Integration im Sozialraum: Theoretische Konzepte und empirische Bewertungen [1. Aufl.] 9783658282011, 9783658282028

In dem Band werden die Zusammenhänge von Sozialraum, Migration und Integration systematisch aus theoretischen und empiri

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German Pages XII, 454 [442] Year 2020

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Integration im Sozialraum: Theoretische Konzepte und empirische Bewertungen [1. Aufl.]
 9783658282011, 9783658282028

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Sozialräumliche Integrationsarbeit im Kontext von Menschen mit Fluchterfahrung – Vorüberlegungen zu Chancen und Grenzen (Katja Jepkens, Thorsten Schlee, Lisa Scholten, Anne van Rießen)....Pages 1-17
Front Matter ....Pages 19-19
‚2015‘ einordnen: Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik als Asylland (Jochen Oltmer)....Pages 21-37
Migration und Flucht – Theoretische Ansätze und aktuelle Entwicklungen (Axel Kreienbrink)....Pages 39-54
Wozu Integration? Semiotische Anmerkungen zu Begriffen und neokolonialer Mechanik (Anselm Böhmer)....Pages 55-69
Recht als Integrationshemmnis (Lasse Gundelach)....Pages 71-83
Sozialraum und Soziale Arbeit (Reinhold Knopp)....Pages 85-98
Front Matter ....Pages 99-99
Vielfalt wird vor Ort gelebt: Praxisforschung zu kommunalen Strategien im Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität (Schahrzad Farrokhzad, Anno Kluß)....Pages 101-115
„Betreute Integration“ – Zur integrationstheoretischen Unterscheidung von Flüchtlingen und regulären Migrant_innen am Beispiel Hamburgs (Jürgen Friedrichs, Felix Leßke, Vera Schwarzenberg, Kim Elaine Singfield)....Pages 117-133
Kommunale Integrationskonzepte in Sachsen (Ann-Christin Damm)....Pages 135-150
Praxiseinblick: Kommunale Integrationspolitik in Düsseldorf: „Vom Krisenmodus zum Integrationsmanagement“ (Frank Griese)....Pages 151-159
Front Matter ....Pages 161-161
Ankunftsquartiere als Kontext der Integration (Nils Hans, Mona Wallraff, Ralf Zimmer-Hegmann)....Pages 163-176
Wohnortzuweisung als integrationspolitisches Instrument: eine kritische Betrachtung des § 12a Aufenthaltsgesetz (Nona Renner)....Pages 177-191
Hindernisse und Gelingensfaktoren der Wohnraumvermittlung von Geflüchteten in Düsseldorf. Empirische Befunde und Lösungsansätze aus dem Forschungsprojekt INTESO (Lisa Scholten, Simone Rehrs, Katja Jepkens)....Pages 193-210
Praxiseinblick: Wohnst du schon oder wirst du noch untergebracht? Wohnraumvermittlung in Augsburg (Corinna Höckesfeld)....Pages 211-225
Front Matter ....Pages 227-227
Raumerleben junger Geflüchteter. Sozialräumliche Nutzer_innenforschung zu Orten und Räumen der Freizeitgestaltung junger Menschen mit Fluchterfahrung – Präferenzen und (Nicht-)Nutzung (Katja Jepkens, Lisa Scholten, Anne van Rießen)....Pages 229-244
Die subjektive Perspektive von jungen Geflüchteten als Ausgangspunkt der Kinder- und Jugendhilfe. Erkenntnisse zur Frage der gelingenden Integration am Beispiel des Projektes ‚Hiergeblieben‘ (Tobias Kindler, Mandy Falkenreck)....Pages 245-260
Tolerated? Auswirkungen des Duldungsstatus auf Bildungsentscheidungen von geflüchteten jungen Erwachsenen aus Subsahara-Afrika in Deutschland (Sandrine Bakoben)....Pages 261-275
Junge Geflüchtete in den Angeboten der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (Ulrich Deinet, Maria Icking)....Pages 277-291
Sozialräumliche Barrieren in der Bildungslandschaft. Die Unterbringungspolitik von Geflüchteten als Hindernis für fluchtsensible Schulkonzepte (Joachim Schroeder)....Pages 293-308
Praxiseinblick: Arbeitsgemeinschaft Offene Türen Nordrhein-Westfalen e. V. (AGOT) (Andrea Heinz, Vinorjan Thambithurai)....Pages 309-319
Front Matter ....Pages 321-321
Strukturprobleme der Arbeitsmarktintegration Geflüchteter. Steuerungs- und Handlungsrationalitäten zwischen Migrationskontrolle und Sozialpolitik (Thorsten Schlee)....Pages 323-337
Frauen mit Fluchterfahrung als Adressat_innen lokaler Arbeitsmarktintegration? Ein Analyserahmen kommunaler Gestaltungsspielräume (Katrin Menke)....Pages 339-353
Praxiseinblick: Die KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart (Ulrike Modery, Muhammet Karatas)....Pages 355-368
Front Matter ....Pages 369-369
Arbeitsbeziehungen Ehrenamtlicher im Bereich (Flucht-)Migration (Carina Bhatti, Katja Jepkens, Kai Hauprich)....Pages 371-383
Zivilgesellschaftliches Engagement in der postmigrantischen Gesellschaft: Annäherung an eine vielschichtige Praxis (Larissa Fleischmann)....Pages 385-399
„Engagiert in Vielfalt“ – Ehrenamtliches Engagement in der Flüchtlingshilfe Nordrhein-Westfalens (Maike Dymarz, Hannah Klinkenborg, Charlotte Weber)....Pages 401-417
Praxiseinblick: Sozialraum, zivilgesellschaftliche/ehrenamtliche Arbeit im Feld der Migration und Flucht (Sahra Camal)....Pages 419-424
Front Matter ....Pages 425-425
Ein sozialräumliches Integrationsmodell. Chancen und Herausforderungen aus den zentralen Perspektiven des Sozialraums und der Inanspruchnehmenden (Lisa Scholten, Simone Rehrs, Katja Jepkens, Anne van Rießen, Ulrich Deinet)....Pages 427-454

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Katja Jepkens Lisa Scholten Anne van Rießen Hrsg.

Integration im Sozialraum Theoretische Konzepte und empirische Bewertungen

Integration im Sozialraum

Katja Jepkens · Lisa Scholten · Anne van Rießen (Hrsg.)

Integration im Sozialraum Theoretische Konzepte und empirische Bewertungen

Hrsg. Katja Jepkens Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf Düsseldorf, Nordrhein-Westfalen, Deutschland

Lisa Scholten Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf Düsseldorf, Nordrhein-Westfalen, Deutschland

Anne van Rießen Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf Düsseldorf, Nordrhein-Westfalen, Deutschland

ISBN 978-3-658-28201-1 ISBN 978-3-658-28202-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Laux Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Sozialräumliche Integrationsarbeit im Kontext von Menschen mit Fluchterfahrung – Vorüberlegungen zu Chancen und Grenzen . . . . . . . . 1 Katja Jepkens, Thorsten Schlee, Lisa Scholten und Anne van Rießen Teil I Integration im Sozialraum: Ausgewählte theoretische Zugänge und Grundlagen ‚2015‘ einordnen: Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik als Asylland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Jochen Oltmer Migration und Flucht – Theoretische Ansätze und aktuelle Entwicklungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Axel Kreienbrink Wozu Integration? Semiotische Anmerkungen zu Begriffen und neokolonialer Mechanik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Anselm Böhmer Recht als Integrationshemmnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Lasse Gundelach Sozialraum und Soziale Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Reinhold Knopp

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Teil II  Handlungsfeld Kommunale Integrationspolitiken Vielfalt wird vor Ort gelebt: Praxisforschung zu kommunalen Strategien im Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität. . . . . . . . . 101 Schahrzad Farrokhzad und Anno Kluß „Betreute Integration“ – Zur integrationstheoretischen Unterscheidung von Flüchtlingen und regulären Migrant_innen am Beispiel Hamburgs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Jürgen Friedrichs, Felix Leßke, Vera Schwarzenberg und Kim Elaine Singfield Kommunale Integrationskonzepte in Sachsen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Ann-Christin Damm Praxiseinblick: Kommunale Integrationspolitik in Düsseldorf: „Vom Krisenmodus zum Integrationsmanagement“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Frank Griese Teil III  Handlungsfeld Unterbringung und Wohnen Ankunftsquartiere als Kontext der Integration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Nils Hans, Mona Wallraff und Ralf Zimmer-Hegmann Wohnortzuweisung als integrationspolitisches Instrument: eine kritische Betrachtung des § 12a Aufenthaltsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . 177 Nona Renner Hindernisse und Gelingensfaktoren der Wohnraumvermittlung von Geflüchteten in Düsseldorf. Empirische Befunde und Lösungsansätze aus dem Forschungsprojekt INTESO. . . . . . . . . . . . . . . . 193 Lisa Scholten, Simone Rehrs und Katja Jepkens Praxiseinblick: Wohnst du schon oder wirst du noch untergebracht? Wohnraumvermittlung in Augsburg. . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Corinna Höckesfeld Teil IV  Handlungsfeld Bildung Raumerleben junger Geflüchteter. Sozialräumliche Nutzer_innenforschung zu Orten und Räumen der Freizeitgestaltung junger Menschen mit Fluchterfahrung – Präferenzen und (Nicht-)Nutzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Katja Jepkens, Lisa Scholten und Anne van Rießen

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Die subjektive Perspektive von jungen Geflüchteten als Ausgangspunkt der Kinder- und Jugendhilfe. Erkenntnisse zur Frage der gelingenden Integration am Beispiel des Projektes ‚Hiergeblieben‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Tobias Kindler und Mandy Falkenreck Tolerated? Auswirkungen des Duldungsstatus auf Bildungsentscheidungen von geflüchteten jungen Erwachsenen aus ­Subsahara-Afrika in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Sandrine Bakoben Junge Geflüchtete in den Angeboten der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Ulrich Deinet und Maria Icking Sozialräumliche Barrieren in der Bildungslandschaft. Die Unterbringungspolitik von Geflüchteten als Hindernis für fluchtsensible Schulkonzepte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Joachim Schroeder Praxiseinblick: Arbeitsgemeinschaft Offene Türen ­Nordrhein-Westfalen e. V. (AGOT). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Andrea Heinz und Vinorjan Thambithurai Teil V  Handlungsfeld Erwerbsarbeit Strukturprobleme der Arbeitsmarktintegration Geflüchteter. Steuerungs- und Handlungsrationalitäten zwischen Migrationskontrolle und Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Thorsten Schlee Frauen mit Fluchterfahrung als Adressat_innen lokaler Arbeitsmarktintegration? Ein Analyserahmen kommunaler Gestaltungsspielräume. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Katrin Menke Praxiseinblick: Die KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart. . . . . . . . . . . . 355 Ulrike Modery und Muhammet Karatas Teil VI  Handlungsfeld Zivilgesellschaftliches Engagement Arbeitsbeziehungen Ehrenamtlicher im Bereich (Flucht-)Migration. . . . 371 Carina Bhatti, Katja Jepkens und Kai Hauprich

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Inhaltsverzeichnis

Zivilgesellschaftliches Engagement in der postmigrantischen Gesellschaft: Annäherung an eine vielschichtige Praxis. . . . . . . . . . . . . . . 385 Larissa Fleischmann „Engagiert in Vielfalt“ – Ehrenamtliches Engagement in der Flüchtlingshilfe Nordrhein-Westfalens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Maike Dymarz, Hannah Klinkenborg und Charlotte Weber Praxiseinblick: Sozialraum, zivilgesellschaftliche/ehrenamtliche Arbeit im Feld der Migration und Flucht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Sahra Camal Teil VII Sozialräumliche Integration: Ein handlungsfeldübergreifendes Modell Ein sozialräumliches Integrationsmodell. Chancen und Herausforderungen aus den zentralen Perspektiven des Sozialraums und der Inanspruchnehmenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Lisa Scholten, Simone Rehrs, Katja Jepkens, Anne van Rießen und Ulrich Deinet

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeber Katja Jepkens, Diplom-Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Düsseldorf. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Perspektive der Nutzer*innen und Maßnahmen für junge Menschen am Übergang Schule-Beruf. Lisa Scholten,  Soziologin  M.A./Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin B.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung an der Hochschule Düsseldorf. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Flucht- und Migrationsforschung, Engagementforschung sowie Kinder- und Jugendarbeit. Dr. Anne van Rießen ist Professorin für Methoden Sozialer Arbeit am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf. Sie leitet – zusammen mit Prof. Dr. Ulrich Deinet – die Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung und ist stellvertretende Leiterin des interdisziplinären Institutes für lebenswerte und umweltgerechte Stadtentwicklung; ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Partizipation und Demokratisierung Sozialer Arbeit, Nutzer*innenforschung, Sozialraumbezogene Soziale Arbeit und interdisziplinäre Stadtentwicklung.

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis Sandrine Bakoben  Institut für Arbeit und Qualifikation, Universität DuisburgEssen, Duisburg, Deutschland Carina Bhatti Institut für lebenswerte und umweltgerechte Stadtentwicklung, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Anselm Böhmer Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Ludwigsburg, Deutschland Sahra Camal  Welcome Point 03/Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Ann-Christin Damm  Frankfurt am Main, Deutschland Ulrich Deinet Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Maike Dymarz  Dortmund, Deutschland Mandy Falkenreck  Institut für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR), OST - Ostschweizer Fachhochschule, St.Gallen, Schweiz Schahrzad Farrokhzad Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften/ Institut für Interkulturelle Bildung und Entwicklung, Technische Hochschule Köln, Köln, Deutschland Larissa Fleischmann Fachgruppe Anthropogeographie/Institut für Geowissenschaften und Geographie, M ­ artin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland Jürgen Friedrichs Universität zu Köln, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln, Deutschland Frank Griese  Amt für Migration und Integration, Landeshauptstadt Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Lasse Gundelach  Fachbereich Soziale Arbeit, Katholische Hochschule Mainz, Mainz, Deutschland Nils Hans Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung, Dortmund, Deutschland Kai Hauprich Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

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Andrea Heinz Landesarbeitsgemeinschaft Katholische Offene Kinder- und Jugendarbeit NRW, Köln, Deutschland Corinna Höckesfeld  Lehrstuhl für Europäische Ethnologie/Volkskunde, Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland Maria Icking Forschungsstelle Sozialraumorientierte Praxisforschung und Entwicklung, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Katja Jepkens Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Muhammet Karatas  Abteilung Beruf und Qualifikation, IHK Region Stuttgart, KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart, Stuttgart, Deutschland Tobias Kindler Institut für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR), OST - Ostschweizer Fachhochschule, St.Gallen, Schweiz Hannah Klinkenborg Exzellenzcluster "Religion und Politik", Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland Anno Kluß context – interkulturelle kommunikation und bildung, Köln, Deutschland Reinhold Knopp  Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Axel Kreienbrink Forschungszentrum Migration, Integration und Asyl, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg, Deutschland Felix Leßke  Universität zu Köln, Köln, Deutschland Katrin Menke Institut für Arbeit und Qualifikation, Universität DuisburgEssen, Duisburg, Deutschland Ulrike Modery Abteilung Beruf und Qualifikation, IHK Region Stuttgart, KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart, Stuttgart, Deutschland Jochen Oltmer  Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland Simone Rehrs Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Nona Renner Professur für Humangeographie, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Anne van Rießen  Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Thorsten Schlee  Institut für Arbeit und Qualifikation, Universität DuisburgEssen, Duisburg, Deutschland Lisa Scholten Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Joachim Schroeder  Fakultät Hamburg, Hamburg, Deutschland

Erziehungswissenschaften,

Universität

Vera Schwarzenberg  Universität zu Köln, Köln, Deutschland Kim Elaine Singfield  Universität zu Köln, Köln, Deutschland Vinorjan Thambithurai  Arbeitsgemeinschaft Offene Türen Nordrhein Westfalen, Düsseldorf, Deutschland Mona Wallraff  Stiftung Mercator, Essen, Deutschland Charlotte Weber Exzellenzcluster "Religion und Politik", Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland Ralf Zimmer-Hegmann  Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung, Dortmund, Deutschland

Sozialräumliche Integrationsarbeit im Kontext von Menschen mit Fluchterfahrung – Vorüberlegungen zu Chancen und Grenzen Katja Jepkens, Thorsten Schlee, Lisa Scholten und Anne van Rießen Zusammenfassung

Im Rahmen der Fluchtmigration seit den Jahren 2014/2015 gab es Veränderungen in Verwaltung, Politik und Gesellschaft sowohl auf der städtischen und kommunalen als auch auf der sozialräumlichen Ebene. Insbesondere an den Sozialraum und die Akteur_innen vor Ort wurden neue und veränderte Anforderungen gestellt, um die Integration zu unterstützen. Die hier entstandenen Chancen und Grenzen sozialräumlicher Integrationsarbeit hat das Projekt INTESO – Integration im Sozialraum in einem dreijährigen Forschungsvorhaben (2016–2019) empirisch analysiert. Einhergehend mit den Forschungsergebnissen wurde ein generalisierbares sozialräumliches Integrationsmodell entwickelt, das u. a. deutlich macht, dass sozialräumliche

K. Jepkens (*) · L. Scholten · A. van Rießen  Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] L. Scholten E-Mail: [email protected] A. van Rießen E-Mail: [email protected] T. Schlee  Institut für Arbeit und Qualifikation, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_1

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Integrationsbemühungen und -aktivitäten konsequent aus der Perspektive des Sozialraums und der Inanspruchnehmenden – unter Beteiligung aller relevanten Akteur_innen im Sozialraum – zu denken und umzusetzen sind. Schlüsselwörter

Sozialraum · Integration · Menschen mit Fluchterfahrung ·  Flüchtlingspolitik · Forschungsprojekt INTESO – Integration im Sozialraum

Die Fluchtmigration der vergangenen fünf Jahre mit ihrer quantitativen Spitze im Jahr 2015 versetzte annähernd alle Bereiche der öffentlichen Verwaltung in Bewegung und brachte oftmals bereits lange bestehende „Verwaltungsvollzugsdefizite“ im Bereich lokaler Aufnahme- und Integrationspolitik auf die Agenda (Bogumil et al. 2017, S. 9). Der administrative Fokus auf Fluchtmigration führte nicht selten zu unkonventionellen wie auch innovativen Aktivitäten und Lösungen auf lokaler Ebene. Zugleich rief die Fluchtmigration der letzten Jahre eine breite zivilgesellschaftliche Unterstützung für Geflüchtete hervor und bot zahlreichen Personen die Möglichkeit, ihre Solidarität mit Menschen auf der Flucht vor Ausbeutung, Krieg und vielfachen Diskriminierungen in die Bundesrepublik tatkräftig zu bezeugen (vgl. u. a. Karakayali und Kleist 2016; Hamann et al. 2016). Daneben entwickelten sich aufgeregte politische und mediale Debatten zu Grenzen der Aufnahmefähigkeit, zu (Un-)Sicherheit und einem vermeintlichen staatlichen Kontrollverlust, die auch einen gewissen gesetzgeberischen Aktionismus zur Regulierung des öffentlichen Umgangs mit Fluchtmigration nach sich zogen.

1 Lokale Flüchtlingspolitik? Die Rolle lokaler Akteur_innen bei der Aufnahme und Integration Geflüchteter wird in der Regel mit dem geflügelten Wort von der „Integration vor Ort“ beschrieben und gleichermaßen beschworen. Dabei neigt dieser Raumbezug dazu, diffus zu bleiben und bezeichnet – je nach Referenz – unterschiedliche Ausdehnungen. Meint er die Kommune (den Kreis, die kreisfreie Stadt oder die einzelne kreisangehörige Gemeinde), meint er einen Arbeitsagentur- oder Jobcenterbezirk oder meint er – der Perspektive Sozialer Arbeit folgend – die lebensweltlichen Raumbezüge, den Aktions- und Lebensraum von Bürger_innen wie Neubürger_innen?

Sozialräumliche Integrationsarbeit im Kontext von Menschen …

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Meistens ist mit der „Integration vor Ort“ das Feld kommunaler Integrationspolitik gemeint. Es bezeichnet die unterschiedlichen Aufgabentypen und Aufgaben, die eine Kommune als Teil der Landesverwaltungen und unterste staatliche Verwaltungsebene, die alle „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung“ regelt, wahrnimmt (Kommunale Selbstverwaltung, Art. 28 Abs. 2 GG). Diese Aufgaben reichen über die von den Ländern delegierten Aufgaben der Aufnahme, Unterbringung und Versorgung Geflüchteter, wie sie das Asylbewerberleistungsgesetz regelt, über nationalstaatliche Integrationskurse ergänzende Sprachlernangebote, die Organisation von Beschulungen bis hin zur eher ordnungsrechtlichen Aufgabe der Umsetzung des Aufenthaltsgesetzes durch kommunale Ausländerbehörden. Zusätzlich zu den bestehenden bildungs- und sozialpolitischen Feldern entwickelten sich, noch bevor der Nationalstaat das Thema Integration für sich entdeckte, eigenständige kommunale Integrationspolitiken (Gestmann und Hilz 2017). Vor allem Kommunen, die bereits langjährig einen hohen Anteil ausländischer Bevölkerung vorweisen, entwickelten – abhängig von der lokalen Parteienlandschaft (Thränhardt 2018, S. 356) – Integrationskonzepte oder auch eigenständige Integrationsverwaltungseinheiten. Das Land Nordrhein-Westfalen hat solche auf Integration ausgerichteten kommunalen Verwaltungseinheiten durch Verträge mit den Kommunen in Form der Kommunalen Integrationszentren flächendeckend institutionalisiert (§ 7 Teilhabe- und Integrationsgesetz). Vielerorts werden die Bemühungen intensiviert, ein die Sozialberichterstattung ergänzendes kommunales Integrationsmonitoring zu institutionalisieren, das es erlaubt, migrationsbezogene Entwicklungen hinsichtlich der Bildungsteilhabe, der Verteilung von Bevölkerungsgruppen im kommunalen Raum etc. zu beobachten und möglicherweise auch unerwünschten Entwicklungen entgegenzusteuern (Filsinger 2018). Schließlich nimmt die Kommune Aufgaben der Handlungskoordination zwischen den verschiedenen öffentlichen und nicht staatlichen Akteur_innen, die das Feld strukturieren, wahr und erscheint in einer Funktion als Intermediär oder als Schnittstellenmanagerin.

