünjer 1874). Erst in philosophischen Stellungnahmen unseres Jahrhunderts überwiegen die, allerdings fast immer auch kritisch differenzierenden, positiven Verlautbarungen (vgl. z. B. Elschazli 1970, 268-271; Hoffe 1983, 254: „Kant entwirft eine Lösung von bemerkenswerter Originalität" für das Problem der Herkunft des Bösen; Kopper 1961, 111-118; Messer 1929, 127-133; Picht 1980, 490-

§ 9. Gibt es einen Hang zum Bösen in der menschlichen Natur?

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494; Schaeffler 1983, 79-85; Schweitzer 1899, 101-120; Webb 1926, 92115; Weil 1970 [nach Malter 1974, 173*-175*]; Wood 1970, 209/210: „[...] we cannot help realizing that Kant's discussion of radical evil and grace ranks as one of the great achievements of the human intellect in attempting to give a rational account of the reconciliation of man to God". — Sachlich ganz unzureichend Koppers 1986; für die nachkantische ,Karriere' des Begriffs des radikal Bösen vgl. Schulte 1988, Teil II). Geläufig ist der Hinweis in der Literatur auf die christliche Quelle der Lehre Kants vom radikalen Bösen. In der Tat läßt sich Kants Fassung dieser These nur im Hinblick auf die christliche Ur- oder Erbsündenlehre verständlich machen. Aber dies erklärt ja noch nicht, weshalb Kant sie überhaupt, philosophisch aufbereitet, übernommen und zum Fundament des zweiten Teils seiner Religionsphilosophie gemacht hat (die Lehre vom höchsten Gut und den sich daraus ergebenden Postulaten als ihrem ersten Teil). Doch die Wahl gerade dieses markanten und alles Weitere entscheidenden Ausgangspunktes hat Kant im vollen Bewußtsein des geistes- und philosophiegeschichtlichen Kontextes getroffen, wie die Eingangspassage des ersten Stücks der Religionsschrift (B 3 — 5 = VI 19 f.) und noch pointierter, mit antirationalistisch-antioptimistischer Emphase, die kurz zuvor erschienene Schrift Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodi^ee bezeugt (die Theodizee-Schrift war September 1791, das erste Stück der Religionsschrift April 1792 in der Berlinischen Monatsschrift erschienen). Aber auch seine Abhandlung Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte von 1786 gehört zu Kants grundsätzlichem Bestreben, nicht nur anhand jener Dialektik, die der reinen theoretischen und der reinen praktischen Vernunft auf je besondere Weise eigen ist, die für das Menschsein des Menschen konstitutiven, deshalb unüberschreitbaren Grenzen aufzuweisen, sondern auch die vom Menschen in Verkennung seiner wahren Bestimmung (d. h. seines Endzwecks) in Freiheit sich selbst auferlegten intellektuellen und moralischen Fesseln, um so die Aufgabe präzise zu bestimmen, die der Mensch sich im Hinblick auf seine Bestimmung zu setzen hat, nämlich sich „aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" herauszuarbeiten, wie Kant bekanntlich in seiner Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? formuliert (A 481 = VIII35). Derartige Selbstaufklärung als Selbstbefreiung ist von Kant sowohl individuell wie kollektiv, rechtlich-politisch und moralisch gedacht (vgl. Idee %u einer allgemeinen Geschichte in Weltbürger lieber Absicht sowie Der Streit der Fakultäten, zweiter Abschnitt: „Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei"). Die Ansatzpunkte und Entwicklungskräfte des gesellschaftlich-politischen Fortschritts in Richtung auf ein letztendlich die ganze Menschheit umfassendes rechtliches Gemeinwesen und des moralischen Fortschritts in Richtung auf ein universales ethisches Gemeinwesen (hierzu s. §21) sind aber verschieden: Während in ersterem Falle allein der Antagonismus in der sozialen Natur

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B. Natur und Freiheit

des Menschen, seine „ungesellige Geselligkeit", nämlich seine „Neigung, sich zu vergesellschaften", die aber „mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist" (Idee %u einer allgemeinen Geschichte, vierter Satz: A 392 = VIII 20), der treibende Motor der gesellschaftlich-politischen Entwicklung des Menschen ist, genügt in letzterem Falle der Antagonismus zwischen dem reinen materialen Vernunftund Freiheitsgesetz und der moralischen Verderbtheit des Menschen, insofern er immer schon die „Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen" hat (RGV B 26/27 = VI 32 13-16), nicht, um eine Umkehr zum Guten und einen Fortschritt im Guten zu bewirken: Die Unmöglichkeit, von sich aus umzukehren und ein guter Mensch zu werden, scheint eine Umwandlung von außen, durch Gott erforderlich zu machen (s. dazu §14). Kant nimmt mit dieser Position seiner Auffassung nach eine mittlere Stellung zwischen einem auf die gesellschaftlich-politische und die moralische Situation der Menschheit bezogenen undifferenzierten Pessimismus und Optimismus ein (vgl. RGV B 5 = VI 20 18-22), was aber für ihn kein TeilsTeils oder Sowohl-Als-Auch von Gutem und Schlechtem bedeuten kann, weil es sich ja jeweils um einen (natürlichen bzw. selbstverschuldeten) Antagonismus handelt, der sich nicht (nur) in einem zeitlosen Augenblick, sondern (auch) in der Zeit, als Gang von dem fort, was Mensch und Menschheit nicht sind, zu dem, was sie sein sollen, aufheben läßt. Damit verbietet sich für Kant jede die Antagonismen verschleiernde, harmonisierende Weltbetrachtung, sei sie nun statischer Art, wie sie ihm in Leibnizens Philosophie vorlag, gegen die er sich mit seiner Theodizee-Schrift wandte, oder sei sie dynamischer Art, wie sie sich dann nach Kant in der Geschichtsphilosophie Hegels ausprägte. Kant widerspricht Hegels Geschichtsmetaphysik insofern grundsätzlich, als er die intellektuelle und wissenschaftlich-theoretische, die gesellschaftliche und rechtlich-politische sowie die moralische Entwicklung des Menschen als Aufgabe ansieht, die der Mensch sich selbst stellen soll (aus der Erkenntnis seiner Bestimmung heraus), die er aber auch verleugnen und an der er, selbstverschuldet, scheitern kann. Dies wäre „das widernatürliche (verkehrte) Ende aller Dinge, welches von uns selbst dadurch, daß wir den Endzweck mißverstehen,, herbeigeführt wird" (Das Ende aller Dinge A 509 = VIII 333 11-13).

§ 10. Exkurs: Kants Verwendung des Wortes ,Menschheit' Kant gebraucht das Wort ,Menschheit* nicht immer in der gleichen Bedeutung, und seine vorherrschende Gebrauchsweise weicht von der uns geläufigen wesentlich ab. ,Menschheit' bedeutet heute die Gesamtheit aller Menschen, seien sie nun als einzelne (singuli) oder als Kollektiv (universi) betrachtet, und zwar häufig nicht nur der gegenwärtig lebenden, sondern

§ 10. Exkurs: Kants Verwendung des Wortes ,Menschheit'

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auch derer, die gelebt haben. In diesem Sinne gebraucht Kant das Wort aber selten; selbst in dem zuletzt besprochenen Abschnitt der Religionsschrift, in dem es u. a. um die Allgemeinheit des Hangs zum Bösen geht, insofern er sowohl jedem einzelnen Menschen als auch der menschlichen Gattung im ganzen zukomme, verwendet er es nicht. Gewöhnlich bezeichnet er mit ,Menschheit' den homo noumenon im Unterschied zum homo phaenomenon. Diese Sprechweise erläutert Kant ausführlich an einigen zentralen Stellen der Metaphysik der Sitten. Am Ende der Einleitung in die Rechtslehre führt er zur „Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt" unter anderem aus: „Da in der Lehre von den Pflichten der Mensch nach der Eigenschaft seines Freiheitsvermögens, welches ganz übersinnlich ist, also auch bloß nach seiner Menschheit, als von physischen Bestimmungen unabhängiger Persönlichkeit (homo noumenon), vorgestellt werden kann und soll, zum Unterschiede von eben demselben, aber als mit jenen Bestimmungen behafteten Subjekt, dem Menschen (homo phaenomenon), so werden Recht und Zweck, wiederum in dieser zwiefachen Eigenschaft auf die Pflicht bezogen, folgende Einteilung geben" (MSR A 48 = VI 239). Hierauf folgt eine Tafel (A 49 = VI 240), auf der die Rechts- und die Tugendpflichten dem Grund ihrer Verbindlichkeit nach in einem Quadrat einander paarweise gegenübergestellt werden. Die Gründe ihrer Verbindlichkeit werden so aufgeführt: 1. Das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person

2. Das Recht der Menschen

3. Der Zweck der Menschheit in unserer Person

4. Der Zweck der Menschen

Im ersten Teil der ethischen Elementarlehre, in dem Kant die Tugendpflichten gegen sich selbst behandelt, führt er wiederholt die Unterscheidung zwischen dem homo noumenon und dem homo phaenomenon an (MST A 65, 73, 93 f. = VI 418, 423, 434 f.). Die erste dieser Stellen sei ausführlich zitiert, weil sie noch einmal deutlich macht, daß mit der Rede der Religionsschrift von der „Anlage für die Menschheit" (B 15 f. = VI 26 f.) und die ihr entsprechende Vernünftigkeit nur der Mensch als homo phaenomenon gemeint ist: „Der Mensch betrachtet sich, in dem Bewußtsein einer Pflicht gegen sich selbst, als Subjekt derselben, in zwiefacher Qualität: erstlich als Sinnenwesen, d. i. als Mensch (zu einer der Tierarten gehörig); dann aber auch als Vernunftwesen (nicht bloß vernünftiges Wesen, weil die Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen wohl auch die Qualität eines lebenden körperlichen Wesens sein könnte), welches kein Sinn erreicht und das sich nur in moralischpraktischen Verhältnissen, wo die unbegreifliche Eigenschaft der Freiheit sich

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B. Natur und Freiheit

durch den Einfluß der Vernunft auf den innerlich gesetzgebenden Willen offenbar macht, erkennen läßt. — Der Mensch nun, als vernünftiges Naturwesen (homo phaenomenon), ist durch seine Vernunft, als Ursache, bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt und hiebei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung. Eben derselbe aber seiner Persönlichkeit nach, d. i. als mit innerer Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges Wesen und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet, so: daß der Mensch (in zweierlei Bedeutung betrachtet), ohne in Widerspruch mit sich zu geraten (weil der Begriff von Menschen nicht in einem und demselben Sinn gedacht wird), eine Pflicht gegen sich selbst anerkennen kann." In dem in § 8 besprochenen Abschnitt der Religionsschrift („Von der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur") kommt der Ausdruck ,Menschheit' in folgenden zwei Bedeutungen vor: Im ersten Fall (B 15-17 = VI 26f.) bezeichnet er, wie dargestellt (s.o. S. 108f.), einen bestimmten Zug des Menschen als homo phaenomenon, nämlich seine technisch und pragmatisch verstandene Vernünftigkeit, die man mit Max Weber ,Zweckrationalität' zu nennen sich gewöhnt hat; im zweiten Fall (B 19 = VI 28 3) meint ,Menschheit' den homo noumenon. Die Parallele in der Anthropologie (B 317 —319 = VII 324 f.) bringt diese letztere Verwendung in — dem Anschein nach — pleonastischer Deutlichkeit zum Ausdruck: Der Mensch als „ein mit praktischem Vernunftvermögen und Bewußtsein der Freiheit seiner Willkür ausgestattetes Wesen (eine Person)" ist, seinem Pflichtund Freiheitsbewußtsein und seinem moralischen Gefühl für Recht- und Unrechttun nach betrachtet, „der intelligibele Charakter der Menschheit überhaupt, und in so fern ist der Mensch seiner angebornen Anlage nach (von Natur) gut". Die auf diese Stelle folgenden Sätze machen jedoch klar, daß Kants Wendung vom „intelligibelen Charakter der Menschheit" kein Pleonasmus darstellt: Kant hebt auf den „Charakter der Gattung" ab, wie er auch in den Abschnitten der Religionsschrift, die auf den besprochenen Abschnitt folgen (B 20, 27 = VI 29 10, 32 17 f.) die Menschheit im ganzen, wenn auch nicht als Kollektiv, sondern als die Gesamtheit aller Individuen, im Auge hat. Ohne den Gattungsaspekt kommt ,Menschheit' als Bezeichnung für den Menschen, nach seiner noumenalen Seite betrachtet, vor allem im ersten Abschnitt des zweiten Stücks der Religionsschrift vor (B 73 — 76, 83, 84 = VI 60 —62, 6610, 22), in dem „die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit1'' als der „allein Gott wohlgefällige Mensch" und das „Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit" unter der Idee eines Sohnes Gottes gedacht wird. In der Metaphysik der Sitten ist diese noumenale Bedeutung von .Menschheit' die gewöhnliche. Die Wendungen .Recht der Menschheit in unserer eigenen Person', die Rechtslehre betreffend (MSR A 43, 47-49, 107, 108,

§ 10. Exkurs: Kants Verwendung des Wortes ,Menschheit'

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B 171 f. = VI 236 27-30, 239 f., 27719, 2789, 363s, 14; MST A 22 = VI 390 33 f.) oder ,Zweck der Menschheit (in unserer Person)', die Tugendlehre betreffend (MSR A 47-49 = VI239 f.; MST A 23/24, 115, 140 = VI 392 l-4, 447 16f., 46221-32) oder allgemein ,die Menschheit [des Menschen] in seiner Person' (MST A 65, 68, 73, 76-78, 83-85, 94, 105, 112, 118 = VI 418 20, 420 16, 423 5, 424 29, 425 27,32 f., 429 5,16, 430 7, 435 6, 441 26, 446 2, 449 29; KU B 55/56 = V 233) sind aus dem Kontext, der häufig auf die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs anspielt, eindeutig in diesem Sinne zu verstehen, wobei anthropologisch beachtenswert ist, daß Kant die Leiblichkeit des Menschen als Verkörperung seiner Personalität begreift, ganz im Sinne der knappen Andeutungen in Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, wonach die Anlage für die Persönlichkeit des Menschen die Anlagen für seine Sinnlichkeit und Vernünftigkeit in sich befaßt, so daß er keine begrifflichen Schwierigkeiten hat, die Mißachtung leiblicher Bedürfnisse oder den Mißbrauch leiblicher Funktionen als Vergehen an der Personwürde des Menschen zu brandmarken. Auch aus den Vorarbeiten Kants zur Rechts- und zur Tugendlehre läßt sich der angeführte Sprachgebrauch belegen (.Recht der Menschheit': XXIII 257 28, 276 35, 288 10, 38019, 38131, 38726, 39027-3915, 4066; ,Zweck der Menschheit': XXIII380 20, 3878, 16, 19, 38811, 3989, 25, 40530, 407; vgl. außerdem: XXIII 269 6, 39811, 28, 30, 399 29, 405 7). Von den klaren Formulierungen der Metaphysik der Sitten her lassen sich die viel knapperen Wendungen der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft verständlich machen, in denen der Ausdruck ,Menschheit' vorkommt. Hier ist an erster Stelle die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs anzuführen: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden ändern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest" (GMS B 66/67 = IV 429). Dieser Imperativ schreibt vor, die Menschheit in eines jeden Menschen Person immer auch als „Zweck an sich selbst" anzusehen und zu behandeln (GMS B 64, 69, 74/75, 80, 82/83 = IV 428, 430, 433, 436, 437/438; KpV A 155/156, 237 = V 87, 131). Person und Persönlichkeit, Mensch und Menschheit entsprechen auch hier einander: Das erste Glied eines jeden Begriffspaars meint den homo phaenomenon, oder besser noch: die konkrete Ganzheit, die ein jeder Mensch nach seiner phänomenalen und seiner noumenalen Seite hin ist, das zweite Glied den (besonderen Aspekt des ) homo noumenon. Was begründet diesen Kategorischen Imperativ? Weshalb gilt er? Kants Antwort lautet: „Der Grund dieses Prinzips ist: die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst" (GMS B 66 = IV 429; vgl. B 64 = IV 428). Diese grundlegende Tatsache ist nicht im üblichen Sinne empirisch-phänomenal aufweisbar. Deshalb fährt Kant fort: „So stellt sich notwendig der Mensch sein eignes Dasein vor; so fern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein

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B. Natur und Freiheit

Dasein, zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der atich für mich gilt, vor, also ist es zugleich ein objektives Prinzip" (ebd.). In einer Anmerkung verweist Kant für den Nachweis der Objektivität dieses Prinzips auf den letzten Teil der Grundlegung. Dort wird dieser Nachweis in zwei Schritten durchgeführt: 1. wird gezeigt: „Freiheit muß als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden"; denn: „Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum, in praktischer Rücksicht, wirklich frei" (B 99 f. = IV 447 f.). 2. wird gezeigt, wie ein Kategorischer Imperativ, also ein synthetischer praktischer Satz a priori, möglich ist, und zwar durch den Hinweis auf die beiden zuvor geklärten Aspekte des menschlichen Daseins, nämlich des phänomenalen und des noumenalen (B 110-113 = IV 453-455). Von der Idee der Freiheit als einer von der praktischen Vernunft und dem sittlichen Selbstbewußtsein notwendig gemachten Voraussetzung ihrer selbst muß Kant sprechen, weil er ihre Objektivität nicht theoretisch-wissenschaftlich nachweisen kann. Insofern ist auch der Begriff des homo noumenon bzw. der „Menschheit ganz intellektuell betrachtet" (RGV B 19 = VI 28 3 f.) eine (bloße) „Idee". Zugleich aber hat der Ausdruck ,die Idee der Menschheit' hier und andernorts bei Kant, wie aus dem jeweiligen Kontext hervorgeht, eine normative Bedeutung: Die „Idee der Menschheit, als Zweck an sich selbst", soll alle meine Maximen und Handlungen bestimmen (GMS B 67 = IV 42917) bzw. das Ideal für mein Handeln abgeben (MST A 168 = VI 480 11). Diese Betrachtungsweise wird dann im zweiten Stück der Religionsschrift (B 73 ff. = VI 60 ff.) beherrschend. Kant setzt nämlich an der angeführten Stelle die Idee der Menschheit mit der Idee des moralischen Gesetzes und beide mit der Persönlichkeit, nicht mit der Idee von ihr oder der Anlage für sie, gleich: „Die Idee des moralischen Gesetzes allein, mit der davon unzertrennlichen Achtung, kann man nicht füglich eine Anlage für die Persönlichkeit nennen; sie ist die Persönlichkeit selbst (die Idee der Menschheit ganz intellektuell betrachtet). Aber, daß wir diese Achtung zur Triebfeder in unsere Maximen aufnehmen, der subjektive Grund hiezu scheint ein Zusatz zur Persönlichkeit zu sein, und daher den Namen einer Anlage zum Behuf derselben zu verdienen" (RGV B 18/19 = VI 27/28). Die Unebenheiten in den Formulierungen dieser Sätze scheinen auf die Vermischung des ontologischen und des normativen Aspekts zurückzugehen: Der Mensch als homo noumenon ist schon die Persönlichkeit oder die (noumenale) Menschheit und nicht erst die Idee von ihr; aber als solcher soll der Mensch diese seine Naturbestimmung zum Inhalt seiner Selbstbestimmung durch Freiheit, d. h. das moralische Gesetz, seine Persönlichkeit, seine Menschheit zur Idee seines Handelns machen.

C. Freiheit und Gnade § 11. Die Erkennbarkeit der radikalen Bosheit des Menschen Bei der Klärung der These Kants (in §9) von der „Einwohnung des [...] radikalen Bösen in der menschlichen Natur" im Hinblick auf die Vereinbarkeit dieser These mit der (noumenalen) Freiheit als der Möglichkeitsbedingung für das moralisch Böse mußte natürlich auch schon die Frage gestellt werden, wie Kant seine These begründe. Diese Frage soll nun in einem umfassenderen, teilweise über die Religionsschrift hinaus auf die erkenntniskritische Gesamtkonzeption Kants gehenden Blick wieder aufgenommen und abschließend beantwortet werden. Da fällt nun auch für die Religionsschrift — ganz in Kongruenz mit Kants grundsätzlicher kritischer Unterscheidung von phänomenalem und noumenalem Aspekt des menschlichen Daseins — der Antagonismus zwischen der Behauptung der Erfahrbarkeit und der der Erfahrungsjenseitigkeit menschlicher Bosheit ins Auge: Einerseits ist das Böse im Menschen Wirklichkeit „vor allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit" (RGV B 8 = VI 22 6 f.; Hervorhebung von mir), andererseits läßt es sich „so früh, als sich nur immer der Gebrauch der Freiheit im Menschen äußert, wahrnehmen" (B 36/37 = VI 38 2f.; vgl. XXIII 101 31-102 15). Kant spricht sogar davon, daß die These von der strikten, d. h. ausnahmslosen Allgemeinheit des Bösen in jedem Menschen bewiesen werden könne und müsse (B 14/15, 23 = VI25 2l, 3023); und dieser Beweis soll mittels einer „anthropologischen Nachforschung" geführt werden, in der sich zeigen mag, „daß die Gründe, die uns berechtigen, einem Menschen einen von beiden Charakteren [nämlich gut oder böse zu sein] als angeboren beizulegen, so beschaffen sind, daß kein Grund ist, einen Menschen davon auszunehmen" (B 15 = VI 25). Allerdings führt Kant, wie wir oben (S. 117 — 119) sahen, dieses Programm nicht durch; er glaubt, sich „bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Taten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen" zu können (B 27/28 = VI 32/33). Doch ist dies zulässig? Andererseits: Ist ein solcher Beweis überhaupt möglich? Schließlich aber: Gelingt es nicht, Kants These wenigstens in der wesentlich schwächeren Form, die nicht über alle Menschen urteilend die Bosheit jedes Menschen behauptet, sondern auf ein solches Urteil — vielleicht nicht nur aus erkenntnistheoretischen, sondern auch aus moralischen Gründen — verzichtet und nur über sich selbst urteilt (vgl. von Weizsäcker 1977, 451 f., 565 — 567, 592 f.), dann wird man die Frage stellen müssen, ob nicht das Gesamtkonzept der philosophischen Religions-

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C. Freiheit und Gnade

lehre Kants in Gefahr ist oder — als Alternative — ob die These nicht ohne großen Schaden für seine Religionsphilosophie aufgegeben werden kann, wenn diese Philosophie methodisch so angelegt ist, daß sie nur das als objektiv praktisch-gültig anerkennt — nämlich Sittengesetz und Freiheitsvermögen —, was praktisch-moralisch notwendig ist. Gemäß der transzendentalphilosophischen Unterscheidung von phänomenalem und noumenalem Aspekt und der entsprechenden Auflösung der Antinomie zwischen transzendentaler Freiheit und Naturnotwendigkeit konstatiert Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft, daß uns „die eigentliche Moralität der Handlungen [...], selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen" ist. Und er fährt fort: „Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten" (B 579 Anm. = A 551 Anm.). Im Umfeld dieser Anmerkung argumentiert der Haupttext in einer Sprache, derer sich Kant auch in der Religionsschrift bedient: Der empirische Charakter einer Handlung (bzw. eines Menschen) — die „Sinnesart" — ist bestimmt durch (die Kausalität der) Natur und durch (die Kausalität der) Vernunft, und zwar jeweils vollständig. Die Seite der Vernunft- oder Freiheitskausalität macht den intelligiblen Charakter der Handlung (bzw. der Person) aus, die „Denkungsart". Als Kausalität aus Freiheit entsteht sie weder noch vergeht sie, wird also weder kausal bewirkt noch unterliegt sie in ihrem Wirken Natureinflüssen (B 579 f. = A 551 f.). — Kants Auseinandersetzung bewegt sich hier ganz im Rahmen der Kausalkategorie, deren Anwendung auf den noumenalen Bereich schon immanent den Einwand der Inkonsistenz provoziert, darüber hinaus für das Verständnis menschlichen Handelns inadäquat erscheint (s. o. §7). Vor allem aber klärt sich der Zusammenhang zwischen Denkungsart und Sinnesart nicht, wenn wir unter ,Denkungsart' die moralische Gesinnung, den moralischen Charakter einer Person verstehen, der sich in einem bestimmten Verhalten in einer bestimmten Situation nie adäquat zur Erscheinung, zur Erfahrung bringen kann; denn auch der Zusammenhang zwischen moralischer Denkungsart und phänomenal, z. B. psychologisch zugänglicher Sinnesart ist kein kausaler, so daß ein präziser, unanfechtbarer Rückschluß von dieser, der Wirkung, auf jene als der Ursache möglich wäre, sondern, wie Kant in seinen moralphilosophischen Schriften erläutert, ein durch Maximen vermittelter. Maximen in der Bedeutung, die Kant diesem Terminus gewöhnlich gibt (vgl. G MS B 15 Anm., 51 Anm. = IV 400 Anm., 420 Anm.; Kp V A 35-37 = V 19 f.; MSR A 25 f., 178 f. Anm. = VI 225, 320 Anm. 2. Absatz; MST A 19 = VI 389), scheinen nach zwei Seiten hin unbestimmt zu sein: Auf der einen Seite, nämlich in Richtung auf das Handeln hin, lassen sie offen, durch welche Handlungsweisen ihnen in einer konkreten Situation Folge zu leisten

§11. Die Erkennbarkeit der radikalen Bosheit des Menschen

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ist, weshalb Kant sagen kann: „Das [moralische] Gesetz gilt nur für die Maximen, nicht für bestimmte Handlungen" (MS T A 27 = VI 393 34f.; vgl. Wimmer 1980, 403 f. Anm. 2); auf der anderen, sozusagen entgegengesetzten Seite in Richtung auf die immer Allgemeiner',,formaler' werdenden Maximen einer individuumspezifischen Hierarchie solcher subjektiven Grundsätze ist ihre spezifisch moralische Beurteilung nur dann endgültig möglich, wenn — wie Kant erstmals in der Religionsschrift herausstellt (B 6, 7 Anm., 8, 14, 25 f., 27, 34-36, 39 Anm., 52, 53, 54/55, 61, 71, 78, 84/85 = VI 20 30-34, 21 Anm., 22 l, 4, 255-13, 31 f., 32 27f., 36 f., 39 Anm., 466, 4714, 4723,29,36, 51 10, 15 f., 59 9 f., 63 18 f., 66 34 f.) — die oberste Maxime dieser Hierarchie, der ,Grunif aller übrigen Maximen, dem Urteilenden bekannt ist. Einige einfache, anhand des sich bei Kant findenden Materials gebildete Beispiele mögen diesen letzteren Punkt illustrieren: Der Grundsatz, die eigene Glückseligkeit zu befördern, läßt, in dieser Unbestimmtheit formuliert, offen, ob er durch den Grundsatz, das Wohl der vom eigenen Verhalten betroffenen Mitmenschen ebenso zu berücksichtigen wie das eigene, eingeschränkt ist oder nicht; und der Grundsatz, das Wohl anderer wie das eigene zu berücksichtigen, läßt insoweit offen, ob er sich einer genuin moralischen Entscheidung, z. B. einem Grundsatz der Gerechtigkeit, verdankt oder nicht; schließlich läßt der Grundsatz, sich konform zu den Gesetzen des Staates zu verhalten, in dem man lebt, offen, ob man dies aus letztlich moralischen Gründen tut oder nicht. ,Moralisch' heißt hier, sich einen Grundsatz deswegen zu eigen machen, weil er (unbedingt) gut ist. Voraussetzung für die moralische Beurteilung von Maximen — so sagten wir — ist die Kenntnis der maßgebenden obersten, grundlegenden Maxime. Die vorstehenden Erörterungen lassen diese Kenntnis als schwierig, wenn nicht als unmöglich erscheinen: Vom Verhalten her läßt sich kein eindeutiger Zugang zu den leitenden Grundsätzen ausmachen, und für die Suche nach dem letzten leitenden Grundsatz scheint sich weder ein methodisches Verfahren noch ein Kriterium angeben zu lassen, das es erlaubte, einen solchen Grundsatz zu identifizieren. Dies letztere gilt nicht nur für den, der einen anderen Menschen zu beurteilen sucht, sondern auch für die Selbstbeurteilung. Das hat sowohl psycho- wie existenzanalytische Plausibilität: Die tatsächlich leitenden höherstufigen Grundsätze sind häufig nicht bewußt, zumal dann nicht, wenn ihr Eigentümer sie sich nie vergegenwärtigt und sich über sie Rechenschaft abzulegen versucht hat oder wenn er ein Interesse daran hat — z.B. um seine Selbstachtung nicht zu verlieren —, die wirklichen Beweggründe seines Verhaltens vor sich selbst zu verbergen, sich über sie zu täuschen. Existenzanalytisch betrachtet ist der oberste Grundsatz zudem in einer Dimension angesiedelt, die für das reflektierende, Rechenschaft fordernde Bewußtsein transzendent ist, und zwar u. a. deshalb, weil er sich auf das Ganze des Daseins, die Weise des Lebens überhaupt bezieht und somit das forschende Bewußtsein selbst noch umfangt und in sich schließt.

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C. Freiheit und Gnade

Auf den für Kants These von der Unerkennbarkeit der moralischen Qualität des (eigenen und fremden) Wollens wesentlichen Aspekt der transzendenten Noumenalität sei nun näher eingegangen; er soll anhand besonders sprechender Texte Kants selbst belegt werden. In der Grundlegung schreibt Kant: „In der Tat ist es schlechterdings unmöglich, durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen, da die Maxime einer sonst pflichtmäßigen Handlung lediglich auf moralischen Gründen und auf der Vorstellung seiner Pflicht beruhet habe. Denn es ist zwar bisweilen der Fall, daß wir bei der schärfsten Selbstprüfung gar nichts antreffen, was außer dem moralischen Grunde der Pflicht mächtig genug hätte sein können, uns zu dieser oder jener guten Handlung und so großer Aufopferung zu bewegen; es kann aber daraus gar nicht mit Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe, unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee, die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei, dafür wir denn gerne uns mit einem uns fälschlich angemaßten edlern Beweggrunde schmeicheln, in der Tat aber selbst durch die angestrengteste Prüfung hinter die geheimen Triebfedern niemals völlig kommen können, weil, wenn vom moralischen Werte die Rede ist, es nicht auf die Handlungen ankommt, die man sieht, sondern auf jene innere Prinzipien derselben, die man nicht sieht" (B 26 = IV 407; vgl. B 49 = IV 419; vgl. Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis A 222 f. = VIII 284 f.; Das Ende aller Dinge A 501 f. = VIII 329 f.). In der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten geht Kant an zwei Stellen auf die Unmöglichkeit ein, „die Tiefen des menschlichen Herzens" zu ergründen: „[...] es ist dem Menschen nicht möglich, so in die Tiefe seines eigenen Herzens einzuschauen, daß er jemals von der Reinigkeit seiner moralischen Absicht und der Lauterkeit seiner Gesinnung auch nur in einer Handlung völlig gewiß sein könnte; wenn er gleich über die Legalität derselben gar nicht zweifelhaft ist. Vielmals wird Schwäche, welche das Wagstück eines Verbrechens abrät, von demselben Menschen für Tugend (die den Begriff von Stärke gibt) gehalten, und wie viele mögen ein langes schuldloses Leben geführt haben, die nur Glückliche sind, so vielen Versuchungen entgangen zu sein; wie viel reiner moralischer Gehalt bei jeder Tat in der Gesinnung gelegen habe, das bleibt ihnen selbst verborgen" (MST A 25 = VI 392 f.). „Die Tiefen des menschlichen Herzens sind unergründlich. Wer kennt sich genugsam, wenn die Triebfeder zur Pflichtbeobachtung von ihm gefühlt wird, ob sie gänzlich aus der Vorstellung des Gesetzes hervorgehe, oder ob nicht manche andere, sinnliche Antriebe mitwirken, die auf den Vorteil (oder zur Verhütung eines Nachteils) angelegt sind und bei anderer Gelegenheit auch wohl dem Laster zu Diensten stehen könnten" (A 114 = VI 447). Von der unauslotbaren Tiefe des menschlichen Herzens spricht Kant auch in der Religionsschrift (RGV B 61, 78 = VI 51 15-21, 63 18-21).

§11. Die Erkennbarkeit der radikalen Bosheit des Menschen

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Die These von der Unerkennbarkeit der eigenen moralischen Güte scheint dort ins Wanken zu geraten, wo Kant — wie in der 2weiten Kritik und in der Religionsschrift — im Zusammenhang mit der moralischen Forderung nach beständiger sittlicher Selbstvervollkommnung und dem sich daraus teilweise ableitenden Unsterblichkeitspostulat die Erkennbarkeit des eigenen moralischen Fortschritts einzuräumen scheint. Dann bezieht sich nämlich die Ungewißheit über die eigene moralische Qualität nur noch auf die Zukunft der eigenen Lebensführung, nicht aber auf ihre Gegenwart und Vergangenheit: Man kennt die Stufe, auf der man moralisch steht, man ist sich über die Fortschritte im klaren, die man in moralischer Hinsicht gemacht hat, ermangelt aber der Gewißheit darüber, ob man auch in Zukunft der bisher verfolgten Linie treu bleiben wird. Nicht Gewißheit ist angezeigt, wohl aber berechtigte Hoffnung auf ähnlichen Fortschritt in der Zukunft. Es „darf derjenige, der sich bewußt ist, einen langen Teil seines Lebens bis zum Ende desselben, im Fortschritte zum Bessern, und zwar aus echten moralischen Bewegungsgründen, angehalten zu haben, sich wohl die tröstende Hoffnung, wenn gleich nicht Gewißheit, machen, daß er, auch in einer über dieses Leben hinaus fortgesetzten Existenz, bei diesen Grundsätzen beharren werde" (Kp V A 222 Anm. = V 123 Anm.). Wenig später spricht Kant wiederum von der Hoffnung, nun aber nicht in bezug auf den eigenen moralischen Fortschritt in der Zukunft, sondern auf zukünftige göttliche Hilfe beim sittlichen Bemühen (wovon Kant ausführlicher am Ende des ersten Stücks der Religionsschrift handelt, worauf im nächsten Kapitel einzugehen sein wird). Aber auch diese Hoffnung scheint die Kenntnis unseres moralischen Zustande vorauszusetzen: „[...] daß, wenn wir so gut handeln, als in unserem Vermögen ist, wir hoffen können, daß, was nicht in unserm Vermögen ist, uns anderweitig werde zu statten kommen, wir mögen nun wissen, auf welche Art, oder nicht" (KpV A 230 Anm. = V 128 Anm.). In Kants Religionsschrift stehen die beiden skizzierten Thesenstränge von der Unerkennbarkeit der gegenwärtigen und der zukünftigen moralischen Verfassung der eigenen Person nebeneinander, und es wird zu prüfen sein, ob sie — was sich nach den bisher vorgelegten Äußerungen vermuten läßt — einander nicht ausschließen. Schon zu Beginn seiner philosophischen Religionslehre stößt Kant bei der Beantwortung der Frage, ob „der Mensch in seiner Gattung weder gut noch böse, oder allenfalls auch eines sowohl als das andere, zum Teil gut, zum Teil böse sein könne", auf die Problematik der Erkennbarkeit von Gutheit und Schlechtigkeit eines Menschen. Kant schreibt: „Man nennt aber einen Menschen böse, nicht darum, weil er Handlungen ausübt, welche böse (gesetzwidrig) sind; sondern weil diese so beschaffen sind, daß sie auf böse Maximen in ihm schließen lassen. Nun kann man zwar gesetzwidrige Handlungen durch Erfahrung bemerken, auch (wenigstens an sich selbst), daß sie mit Bewußtsein gesetzwidrig sind; aber die Maximen kann man nicht beobachten,

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C. Freiheit und Gnade

sogar nicht allemal in sich selbst, mithin das Urteil, daß der Tater ein böser Mensch sei, nicht mit Sicherheit auf Erfahrung gründen. Also müßte sich aus einigen, ja aus einer einzigen mit Bewußtsein bösen Handlung, a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime, und aus dieser auf einen in dem Subjekt allgemein liegenden Grund aller besondern moralisch-bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist, schließen lassen, um einen Menschen böse zu nennen" (RGV B 5 f. = VI 20). Kants Äußerung erscheint auf den ersten Blick unbestimmt. Sie setzt ein mit einem Hinweis auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch: Nach diesem genügt nicht die bloße Gesetzwidrigkeit einer Handlung, um den Handelnden böse nennen zu können, sondern sie muß beim Handelnden mit dem Bewußtsein ihrer Gesetzwidrigkeit verbunden sein. Der Sprachgebrauch selbst bestätigt somit Kants Grundunterscheidung zwischen der Legalität (bzw. Illegalität) und der Moralität (bzw. Immoralität) einer Handlung. Allerdings reicht das bloße Bewußtsein des Handelnden von der Gesetzesförmigkeit oder der Gesetzeswidrigkeit seiner Handlung nicht aus zum objektiven Erweis ihrer Legalität oder Illegalität; denn darüber kann er sich ja im Irrtum befinden. Und auch das subjektive Bewußtsein von der Lauterkeit der die Handlung motivierenden Maxime genügt nicht, um auch den letzten Grund dieser Motivation als moralisch integer erscheinen zu lassen. Der abschließende Satz des angeführten Textes macht aber glaubhaft, daß wenigstens aus dem subjektiven Bewußtsein der Bosheit eines Beweggrundes auf die Bosheit seiner Wurzel und damit auf die Bosheit des ganzen Menschen geschlossen werden darf — zumindest in bezug auf die eigene Person, weil man sich bei sich selbst über das Vorhandensein eines bestimmten Bewußtseins nicht täuschen oder im Irrtum befinden kann. Allerdings verbietet es die konjunktivische Formulierung des zitierten Satzes, die vermutete Möglichkeit schon als definitive Aussage Kants zu verstehen. Sehen wir weiter! Wenig später gibt Kant in einer Anmerkung eine Erläuterung zu der Aussage, der erste Grund der Annahme (im Sinne der Übernahme und Aneignung) guter bzw. böser Maximen in einem Menschen sei unerforschlich. Die Erläuterung besteht zum einen in dem Hinweis auf die Freiheit dieser Annahme, so daß der Grund für sie nicht außerhalb jener Freiheit liegen könne, eine Entscheidung aus Freiheit — so wäre hinzuzufügen — gewissermaßen per definitionem unerklärlich sei, zum anderen in dem Hinweis darauf, daß die Frage nach dem Grund der Annahme einer Maxime, faßt man sie als empirische Frage nach einer Erklärung auf, nicht aus der Reihe der bedingten Maximen heraus-, aber auch nicht auf eine erste unbedingte Maxime hinführe (B 7 Anm. = VI 21 Anm.). Diese Auskunft sieht Kant allerdings als „vorläufig" an (ebd.). Sie ist es insofern, als in einer Philosophie der ethischen und religiösen Praxis keine theoretischen Erklärungen verlangt werden, sie im übrigen durch die transzendentale Vernunftkritik Kants obsolet sind. Wäre die Auskunft endgültig,

§11. Die Erkennbarkeit der radikalen Bosheit des Menschen

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so würde sie zumindest in ihrem zweiten Teil die Rede von einer ,obersten Maxime' oder von einem ,letzten Grund des Entscheidens' desavouieren, ja die Möglichkeit der freien Entscheidung als freie Selbstbestimmung fraglich erscheinen lassen, da ein infiniter Regreß bezüglich der Entscheidungsinstanzen nicht mehr von einem Träger, einem Subjekt der Entscheidung zu sprechen erlaubte. Daß wir moralisch verantwortliche Subjekte sind, die sich moralisch selbst bestimmen, dessen sind wir nach Kant durch das .Faktum' (des Bewußtseins) des Sittengesetzes gewiß (vgl. KpV A 55/56, 72, 81, 96 = V 31 24, 42, 47 12, 55 17). Aber wie wir uns bestimmen, ob zum Guten oder zum Bösen, das können wir nicht wissen — jedenfalls in der Regel nicht — , „obwohl darnach zu fragen unvermeidlich ist" (RGV B 14 = VI 25 10f.). Diese Unvermeidlichkeit ist selbst moralisch begründet. Sie wurzelt in der sittlichen Aufgabe moralischer Selbsterkenntnis, dem (dazu vgl. § 12). Im vierten Abschnitt des ersten Stücks der Religionsschrift arbeitet Kant den Grund für die Unerkennbarkeit der moralischen Güte oder Bosheit eines Menschen deutlicher heraus: Der Ursprung des obersten Grundsatzes liegt nicht in der sinnlichen Natur eines Menschen, sondern in seiner freien Willkür. Im Unterschied zu der Vielfalt der untergeordneten Maximen, die situationsbedingt in der Zeit mehr oder weniger dauerhaft nebeneinander bestehen und einander ablösen, ist der oberste Grundsatz — von Kant auch als (moralische) ,Gesinnung' oder (im Unterschied zur ,Sinnesart') als ,Denkungsart 4 bezeichnet — zeitenthoben, intelligible Tat der Freiheit vor jeder Zeitbestimmung, also zeit- und erfahrungstranszendent, weshalb Kant den Ursprung dieses Grundsatzes als „Vernunftursprung" im Unterschied zu einem „Zeitursprung" charakterisiert (B 40 = VI 39), obwohl er sich — als böser — gegen die Vernunft richten kann. Die Zeit- und Erfahrungsüberhobenheit dieses Ursprungs, seine Noumenalität, ist der eigentliche Grund für seine Unerforschlichkeit. Natürlich können wir uns den Anfang von etwas Zeitlosem nur als in der Zeit stattfindend vorstellen. Dieser „Vorstellungsart" bedient sich, so bemerkt Kant, auch der biblische Mythos von der Ursünde (B 43/44 = VI 41/42), und auch Kant selbst kann nicht anders als zeitlich von dem Vollzug der Grundentscheidung zum Guten oder Bösen sprechen. Diese Vorstellungsart ist solange ungefährlich, als zugleich an der Unableitbarkeit der Grundentscheidung festgehalten wird. Daß sie als zeitlich vorgestellt wird, bedeutet nicht, daß sie in der Anschauung — unter der Anschauungsform der Zeit — gegeben sein könnte; insoweit sind Vorstellung und Anschauung strikt voneinander zu unterscheiden. Ist nicht aber die These von der Unzeitlichkeit der Grundentscheidung so befremdlich, daß sie keiner ernsthaften Prüfung bedarf? Mir scheint, daß sie ihre Befremdlichkeit verliert, wenn wir uns den Charakter der Grundentscheidung verdeutlichen.

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C. Freiheit und Gnade

Die Rede von der ,obersten Maxime', dem geltenden Grundsatz', dem ,Grund aller Einzelmaximen, aller Einzelentscheidungen', der .Grundentscheidung' verdeckt den einzigartigen Status dessen, von dem hier gesprochen wird, weil sie den Eindruck erweckt, als handle es sich um den Anfang oder das Ende einer Kette von Gliedern gleicher Art. Demgegenüber ist einzusehen und festzuhalten, daß zwischen Grundentscheidung und den von ihr abhängigen oder auch unabhängigen Einzelentscheidungen, zwischen Denkungsart und den untergeordneten Maximen, zwischen grundlegender Gesinnung und konkreten Einzelmotiven eine Differenz der Kategorie nach besteht. In der Grundentscheidung konstituiert sich die Person in moralischer Hinsicht als von dieser oder jener Art, als guter oder schlechter Mensch. Während er über seine Wahl- und Entscheidungsvollmacht in bezug auf konkrete Situationen frei verfügt — er kann sich zu diesem und jenem entscheiden, er kann sich aber auch entscheiden, keine Entscheidung zu treffen (libertas specificationis und libertas exercitii) —, besitzt er bezüglich seiner Fähigkeit zur Grundent'scheidung nicht die Möglichkeit, sie nicht zu betätigen. Auch kann er sich ihr nicht reflektierend nähern, danach fragen, was mehr für die eine oder die andere Seite spricht; denn voraussetzungsgemäß gibt es keine übergeordneten Gründe mehr, wo es um die Entscheidung für oder gegen das schlechthin, das unbedingt Gute geht. Weder bedarf es Gründe, noch verträgt es solche. Wer nach Gründen sucht, hat entweder noch nicht verstanden, worum es hier geht, was auf dem Spiele steht, oder er sucht sich dem unbedingten Anspruch zu entziehen, dem er sich ausgesetzt sieht. Weil es sich nicht um eine Entscheidung handelt, die man auch vertagen könnte, auf morgen verschieben, um sich größere Klarheit über ihre Bedeutung, ihre Risiken und Alternativen zu verschaffen, sondern weil sie als vor und in jeder moralisch relevanten Einzelentscheidung immer schon vollzogen vorgestellt werden muß, kann sie nicht zeitlich im Verlaufe eines Lebens fixiert werden; sie erscheint als je schon geschehen und insofern als zeitlos, als unvergänglich gegenwärtig. Die Grundentscheidung ist die Weise, in der die Totalität des moralischen Lebens eines Menschen bei sich selbst ist. Der einzelne Willensimpuls, der einzelne Vorsatz, auch wenn er sich darum dreht, ,sein Leben zu ändern', bleibt notwendig hinter der Entschiedenheit, die das Resultat einer Grundentscheidung ist, zurück; ebenso reicht die Reflexion, die nachträglich, z. B. kontrollierend und Rechenschaft heischend, sich auf sie zurückzuwenden versucht, an sie nicht heran. Wenn das Moralische den Menschen als ganzen qualifiziert, dann ist auch jeder seiner einzelnen Vollzüge — der Versuch, sich zu durchschauen, oder der Versuch, sich zu einem anderen Menschen zu machen — Teil dieser Ganzheit und hat teil an ihrer moralischen Qualität. Der Mensch hat keine Möglichkeit, sich gleichsam am eigenen Schöpfe aus seinem Dasein zu ziehen, einen archimedischen Punkt außerhalb seines Lebens zu finden.