2 Politische Steuerung oder lokale Governancestrukturen? Dabei ist es keine triviale Aufgabe, die verschiedenen Akteur_innen zusammenzubringen. Die Steuerung von Prozessen der Aufnahme, der Unterbringung, des Sprachlernens, der Arbeitsmarktintegration, der Wohnungssuche etc. liegt nicht bei „dem Staat“ oder einzig bei „der öffentlichen Hand“ als Sinnbild der Vielzahl

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staatlicher Institutionen. Vielmehr entsteht ein komplexes Akteur_innengeflecht aus staatlichen und nicht staatlichen Akteur_innen, mit ihren je eigenen rechtlichen Voraussetzungen, wirtschaftlichen Kalkulationen, professionellen Hintergründen und Arten der Problembehandlung. In der Politikwissenschaft werden solche komplexen Akteur_innenkonstellationen, die sich dadurch auszeichnen, dass keine der beteiligten Organisationen hierarchisch „durchregieren“ oder eben steuern kann, als Governancestrukturen bezeichnet. Der Governancebegriff trat seit Beginn der 2000er Jahre die Nachfolge des Begriffs der politischen Planung und Steuerung an. Beide Ausdrücke sind eher mit regulativen Politikstilen und dem Bild einer zentralen Planungs- und Steuerungsinstanz verknüpft. Der Gegenwart erscheinen sie etwas altmodisch und ineffektiv, vor allem, weil ihre bevorzugten Mittel – Regulation: Verbot und Strafe – wenig handlungsmotivierend wirken und dort, wo es um Eigeninitiative und autonome Gestaltung geht, mehr verhindern, als dass sie befördern (Mayntz 2004, S. 69). Unabhängig von schwer beweisbaren Effizienzspekulationen, die auf die Selbstregulation autonomer Einheiten setzen, ist politische Steuerung im Feld der Integration Geflüchteter faktisch nur sehr gebrochen möglich, denn die zentralen lokalen Akteur_innen – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bundesagentur für Arbeit, Schulen, Berufskollegs (über Landesschulgesetze), kommunale Sozialämter und Ausländerbehörden – folgen je ihrer eigenen Regelungsstruktur. Hier besteht von keiner der Organisationen und Akteur_innen Durchgriff auf die übrigen Beteiligten. Auch die Zivilgesellschaft – und das ist in unserem Kontext insbesondere das freiwillige Engagement in zahlreichen ehrenamtlichen Initiativen für Geflüchtete – lässt sich nicht gerne steuern. Im Gegenteil erscheint es sehr fraglich, ob die Formalisierungsbestrebungen der letzten Jahre wie Fortbildungen, Zertifizierungen etc., die in gewisser Weise Steuerungsversuche bilden, das selbstorganisierte Engagement nicht eher erschweren, als dass sie es befördern (vgl. Jepkens und Hauprich 2018; Jepkens und Scholten 2019). Insgesamt eröffnet sich derart der Blick auf ein fragmentiertes Feld lokaler Integrationsbestrebungen für Geflüchtete. Nun gehört es zu den Gemeinplätzen bundesdeutscher politischer Kultur, nach zentralstaatlichen Lösungen oder einer Integrationspolitik „aus einer Hand“ zu rufen, wo Fragmentierung und Pluralität herrschen (Thränhardt und Weiss 2016, S. 11). Solche einheitlichen Gestaltungswünsche werfen nicht nur die Frage auf, wer die zentrale steuernde Instanz sein soll (das BAMF, die Arbeitsverwaltungen, die kommunalen Integrationsverwaltungen, die Bildungseinrichtungen?). Sie ignorieren auch die normativen Errungenschaften pluraler Politikgestaltung

Sozialräumliche Integrationsarbeit im Kontext von Menschen …

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in föderalen und gewaltenteiligen Systemen, die es eben ermöglichen, dass Kommunen, „die Zivilgesellschaft“, Wohlfahrtsverbände und Kammern oder andere Akteur_innengruppen neben der nationalen Politik als eigenständige integrationspolitische Player einen gewissen Gestaltungsspielraum haben, der die staatlichen Maßnahmen (von Bund oder Ländern) ergänzen und zuweilen auch gegenzeichnen kann. Die Steuerung der Integration Geflüchteter kann unter diesen Bedingungen in fragmentierten Politikfeldern stets nur freiwillige Handlungskoordination bedeuten. Die Kommunen und auch andere Akteur_innen haben sich unter dem administrativen Problemdruck der hohen Fluchtmigrationszahlen seit 2015 vielerorts um verschiedene Formen lokaler Handlungskoordination bemüht, um in „Runden Tischen Asyl“, „Integrationskonferenzen“ und anderen Formaten die Zusammenarbeit an komplexen Problemlagen zu befördern. Eine Reihe von Kommunen bündelt etwa ihre integrationspolitischen Funktionen (Kommunale Integrationszentren, die mit der Unterbringung und Versorgung Geflüchteter betraute Branche des Sozialamtes und die kommunale Ausländerbehörde) – wie auch die Landeshauptstadt Düsseldorf mit dem im Januar 2018 gegründeten Amt für Migration und Integration (dazu Jepkens und Hauprich 2018). Auch die Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen der Arbeitsagentur richtete mit den ‚Integration Points‘ eine Struktur ein, in der Jobcenter, kommunale Verwaltung (hier v. a. die kommunalen Ausländerbehörden) und Arbeitsagenturen zusammenarbeiten sollten (RD NRW 2015). In anderen Politikfeldern mit ähnlich fragmentierter Zuständigkeitsverteilung – aber ohne ordnungspolitische Akteur_innen – lässt sich beobachten, dass ein institutionelles Dach noch nicht viel über die Umsetzung oder Art der Zusammenarbeit unterschiedlicher Organisationen aussagt (Hagemann und Ruth 2019). Ein Austausch über Vorgehensweisen kann in Handlungskoordination und integrierte Problembearbeitungen münden, diese sind aber nicht ohne Ressourceneinsatz zu haben. Es wäre leichtfertig und bliebe ohne Konsequenzen, den „Austausch“ als zusätzliche „freiwillige Aufgabe“ der ohnehin immer unter Kostendruck arbeitenden öffentlichen Verwaltung zuzuschreiben, dies als zusätzliche Anforderung an die unter drückenden Wettbewerbsbedingungen arbeitenden Anbieter_innen sozialer Dienstleistungen heranzutragen oder sich selbst entwickeln zu lassen. Handlungskoordination mit der Zielvorstellung räumlich integrierter Problembearbeitung muss mit Ressourcen ausgestattet und institutionalisiert sein. Die im Forschungsprojekt INTESO untersuchten Welcome Points sind eine institutionalisierte Form der Handlungskoordination sozialräumlicher Integrationsarbeit für Geflüchtete.

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3 Die Relevanz des Sozialraums Wie ist eine Stadt wie Düsseldorf mit mehr als 600.000 Einwohner_innen zu fassen: über Symbole (etwa einen Fernsehturm oder eine ansehnliche Stadtsilhouette), über Gebietsstrukturen, Bevölkerungsentwicklungen, Mietpreisspiegel und andere Kennzahlen oder wie hier bisher geschehen über die Strukturen kommunaler Verwaltung? Integration im Sozialraum adressiert nicht in erster Linie die Kommune (d. h. hier die Landeshauptstadt, kreisfreie Stadt Düsseldorf), sondern sie führt eine weitere räumliche Differenzierung ein, die den sozialen, ökonomischen, ethnischen und räumlichen Differenzierungsprozessen urbaner Konglomerate folgt. Sozialräumliche Herangehensweisen haben in Düsseldorf eine gewisse Tradition. Bereits 1997 entwickelte die Landeshauptstadt eine sozialräumliche Gliederung für Zwecke der Jugendhilfeplanung. Kriterien zur Abgrenzung der 171 Düsseldorfer Sozialräume sind u. a. Informationen über die sozioökonomische Situation, die Wohnsituation, Bebauungsstrukturen sowie über die Entstehungsgeschichte von Siedlungen. Die sozialräumliche Gliederung grenzt unabhängig von administrativen Raumeinheiten wie z. B. den Stadtteilen und Stadtbezirken – aber innerhalb bestehender Strukturen – sozial (relativ) homogene lebensweltbezogene Gebiete voneinander ab und definiert sie als Planungsund Analyseräume. Entstanden aus der Jugendhilfeplanung, hat sich bis heute der Einsatzbereich dieses Instrumentes innerhalb der Verwaltung stark ausgeweitet. Darauf, dass diese weitergehende Differenzierung geboten scheint, gibt es zahlreiche Hinweise (siehe u. a. Schlee und Jepkens 2017, S. 19). Wenn vom Sozialraum die Rede ist, wird unter Raum im Weiteren – in Anlehnung an die theoretischen Ansätze von Baacke (1984), Zeiher und Zeiher (1994), Löw (2001) und Muchow und Muchow (2012) – ein dynamischer, flexibler Gegenstand verstanden, der sich nicht an geografische Begrenzungen hält und der zur gleichen Zeit von verschiedenen Gruppen auf unterschiedlichste Arten genutzt und verändert werden kann. Somit eignen sich Menschen fortlaufend in ihrer Entwicklung Räume an, halten sich in diesen Räumen auf, kommunizieren, agieren und interagieren dort, sodass ein Raum gleichsam ein Aufenthalts- und Handlungsraum ist. Ein solches Raumverständnis ist anschlussfähig an Kessl und Reutlinger (2010), die den Raum in einer relationalen Begriffsbestimmung als sozial konstruiert und nicht als „der menschlichen Handlungsdimension vorgeordnet“ (S. 7) beschreiben. Daran anknüpfend gehen wir im Weiteren von einem wechselseitigen Bezug zwischen Raum und Gesellschaft und somit den Subjekten als den Raum konstituierende Akteur_innen aus (ebd., S. 25),

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wobei „bestimmte soziale Prozesse sich in konkreten historischen Konstellationen materialisieren und diese Materialisierungen wiederum den (Mit-)Ausgangspunkt aktueller gesellschaftlicher Prozesse bilden“ (ebd., S. 12). So sind „räumliche Ordnungen immer als Ausdruck sozialer Praktiken“ (ebd.) zu verstehen. Das so sich ergebende ‚Produkt‘, der ‚Sozialraum‘, entsteht aus dem Zusammenwirken von Komponenten: einer physischen, geografischen und auch administrativen Raumstruktur, den Raumwahrnehmungen und den jeweiligen personalen Aktivitäten. Diese Struktur reproduziert sich in Interaktionen und verschiebt sich in diesem Zuge beständig (Rüßler et al. 2015, S. 29). Mit dem Blick auf den Sozialraum als kleinräumigen Untersuchungsgegenstand entsteht so ein differenzierte(re)s Bild urbaner Entwicklungen, das zugleich den Bezug auf die Wahrnehmungen, Bedürfnisse und Interessen der Bewohner_innen herstellen will (Fürst und Hinte 2014, S. 32), denn ihre Bewertungen konstituieren den Raum und sollten den Zuschnitt der zu bewirkenden sozialräumlichen Interventionen informieren. Sozialraumorientierung kann so als Teilhabeorientierung, aber auch als Mittel zur Herstellung von Legitimität gefasst werden.

4 Sozialräumliche Erfahrungen in der Integrationsarbeit Sozialräumliche Konzepte haben gegenwärtig „Hochkonjunktur“ (Rüßler et al. 2015, S. 28) und die Bedeutung sozialräumlicher Vorgehensweisen wird gerade auch für Integrationsfragen immer wieder betont, denn sozialräumliche Herangehensweisen können komplexe Herausforderungen wie die der Integrationspolitik überhaupt handhabbar machen und den mit ihnen einhergehenden Koordinierungsbedarfen begegnen. Entsprechende dokumentierte Erfahrungen aber beschränken sich zumeist auf Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf und fügen sich in den raumplanerischen Fokus des Programms Soziale Stadt ein: Das Programm ist Teil der Städtebauförderung, hat aber im Kern einen sozialräumlichen Ansatz, bei dem bauliche und soziale Maßnahmen verknüpft werden, wobei die baulichen und infrastrukturellen Maßnahmen hier zumeist im Vordergrund stehen und standen (Knabe et al. 2015, S. 9; Mewes 2013; Häussermann 2011). 550 Kommunen weisen in diesem Kontext 1500 von Zuwanderung geprägte Wohnquartiere aus, in denen „sozialräumliche Segregation mit ökonomischen Schwächen einhergeht“ (BMVBS und BBR 2008, S. 9). Die meisten dieser dort so genannten „Fokuswohnquartiere“ finden sich in urbanen Metropol-

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regionen. Hier liegen Sammlungen von Best-Practice-Beispielen vor, die der Ausgestaltung lokaler Integrationsprozesse als Vorbild dienen können (BMVBS 2013). Sozialräumliche Herangehensweisen knüpfen derart zumeist an sogenannte „benachteiligte“, d. h. ökonomisch schwache Quartiere an, in denen primär strukturell benachteiligte Menschen leben. Unser Ansatz, der sich auch in der Auswahl der untersuchten Stadtbezirke niederschlug, fokussierte hingegen nicht nur Stadtbezirke mit besonderem Entwicklungsbedarf, sondern nimmt zwei Stadtbezirke in den Blick, die gerade durch ihre Unterschiede im Hinblick auf Bevölkerungs-, aber auch Bebauungsstrukturen sowie institutionell organisierte Netzwerke gekennzeichnet sind.

5 Das Forschungsprojekt INTESO Ansatzpunkt unseres Projektes ist die Initiative der Landeshauptstadt Düsseldorf, sozialräumliche Herangehensweisen für die Integration Geflüchteter zu entwickeln. Seit 2015 wurden an insgesamt elf stadtweiten Standorten Welcome Points errichtet, um „im Bedarfsfall ehrenamtliche Hilfsangebote zu koordinieren, Beratungs- und Unterstützungsangebote für die ‚Neudüsseldorfer‘ vorzuhalten und hierdurch die gegenseitige Akzeptanz voranzubringen und die Integration in die hiesige Gesellschaft zu erleichtern“ (Landeshauptstadt Düsseldorf 2019). Vor diesem Hintergrund untersuchte das Forschungsprojekt INTESO in zwei Düsseldorfer Stadtbezirken die Fragestellung, wie sich Sozialräume durch den Zuzug von Geflüchteten verändern und wie ein sozialräumlicher intermediärer Akteur1 diese Veränderungsprozesse aufnehmen und zugleich eine Ressource für die beteiligten oder neu zu beteiligenden institutionellen und zivilgesellschaftlichen Akteur_innen darstellen kann. Damit einhergehend stellt sich die Frage, ob ein generalisierbares sozialräumliches Integrationsmodell entwickelt werden kann, das auch auf andere Kommunen übertragbar ist. 1Im Projektantrag, im Forschungsprozess und in projektbezogenen Publikationen wurde wie hier der Begriff „intermediäre Instanz“ verwendet. Durch die Reflexion der Ergebnisse und Erkenntnisse des Projekts wurde in der letzten Forschungsphase stattdessen der Begriff des „intermediären Akteurs“ genutzt. Hierdurch soll die Prämisse gestützt werden, dass sozialräumliche Integrationsbemühungen und -aktivitäten stets konsequent a) aus der Perspektive des Sozialraums sowie b) aus der Perspektive der Inanspruchnehmenden gedacht und umgesetzt werden müssen, und zwar c) unter Beteiligung aller relevanten Akteur_innen im Sozialraum, und somit das aktive Handeln „von unten“ unterstrichen werden soll (siehe hierzu ausführliche Kap. „Ein sozialräumliches Integrationsmodell. Chancen und Herausforderungen aus den zentralen Perspektiven des Sozialraums und der Inanspruchnehmenden“ zum sozialräumlichen Integrationsmodell).

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Die Fragestellung weist damit eine zweiseitige Zielstellung auf: 1. INTESO untersuchte die Potenziale der Welcome Points im Sinne eines sozialräumlichen intermediären Akteurs zwischen den verschiedenen lokalen Akteur_innen und Akteur_innengruppen, die an einem gelungenen Integrationsprozess beteiligt sind oder in Zukunft beteiligt werden sollen. 2. Der Blick auf den Sozialraum ermöglicht es, die durch den Zuzug bedingten Veränderungsprozesse kleinräumig nachzuzeichnen. Erst in der Kombination der Steuerungs- bzw. Koordinationsbestrebungen mit den tatsächlichen Veränderungsprozessen aus Sicht von Bürger_innen und Geflüchteten selber kann aufgezeigt werden, welchen Einfluss eine sozialräumliche Instanz auf diese Transformationen nehmen kann, denn deutlich wird, dass die Integrationsarbeit hinsichtlich Geflüchteter im Sozialraum nicht auf Regulation und Steuerung, sondern auf Kooperation und Handlungskoordination bauen muss. Zu beobachten, wie sich diese Koordinationsbemühungen sozialräumlich entwickeln, welche Akteur_innengruppen (wie Bezirksverwaltungsstellen, Sozialbetreuer_innen, Fachkräfte des Allgemeinen Sozialen Dienstes, Schulsozialarbeiter_innen) die lokalen Integrationsprozesse ausgestalten, wie sich gleichzeitig die Stadtbezirke und politischen Strukturen durch Fluchtzuwanderung verändern, wie Geflüchtete ihre lokale Umgebung wahrnehmen und nutzen und welche Grenzen sozialräumlicher Handlungskoordination zugleich erscheinen, ist das Anliegen des Projekts INTESO. Das Ziel des Projekts war es, ein sozialräumliches Modell von Integration zu beschreiben, das die genannten Aspekte aufgreift und berücksichtigt und anhand dessen sichtbar wird, welche Rolle und welche Funktion einem sozialräumlichen intermediären Akteur bei der sozialräumlichen Integration zukommt. Im Projektverlauf wurde auf dem Weg zu diesem Modell deutlich, dass dieses sozialraumorientiert, handlungsfeldübergreifend und vernetzend gedacht werden muss (siehe Kap. „Ein sozialräumliches Integrationsmodell. Chancen und Herausforderungen aus den zentralen Perspektiven des Sozialraums und der Inanspruchnehmenden“ in diesem Band). Zugleich wurde erkennbar, dass Integration – wie auch schon andere Untersuchungen zeigen – primär jeweils in den verschiedenen Handlungsfeldern gelingt (vgl. Schlee und Jepkens 2017) Deren Spezifika, Akteur_innen, Voraussetzungen und Handlungslogiken gilt es folglich für eine gelingende Integration im Sozialraum zu bedenken und einzubeziehen. Dies möchte ebenfalls der vorliegende Band berücksichtigen. In diesem Spagat zwischen integriertem Vorgehen und Eigenkomplexität einzelner Bereiche bewegt sich folglich auch dieser Band, der theoretische Grundlagen und empirische Befunde aus einzelnen Feldern der Sozialen Arbeit

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mit Geflüchteten bündelt, um daraus Möglichkeiten und Grenzen von Integration im Sozialraum empirisch wie konzeptionell auszuloten. Zum Aufbau des Buchs Der erste Teil des Buches befasst sich mit der „Integration im Sozialraum“ anhand ausgewählter theoretischer Zugänge und Grundlagen. Er beginnt mit einem Beitrag von Jochen Oltmer, der das gesellschaftliche Aushandeln um die Aufnahme bzw. Nicht-Aufnahme von Schutzsuchenden in der Bundesrepublik Deutschland vom Ende der 1940er Jahre bis zur Gegenwart thematisiert. Axel Kreienbrink setzt sich im Weiteren mit theoretischen Hintergründen sowie vergangenen und aktuellen Entwicklungen im Bereich der (Flucht-)Migration auf der globalen, europäischen und deutschen Ebene auseinander, widmet sich Ursachen und Motiven für Migration sowie zentralen Definitionen und stellt aktuelle Daten vor. Im Folgenden beschäftigt sich der Beitrag von Anselm Böhmer mit dem Migrationsdiskurs sowie seinen prominenten Begriffen Integration, Akkulturation, Assimilation und Inklusion, die er im Weiteren auch im Hinblick auf den sozialen Raum als migrationsgesellschaftliches Konzept und sozialräumliche Arbeit reflektiert und erörtert. Der Beitrag von Lasse Gundelach gibt einen Überblick aus der juristischen Perspektive zu ordnungspolitischen Maßnahmen im Rahmen des Aufenthaltsrechts. Ferner fragt er nach Hemmnissen der Integration vonseiten des Rechts und richtet den Blick auf zukünftiges politisches Handeln, welches sich an einer maßvollen und humanen Sozialpolitik orientieren soll. Abschließend zum ersten Teil thematisiert Reinhold Knopp in seinem Beitrag den (Sozial-)Raum bzw. das „Räumliche“ aus einer sozialarbeiterischen Perspektive. Speziell geht er hierbei auf die Bedeutung des Sozialraums für Menschen mit Flucht- bzw. Migrationserfahrungen und deren Lebenssituation ein. Auf den einführenden Teil des Buches folgen im zweiten Teil ausgewählte empirische Befunde und theoretische Auseinandersetzungen von Wissenschaftler_innen, unterteilt nach den vom Forschungsprojekt INTESO als zentral herausgestellten Handlungsfeldern: „kommunale Integrationspolitik“, „Unterbringung und Wohnen“, „Bildung“, „Erwerbsarbeit“ sowie „zivilgesellschaftliches Engagement“. Herauszustellen sind in den einzelnen Feldern die Einblicke von Personen aus der Praxis, welche die Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis noch einmal verdeutlichen. In dem ersten Handlungsfeld kommunale Integrationspolitik stellen zunächst Schahrzad Farrokhzad und Anno Kluß zentrale Ergebnisse der Studie „Impulse für Innovationen in der Migrations- und Integrationsarbeit“ vor. In dem praxisnahen Forschungsvorhaben wurden kommunale Handlungsstrategien

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im Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität am Beispiel von sechs Kommunen untersucht und es werden u. a. Konzepte, Strukturen, Steuerungsmodelle und Strategien des Monitorings und der Berichterstattung in vergleichender Perspektive erörtert sowie Handlungsempfehlungen auch für andere Kommunen dargestellt. Der Beitrag von Jürgen Friedrichs, Felix Leßke, Vera Schwarzenberg und Kim Singfield beleuchtet anhand ausgewählter Ergebnisse der „Kölner Flüchtlings-Studie“ durch eine theoretische Aufarbeitung die besondere Stellung von Geflüchteten gegenüber regulären Migrant_innen und unterlegt dies empirisch anhand praktischer Beispiele aus der Stadt Hamburg. Neben Diskussionen zu integrationstheoretischen Unterschieden werden Daten des Integrationsprozesses entlang der Dimensionen Unterkunft, kognitive Fähigkeiten, Arbeitsmarkt und soziale Kontakte präsentiert. Ann-Christin Damm beschäftigt sich in ihren Analysen mit Integrationskonzepten, um die Organisation der kommunalen Integrationsarbeit darzustellen. Hierzu stellt sie exemplarisch die Ausgestaltung von Integrationskonzepten einschließlich des Integrationsverständnisses und der Adressierung sowie deren Wirkungsmöglichkeiten und Grenzen am Beispiel des Bundeslandes Sachsen dar. Abschließend zum Handlungsfeld gibt Frank Griese einen Praxiseinblick in den Umgang und die Planungsstrategien hinsichtlich der verstärkten Zuwanderung in die Stadt Düsseldorf und zeichnet zentrale Entwicklungen der vergangenen Jahre nach. Hierbei beschreibt er u. a. den Gründungsprozess des Runden Tisch Asyl und die Ernennung der Flüchtlingsbeauftragten sowie die damit verbundenen Herausforderungen und Aushandlungsprozesse. Im zweiten Handlungsfeld Unterbringung und Wohnen nehmen zunächst Nils Hans, Mona Wallraff und Ralf Zimmer-Hegmann sogenannte Ankunftsquartiere und den Ankommensprozess aus der Perspektive der Stadtforschung in den Fokus. Anhand von Ergebnissen aus Untersuchungen in der Dortmunder Nordstadt wird die Bedeutung der Ankunftsquartiere skizziert sowie die damit verbundenen Herausforderungen und Chancen im Kontext der Integration diskutiert und u. a. Potenziale durch ankunftsbezogene Gelegenheitsstrukturen für Zugewanderte im Ankommensprozess aufgezeigt. Weiter befasst sich Nona Renner in ihrem Beitrag kritisch u. a. mit § 12a des Aufenthaltsgesetzes. Neben rechtlichen Rahmenbedingungen, Umsetzungen und Folgen von Gesetzen zu Unterbringungen und Wohnrechten von Geflüchteten geht es um die Beantwortung der Frage, ob die Wohnsitzauflage und Wohnsitzregelungen – mit einem besonderen Blick auf das Thema Segregation – integrationsfördernde oder -hemmende Instrumente sind. Lisa Scholten, Katja Jepkens und Simone Rehrs beleuchten in ihrem Beitrag aus einer sozialräumlichen Perspektive die Situation von Geflüchteten auf dem Düsseldorfer Wohnungsmarkt und stellen zentrale,

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praxisnahe Ergebnisse des Forschungsprojektes INTESO – Integration im Sozialraum vor. Fokussiert werden hierbei rechtliche, gesellschaftliche und politische sowie individuelle Hindernisse und Gelingensfaktoren bei der Wohnraumsuche, Wohnraumvermittlung und Einzugsphase. Darauffolgend schließt das Handlungsfeld mit dem Praxiseinblick von Corinna Höckesfeld, die von ihren Erfahrungen im „Wohnprojekt Augsburg“ berichtet. In dem Projekt geht es um die Unterstützung und Förderung von Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund bei der Wohnungssuche auf dem angespannten Wohnungsmarkt, wobei deutlich wird, dass der Zugang von Geflüchteten zum Wohnungsmarkt u. a. aufgrund der Mehrfachdiskriminierung sowie institutioneller und bürokratischer Hürden besonders problematisch ist. Das dritte Handlungsfeld Bildung beginnt mit einem Beitrag von Katja Jepkens, Lisa Scholten und Anne van Rießen, der die Perspektive der sozialräumlichen Nutzer_innenforschung einnimmt. Auf der Grundlage zentraler Ergebnisse des Forschungsprojektes INTESO – Integration im Sozialraum beleuchtet der Beitrag aus Sicht von jungen Menschen mit Fluchterfahrung relevante Orte und Räume der Freizeitgestaltung sowie Gründe und Ursachen u. a. der Nutzung bzw. Nicht-Nutzung von (Freizeit-)Angeboten. Sandrine Bakoben befasst sich mit den Auswirkungen des Aufenthaltstitels auf Bildungsmöglichkeiten innerhalb Deutschlands von jungen Erwachsenen aus ­ Subsahara-Afrika mit Fluchthintergrund. Grundlage des Beitrags sind u. a. Ergebnisse einer noch laufenden qualitativen Feldstudie aus der Sozialpädagogischen Nutzer_innenforschung, deren Fokus darin liegt, die Bildungsentscheidungen von geduldeten jungen Erwachsenen aus Subsahara-Afrika vor dem Hintergrund ihres Aufenthaltsstatus und der vorhandenen Bildungsangebote nachzuzeichnen. In einem weiteren Beitrag stellen Ulrich Deinet und Maria Icking Ergebnisse aus einer bundesweiten Befragung von Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit von 2017 vor, welche sich schwerpunktmäßig u. a. mit der Beteiligung und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung auseinandersetzt und die Reaktionen der offenen Kinder- und Jugendarbeit, wie u. a. neue Angebote, Zielgruppen und Kooperationen, aufzeigt. Mit Blick auf den Sozialraum werden Schlussfolgerungen für den Transfer von Erfahrungen aus der Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen in das gesamte Feld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit gezogen. Joachim Schroeder zeigt in seinem Beitrag, basierend auf ausgewählten Ergebnissen zweier seiner Forschungsstudien, bei denen u. a. Wohnbiografien von Geflüchteten in der Stadt Hamburg untersucht und nachgezeichnet wurden, auf, welche Zusammenhänge zwischen der gegenwärtigen Unterbringungspolitik der Erst- und Folgeunterbringung und Schul- bzw.