§12. Die Pflicht zu moralischer Selbsterkenntnis

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Das hier Gemeinte hat Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus so zum Ausdruck gebracht: „Wenn das gute oder böse Wollen die Welt ändert, so kann es nur die Grenzen der Welt ändern, nicht die Tatsachen; nicht das, was durch die Sprache ausgedrückt werden kann. — Kurz, die Welt muß dann dadurch überhaupt eine andere werden. Sie muß sozusagen als Ganzes abnehmen oder zunehmen" (Satz 6.43). Statt ,Welt' kann man ebenso gut ,Leben' sagen.

§ 12. Die Pflicht %u moralischer Selbsterkenntnis

Kant betrachtet die Forderung nach moralischer Selbsterkenntnis als die erste der Pflichten gegen sich selbst. Es geht unter anderem darum zu prüfen, ob das eigene Herz „gut oder böse sei, ob die Quelle deiner Handlungen lauter oder unlauter" (MST A 104 = VI 441). Kant schätzt das Bemühen, dieser Pflicht nach bestem Vermögen nachzukommen, sehr hoch ein, wobei er sich, um seine Bedeutung zu unterstreichen, biblischer Wendungen bedient: „Das moralische Selbsterkenntnis, das in die schwerer zu ergründende Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen verlangt, ist aller menschlichen Weisheit Anfang" (ebd.). Das Verlangen wird von Kant natürlich als ein tätiges Verlangen, als beständiges Streben nach immer vollkommenerer Selbsterkenntnis verstanden, nicht als bloßer Wunsch. Zugleich ist Kant vorsichtig genug, nicht den Erfolg, sondern nur das Streben selbst auszuzeichnen. Damit deutet er auch hier indirekt an, daß das Ideal vollkommener Selbsterkenntnis, die ganze Wahrheit über sich selbst in moralischer Hinsicht, wohl kaum erreichbar ist. Die Pflicht zur Selbsterkenntnis wird von Kant als eine Folge der Gegebenheit der reinen praktischen Vernunft angesehen, insofern sie als der dem Menschen „angeborne Richter über sich selbst", d. h. als „Gewissen" fungiert (MST A 98 f. = VI 437 f.). Jeder Mensch hat demnach allein dadurch, daß er ein sittliches Wesen ist, Gewissen (A 37, 99 = VI 400 24 f., 438 13). Deshalb kann es keine Pflicht geben, ein Gewissen zu haben — „Das Gewissen ist ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist" (RGV B 287 = VI 185) -, sondern nur, es „zu kultivieren, die Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen und alle Mittel anzuwenden [...], um ihm Gehör zu verschaffen" (MST A 39 = VI 401). Der Ausdruck, jemand habe kein Gewissen, besagt ja nur dies: „er kehrt sich nicht an den Ausspruch desselben" (A 38 = VI 400). Deshalb besagt auch ,Gewissenlosigkeit' „nicht Mangel des Gewissens, sondern Hang, sich an dessen Urteil nicht zu kehren" (A 38 = VI 401; vgl. A 99 = VI 438). Ihr Gegenstück ist die Gewissenhaftigkeit, die Kant mehrfach — wohl vermittelt durch die Analogie des Gewissens mit einem Gerichtshof, in dem Gott der Ankläger und der Mensch der Angeklagte ist (A 100-103 = VI 438-440; vgl. A 63-65 = VI417f.; Refl. Nr. 6815,

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C. Freiheit und Gnade

7181-7187, 7322, 8110 = XIX 17023-28, 265-267, 316/317, 65013-25) zu einem religiösen Selbstverständnis in Beziehung setzt (vgl. Refl. Nr. 7208 = XIX 285 14; Opus postumum XXI 81 19-22: „Religion ist Gewissenhaftigkeit [...]"; vgl. noch ebd. 15225f., 153 15f., 19f.). Es sei noch angemerkt, daß Kant den Ausdruck ,irrendes Gewissen' für eine contradictio in adiecto hält (MST A 38 = VI 401; Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodi^ee A 219 — VIII 268 10 ff.). Doch ist zu beachten, daß er ihn nicht in der üblichen Weise versteht, wonach ein moralisches Urteil irrtümlich falsch sein kann — diese Möglichkeit räumt Kant selbstverständlich ein —, sondern daß er ihn nach der subjektiven Seite hin versteht: Es ist widersinnig anzunehmen, jemand könne sich im Irrtum darüber befinden, ob er ein Moralurteil gefällt hat. Nun mag es sein, daß der Akt des (moralischen) Urteilens als eine Handlung des Bewertens (Billigens oder Mißbilligens, Lobens oder Tadeins usw.) dem Handelnden so zugehört, daß er über den Vollzug und den Charakter dieser Handlung als einer Bewertung gewiß ist; damit ist aber nicht auch schon gegeben, daß er sich über die Art seiner Bewertung bzw. der ihr zugrundeliegenden Grundsätze nicht irren könnte, d. h. bezogen auf das vorliegende Problem: Jemand mag eine nicht-moralische Bewertung vorgenommen haben, eine Bewertung also, die anderen als moralischen Gesichtspunkten, z. B. sozialtechnischen, folgte, sie aber für eine moralische Bewertung halten. Er hätte damit eine Kategorienverwechslung begangen, über die er durch eine angemessene Belehrung etwa sokratischer Art über die moralische und die nicht-moralische Verwendungsweise von Ausdrücken wie ,gut' oder .sollen' aufgeklärt werden könnte. Die Pflicht zur moralischen Selbsterkenntnis hat die Pflicht zur Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber zur unmittelbaren Folge: Selbsterkenntnis wird durch Selbsttäuschung — deren eigentümliche Struktur Kant kurz reflektiert (MST A 85 = VI 430 9-13) — aufgehoben (zum Problem vgl. Champlin 1977; Fingarette 1969; Gardiner 1976; Haight 1980; Moritz 1791, 80-83; Palmer 1979; Szabados 1974; 1979; Tugendhat 1979, 140 ff.). Der Mensch mag sich nicht ins eigene Herz blicken: „Wir müssen uns vor unsern eignen Augen die mechanic unserer eigennützigen Antriebe verbergen" (Refl. Nr. 6619 = XIX 113 4f.). „[...] wir machen unser Vergnügen schmakhafter, wenn wir es unter edleren Absichten verdecken" (Refl. Nr. 6620 = XIX 114 4f.). Die Wahrhaftigkeit sich selbst und anderen gegenüber ist für Kant die Wurzel des moralischen Lebens überhaupt; ohne sie ist Moralität undenkbar: „Sie ist nicht Tugend sondern subjective Bedingung aller Tugenden" (XXIII 40018f.; vgl. Refl. Nr. 6737, 6815, 7082, 7095, 7169, 7180, 7217, 8096, 8103 = XIX 145 19 f., 17023-28, 245 5 f., 248 13, 26225-27, 265 n f., 2885-10, 640 f., 646 19); deshalb kann Kant sagen: Der Lügner „verletzt die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person [...]. Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde. Ein Mensch, der selbst nicht glaubt, was er einem anderen (wenn es auch eine bloß idealische Person wäre)

§12. Die Pflicht zu moralischer Selbsterkenntnis

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sagt, hat einen noch geringeren Wert, als wenn er bloß eine Sache wäre [...]. Es kann auch bloß Leichtsinn, oder gar Gutmütigkeit, die Ursache davon sein, ja selbst ein wirklich guter Zweck dadurch beabsichtigt werden, so ist doch die Art, ihm nachzugehen, durch die bloße Form ein Verbrechen des Menschen an seiner eigenen Person, und eine Nichtswürdigkeit, die den Menschen in seinen eigenen Augen verächtlich machen muß" (MS T A 84 f. = VI 429 f.). Die Unwahrhaftigkeit sich selbst gegenüber nennt Kant wiederholt „den faulen Fleck" im Menschen, der ihn moralisch verderbe (RGV B 38 = VI 38 3l; MST A 86 = VI 430 37; Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats %um ewigen Frieden in der Philosophie A 504 = VIII 422 4). Mit besonderem Abscheu bedenkt er Unaufrichtigkeit in der Beziehung zu Gott (vgl. RGV B 291 -296 = VI 188-190; Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodi^ee A 213-225 = VIII 265-271; Refl. Nr. 8089, 8092, 8101 = XIX 632, 638, 643 20-24). Auch ohne auf Kants Begründung des absoluten Lügenverbots einzugehen — hier wäre vor allem seine kleine Schrift Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe %u lügen von 1797 zu berücksichtigen — und ohne die Zweiteilung der Wahrhaftigkeitspflicht in eine Rechts- und eine Tugendpflicht (je nachdem, ob sie als Pflicht zur Beachtung und Wahrung des Rechts einer anderen Person erscheint oder als Pflicht zur Beachtung der eigenen oder fremden Person als Zwecks an sich selbst) zu diskutieren, überzeugt Kants Ansicht, intellektuelle und moralische Redlichkeit sei das Fundament der Moralität. Der persönliche Ernst, den Kant damit verbindet, läßt sich an einer Mahnung ablesen, die sich in den Vorarbeiten zur Tugendlehre der Metaphysik der Sitten findet: „Erkenne dich selbst moralisch erforsche dich selbst was du für ein Mensch nach deiner moralischen qualität bist lege die Maske in der Theatervorstellung deines Characters ab und siehe ob du nicht vielleicht Ursache habest dich zu hassen ja wohl gar zu verachten" (XXIII 40327-30). Schließlich spielt das ,Nosce te ipsum' noch im religionsphilosophischen Schlußteil des Opus postumum eine bedeutungsvolle Rolle, und zwar vornehmlich und natürlicherweise im Rahmen der das ganze Nachlaßwerk durchziehenden Erörterungen Kants zum Begriff der Philosophie als Wissenschaftsund als Weisheitslehre. Es ist nicht eindeutig zu sagen, ob sie eher auf die Erkenntnis der eigenen moralischen Gesinnung oder eher auf die Erkenntnis der eigenen moralischen Anlage (dazu s. das folg. Kap.) abzielen; vielleicht ist beides gemeint: „Alle Philosophie ist 1. Autognosie, 2. Autonomie" (XXI 106 1); „Der höchste Standpunkt der menschlichen praktischen Vernunft ist ein Bestreben des Wissens %ur Weisheit (Philosophie). Das nosce te ipsum"(ebd. 121 4—6); „Zu allem Wissen (scientia), dessen sich der vernünftelnde Mensch zu seinem Wohlsein bedienen kann, ist das Selbsterkenntnis (nosce te ipsum) ein Gebot der Vernunft, welches Alles enthält: sapere aude, sei weise! Ein

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C. Freiheit und Gnade

Besitz, der, wenn man an sich nicht schon in seinem Besitz ist, zu ihm auch nicht gelangt" (134 1 — 5; orthographische Korrekturen und Interpunktion von mir).

§ 13. Die Erkenntnis des eigenen Wesens und ihr religiöser Ausdruck

Kant versteht die Selbsterkenntnis aber nicht nur in dem bisher beschriebenen Sinne der Erforschung der eigenen Moralität, sondern auch als Selbstaufklärung über die eigene moralische Natur, die im Besitz der reinen praktischen Vernunft besteht: „Die erste Wirkung der Selbsterkenntnis ist die wahre Demuth aus der Vergleichung seiner selbst mit dem Gesetze — die zweyte ist das Bewußtseyn der Erhabenheit seiner Naturanlage und der durch nichts niederzuhaltenden Stärke gegen die Natur und deren Kräfte auszuhalten" (XXIII 402 15-18). Die Erhabenheit dieser Naturanlage besteht in ihrer Geistigkeit und ihrer gänzlichen Unabhängigkeit von der sinnlichen Natur im Menschen, deren Verlockungen zur Abweichung vom Moralgesetz sie entgegentreten muß. „Es liegt in dem Orakelspruch: Erkenne dich selbst [...] sich aller Anlagen [also der geistigen wie der sinnlichen] in deiner Natur zum wahren Endzweck deines Daseyns dich zu bedienen", und zwar „rational nach deinen Vernunftvermögen" (XXIII 402 11—14). Der wahre Endzweck des menschlichen Daseins ist moralisch, nämlich ein gutes Leben zu führen, d. h. ein Leben, das der moralischen Anlage im Menschen entspricht und zur Erfüllung verhilft. Neben der Selbsterkenntnis stellt Kant die Liebe zu sich selbst als Ausdruck für „das Bewußtseyn der Erhabenheit" der eigenen Geistnatur: „Liebe dich selbst moralisch, d. i. nach der Grundanlage deines Gemüths ehe du verdorben wärest. Das nachher in dir gekommene Böse selbst, ehe du Vernunft bewiesest, muß [= darf] dir nicht Abscheu erregen gegen dich selbst — Ehre dich selbst Achtung. Mache Dich nicht zur Sache" (XXIII 40430-34). Sich selbst lieben, ehren, achten, sich als Zweck an sich selbst ansehen und nicht als Mittel, Sache, Gegenstand zu beliebigem Gebrauch erscheint hier als unmittelbare Folge der rechten Einsicht in das wahre Wesen seiner selbst, als der ursprüngliche kategorische Imperativ. Der Imperativ der Selbstachtung gründet im Indikativ der Selbstachtung. Die Bedingung der Möglichkeit jeglichen moralischen Verpflichtetseins ist das Bewußtsein des Sittengesetzes und der durch es im Menschen erzeugten „Selbstschätzung": „Das Gesetz in ihm zwingt ihm unvermeidlich Achtung für sein eigenes Wesen ab, und dieses Gefühl (welches von eigner Art ist) ist ein Grund gewisser Pflichten, d. i. gewisser Handlungen, die mit der Pflicht gegen sich selbst zusammen bestehen können". Es kann nicht heißen, „er habe eine Pflicht der Achtung gegen sich; denn er muß Achtung vor dem Gesetz in sich selbst haben, um sich nur eine Pflicht überhaupt [so auch eine

§ 13. Die Erkenntnis des eigenen Wesens und ihr religiöser Ausdruck

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Pflicht zur Selbstachtung] denken zu können" (MST A 41/42 = VI 402/403). Das Bewußtsein des absoluten Werts der eigenen Person, von Kant, wie gezeigt, auch als „Gefühl" (der „Selbstschätzung") bezeichnet, ist demnach „nicht empirischen Ursprungs, sondern kann nur auf das [Bewußtsein] eines moralischen Gesetzes, als Wirkung desselben aufs Gemüt, folgen" (A 35 = VI 399). Von hier aus wird Kants Fundamentalsatz in der Grundlegung verständlich: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Geset^ (GMS B 14 = IV 400); d. h.: Allein die Achtung für das Sittengesetz soll Beweggrund unserer Handlungen sein und ihre Maximen bestimmen (BIS = IV 400/401). Auch hier wird die Achtung als ein Gefühl angesehen, das aber „kein durch [sinnlichen] Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff [nämlich den des Moralgesetzes] selbstgetvirktes Gefühl" ist (B 16 Anm. = IV 401 Anm.), das demnach „nicht empirischen Ursprungs ist, [...] und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können" (KpV A 130 = V 73). Kant betont immer wieder, um dem naheliegenden Mißverständnis vorzubeugen, mit seiner These von der Achtung als moralischem Gefühl knüpfe er wieder an die zeitweise auch von ihm (in Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen und Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral., beide aus dem Jahre 1764) vertretene englischschottische moral-sense-Theorie der Ethik an, daß nicht ein moralisches Gefühl der Grund moralischer Verpflichtung sei und ihr vorausgehe, sondern daß umgekehrt das Moralgesetz bzw. die reine praktische Vernunft dieses Gefühl der Achtung wirke, und zwar mit Notwendigkeit (vgl. KpV A 130 — 146 = V 73 —82). Die Achtung für Personen aus dem Bewußtsein ihrer Würde ist insofern abgeleitet, als diese Achtung auf der Achtung für die in ihnen wirkende praktische Vernunft und sein Gesetz beruht (vgl. GMS B 17 Anm., 79 = IV 401 Anm., 436 3f.; KpV A 135, 144/145 Anm. = V 76 f., 81 Anm.). Den Begriff der Würde entwickelt Kant in der Grundlegung im Zusammenhang seiner Darlegungen zur Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs, die an dieser Stelle nicht mehr behandelt zu werden braucht (vgl. Wimmer 1980, §§1.3.5 und 3.3, sowie 1982, 293-300). Dort folgert er aus „dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt" die „objektiv-praktische" Notwendigkeit, d. h. vernünftige Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes, das für nicht schon von Natur aus vernünftige Wesen wie den Menschen die Form des Imperativs, und zwar des unbedingt verpflichtenden, kategorischen Imperativs, annimmt (GMS B 62 = IV 426/427). Der Wille — hier nicht mit der Willkür, sondern mit der reinen praktischen Vernunft zu identifizieren — ist somit der „Grund eines möglichen kategorischen Imperativs", und das Lebewesen, das einen solchen Willen, d. h. praktische Vernunft, hat, hat „an sich selbst einen absoluten Wert", ist „Zweck an sich

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selbst", d. h. es kann und darf „nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche" angesehen werden und hat somit Würde (GMS B 64 = IV 428). Kant drückt dies auch so aus, daß es gelte, „der Menschheit in unserer Person, als Zweck an sich selbst", die gebührende Behandlung zukommen zu lassen (B 69 = IV 430). Kant verknüpft den Begriff der Würde im besonderen mit dem Begriff der Freiheit eines Vernunftwesens im Sinne von Autonomie. So rechtfertigt sich der Gehorsam dem Gesetz gegenüber allein „aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt" (B 76/77 = IV 434). Er erläutert diese sich vor allem der politischen Philosophie Rousseaus verdankende Idee (vgl. Rousseau 1762) folgendermaßen: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde". Dasselbe anders gewendet: Das, „was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d. i. Würde" (B 77 = IV 434/435). Die Würde des Menschen erlaubt es nicht, ihn als bloßes Mittel zu behandeln, d. h. so, als ob er nicht ein Wesen wäre, das sich selbst das Gesetz gibt; denn „Autonomie ist [...] der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur" (GMS B 79 = IV 436 6 f.). Daraus lassen sich unmittelbar grundlegende Folgerungen für die Stellung eines jeden Menschen z. B. in arbeitsrechtlicher, wirtschaftsorganisatorischer und damit ökonomiepolitischer Hinsicht ziehen. Kant deutet sie an, wenn er die Arbeitskraft des Menschen und die Befriedigung seiner Bedürfnisse zwar den Gesetzen des Marktes unterworfen sein läßt, nicht aber den Menschen selbst, der als autonomes Vernunftwesen keinen relativen Wert, einen Marktpreis, hat, sondern absoluten Wert und damit Würde (B 77/78 = IV 434/435). Diese Würde ist für Kant die oberste einschränkende Bedingung für die Unterwerfung des Menschen als eines bedürftigen Wesens unter ökonomische Gesetze des Marktes. Damit hat nach dem Urteil von R. P. Wolff niemand wie Kant, nicht einmal Marx in den Manuskripten von 1844, „defended more eloquently the principle that persons are above price" (1973, 186). In der Metaphysik der Sitten findet sich eine Passage, die Kants Lehre von den beiden Hinsichten, unter denen der Mensch zugleich als von relativem, äußerem Wert und von absolutem, innerem Wert erscheint, in vollendeter Klarheit zusammenfassend darlegt. Sie lautet: „Der Mensch im System der Natur (homo phaenomenon, animal rationale) ist ein Wesen von geringer Bedeutung und hat mit den übrigen Tieren, als Erzeugnissen des Bodens, einen gemeinen Wert (pretium vulgäre). Selbst, daß er vor diesen den Verstand voraus hat, und sich selbst Zwecke setzen kann, das gibt ihm doch nur einen äußeren Wert seiner Brauchbarkeit (pretium usus), nämlich eines Menschen