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Bildungskonzepten bestehen. Skizziert wird hierbei u. a., welche sozialräumlichen Barrieren und Chancen sich innerhalb der Bildungslandschaft für die Kinder und Jugendlichen – speziell auch mit Behinderungen – ergeben. Ausgehend von der subjektiven Perspektive junger Geflüchteter fragen Tobias Kindler und Mandy Falkenreck in ihrem Beitrag nach Bedingungen gelingender Integration im Sozialraum. Durch exemplarische Ergebnisse des Praxisforschungsprojektes „Hiergeblieben“, welches die Bedeutung beliebter und unbeliebter Orte sowie Einzelfallportraits darstellt, können Raumaneignungen junger Geflüchteter nachgezeichnet sowie Rückzugs- und Gemeinschaftsorte aufgezeigt und so wichtige Hinweise für die generelle sowie sozialräumliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen für die Praktiker_ innen gegeben werden. Abschließend bieten Andrea Heinz und Vinorjan Thambithurai einen Praxiseinblick in die Arbeit der Arbeitsgemeinschaft Offene Türen Nordrhein-Westfalen e. V. (AGOT). Im Mittelpunkt steht hierbei das Wirken im AGOT-Projektjahr: „Vielfalt – wir leben sie 2019!“, welches der Anerkennung der Einzigartigkeit der agierenden Personen in verschiedensten Themenbereichen der Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit galt. Neben der Übersicht über die Projekte und dem Prozess innerhalb verschiedener Projekte werden Chancen und Grenzen der Arbeit thematisiert. Im vierten Handlungsfeld Erwerbsarbeit zeichnet Thorsten Schlee zunächst Strukturen und Strukturprobleme sozialstaatlicher Aufgabenwahrnehmungen im Kontext der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten in Deutschland nach. Im Mittelpunkt stehen hierbei Zusammenhänge zwischen Handlungsrationalitäten und organisationalen Praktiken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der lokalen Arbeitsagenturen, der Jobcenter und kommunalen Ausländerbehörden. Katrin Menke beleuchtet in ihrem Beitrag das Thema Arbeitsmarktintegration mit einer genderspezifischen Perspektive und verleiht der sozialen Kategorie Geschlecht im Hinblick auf arbeitsmarktpolitische Gestaltungen Bedeutung. Anhand des gegenwärtigen Umgangs mit der Gruppe der Frauen mit Fluchthintergrund in der lokalen Arbeitsmarktintegration sollen u. a. bestehende Paradoxien des aktivierenden Sozialstaats aufgezeigt werden. Geschlossen wird das Handlungsfeld mit einem Praxiseinblick in die Arbeit der Informations- und Erstanlaufstelle KAUSA-Servicestelle der Region Stuttgart von Ulrike Modery und Muhammet Karatas. Die Zielsetzung der Servicestelle beinhaltet die Beratung und Unterstützung verschiedenster Zielgruppen rund um das Thema duale Ausbildung. Der Artikel gibt spezielle Einblick in die Praxis der Integration von Geflüchteten in duale Ausbildungsstrukturen in Deutschland und will ein Best-practice-Beispiel für andere Projektvorhaben im Bereich der Integrationsarbeit aufzeigen.

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Das letzte Handlungsfeld zivilgesellschaftliches Engagement wird mit einem Beitrag von Carina Bhatti, Katja Jepkens und Kai Hauprich eröffnet, der sich aus sozialarbeiterischer Perspektive der Bedeutung und den Bereichen sowie Potenzialen und Grenzen des zivilgesellschaftlichen Engagements im Feld der (Flucht-)Migration widmet und zentrale Ergebnisse des Forschungsprojektes INTESO – Integration im Sozialraum einbezieht. Larissa Fleischmann setzt sich mit der Bedeutung des zivilgesellschaftlichen Engagements in postmigrantischen Gesellschaften auseinander und behandelt u. a. die Fragen, inwieweit sich die verstärkte zivilgesellschaftliche Unterstützung, welche im Rahmen der sogenannten Willkommenskultur sichtbar geworden ist, zeitlich und thematisch öffnen kann und welche Potenziale und Grenzen sich hieraus auch für zukünftige Ehrenamtspraktiken ergeben können. Der Beitrag von Maike Dymarz, Hannah Klinkenborg und Charlotte Weber stellt zentrale Ergebnisse der Studie „Engagiert in Vielfalt“, welche den Wandel des ehrenamtlichen Engagements in der Flüchtlingshilfe in sieben Modellinitiativen in ­ Nordrhein-Westfalen untersucht, dar. Zentral geht es um die Fragen, welche Chancen und Herausforderungen sich in dem Engagementfeld zeigen und wie es ermöglicht werden kann, das Engagement dauerhaft zu stärken. Sarah Camal schließt das Handlungsfeld mit einem Praxiseinblick u. a. in die Arbeit eines Welcome Points der Stadt Düsseldorf ab. Neben allgemeinen Einblicken in die Integrationsarbeit im Feld der (Flucht-)Migration wird die Rolle des zivilgesellschaftlichen Engagements noch einmal genauer beleuchtet und Chancen sowie Barrieren der Zusammenarbeit zwischen haupt- und ehrenamtlichen Personen werden aufgezeigt. Abschließend stellen Katja Jepkens, Lisa Scholten, Simone Rehrs Anne van Rießen und Ulrich Deinet im dritten Teil des Buches das im Projekt INTESO – Integration im Sozialraum entwickelte sozialräumliche Integrationsmodell vor. Das Modell, basierend auf den Düsseldorfer Welcome Points und dem Arbeitsfeld der Fluchtmigration, bietet die Option der Übertragbarkeit auch auf andere Kommunen und Themenfelder der sozialräumlichen Integrationsaufgabe. Im Zentrum der Überlegungen steht ein intermediärer Akteur, welcher auf Stadtbezirksebene angesiedelt und sozialräumlich ausgerichtet ist und sowohl die Vernetzung vor Ort als auch die Anbindung an die Gesamtstadt organisieren soll. Durch die handlungsfeldübergreifende Ausrichtung des Modells wird die Relevanz der vorangegangenen Themenfelder noch einmal aufgegriffen und wiederholt die Notwendigkeit verdeutlicht, Integration als Querschnittsthema zu verstehen und auf allen Ebenen zu bearbeiten.

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Katja Jepkens,  Diplom-Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Düsseldorf. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Perspektive der Nutzer_innen und Maßnahmen für junge Menschen am Übergang Schule-Beruf. Dr. Thorsten Schlee ist Politikwissenschaftler und leitet die Forschungsgruppe Migration und Sozialpolitik am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität ­Duisburg-Essen. Er untersucht in diesem Kontext, wie lokale arbeitsmarktrelevante Akteure auf Fluchtzuwanderung reagieren und wie Geflüchtete diese Strukturen für sich nutzen. Er lehrt an der Hochschule Düsseldorf und der Universität Duisburg-Essen. Lisa Scholten,  Soziologin M.A., Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, B.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung an der Hochschule Düsseldorf. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Flucht- und Migrationsforschung, Engagementforschung sowie Kinder- und Jugendarbeit.

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Dr. Anne van Rießen ist Professorin für Methoden Sozialer Arbeit am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf. Sie leitet – zusammen mit Prof. Dr. Ulrich Deinet – die Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung und ist stellvertretende Leiterin des interdisziplinären Institutes für lebenswerte und umweltgerechte Stadtentwicklung; ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Partizipation und Demokratisierung Sozialer Arbeit, Nutzer_innenforschung, Sozialraumbezogene Soziale Arbeit und interdisziplinäre Stadtentwicklung.

Teil I Integration im Sozialraum: Ausgewählte theoretische Zugänge und Grundlagen

‚2015‘ einordnen: Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik als Asylland Jochen Oltmer

Zusammenfassung

Der 1948/49 geschaffene Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes bot mit der Formulierung »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« ein im internationalen Vergleich weitreichendes Grundrecht auf dauerhaften Schutz: Darauf habe jede und jeder politisch Verfolgte, die oder der nach Westdeutschland komme, ohne Einschränkungen einen verfassungsrechtlich einklagbaren Anspruch. Der Beitrag zielt darauf, das gesellschaftliche Aushandeln um die Aufnahme bzw. NichtAufnahme von Schutzsuchenden in der Bundesrepublik Deutschland von Ende der 1940er Jahre bis in die Gegenwart herauszuarbeiten. Auf dieser Basis soll es gelingen, die Konstellationen und Debatten im Kontext der vermehrten Zahl der Asylanträge seit Anfang der 2010er Jahre (vielfach eingeordnet als Chiffre ›2015‹) nachzuvollziehen und in eine längere Linie des Wandels im gesellschaftlichen Umgang mit den Themen Flucht und Asyl einzuordnen. Schlüsselwörter

Asyl · Flucht · Flüchtlingspolitik · Schutzsuchende · Migration · Aushandlung

›Flüchtlinge‹ sind laut der 1951 verabschiedeten Genfer Flüchtlingskonvention jene Migrant_innen, die vor Gewalt über Staatsgrenzen ausweichen, weil ihr

J. Oltmer (*)  Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_2

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Leben, ihre körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Rechte direkt oder sicher erwartbar bedroht sind. Beinahe 150 Staaten haben die Konvention seither unterzeichnet und sich verpflichtet, Schutzsuchende dann anzuerkennen, wenn diese eine Verfolgung wegen »ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung« nachweisen können (Abkommen 1951; umfangreiche Kommentierung: Zimmermann 2011). Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde entwickelt, um einen Rechtsrahmen für den Umgang mit der Gewaltmigration (Oltmer 2019) in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu finden. Sie war deshalb zunächst weder auf globale Fluchtbewegungen ausgerichtet noch auf die Zukunft. Eine Erweiterung der Konvention über europäische Schutzsuchende und Fluchtbewegungen jenseits des Jahres 1949 erfolgte erst 1967 im Kontext der weitreichenden Kämpfe um die Ablösung der europäischen Kolonialherrschaft, die Millionen von Schutzsuchenden produzierten. Das heißt: Europa bildete im 20. Jahrhundert lange das Hauptproblem der internationalen politischen Bemühungen zum Thema Flucht – Europa als Kriegsschauplatz und Europa als Träger eines weltumspannenden Kolonialismus (Oltmer 2017). 1948 schrieb die ›Allgemeine Erklärung der Menschenrechte‹ der Vereinten Nationen erstmals ein individuelles Asylrecht fest. Artikel 14, Absatz 1 lautet: »Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.« (Resolution 217 A, 1948) Nur selten allerdings wurde diese Formel in nationales Recht überführt. Eine Ausnahme bildete die Bundesrepublik Deutschland (Keßler 2010). Der 1948/49 geschaffene Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes bot mit der Formulierung »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« ein im internationalen Vergleich weitreichendes Grundrecht auf dauerhaften Schutz: Darauf habe jede und jeder politisch Verfolgte, die oder der nach Westdeutschland komme, ohne Einschränkungen einen verfassungsrechtlich einklagbaren Anspruch.1 Das in den Diskussionen des Parlamentarischen Rates 1948/49 entwickelte Asylgrundrecht bildete eine Reaktion auf die vor allem rassistisch motivierten Austreibungen aus dem Deutschland des ›Dritten Reichs‹ und markierte damit eine symbolische Distanzierung von der nationalsozialistischen Vergangenheit (Schneider 1992). Darüber hinaus demonstrierte es gegenüber den drei westlichen Besatzungsmächten die Anerkennung der nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem bei der Gründung der Vereinten Nationen festgeschriebenen m ­ enschenrechtlichen

1Überblickend

Poutrus 2018.

hierzu und zum Folgenden: Klausmeier 1984; Wolken 1988; Münch 1993;

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Regelungen. Noch stärker bestimmend aber war ein weiterer Aspekt: Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates gingen davon aus, dass der größte Teil derjenigen, die das Asylrecht im Westen in Anspruch nehmen könnten, aus der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland, der späteren DDR, käme. Jede Präzisierung des Asylartikels aber müsse zu unerwünschten Beschränkungen der Möglichkeit ihrer Aufnahme führen. Die Konkurrenz der politischen Systeme in Ost und West im Kontext des ›Kalten Krieges‹ und die bevorstehende Teilung Deutschlands bildeten mithin zentrale Hintergründe für die Formulierung eines Grundrechts auf Asyl. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, wesentliche Elemente des gesellschaft­ lichen Aushandelns in der Bundesrepublik um die Aufnahme bzw. ­Nicht-Aufnahme von Schutzsuchenden vor dem Hintergrund des Wandels der Migrationssituation herauszuarbeiten. Auf diese Weise soll es gelingen, die Konstellationen und Debatten im Kontext der vermehrten Zahl der Asylanträge seit Anfang der 2010er Jahre (vielfach eingeordnet als Chiffre ›2015‹) nachzuvollziehen und in eine längere Linie des Wandels im gesellschaftlichen Umgang mit den Themen Flucht und Asyl einzuordnen.

1 Von Beginn an umstritten: Asyl in der Praxis von den 1950er bis zu den 1970er Jahren Weil das Grundgesetz den Tatbestand der ›politischen Verfolgung‹ nicht näher definierte, ergab sich in den folgenden Jahrzehnten und bis heute ein konfliktreicher Prozess des dauernden Neudefinierens dessen, was das Politische ist und welche Form und Reichweite die Verfolgung zu gewärtigen hat. In den 1950er Jahren vertrat die Bundesregierung auch international die Auffassung, der junge westdeutsche Staat könne insbesondere angesichts Millionen deutscher Vertriebener aus dem Osten von 1945 bis 1949 und der starken Zuwanderung aus der DDR nicht auch noch Schutzsuchende aus dem Ausland aufnehmen (hierzu und zum Folgenden: Poutrus 2009). Tendenzen der Öffnung ergaben sich erst mit den Ereignissen in Ungarn 1956. In Westdeutschland wurden die dortigen revolutionären Ereignisse mit großer Sympathie verfolgt. Nach der Niederschlagung durch die sowjetische Rote Armee wichen rund 225.000 Ungar_innen über die österreichische und zu einem kleineren Teil über die jugoslawische Grenze aus. Allenthalben gab es Solidaritätsbekundungen für die im Westen als Freiheitskämpfer_innen verstandenen Schutzsuchenden im Kontext einer sich verschärfenden Blockkonfrontation im ›Kalten Krieg‹. Die ungarischen Zugewanderten galten vielen als Verbündete im

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Kampf gegen den Kommunismus, denen jede Unterstützung zuteilwerden müsse. Drei Wochen nach dem Beginn der militärischen Operationen der Roten Armee beschloss das Bundeskabinett die Aufnahme von 10.000 Ungar_innen. Die asylpolitische Öffnung erstreckte sich darüber hinaus auf Hilfen zur Integration: Dazu zählte nicht nur die Unterstützung bei der Suche nach Wohnungen sowie die Einrichtung von Sprachkursen, sondern auch Kredite zur Existenzgründung und Leistungen für jene, die nicht erwerbsfähig waren. Dass die Hilfen relativ großzügig ausfielen, lag auch an der günstigen Situation des westdeutschen Arbeitsmarkts, der sich rasch der Vollbeschäftigung näherte und auf zusätzliche Arbeitskräfte angewiesen war. Insgesamt übertraf die Zahl der aufgenommenen Ungar_innen noch die Ende November 1956 vom Bundeskabinett beschlossenen 10.000 und erreichte schließlich rund 16.000. Nach den USA (80.000), Kanada (37.000), Großbritannien (22.000) und Österreich (18.000) zählte damit die Bundesrepublik zu den wichtigsten Aufnahmestaaten (Doesschate 2010; Poutrus 2016, S. 874–879). Dennoch sollte das Gewicht der Bundesrepublik als Asylland nicht überschätzt werden, denn in den zwanzig Jahren von der Staatsgründung 1949 bis 1968 beantragten nur knapp über 70.000 Menschen Asyl. In den ersten dreißig Jahren der Existenz der Bundesrepublik schwankte die Zahl der Asylsuchenden zwischen dem Minimum von rund 2000 im Jahre 1953 und dem Maximum von ca. 51.000 im Jahre 1979. Bis in die 1960er Jahre kamen Schutzsuchende weit überwiegend von jenseits des ›Eisernen Vorhangs‹ aus Ost-, Ostmittelund Südosteuropa: Die jährlichen Anteile von Asylsuchenden aus dem ›Ostblock‹ variierten zwischen 72 und 94 %. Diese Phase kennzeichnete neben der Aufnahme von Schutzsuchenden aus Ungarn die Asylgewährung für rund 4000 Menschen aus der Tschechoslowakei nach dem ›Prager Frühling‹ 1968, die als ein Ausdruck der antikommunistisch motivierten Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik verstanden werden kann (s. Abb. 1). Die Bereitwilligkeit, mit der tschechische und slowakische Asylsuchende aufgenommen wurden, resultierte erneut auch aus dem hohen Arbeitskräftebedarf und der Tatsache, dass sie in aller Regel jung waren sowie über fachliche und akademische Ausbildungen verfügten. Deutlich kontroverser als im Falle der Gewährung von Asyl für Menschen aus den beiden ostmitteleuropäischen Staaten fielen die Debatten über die Aufnahme von Schutzsuchenden nach dem Militärputsch in Griechenland 1967 und in Chile 1973 aus, die sich nicht in das Muster einer antikommunistisch konnotierten Aufnahmepolitik fügen ließen. Dass schließlich trotz der heftigen Kritik weiter Kreise linksgerichteten bzw. kommunistischen griechischen und chilenischen Asylsuchenden in der Bundesrepublik Schutz gewährt wurde, spricht für eine verbreitete Akzeptanz

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Abb. 1   Zahl der Asylsuchenden in der Bundesrepublik Deutschland 1953 bis 1979. (Datenquelle: Lederer 1997, S. 272.)

der Vorstellung, Asyl sei ein universales Menschenrecht und dürfe nicht entlang politischer Einstellungen verhandelt werden. Gerade auch das Engagement zahlreicher Hilfsorganisationen und anderer zivilgesellschaftlicher Akteure trug dazu bei, dass die (beschränkte) Aufnahme von Schutzsuchenden aus Griechenland und Chile überhaupt möglich wurde (allgemein: Poutrus 2016, S. 873–885; zu Chile: Dufner 2014, S. 201–267). Neben sicherheitspolitische und ideologische Bedenken konnten bei der Diskussion um die Flüchtlingsaufnahme auch außenpolitische Rücksicht­ nahmen treten. Das zeigte sich etwa in den innenpolitischen Konflikten um die Aufnahme von Algerier_innen im Kontext des Algerienkrieges, der 1962 zur Unabhängigkeit vom französischen ›Mutterland‹ führte. Ihnen einen Schutzstatus zuzubilligen, glich einem Affront gegenüber dem französischen Verbündeten. Zugleich war die Bundesrepublik aber zu verhindern bemüht, wegen einer strikten Abwehr algerischer Asylgesuche und eines allzu scharfen Vorgehens gegen Algerier_innen in Westdeutschland in den Ruf zu geraten, die höchst umstrittene französische Kolonialpolitik zu unterstützen. Als innenpolitisch konfliktreich erwies sich in den 1960er Jahren auch die Diskussion um die Aufnahme jugoslawischer Staatsangehöriger. Zwischen 1963 und 1966 stellten sie mehr als die Hälfte aller Asylsuchenden. Insbesondere wegen der Kämpfe unterschiedlicher Nationalitätenorganisationen gegeneinander und mit

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dem jugoslawischen Staat galt die Aufnahme als sicherheitspolitisch bedenklich und außenpolitisch riskant. Die asylrechtlichen Bestandteile des neuen Ausländergesetzes von 1965 lösten zwar nicht das Problem der Definition dessen, was ›politische Verfolgung‹ ausmachte, brachten aber eine Vereinheitlichung des Anerkennungsverfahrens: Als Zentralstelle zuständig war nun das ›Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge‹ in Nürnberg-Zirndorf, aus dem 2005 das ›Bundesamt für Migration und Flüchtlinge‹ (BAMF) hervorging. Als für die Zukunft (ebenfalls) von hohem Gewicht erwies sich die Einführung der ›Duldung‹ in den Fällen, in denen der Antrag von Asylbewerbern abgelehnt worden war. Mit der Duldung verbindet sich bis heute zwar nicht das Recht auf einen Aufenthalt, sie bildet aber einen zeitweiligen Schutz vor einer Abschiebung in das Herkunftsland aus politischen oder humanitären Erwägungen der bundesdeutschen Behörden (Schönwälder 1999) – unter allerdings in vielerlei Hinsicht prekären Bedingungen für die Schutzsuchenden. Auch wenn bereits seit den späten 1960er Jahren Teile der bundesdeutschen Administration auf eine Beschränkung des Zugangs zum Asyl drängten und in der medialen sowie politischen Debatte die Stimmen lauter wurden, die von einer zunehmend missbräuchlichen Nutzung des Rechtsinstruments ausgingen, blieb das Grundrecht auf Asyl zunächst noch unangetastet. Mehrere höchstrichterliche Urteile führten vielmehr in den 1970er Jahren zu einer Beseitigung von Barrieren, die die Behörden aufgerichtet hatten, um zu verhindern, dass Schutzsuchende das Asylrecht in Anspruch nahmen. Besondere politische und mediale Aufmerksamkeit erreichten in der Bundesrepublik die südostasiatischen ›boat people‹ Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre (Bösch 2017; Kleinschmidt 2013).