§ 13. Die Erkenntnis des eigenen Wesens und ihr religiöser Ausdruck

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vor dem anderen, d. i. ein Preis, als einer Ware, in dem Verkehr mit diesen Tieren als Sachen, wo er doch noch einen niedrigem Wert hat, als das allgemeine Tauschmittel, das Geld, dessen Wert daher ausgezeichnet (pretium eminens) genannt wird. — Allein der Mensch als Person betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Wert), wodurch er allen ändern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann" (MST A 93 = VI 434/435). Anzumerken ist, daß Kant im zweiten Teil der Grundlegung, in dem er die Begriffe des Zwecks an sich selbst und der einem solchen Zweck zukommenden Würde entwickelt, noch nicht die Realgeltung dieser Begriffe und ihre Anwendbarkeit auf den Menschen dartut. Die ersten beiden Teile der Grundlegung gehen nach Kants Auskunft analytisch vor, indem sie das Moralprinzip nur aus dem Begriff eines mit Vernunft und unbedingter Freiheit begabten Wesens ableiten; erst im dritten Teil wird ein synthetisches Vorgehen versucht, und zwar mittels einer transzendentalen Deduktion der Freiheit der Willkür des Menschen als der Voraussetzung dafür, daß das Sittengesetz überhaupt Verpflichtungscharakter für ihn haben kann (GMS B xvi, 95 — 101 = IV 392, 445—448). Die angekündigte „Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft" (B 99 = IV 447 22 f.) liefert Kant im unmittelbar folgenden Abschnitt (B 99 —101 = IV 447 f.), ohne sie aber als solche zu erkennen und anzuerkennen. Stattdessen unternimmt er den Versuch einer Deduktion des Kategorischen Imperativs, d. h. eines Beweises seiner Realgeltung (B 110—113 = IV 453 — 455), der ihm aber nicht gelingen kann, weil er zuvor den Nachweis der Realität der Freiheit der menschlichen Willkür erfordert. Die Einsicht in dieses Mißlingen hat Kant wohl zu einer Revision seines Begründungsvorhabens veranlaßt. Sachlich den Beweisversuch der Grundlegung (B 99 —101 = IV 447 f.) erneuernd dient in der Kritik der praktischen Vernunft das Sittengesetz bzw. das Bewußtsein von ihm — beides nennt Kant „Faktum der Vernunft" oder auch einfach nur „Faktum" oder abschwächend „gleichsam [...] ein Faktum" (KpV A 56, 72, 81, 96 = V 31 24, 42 6, 47 12, 55 17) — „zum Prinzip der Deduktion" der Freiheit, wogegen das Moralgesetz selbst nunmehr „keiner rechtfertigenden Gründe bedarf (A 82 = V 47 23, 28). Dieser Beweis aus der Tatsache des Bewußtseins unbedingten Verpflichtetseins gibt dem Begriff der Freiheit „objektive, obgleich nur praktische Realität" (A 83 = V 48 13f.), d.h. Geltung, die nur in moralischpraktischer, nicht jedoch in theoretischer Hinsicht besteht (vgl. A 83 —100 = V 48 —57). Kant hatte diese Umkehrung des Beweisgangs, ohne auf die Grundlegung zurückzublicken, schon zu Beginn der Vorrede zur zweiten Kritik programmatisch als die Möglichkeit herausgestellt, seine kritische Philosophie

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zu einem systematischen Abschluß zu bringen, wie es schon die erste Kritik gesehen hatte. Und in einer berühmten Anmerkung vermittelt Kant die beiden Einsichten, unter denen die Begriffe der Freiheit und des Moralgesetzes einander wechselweise voraussetzen: Die Freiheit ist „die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit" (KpV A 5 Anm. = V 4 Anm.; vgl. RGV B 58 f. Anm. = VI 49 f. Anm.). Das Sittengesetz bzw. das Bewußtsein von ihm gilt nun als unanfechtbarer Ausgangspunkt der praktischen Philosophie, der selbst keiner Rechtfertigung mehr fähig noch bedürftig ist. Welches Vertrauen Kant ihm entgegenbringt, zeigt sich an den zahllosen Stellen, an denen er ganz selbstverständlich, manchmal schon fast routinemäßig den Grundsatz anführt, Sollen setze Können voraus, oder deutlicher und weniger mißverständlich formuliert: Die Erfahrung bzw. das Bewußtsein des moralischen Sollens setzt zumindest die Freiheit voraus, sich für das geforderte Gute zu entscheiden, d. h. die Freiheit, eine entsprechende Maxime zu bilden, wenn auch nicht die Freiheit, sie handelnd in die Tat umzusetzen. Dieser metaethische Grundsatz selbst wird von Kant nicht näher begründet, sondern gleichsam axiomatisch gesetzt. Er gibt die Basis für seinen Schluß von der Erfahrung des Sittengesetzes auf die Realität der noumenalen Freiheit ab. Aber knüpft sich nicht auch an ihn wieder die fundamentale Frage nach der Realgeltung des Sittengesetzes bzw. des Kategorischen Imperativs, eine Frage, die Kant mit der Kritik der praktischen Vernunft verabschiedet zu haben glaubte? Erwägungen zu ihrer Beantwortung finden sich in den ersten Abschnitten dieser Arbeit (§§1, 4 und 5) sowie in einer früheren Untersuchung (Wimmer 1980, §§1.1.3 und 1.3.6). Die Überzeugung von der unvergleichlichen Würde des Menschen ist der tiefste Antrieb von Kants Philosophieren und trägt für ihn auch so starke emotionale Qualität, daß sie sich häufig in bewegten und bewegenden Worten gleichsam Luft macht und das gängige Vorurteil von der ,Trockenheit' seiner Philosophie Lügen straft. Diese Äußerungen, so will mir scheinen, sind sogar teilweise von einer religiös zu nennenden Atmosphäre umgeben und bringen zweifellos eine innere Bewegtheit Kants zum Ausdruck, die ich als ,moralischreligiösen Enthusiasmus' bezeichnen möchte. Charakteristisch hierfür sind die drei berühmten Ausrufe tiefen Erstaunens, mit denen Kant in der Kritik der praktischen Vernunft und in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft die Erfahrungen der moralischen Pflicht (KpV A 154 = V 86), des Wunders der sinnlichen und der moralischen Welt (KpV A 288/289 = V 16l/ 162) und des moralischen Grundgebots der Aufrichtigkeit (RGV B 295 f. Anm. = VI 190 Anm.) preist. Auch J. R. Silber spricht diesen Äußerungen Kants „a distinctly religious flavor" zu und sagt von ihnen: „These are Kant's 'devotionals', his most important public expressions of a religious awareness and concern" (1960, Ixxix —Ixxx). Aber sie stehen nicht allein. Vor allem gibt es Äußerungen des Kantschen Enthusiasmus, in denen der Aspekt der Religiosität auch inhaltlich zur

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Sprache kommt. Die in der Religionsschrift prominenteste findet sich im letzten Abschnitt des ersten Stücks und kann als die moralphilosophische Vorbereitung für die sozusagen ,moraltheologischen' Darlegungen im ersten Abschnitt des zweiten Stücks zum personifizierten Ideal der moralischen Vollkommenheit angesehen werden. Sie lautet: Aber eines ist in unserer Seele, welches, wenn wir es gehörig ins Auge fassen, wir nicht aufhören können, mit der höchsten Verwunderung zu betrachten, und wo die Bewunderung rechtmäßig, zugleich auch seelenerhebend ist; und das ist: die ursprüngliche moralische Anlage in uns überhaupt. — Was ist das (kann man sich selbst fragen) in uns, wodurch wir, von der Natur durch so viel Bedürfnisse beständig abhängige Wesen, doch zugleich über diese in der Idee einer ursprünglichen Anlage (in uns) so weit erhoben werden, daß wir sie insgesamt für nichts, und uns selbst des Daseins für unwürdig halten, wenn wir ihrem Genüsse, der uns doch das Leben allein wünschenswert machen kann, einem Gesetze zuwider nachhängen sollten, durch welches unsere Vernunft mächtig gebietet, ohne doch dabei weder etwas zu verheißen noch zu drohen? Das Gewicht dieser Frage muß ein jeder Mensch von der gemeinsten Fähigkeit, der vorher von der Heiligkeit, die in der Idee der Pflicht liegt, belehrt worden, der sich aber nicht bis zur Nachforschung des Begriffes der Freiheit, welcher allererst aus diesem Gesetz hervorgeht, versteigt, innigst fühlen; und selbst die Unbegreiflichkeit dieser eine göttliche Abkunft verkündigenden Anlage muß auf das Gemüt bis zur Begeisterung wirken, und es zu den Aufopferungen stärken, welche ihm die Achtung für seine Pflicht nur auferlegen mag" (RGV B 57-59 = VI 49 f.; vgl. noch B 283/284, 307 = VI 183 22 ff., 197). Kant spricht im letzten Satz von der Unbegreiflichkeit der moralischen Anlage in uns und von ihrer göttlichen Abkunft. Ihre Unbegreiflichkeit besteht unter anderem in ihrer Ursprünglichkeit, d. h. Unableitbarkeit aus Sachverhalten, die der sinnlich-empirischen Welt angehören, und demgemäß in der Unverständlichkeit ihrer „Verbindung [...] mit der sinnlichen Natur des Menschen" (RGV B 113 = VI 82 16 f.). Diese Anlage kann nicht unter Rekurs auf Gegebenheiten unserer sinnlichen Natur erklärt werden, sondern zeigt den Bestand einer sie schlechthin transzendierenden, völlig anders gearteten Natur an. Diese Natur trägt die Idee der Helligkeit, d. h. der moralischen Vollkommenheit, und damit die Idee Gottes in sich. Dieser Zug und die Tatsache, daß der Mensch die moralische Anlage in sich vorfindet und sie sogar als den Kern seiner Persönlichkeit und als das unübersehbare Richtmaß und den unüberhörbaren Richtspruch seines Lebens erkennt, lassen Kant spontan ihre göttliche Abkunft empfinden. Diese religiöse Empfindung ist eng mit dem Gefühl der Achtung und Ehrfurcht vor dieser Anlage verwandt, von dem zuvor die Rede war und das nun auch in seiner religiösen Bedeutsamkeit deutlich wird. Daß es sich hier um eine intellektuale Empfindung und nicht um eine theoretische Einsicht handelt, die für Kant ohnehin nicht möglich ist, belegt

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der unmmittelbare Kontext: Der Begriff der Pflicht erfordert den Begriff der Freiheit und das Bewußtsein von Pflicht das Bewußtsein von Freiheit, ohne daß dadurch ihre Möglichkeits- und Wirklichkeitsbedingungen „zur Nachforschung" offenstünden. Nicht nur im Anschluß an die angeführte Stelle weist Kant auf die moralpädagogische Bedeutung hin, „dieses Gefühl der Erhabenheit seiner moralischen Bestimmung öfter rege zu machen" (B 59 = VI 50), sondern auch im Abschnitt über ethische Didaktik in der ethischen Methodenlehre der Metaphysik der Sitten (MST A 173 f. = VI 483) sowie in dem Aufsatz Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (A 418 f. = VIII 402 f.) und schließlich im Streit der Fakultäten (A 91-94 = VII 58 f.). Diese Ausführungen Kants sind unter anderem auch deswegen beachtenswert, weil sie noch einmal verdeutlichen, daß die Unbegreiflichkeit der moralischen Anlage in uns und des ihr innewohnenden Gesetzes bzw. Ideals der Vollkommenheit nicht besagt, daß sie nicht zur Natur des Menschen gehörten; denn wäre das Vermögen der noumenalen Freiheit — die Willkür — nicht unser Vermögen, könnte uns seine freie „Wirkung [...] auch nicht zugerechnet werden". „Dieses Übersinnliche in uns" ist also nicht „übernatürlich" (Streit a. a. O.), aber da wir auch nicht seine Urheber sind, verknüpfen wir sein Dasein — ohne theoretischen Anspruch — unmittelbar mit der Idee und der Existenz eines vollkommenen und allmächtigen Wesens: Die moralische ,Anlage' in uns ,verkündigt' in ihrer Absolutheit ihre „göttliche Abkunft" (RGV B 58 = VI 50 1). Die Schwierigkeit dieses Gedankens innerhalb der kritischen Philosophie Kants liegt auf der Hand, und innerhalb der praktischen Philosophie ist er in gewissem Sinne überflüssig, weil aus der Annahme eines göttlichen Urhebers der sittlichen Anlage nichts für die Verbindlichkeit des von ihr erlassenen Gesetzes folgt — jedenfalls im gewöhnlichen Verständnis von Moral; aus der Perspektive des höchsten (abgeleiteten) Guts betrachtet hat sie allerdings den letzten Grund ihrer Verbindlichkeit in Gott (s. §2). Aus dieser Sicht heraus hegt Kant denn auch keine Bedenken, von dem „Zweck" oder „Endzweck" der „Schöpfung" (RGV B ix/x, 73, 73/74 = VI 6 10, 60 10,18-20; KpV A 236 = V 131 7) bzw. von „dem letzten Zwecke Gottes in der Schöpfung der Welt" zu reden (KpV A 235 = V 130 29f.). Der Zweck der Schöpfung ist selbstverständlich auch der der moralischen Anlage im Menschen und seiner Freiheit, so daß ihm die Aufgabe zukommt, die objektive, göttliche, gottgegebene Zweckbestimmung sich subjektiv zueigen zu machen und zu verwirklichen, soweit ihm das möglich ist. Sie lautet, wie in §4 entwickelt, auf Realisierung jenes höchsten (abgeleiteten) Guts (RGV B ix —xiii Anm., 73 = VI 6 —8 Anm., 60; KpV A 235f. = V 130f.), womit, als der Erfüllung des heiligen Willens Gottes, zugleich seiner Ehre gedient ist (KpV ebd.). Der eine Bestandteil des höchsten Guts, die Verwirklichung der moralischen Vollkommenheit im noumenalen Verstande, d. h. hinsichtlich der Denkungsart, ist ganz und gar

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Werk des Menschen, weil allein von seiner Freiheit abhängig, der andere, die Verwirklichung der moralischen Vollkommenheit im phänomenalen Sinne, nämlich hinsichtlich der Sinnesart, sowie die Realisierung der der Moralität entsprechenden Glückseligkeit sind nur insoweit Aufgabe des Menschen, als ihre Erfüllung in seiner Macht steht, davon abgesehen Aufgabe Gottes. Insofern wird er von Kant nicht nur als Weltschöpfer, sondern auch als Weltregierer vorgestellt (RGV a. a. O.). Auf diese Weise gewinnen die traditionellen christlichen Attribute Gottes auch im Kontext von Kants moralischer Religionsauffassung Beachtung und Gewicht. Programmatisch findet dies in der Vorrede zur ersten Auflage der Religionslehre seinen Ausdruck: „Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll" (RGV B ix/x = VI 6). Gott selbst in seiner Heiligkeit ist das Urbild moralischer Vollkommenheit. Dieses Urbild, als der vollkommene Mensch vorgestellt, ist, biblisch gesprochen, der Sohn Gottes. Als solche, die sich bestreben, dem Urbild immer ähnlicher zu werden, sind wir Gottes Kinder. Das Urbild und sein vollkommenes Abbild sind Personifikationen der Vernunftidee der moralischen Vollkommenheit (Heiligkeit) (vgl. CMS B 29 = IV 408/409). Kant nimmt die christliche Lehre von der zweiten Person in der Gottheit und ihrer Menschwerdung im ersten Abschnitt des zweiten Stücks der Religionsschrift auf und deutet sie im Sinne seiner Auffassung von einer rein moralischen Religion, indem er von dem theologisch-metaphysischen Gehalt der kirchlichen Lehre als unwesentlich und unerweislich abstrahiert (RGV B 73 — 76 = VI 60 — 62). Ihr und dem Neuen Testament gegenüber geht seine Abstraktion aber noch einen entschiedenen Schritt weiter: Nicht von einem konkreten, geschichtlichen Menschen ist als dem Ideal der Vollkommenheit die Rede, nicht von Jesus oder Christus, sondern von dem vollkommenen Menschen schlechthin. Daß der Mensch auch als moralisches Wesen immer auf eine konkrete Weise geschichtlich existiert, wird Kant nicht leugnen, aber ihm liegt daran, das Ideal des vollkommenen Menschen als notwendige Idee der reinen praktischen Vernunft aufzuzeigen. Andernorts (z. B. in Der Streit der Fakultäten A 93 = VII 59 16 —19) erwähnt Kant Christus zwar, nimmt aber auch hier den konkreten Verweis insofern zurück, als er das, worauf es ihm ankommt, schon in unserer praktischen Vernunft liegend, als vernunftnotwendig, apostrophiert. Kant geht es bei der christlichen Religion demnach nicht um den Glauben an die Person Jesu als des menschgewordenen Gottes und an seine Sendung und Aufgabe der Erlösung, sondern allein um den moralisch-ideellen Gehalt, äußerstenfalls noch um das moralisch Exemplarische der Gestalt und des Lebens Jesu. In diesem Sinne könnte man seine Bemerkungen zum „Stand der Erniedrigung des Sohnes Gottes" (RGV B 74/

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C. Freiheit und Gnade

75 = VI 61) verstehen. Doch auch diese — so wird rasch klar — sollen einen bestimmten notwendigen Aspekt des Vernunftideals beleuchten: „Das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit (mithin einer moralischen Vollkommenheit, so wie sie an einem von Bedürfnissen und Neigungen abhängigen Weltwesen möglich ist) können wir uns nun nicht anders denken, als unter der Idee eines Menschen, der nicht allein alle Menschenpflicht selbst auszuüben, zugleich auch durch Lehre und Beispiel das Gute in größtmöglichem Umfange um sich auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die größten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichsten Teile um des Weltbesten willen, und selbst für seine Feinde, zu übernehmen bereitwillig wäre. — Denn der Mensch kann sich keinen Begriff von dem Grade und der Stärke einer Kraft, dergleichen die einer moralischen Gesinnung ist, machen, als wenn er sie mit Hindernissen ringend, und unter den größtmöglichen Anfechtungen, dennoch überwindend sich vorstellt" (B 75 = VI 61). Die Personifizierung des Begriffs der moralischen Vollkommenheit (Heiligkeit) zum Sohn Gottes beinhaltet demnach keine Aussage ontologischer Art, weil „im praktischen Glauben an diesen Sohn Gottes" nicht ein Glaube an seine Existenz, sondern „nur der Glaube an die praktische Gültigkeit jener Idee, die in unserer Vernunft liegt", zum Ausdruck kommt (RGV B 76, 77/ 78 = VI 62 l, 63 4f.; vgl. Streit der Fakultäten A 50-52 = VII 39). Die „objektive Realität dieser Idee" besagt aber nicht nur, wie Kant ausdrücklich sagt, daß sie „ihre Realität in praktischer Beziehung vollständig in sich selbst" habe, weil sie „in unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft" liege (RGV B 76 = VI 62), sondern auch, was aus seinen Darlegungen lediglich zu schließen ist, daß sie des Glaubens bedarf, um ,real' zu sein; m. a. W.: Nur mein Akt (nicht einer theoretischen, sondern) der praktisch-unbedingten Anerkennung der sittlichen Anlage in mir — freilich nicht schon einzelner Pflichten des Sittengesetzes — macht die sich in mir meldende Instanz der praktischen Vernunft zu einer mich unbedingt verpflichtenden Instanz. So könnte der Sohn Gottes in Übertragung eines Wortes Martin Bubers sprechen: ,Glaubst du mich nicht, so bin ich nicht'. Somit verschafft nur der Glaube der Idee vom Sohne Gottes objektive Realität, d. h. Geltung. Wer sie von einer besonderen „Beglaubigung" abhängig macht, der verrät „seinen moralischen Unglauben, nämlich den Mangel des Glaubens an die Tugend" (RGV B 77 = VI 63 l-3). Diese Formulierung kann auch so verstanden werden, daß jemand nicht daran glaubt, daß der Mensch frei und in der Lage ist, dem Anspruch der moralischen Vernunft in ihm nachzukommen; aber dieses Verständnis von Unglauben führt durch das Axiom ,Sollen setzt Können voraus' auf das zuvor explizierte zurück. Kant spricht dem Glauben an die objektive Geltung der moralischen Vernunft und des von ihr verkündeten Vollkommenheitsideals „moralischen Wert" zu (RGV B 78 = VI 63 8); der moralische Unglaube wäre dement-

§13. Die Erkenntnis des eigenen Wesens und ihr religiöser Ausdruck

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sprechend als unmoralisch zu qualifizieren. Aber wenn der Glaube die praktische Vernunft in Geltung setzt und so ihre Geltung quasi gegründet', ist er dann nicht die Bedingung von Moral und Moralität und jeden moralischen Wertes und Wertens? Die praktische Vernunft fordert Glauben an sich und damit an die Möglichkeit ihrer Realisierung, d. h. sie fordert Glauben an Gott (als moralische Idee) und seinen Sohn (als die ideelle Verwirklichung der moralischen Idee); Gott und sein Sohn sind in diesem Zusammenhang lediglich die gleichsam nach außen gewandte intellektuelle Vorstellung, die die praktische Vernunft von sich und ihrer Realisierbarkeit hat. Glaube und Unglaube sind noumenale ,Akte' der noumenalen Freiheit der Willkür. Die praktische Vernunft hat keine Macht über die Willkür. Hätte sie sie, so wäre die Willkür nicht frei, und es gäbe weder die Möglichkeit des Glaubens noch die des Unglaubens. Derartige Erwägungen finden sich bei Kant nicht mehr. Sie lassen sich aber ungezwungen an seine Gedankengänge anschließen. Sie ermöglichen unter anderem eine Differenzierung seiner Position in der Kritik der praktischen Vernunft, wonach das moralische Gesetz bzw. das Bewußtsein von ihm die Grundlage für die Überzeugung von der noumenalen Freiheit der Willkür darstellt (A 5 Anm., 52 ff., 81 ff. = V 4 Anm., 29 f., 47 ff.). Das bloße Bewußtsein des Gesetzes vermag jedoch dafür die Basis nicht abzugeben; denn wie Kant noch in der Grundlegung bemerkte, mag Sittlichkeit „für eine chimärische Idee ohne Wahrheit" (B 95 = IV 445 6), moralische Pflicht also „leerer Wahn und chimärischer Begriff (B 17 = IV 402 13) angesehen werden. Da es keine Basis gibt, von der aus noch einmal der Anspruch der moralischen Vernunft auf unbedingte Geltung kritisch beurteilt werden könnte, kann ihre Geltung nur durch einen Akt der freien Willkür in Kraft gesetzt werden. Diesen Akt kann man einen Akt reinen Glaubens nennen, weil er sich auf nichts zu seiner Absicherung stützt. Er hat eine implizit religiöse Dimension, insofern er zugleich ein Glaube an die Gültigkeit der Idee Gottes als eines vollkommenen moralischen Wesens und der Idee des Sohnes Gottes als der Realmöglichkeit eines moralisch vollkommenen Menschen ist. Diese religiöse Dimension explizit zu machen, ist Aufgabe einer philosophischen Religionslehre. Weil sie die Ideen von Gott und Gottessohnschaft in der religiösen Tradition schon vorfindet, besteht ihre Aufgabe nunmehr vor allem darin, sie von nicht-moralischen, z. B. ontologisch-metaphysischen Vorstellungen und von die moralische Dimension verdunkelnden Praktiken zu reinigen. Mit dieser fundamentalen glaubenden Anerkennung des Anspruchs der moralischen Vernunft auf unbedingte Geltung — ein Glaube, der für die Gültigkeit von Kants Satz „Diese Idee [des Sohnes Gottes] hat ihre Realität in praktischer Beziehung vollständig in sich selbst" (RGV B 76 = VI 62 12f.) vorausgesetzt werden muß — ist natürlich ein weiterer Anerkennungsanspruch der — in Geltung gesetzten — Vernunft gegeben, nämlich ihr Gesetz

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C. Freiheit und Gnade

nun auch zu befolgen. Der Mensch kann diese Anerkennung verweigern, obwohl er jene Anerkennung vollzogen hat. Diese Weigerung wird sich wohl in Formen abspielen, wie sie Kant im ersten Stück seiner Religionslehre beschrieben hat: als Schwäche, als Unlauterkeit oder als Bösartigkeit des menschlichen Herzens (RGW 21-23 = VI 29 f.). Die rebellische Form der Weigerung, die Kant allerdings für unmöglich hält (B 32, 35/36 = VI 35 20-25, 37 18—21), wäre gleichbedeutend mit einem Entzug der Anerkennung des unbedingten Geltungsanspruchs der moralischen Vernunft, oder allgemeiner: mit seiner Ablehnung, mit dem Akt des Unglaubens also. Die moralische Idee der Gottessohnschaft ist eine normative Vernunftidee von strikter Allgemeingültigkeit: „Jeder Mensch [soll] ein Beispiel zu dieser Idee an sich abgeben" (RGV B 78 = VI 63 13), d.h. ein Sohn Gottes, ein moralisch vollkommener Mensch werden. Dieses Ideal nimmt an der oben (S. 145) erwähnten Unbegreiflichkeit der moralischen Anlage in uns teil, für Kant erneut Anlaß, vom „übernatürlichen Ursprünge" seines — des Ideals — ,,Dasein[s] in der menschlichen Seele" zu sprechen; zugleich verwahrt er sich dagegen, es „noch in einem besonderen Menschen hypostasiert anzunehmen" (B 79 — VI 63/64), weil dadurch seine Realisierbarkeit für jeden Menschen in Frage gestellt, wenn nicht aufgehoben wäre. Bemerkenswert ist auch, daß Kant das Leiden für einen Menschen, der ein gutes Leben führt, als wesentlich zu erachten scheint (B 78 —81 = VI 63 f.). Zu diesem Gedanken sind Kant natürlich das Vorbild Jesu und die Bedeutung, die die christliche Tradition dem Leiden beimißt, vor Augen gestanden. Doch auch hier gibt das Äußere der Erscheinung kein Abbild des Inneren (vgl. RGV B 79, 81 = VI 63 25f., 64 29ff.). Aber darauf kommt es auch nicht an; nicht das Erkennen, sondern das Wollen ist durch ein solches Beispiel angesprochen, das auf die Vernunftidee des vollkommenen Lebens nur verweisen, es nicht selbst darstellend verkörpern kann.

§ 14. Kann der böse Mensch von sich aus ein guter Mensch werden?

Im fünften Abschnitt des ersten Stücks seiner Religionsschrift stellt Kant Begriff und Möglichkeit der moralischen Umkehr vom Bösen zum Guten in den Mittelpunkt seiner Erörterungen. Eine aus der Freiheit geborene Revision der Grundentscheidung bezeichnet Kant als „Revolution" und holt so mit einem nicht-religiösen Terminus den biblisch als ,Wiedergeburt', ,Neuschöpfung' oder ,Herzensänderung' beschriebenen Sachverhalt einer völligen Umwendung der moralischen Lebensrichtung ein (vgl. RGV B 54 = VI 47). Die Revolution betrifft die grundlegende moralische Gesinnung, die moralische Denkungsart, den intelligiblen Charakter eines Menschen und unterliegt keinerlei Bedingungen außer denen der noumenalen Freiheit selbst, weshalb sie auch keinen zeitlichen Bestimmungen

§ 14. Kann der böse Mensch von sich aus ein guter Mensch werden?

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ausgesetzt ist, sondern in einem zeitlosen Jetzt geschieht; demgegenüber geschieht eine moralische Reform allmählich und betrifft nur die dem reflektierenden Bewußtsein und der ihm unterworfenen Entschlußkraft zugänglichen Maximen, betrifft also nur die Sinnesart, den empirischen Charakter eines Menschen (B 53-55 = VI 47 f.). Eine Brücke zwischen moralischer Revolution und Reform scheint nur von der Revolution her zu bestehen: Nur wenn die fundamentale Umkehr der Denkungsart stattgefunden hat, kann und soll unter ihrem Einfluß sich auch die Sinnesart wandeln (B 54/55 = VI 47/48). Und nur wenn die Revolution der Denkungsart den Angelpunkt der moralischen Wandlung darstellt, ist Kants Diktum verständlich: „Wie es nun möglich sei, daß ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache, das übersteigt alle unsere Begriffe; denn wie kann ein böser Baum gute Früchte bringen?" (B 49 = VI 44/45). Von der Ebene der Sinnesart aus scheint weder ein irgendwie geartetes Handeln möglich, das die Denkungsart revolutionierte, noch eine Einsicht in den Vorgang der Umkehr der Denkungsart. Entsprechend folgert Kant, „daß die moralische Bildung des Menschen nicht von der Besserung der Sitten, sondern von der Umwandlung der Denkungsart, und von Gründung eines Charakters anfangen müsse" — aber Kant versteht diesen Satz nicht im noumenalen Sinne, sondern phänomenal-pädagogisch, als ob es in der wesentlichen Hinsicht einer Wahl unterliegen könnte, womit man den Anfang macht! Denn Kant fährt fort: „[...] ob man zwar gewöhnlicherweise anders verfährt, und wider Laster einzeln kämpft, die allgemeine Wurzel derselben aber unberührt läßt". Kant möchte, daß man die Wurzel des Bösen angreife und zerstöre, übersieht aber in diesem Augenblick, daß sie gar nicht direkt erkennend und handelnd zugänglich ist, und zwar schon nicht für den moralisch Gesonnenen in bezug auf sich selbst, um wieviel weniger für den Erzieher in bezug auf seinen Zögling. Für Kant wird die schon bei Kindern beobachtbare „Anlage zum Guten", die darin besteht, daß sie fähig sind, bei eigenen und fremden Maximen schon „die kleinste Spur von Beimischung unechter Triebfedern aufzufinden", dadurch, „daß man das Beispiel selbst von guten Menschen (was die Gesetzmäßigkeit derselben betrifft) anführt, und seine moralischen Lehrlinge die Unlauterkeit mancher Maximen aus der wirklichen Triebfeder ihrer Handlungen beurteilen läßt, unvergleichlich kultiviert, und geht allmählich in die Denkungsart über: so daß Pflicht bloß für sich selbst in ihren Herzen ein merkliches Gewicht zu bekommen anhebt" (B 56 = VI 48). Das Beispiel von Handlungen guter Menschen kann rechtens, wie Kant selbst einräumt, nur ihre Legalität betreffen (vgl. auch MST A 167 f. — VI 479 f.), und eine noch so gründliche Kultivierung der Sinnesart kann keine unmittelbaren Wirkungen auf die Denkungsart haben, bestimmt sich diese doch allein aus der noumenalen Freiheit. So wichtig Kants Anweisung, die Persönlichkeit aus einem Einheitsgrund zu entfalten und ihrer Fragmentierung entgegenzuarbeiten, vor

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C. Freiheit und Gnade

allem die sittliche Selbst- und Fremdbildung sich nicht in der Vielzahl von divergierenden Tugenden zerstreuen zu lassen, für die Pädagogik ist, so kann sie doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie nur für die Bildung des empirischen Charakters gilt. Ist nun die populäre Meinung, es werde sich durch ernsten Vorsatz, Entschluß und stete Bemühung schließlich auch der innerste Kern der eigenen moralischen Person ändern, ganz und gar illegitim? Mir scheint, daß solches Bemühen unter anderem die Funktion haben kann, Hindernisse, die der Auswirkung des intelligiblen Charakters auf den empirischen im Wege stehen, zu beseitigen. Die Reform der Sinnesart kann der Revolution der Denkungsart nicht den Weg bereiten im Sinne eines positiven Einflusses, wohl aber im Sinne der Minderung oder Beseitigung von Barrieren, die ihr aktuelles oder potentielles Wirken (im Falle, daß die Revolution noch aussteht) hemmen. Eine Reform der Sinnesart ist für sich betrachtet ja stets zweideutig. Ihr Wert bemißt sich danach, ob sie von einer guten oder einer bösen Denkungsart getragen ist. Diese aber ist unserem Zugriff, dem des Verstandes, vor allem aber dem des Willens, entzogen, ist doch der moralische Charakter eines jeden Wollens immer schon von ihr bestimmt, so daß jeder Versuch einer Einflußnahme prinzipiell gewissermaßen zu spät kommt: „[...] die Freyheit selbst [habe ich] nicht in meiner Gewalt" (Refl. Nr. 7171 = XIX 263 I9f.). Daran ändert auch die Erfahrung der Pflicht zur Umkehr nichts, auf die hinzuweisen Kant nicht müde wird (RGV B 43, 50, 54, 60 = VI4l20f., 457-9, 4732, 50 20f.). Selbstverständlich bleibt es moralische Aufgabe, die eigenen Maximen soweit als möglich ins kritische Bewußtsein zu heben und sie auf ihre Moralität hin zu überprüfen. Aber wir können keine Gewißheit darüber erlangen, ob wir die (bislang) leitende Maxime bzw. die (bisherige) Wurzel aller Maximen eruiert haben — und wer sagt uns, ob die moralische Prüfung unserer Maximen selbst aus dem rechten Geist erfolgt und nicht uns selbst verborgenen, letztlich selbstbezogenen Beweggründen unterliegt? Die Aufgabe, die eigenen Grundsätze zu überprüfen, bleibt bestehen, und zwar auch und gerade dann, wenn die wesentliche Umkehr, nämlich die der moralischen Denkungsart, schon erfolgt sein sollte. Aber an ihre Stelle kann nicht die Reform der Sinnesart treten, auch nicht so, wie Kant meint (B 56 = VI 48 32), daß die stete Pflege der moralischen Sinnesart „allmählich in die Denkungsart" übergeht. Dem widerspricht Kant wenig später selbst, wenn er schreibt, „daß die Umwandlung der Gesinnung des bösen in die eines guten Menschen in der Veränderung des obersten inneren Grundes der Annehmung aller seiner Maximen dem sittlichen Gesetze gemäß zu setzen sei, so fern dieser neue Grund (das neue Herz) nun selbst unveränderlich ist. Zur Überzeugung aber hievon kann nun zwar der Mensch natürlicherweise nicht gelangen, weder durch unmittelbares Bewußtsein, noch durch den Beweis seines bis dahin geführten Lebenswandels; weil die Tiefe des Herzens (der subjektive erste

§ 14, Kann der böse Mensch von sich aus ein guter Mensch werden?

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Grund seiner Maximen) ihm selbst unerforschlich ist; aber auf den Weg, der dahin führt, und der ihm von einer im Grunde gebesserten Gesinnung angewiesen wird, muß er hoffen können, durch eigene Kraftanwendung zu gelangen: weil er ein guter Mensch werden soll, aber nur nach demjenigen, was ihm als von ihm selbst getan zugerechnet werden kann, als moralisch-gut zu beurteilen ist" (B 60/61 = VI 51). Der zweite Teil des Schlußsatzes könnte wieder Bedenken erregen: „von einer im Grunde gebesserten Gesinnung" kann der sich moralisch Bemühende gerade nichts wissen und sich somit auf sie nicht als auf eine Gewißheit stützen. Deshalb kann er nur hoffen, daß die „eigene Kraftanwendung" nicht eitel und vergeblich sei, sondern sein inneres Gutsein ausdrückt und bezeugt — wenn auch nicht vor den Menschen, so doch vor Gott. Diese Art zu hoffen stützt sich auf die Beobachtung des eigenen Bemühens um eine allmähliche Reform der Sinnesart und wird von Kant im ersten Abschnitt des zweiten Stücks seiner Religionsschrift (B 87 — 94 = VI 68 —71) unter Bezug auf christliche Vorstellungen näher erläutert. Von dieser Art der Hoffnung, die sich auf die „eigene Kraftanwendung" stützt, ist jene Hoffnung zu unterscheiden, mit der ein Mensch erwartet, das, „was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere Mitwirkung ergänzt werden" (B 62 = VI 52 6f.; vgl. KpV A 230 Anm. = V 128 Anm.). Kant läßt die göttliche Mitwirkung bei der Besserung eines Menschen nur zu, wenn dieser alles in seinen Kräften Stehende getan hat — der unabdingbaren Voraussetzung dafür, überhaupt „dieses Beistandes würdig zu werden" (B 63 = VI 52 14f.). Aber welchen Sinn hat dieser Beistand, wenn das Entscheidende, die Revolution der Denkungsart, allein Tat des Menschen sein kann und muß? Dies folgt schon begrifflich aus dem Verständnis der Revolution als einer Umkehr allein aus freier Selbstbestimmung. Kant enthält sich jeder Argumentation für die Plausibilität der Annahme eines göttlichen Beistands; und in der der zweiten Auflage seiner Religionslehre hinzugefügten Schlußanmerkung zum ersten Stück (B 63 f. = VI 52 f.) bestreitet er die Möglichkeit sowohl einer theoretischen als auch einer praktischen Argumentation für sie; er trägt sie lediglich als Hypothese vor: „Gesetzt, zum Gut- oder Besserwerden sei noch eine übernatürliche Mitwirkung nötig" (B 49 = VI 44). Sie kann für ihn in zweierlei Gestalt auftreten: Sie mag „nur in der Verminderung der Hindernisse bestehen, oder auch positiver Beistand sein" (ebd.). Aus dem genannten Grund lassen sich diese Formen des Beistands nicht auf die Ebene der Denkungsart beziehen. Auf der Ebene der Sinnesart kann eine übernatürliche Unterstützung stattfinden, wenn auch nur in der negativen Form der „Verminderung der Hindernisse" für eine Reinigung der Maximen von moralfremden und unmoralischen Gesichtspunkten und Beweggründen. Die Reinheit der Maximen kann sich nur wieder dem Tun des Menschen verdanken, soll sie ihm zugerechnet werden können, was aber doch im Begriff von Moralität impliziert ist, so daß ein „positiver Beistand", der für die Reinheit der Maximen sorgt, undenkbar ist. Es gilt hier wie sonst: „Wir sollen bessere

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C. Freiheit und Gnade

Menschen werden [...]; folglich müssen wir es auch können", und „sollte auch das, was wir tun können, für sich allein unzureichend sein", so mögen wir uns „eines für uns unerforschlichen höheren Beistandes empfänglich machen" (B 50 = VI 45). Aber dieses Unvermögen kann sich nicht auf die Betätigung der Freiheit beziehen — denn noumenale Freiheit, wenn sie nur existiert, kann nicht anders als sich moralisch selbst bestimmend tätig sein —, sondern auf ihr von außen gesetzte Grenzen, z. B. durch natürliche Leidenschaften oder erworbene Laster, die ihr Wirken im Räume des Wählens und Entscheidens einschränken. Dieser göttliche Beistand ist aber nicht nur (theoretisch) unerkennbar, sondern, wie Kant in der erwähnten, der zweiten Auflage beigefügten Schlußanmerkung zum ersten Stück ausführt, sogar praktisch-moralisch schädlich, wenn er zum Gegenstand religiöser anstelle von moralischer Bemühung gemacht wird. Die theoretische Unerkennbarkeit göttlichen Gnadenwirkens und seine Ununterscheidbarkeit von Natur- und Kulturwirkungen berechtigen nicht dazu, seine Möglichkeit und Wirklichkeit zu bestreiten; es kann zum Gegenstand eines moralisch-religiösen Hoffens gemacht werden, das aber nur dann legitim ist, wenn zuvor das moralisch Mögliche getan wurde. Das göttliche Gnadenwirken unabhängig von der Bedingung, sich seiner würdig gemacht zu haben, zu erlangen suchen, wäre irreligiös, weil es der Heiligkeit Gottes widerspräche, und unmoralisch, weil die Voraussetzung einer möglichen moralischen Benutzung dieser Idee des göttlichen Beistands sich selbst widerspricht. „Denn, als Benutzung würde sie eine Regel von dem voraussetzen, was wir (in gewisser Absicht) Gutes selbst zu tun haben, um etwas zu erlangen; eine Gnadenwirkung aber zu erwarten bedeutet gerade das Gegenteil, nämlich, daß das Gute (das moralische) nicht unsere, sondern die Tat eines ändern Wesens sein werde, wir also sie durch Nichtstun allein erwerben können, welches sich widerspricht. Wir können sie also, als etwas Unbegreifliches, einräumen, aber sie, weder zum theoretischen noch praktischen Gebrauch, in unsere Maxime aufnehmen" (B 64 Anm. = VI 53; vgl. auch Der Streit der Fakultäten A xxiv = VII 10 15-31). Kant gewinnt also selbst den moralisch-religiösen Gesichtspunkt, unter dem die Idee einer göttlichen Mitwirkung zu kritisieren ist: Sie ist mit dem Begriff der moralischen Freiheit und Verantwortlichkeit unvereinbar und kann deshalb auch keine moralische Relevanz beanspruchen. Sie bezieht sich lediglich auf jene Bereiche menschlicher Wirklichkeit, die sich seiner freien Verfügung (noch) entziehen. Die diesbezügliche Hoffnung geht damit über in die Hoffnung auf die Realisierung des höchsten Guts durch Gott: Wie der Mensch sich im Maße seines moralischen Bemühens der ihn von den Beschränkungen seiner Freiheit befreienden göttlichen Gnade würdig macht, so macht er sich der Glückseligkeit würdig, wenn Glückseligkeit jener Zustand ist, wonach es einem Menschen, „im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht" (KpV A 224 = V 124; vgl. MST A 168 = VI 480 21 f.).

§14. Kann der böse Mensch von sich aus ein guter Mensch werden?

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Im Zusammenhang von Überlegungen zur Personifizierung des Ideals der moralischen Vollkommenheit in einem lebenden Menschen, die Kant im ersten Abschnitt des zweiten Stücks seiner Religionslehre anstellt, taucht naturgemäß wieder das Problem auf, ob und wie Moralität erfahrbar sein kann. Kant postuliert eine solche Erfahrung, fügt aber einschränkend sofort hinzu: „[...] so weit man von einer äußeren Erfahrung überhaupt Beweistümer der innern sittlichen Gesinnung erwarten und verlangen kann" (B 78 — VI 63). Der Grund hierfür ist: Es handelt sich um ein Ideal der reinen praktischen Vernunft, das für keine Erfahrung gegeben sein kann, weil sich „das Innere der Gesinnung" in einem Äußeren nicht adäquat zum Ausdruck bringen läßt; „ja selbst die innere Erfahrung des Menschen an ihm selbst läßt ihn die Tiefen seines Herzens nicht so durchschauen, daß er von dem Grunde seiner Maximen, zu denen er sich bekennt, und von ihrer Lauterkeit und Festigkeit durch Selbstbeobachtung ganz sichere Kenntnis erlangen könnte" (ebd.). Kant räumt aber trotzdem an dieser Stelle die Möglichkeit ein, vom Äußeren (von Handlungen und bewußten Grundsätzen) auf die Gesinnung mit einem nicht näher bestimmten Grad von Wahrscheinlichkeit — „nicht mit strenger Gewißheit" — zu schließen. Einer der Einwände gegen die Realisierbarkeit dieses Ideals der moralischen Vollkommenheit, die Kant diskutiert, betrifft die Vereinbarkeit der sogenannten ,moralischen Glückseligkeit' und der nun ausführlich behandelten Ungewißheit über die eigene Gesinnung, den eigenen moralischen Standort (B 86—94 = VI 67 — 71). Unter ,moralischer Glückseligkeit' versteht Kant „die Versicherung [...] von der Wirklichkeit und Beharrlichkeit einer im Guten immer fortrückenden (nie daraus fallenden) Gesinnung" (B 86 = VI 67). Trotz der sich aufdrängenden Kritik an diesem Begriff hält Kant ihn für notwendig für das sittliche Selbstverständnis; denn „ohne alles Vertrauen zu seiner einmal angenommenen Gesinnung würde kaum eine Beharrlichkeit, in derselben fortzufahren, möglich sein. Dieses [Vertrauen] findet sich aber, ohne sich der süßen oder angstvollen Schwärmerei [= dem Übermut oder der Verzweiflung] zu überliefern, aus der Vergleichung seines bisher geführten Lebenswandels mit seinem gefaßten Vorsatze" (B 87 = VI 68). Wie auch aus den sich anschließenden Erläuterungen hervorgeht, hat Kant ein Vertrauen auf sich selbst im Auge, das sich in der Mitte zwischen Hochmut und Kleinmut bewegt. Da nur der Fortschritt in der Reform der Sinnesart der Beobachtung und Beurteilung zugänglich ist, er aber eine gewisse Zweideutigkeit nie völlig verliert wegen der unaufhebbaren Ungewißheit bezüglich der zugrundeliegenden Denkungsart, kann das Vertrauen auf die eigene Beharrlichkeit im Guten weder Gewißheit für die Gegenwart — bin ich wirklich ein guter Mensch? — noch für die Zukunft einschließen. Trotzdem glaubt Kant, dieses letztlich doch grund- und bodenlose Vertrauen als eine vernünftige Hoffnung auffassen zu können (B 88 = VI 68 24 f.). Dem Schluß aus der positiven Erfahrung eines steten moralischen Fortschritts auf ebensolchen Fortschritt in der Zukunft entspricht nach Kant der