2 Asylpolitische Konflikte der 1980er und 1990er Jahre und die Einschränkung des Asylgrundrechts Die Aufnahme der ›boat people‹ bildete ein Kennzeichen des Bedeutungsgewinns der Zuwanderung von Schutzsuchenden von außerhalb Europas. Seit Anfang der 1970er Jahre war ihre Zahl deutlich angestiegen. Zu Beginn der 1980er Jahre kamen vor dem Hintergrund des Militärputsches in der Türkei, des Systemwechsels im Iran mit der Einrichtung der ›Islamischen Republik‹ sowie der innenpolitischen Konflikte in Polen angesichts des Aufstiegs der Gewerkschaftsbewegung ›Solidarność‹ neue umfangreiche Zuwanderungen hinzu. 1980 überschritt deshalb die Zahl der Asylsuchenden erstmals in der Geschichte

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der Bundesrepublik die Marke von 100.000. Zwar ging der Umfang der Asylzuwanderung zunächst noch wieder zurück, stieg aber ab Mitte der 1980er Jahre wieder an. Hintergrund war nun insbesondere die politische und wirtschaftliche Krise in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Zunächst wuchs die Zahl jener Menschen aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei rasch, die Asyl in Mittel- und Westeuropa beantragten. Bald folgten Asylsuchende aus Südosteuropa (Rumänien, Bulgarien, Albanien). Die Zahl der Asylanträge in der Bundesrepublik wuchs 1988 erneut auf einen Wert von über 100.000, erreichte 1990 rund 190.000 und 1992 schließlich den Höchststand von fast 440.000. Zugleich änderte sich die Zusammensetzung der Gruppe der Asylbewerber_ innen wiederum grundlegend: 1986 waren noch rund 75 % aus dem globalen Süden gekommen. 1993 hingegen stammten 72 % aus Europa (hierzu und zum Folgenden: Bade und Oltmer 2004, S. 86–88, 106–117). In West- und Mitteleuropa bildeten weitreichende und scharf geführte politische und publizistische Diskussionen um mögliche Grenzen der Aufnahmebereitschaft (›Asylantenflut‹, ›Das Boot ist voll‹) und um den vorgeblichen Missbrauch von Asylrechtsregelungen eine erste Reaktion, auf die bald Einschränkungen des Grenzübertritts und des Zugangs zu den Asylverfahren folgten. In der Bundesrepublik setzten neue Versuche, die Asylmigration einzudämmen, 1986 ein: Sie reichten von der Sperre der Einreisewege über die DDR und O ­ st-Berlin durch die Einführung von Anschlussvisa seit Oktober 1986 bis zur Asylrechtsnovelle vom Januar 1987, die unter anderem restriktive Visavorschriften für Reisende aus neun afrikanischen und asiatischen Hauptherkunftsländern von Asylsuchenden umfasste. Diese Reaktionen auf den Anstieg der Asylantragszahlen entsprachen einem längerfristigen Trend, denn je häufiger seit den späten 1970er Jahren das bundesdeutsche Asylrecht in Anspruch genommen worden war, desto stärker wurde es mithilfe gesetzlicher Maßnahmen und Verordnungen eingeschränkt. Während des ›Kalten Krieges‹ bildete die menschenrechtlich begründete Forderung nach einer Aufhebung der Freizügigkeitsbeschränkungen der osteuropäischen Bevölkerung ein Kernelement der Argumentation des Westens. Zugewanderte aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa konnten in der Regel mit einer offenen Aufnahme im Kontext von Asylverfahren in West- und Mitteleuropa rechnen, weil eine Abwanderung aus dem Osten als politisch motivierte ›Abstimmung mit den Füßen‹ zugunsten des Westens verstanden wurde. Auf die Grenzöffnungen 1989/90 und den starken Anstieg der Zuwanderung reagierten die west- und mitteleuropäischen Staaten rasch mit Restriktionen und Abwehrmaßnahmen: Nicht nur die Stabilität der Arbeitsmärkte galt als gefährdet, vielmehr schienen auch vermehrt gesellschaftliche Konflikte zu drohen.

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Zu diesem Zeitpunkt galt die Bundesrepublik längst als ein anerkanntes Mitglied der westlichen Staatenwelt. Sie glaubte nun, anders als zum Zeitpunkt der Formulierung des Asylgrundrechts 1948/49, nicht mehr belegen zu müssen, menschenrechtliche Standards einhalten zu wollen. Die nationalsozialistische Vergangenheit galt zudem als so weit ›bewältigt‹, dass kaum mehr Veranlassung bestand, mit einem offenen Asylrecht symbolische Distanzierung zu demonstrieren. Und die grundlegende innerdeutsche Zielrichtung der Aufnahme von Schutzsuchenden aus der Sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR spielte ohnehin schon lange keine Rolle mehr: Bereits 1951 waren die deutlich ansteigenden Zuwanderungen aus der DDR durch die Einführung des asylähnlichen ›Notaufnahmeverfahrens‹ aus dem Asylrecht herausgenommen worden. Mit der deutschen Vereinigung 1990 verloren die genannten Hintergründe für die Einführung eines weitreichenden Asylrechts endgültig ihre Bedeutung; der Weg zu der lange umstrittenen Grundgesetzänderung, die 1993 schließlich umgesetzt wurde, stand damit offen. Sie erfolgte in einer Konstellation, in der nicht nur die Zahl der Asylsuchenden in der Bundesrepublik wuchs: 1987 war bereits zudem die Zahl der Aussiedler_innen erheblich angestiegen. Sie übersprang 1988 knapp die Marke von 200.000 und erreichte 1990 schließlich fast 400.000. Hinzu kam in Westdeutschland die Zuwanderung aus der späten DDR bzw. aus den Neuen Bundesländern: 1989 erreichten fast 390.000 und 1990 rund 395.000 Menschen das Gebiet der alten Bundesrepublik. Außerdem wurden zeitweilig Hunderttausende Schutzsuchende aus dem Kontext von Krieg und Bürgerkrieg aus dem Raum Ex-Jugoslawiens aufgenommen, denen zwar Schutz gewährt wurde, die aber nicht zum Asylverfahren zugelassen wurden. Die nicht selten scharf polemisch geführte politische und publizistische Debatte um die Reform des Asylrechts Anfang der 1990er Jahre wurde seit Herbst 1991 begleitet von zunehmender Gewalt gegen Migrant_innen durch vornehmlich jugendliche Täter_innen und die Akzeptanz von Gewalt gegen als ›Fremde‹ markierte Menschen durch größere Teile der Gesellschaft, zunächst in den Neuen Bundesländern, dann auch im Westen der Republik (Herbert 2014). Opfer waren anfangs meist Schutzsuchende: In Hoyerswerda wurden im September 1991 Asylsuchende angegriffen, verletzt und schließlich aus ihren Unterkünften vertrieben, in Hünxe im Oktober 1991 zwei Kinder von Asylsuchenden bei einem Brandanschlag schwer verletzt, in Rostock-Lichtenhagen Asylbewerber_innen im August 1992 in ihren brennenden Unterkünften belagert und angegriffen. In Mölln im November 1992 und in Solingen im Mai 1993 schließlich verbrannten nach Anschlägen Mitglieder deutsch-türkischer Familien in ihren Häusern.

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Abb. 2   Zahl der Asylsuchenden in der Bundesrepublik Deutschland 1980 bis 2007. (Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019, S. 13.)

Die Änderung des Grundrechts auf Asyl auf der Basis des im Dezember 1992 vereinbarten ›Asylkompromisses‹ der Regierungskoalition von CDU/ CSU und FDP mit der oppositionellen SPD wurde am 1. Juli 1993 rechtskräftig. Nach dem seither gültigen Artikel 16a des Grundgesetzes hat in aller Regel keine Chance mehr auf Asyl, wer aus ›verfolgungsfreien‹ Ländern stammt oder über so genannte ›sichere Drittstaaten‹ einreist, mit denen Deutschland lückenlos umgeben ist. Asylrechtsreform und verschärfte Grenzkontrollen drückten die Zahl der Asylsuchenden 1993 auf ca. 320.000. 1998 unterschritten sie schließlich wieder die Schwelle von 100.000 und sanken in der Folge weiter (Abb. 2).

3 Globale Fluchtbewegungen der Gegenwart – und die Rolle Deutschlands Die Zahl der vom Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) für die vergangenen drei Jahrzehnte auf Basis der Genfer Flüchtlingskonvention als ›Flüchtlinge‹ definierten Menschen schwankt zwar, allerdings in relativ geringem Maße. Ausmachen lassen sich für die Zeit nach dem Ende des ›Kalten

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Krieges‹ zwei Hochphasen im globalen Fluchtgeschehen: die frühen 1990er Jahre und die zweite Hälfte der 2010er Jahre. Von 1990 bis 1994 lagen die Zahlen zwischen dem Höchststand von 20,5 Mio. 1992 und 18,7 Mio. 1994. Ähnlich hohe Werte wurden wieder Mitte der 2010er Jahre erreicht: 19,5 Mio. 2014 und 21,3 Mio. 2015, dann 25,9 Mio. 2018. Zwischen diesen beiden Hochphasen lagen sie niedriger und erreichten im Zeitraum von 1997 bis 2012 einen Höchstwert von 15,9 Mio. 2007 und die niedrigste Zahl mit 13,5 Mio. 2004. Zu beachten ist freilich, dass der Umfang der Weltbevölkerung von 1990 bis 2015 um 37 % anstieg (von 5,3 auf 7,3 Mrd.), relativ gesehen also die Zahl der vom UNHCR als ›Flüchtlinge‹ gezählten Schutzsuchenden zwischen Anfang der 1990er Jahre und Mitte der 2010er Jahre abnahm. Wesentlich stärker als die Zahl der ›Flüchtlinge‹ veränderte sich die der als ›Binnenvertriebene‹ bezeichneten Menschen (s. Abb. 3). Weil diese Kategorie keine Staatsgrenzen überschreitet, fällt sie nicht in den Regelungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention und auch nicht unter das Mandat des UNHCR. Deshalb sind die UN-Angaben über die Zahl der ›Binnenvertriebenen‹ noch deutlich unsicherer als über die Zahl der Schutzsuchenden, die Grenzen überschritten haben. Auch bei den ›Binnenvertriebenen‹ lässt sich ein Schwerpunkt Anfang der 1990er Jahre ausmachen, 1994 zählte der UNHCR 28 Mio. Während die Zahl der ›Flüchtlinge‹ seit Anfang der 2000er Jahre allerdings ein Tief erreichte, steigt

Abb. 3   Zahl der ›Flüchtlinge‹ und ›Binnenvertriebenen‹ 1989 bis 2015. (Datenquelle: Population Statistics, http://www.unhcr.org.United Nations High Commissioner for Refugees, (31.10.2019))

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jene der ›Binnenvertriebenen‹ seither mehr oder minder kontinuierlich an, von 21,2 Mio. im Jahr 2000 bis auf 40,8 2015 und 41,3 Mio. 2018.2 Flucht ist selten ein linearer Prozess, vielmehr bewegen sich vor der Androhung oder Anwendung von Gewalt ausweichende Menschen meist in Etappen: Häufig lässt sich zunächst ein überstürztes Ausweichen in die nächste Stadt oder einen anderen als sicher erscheinenden Zufluchtsort in der unmittelbaren Nähe ausmachen, dann die Weiterwanderung zu Verwandten und Bekannten in einer benachbarten Region oder einem Nachbarstaat oder das Aufsuchen eines informellen oder regulären Lagers. Muster von (mehrfacher) Rückkehr und erneuter Flucht finden sich ebenfalls häufig. Hintergrund ist dabei nicht nur die Dynamik der sich stets verändernden und verschiebenden Konfliktlinien, sondern auch die Unmöglichkeit, an einem Fluchtort Sicherheit oder Erwerbsoder Versorgungsmöglichkeiten zu finden. Häufig müssen sich Menschen auf Dauer oder auf längere Sicht auf die (prekäre) Existenz als ›Flüchtlinge‹ oder ›Binnenvertriebene‹ einrichten. Flucht ist vor dem Hintergrund nicht selten extrem beschränkter Handlungsmacht der betroffenen Menschen also häufig durch Immobilisierung gekennzeichnet: vor Grenzen oder unüberwindlichen natürlichen Hindernissen, wegen des Mangels an (finanziellen) Ressourcen, aufgrund von migrationspolitischen Maßnahmen, fehlenden Papieren oder gering ausgeprägten Netzwerken. Daher rührt auch das Phänomen der Verstetigung von Lagern mit der Folge einer ›Camp-Urbanisierung‹ und der Entwicklung von ›Camp-Cities‹ mit zum Teil Großstadtcharakter. Ein Großteil der ›Flüchtlinge‹ und ›Binnenvertriebenen‹ weltweit ist immobilisiert, unterliegt in sogenannten ›protracted refugee situations‹ einem (nicht selten prekären) Schutz, hat aber zum Teil durch die Unterbindung von Bewegung Handlungsmacht eingebüßt und ist extrem sozial verletzlich. Größere Fluchtdistanzen sind relativ selten, weil finanzielle Mittel dafür fehlen und Transit- oder Zielländer die Migration behindern. Da ein Großteil der Schutzsuchenden zudem nach einer raschen Rückkehr strebt, suchen sie ohnehin in aller Regel Sicherheit in der Nähe der überwiegend im globalen Süden liegenden Herkunftsregionen. 80 % aller als vom UNHCR als ›Flüchtlinge‹ klassifizierten Menschen lebten 2018 in einem ihrem Heimatland benachbarten Staat. Angesichts dessen überrascht es nicht, dass Staaten des globalen Südens

2Permanent

aktualisierte statistische Angaben zur globalen Flüchtlingsfrage: UNHCR, Population Statistics, http://www.unhcr.org (31.12.2019).

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Abb. 4   Zahl der Asylsuchenden in der Bundesrepublik Deutschland 2011 bis 2015. (Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019, S. 13)

2018 nicht weniger als 86 % aller weltweit registrierten ›Flüchtlinge‹ und 99 % aller ›Binnenvertriebenen‹ beherbergten – mit seit Jahren steigender Tendenz im Vergleich zum Anteil des globalen Nordens, hatte doch der Anteil der ärmeren Länder an den ›Flüchtlingen‹ weltweit 2003 lediglich bei 70 % gelegen.3 Vornehmlich der globale Süden ist also von der Zunahme der weltweiten Zahl der ›Flüchtlinge‹ und ›Binnenvertriebenen‹ seit Anfang der 2010er Jahre betroffen. Obgleich bis 2015 weltweit die Zahl der ›Flüchtlinge‹ im Vergleich zur Zahl der ›Binnenvertriebenen‹ nicht übermäßig stark angestiegen war, lässt sich beobachten, dass Europa und insbesondere die Bundesrepublik Deutschland in der ersten Hälfte der 2010er Jahre deutlich vermehrt zum Ziel globaler Fluchtbewegungen geworden sind (s. Abb. 4). Warum? Sechs Elemente eines komplexen Zusammenhangs seien hier skizziert. Die Reihenfolge der Argumente repräsentiert keine Hierarchie, alle genannten Faktoren stehen in einem unmittelbaren Wechselverhältnis zueinander: 1. Finanzielle Mittel: Unzählige Studien belegen, dass Armut die Bewegungsfähigkeit massiv einschränkt, ein Großteil der Menschheit kann sich eine Migration über weite Distanzen nicht leisten (Haas 2008). In der ersten Hälfte

3Permanent

aktualisierte statistische Angaben zur globalen Flüchtlingsfrage: UNHCR, Statistics Catalogue, http://www.unhcr.org.

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der 2010er Jahre aber lagen wichtige Herkunftsländer von Asylsuchenden in der EU in relativer geografischer Nähe (Syrien, Südosteuropa). Die Kosten für das Unternehmen Flucht von dort hielten sich mithin in Grenzen – zumindest im Vergleich zu Bewegungen aus anderen globalen Konfliktherden etwa in West- oder Ostafrika, oder Lateinamerika, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten selten Europa erreichten. Hinzu trat, dass mit der Türkei auch das wichtigste Erstziel des Großteils syrischer Schutzsuchender unmittelbar an EU-Länder grenzt – und zugleich vor dem Hintergrund der mehr als drei Millionen Schutzsuchenden im Land, eines prekären Aufenthaltsstatus und beschränkter Möglichkeiten des Zugangs zu Bildung und zum regulären Arbeitsmarkt nur geringe Zukunftsperspektiven zu bieten schien. 2. Netzwerke: Migration findet vornehmlich in Netzwerken statt, die durch Verwandtschaft und Bekanntschaft konstituiert sind. Deutschland war Mitte der 2010er Jahre auch deshalb zum wichtigsten europäischen Ziel von Asylsuchenden geworden, weil es hier seit längerem recht umfangreiche Herkunftskollektive gab, die für Menschen, die vor Krieg, Bürgerkrieg und Maßnahmen autoritärer Systeme auswichen, zentrale Anlaufstationen bildeten. Das galt nicht nur für Menschen aus Syrien und Südosteuropa, sondern auch für solche aus dem Irak, Afghanistan und Eritrea. Und weil migrantische Netzwerke die Wahrscheinlichkeit für weitere Migration erhöhen, hat die Zuwanderung von Asylsuchenden in die Bundesrepublik die insbesondere 2014 bis 2016 zu beobachtende Dynamik gewonnen. 3. Aufnahmeperspektiven: Staaten entscheiden mit weiten Ermessensspielräumen über die Aufnahme von Migrant_innen und den Status jener, die als ›Flüchtlinge‹ anerkannt werden. Die Bereitschaft, Schutz zu gewähren, bildet immer ein Ergebnis vielschichtiger Prozesse des Aushandelns durch Individuen, Kollektive und (staatliche) Institutionen, deren Beziehungen, Interessen und Kategorisierungspraktiken sich stets wandeln. Mit der permanenten Veränderung der politischen, administrativen, publizistischen, wissenschaftlichen und öffentlichen Wahrnehmung von Migration verbindet sich ein Wandel im Blick auf die Frage, wer unter welchen Umständen als ›Flüchtling‹ verstanden und wem in welchem Ausmaß und mit welcher Dauer Schutz oder Asyl zugebilligt wird (Oltmer 2018). In den frühen 2010er Jahren und bis weit in das Jahr 2015 hinein ließ sich eine relativ große Aufnahmebereitschaft in der Bundesrepublik Deutschland beobachten. Verantwortlich dafür war eine auch vor dem Hintergrund der günstigen Situation von Wirtschaft und Arbeitsmarkt positive Zukunftserwartung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Die seit Jahren laufende breite Diskussion um den Fachkräftemangel und demografische Veränderungen führte ebenso zu einer Öffnung wie die Akzeptanz menschenrechtlicher Standards und

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die Anerkennung des Erfordernisses des Schutzes vornehmlich von Menschen aus Syrien, aus der auch eine große Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement resultierte. 4. Aufhebung von Migrationsbarrieren: Seit den 1990er Jahren hat die EU ein System zur Abwehr von Fluchtbewegungen aufgebaut. Eine vielgestaltige europäische migrationspolitische Zusammenarbeit mit Staaten wie Libyen, Ägypten, Tunesien, Marokko, Albanien oder der Ukraine verhinderte seither weitgehend, dass potenzielle Asylsuchende die Grenzen der EU erreichen konnten (Geiger und Pécoud (Hg.) 2012; Walton-Roberts und Hennebry (Hg.) 2014; Gammeltoft-Hansen 2011). Diese EU-Vorfeldsicherung ist aufgrund der Destabilisierung diverser Staaten am Rand der EU (unter anderem im Kontext des ›Arabischen Frühlings‹, aber auch des Ukraine-Konflikts) zusammengebrochen. Der Zerfall der politischen Systeme war eng verbunden mit den tief greifenden Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008, die die gesellschaftlichen Konflikte in zahlreichen EU-Anrainerstaaten verschärfte, die staatlichen Handlungsmöglichkeiten beschnitt sowie die Bereitschaft und Reichweite einer Zusammenarbeit mit der EU minimierte. 5. Auflösung des ›Dublin-Systems‹: Die Weltwirtschaftskrise wirkte nicht nur auf den äußeren Ring der Vorfeldsicherung gegen die Zuwanderung von Schutzsuchenden jenseits der Grenzen der EU, sondern auch in den inneren Ring hinein. Das seit den frühen 1990er Jahren entwickelte ›Dublin-System‹ führte zu einer Abschließung der EU-Kernstaaten und insbesondere Deutschlands gegen weltweite Fluchtbewegungen, indem es die Verantwortung für die Durchführung eines Asylverfahrens jenen europäischen Staaten überließ, in die Antragstellende zuerst eingereist waren (Lavenex 2001). Das konnten nur Staaten an der EU-Außengrenze sein. Lange funktionierte das System, insbesondere deshalb, weil die Zahl der Schutzsuchenden, die europäische Grenzen erreichten, seit Mitte der 1990er Jahre relativ niedrig lag. Aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise und im Kontext des Anstiegs der Zahl der Asylsuchenden aber waren diverse europäische Grenzstaaten, vornehmlich Griechenland und Italien, immer weniger bereit und in der Lage, die ungleich verteilten Verantwortlichkeiten des ›Dublin-Systems‹ zu tragen, die Schutzsuchenden zu registrieren und in das ­ jeweilige nationale Asylverfahren zu fügen. 6. Die Bundesrepublik als ›Ersatz-Zufluchtsland‹: Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise führte innerhalb der EU dazu, dass die Bereitschaft traditionsreicher und gewichtiger Asylländer wie etwa Frankreich oder Großbritannien erheblich sank, Schutz zu gewähren. In diesem Kontext wurde die Bundesrepublik 2015 gewissermaßen ein Ersatz-Zufluchtsland und damit zu einem neuen Ziel im globalen Fluchtgeschehen.

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4 Schluss Die globale Flüchtlingsfrage ist erst mit der deutlich vermehrten Zahl von Schutzsuchenden 2015 Gegenstand intensiver Diskussionen in Deutschland und Europa geworden – zuvor war das selten der Fall, nicht zuletzt, weil das System der Absicherung vor einer Zuwanderung von Asylsuchenden der EU über viele Jahre zu funktionieren schien. Die Vergemeinschaftung einer Asylpolitik ist bereits seit Jahren Teil der EU-Agenda. Einige wesentliche Vereinbarungen konnten vor allem 2004/05 getroffen werden – just in einer Phase geringer Asylantragszahlen: Mindeststandards für die Aufnahme und Versorgung von Asylsuchenden sowie Verfahrensgarantien und Regelungen zum subsidiären Schutz. Der Rahmen aber muss als fragmentiert bezeichnet werden, gewissermaßen ein in den Anfängen steckengebliebenes Projekt (Bendel 2015; Bendel 2017). Was ›politische Verfolgung‹ ist und wem Asyl gewährt werden kann, war von Beginn der Geschichte der Bundesrepublik an umstritten. Dennoch ergaben sich – und zwar bis in die jüngste Vergangenheit – mehrfach politische und gesellschaftliche Konstellationen, in denen die Aufnahme einzelner Fluchtbewegungen mit einem relativ breiten Konsens gefordert, begrüßt und mit einem hohen zivilgesellschaftlichen Engagement ermöglicht wurde. Dennoch fielen Asylsuchende immer wieder unter den Generalverdacht einer potenziellen Belastung und Bedrohung für Sicherheit, wirtschaftliche Prosperität, soziale Systeme oder spezifische kulturelle und politische Werte einer als homogen vorgestellten Gesellschaft. Insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren wurden viele der Wege geschlossen, die Zugang zum Asyl in der Bundesrepublik boten. Auch die Geschichte der Migrationspolitik der Europäischen Gemeinschaft bzw. Europäischen Union verweist auf diese restriktive Komponente, beschränkte sich die Kooperation der Mitgliedstaaten bislang doch ganz wesentlich auf die Entwicklung von restriktiven Regeln für eine gemeinsame Grenz- und Visapolitik sowie die Zusammenarbeit zur Begrenzung der Asylzuwanderung.