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C. Freiheit und Gnade

Schluß aus der negativen Erfahrung fehlender moralischer Besserung oder gar eines fortgesetzten Rückschritts: „Dagegen der, welcher selbst bei oft versuchtem Vorsatze zum Guten dennoch niemals fand, daß er dabei Stand hielt, der immer ins Böse zurückfiel, oder wohl gar im Fortgange seines Lebens an sich wahrnehmen mußte, aus dem Bösen ins Ärgere, gleichsam als auf einem Abhänge, immer tiefer gefallen zu sein, vernünftigerweise sich keine Hoffnung machen kann, daß, wenn er noch länger hier zu leben hätte, oder ihm auch ein künftiges Leben bevorstände, er es besser machen werde, weil er bei solchen Anzeigen das Verderben, als in seiner Gesinnung gewurzelt, ansehen müßte" (B 88 = VI 68/69). Beide Schlüsse, sowohl der auf Fortschritt wie der auf Rückschritt, stellen — selbst wenn man sein ganzes Leben in Betracht zieht (vgl. B 103 — 105 = VI 76 — 78) — lediglich Wahrscheinlichkeitsschlüsse auf der Ebene der Sinnesart (des Psychischen und des Verhaltens) im Ausgang von der Selbsterfahrung in Vergangenheit und Gegenwart auf die Zukunft dar. Auf dieser Ebene lassen sie sich auch wissenschaftlich — etwa psychologisch — stützen. Kant vermischt aber dieses horizontale Schließen auf der Zeitebene mit einem gleichsam vertikalen Schließen von der Sinnesart auf die ihm angeblich zugrundeliegende Denkungsart. Doch dieser Schluß ist unstatthaft. Es mag zutreffen, daß jemand, der trotz „oft versuchtem Vorsatze", sich zu bessern, nur Mißerfolg hat, „vernünftigerweise sich keine Hoffnung machen kann" auf endliche Besserung; doch ist Kants Folgerung unerlaubt, daß der Betroffene sein Versagen, „als in seiner Gesinnung gewurzelt, ansehen müßte". Möglicherweise unterliegt er von ihm nicht zu verantwortenden Beschränkungen seiner Entscheidungs- und Handlungsfreiheit, die ihn als bösen Menschen erscheinen lassen, ohne daß er ein solcher wirklich ist. Ihn dann doch schuldig zu sprechen und ihm seine Selbstverurteilung zu bestätigen, wäre ein äußerstes moralisches Unglück, weil es seine Mutlosigkeit befestigen und ihn in seiner eventuellen Verzweiflung bestärke*! würde. Ziehen wir vorläufige Folgerungen aus dem Dargelegten! Nicht die Hoffnung auf die weitere Vervollkommnung der Sinnesart ist die wesentliche Hoffnung — sei sie nun eine Hoffnung aus Selbstvertrauen oder eine Hoffnung aus Gottvertrauen — und nicht die darauf fußende Glückseligkeit die wesentliche moralische Glückseligkeit, sondern — wie* im vorigen Kapitel dargelegt — der Glaube an (die Hoffnung auf, das Sich-Wundern und die Freude über) „die ursprüngliche moralische Anlage in uns" (RGV 57 = VI 49 9), die ihre „göttliche Abkunft" verkündet (B 58/59 = VI 501) und uns „das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit" vor das Auge des Geistes stellt (B 75 = VI 61 25), für das „ein jeder Mensch ein Beispiel [...] an sich abgeben" sollte (B 78 = VI 63 13). Diesen Glauben nennt Kant „praktischen" oder „moralischen" Glauben (B 76, 77 = VI 62 l, 632), einen Glauben „an die praktische Gültigkeit jener Idee, die in unserer Vernunft liegt" (B 77/78 = VI 63 4 f.), d. h. den Glauben an die Vernünftigkeit und die Realisierbarkeit

§ 14. Kann der böse Mensch von sich aus ein guter Mensch werden?

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dieses Ideals auf der Ebene der Denkungsart, der noumenalen Grundentscheidung. Aber stellen wir die Ausgangsfrage, ob der böse Mensch von sich aus ein guter Mensch werden könne, grundsätzlicher! Nach Kant kann „die Möglichkeit" einer derartigen Wandlung „nicht bestritten werden"; denn das Umgekehrte, „der Verfall vom Guten ins Böse", sei ja Tatsache, so daß von der Wirklichkeit des einen auf die Möglichkeit des anderen geschlossen werden dürfe. Nicht das Daß, sondern nur das Wie einer solchen Wandlung „bleibt uns unerforschlich", „unbegreiflich", „übersteigt alle unsere Begriffe", weil sie „aus der Freiheit entspringt", die letzter Entscheidungsgrund ist und deshalb keiner Begründung oder Erklärung mehr zugänglich (RGV B 46 f., 49 f. = VI 43—45). Aber besteht hier wirklich eine Parallele? Der erste ,Sündenfall' wird keineswegs, auch von Kant nicht, als ein Abfall aus der Verfassung des moralischen Gutseins verstanden, als eine Selbstumwandlung eines guten in einen bösen Willen, sondern als die (erstmalige) freie Selbstbestimmung eines moralisch weder guten noch bösen Willens zum Bösen. Bei der Umkehr vom Bösen zum Guten handelt es sich aber nicht mehr um die Selbstbestimmung eines moralisch neutralen Willens. Aus der (Verständlichkeit der) Möglichkeit der Selbstbestimmung eines moralisch neutralen Willens zum Guten oder zum Bösen darf deshalb nicht umstandslos auf die (Verständlichkeit der) Möglichkeit eines so oder so schon bestimmten Willens, sich selbst neu zu bestimmen, geschlossen werden. Bevor also gefragt werden kann, wie eine solche Neubestimmung möglich ist, ist zu fragen, ob sie möglich ist. Luther war in De servo arbitrio der Ansicht, sie sei unmöglich; insofern Kant klar mit ihrer Möglichkeit rechnet, nimmt er eindeutig einen antilutherischen, erasmischen, mithin ,pelagianischen' (Schulte 1988, 116 Anm. 40, 359) Standpunkt ein. Aber Kant führt noch ein zweites Argument für die Möglichkeit der Umkehr ein, das in seinen Augen wohl das entscheidende ist und das er im vorliegenden Zusammenhang mehrfach wiederholt: Der Ruf der moralischen Vernunft, des Gewissens bezeugt die Fähigkeit zur Umkehr. „Denn, ungeachtet jenes Abfalls, erschallt doch das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden, unvermindert in unserer Seele; folglich müssen wir es auch können" (B 50 = VI 45 7-9; vgl. B 54, 58 Anm., 60 = VI 47 3l f., 4930 — 32, 5019 — 21). Die Geltung dieses Satzes, Sollen setze Können voraus, ist für Kant unumstürzbar; er dokumentiert zusammen mit dem Kategorischen Imperativ „die ursprüngliche moralische Anlage in uns", die uns mit Bewunderung und Achtung erfüllt (B 57 = VI 49; s. § 13). Kant lehnt damit die paulinisch-lutherische Auffassung ab, der böse Mensch bedürfe der Befreiung, Erlösung aus den Fesseln seiner Bosheit durch Gott; nur Gott könne ihn wieder zu einem guten Menschen machen; das (moralische) Gesetz, das Gewissen sei dazu da, ihm sein Unvermögen, gut zu sein, drastisch zu beweisen und ihn seiner Schuld an dieser seiner Unfähigkeit zu überführen. Der entscheidende Einwand Kants gegen den Kern dieser Auffassung, nur durch Gottes Gnade könne der Mensch wieder gerechtfertigt und mo-

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rausch gut werden, lautet, es sei ein begrifflicher Widerspruch, das, was der Mensch nur durch sich selbst, durch seine eigene Entscheidung sein könne, dem Wirken eines anderen zuzuschreiben oder es von ihm zu erwarten und zu erbitten. Es wäre allerdings noch eine mittlere Position denkbar, die zwischen Kant und Luther liegt: Der Wille hat sich mit seiner Entscheidung zum Bösen selbst unfrei gemacht, indem er sich freiwillig seiner Freiheit zum Guten begab und selbst böse wurde. Ein unfrei gewordener, böser Wille bedarf einer Macht von außen, und zwar einer göttlichen Macht, die ihn wieder in den ursprünglichen Zustand der Freiheit versetzt, in der er, weder gut noch böse, sich wieder neu entscheiden kann. Diese Position würde an den wesentlichen Zügen der Auffassung Kants festhalten, sie aber schlüssiger vertreten, zugleich aber eine vernünftige Fassung des christlichen Standpunkts darstellen, insofern nun nicht mehr, wie auch bei Kant, das Problem auftauchen kann, wie Freiheit des Menschen und göttliche Mitwirkung, Moralität und Erlösung miteinander verträglich gemacht werden können (was, wie die Geschichte der christlichen Theologie zeigt, notorisch nicht gelingt); Kants Überschrift des letzten Teils des ersten Stücks in seiner Religionsschrift — „Von der Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in ihre Kraft" — könnte dann ganz wörtlich verstanden werden. Schließlich aber würde einsichtig, warum Kants Lehrstück vom radikalen Bösen überhaupt als Einsatzpunkt — genauer: als zweiter Einsatzpunkt nach der Lehre vom höchsten Gut und den für seine Realisierung erforderlichen Postulaten — einer (philosophischen) ReligionslthK angesehen werden kann. Das strikte Festhalten mit Kant an der Freiheit des Menschen zum Guten auch im Bösen läßt ja für Gott keinen Raum mehr, abgesehen vom phänomenalen Bereich der Änderung der Sinnesart. Aber gerade hier droht dann doch der auch in Kants Meinung schlimme Rückfall in Wunderglaube, Religionswahn und ,Afterdienst' Gottes (s. Schlußanmerkung zum ersten Stück, B 63 f. = VI 52 f., und den zweiten Teil des vierten Stücks). Der moralische Glaube hat nun einen weiteren Gesichtspunkt gewonnen: Der Mensch bedarf nicht etwa nur der göttlichen ^//Vwirkung mit seinem Tun, sondern zuvörderst des Handelns Gottes, um überhaupt damit beginnen zu können, das Gute zu tun — der böse, unfrei gewordene Mensch bedarf der Wiederherstellung seiner Freiheit. Nur so läßt sich auch die Realgeltung der Forderungen des Sittengesetzes und des Grundsatzes, daß Sollen Können voraussetze, begreifen. Insofern der Mensch sich als moralisches Wesen versteht und sich zugleich als jemand erkennt, der das Böse will (und tut), ,muß* er, um nicht in Verzweiflung zu geraten, an die Wirklichkeit göttlicher Befreiung glauben, die ihn wieder instandsetzt, das Gute zu wollen (und zu tun). Dieser Glaube ist natürlich selbst schon (Teil, Zeichen der) Befreiung; denn ein böser Mensch ist zu solchem Glauben unfähig, weil ihm die Freiheit dazu fehlt; er kann ihn sich nicht selbst geben; insofern kann die Unfähigkeit dazu Anlaß zu Verzweiflung sein.

§ 14. Kann der böse Mensch von sich aus ein guter Mensch werden?

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Der Glaube selbst aber ist enttäuschungs- und verzweiflungsresistent, wenn er sich selbst recht versteht. Aber da er, wie der gute Wille, in seiner wesentlichen Hinsicht noumenal ist, kann es ein Wissen (im gewöhnlichen Wortsinn von ,Wissen') sowohl von der Wirklichkeit des Glaubensaktes wie von der Wirklichkeit des Glaubensgegenstandes nicht geben: Es ist „dem Menschen weder möglich, noch, so viel wir einsehen, moralisch zuträglich" (RGV B 93 = VI 71 4f.) — ein solches Wissen würde den Glauben auch aufheben; und das Wissen über die Moralität der Sinnesart kann ihn nicht berühren. Der moralische Glaube ist demnach ein absolutes Vertrauen auf die vernünftige und praktische Geltung des sittlichen Ideals. Glaube ist er vor allem insofern, als weder Vernünftigkeit noch Realisierbarkeit dieses Ideals beweisbar sind und somit auch nicht die Vernünftigkeit des Glaubens selbst. Er steht, bildlich gesprochen, ganz und gar auf seinen eigenen Füßen, diese aber nicht wieder auf etwas anderem. Er hat begrifflich zwei Aspekte: Der eine gehört zur Sinnesart, der andere zur Denkungsart. Jener läßt sich erforschen, z. B. introspektiv; dieser ist dem Bewußtsein entzogen und stellt ein Ingredienz der noumenalen Grundentscheidung zum Guten dar. Der noumenale moralische Unglaube wäre demnach ein Merkmal der Grundentscheidung zum Bösen und insofern zutiefst unmoralisch. Er wäre wohl als Verzweiflung (entweder von der hochmütigen oder von der kleinmütigen Art) anzusehen, nun nicht auf der psychisch-phänomenalen, sondern auf der erfahrungs- und bewußtseinstranszendent-noumenalen Ebene. Von dieser Verzweiflung handelt Kierkegaard in Die Krankheit %um Tode. Nicht, wie Kant will, auf die Sinnesart, sondern auf die Denkungsart läßt sich dann auch die neutestamentliche Lehre vom Geist Gottes als dem heiligenden Geist (vgl. KpV A 222 Anm. = V 123 Anm.) und Parakleten (= gerichtlicher Anwalt, Beistand, Helfer und Tröster) beziehen (vgl. RGV B 90-93 Text = VI 70/71 Text). Um diese Lehre aber moralisch einsichtig zu machen, muß Kant sie insoweit umdeuten, als der göttliche Geist mit dem guten Geist des Menschen identisch ist: „Die gute und lautere Gesinnung (die man einen guten uns regierenden Geist nennen kann), deren man sich bewußt ist, führt also auch das Zutrauen zu ihrer Beharrlichkeit und Festigkeit obzwar nur mittelbar bei sich, und ist der Tröster (Paraklet), wenn uns unsere Fehltritte wegen ihrer Beharrlichkeit besorgt machen. Gewißheit in Ansehung derselben ist dem Menschen weder möglich, noch, so viel wir einsehen, moralisch zuträglich. Denn (was wohl zu merken ist) wir können dieses Zutrauen nicht auf ein unmittelbares Bewußtsein der Unveränderlichkeit unserer Gesinnungen gründen, weil wir diese nicht durchschauen können, sondern wir müssen allenfalls nur aus den Folgen derselben im Lebenswandel auf sie schließen" (RGV a. a. O.). Findet sich auch hier das eigentümliche Schwanken Kants? Die „gute und lautere Gesinnung" kann „bewußt" und so „Tröster" sein — aber „das Zutrauen zu ihrer Beharrlichkeit und Festigkeit" läßt sich nur mittelbar,

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durch einen Schluß von der Gegenwart auf die Zukunft, rechtfertigen und so auch nur mehr oder weniger wahrscheinlich machen. Das ist insofern plausibel, als Erfahrung und die Gewißheit, die sie mit sich führt, nicht auf Zukünftiges, sondern auf Gegenwärtiges bezogen sind. Aber die entscheidende Frage ist, ob „die gute und lautere Gesinnung" als solche „bewußt" sein kann, nimmt man die Gesinnung nicht als Sinnes-, sondern als Denkungsart. Wenn Bewußtheit ein Attribut geistigen, sich selbst in Freiheit bestimmenden Lebens ist, dann ist die moralische Denkungsart eines Menschen als seine noumenale moralische Grundentschiedenheit eine bewußte Entschiedenheit. Aber man könnte nun fragen, für wen oder was sie bewußt sei. Insofern sie als sein Innerstes, als der Kern seiner Personalität, als sein Selbst anzusprechen ist, ist diese Bewußtheit Selbstbewußtheit. Aber steht sie damit auch schon anderen Bereichen des Menschen offen, etwa dem psychosozialen Bewußtsein seiner selbst? Die beschriebene Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, auf den Grund der eigenen oder fremden Maximen zu gelangen, spricht dagegen. Nicht vom empirischen zum noumenalen Bewußtsein, sondern umgekehrt von diesem zu jenem wäre ein Weg denkbar, der aber nicht in philosophischer Reflexion, die auch nur von hier nach dort zu kommen sucht, zu begehen wäre, sondern in der Ausschaltung jeglicher Reflexion, so daß sich gewissermaßen durch eine Ausweitung des noumenalen Bewußtseins eine vollkommene Integration der Sinnesart in die Denkungsart, des alltäglichen Lebens in die Grundentschiedenheit zum Guten vollzöge. Diesen Weg haben jene religiösen und religionslosen Mystiker beschatten, die jede gegenständlich-vorstellungsmäßige, an den Kategorien des Verstandes und der Sprache haftende Anschauung vom eigenen Sein und Leben und seinem Sinn aufgegeben hatten. Vor allem Wittgenstein hat im Tractatus und in den Tagebüchern die Überzeugung von der Gangbarkeit dieses Weges für unsere Zeit wieder innerhalb der Philosophie zur Geltung gebracht. Schließlich sei noch auf eine interessante Bemerkung Kants an der zuletzt aufgeführten Stelle aus der Religionsschrift aufmerksam gemacht. Kant sagt dort, daß es wohl moralisch unzuträglich wäre, könnte man über die Fortdauer der eigenen guten Gesinnung Gewißheit erlangen. Soll dies heißen, daß die Gewißheit einen veranlassen könnte, moralisch gleichsam die Hände in den Schoß zu legen und sich nicht mehr genügend um die Lauterkeit der eigenen Gesinnung zu bemühen? Dann würde aber die gute Gesinnung ipso facto nicht fortdauern und die Gewißheit zuschanden werden. Die Einsicht in diesen Zusammenhang entmachtet jedoch die aus der Gewißheit möglicherweise aufsteigende Anfechtung. Auch die Befürchtung, daß außer jener falschen Sicherheit eitle Selbstbewunderung und Hochmut die Folgen eines solchen Wissens sein könnten (vgl. Lk 18,10 — 13), wird dadurch ausgeräumt, daß man sich zutiefst vergegenwärtigt, daß, hat man alles moralisch Notwendige getan, man doch nur seine Pflicht getan hat und nicht mehr (vgl. RGV B 56/57 = VI 48/49).

§15. Kann moralische Schuld vergeben werden?

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§ 15. Kann moralische Schuld vergeben werden? Kant macht sich Einwände gegen die Realisierbarkeit der Idee vom vollkommen guten Menschen, und das heißt — wegen der Geltung des Satzes ,Sollen setzt Können voraus' — gegen ihre moralisch-praktische Realität, ihre normative Allgemeingültigkeit (RGV B 84 ff. = VI 66 ff.). Die beiden ersten Einwände wurden schon früher in den ihnen entsprechenden Zusammenhängen berücksichtigt (S. 135, 150—152, 155). Der dritte Einwand betrifft die Möglichkeit der Vergebung der Schuld eines Menschen, der in einer conversio seines Herzens seine böse Gesinnung in eine gute verwandelt hat. Die Schuld dieses Menschen besteht darin, daß sein Wollen böse war, bevor es sich zum Guten wandte. Sie kann weder von ihm selbst abgetragen werden, weil er als guter Mensch nie mehr als seine Pflicht tun kann (RGV B 56/57, 94 = VI 48/49, 728-11), noch von einem anderen übernommen und abgetragen werden, weil es sich nicht um eine übertragbare Schuld handelt, sondern um „die allerpersönlichste, nämlich eine Sündenschuld" (B 95 = VI 72 16 ff.). Sie ist die persönlichste, weil sie Folge einer Entscheidung noumenaler Freiheit ist, und Sündenschuld, insofern die „Übertretung des moralischen Gesetzes, als göttlichen Gebotes, Sünde genannt" wird (B 95 = VI 72 22f.). Weil es sich um eine allerpersönlichste Schuld aus der Bosheit der Gesinnung handelt, wodurch das göttliche Gesetz Junendlich' verletzt wird, ist sie selber als .unendlich' anzusehen und hat eine ,unendliche' Strafe zu gewärtigen (B 95 = VI 72 26 ff.). Andererseits geht es voraussetzungsgemäß um einen vom Bösen zum Guten übergegangenen Menschen. Besteht nun seine Schuld nach wie vor, weil sich seine Identität ja nicht in physischer, sondern nur in moralischer Hinsicht geändert hat (B 98/99 = VI 74) — wobei gegen Kant zu bemerken ist, daß .physisch' hier nicht nur jenen Menschen „als Sinnenwesen", sondern auch „als intelligibles Wesen" meint; denn seine Willkür als intelligibles Vermögen noumenaler Freiheit trägt ja nach wie vor die Verantwortung für die frühere Entscheidung zum Bösen —, so verdient er unbedingte Verurteilung, obwohl er inzwischen ein guter Mensch ist. Die damit gegebene Antinomie löst Kant in einem ersten Schritt dadurch, daß er die aus Gründen der Gerechtigkeit notwendige Bestrafung in den Übergang vom Bösen zum Guten legt (B 96/97 = VI 73). Um dies plausibel zu machen, fragt sich Kant, ob „schon durch den Begriff einer moralischen Sinnesänderung diejenigen Übel als [in ihr] enthalten gedacht werden können, die der neue gutgesinnte Mensch als von ihm (in andrer Beziehung) verschuldete, und als solche Strafen ansehen kann, wodurch der göttlichen Gerechtigkeit ein Genüge geschieht" (B 97/98 = VI 73/74). Kant bejaht seine Frage (B 98 = VI 74). Seine Antwort birgt aber mehrere Doppeldeutigkeiten: Die Sinnesänderung wird sowohl im noumenalen wie im phänomenalen Sinne aufgefaßt; sie meint Revolution der Denkungsart, des intelligiblen Charakters, und sie meint beständige Reform der Sinnesart,

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des empirischen Charakters. Nun kann besagte Schuld wesentlich nur dem Träger der Denkungsart zukommen, die Strafe aber so, wie sie Kant beschreibt, nämlich als physisches und psychisches Leiden, nur den sinnlichen Teil des Menschen treffen. Die Schuld scheint zu bleiben. Ist das dunkle Gespür für diese Schwierigkeit der Grund dafür, daß Kant fast übergangslos nun die Vorstellung von bzw. den praktisch-moralischen Glauben an den Sohn Gottes als den „Stellvertreter" einführt, der für alle Menschen die Sündenschuld auf sich nimmt, als den „Erlöser", der „durch Leiden und Tod der höchsten Gerechtigkeit genug" tut, und als „Sachverwalter, daß sie hoffen können, vor ihrem Richter als gerechtfertigt zu erscheinen" (B 99 = VI 74)? Diese Idee eines Menschen, dessen Wollen immer gut war, dessen Leiden und Sterben somit nicht als Strafe für eigene Schuld verstanden werden kann, enthält nun nach Kant den nötigen „Überschuß über das Verdienst der Werke", der „uns aus Gnaden zugerechnet wird" (B 100/101 = VI 75 1-3). Kants Versuch, die Vorstellung von der Vergebung einer fundamentalen moralischen Schuld — sei sie nun eine Vergebung durch einen Menschen oder durch Gott, geschehe sie durch stellvertretende Sühne oder nicht — einsichtig zu machen — Kant nennt seinen Versuch eine „Deduktion der Idee einer Rechtfertigung" (B 101 = VI 76 7 f.) —, ist als gescheitert anzusehen. Der Begriff einer moralischen Zurechnung aus Gnade ist Kants durchgängiger Auffassung von moralischer Zurechenbarkeit diametral entgegengesetzt, wonach nur das einem Menschen moralisch zugerechnet werden kann, wofür er moralisch verantwortlich ist, was wiederum heißt: was dem Vollzug seiner Freiheit zuzuschreiben ist. Dem widerspricht auch die Vorstellung, daß die Verdienste, die der schuldlose Mensch, der nie das Böse wollte, dadurch erworben hat, daß er ,mehr' tat, als moralische Pflicht von ihm verlangte, anderen Menschen moralisch zugute kommen und (aus Gnaden) zugerechnet werden. Zudem ist die Vorstellung von einem Tun, das über eine Pflicht hinausgeht (opus supererogatorium), in diesem Zusammenhang fragwürdig: Der moralisch schlechthin gute, schuldlose Mensch ist radikal gut, d. h. seine Gesinnung, sein intelligibler Charakter kann nicht besser werden, als er ist. Ob er nun Taten vollbringt, die über das Pflichtmäßige hinausgehen, ist allein seiner freien Spontaneität überlassen und den Fähigkeiten und Ressourcen, die ihm zu Gebote stehen. Im übrigen ist wieder zu beachten, daß Taten, für sich gesehen, immer moralisch zweideutig sind; auch wenn sie überpflichtig sind, können sie aus einem verderbten Herzen stammen, wie Paulus klar weiß (vgl. l Kor 13). Weder eine gute Gesinnung noch — aus anderen Gründen — eine gute Tat kann also einem schuldig Gewordenen seine Schuld verringern oder nehmen. Aber auch an den Voraussetzungen des Problems, wie Kant es sich stellt, ist Kritik möglich. Sie liegen im Begriff der (Lohn- und) Strafgerechtigkeit, den Kant offenbar als einen praktisch notwendigen Vernunftbegriff ansieht, und zwar nicht nur für das Gebiet des Rechts und der moralisch (legalen

§15. Kann moralische Schuld vergeben werden?

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und) illegalen Handlungen, sondern auch in Bezug auf die (moralische und) unmoralische Gesinnung. Bekanntlich vertritt Kant eine strikte Vergeltungsund Sühneauffassung der Strafe (vgl. MS R A 196-202, B 170/171 = VI 331-334, 362/363; Zum ewigen Frieden B 92 f. = VIII 379), und bezüglich der Straf- und Sühnemöglichkeiten spezifisch moralischer Schuld steht er in der von Anselm von Canterbury begründeten, aber durch die Opferpriesterund Sühneopfervorstellung des Hebräerbriefes letztlich auf alttestamentlichen Vorstellungen fußenden theologischen Tradition des Opfer- und Sühnetodes Christi, nur daß Kant diese Tradition nicht dogmatisch-metaphysisch verstanden wissen will, sondern im Sinne seiner moralischen Auffassung von Religiosität, nämlich als praktisch-moralisch notwendiger Gedanke. Das bedeutet, daß Gott, der gerechte Richter der Menschen, und sein Sohn, ihr Erlöser, sowie seine Tat stellvertretender Sühne nicht als vom Menschen unabhängige, für sich bestehende Realitäten gedacht werden. Wir können aber nicht anders, als sie uns so vorzustellen. Außerdem bedürfen wir „dieser Vorstellungsart" als eines »Schematism der Analogie" zur „Erläuterung" jenes notwendigen Gedankens für uns selbst und andere. „Diesen [Schematism] aber in einen Schematism der Objektbestimmung (zur Erweiterung unseres Erkenntnisses) zu verwandeln ist Anthropomorphism, der in moralischer Absicht (in der Religion) von den nachteiligsten Folgen ist" (RGV B 81 f. Anm. = VI 65 Anm.). Der Gedanke eines gerecht richtenden Gottes ist demnach lediglich die Explikation der intellektualen Erfahrung der Selbstverurteilung des das Moralgesetz anerkennenden Menschen; er sieht sich vor eine innere richterliche Instanz gestellt: Seine böse Gesinnung — ob der Vergangenheit angehörig oder noch gegenwärtig — muß „vor einem moralischen Gerichtshofe, mithin auch von ihm selbst gerichtet werden" (B 99 = VI 74 20 f.), und diese richtende Instanz im Menschen, die eine Funktion seiner moralischen Vernunft ist, darf in ihrer Allwissenheit und Unbestechlichkeit bezüglich seiner Moralität als göttlicher Richter gedacht und als dem Menschen gegenüberstehend vorgestellt werden. Begründet ist dies in der Zweiteilung des inneren Menschen, wie sie z. B. im Gewissensphänomen zutage tritt (vgl. MSTA63-65 = VI 417 f.). Aber münden Kants Überlegungen nicht der Sache nach, wenn auch von ihm unausgesprochen, wieder in das Postulat der Existen^ eines allmächtigen moralischen Wesens ein, das jedem nach seiner Gesinnung vergilt? Die Frage ist zu bejahen, sofern es sich um Menschen handelt, die ihre ursprüngliche Bosheit nicht aufgeben und insofern auch keine Vergebung ihrer Schuld erwarten können. Während dem gut gewordenen Menschen seine Schuld erlassen ist und die Strafe für sie in und durch seine Metanoia während eines ganzen Lebens abgetragen werden kann, nützt dem böse Gebliebenen das Tragen seiner eventuellen Leiden nichts, weil voraussetzungsgemäß seine Schuld fortwährt und sein Dulden der rechten Gesinnung ermangeln muß. Diese in der Konsequenz der Kantischen Darstellung liegenden Folgerungen

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C. Freiheit und Gnade

beruhen jedoch auf den genannten beiden Voraussetzungen, daß die moralische Schuld des bösen Menschen nicht allein und ausschließlich durch seine Konversion zum Guten getilgt wird und daß solche Schuld Bestrafung und Sühne fordert selbst dann noch, wenn sie gelöscht ist. Wie verhält es sich mit diesen Voraussetzungen? Moralische Schuld im hier gemeinten Sinne darf nicht mit jener (einklagbaren) Schuld verwechselt werden, die aus vorsätzlich oder fahrlässig schlechten Handlungen erwächst, mögen diese nun gegen rechtliche oder im engeren Sinne moralische Normen verstoßen. Jene moralische Schuld liegt auch bei dem vor, der sich solcher Vergehen nicht schuldig gemacht hat, sondern in völliger Konformität mit diesen Normen handelte. Niemandem ist dann im üblichen Sinne ein Unrecht geschehen. Wohl aber hat der Übeltäter sich und seine Mitmenschen nicht als Selbstzwecke angesehen und behandelt. Aber dieses Vergehen hat sich in diesem Falle nicht ,materialisiert'; niemand konnte sich durch sein Verhalten und die zur Schau gestellte Gesinnung getroffen fühlen. Insofern ist seine Schuld rein innerlich und nur ihm selbst offenbar (freilich wohl kaum seinem Tagesbewußtsein, wohl aber jenem Tiefenbewußtsein, das seine moralisch-praktische Vernunft von der noumenalen Grundentscheidung seiner freien Willkür hat). Hat nun der Gedanke etwas Widersprüchliches, daß die Schuld des bösen Wollens zugleich mit dem Verschwinden der Bosheit dieses Wollens vergeht, zumal sich diese Schuld voraussetzungsgemäß gar nicht in einem schlechten Verhalten objektivierte? Ich sehe keinen Widerspruch. Vielleicht läßt sich die Möglichkeit dieses Gedankens gerade mit Hilfe des Begriffs der Vergebung näher erläutern. Der vom Bösen zum Guten konvertierte Mensch hat gleichsam allen Anlaß, sich seine frühere Bosheit zu verzeihen. Zwar ist er physisch identisch mit dem, der böse und schuldig war; aber als in moralischer Hinsicht neuer Mensch erläßt er sich die durch ihn an ihm erwirkte Schuld. Ähnliches gilt für seine Schuld in bezug auf andere Menschen: Ihre moralische Vernunft urteilt ebenso wie die seine, daß er nämlich durch die Änderung seines Lebens in ein völlig neues Verhältnis zu ihnen getreten ist, in dem in der Wechselseitigkeit der Güte das Vergangene vergeben ist. In dieser Konzeption von Vergebung hat Sühne, Strafe keinen Platz; sie ist nämlich orientiert am Begriff der christlichen Liebe. Ihn hat Kant erst sehr spät in seine Auffassung der Moralität einzuführen versucht, weil er ihn zunächst nicht als praktisch notwendigen Vernunftbegriff zu denken vermochte (vgl. Das Ende aller Dinge A 518-521 = VIII 337-339; XXIII 404 30-34; dazu ausführlich § 3, S. 39-41). Der frühe Hegel und später dann Kierkegaard sind hier über Kant entscheidend hinausgegangen. Aber auch und gerade unabhängig vom Begriff der Vergebung ist moralische Schuld (vor Gott) aufgelöst, wenn Gott die Bosheit eines Menschen aufhebt und ihn, wie im vorigen Kapitel erörtert, in den Stand der Freiheit zurückversetzt, die ihm eine erneute Möglichkeit der Entscheidung eröffnet.

§15. Kann moralische Schuld vergeben werden?

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Die Vergebung wäre dann, sollte man an diesem Begriff überhaupt noch festhalten, ipso facto mit der Aufhebung der Bosheit geschehen und erlaubt das, „was nicht zu ändern ist, als abgetan" vorzustellen (RGV B 284 = VI 184 2). Aber was ist zur Situation eines Menschen zu sagen, der in einem materialen Sinne an seinen Mitmenschen schuldig geworden ist? Erfordert nicht seine materiale Schuld Sühne und, soweit als möglich, Wiedergutmachung? Widersprechen nicht zumindest hier Begnadigung und Vergebung der Forderung nach vergeltender Gerechtigkeit (ius talionis, iustitia retributiva)? J.R. Silber bejaht diese Frage unter der mit Kant gemachten Voraussetzung absoluter Freiheit und somit absoluter Bosheit einer begangenen Tat, indem er sich an einen Gedankengang anschließt, den Ivan Karamasow in Dostojewskis Die Brüder Karamasow durchführt: „In discussing the evil in this world, Ivan insisted that he would accept no Euclidian (i.e. scientific) nonsense about there being no freedom. And he saw quite clearly that if there is freedom (the absolute freedom of which Kant speaks), there can be no forgiveness. Consider the man who orders ravenous hunting dogs to tear a naked little boy to shreds because he accidentally hit a dog in the foot. Shall this man be forgiven, Ivan asked? Suppose the mother forgives? Suppose the boy forgives? How dare they forgive! Forgiveness, as Ivan observed following Kantian principles, is a moral outrage; it is itself a violation of the moral law" (Silber 1960, cxxxiii; Silber verweist dazu in einer Anmerkung auf Kierkegaards Die Krankheit %um Tode.} Silber fragt dann mit Ivan: „What then is the penalty of guilt? Ivan proposes three alternatives: sensuality, suicide, or insanity. Alyosha, his brother, proposed a fourth: the acceptance of a divine and miraculous forgiveness. Ivan rejected this fourth alternation. His rejection did not follow from the fact that a miracle is involved (although this in itself would have posed a serious obstacle to Kant [aber es geht doch nicht um ein physisches, sondern um ein moralisches ,Wunder', wenn schon von ,Wundern' gesprochen wird; doch die Vergebung aus Gnade wird von Kant nicht als ,Wunder' — etwa im Sinne einer Durchbrechung der göttlichen Gerechtigkeit — bezeichnet]). He [Ivan] refused to accept forgiveness on moral principle. In so doing he remained faithful to the implications of Kant's view of the purity of the law and the absolute nature of freedom" (ebd. cxxxiv). Silber beschließt seine Ausführungen folgendermaßen: „We cannot ignore the problem of forgiveness nor can we accept Kant's futile resolution of it. It calls for a serious reconsideration of Kant's assumptions that freedom is absolute and that freedom is essentially rational — even if rationality be expanded to admit of the full potentiality of irrationality as one mode of expression" (ebd.). Für die Diskussion beider Annahmen ist sowohl auf frühere Überlegungen zu verweisen (Wimmer 1980, §§1.1.3 und 1.3.6) als auch auf Erörterungen in dieser Studie (§§1, 7, 23), wo zwischen der Unbedingheit der noumenalen Grundfreiheit zum Guten und zum Bösen und

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der Bedingtheit der Wahl- und Handlungsfreiheit sowie zwischen der Unbedingtheit eines keinen weiteren Begründungsrekurs mehr zulassenden, vielmehr seinerseits einen solchen legitimierenden praktisch-moralischen Vernunftbegriffs und der Bedingtheit jeder Einzelbegründung unterschieden wird. Silbers Resümee, daß seine Überlegungen „suggest the inadequacy of Kant's conception of freedom" (ebd.), ist nur insoweit zuzustimmen, als Kant in der Tat dazu neigt, die noumenale Freiheit der Willkür auf ihren Wahlund Handlungsbereich auszudehnen (s. o. S. 101 f.). Davon nicht berührt wird Silbers im Verein mit Ivan Karamasow gegen Kant vorgetragener Einwand, daß Vergebung (aus Gnade) unvereinbar mit dem Begriff der unbedingten Freiheit und mit dem (Kantischen) Moral- und Gerechtigkeitsbegriff sei — was übrigens auch gegen die (von Kant ins Auge gefaßte) Möglichkeit einer göttlichen Mitwirkung zum Guten zutrifft, weil sie ipso facto die menschliche Freiheit einschränkt: „[...] if the individual has done all that he can, he does not need grace. And if he has not, even Kant agrees he should not get it" (ebd. cxxxiii). Silbers Einwand ist berechtigt, und Gottes Mithilfe kann nicht auf dem durch die Freiheit des Menschen eröffneten Feld liegen, sondern, wenn eine solche Hilfe überhaupt gedacht werden kann, nur in bezug auf die seine Freiheit einschränkenden Faktoren. Weiter ist, hält man an Kants Begriff der absoluten Freiheit fest, der Begriff der Vergebung nicht losgelöst von dem der Umkehr und dem des guten Menschen überhaupt zu denken: Der gute Mensch vergibt seinen Schuldigern; es wäre absurd, solcher Vergebung (mit Ivan) den Vorwurf der Unmoralität zu machen. Eine Moralauffassung (wie vielleicht die Kantische), die dies impliziert, ist zu revidieren. Die sie leitende Gerechtigkeits- und Sühnevorstellung tritt dem Bösen auf der ihm eigenen Ebene entgegen und überwindet es nicht eigentlich. Im Geheimen ist dies auch die Tendenz des (unzureichenden) Ansatzes Kants: Indem er Jesu Gesinnung der Vergebung aufnimmt, kann er sie nicht als dem eigenen Moralbegriff widersprechend, sondern nur als mit ihm in Einklang stehend, als ,vernünftig', begreifen; damit hat er im Grunde eine immanente Sprengung seines Gerechtigkeitsbegriffs besorgt. Kant führt, wie gezeigt, den Begriff der Tilgung moralischer Schuld (mittels stellvertretender Genugtuung) zunächst lediglich zum Zwecke der Lösung des Konflikts zwischen zwei verschiedenen Gerechtigkeitsansprüchen ein, die sich an die angebliche Tatsache bleibender Verschuldung und die unterstellte Tatsache gewandelter Gesinnung knüpfen. Später, im dritten Stück seiner Religionslehre, wird der Glaube an die Tilgung der Schuld an den ihm gebührenden Platz gestellt: Er ist einer der beiden Bestandstücke eines „seligmachenden" Glaubens, d. h. des Glaubens eines Menschen, der aufgrund der Tilgung seiner Schuld „die moralische Empfänglichkeit (Würdigkeit) mit sich führt, ewig glückselig zu sein" (RGV B 168 = VI 115 26 f.), also des höchsten Guts teilhaft zu werden; das zweite Bestandstück ist „der Glaube, in einem ferner zu führenden guten Lebenswandel Gott wohlgefällig

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werden zu können" (B 169 = VI 116 f.). Beide Bestandstücke „gehören notwendig zusammen" (ebd.), weil keines ohne das andere die Würdigkeit, ewig selig zu sein, mit sich führt. Die Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Zusammengehörigkeit wird durch die Etablierung eines Ableitungszusammenhangs gewonnen. Die beiden möglichen Ableitungen — der Glaube an die Tilgung ist Bedingung des Glaubens an die gute Lebensführung oder umgekehrt — sind natürlich unvereinbar miteinander, welche Unvereinbarkeit Kant „eine merkwürdige Antinomie der menschlichen Vernunft mit ihr selbst" nennt (B 169 = VI 116 20f.). Doch um eine wirkliche Antinomie handelt es sich gar nicht, weil die erste Ableitungsmöglichkeit nur im logischen, nicht aber im moralischen Sinne besteht; denn, wie Kant schon früher darlegte (s.o. S. 161), kann die Frage nach der (stellvertretenden oder einfachhin erlassenden) Tilgung moralischer Schuld erst dann — jedenfalls in der Auffassung Kants, der wir, wie ausgeführt, kritisch gegenüberstehen — zu einem (praktisch-moralischen) Problem werden, wenn eine Umkehr vom Bösen zum Guten stattfindet bzw. stattgefunden hat. Gegen Kants Darstellung der angeblichen Antinomie (B 170 —172 = VI 116 — 118) ließe sich eine Reihe kritischer Einwände vorbringen, von denen der wichtigste wenigstens erwähnt sei: Unklar ist der Status des Glaubens an die Tilgung der Schuld: In der ersten ,Ableitung' erscheint er als Offenbarungs- oder Kirchenglaube, der sich nicht auf moralische Vernunft stützen und daher nicht Teil des reinen Religionsglaubens sein kann; in der zweiten , Ableitung* aber erscheint er, wie auch früher schon, als — wenn auch nicht praktisch, so doch wenigstens theoretisch — notwendig (vgl. B 101/102, 172/ 173 = VI 76, 118). Noch an einer anderen Stelle des dritten Stücks der Religionsschrift spricht Kant das Problem des Schulderlasses an, und zwar in der „Allgemeinen Anmerkung" zu diesem Stück, in der er die Existenz von Geheimnissen auch in einem moralischen Vernunftglauben einräumt (B 216 = VI 143). Weil hier noch nicht auf Kants Begriff des Geheimnisses eingegangen werden kann (dazu vgl. §20), sei lediglich vermerkt, daß der Glaube an die göttliche Tilgung menschlicher Schuld deshalb ein (intellektuelles) Geheimnis einschließt, weil wir intellektuell nicht einsehen und verstehen können, daß das Ergebnis — nicht die Folgen! — der Freiheitsentscheidung eines Menschen nicht ausschließlich von ihm selbst, sondern von einem anderen (letztlich von Gott) annulliert werden kann: es kann ihn nämlich, „soviel die Vernunft einsieht, kein andrer durch das Übermaß seines Wohlverhaltens und durch sein Verdienst vertreten; oder, wenn dieses angenommen wird, so kann es nur in moralischer Absicht notwendig sein, es anzunehmen; denn fürs Vernünfteln ist es ein unerreichbares Geheimnis" (B 216/217 = VI 143). Der Glaube an göttliche Schuldvergebung beruht somit auf dem Glauben an die durch Gott eröffnete Möglichkeit eines moralisch gelungenen Lebens auch nach moralisch verfehlten Lebensabschnitten.

D. Vernunft und Offenbarung § 16. Offenbarungsglaube

und Vernunftglaube

Geschichtliche Offenbarung wird von Kant in der Religionsschrift auf sogenannte göttliche ,statutarische' Gesetze bezogen, das sind solche von Gott erlassenen Gesetze, „bei deren Befolgung es nicht auf die Moralität, sondern bloß auf die Legalität von Handlungen ankommt" (RGV B 139 = VI 99 22 f.), die also nur ein rechtliches Gemeinwesen unter der Oberherrschaft Gottes konstituieren würden, nicht aber ein ethisches Gemeinwesen, ein „Gottesvolk" oder ein „Reich Gottes" (B 137 ff., 167 ff. = VI 98 ff., 115 ff.). ,Statutarisch' besagt, daß es sich bei diesen Gesetzen um „Statute", um „Satzungen", handelt, also um Gesetze, „die aus der Willkür eines ändern ausfließen", so daß sie sich nicht wie moralische Gesetze „aus jedes Menschen eigener Vernunft entwickeln lassen" (Streit der Fakultäten A 44 = VII 36; vgl. RGV B 227/228, 255 = VI 15228, 1682-4). Statutarisch sind aber auch gewisse Glaubenslehren, „die nicht aus der Vernunft entspringen können" (Streit a. a. O.), somit auf eine Beglaubigung durch Gott angewiesen erscheinen (so RGVB 147,148,162 = VI 104 I5f.,30f., 11222ff.). Zusammenfassend: „Glaubenssätze, welche zugleich als göttliche Gebote gedacht werden sollen, sind nun entweder bloß statutarisch, mithin für uns zufällig und Offenbarungslehren, oder moralisch, mithin mit dem Bewußtsein ihrer Notwendigkeit verbunden und a priori erkennbar, d. i. Vernunftlehren des Glaubens. Der Inbegriff der ersten Lehren macht den Kirchen-, der anderen aber den reinen Religionsglauben aus" (Streit A 73 = VII 49). Wie aus den auf dieses Zitat folgenden Sätzen Kants hervorgeht, will er den Unterschied zwischen statutarischen und moralischen Gesetzen nicht als ausschließenden Gegensatz verstanden wissen: (Statutarische) Offenbarungslehren können zugleich (moralische) Vernunftlehren sein, wenn sich nämlich erweist, daß sie auch in Vernunft begründet sind. Und es ist ja die Aufgabe des philosophischen Religionslehrers, die heiligen Schriften, kirchlichen Lehren und Traditionen auf ihre immanente Vernünftigkeit hin zu interpretieren (vgl. RGV B xvff., xxiff., 157ff., 167 ff. = VI 9ff., 12ff., 109 ff., 115 ff.; Streit A 44-70 = VII 36 — 48). Außerdem kann es historisch notwendig sein, daß sich zunächst Offenbarungslehren etablieren, damit die Vernunft einen Anstoß erhält, sich zu entfalten und sich ihrer selbst bewußt zu werden. Haben sie diese Funktion, dann sind sie gleichsam „Vehikel" des wahren Religionsglaubens (Streit A 62-64 = VII 44f.; vgl. RGV B 250 = VI165 1-7).