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Jochen Oltmer,  ist apl. Professor für Migrationsgeschichte und Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Er arbeitet zu deutschen, europäischen und globalen Migrationsverhältnissen in Vergangenheit und Gegenwart.

Migration und Flucht – Theoretische Ansätze und aktuelle Entwicklungen Axel Kreienbrink

Zusammenfassung

Der Beitrag gibt einen Überblick zu theoretischen Ansätzen im Bereich Migration und Flucht und ihre Entwicklung in den letzten Jahrzehnten. Dabei geht es einerseits um Versuche, die Ursachen und Motive für Migration zu fassen und andererseits um die individuelle Ebene der Migrant_innen und ihre Entscheidungsprozesse. Diese sind im Grundsatz jeweils auch für Rückkehrund Fluchtmigrationen anwendbar. Weiterhin werden Definitionen vorgestellt, die der statistischen Erfassung von Migration dienen. Darauf aufbauend werden die aktuellen Zahlen zu Flucht und Migration auf weltweiter Ebene, in der Europäischen Union und für Deutschland vorgestellt. Schlüsselwörter

Migration · Flucht · Rückkehr · Migrationstheorie · Migrationsursachen · Migrationsentscheidungen · Migrationsstatistik · UN · EU · Deutschland

Der Beitrag ist eine umfassend überarbeitete Version von Kreienbrink (2017).

A. Kreienbrink (*)  Forschungszentrum Migration, Integration und Asyl, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_3

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1 Theoretische Ansätze zur Entstehung von Migration und Flucht Migration ist ein Topthema der letzten Jahre – zumindest in Deutschland und anderen europäischen Staaten (Glorius 2018). Dabei schwingt in der Diskussion regelmäßig mit, dass Migration erklärungsbedürftig sei, weil Sesshaftigkeit an sich die Norm und Migration die Abweichung darstelle – zumal wenn sie aus nichteuropäischen Staaten kommt. Dabei wird regelmäßig ausgeblendet, dass auch Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein Land gewesen ist, das Millionen Menschen aus ökonomischen Gründen verlassen haben (Bade 1985). Auch wenn Migration als ein Teil der „conditio humana“ (Bade 2000, S. 11) verstanden werden kann, wird immer wieder die Frage gestellt, warum sich Menschen auf den Weg machen. Seit den ersten theoretischen Überlegungen zu Migration (Ravenstein 1885, 1889) haben die Bemühungen, Migration zu erklären, umfangreiche Forschungen hervorgebracht (vgl. überblickend u. a. Treibel 2011, S. 39–44; Oswald 2007, S. 65–91; Brettell und Hollifield 2008). Dabei ist eine Vielzahl an Konzeptionen entwickelt worden, um Migrationsprozesse analytisch fassen zu können. Grob wird dabei zwischen Ursachen und Motiven unterschieden. Ursachen sind zu verstehen als strukturelle Rahmen- und Umweltbedingungen, die Migration ermöglichen und – einmal begonnen – weiter befördern (vgl. Massey et al. 1998). Motive stellen die individuellen Reaktionen der Menschen auf diese Bedingungen dar. Bei vielen Ansätzen standen anfangs vor allem die sozioökonomischen Bedingungen im Mittelpunkt. Erklärungsmodelle wurden entsprechend ökonomischen Theorien als „Push- und Pull“-Modelle (Lee 1966) konstruiert, also als Funktion aus Abstoßung und Anziehung. Bei dieser schematischen Modellierung wurde die Ursache von Migration – zumindest in den vereinfachten Modellen – als Ausgleich von Angebot und Nachfrage von Arbeitskräften verstanden. Dabei wurde die Annahme zugrunde gelegt, dass Migrant_innen, die ihre Lebenssituation verbessern wollen (in Bezug auf Arbeit und Einkommen), ökonomisch rational handeln würden. Eine solche schematische Modellierung reicht aber nicht aus, da sie nicht berücksichtigt, dass viele Wanderungsentscheidungen nicht ökonomisch rational getroffen werden, sondern anderen sozialen Dynamiken unterliegen. Zudem kann sie nicht erklären, warum die Mehrheit der Menschen unter ähnlichen Rahmenbedingungen am Ort bleibt und nicht wandert (Schewel 2019). Daher wurden die theoretischen Modelle immer weiter ausdifferenziert. Zusätzliche Faktoren wurden einbezogen wie Alter, Beruf, Arbeitslosigkeit

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im Herkunftsland, die Einbindung potenzieller Migrant_innen in Familien bzw. in Haushalte, Reisekosten, Rücküberweisungen an die Familie, soziale oder kulturelle Normen oder Zuwanderungspolitik von Zielländern inklusive der Formen ihrer Entwicklung und Durchsetzung (vgl. Massey 2015). In den gegenwärtigen migrationstheoretischen Debatten werden diese Punkte als Determinanten (de Haas 2011) oder Treiber („drivers“) der Migration (Carling und Talleras 2016) diskutiert und weiter ausdifferenziert. Aktuelle Theorieansätze machen unter anderem deutlich, dass in der heutigen international vernetzten Welt, in der Entfernungen, Reisemöglichkeiten und -kosten nur noch eine untergeordnete Rolle spielen, die Bedeutung sozialer Netzwerke und kultureller Bindungen oft ausschlaggebender ist als ökonomische Erwägungen. Insbesondere die Wahl des Ziellandes, der Zielregion oder noch konkreter eines bestimmten Ortes ist stark bestimmt davon, ob dort Ankerpunkte in Form einer Diaspora vorhanden sind, die sich als wichtig für die Informationsgewinnung vor der Migration und die Unterstützung nach der Ankunft erweisen. Damit einhergehend lösen sich theoretische Modelle von der Fixierung auf nur ein Herkunfts- und Zielland (Stichwort „methodologischer Nationalismus“), sondern betrachten Migration stattdessen als ein transnationales Phänomen, das innerhalb grenzüberschreitender multi-lokal organisierter Netzwerke stattfindet (z. B. Wimmer und Glick Schiller 2002; Faist 2000). Auf die Ebene des einzelnen Migranten oder der Migrantin bezogen, geht es um den individuellen Umgang mit den Ursachen, Determinanten oder Treibern, der schließlich zu einer Migrationsentscheidung führt. Dabei gibt es kein fest gefügtes Set von Migrationsgründen, das eine fixe Entscheidung produziert. Die Entscheidung für eine Migration ist in der Regel das Ergebnis eines länger andauernden Prozesses, in dem allgemeine Vorstellungen nach und nach konkrete Gestalt annehmen und sich zu einer festen Motivation und dann zu einer Entscheidung entwickeln. Die Entwicklung von Migrationswünschen („aspirations“) wird dabei beeinflusst von individuellen Aspekten wie Geschlecht, Generation, Klasse, Ethnizität (Van Hear et al. 2018, S. 933). Die Phasen solcher Entscheidungsprozesse können modellhaft wie folgt umrissen werden: • Subjektive Wahrnehmung äußerer Umstände, die Unzufriedenheit oder Unsicherheit in Bezug auf die eigenen Lebenswünsche entstehen lassen und einen Wunsch nach Veränderung mit sich bringen. Das können instrumentelle (z. B. wirtschaftliche Verbesserung) oder intrinsische Gründe (z. B. die Welt sehen wollen) sein.

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• Gedankliche Auseinandersetzung mit Migration als einer möglichen Lösung zur Verbesserung der eigenen Situation und Entwicklung eines Migrationswunsches („migration aspiration“). • Einholen und Bewerten von Informationen über einen potenziellen Zielort und die Möglichkeiten, diesen zu erreichen. Hierbei spielen sowohl die Verfügbarkeit von Migrationsinfrastrukturen (Xiang und Lindquist 2014) als auch von Informationen eine Rolle. Informationen, die aus familiären oder Freundesnetzwerken stammen, werden dabei in der Regel als verlässlicher eingeschätzt als öffentliche und offizielle Informationen. • Unter Berücksichtigung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten Entwicklung einer Bereitschaft, tatsächlich zu gehen. • Treffen einer Migrationsentscheidung. Diese wird oft nicht allein getroffen, sondern im Kontext der Familie bzw. des Haushalts, zumal wenn die Migration der Einkommensdiversifizierung der Familie dienen soll und durch diese materiell ermöglicht wird (dieser Entscheidung folgt dann die Akkumulation finanzieller Ressourcen, um die Reise zu finanzieren). • Umsetzung der Migrationsentscheidung in tatsächliche Migration, abhängig von Ressourcen und Möglichkeiten. Ein solcher Prozess der Entscheidungsfindung ist nicht deterministisch zu verstehen. Vielmehr kann in Abhängigkeit von den eigenen Wünschen und Möglichkeiten in den verschiedenen Phasen auch eine (ggf. nur zeitweise) Entscheidung für das Verbleiben am Ort die Alternative sein (vgl. Carling 2017). Dies kann z. B. geschehen durch das Verändern der eigenen Lebensumstände oder den Versuch, vor Ort einen sozialen Wandel mit zu befördern. Carling (2017) ergänzt, dass die Migration, die der Migrationsentscheidung folgt, nicht zwingend erfolgreich sein muss. Dies kann durch Tod, Gefangennahme auf dem Weg oder Umkehr gegen den eigenen Willen geschehen. Außerdem kann es neben der bewussten Entscheidung zum Verbleiben am Ort auch zu unfreiwilliger Immobilität kommen, wenn man trotz des Wunsches nicht in der Lage ist zu gehen (s. auch Schewel 2019). Da ein solcher Entscheidungsprozess für jede Form der Migration gilt, lässt er sich auch auf Entscheidungen für eine Rückkehrmigration übertragen. Zu den Faktoren, die bei einer Rückkehrentscheidung abgewogen werden, gehören z. B. auf der strukturellen Ebene die Bedingungen im Ziel- und im Herkunftsland sowie individuelle Bedingungen wie Alter, Geschlecht, Gesundheit, finanzielle und berufliche Situation, familiäre Verpflichtungen im Ziel- und im Herkunftsland, die bisherigen Möglichkeiten, Ressourcenakkumulation für die Rückkehr (finanziell wie sozial, z. B. Qualifikationen) zu betreiben, ggf. angebotene

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Anreize wie Reintegrationsmöglichkeiten sowie der Grad der Vorbereitung (vgl. Black et al. 2004; Cassarino 2004; Currle 2006; Baraulina und Kreienbrink 2013). Ebenso gelten die aufgezeigten Mechanismen für Fluchtmigration. Zwar wird in der Diskussion immer wieder zwischen freiwilliger und erzwungener Migration unterschieden, aber diese Trennung basiert auf politischen und juristischen Erwägungen. Sie folgt den Praxen der Migrationssteuerung, die Migrant_innen in bürokratische Kategorien einteilt (Asylsuchende, Flüchtlinge, Arbeitsmigrant_innen, Nachziehende im Familiennachzug, internationale Studierende), und den rechtlichen Definitionen von Flüchtlingen (vgl. Bakewell 2008). Auf einer analytischen Ebene jedoch stellen freiwillige und erzwungene Migration keine Dichotomie dar, sondern eine Spannbreite an Erfahrungen und unterschiedlichen Möglichkeiten, den Migrationswunsch umsetzen zu können (Erdal und Oeppen 2018), denn auch, wenn Menschen vor Krieg, Bürgerkrieg, Gewalt und Terror fliehen, treffen sie aktiv Entscheidungen. Selbst wenn, wie Treibel (2011, S. 168) schreibt, Fluchtbewegungen in den Medien oft „als Ereignisse [erscheinen], die von Irrationalität, Desorganisation, Anonymität und Panik geprägt sind“, und Flucht „als etwas Schicksalhaftes, Naturgegebenes, einer Naturkatastrophe [V]ergleichbar[es]“, sind flüchtende Menschen dennoch „Akteure und nicht nur […] Getriebene ohne eigene Entscheidungsmöglichkeiten“. Nicht alle Menschen einer Region fliehen, nicht alle fliehen in die gleiche Richtung, nicht alle über die gleiche Distanz. Eine Flucht kann über mehrere Etappen stattfinden, über kurze oder lange Zeiträume. Nicht alle Migrationsetappen müssen dabei tatsächlich eine Flucht gewesen sein, sondern können entsprechend den individuellen Entscheidungen ebenso unter andere Kategorisierungen fallen (vgl. Bitterwolf et al. 2016). Und auch eine Flucht, v. a. über weitere Distanzen, muss man sich leisten und bezahlen können. Für die Wahl eines Fluchtzieles, wie z. B. Deutschland, spielen letztlich eine Vielzahl von Faktoren, verfügbaren Informationen, Kontakten, Netzwerken etc. eine Rolle (vgl. Scholz 2013).

2 Definitionen von Migration und ihre Erfassung Die Frage, was genau Migration ist, hängt eng mit Erwägungen zu ihrer Erfassung zusammen. Viele Autor_innen haben sich an Definitionen versucht, die ganz allgemein von einer „Ortsveränderung“ über den „Wechsel des Wohnsitzes“ bis hin zu einem Leben außerhalb des eigenen Herkunftslandes reichen. Dazu kommt der Aspekt der Dauerhaftigkeit, damit Migration abgegrenzt werden kann von temporären räumlichen Veränderungen wie Reisen, Tourismus, Pilgern,

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Pendeln oder Nomadismus. Wie oben dargelegt, spielt der Grad der Freiwilligkeit der räumlichen Veränderungen dabei zunächst keine Rolle, sodass auch Flucht und Vertreibung unter Migration zu fassen sind (zusammenfassend Treibel 2011, S. 19).1 Zur Kategorisierung lassen sich entlang verschiedener Dimensionen Typologien bilden. In der Dimension Raum kann zwischen Binnenmigration oder internationaler, grenzüberschreitender Migration differenziert werden. Unter dem Aspekt Zeit kann Migration zeitlich begrenzt (temporär) oder dauerhaft sein. Blickt man dagegen auf vermeintliche Migrationsursachen, werden freiwillige Migration (z. B. Arbeitsmigration, Bildungsmigration, familiär bedingte Migration, Lifestyle-Migration etc.) und unfreiwillige Migration (Flucht, Vertreibung) unterschieden (Treibel 2011, S. 20). Allerdings sind die tatsächlichen Migrationen selten entlang dieser Kategorisierungen klar voneinander zu trennen, vielmehr überlappen sie sich und verändern sich entsprechend den Entscheidungen der Migrant_innen im Zeitverlauf. Um all dies zu berücksichtigen, wird Migration in einer möglichst breiten Definition als „der auf Dauer angelegte bzw. dauerhaft werdende Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen“ betrachtet (Treibel 2011, S. 21). Da in den aktuellen Debatten in der Regel über internationale Migration gesprochen wird, kommt als wesentlicher Faktor noch das Überqueren von Staatsgrenzen hinzu. In den Debatten über Migration spielen häufig Zahlen über ihren Umfang eine Rolle. Doch wie wird Migration statistisch definiert, damit man über längere Zeiträume jeweils identische Vorgänge erfasst, um tatsächlich vergleichbare Zahlen zu gewinnen? Für den globalen Vergleich werden die Daten der Vereinten Nationen herangezogen. Dort wurde 1998 der Versuch einer vereinheitlichten Definition unternommen (UN 1998a). Demnach wird eine Person als „internationaler Migrant“ definiert, wenn sie ihr regelmäßiges Aufenthaltsland verändert. Die Betonung von „regelmäßig“ erfolgt, um kurze Aufenthalte im Ausland, Dienst- oder Pilgerreisen davon abgrenzen zu können. Der Faktor Zeit wird ebenfalls einbezogen, sodass eine Person nur dann als internationale_r Migrant_ in gilt, wenn sie ihr bisheriges regelmäßiges Aufenthaltsland für mindestens ein Jahr verlässt. Verlassen Personen ihr regelmäßiges Aufenthaltsland für weniger als ein Jahr, jedoch mindestens für drei Monate, werden sie als Kurzzeitmigrant_ innen („short-term migrants“) bezeichnet.

1Siehe

auch Brettell und Hollifield 2008; Oswald 2007, Han 2000.

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Neben der Definition von Migrant_innen sind noch die Begriffe Migrantenbestände („migrant stock“) und Migrationsströme („migration flows“) zu unterscheiden. Nach den UN-Empfehlungen wird der Bestand als die Gruppe all jener Personen definiert, die jemals ihr regelmäßiges Aufenthaltsland gewechselt haben. Zur Erfassung wird mit den Kriterien Staatsbürgerschaft („foreigner“) und Geburtsort („foreign born“) gearbeitet. So lassen sich jeweils zu bestimmten Zeitpunkten Bestände bestimmen und über die Zeit betrachtet Veränderungen in diesen Beständen. Als Migrationsstrom („migrant flow“) wird die Anzahl von Migrant_innen bezeichnet, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums (in der Regel ein Jahr) ein Land erreichen (Zuwanderung) oder verlassen (Abwanderung). Die Differenz zwischen beiden bildet den Migrationssaldo eines Landes (Borchers 2008, S. 16 f.). Diese UN-Definitionen sind jedoch nicht in allen Staaten der Welt gleichermaßen umgesetzt. Vielmehr orientieren sich viele Staaten bei ihrer Datenerfassung an ihren administrativen Erfordernissen und Regelungen (Erfassung von An- und Abmeldungen, von erteilten Aufenthalts- oder Arbeitsgenehmigungen, dem Zensus etc.) und errechnen auf dieser Basis dann Migrationsströme und Migrationsbestände (Borchers 2008, S. 24). Die Europäische Union hat die UN-Empfehlung, (Langzeit-)Zuwanderer als Personen zu erfassen, die ihren regelmäßigen Aufenthaltsort für mindestens ein Jahr (bzw. voraussichtlich für mindestens ein Jahr) in ein anderes Land verlegen, mit der Verordnung über Gemeinschaftsstatistiken in den Bereichen Migration und internationaler Schutz (Verordnung (EG) Nr. 862/2007) übernommen. Die entsprechenden Daten werden auch für Deutschland erhoben. Hierzulande wird allerdings zur Erfassung von Migration die amtliche Wanderungsstatistik herangezogen. Diese wird auf Basis der lokalen Melderegister generiert. Zunächst ist also die An- oder Abmeldung (also der Bezug einer Wohnung), unabhängig davon, wie lange der Aufenthalt dauert (aber länger als drei Monate), das relevante Kriterium. „Der Begriff des Zuwanderers (im Sinne des Zugezogenen) impliziert in Deutschland also nicht einen dauerhaften oder längeren Aufenthalt. Oft steht nicht von vornherein fest, ob ein Zuwanderer auf Dauer oder temporär im Land bleibt; dies lässt sich häufig nur im Nachhinein feststellen. Aus einem ursprünglich kurzzeitig geplanten Aufenthalt kann eine dauerhafte Niederlassung im Zielland werden. Asylbewerber wiederum werden grundsätzlich als Zuwanderer betrachtet, auch wenn ihr Aufenthalt teilweise nur von vorübergehender Dauer ist.“ (BMI und BAMF 2016, S. 12). Für den Teilbereich der Migration, der unter Flucht verstanden wird, ist die Definition nicht ohne weiteres eindeutig. Rechtlich wird Flucht vor allem nach

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der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) definiert, wenn sich eine Person aufgrund einer „begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung […] außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder […] sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.“ (GFK Artikel 1A Nr. 2)

Diese Definition gilt jedoch nicht überall gleichermaßen. So weicht z. B. die Definition der Flüchtlingskonvention der Afrikanischen Union davon etwas ab. Die Zahlen, die das Flüchtlingshilfswerk der Vereinen Nationen (UNHCR) in seinen Berichten zu gewaltsamer Vertreibung unter dem Begriff „Flüchtlinge“ präsentiert, beinhalten noch weiter gefasst anerkannte Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention sowie nach der afrikanischen als auch der lateinamerikanischen Konvention, Personen mit komplementären und temporären Schutzformen sowie Menschen in flüchtlingsähnlichen Situationen (UNHCR 2019, S. 63). In Deutschland, das die GFK ratifiziert hat, gilt zudem gemäß Artikel 16a Absatz 1 Grundgesetz, dass politisch verfolgte Ausländer_innen das Recht auf Asyl genießen. Das Asylrecht ist damit in Deutschland als individueller Rechtsanspruch mit Verfassungsrang ausgestaltet, gleichzeitig ist der Flüchtlingsschutz – weil nicht nur auf politische Verfolgung bezogen – weiter ausgestaltet. Früher gingen mit dieser Unterscheidung unterschiedliche Rechtsfolgen einher. Seit dem am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz ist jedoch der Aufenthaltsstatus bei Asylberechtigung bzw. bei Zubilligung internationalen Schutzes nach GFK gleichgestellt (BMI und BAMF 2016, S. 69). Eine Schutz suchende Person, die nicht die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigte oder Flüchtling erfüllt, kann in Deutschland (aber auch der EU) den sogenannten subsidiären Schutz erhalten, wenn sie stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass ihr in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, z. B. Todesstrafe, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person durch staatliche, quasi-staatliche Akteure oder nicht staatliche Akteure (BMI und BAMF 2016, S. 70).

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Umgangssprachlich werden aber auch Personen als Flüchtlinge bezeichnet, die aufgrund anderer Gründe als der in der GFK festgelegten unfreiwillig migrieren, wie z. B. sogenannte Umwelt- oder Klimaflüchtlinge. Bei der Erarbeitung der GFK wurden bewusst Naturkatastrophen und Umweltprobleme aus der Flüchtlingsdefinition herausgelassen, da im Fall von Überflutungen, Erdbeben oder Vulkanausbrüchen eine Flucht nicht auf Nationalität, Religion oder politische Meinung zurückgeht. Daher lehnen Organisationen wie z. B. der UNHCR und die Internationale Organisation für Migration (IOM) den Begriff „Klimaflüchtling“ ab, da sie eine Aufweichung des etablierten Flüchtlingsbegriffs befürchten (Müller et al. 2012, S. 18; Tangermann und Kreienbrink 2019). An diesem Beispiel wird deutlich, dass die in öffentlichen Diskussionen übliche Trennung von Migration (implizit als legale und freiwillige Wanderung verstanden) und Flucht schwierig ist. So kann eine Person, die heute in Deutschland als Flüchtling anerkannt ist, im Laufe ihrer Migrationsbiografie abhängig von Ort und Zeitpunkt sowohl geflohen als auch phasenweise aus wirtschaftlichen Gründen migriert sein (vgl. Bitterwolf et al. 2016). Zudem nutzen viele Migrant_innen unabhängig davon, wie sie im Zielland klassifiziert werden (Flüchtlinge, Asylsuchende, Wirtschaftsmigrant_innen, unbegleitete Minderjährige, Umweltmigrant_innen, Opfer von Menschenhandel etc.) gleiche Migrationsrouten und „Dienstleister“ (z. B. Schleuser, Schlepper). Dabei hängt die Unterscheidung zwischen legaler und illegaler (oder irregulärer) Migration von den jeweiligen Einreise- und Aufenthaltsregelungen in den Transit- und Zielstaaten ab (Sinn et al. 2006, S. 23 f.). Aufgrund solcher Schwierigkeiten in der Abgrenzung (aus der Sicht von Zielstaaten) haben IOM und andere dafür den Begriff der „mixed migration flows“ geprägt.2 Während im Bereich der freiwilligen und legalen Migration die Binnenwanderung, also die Migration innerhalb eines Staats, in der Regel weniger Beachtung findet, geschieht dies im Bereich der Fluchtmigration sehr wohl. Der Fachbegriff lautet hier „intern Vertriebene“ (internally displaced persons, IDPs). Es handelt sich um Personen, die aufgrund von bewaffneten Konflikten, allgemeiner Gewalt, Menschenrechtsverletzungen oder natürlicher oder von Menschen provozierten Umweltkatastrophen geflohen sind und dabei keine internationale Grenze überschritten haben (UN 1998b). Die Fluchtgründe sind also in der Regel die gleichen wie bei grenzüberschreitender Flucht, doch dürften

2Vgl.

2019).

http://www.mixedmigrationhub.org/about/what-mixed-migration-is/ (3. September

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in den meisten Fällen die Möglichkeiten, Fähigkeiten, aber auch die oben angesprochenen individuellen Entscheidungen das Verbleiben im Land erklären (Schewel 2019, S. 10). Während mit der Anerkennung als Flüchtling ein Status mit gewissen Rechten und dem Anspruch auf Schutz verbunden ist, unterliegen IDPs weiter der Jurisdiktion ihres eigenen Staates und genießen keinen spezifischen Schutz – selbst wenn sie ihn benötigen würden.

3 Migration und Flucht in Zahlen – Aktuelle Entwicklungen 3.1 Aktuelle Migration weltweit Nach Angaben der Vereinten Nationen betrug die Zahl internationaler Migrant_ innen 2017 258 Mio. Damit sind Personen gemeint, die in einem Land lebten, das nicht ihr Geburtsland gewesen ist. Auch wenn diese Bestandszahl groß erscheint, entspricht sie bei einer Weltbevölkerung von 7,55 Mrd. Menschen im Jahr 2017 einem Anteil von 3,4 %. Diese Quote ist relativ stabil über die vergangenen Jahrzehnte (z. B. 2000 2,8 %, 2013 3,2 %, 2015 3,3 %). Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Weltbevölkerung beständig wächst, sodass bei einem vergleichbaren relativen Anteil die absolute Zahl ebenfalls steigt. Und die Bevölkerungsprojektionen der UN sehen bis 2030 ein weiteres Wachstum von ca. 1 Mrd. Menschen voraus (UN 2017a, b). Von diesen internationalen Migrant_innen hält sich jeweils ein knappes Drittel in Asien (79,6 Mio.) und in Europa (77,9 Mio.) auf, gefolgt von Nordamerika (57,7 Mio.) und Afrika (24,7 Mio.). Betrachtet nach einzelnen Ländern haben die USA allein fast ein Fünftel aufgenommen (49,8 Mio.), gefolgt von SaudiArabien und Deutschland (jeweils 12,2 Mio.) und der Russischen Föderation (11,7 Mio.). Mit Blick auf die Einkommenssituation der Länder sind die Länder mit hohen Einkommen deutlich eher das Ziel von Migrant_innen als Länder mit mittleren oder niedrigen Volkseinkommen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass es auch erhebliche Migrationsbewegungen zwischen Entwicklungsländern gibt und ebenfalls die Länder mit hohen und mittleren Einkommen im „globalen Süden“ in großem Umfang Migrant_innen aufnehmen (UN 2015a, S. 6). Zudem ist zu beobachten, dass Migration v.  a. ein intraregionales Phänomen ist, der Großteil der internationalen Migrant_innen also in Ländern lebt, die der gleichen Region zugehören, aus denen sie stammen. Im Jahr 2017 sind das in Asien 79,5 %, in Afrika 78,5 %, in Lateinamerika und der Karibik

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64,2 % und in Europa 52,6 %. Lediglich in Nordamerika (2 %) und Ozeanien (13 %) kamen annähernd alle Migrant_innen aus anderen Regionen (UN 2017a, S. 2). Flucht weltweit Nach Angaben des UNHCR hat das Jahr 2017 mit 70,8 Mio. gewaltsam vertriebenen Menschen die höchsten Zahlen seit dem Zweiten Weltkrieg gesehen. Von diesen waren 25,9 Mio. Flüchtlinge (20,4 Mio. Flüchtlinge unter dem Mandat des UNHCR, 5,5 Mio. palästinensische Flüchtlinge unter dem Mandat des UNWRA). Diese Zahl stieg um 2,3 Mio. gegenüber dem Vorjahr. Weitere 41,3 Mio. Personen waren innerhalb ihrer eigenen Heimatländer vertrieben. Betrachtet man nur die Zahlen der Personen unter UNHCR-Mandat, so sind diese seit Jahrzehnten eher mäßigen Schwankungen unterworfen (1992: 20,5 Mio., 2004: 13,5 Mio.). Deutlich stärker zugenommen hat dagegen die interne Vertreibung (z. B. 2000: 21,2 Mio.), wobei jedoch die Zahlenlage vor den 1990er Jahren relativ unsicher ist (Oltmer 2016, S. 129 f.). Zwei Drittel der Flüchtlinge unter UNHCR-Mandat stammen aus nur fünf Herkunftsländern (Syrien 6,7 Mio., Afghanistan 2,7 Mio., Süd-Sudan 2,3 Mio., Myanmar 1,1 Mio., Somalia 0,9 Mio.). Dazu kamen weitere anhaltende Krisenherde der Welt wie im Sudan, in der Demokratischen Republik Kongo, der Zentralafrikanischen Republik, Eritrea oder Burundi. Auch Fluchtbewegungen finden überwiegend intraregional statt. Vier von fünf Geflüchteten befinden sich in einem Nachbarland ihres Herkunftslandes. Entsprechend sind die Staaten, die die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben, die Türkei (3,7 Mio.), Pakistan (1,4 Mio.), Uganda (1,2 Mio.) und der Sudan (1,1 Mio.) Danach folgt durch die starke Aufnahme von Flüchtlingen v. a. in den Jahren 2016 und 2017 Deutschland (1,1 Mio.) (UNHCR 2019).

3.2 Aktuelle Migration in der EU In den Ländern der Europäischen Union (EU) lebten nach Angaben von Eurostat (2019a) am 1. Januar 2018 38,2 Mio. Menschen, die außerhalb der EU-28-Länder geboren worden sind, sowie 21,8 Mio. Menschen, die in einem anderen EU-Land als ihrem Wohnsitzland geboren wurden. Legt man das Kriterium ­ Staatsangehörigkeit an, so lebten in der EU zum 1. Januar 2018 22,3 Mio. Menschen mit einer Staatsangehörigkeit eines sogenannten Drittstaats (4,4 % der ­EU-Bevölkerung) und 17,6 Mio. Menschen mit einer anderen EU-Staatsangehörigkeit als der ihres Wohnsitzlandes.

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In absoluten Zahlen lebten die meisten Ausländer_innen zum 1. Januar 2018 in Deutschland (9,7 Mio.), dem Vereinigten Königreich (6,3 Mio.), Italien (5,1 Mio.), Frankreich (4,7 Mio.) und Spanien (4,6 Mio.). Zusammen entsprach dies 76 % aller Ausländer_innen in den EU-Staaten. In relativen Zahlen war dagegen Luxemburg mit 48 % das Land mit dem höchsten Anteil an Ausländer_ innen. Ebenfalls jeweils mehr als 10 % ausländischer Wohnbevölkerung weisen Länder wie Zypern, Österreich, Estland, Malta, Lettland, Belgien, Irland und Deutschland auf. Die aktuellsten Zahlen über Zu- und Abwanderung in bzw. aus der EU beziehen sich auf 2017 (Eurostat 2019a). Demnach wanderten 4,4  Mio. Menschen in einen der 28 Mitgliedstaaten der EU, während 3,1 Mio. Menschen einen verließen. Diese Zahlen enthalten aber auch die Wanderungen zwischen EU-Staaten. Im Einzelnen waren ca. 2 Mio. der Zuwanderer Bürger_innen von Drittstaaten, ca. 1,3 Mio. EU-Bürger_innen wanderten in einen anderen Mitgliedstaat, der nicht der ihre war, und ca. 1 Mio. EU-Bürger_innen wanderten aus Drittstaaten in ihren Heimatstaat zurück. Deutschland verzeichnete 2017 mit 917.100 Zuwanderer_innen die größte Zuwanderung, gefolgt vom Vereinigten Königreich (644.200), Spanien (532.100) und Frankreich (370.000). Gleichzeitig verließen Deutschland 560.700 Abwanderer_innen, Spanien 368.400, das Vereinigte Königreich 359.700, Frankreich 312.600, Rumänien 242.200 und Polen 218.500. Insgesamt 22 EU-Staaten hatten netto 2017 mehr Zu- als Abwanderung, während in den übrigen Staaten die Abwanderung überwog (Bulgarien, Kroatien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien). Asylsuchende in der EU Nach dem starken Anstieg der Asylbewerberzahlen v. a. 2015 (1,39 Mio.) und 2016 (1,29 Mio.) gehen die Zahlen wieder zurück. 2018 betrug die Zahl 638.000 und damit 10 % weniger als im Vorjahr (712.000) (Eurostat 2019b). Die meisten Asylanträge3 wurden im europäischen Vergleich in Deutschland gestellt (184.180,  −  17  % gegenüber 2017), gefolgt von Frankreich (120.425, + 21  %), Griechenland (66.965, + 14  %), Italien (59.950, − 53  %) und Spanien (54.050, + 47 %). Betrachtet nach Herkunft stammten die meisten Asylantragstellenden 2018 aus Syrien (83.740, − 10 %). An zweiter Stelle standen Personen aus Afghanistan (45.190, -4 %). Weitere Hauptherkunftsländer waren der Irak (44.770, − 14 %), Pakistan (29.055, − 9 %) und Nigeria (25.890, − 37  %).

3https://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/show.do?dataset=migr_asyappctza&lang=en

September 2019).

(3.

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3.3 Aktuelle Migration in Deutschland Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (2019a) lebten Ende 2018 10,1 Mio. ausländische Staatsbürger_innen in Deutschland ( + 4,2 % gegenüber 2017) sowie 72,9 Mio. Deutsche ( − 0,3 %). Der Ausländeranteil erhöhte sich damit von 11,7 % auf 12,2 %. Nach den Wanderungszahlen des Statistischen Bundesamtes (2019b) war 2018 das Jahr mit der höchsten jemals registrierten Zuwanderung. Demnach zogen 1,585 Mio. Personen ( + 46 % gegenüber 2017) nach Deutschland zu, während 1,185 Mio. Personen ( + 9 %) fortzogen. Daraus folgt ein Wanderungsüberschuss von 400.000. Personen. Der Großteil der Zuwanderung bestand aus ausländischen Personen, wobei mit 1,384 Mio. annähernd der gleiche Wert wie im Vorjahr erreicht wurde, während der Zuzug von Deutschen (inkl. Spätaussiedler_innen) mit ca. 202.000 Personen etwas höher als im Vorjahr (167.000) ausfiel. Ausländer_innen bildeten auch unter den Abgewanderten mit 924.000 Personen die Mehrheit neben 262.000 Deutschen. Im Saldo ergaben sich damit ein Wanderungsüberschuss von rund 1,157 Mio. ausländischen Personen (2017: + 577.000) und ein Wanderungsverlust von 60.000 Deutschen (2017: − 82.000). Hinsichtlich ihrer Herkunft stammten die Zuwanderer_innen zu ca. 45 % aus der EU, 13 % waren Staatsangehörige europäischer Nicht-EU-Staaten, 30 % stammten aus Asien und 5 % aus Afrika. Gliedert man den Wanderungsüberschuss nach der Herkunft auf, ergibt sich, dass EU-Bürger_innen den größten Wanderungsüberschuss aufwiesen (202.000, − 15 5 %), vor allem aus Rumänien (68.000), Kroatien (29.000), Bulgarien (27.000) und Polen (20.000). An zweiter Stelle beim Wanderungsüberschuss stehen Staatsangehörige aus asiatischen Staaten (118.000, − 16 %), v. a. aus Syrien (34.000), Indien (17.000) und dem Iran (14.000). Asylsuchende in Deutschland Nachdem im Jahr 2016 mit 745.545 Asylanträgen der höchste Wert seit Bestehen der Bundesrepublik erreicht wurde, ist die Zahl kontinuierlich gesunken. 2018 haben 185.853 Personen in Deutschland Asyl beantragt. Im Vergleich zum Vorjahr (222.683 Anträge) ergab sich damit ein Rückgang um 16,5 %. Die Gesamtzahl des Jahres 2018 setzt sich zusammen aus 161.931 Asylerstanträgen und 23.922 Asylfolgeanträgen. Unter den Erstantragstellenden kamen die meisten aus Syrien (44.167,  −  10 %), Irak (16.333,  − 26  %), Iran (10.857, + 26  %), Nigeria (10.168, + 30 %) und der Türkei (10.160, + 27 %) (BAMF 2019, S. 12, 20, 21).

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Dr. Axel Kreienbrink  ist Leiter des Forschungszentrums Migration, Integration und Asyl im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg. Er ist Mitglied im ­BMBF-Beirat „Migration und gesellschaftlicher Wandel“ und brachte diverse Publikationen zu den Themen Migrationsgeschichte und Migrationspolitik vor allem in Deutschland, Spanien und der EU, heraus. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a.: Asyl, reguläre Migration, Rückkehr, Abwanderung, Potenziale von Migration, Migration und Entwicklung, Europäisches Migrationsnetzwerk, Muslime in Deutschland.

Wozu Integration? Semiotische Anmerkungen zu Begriffen und neokolonialer Mechanik Anselm Böhmer

Zusammenfassung

Im Migrationsdiskurs werden bestimmte Begriffe prominent verwendet. Der vorliegende Aufsatz analysiert vier von ihnen – Integration, Akkulturation, Assimilation und Inklusion. Er untersucht sie auf die von ihnen transportierten Normen und gesellschaftspolitischen Inhalte. Indem diese begriffliche Analyse in die Grundlagen der Theorie zur sozialräumlichen Arbeit eingebettet und mithilfe einer semiotischen Methodologie geprüft wird, findet der Aufsatz zu einer grundlegenden Kritik der verwendeten Begriffe. Vor diesem Hintergrund wird der Sozialraum als migrationsgesellschaftliches Konzept skizziert. Schlüsselwörter

Integration · Akkulturation · Assimilation · Inklusion · Semiotik ·  Neokolonialismus

Einleitung Menschen migrieren. Dabei überschreiten sie Grenzen, die als national, sozial oder auch kulturell verstanden werden. In jüngerer Zeit wird dieses Phänomen in zahlreichen westlichen Nationen (vgl. Hall 2012) kritisch diskutiert und häufig als Problem bezeichnet. Gefragt wird in diesen Zusammenhängen nach

A. Böhmer (*)  Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Ludwigsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_4

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der Integration von Migrant_innen, nach den Fortschritten, Möglichkeiten, nach dem Willen und dem Vermögen, sich zu integrieren, oder auch nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Integration. Eine solche Integration soll häufig in den Sozialräumen stattfinden – in den Nahräumen sozialer Beziehungen, die in unterschiedlichen Konzepten wahlweise als Nachbarschaften, Quartiere oder soziale Geflechte dargestellt werden. Doch wie kann es gelingen, dass sich in die bestehenden sozialen Bezüge neue Menschen integrieren? Gibt es Grenzen der Integration? So klingen Beiträge politischer Debatten, die das Thema Migration aufgreifen. Im Folgenden sollen diese Fragen aufgenommen und mit den Mitteln sozial- und erziehungswissenschaftlicher Reflexion erörtert werden. Zu diesem Zweck wird zunächst das Problem näher umrissen (1). In einem weiteren Schritt ist zu klären, wie Sozialraum verstanden wird, wenn der Fokus der Integration von Migrant_innen besonders auf ihn gelenkt wird (2). Da oft bestimmte Begriffe zur Klärung von Integration und ihren Fortschritten genutzt werden, sollen sie präsentiert und in ihren Wechselbezügen thematisiert werden (3). Ein weiterer Schritt wird diese Begriffe auf ihre Plausibilität hin prüfen (4). Zum Schluss dieses Beitrages wird zusammengefasst, wozu der Begriff der Integration dienen kann und wie sich damit Integration im Sozialraum gestalten lässt (5).

1 Das Problem Wenn 2015 und 2016 mehr Menschen als in den Jahren zuvor nach Deutschland kamen, so ist zu fragen, wie sich das Zusammenleben gestaltet. Alltägliches Zusammenleben gründet auf Routinen des Umgangs, auf Habitualisierungen von Menschen, an denen ihre Positionen abgelesen und von denen ihre Reaktionen auf Geschehnisse im sozialen Umfeld abgeleitet werden können (vgl. Bourdieu 1987). Kommen dann aber Menschen hinzu, die nicht in derselben Weise sozialisiert wurden, die also andere Erfahrungen und andere Formen der alltäglichen Interaktionen mitbringen, ist es mit der Alltagsroutine, der Sicherheit von Abläufen und der Gewissheit von Ordnungen schnell vorbei. Die Fragen nach Integration von neu Eingewanderten betrifft dabei nicht allein die Sozialräume, in denen sich der Alltag der Menschen abspielt. In zahlreichen Funktionsfeldern der Gesellschaft wie Staatsbürgerschaft, Bildung, Arbeit, Gesundheit, Wohnen u. a. wird die Frage nach dem Bisherigen und dessen mög-

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licher Änderung gestellt. Man kann davon ausgehen, dass sich viele dieser Zugehörigkeiten überschneiden oder einander bedingen (vgl. Böhmer 2016, S. 81). Dies gilt gerade für die Frage nach dem Aufenthaltsstatus sowie den Zugängen zu anderen Feldern, die sich darauf gründen, dass bestimmte Rechte an definierte Formen des aufenthaltsrechtlichen Status gebunden sind. Im vorliegenden Beitrag soll daher der Aspekt sozialräumlicher Zugehörigkeit und Integration untersucht werden, auch wenn dabei die besagten Überschneidungen und Bedingungsverhältnisse jeweils mitgedacht werden müssen.

2 Der Sozialraum Für den Begriff des Sozialraumes gibt es sehr unterschiedliche Lesarten. Zunächst lässt sich sagen: Räume werden gemacht; sie werden also nicht schlicht vorgefunden – und sie sind schon gar nicht mit einem dreidimensionalen „Container“ zu verwechseln. Vielmehr werden Räume sozial hergestellt und „basieren auf zwei sich in der Regel gegenseitig bedingenden Prozessen: der Syntheseleistung und dem Spacing“ (Löw und Sturm 2019, S. 17). Unter Spacing werden das „Errichten, Bauen oder Positionieren“ (ebd.) verstanden. Der von Löw und Sturm angebotenen doppelten Sicht auf die Herstellung von Raum kann eine dritte Perspektive hinzugefügt werden: die der Klassifizierung (vgl. Werlen und Reutlinger 2019, S. 33). Insofern zählen nicht alle Menschen und nicht alle Dinge zum Sozialraum, der in der Platzierungspraxis hergestellt wird, sondern lediglich diejenigen, die in der Syntheseleistung als zusammengehörig verstanden und als solche klassifiziert, also in eine Ordnung eingefügt werden. Daraus erwächst ein besonderes Verständnis für den Sozialraum, der als „ständig (re)produziertes Gewebe sozialer Praktiken“ historische, kulturelle, politische und machtbezogene Verhältnisse widerspiegelt und reproduziert (Kessl und Reutlinger 2010, S. 253). Im Alltag nutzen Menschen den Raum, indem sie ihn sich aneignen. Dies gilt z. B. für die Praxis von Kindern und Jugendlichen, die sich „handelnd die gegenständliche und symbolische Kultur erschließen“ (Deinet 2014). Aneignung kann somit nicht allein als räumlich verstanden werden, sondern ist zudem (selbst-)sozialisatorische Praxis. Zugleich sind die „darin ‚eingelassenen‘ ­ Normierungen“ zu berücksichtigen, da auf diese Weise „die jeweilige Bebauung die aktuelle und zukünftige Nutzung des Platzes konstitutiv mit formt“. (Nugel 2016, S. 18).

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Zusammenfassend lässt sich für das hier vertretene Verständnis von sozialem Raum festhalten: Er ist als Produkt von Platzierungs-, Synthese- und Klassifikationsprozessen zu verstehen, auf die einzelne Menschen, Gruppen, aber auch soziale Interessen- und gesellschaftliche Machtverhältnisse Einfluss nehmen. Menschen stellen den Raum ebenso her, wie sie von ihm positioniert und begrenzt werden.

3 Die Begriffe War bislang v. a. vom Sozialraum die Rede, so soll nun die Aufmerksamkeit auf den zweiten Teil der hier zu verhandelnden Frage gelenkt werden – auf die der Migration. Im Diskurs um Einwanderung finden sich eine Vielzahl von Begriffen, die in der gebotenen Kürze umrissen werden sollen. Zunächst ist festzuhalten, dass die zu analysierenden Termini keineswegs allein den Sozialwissenschaften vorbehalten sind. Sie finden sich mit anderer semantischer Aufladung zu großen Teilen auch in weiteren wissenschaftlichen Disziplinen. Es wird sich zeigen, dass bei allem Bemühen um terminologische Eindeutigkeit semantische Überlappungen und interne Lücken sichtbar werden. Zudem können nicht alle Begriffe durchgearbeitet werden, die in den Diskursen zu Migration und Teilhabe ins Spiel gebracht werden. Es sollen lediglich jene vier untersucht werden, die besondere Prominenz für die Debatten beanspruchen. Abgelesen werden kann dies an der Dauer ihrer Verwendung oder der Deutlichkeit, mit der sie momentan in den Diskurs eingebracht werden. Möglich ist, dass es weitere Debatten gibt, in denen andere Termini verstärkt genutzt werden.