§16. Offenbarungsglaube und Vernunftglaube

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Der einer geschichtlichen Offenbarung entsprechende Glaube kann zunächst natürlich kein reiner Vernunftglaube sein. Kant bezeichnet ihn als ,Offenbarungsglauben'; insofern es sich bei den statutarischen Gesetzen weitgehend um auf kirchliche Praxis bezogene und durch kirchliche Autorität ausgestattete Lehrsätze und Verhaltensregeln handelt, nennt Kant jenen Glauben auch ,Kirchenglauben'; insofern dieser Glaube sich auf Ereignisse (Worte und Taten) bezieht, die (von Gott gewirkt) in der menschlichen Geschichte stattgefunden haben (sollen), schließt er den Glauben an ihre Historizität ein und kann daher ,historischer' Glaube heißen; und weil schließlich geschichtliche Ereignisse der menschlichen Erfahrung prinzipiell zugänglich sind, nennt Kant den Glauben an sie auch ,empirischen' Glauben. Entsprechend kann eine ausschließlich durch statutarische Gesetze und einen historischempirischen Glauben konstituierte Religion keine reine moralische oder praktische Vernunftreligion sein, sondern lediglich eine positive Religion, die Kant ,gottesdienstlich' nennt. Diese Religion ist selbstverständlich nicht die wahre Religion (vgl. RGV B 143 f., 147 f., 154, 174f. = VI 101 f., 103/104, 107/ 108, 119) und der gottesdienstliche Glaube, für sich allein betrachtet, purer Aberglaube (B 174 = VI 118 35 f.; Streit A 107 mit Anm. = VII 65 25 mit Anm.), das heißt Heidentum (Streit A 74/75 = VII 50), von Kant auch als „Afterdienst" bezeichnet (RGV B 229, 250, 255 ff. = VI 153 15ff., 16510, 167 ff.; ,after' ist Fortbildung von ,aber', wörtlich in der Bedeutung des räumlichen oder zeitlichen Abstands, übertragen in der Bedeutung des Schlechteren, Geringeren [nach Grimm 1854, 185]). Nun können statutarische Gesetze aber inhaltlich zumindest teilweise identisch mit moralischen Gesetzen sein. Wenn jene Gesetze in solchen Fällen dann nicht nur deshalb (legalistisch) befolgt werden, weil sie als durch Gott oder die Kirche autorisiert gelten, sondern auch deswegen und insoweit, als sie mit der moralischen Vernunft bzw. mit dem Gewissen übereinstimmen, dann handelt es sich nicht mehr um bloßen Kirchenglauben, sondern wenigstens zum Teil um moralischen Vernunftglauben. Die Aufgabe der moralischen und religiösen Aufklärung besteht darin, die Heteronomie der statutarischen Gesetze durch moralisch-religiöse Autonomie aufzuheben, den Geschichts- und Kirchenglauben, soweit als möglich, durch reinen moralischen Vernunftglauben und den kultischen Gottesdienst durch eine Verehrung Gottes zu ersetzen, die vor allem in der Befolgung der moralischen Vernunftgebote, vorgestellt als Gebote Gottes, besteht. Das hier waltende kritische Prinzip formuliert Kant so: „Der Kirchenglaube hat zu seinem höchsten Ausleger den reinen Religionsglauben" (RGV B 157 = VI 109), und wenn sich ein Kirchenglaube auf heilige Schriften stützt, so gilt dieses Prinzip als „das oberste Prinzip aller Schriftauslegung" (B 161 = VI 112 6). Verwahrt und sperrt sich der Kirchenglaube vor der Anerkennung und Anwendung dieses Prinzips auf ihn selbst, so geht er tendenziell in Aberglaube und Heidentum über; er wird unmoralisch und gottlos. Kant faßt diese Grund-

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D. Vernunft und Offenbarung

Verfehlung des Kirchenglaubens so: „seine Statute (selbst göttliche Offenbarungen) für wesentliche Stücke der Religion zu halten, mithin den Empirism in Glaubenssachen dem Rationalism [d. h. der vernünftigen Allgemeingültigkeit des reinen Religionsglaubens (catholicismus rationalis)] unterzuschieben und so das bloß Zufällige für an sich notwendig auszugeben". Für die anstehende Läuterung eines solchen Kirchenglaubens scheint Kant der „schicklichste Probierstein der Satz zu sein: ein jeder Kirchenglaube, so fern er bloß statutarische Glaubenslehren für wesentliche Religionslehren ausgibt, hat eine gewisse Beimischung von Heidentum; denn dieses besteht darin, das Äußerliche (Außerwesentliche) der Religion für wesentlich auszugeben. Diese Beimischung kann gradweise so weit gehen, daß die ganze Religion darüber in einen bloßen Kirchenglauben, Gebräuche für Gesetze auszugeben, übergeht und alsdann bares Heidentum wird, wider welchen Schimpfnamen es nichts verschlägt zu sagen, daß jene Lehren doch göttliche Offenbarungen seien; denn nicht jene statutarische Lehren und Kirchenpflichten selbst, sondern der unbedingte ihnen beigelegte Wert [...] ist das, was auf eine solche Glaubensweise den Namen des Heidentums mit Recht fallen läßt" (Streit A 74 f. — VII 50). Das obige kritische Auslegungsprinzip negativ formuliert würde so lauten: „alles, was außer dem guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes" (RGV B 260/261 = VI 170). § 17. Die wahre Religion

Kant unterscheidet lediglich in der Metaphysik der Sitten und im Streit der Fakultäten ausdrücklich zwischen dem Formalen und dem Materialen der wahren, d.h. der moralischen Religion: Das Formale solcher moralischen Vernunftreligion ist „der Inbegriff aller Pflichten als (instar) göttlicher Gebote", das Materiale der „Inbegriff der Pflichten gegen (erga) Gott" (MST A 181 = VI 487). Religion, formal gesehen, ist demnach extensional äquivalent mit dem Moralgesetz bzw. seiner Befolgung. Insofern kann Religion selber Pflicht genannt werden, wie Kant es a. a. O. tut, aber nicht etwa als eine Pflicht, die zu den ohnehin und unabhängig von ihr bestehenden moralischen Pflichten hinzuträte. Gott als moralischer Gebieter und Gesetzgeber wird hier aber nicht als existierend gedacht, sondern nur als „Idee" vorgestellt. Der Grund hierfür ist nach Kant: „Wir können uns nämlich Verpflichtung (moralische Nötigung) nicht wohl anschaulich machen, ohne einen anderen und dessen Willen (von dem die allgemein gesetzgebende Vernunft nur der Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu denken" (ebd.). Aber bedürfen wir solcher Veranschaulichung überhaupt? Klärt nicht die Unterscheidung zwischen gesetzgebender Vernunft und gesetzempfangender Willkür bzw. zwischen dem homo noumenon und dem homo phaenomenon die zunächst

§17. Die wahre Religion

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möglicherweise verwirrende Erfahrung, daß ich zugleich der Verpflichtende und der Verpflichtete bin (vgl. MST A 63 f. = VI 417)? Oder bedeutet „die Idee von Gott", die die Vernunft „sich selber macht", auch für Kant nichts anderes als das Sich-selber-Begreifen der Vernunft als des unfehlbaren moralischen Gesetzgebers, so daß (die Idee von) Gott, als der Vernunft gegenüberstehend, lediglich der Anschauung seiner selbst wie in einem Spiegel dient? Daß dem so ist und nicht das Wort ,Gott' hier irreführen sollte, bestätigt der den Abschnitt über das Formale der Religion abschließende Satz: „Allein diese Pflicht [die moralischen Pflichten „auf einen göttlichen, a priori gegebenen Willen" zu beziehen] in Ansehung Gottes (eigentlich der Idee, welche wir uns von einem solchen Wesen machen) ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst [...] zur Stärkung der moralischen Triebfeder in unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft" (MST A 181 = VI 487). Die moralisch-praktische Realität Gottes als einer Idee von objektiver, freilich nur moralisch-praktischer Geltung ist aber für Kant natürlich nicht nur von dieser Art; die Vernunftforderung der Realisierung des höchsten Guts impliziert, wie in § 5 dargelegt, das Postulat der Existenz des Gesetzgebers außerhalb der menschlichen Vernunft als eines allmächtigen und vollkommen guten Wesens. Und nur unter dieser Voraussetzung scheint das von Kant so genannte ,Materiale' der Religion möglich zu sein, jedenfalls dann, wenn man wie Kant unterstellt, daß die Pflichten gegen Gott nur „besondere, von der allgemein-gesetzgebenden Vernunft allein nicht ausgehende, von uns also nicht a priori, sondern nur empirisch erkennbare, mithin nur zur geoffenbarten Religion gehörende Pflichten, als göttliche Gebote, enthalten können; die also auch das Dasein dieses Wesens, nicht bloß die Idee von demselben, in praktischer Absicht, nicht willkürlich, voraussetzen, sondern als unmittelbar (oder mittelbar) in der Erfahrung gegeben", darlegen müßte (MST A 182 = VI 487; vgl. A 108 f. = VI 443/444). Aber es ist nicht nur unmöglich, das Dasein Gottes (metaphysisch oder empirisch) nachzuweisen, sondern auch das Geschehensein einer göttlichen Offenbarung und damit das Ergangensein positiver, durch Vernunft nicht legitimierbarer göttlicher Gebote (s.u. §19). Anders stellt sich die Frage nach dem Materialen der Religion im Streit der Fakultäten dar: Nur formal unterscheiden sich Moral und Religion hier voneinander, material sind sie identisch; die Religion hat keine eigene Materie: „Religion unterscheidet sich nicht der Materie, d. i. dem Objekt, nach in irgend einem Stücke von der Moral, denn sie geht auf Pflichten überhaupt, sondern ihr Unterschied von dieser ist bloß formal, d. i. eine Gesetzgebung der Vernunft, um der Moral durch die aus dieser selbst erzeugte Idee von Gott auf den menschlichen Willen zu Erfüllung aller seiner Pflichten Einfluß zu geben"; denn nur „der Inbegriff [...] aller unserer Pflichten überhaupt als göttlicher Gebote (und subjektiv der Maxime sie zu befolgen) ist Religion" (A 44/45 = VII 36). Hier erscheint Gott nur noch als Idee der Vernunft und

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D. Vernunft und Offenbarung

nicht als von sich her seiendes Wesen (ens a se), dem in seiner seinsmäßigen und moralischen Vollkommenheit religiöse Verehrung zukommt. Wieder anders wird die Frage nach dem Materialen der Religion in der Religionsschrift Kants beantwortet: Neben den Begriff einer gottesdienstlichen Religion, in der die Verehrung Gottes nur auf statutarischen Gesetzen beruht, nach deren praktisch-moralischer Vernünftigkeit nicht gefragt wird, tritt der Begriff einer formal wie material gesehen reinen moralischen Vernunftreligion (RGV B 145 ff. = VI 102 ff.). Das Formale besteht, wie in der Metaphysik der Sitten, in der Erkenntnis und „Erfüllung aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote" (RGV B 158 = VI 110 8f.; vgl. B 148/149, 154/ 155, 161, 229, 299 = VI 104/105, 108 11 f., 1124f., 15328f., 19222f.; KpV A 233 = V 129 18 f.; KU B 477 = V 48113 f.; Streit A 44/45, 72/73 = VII 36 20f., 49 I8f.; Refl. Nr. 8101, 8104, 8110 = XIX 643 26, 646 2l f., 650 I9f.; Opus postumum XXI, 1. Konvolut bis S. 74; XXII, 7. Konvolut passim; XXIII 401 14 f.). Material besteht die Religion im Glauben an Gott als den „moralischen Weltherrscher" und — wie sich zeigen wird — in der Liebe zu ihm. Dieser „allgemeine wahre Religionsglaube" entfaltet sich, dem „Bedürfnisse der praktischen Vernunft gemäß" in dreifacher Hinsicht zum Glauben „an Gott 1) als den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde, d. i. moralisch als heiligen Gesetzgeber, 2) an ihn, den Erhalter des menschlichen Geschlechts, als gütigen Regierer und moralischen Vorsorger desselben, 3) an ihn, den Verwalter seiner eigenen heiligen Gesetze, d. i. als gerechten Richter. — Dieser Glaube enthält eigentlich kein Geheimnis; weil er lediglich das moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte ausdrückt", und nur unter dieser Hinsicht sowie der, „was er für uns als moralische Wesen sei" — also allein aus Gründen, die sich der reinen praktischen Vernunft verdanken — ist es statthaft, über die Natur Gottes „z. B. als eines unveränderlichen, allwissenden, allmächtigen etc. Wesens" zu sprechen, von der wir „ohne diese Beziehung [zur Moral] nichts an ihm erkennen können" (RGV B 211 = VI 139 f.). Der Trinitätsglaube des Christentums und anderer Religionen (RGV B 212 f. Anm. = VI 140 f. Anm. 2) wird als moralischer Vernunftglaube ausgelegt: „Gott will in einer dreifachen spezifisch verschiedenen moralischen Qualität gedient sein, für welche die Benennung der verschiedenen (nicht physischen, sondern moralischen) Persönlichkeit eines und desselben Wesens kein unschicklicher Ausdruck ist, welches Glaubenssymbol zugleich die ganze reine moralische Religion ausdrückt" (B 214 = VI 141 28—30). Noch einmal wird der Status dieses Glaubens kritisch ins Licht gerückt: „Wenn aber eben dieser Glaube (an eine göttliche Dreieinigkeit) nicht bloß als Vorstellung einer praktischen Idee, sondern als ein solcher, der das, was Gott an sich selbst sei, vorstellen solle, betrachtet würde, so würde er ein alle menschlichen Begriffe übersteigendes, mithin einer Offenbarung für die menschliche Fassungskraft unfähiges Geheimnis sein" (B 214/215 = VI 142); es könnte uns

§18. Die Irrelevanz einer moralischen Selbstoffenbarung Gottes

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nicht einmal offenbart werden, „weil wir es doch nicht verstehen würden" (B 217/218 = VI1442f.). Schließlich begreift Kant die moralisch verstandene Dreieinigkeit Gottes im Zuge der neutestamentlichen Aussage, daß Gott die Liebe sei (l Joh 4, 8.16), zum einen die Liebe zu Gott und seinem Gesetz als das Ideal des vollkommen liebenden Menschen: „Das höchste, für Menschen nie völlig erreichbare, Ziel der moralischen Vollkommenheit endlicher Geschöpfe ist aber die Liebe des Gesetzes" (B 219/220 = VI 145 17-19), zum anderen die Liebe Gottes zum Menschen als „ein Glaubensprinzip" der moralischen Vernunftreligion: In Gott „kann man den Liebenden [...], den Vater; ferner, in ihm [...] seinen Sohn; endlich auch [...] den heiligen Geist verehren; eigentlich aber nicht in so vielfacher Persönlichkeit anrufen (denn das würde eine Verschiedenheit der Wesen andeuten, er ist aber immer nur ein einiger Gegenstand), wohl aber im Namen des von ihm selbst über alles verehrten, geliebten Gegenstandes [seines Sohnes, des Urbildes der Menschheit], mit dem es Wunsch und zugleich Pflicht ist, in moralischer Vereinigung zu stehen" (B 220-222 = VI 145-147). Der Glaube an die objektive Realität des Gesetzes geht in die Liebe zu ihm über, und die Liebe, die Gott ist, wird zum Prinzip des Glaubens daran, daß der Mensch, sofern er dem Urbild der Menschheit, dem Sohne Gottes, moralisch gleicht und so „in moralischer Vereinigung" mit ihm steht, d. h.: ihn moralisch verehrt und liebt, Gegenstand der „Liebe des moralischen Wohlgefallens" Gottes ist. Was aber heißt .(moralische) Verehrung', Amoralische) Liebe'? Ist nun die eingangs gestellte Frage nach dem Materialen der Religion und Kants Frage danach, wie Gott verehrt sein wolle (RGV B 147, 148, 149 = VI 1042, 10427, 105 6 f.), beantwortet? Die moralische Vernunftreligion kennt — so ist nun klar — die Verehrung Gottes in seiner beschriebenen dreifachen moralischen Qualität. Diese Verehrung wird näher als Glaube und Liebe gekennzeichnet. Aber worin bestehen hier Glaube und Liebe? So wie Gott den Menschen nach dem Maß seiner Moralität liebt, liebt der Mensch nach eben diesem Maß Gott. Die Liebe des Menschen zu Gott ist kein von seinem moralischen Leben abgehobener, gar unabhängiger Akt, sondern ist mit ihm identisch. Gott will nicht anders verehrt und geliebt sein als dadurch, daß man seinen Willen tut, und dieser Wille ist mit dem moralischen Vernunftgesetz identisch (vgl. RGV B 148 = VI 104 22-25). § 18. Die Irrelevan^ einer moralischen Selbstoffenbarung

Gottes

Nach üblichem theologischen Denken bedürfen Glaubensgeheimnisse einer Offenbarung durch Gott, damit sie Menschen bekannt werden können. Gerade die zentralen Gehalte des Glaubens werden dabei unter die mysteria fidei gerechnet. Nicht so bei Kant. Der wesentliche Inhalt des moralischen

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D. Vernunft und Offenbarung

Glaubens ist kein Mysterium und bedarf keiner Offenbarung, weil er der menschlichen Vernunft selbst entspringt. Trotzdem muß er geglaubt werden, weil er kein Wissen darstellt von dem, was ist, sondern den Begriff dessen, was sein soll, und die Anerkennung dieses Begriffs unterliegt unserer Freiheit. Er wird durch einen von Kant ,Glaube' genannten Akt in Geltung gesetzt. Zwar kennt auch Kant Glaubensgeheimnisse. Aber auch sie bedürfen keiner göttlichen Offenbarung, sondern sind der moralisch-praktischen Vernunft ohne weiteres zugänglich. Indem Kant sie als „durch unsre eigne Vernunft geoffenbart" bezeichnet (RGV B 215 = VI 142 I9f.; vgl. B 255 = VI 167/ 168) oder von „einer an alle Menschen beständig geschehenen [A: geschehenden] göttlichen (ob zwar nicht empirischen) Offenbarung" spricht (B 180 = VI 122 17 f.), verwendet er den Ausdruck ,Offenbarung' in einem nicht-theologischen Sinne. Um Geheimnisse handelt es sich nur insofern, als in ihnen moralisch-praktische Überzeugungen gegeneinander stoßen, von denen die theoretisch-spekulative Vernunft nicht erkennen kann — welche Unfähigkeit sie selber als naturgegeben, somit als unaufhebbar erkennt —, ob und wie die in Konflikt miteinander stehenden theoretischen Implikationen jener Glaubensüberzeugungen sich miteinander versöhnen lassen. Wäre zur Auflösung solcher Konflikte — die zugleich eine Aufhebung besagter Geheimnisse bedeutete — aber nicht eine göttliche Offenbarung sinnvoll, ja notwendig? Kant ist der Ansicht, daß eine Offenbarung dieser Art unmöglich ist, weil wir sie bzw. das angeblich Geoffenbarte „doch nicht verstehen würden" (B 217/218 = VI 1442f.; vgl. B 262 = VI 171 30-34). In einer Anmerkung (RGV B 217 f. = VI 144 Anm. 1) erläutert Kant diese Wendung: Es gibt manches, z. B. in der Natur, was wir (noch) „nicht begreifen, d.i. die Möglichkeit des Gegenstandes [...] nicht einsehen können", weil uns seine (z. B. kausal) hinreichenden Existenzbedingungen (noch) unbekannt sind. Als Beispiel hat Kant „das Fortpflanzungsvermögen organischer Materien" im Auge. Aber die Unbegreiflichkeit der Realmöglichkeit dieses Vermögens bedeutet nicht seine begriffliche Undenkbarkeit oder Unverständlichkeit (zur Unterscheidung zwischen Real- und Denkmöglichkeit s. o. S. 77, 99): „Aber wir verstehen doch sehr wohl, was dieser Ausdruck [,das Fortpflanzungsvermögen organischer Materien'] sagen wolle, und haben einen empirischen Begriff von dem Gegenstande, mit Bewußtsein, daß darin kein Widerspruch sei". Auch eine übernatürliche Offenbarung — so fährt Kant fort — kann an dieser sprachlich-begrifflichen Sachlage nichts ändern: Ein sinnloser Ausdruck kann nicht durch göttliche Eingebung Sinn erhalten. Sprachanalytisch formuliert: Der Sinn oder die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks — die Fregesche Verwendungsweise von ,Sinn' und ,Bedeutung' sei hier, als nicht im alltäglichen Sprachgebrauch verwurzelt, vernachlässigt — kann, wie wir vor allem durch Wittgenstein einsehen gelernt haben, nur an den Regeln seines intersubjektiven Gebrauchs abgelesen und kontrolliert werden. Wo solche öffentlichen Regeln sprachlichen Handelns fehlen, können

§18. Die Irrelevanz einer moralischen Selbstoffenbarung Gottes

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sich auch keine sprachlichen Bedeutungen konstituieren. Kant geht in seiner kurzen bedeutungstheoretischen Anmerkung aber noch weiter, indem er den Rahmen einer Semantik sprengt, nach der die Bedeutung von Ausdrücken unabhängig von ihrer Verwendung in der Gesamtäußerung (vor allem in einem Satz oder im Zusammenhang mehrerer Sätze) gegeben sein soll. Demgegenüber betont schon die mittelalterliche Philosophie, daß etwa logische Junktoren, aber vor allem auch ethische und religiöse Ausdrücke (wie ,gut' oder ,Gottc), ihre Bedeutung nur im sprachlichen Verwendungs^#j