3.1 Integration Der am häufigsten anzutreffende Begriff in der Debatte um Einwanderung, Differenzen und gesellschaftlichen Zusammenhalt dürfte derjenige der Integration sein. Darunter ist zunächst die Eingliederung eines Elementes in ein größeres Ganzes zu verstehen. Es geht also in der sozialen Integration darum, dass sich Verschiedene in ein soziales Ganzes, eine Gesellschaft, eingliedern (knappe historische Schlaglichter und eine synthetisierende Sicht auf die Begriffe Assimilation und Integration bietet Pries 2014). Dabei kann Migration als Ein-

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gliederung in einen Herkunfts- und einen Aufnahmekontext verstanden werden, wobei sich durch die Kombination aus bestehender oder nicht bestehender Integration in den jeweiligen Kontext vier Formen ergeben. „Gibt ein Zuwanderer seine Zugehörigkeit zur Herkunftsgesellschaft auf und integriert sich ausschließlich in der Ankunftsgesellschaft, spricht man von Assimilation.“ (Ebd., S. 19) Dieses Zitat macht gleich mehrere der hier relevanten Strukturmomente von Begriffen der Integration deutlich: Zum einen geht es um eine Gesamtgesellschaft (vgl. bereits hier kritisch Schinkel 2018), in die hinein integriert werden kann. Sodann ist im Fokus der_die Migrant_in als jene Person, die eine kohärente Herkunft verlassen und eine Ankunft realisiert hat; mehrfache oder pendelnde Bewegungen werden zunächst nicht angenommen. Eine solche Herkunft kann als ganze beibehalten oder als ganze aufgegeben werden; dasselbe gilt für den Aufnahmekontext. Zudem erweist sich der eine hier verwendete Begriff (Integration) offensichtlich als Oberbegriff für einen anderen, gleichfalls verwendeten (Assimilation). Ferner kann Integration ein Marker sein für das Einwilligen oder Verweigern von Integration aufseiten der Migrant_innen – dem gegenüber steht das Bild „der fraglos integrierten Position des ‚authentischen Deutschen‘“ (Karakayalı und Mecheril 2018, S. 231). Mit diesem Szenario vom individuellen Willen, damit auch Gelingen und authentisch integrierter Position, wird neuerdings verstärkt eine „Kriseninszenierung“ (ebd.) praktiziert, die durch die Herstellung des „Anderen“ mit den Mitteln von Religion und Migration ihre diskursive Gestalt findet. Daneben werden weitere Ansätze, etwa einer multiplen Integration in unterschiedliche soziale Kreise, diskutiert: „In einem modernen und dynamischen Verständnis müssen sich Vielfalt und Zusammenhalt also keineswegs widersprechen. Multiple Integration bedeutet weder Ausgrenzen noch folgenlose Beliebigkeit von Vielfalt. Multiple Integration ist kombinierbar mit dem Konzept der streitbaren Demokratie und dem Aufdecken gruppenbezogener Benachteiligungen, die eine chancengleiche Teilhabe erschweren“ (Pries 2018, S. 12). Deutlich wird damit, dass der Integrationsbegriff als „Ankerpunkt“ für andere Begriffe der Migrationstheorie dient, wobei er von den Autor_innen nicht einheitlich genutzt wird. Er transportiert allerdings in vielen Fällen das Bild einer substanziellen Ganzheit, an der Menschen durch eigene Anstrengung teilhaben oder von der sie ausgeschlossen werden können.

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3.2 Akkulturation Ein weiterer Begriff findet sich häufiger in der Migrationsdebatte – jener der Kultur und der mit ihr verbundenen Akkulturation. Damit wird ein spezifischer Zusammenhang sozialer Prozesse, die Kultur, zum Bezugspunkt genommen, der in seiner semantischen Aufladung keineswegs eindeutig ist. Deshalb ist auch für den Gebrauch der Akkulturation zu erwarten, dass er nicht eindeutig gefasst werden kann. Für die aktuelle Debatte wichtige Bezugspunkte lassen sich bei Berry (1997) finden, der sich seinerseits auf frühere Autor_innen bezieht: „Acculturation comprehends those phenomena which result when groups of individuals having different cultures come into continuous first-hand contact with subsequent changes in the original culture patterns of either or both groups.“ (Redfield, Linton, und Herskovits 1936, S. 149) Für Berry lassen sich vier Strategien der Akkulturation unterscheiden – Integration, Assimilation, Separation/Segregation sowie Marginalisierung (vgl. Berry 1997, S. 10). Einerseits zeigt sich, dass die verwendeten Begriffe bei ihm ebenfalls in Über- und Unterordnung konzipiert werden (diesmal aber ist Integration eine strategische Ausprägung von Akkulturation) und andererseits macht Berry deutlich, dass er Kultur an den Kategorien von Identität und einer „larger society“ ablesen möchte (vgl. ebd., S. 10). Zudem bezieht er sich mit seiner Quellenliteratur auf „both groups“. Unter anderem mit Verweisen auf Berry formuliert Esser: „Unter Akkulturation versteht man allgemein den Prozess der Übernahme von Elementen einer bis dahin fremden Kultur durch Einzelpersonen, Gruppen oder ganze Gesellschaften. Diese Übernahme betrifft Wissen und Werte, Normen und Institutionen, Fertigkeiten, Techniken und Gewohnheiten, Identifikationen und Überzeugungen, Handlungsbereitschaften und tatsächliches Verhalten, insbesondere aber auch die Sprache.“ (Esser 2018, S. 3) Ähnlich wie zuvor beim Integrationsbegriff wird auch hier deutlich, dass verschiedene Auffassungen in der Terminologie mitlaufen. Im hiesigen Fall ist dies zunächst ein substanzialistisches Denken, das Kultur an bestimmten Kategorien ablesen und so gewissermaßen „dingfest“ machen möchte – im Hinblick auf Wissen, Subjektivität, Gesellschaft. Das Ergebnis einer vollständigen Akkulturation sieht Esser in der Assimilation (vgl. ebd., S. 4). Bezogen auf frühere Ansätze von Esser sowie Gordon wird eine Veränderung bis hinein in Wissensbestände von Individuen angesetzt. Dabei „versteht Esser ‚Kultur‘ als ein einheitliches Gewebe von kognitiven Mustern, das explizit an ‚ganze‘ Kollektive, Personen und Nationalstaaten gekoppelt ist. Aber, im Unterschied zu Gordons Ansatz, ist strukturelle

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Assimilation nicht ohne vorausgehende Akkulturation möglich“ (Amelina 2008, S. 11). Auch in dieser Hinsicht überlagern sich also die einschlägigen Begriffe – hier Akkulturation und Assimilation – und beschreiben auf unterschiedliche Weise eine Transformation des Individuums. Akkulturation bezeichnet folglich – bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Positionen – die Übernahme einer anderen Kultur als Einheit, wobei noch offenbleibt, ob, wie und in welchem Ausmaß die bisherige Kultur aufgegeben wird. Doch scheint Kultur als eine für Migration relevante Kategorie angesehen zu werden.

3.3 Assimilation Neben dem Begriff der Integration ist derjenige der Assimilation noch immer ein wichtiger Bezugspunkt für die Diskussionen um Migration. Mit diesem Begriff, der Anpassung und Angleichung an eine bestehende Ordnung adressiert, werden Auffassungen verbunden, die das Ergebnis eines länger andauernden Prozesses von Mitgliedwerden in einer Gesellschaft beschreiben. „Der Begriff der Assimilation steht in der deutschen Integrationsdebatte für die sozio-kulturelle, sprachliche und identifikatorische Anpassung der Einwanderer an die – als mehr oder weniger homogen gedachte – Kultur und an das Sozialsystem der dominanten Ankunftsgesellschaft. Diese Position der Assimilation wird auch heute noch in Wissenschaft und Politik vertreten und findet sich beispielsweise in Integrationsplänen und Förderprojekten, in integrationsbezogenen Messkonzepten und Indikatorensystemen“ (Pries 2014, S. 18). Die Grundlage sieht Pries in dem von Taft (1953) bereits etablierten Stufensystem, das in Deutschland z. B. mit der Debatte um die Leitkultur oder auch die Kultur einer „christlich-abendländischen Gemeinsamkeit“ in Verbindung gebracht werde (vgl. ebd., S. 19 f.). Zudem konstruiere Taft ein siebenteiliges Stufensystem, das Assimilation als einen Prozess abbilde, in dem sich Migrant_ innen zunehmend mehr in die dominante Kultur des Aufnahmelandes einfügen würden. „Die impliziten Annahmen dieses Modells sind klar: Integration ist ein gerichteter und nur in eine Richtung weisender Prozess; Integration ist eine ‚Bringschuld‘ der Migrant/innen: Sie haben sich an die vorherrschenden Normen der als homogen und essenzialistisch vorgestellten Ankunftsgesellschaft anzupassen; die Etappen der als Assimilation verstandenen Integration werden als Stufen in einer hierarchischen Sequenz aufgefasst.“ (Pries 2018, S. 11) Diese Auffassung scheint auch Esser zu teilen, indem er ein nun vierteiliges Konzept

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von kognitiver, sozialer, struktureller und identifikativer Assimilation ansetzt (vgl. Esser 2018, S. 4). Assimilation rechnet insofern mit der Homogenität von Gesellschaften oder anderen Kollektivgrößen, erkennt sie in westlichen Gesellschaften in einer Werteordnung, die mitunter religiös gekennzeichnet wird, und geht von einer Veränderung der Identität der sich Assimilierenden aus. Assimilation lässt sich lesen als die Konstruktion von Normalität, die aktiv und vollumfänglich die gegebene und als solche erfassbare Ordnung einer Gesellschaft übernimmt (vgl. Schinkel 2018, S. 11).

3.4 Inklusion Inklusion beschreibt zunächst den Einschluss. Was jedoch darunter im Einzelnen zu verstehen ist, wird in den Sozial- und Erziehungswissenschaften höchst konträr diskutiert. Dies gilt auch für die Frage, inwieweit ein ausdrücklicher Bezug zur Systemtheorie hergestellt werden muss, in der mit Luhmann schon vor geraumer Zeit dieser Begriff etabliert wurde (vgl. Farzin 2012; dort auch weitere Literatur). Ein Konsens zum Inklusionsbegriff scheint kaum erkennbar zu werden, wenngleich sich viele Autor_innen auf die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN BRK) beziehen. Zugleich wird der Begriff ausgesprochen normativ genutzt: „Weil er mit erheblichen sozialmoralischen und politischen Ansprüchen sowie weitreichenden pädagogischen Versprechen aufgeladen ist, entfaltet er einerseits eine hohe Anziehung, führt aber andererseits auch zu Polarisierung und Irritation“ (Dederich 2020, S. 527). In den jüngeren Debatten gilt für den Inklusionsbegriff meist, dass er die Teilhabe insbesondere in jenen gesellschaftlichen Feldern vorsieht, die als besonders relevant aufgefasst werden. Hierzu zählen z. B. Bildung oder Erwerbsarbeit. Aber es können auch unterschiedliche Ebenen der Teilhabe mit dem Inklusionsbegriff umschrieben werden. Dies kann für das Staatsbürger_innenrecht ebenso gelten wie für die Inklusion in den Sozialraum des Alltags u. a. m. Gewonnen wird also mit dem Begriff der Inklusion eine Sichtweise, die weder Individuen noch Kollektive oder gleich Nationalstaaten als „ganze“ vereinnahmt. „Im Unterschied zum Assimilationsbegriff erlaubt sie die Analyse von simultanen Inkorporationen eines Akteurs in mehrere soziale Makro-Felder.“ (Amelina 2008, S. 19) Inklusion ließe sich auf diese Weise auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg denken (vgl. ebd., S. 22). Inklusion als Mehrfachzugehörigkeit zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern bietet den Individuen in diesen Zusammenhängen die Möglichkeit von feldspezifischer Teilhabe

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(vgl. Böhmer 2016, S. 80 ff.). Dass die Präsenz in solchen Feldern einerseits von den Individuen bestimmt oder eben auch abgelehnt werden kann, ist dabei ebenso zu beachten wie der Umstand, dass keines dieser Felder als statisch und transparent gedacht wird. Vielmehr geht es um die gemeinsame „Raumproduktion“ sozialer, subjektiver, aber auch epistemischer und sinnhafter Zusammenhänge (vgl. ebd., S. 82). Für den Inklusionsbegriff lässt sich also einerseits erkennen, dass er – wiederum in bemerkenswerter semantischer Breite und mit kaum erkennbarer Eindeutigkeit – Zugehörigkeiten beschreibt, die nicht einen ganzen Menschen oder eine ganze Gruppe bezeichnen müssen, doch einen Einschluss in ein Ganzes oder zumindest in einen klar abgrenzbaren Rahmen ansetzt. Damit wird die Bedeutung von Ganzheiten reduziert, nicht aber insgesamt aufgegeben. Wie immer man es auch sehen möchte – die hier vorgestellten Begriffe überschneiden sich in ihren Semantiken, werden je nach Autor_in einander unterschiedlich zugeordnet und teilen doch die gemeinsame Annahme, dass sich Identitäten deutlich erkennen lassen. Identitäten werden nicht nur als klar beschreibbar verstanden, sie sollen auch willentlich und praktisch verändert und einer definierten Zielvorstellung nähergebracht werden können. Dieses Ziel ist eine Ganzheit (des Feldes, der Kultur, der Nation o. a.).

4 Drei Kritikpunkte Die hier verwendeten Begriffe und die mit ihnen zum Ausdruck gebrachten Auffassungen sind von erheblichen Unterschieden geprägt. Diese Unterschiede zeigen sich v. a. bei der Benennung zentraler Kategorien (seien diese nun Identität, Kultur, Gesellschaft o. a.). Und doch ergeben sich drei Kritikpunkte, die sämtliche der vorgestellten Begriffe betreffen: 1. Die Frage gesellschaftlicher Macht wird in aller Regel nicht gestellt. 2. Der Bezug auf ein imaginiertes Ganzes wird affirmativ praktiziert. 3. Ein homogenisierender Gruppismus wird unreflektiert als Normalkonzept gelesen. Diese Teilprobleme kulminieren in der Auffassung, „there are ‚societies‘ that consist of ‚members‘“ (Schinkel 2018, S. 2). Dieses Konstrukt wird rassistisch verschleiert, wenn nur bestimmte Gruppen von Migrierten erfasst werden, nämlich „problematic groups“ (ebd., S. 4). Damit sind gleich eine Vielzahl von

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„Mechanismen“ (Wacquant 2001) benannt, die als neokoloniale (vgl. Schinkel 2018) soziale Ungleichheit durch migrationsspezifische Zuschreibung von Andersheit betreiben. Sie sollen nun weiter aufgeklärt werden. (1) Aus der Sicht einer sozialen Semiotik (Laclau 2010) sind die Relationen zwischen den zu definierenden Identitäten von besonderer Bedeutung: Es „hat jedes Element des Systems nur insofern eine Identität, als es von den anderen verschieden ist. Differenz  = Identität.“ (Laclau 2010, S. 67) Das wiederum bedeutet, dass in dieser Perspektive nicht nur die Differenz betont, sondern auch ihre Bezeichnungen problematisiert werden sollten. Denn „die ‚Anwendung‘ der Differenz in einem neuen Kontext lässt die Signifikate möglicherweise nicht unberührt, sie ist mehr als nur eine Anwendung, sie vermag sich Polysemien zunutze zu machen und die Differenzen selbst zu modifizieren“ (Reckwitz 2006, S. 342). Laclau macht einerseits auf das Spiel der Signifikanten aufmerksam, das Bedeutungen je nach Kontext und Situation anders ausgestaltet. Es wird aber auch deutlich, dass sich mit jeder Bezeichnung ein Ringen, womöglich sogar ein Kampf, um Deutungshoheit und ihre soziale Konsequenz ergibt. Die verwendeten Begriffe sind also keineswegs neutral; sie sind Instrumente im gesellschaftlichen Bemühen um Hegemonie. (2) Weiter ist zu kritisieren, dass ein gesellschaftliches Ganzes zunehmend fraglich wird. Einerseits wird ein organisches Ganzes angesetzt mit dem Verweis auf Integration (hier ist das Ganze dann die Gesellschaft), Akkulturation (hier dann Kultur), Assimilation (dieser Begriff scheint weiter zu reichen als bloß die Kultur) und Inklusion (mit einer Auffassung zwar, die bloß einen teilweisen Einschluss annimmt, aber immerhin mit einem klar umgrenzten Rahmen, der ein Innen erst ermöglicht). Andererseits aber machen die Hinweise auf spätmoderne Lebensführung, auf Differenzen und Heterogenitäten, auch auf Maskierung der Herstellung von „authentischen Gesellschaftsmitgliedern“ (Karakayalı und Mecheril 2018, S. 231; vgl. Schinkel 2018, S. 10 ff.) deutlich, dass sich Gesellschaften nur schwerlich als ein Ganzes auffassen, das womöglich auch noch homogen strukturiert wäre. Doch mit einem solchen Ganzen, dessen höchste Vollendung gar in Stufen erklommen werden kann (Esser), rechnet jede Integrationsdebatte. Insofern wird ein Holismus affirmiert, der sich in Zeiten eines pluralen und situationalen Verständnisses von Wissen (Haraway 1988) und sozialer Praxis als Performanz (wie sich im Rückgriff auf Derridas Iterbilität und différance zeigen ließe; vgl. Derrida 2007, 2001) kaum aufrechterhalten lässt. „We should […] connect the jargon of ‚immigrant integration‘ to key issues in social theory. Only then does it become apparent that much of the problematic racialized and gendered routines will recur unless if we stop reproducing the idea that there are ‚societies‘ inhabited by ‚members‘.“ (Schinkel 2018, S. 8)

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(3) Ein weiteres Problem ist die semiotische Version des Gruppismus (Brubaker 2004), der durch Bezeichnungen anzeigt, welche Gruppe was bei welcher tun oder zulassen müsse. Folglich sind zwar alle analysierten Begriffe brauchbar – und sei es nur, um damit eine problematische Realität und die damit verbundenen Einstellungen zu markieren. Doch schreiben alle Begriffe Differenzen fest, indem sie Differenzen in den Identitäten adressieren. Werden individualisierte Menschen dann zu Gruppen zusammengefasst, kann sich die stigmatisierende Gesellschaft zugleich von sozialen Problemen dispensieren (vgl. ausführlicher Böhmer 2017). Arbeitslosigkeit, hohe Haftraten, Homophobie – all dies ist dann Problem der migrantisch gruppierten Anderen (vgl. Schinkel 2018, S. 5). Anstelle einer solchen Affirmation begrifflicher Unterschiede mit subjektiven, sozialen und gesellschaftlichen Folgen wären hier eher die strukturellen Fragen aufzuwerfen, die einer offenen Gesellschaft entsprechen, also einer, die auf Freiheit und Gleichheit der Menschen abzielt (vgl. als erste Annäherung die Überlegungen von Balibar 2012). Damit sind alle angeführten Begriffe ausnahmslos als affirmativ, essenzialisierend und stigmatisierend einzuschätzen. Sie bestätigen jeweils die Auffassung, man müsse eine dichotome Ordnung annehmen und begrifflich aufklären. Diese Dichotomie gilt auch dann noch, wenn Mehrfach-, Pendeloder andere, komplexere Formen von Migration mitgedacht werden. Doch dass es Integrierte und noch zu Integrierende gebe, dass man kulturelle Differenzen erkennen und überbrücken müsse, dass „sie“ sich einem „Wir“ angleichen sollten, oder auch, dass man (wenn auch in unterschiedlichen Feldern jeweils verschieden) „drinnen“ oder „draußen“ sein könne – das alles ist ja keineswegs selbstverständlich. „Andere“ werden als substanziell von Migration Bestimmte bezeichnet und auf diese Weise allererst hervorgebracht, damit homogenisiert und so als nicht dem gesellschaftlichen Normativ entsprechend markiert. Damit aber sind alle vier hier diskutierten Begriffe korrumpiert, weil sie die sozialen, institutionellen, gesellschaftlichen und politischen Dynamiken nicht angemessen abbilden. Sie taugen folglich nicht für eine Analyse der migrationsgesellschaftlichen Phänomene, Praktiken und Subjektivitäten. Versteht man Migration lediglich als Wechsel von einem Territorium zum anderen, wird erneut die Differenz von absolutem und relationalem Raumverständnis sichtbar (vgl. Amelina 2019, S. 27). Hier können sich B ­ erührungspunkte für die Theoretisierung von Migration ergeben, denn wenn sich Migration als Dynamik zwischen Sozialräumen auffassen lässt, so sind die dazu nötigen Theorieansätze bereits geliefert – u. a. in der Sozialraumtheorie der Sozialen Arbeit. Dies soll abschließend skizziert werden.

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5 Die migrationsgesellschaftliche Basis Gezeigt hat sich eine erhebliche Schwäche der analytischen Begriffe Integration, Akkulturation, Assimilation und Inklusion. Alle vier vereinfachen unzulässig, indem sie die Machtverhältnisse nicht hinreichend durchleuchten, indem sie eine Zweiteilung bestärken, die soziale Prozesse an eine gedachte „Substanz“ der Individuen bindet, und indem sie Menschen in Gruppen einteilen, die angesichts der Heterogenität der Menschen (ob mit oder ohne persönliche oder familiäre Bezüge zu Migration) unterkomplex sind. Somit ist nicht die Bezeichnung das grundlegende Problem, sondern die Prozesse der Herstellung sozialer Ungleichheit sind es, die mit den Bezeichnungen aufgerufen werden. Nicht die Signifikanten und ihre politische Konstruktion (vgl. Laclau 2010, S. 76) bilden das grundlegende Problem, sondern ihre konkrete Verwendung – die damit betätigten Mechanismen (vgl. Wacquant 2001) der sozialen Marginalisierung selbst. Hier kritisiert wird also deren konkrete Verwendung bei der Herstellung von sozialer Ungleichheit in den Formen des Migrationsregimes. Deutlich wird, dass Migration oft unter neoliberaler Perspektive individualisiert ausbuchstabiert (vgl. Schinkel 2018, S. 5 f.) und damit die nichtindividuellen Bedingungen verschleiert werden. Daraus ergeben sich drei notwendige Einschränkungen der migrationswissenschaftlichen Analyse. (1) Zunächst ist jegliche Aufteilung in „Migrant_innen“ und „Aufnahmegesellschaft“ kritisch zu prüfen. Allzu schnell wird in vielen Konzepten1 angesetzt, man müsse kulturelle Differenzen nur kompetent bearbeiten, schon lasse sich das Problem der Anderen beheben. (2) Die Frage, ob Individuen angemessen „integriert“, „akkulturiert“, „assimiliert“ oder auch „inkludiert“ sind, kann das hier zur Diskussion stehende Problem ebenso wenig lösen. Angesichts der Forschungsbefunde zur institutionellen Diskriminierung (vgl. klassisch Bourdieu und Passeron 1971; Gomolla und Radtke 2009) wird deutlich, dass die Voraussetzungen für ihre Teilhabe von den Individuen nur sehr eingeschränkt beeinflusst werden können. Soziale Probleme lassen sich nicht allein individuell lösen. (3) Auch soziale Nahräume können nicht für die Bearbeitung supranationaler Probleme herangezogen werden (vgl. bereits die Beiträge in Kessl und Otto

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der sog. „Interkulturellen Öffnung“ von Organisationen.

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2007). Folglich sind politische Prozesse vonnöten, um die politischen Programme entsprechend der Analyse gesellschaftlicher Mechanismen anzupassen. Zum Abschluss bleibt ein gemischtes Fazit: Der Sozialraum bietet sich an, um für die alltägliche Lebensführung der dort anwesenden Menschen Optionen zu eröffnen und dementsprechend Verbesserungen anzustreben. Davon zu unterscheiden sind strukturelle Vorgaben, die Teilhabe von Menschen an gesellschaftlichen Prozessen in ihrer Vielfalt zu ermöglichen. Somit kann auf jene Begriffe verzichtet werden, die lediglich die Affirmation von Dichotomie entlang der Migrationszuordnung leisten. Zudem ist zu berücksichtigen, dass für eine Anpassung der Strukturen politische Entscheidungen benötigt werden. Dabei sind die Erfahrungen von Menschen in ihren Sozialräumen zu berücksichtigen, um die politischen Antworten an die alltägliche Praxis zu binden. Die sozialräumliche Arbeit sollte jedoch nicht überfordert werden. Sie kann im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebenslagen von Menschen und insofern auch jener mit migrationsspezifischen Herausforderungen beitragen. Ein Migrationsregime ändern kann sie allerdings nicht. Dazu bedarf es vielmehr der politischen Initiativen der Menschen selbst und – sofern sie von den Menschen im Sozialraum mandatiert werden – auch der Träger Sozialer Arbeit. Diese Initiativen sind dann in den politischen Diskurs der jeweils entscheidungskompetenten Ebene einzubringen. Der Integrationsbegriff allerdings ist dazu nicht erforderlich.

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Dr. Anselm Böhmer  ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind allgemeine Erziehungswissenschaft, poststrukturalistische Ansätze der Subjektivierung, Armut und soziale Ausgrenzung, Migration und Sozialräume.

Recht als Integrationshemmnis Lasse Gundelach

Zusammenfassung

In dem Beitrag wird erläutert, wie ordnungspolitische Maßnahmen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts die Integration von Geflüchteten hemmen. Dabei sind grundlegende Überlegungen zur aufenthaltsrechtlichen Situation von Geflüchteten und deren Auswirkungen auf die Integration der Ausgangspunkt. Im Folgenden werden die integrationshemmenden Aspekte der Unterbringung von Geflüchteten in (Erst-)Aufnahmeeinrichtungen und AnkER-Zentren sowie der Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung und durch die Wohnsitzregelung näher dargestellt. Der Beitrag schließt mit dem Fazit, dass zukunftsträchtiges politisches Handeln auf dem Gebiet des Aufenthalts- und Asylrechts die Integration in den Fokus nehmen und sich an einer maßvollen und humanen Sozialpolitik orientieren muss. Schlüsselwörter

Integration · Recht · Geflüchtete · Präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ·  AnkER-Zentren · Räumliche Beschränkung · Wohnsitzregelung

L. Gundelach (*)  Fachbereich Soziale Arbeit, Katholische Hochschule Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_5

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1 Einleitung Der Begriff „Integration“ ist schillernd, denn er ist gleichermaßen im Ganzen sowie in den Einzelheiten hochumstritten, und das disziplinübergreifend. Ein Beitrag, der sich mit der Frage auseinandersetzt, ob das Recht die Integration von Geflüchteten1 hemmt, müsste sich eigentlich der Frage nach dem Inhalt des Begriffs „Integration“ stellen. Das gleicht jedoch der Quadratur des Kreises, weil demjenigen, der mit dem Diskurs über den Begriff der Integration vertraut ist, zugleich bewusst ist, dass das Unterfangen von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist. Das gilt auch für den Begriff „Integration“ als Rechtsbegriff, wie Eichenhofer überzeugend dargelegt hat, denn das Aufenthaltsrecht kennt keine einheitliche Definition der Integration.2 Im vorliegenden Kontext ist das jedoch nicht weiter von Belang, da die Intention des Beitrags eine andere ist: Geflüchtete sind zuallererst Personen, die versuchen mit ihren jeweiligen Lebensbedingungen auf der Flucht zurechtzukommen. Für Geflüchtete in Deutschland bedeutet das, dass sie bestrebt sind, sich an die hiesigen Lebensbedingungen sowie die gesellschaftlichen und rechtlichen Normen anzupassen, zunächst nicht, um sich zu integrieren oder gar zu assimilieren, sondern um ihren Alltag zu bewältigen und ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen – nicht mehr und nicht weniger. Dazu gehören zuerst grundlegende Dinge wie beispielsweise Unterkunft und Essen und bei längerem Aufenthalt Fragen des Aufenthaltsrechts, der Bewegungsfreiheit und des Arbeitsmarktzugangs. Integration wird hier also in einer basalen Dimension als Eingliederung und Zurechtkommen in einer größeren rechtlichen und gesellschaftlichen Einheit verstanden. Der Beitrag beleuchtet daher ausgewählte Aspekte, die verdeutlichen, dass das Recht die Integration teilweise hemmt. Die Darstellung konzentriert sich dabei auf ordnungspolitische Maßnahmen im Aufenthalts- und Asylrecht, die geeignet sind, die Integration zu hemmen. Dazu erfolgen zunächst grundlegende Überlegungen zur aufenthaltsrechtlichen Situation von Geflüchteten und deren Auswirkungen auf die Integration. Im Anschluss werden die integrationshemmenden Aspekte der Unterbringung von

1Geflüchteter

wird hier als nichtjuristischer Sammelbegriff verwendet, der Personen erfasst, die aus politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder ethnischen Gründen aus ihrer Heimat geflohen sind (vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/Gefluechteter, zuletzt besucht am 02.01.2020). 2Siehe dazu ausführlich Eichenhofer, Begriff und Konzept der Integration im Aufenthaltsgesetz, 2013; zum grundsätzlichen Verhältnis von Recht und Migration auch Kluth, NJWBeilage 2018a, S. 46 ff.; Eichenhofer, ZAR 2016, S. 251 ff.; Ritgen, ZAR 2018, S. 409 ff.

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Geflüchteten in (Erst-)Aufnahmeeinrichtungen und AnkER-Zentren sowie der Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung, §§ 56 ff. AsylG, und durch die Wohnsitzregelung gemäß § 12a AufenthG dargestellt. Der Beitrag schließt mit einem Fazit.

2 Aufenthaltsrechtliche Situation Ein grundlegender Widerspruch zwischen Recht und Integration besteht im Hinblick auf die aufenthaltsrechtliche Situation von Geflüchteten. Das gilt für die Zeit des Asylverfahrens, für den Fall der Zuerkennung eines Schutzstatus und insbesondere im Fall der Ablehnung des Asylantrags bei gleichzeitiger Duldung aufgrund der tatsächlichen oder rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung. Die aufenthaltsrechtliche Situation ist durch die dogmatische Ausgangslage geprägt, dass Ausländer_innen bezüglich der Einreise und des Aufenthalts in Deutschland einem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unterliegen.3 Das bedeutet, dass Ausländer_innen gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 AufenthG für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet einen Aufenthaltstitel benötigen; andernfalls ist die Einreise beziehungsweise der Aufenthalt rechtswidrig. Diese Ausgangslage gilt mit erforderlichen Modifikationen auch für den Bereich des Asylrechts, mit der Folge, dass der aufenthaltsrechtliche Status entscheidend für die Integration der Geflüchteten ist. Dass die Ungewissheit über den Ausgang des Asylverfahrens die Integration maßgeblich erschweren kann, stellt einen Allgemeinplatz dar. Das ist umso schwerwiegender, je unkalkulierbarer der Ausgang des Asylverfahrens ist. Allerdings weist der Befund dennoch auf ein strukturelles Problem des Flüchtlingsschutzes hin. Akzeptiert man die Prämisse des Flüchtlingsschutzes, dass Schutz nur Personen gewährt wird, die die Voraussetzungen des Schutzstatus erfüllen, besteht für den Zeitraum der Prüfung der Voraussetzungen (Asylverfahren) per se ein Zeitraum der Ungewissheit. Dieses Dilemma ließe sich lediglich durch die Abschaffung des präventiven Verbots mit Erlaubnisvorbehalt bewerkstelligen. Aus der Perspektive der Integration muss das Asylverfahren als Zeitraum der Ungewissheit so kurz wie möglich gehalten werden.

3Statt

vieler: Stahmann in: Hofmann, Ausländerrecht 2. Auflage, 2016, § 4 Rn.1 ff.; Sußmann/Samel in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage, 2018, § 4 Rn. 6 ff.

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Auch im Fall der Zuerkennung eines Schutzstatus besteht im Hinblick auf die Integration ein Dilemma. Flüchtlingsschutz bedeutet per se Schutz auf Zeit.4 Der Schutz wird so lange gewährt, wie die schutzauslösende Situation im Herkunftsstaat fortbesteht. So erhalten beispielsweise Personen, die als Flüchtlinge gemäß § 3 AsylG anerkannt wurden, einen befristeten Aufenthaltstitel zunächst für die Dauer von drei Jahren (§§ 25 Abs. 2 S. 1, 26 Abs. 1 S. 2 AufenthG). Besteht die schutzauslösende Situation fort, so erfolgt eine Verlängerung des Aufenthaltstitels. Umgekehrt besteht für den Fall, dass die schutzauslösende Situation entfallen ist, die Möglichkeit, den Schutzstatus zu widerrufen (§§ 73 ff. AsylG).5 Lediglich unter den Voraussetzungen der §§ 9, 26 Abs. 3 AufenthG können Geflüchtete einen unbefristeten Aufenthaltstitel erlangen. Bei der Grundannahme, dass Flüchtlingsschutz Schutz auf Zeit ist, handelt es sich um systemimmanente Hemmnisse für die Integration, die sich lediglich durch fundamentale Änderungen der Dogmatik des Aufenthalts- und Asylrechts beheben ließen. Anders stellt sich die Situation von Geduldeten dar. Bei der Duldung handelt es sich um keinen Aufenthaltstitel, sondern um die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung, § 60a Abs. 2 AufenthG.6 Das heißt, der/die Ausländer_in ist vollziehbar ausreisepflichtig, die Abschiebung ist aber aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich und es ist keine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden. Dogmatisch betrachtet hat die Duldung eine vollstreckungsrechtliche Funktion, da sie – unter Zugrundelegung der Logik des heutigen Aufenthalts- und Asylrechts – dem Umstand Rechnung trägt, dass Personen aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen der Ausreisepflicht nicht immer unmittelbar nachkommen können. Es kommt ihr also eine Überbrückungsfunktion zu.7 Den Auswüchsen der Vergangenheit, Personen über Jahre hinweg Kettenduldungen auszusprechen, hat der Gesetzgeber mittlerweile durch die Möglichkeit des Wechsels von der Duldung zu einem Aufenthaltstitel entgegengewirkt (§ 25 Abs. 5 AufenthG). Ebenso soll Personen gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis

4Statt vieler: Fränkel in: Hofmann, Ausländerrecht 2. Auflage, 2016, § 25 Rn.1 ff.; Bergmann/Röcker in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage, 2018, § 25 Rn. 1. 5Vergleiche im Folgenden: Bergmann in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage, 2018, § 72 ff. 6Kluth/Breidenbach in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 24. Edition, Stand: 01.08.2019, § 60a AufenthG Rn. 1. 7Dazu auch Bauer/Dollinger in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage, 2018, § 60a AufenthG, Rn. 13.

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erteilt werden, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt. Aus § 25 Abs. 5 AufenthG geht jedoch auch hervor, dass der Gesetzgeber eine Duldung bis zu 18 Monaten für unproblematisch erachtet. Schon aufgrund der gravierenden gesetzlichen Folgeregelungen bei einer Duldung8 ist die Duldung (nicht nur) unter Integrationsgesichtspunkten abzulehnen, sofern es sich nicht um eine sehr kurz bemessene Duldung von maximal wenigen Wochen handelt. Da Duldungen in der Regel nur für wenige Monate erteilt und gegebenenfalls jeweils verlängert werden, stehen sie einer zügigen Integration diametral entgegen. Zudem ist die Duldung selbst unter Zugrundelegung der aufenthaltsrechtlichen Logik, mit Ausnahme sehr kurzer Duldungen, abzulehnen. Wenn Personen auf längere, in der Regel auf unabsehbare Zeit in Deutschland bleiben, ist es nicht zuletzt aus Integrationsaspekten nicht nachvollziehbar, weshalb es einen aufenthaltsrechtlichen Status geben muss, der unterhalb der Aufenthaltserlaubnis angesiedelt ist. Selbst bei Ausländer_innen, die beispielsweise ihre Identität oder ihr Herkunftsland verschleiern, kann im Ergebnis die Abschiebung nicht stattfinden. Die Personen leben auf unbestimmte Zeit in Deutschland. Insoweit wäre es zielführender, sie frühzeitig und effektiv zu integrieren, statt sie zu marginalisieren. Die Ausführungen haben gezeigt, dass es einen erheblichen Widerspruch zwischen der Dogmatik des Aufenthalts- und Asylrechts und Integrationsaspekten gibt. Das hindert den Gesetzgeber aber nicht daran, dieses Ergebnis durch eine integrationsfreundliche Sozialpolitik erheblich abzumildern.

3 Unterbringung von Geflüchteten in ­(Erst-) Aufnahmeeinrichtungen und AnkER-Zentren Die Wohnsituation von Geflüchteten zielt nicht auf eine Vereinfachung der Lebensumstände von Geflüchteten und ihre schnelle Integration ab. § 47 Abs. 1 S. 1 AsylG9 bestimmt für den Regelfall, dass Ausländer_innen den Asylantrag bei einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gestellt haben, dass diese verpflichtet sind, bis zur Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag und im Falle der Ablehnung des Asyl-

8Übersicht

bei Stahmann in: Oberhäuser, Migrationsrecht in der Beratungspraxis, 1. Auflage, 2019, § 9 Rn. 142 ff.; siehe auch § 1a AsylbLG. 9Vergleiche im Folgenden statt vieler: Bergmann in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage, 2018, § 47 Rn. 2 ff.

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antrags bis zur Ausreise oder bis zum Vollzug der Abschiebungsandrohung oder ‑anordnung, längstens jedoch bis zu 18 Monate, in der für ihre Aufnahme zuständigen Aufnahmeeinrichtung zu wohnen. Über 18 Monate hinaus müssen Ausländer_innen in einer Aufnahmeeinrichtung wohnen, wenn sie zum Beispiel ihre Mitwirkungspflichten nach § 15 Abs. 2 AsylG (wiederholt) ohne genügende Entschuldigung verletzen oder die unverschuldet unterbliebene Mitwirkungshandlung nicht unverzüglich nachgeholt haben. Bei minderjährigen Kindern und ihren Eltern oder anderen Sorgeberechtigten sowie ihren volljährigen, ledigen Geschwistern ist die Dauer auf längstens bis zu sechs Monate beschränkt. Kommen Asylsuchende aus einem sicheren Herkunftsstaat, § 29a AsylG10, so beseht gemäß § 47 Abs. 1a AsylG die Wohnpflicht bis zur Entscheidung des BAMF über den Asylantrag und im Falle der Ablehnung des Asylantrags nach § 29a AsylG als offensichtlich unbegründet oder nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig bis zur Ausreise oder bis zum Vollzug der Abschiebungsandrohung oder -anordnung. Mit dem Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 20.07.2017 wurde § 47 Abs. 1b AsylG eingefügt.11 Durch die Vorschrift wird § 47 Abs. 1 AsylG dahingehend erweitert, dass in Anlehnung an die Regelung für Asylbewerber_innen aus sicheren Herkunftsstaaten (§ 47 Abs. 1a AsylG) für die Bundesländer die Möglichkeit zur Verlängerung der Wohnverpflichtung auf 24 Monate besteht. Die Wohnverpflichtung endet vor Ablauf von 24 Monaten, wenn das BAMF über den Asylantrag entschieden hat, im Falle der Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet oder als unzulässig bis zur Ausreise oder bis zum Vollzug der Abschiebungsandrohung oder -anordnung. Zusätzlich zur steten Ausweitung der Dauer der Wohnverpflichtung sieht die Bundesregierung seit August 2018 auf der Grundlage des Masterplans Migration12 sogenannte Ankunfts-, Entscheidungs- und Rückführungszentren

10Gemäß Anlage II zu § 29a AsylG sind die folgenden Staaten sichere Herkunftsstaaten: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Ghana, Kosovo, Mazedonien, ehemalige jugoslawische Republik, Montenegro, Senegal, Serbien. 11Heusch in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 24. Edition, Stand: 01.11.2019, § 47 AufenthG Rn. 12b ff.; Neundorf, ZAR 2018, S. 437 ff. 12Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Masterplan Migration, 2018, abrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/topthemen/DE/topthema-masterplanmigration/topthema-masterplan-migration.html, zuletzt besucht am 2.1.2020; dazu auch Kluth, ZAR 2018c, S. 297 ff.

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(AnkER-Zentren) vor, ohne dass dadurch die Rechtslage geändert wurde.13 Laut dem Bundesinnenministerium besteht das Ziel der AnkER-Zentren in der Optimierung der Asylverfahren. Dazu sollen in den AnkER-Zentren sämtliche beteiligte Behörden des Bundes, der Länder und Kommunen vor Ort zusammenarbeiten. Die Asylverfahren sollen von Beginn bis zum Abschluss in AnkERZentren durchgeführt werden. Ein weiteres Prinzip besteht im konsequenten Vorrang von Sach- vor Geldleistungen. Die Optimierung des Asylverfahrens orientiert sich jedoch nicht an den Bedürfnissen der Geflüchteten, sondern legt den Schwerpunkt einseitig auf die Verfahrensbeschleunigung. Es ist zwar richtig, dass die Verfahrensbeschleunigung auch im Interesse der Geflüchteten liegt, allerdings werden die Vorteile durch die massiven negativen Auswirkungen nivelliert. So zeigt beispielsweise die erhebliche Ausweitung der Wohnverpflichtung in (Erst-)Aufnahmeeinrichtungen beziehungsweise AnkER-Zentren, dass sich hier eine Ausnahmeregelung über die Zeit zu einer Grundregel entwickelt hat, ohne dass diese Entwicklung mit der konkreten Ausgestaltung der Lebenssituation in den Unterkünften korreliert. Bei den (Erst-)Aufnahmeeinrichtungen und AnkER-Zentren handelt es sich um Massenunterkünfte, die für die Belegung mit mehreren Hundert Personen ausgelegt sind. Die Unterbringung mehrerer Personen in einem Zimmer ist ebenso wie die gemeinschaftliche Nutzung von Sanitäranlagen der Regelfall. Es besteht häufig keine Kochmöglichkeit, sodass die Verpflegung zentral in der Einrichtung gesteuert wird. Frauen, Männer und Familien werden gemeinsam in den Einrichtungen untergebracht, sodass Frauen und Kinder erheblichen Risiken ausgesetzt sind.14 Es herrscht also insgesamt eine Lebenssituation, die per se nicht geeignet ist, Geflüchteten das Ankommen und in der Folge die Integration zu erleichtern. Die Art und Weise der Unterbringung in den Einrichtungen und die zeitliche Ausdehnung der Wohnpflicht wirken sich erheblich auf die Integration der

13Siehe dazu Kluth, ZRP 2018b, S. 190 ff.; Riebau/González Méndez de Vigo, Verfassungsblog 2018/6/11, https://verfassungsblog.de/ankerzentren-verdorbener-wein-inneuen-schlaeuchen/ (zuletzt besucht am 03.01.2020). 14Siehe zu Präventionskonzepten: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend/UNICEF, Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften, 2017. Abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/ mindeststandards-zum-schutz-von-gefluechteten-menschen-in-fluechtlingsunterkuenf ten/117474 (zuletzt besucht am 03.01.2019).

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Geflüchteten aus. Das tritt besonders deutlich bei den AnkER-Zentren hervor.15 Ein umzäuntes und besonders gesichertes Großareal beeinträchtigt erheblich die Interaktion zwischen Geflüchteten innerhalb der AnkER-Zentren und Personen außerhalb. Teilweise erschwert die örtliche Randlage der AnkER-Zentren, wie beispielsweise im Fall der AnkER-Zentren Manching oder Zirndorf, die Integration zusätzlich. Durch die damit verbundene Isolation der Geflüchteten in den AnkER-Zentren ist der Zugang zur Schule, Arbeit, zu Nachbarn oder Ehrenamtlichen kaum oder nur eingeschränkt möglich.16 Auch die gesellschaftliche Wirkung der Ausgrenzung und Stigmatisierung von Geflüchteten durch die Unterbringung in AnkER-Zentren darf nicht unterschätzt werden. Die monatelange Unterbringung in (Erst-)Aufnahmeeinrichtungen oder AnkERZentren bewirkt somit im Ergebnis Isolation statt Integration. Die gesetzliche Ausgestaltung der Wohnsituation Geflüchteter ist von daher ein weiteres Beispiel für das Recht als Integrationshemmnis.

4 Einschränkung der Bewegungsfreiheit Weitere Elemente, die die Integration von Geflüchteten hemmen, sind die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung (§§ 56 ff. AsylG) und die Wohnsitzregelung (§ 12a AufenthG).

4.1 Räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung, §§ 56 ff. AsylG Gemäß § 55 Abs. 1 S. 1 AsylG ist Ausländer_innen, die um Asyl nachsuchen, zur Durchführung des Asylverfahrens der Aufenthalt im Bundesgebiet ab Ausstellung des Ankunftsnachweises gemäß § 63a Abs. 1 AsylG gestattet (Aufenthaltsgestattung). Gemäß § 56 Abs. 1 ist die Aufenthaltsgestattung räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, in dem die für die Aufnahme des_

15Dazu

auch Pro Asyl, Warum Ankerzentren eine schlechte Idee sind, 2018. Abrufbar unter: https://www.proasyl.de/hintergrund/warum-ankerzentren-eine-schlechte-idee-sind/ (zuletzt besucht am 03.01.2020). 16Vergleiche dazu BumF et al., Stellungnahme: Ankerzentren für Kinder und Jugendliche ungeeignet, 2018. Abrufbar unter: https://b-umf.de/material/stellungnahme-ankerzentrenfuer-kinder-und-jugendliche-ungeeignet/ (zuletzt besucht am 03.01.2020).

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der Ausländer_in zuständige Aufnahmeeinrichtung liegt. Ob und unter welchen Voraussetzungen Asylsuchende den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde verlassen dürfen, richtet sich nach § 57 AsylG und § 58 AsylG.17 Sofern Asylsuchende verpflichtet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, kann das BAMF erlauben, den Geltungsbereich der Aufenthaltsgestattung vorübergehend zu verlassen, wenn zwingende Gründe es erfordern, § 57 Abs. 1 AsylG. Es muss sich also um ein vorübergehendes Verlassen handeln und es müssen zwingende Gründe für das Verlassen vorliegen. Zwingende Gründe liegen vor, wenn sie objektiv von einem nicht unerheblichen Gewicht sind und subjektiv in der Person des_der Asylbewerber_in zwingend erscheinen. Das ist regelmäßig insbesondere bei familiären, religiösen, beruflichen oder auch medizinischen Gründen der Fall. Gemäß § 57 Abs. 2 AsylG soll zur Wahrnehmung von Terminen bei Bevollmächtigten, beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen und bei Organisationen, die sich mit der Betreuung von Flüchtlingen befassen, die Erlaubnis unverzüglich erteilt werden. Die Erlaubnis ist aufgrund der Ausgestaltung als Soll-Vorschrift zu erteilen, sofern keine atypische Fallkonstellation vorliegt. Erlaubnisfrei, aber anzeigepflichtig ist gemäß § 57 Abs. 3 AsylG die Wahrnehmung von Terminen bei Behörden und Gerichten, bei denen ein persönliches Erscheinen erforderlich ist. Gemäß § 59a Abs. 1 S. 1 AsylG erlischt die räumliche Beschränkung nach § 56 AsylG, wenn sich Ausländer_innen seit drei Monaten ununterbrochen erlaubt, geduldet oder gestattet im Bundesgebiet aufhalten. Das gilt gemäß § 59a Abs. 1 S. 2 AsylG nicht, solange die Verpflichtung der Ausländer_innen, in der für ihre Aufnahme zuständigen Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, fortbesteht (siehe dazu oben).18 Laut der Gesetzesbegründung sind die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung im Hinblick auf den zeitlich befristeten Aufenthalt von Geflüchteten in der Aufnahmeeinrichtung und die Notwendigkeit einer zügigen Durchführung des Asylverfahrens sachgerecht.19 Berücksichtigt man allerdings, dass die Wohnpflicht mittlerweile erheblich ausgeweitet wurde, kann diese

17Vergleiche im Folgenden statt vieler: Neundorf in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 24. Edition, Stand: 01.08.2019, § 57 Rn. 5 ff. 18§ 58 AsylG ist nur noch von geringer Bedeutung, da in der Regel die Verpflichtung, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, bis zum Abschluss des Asylverfahrens besteht und der_die Asylsuchende mit Abschluss des Asylverfahrens die Aufenthaltsgestattung verliert. Siehe zur Wohnsitzauflage nach Erlöschen der räumlichen Beschränkung der Aufenthaltsgestattung § 60 AsylG. 19BT-Drs. 12/2062, S. 38.

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Begründung heute nicht mehr tragen, da sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung des alltäglichen Lebens der Geflüchteten führt. Hinzu kommt, dass sich der Bezirk der Ausländerbehörde nicht an den Bedürfnissen der Geflüchteten orientiert, sondern allein anhand von Verwaltungsgrenzen bestimmt wird. Das kann gerade im ländlichen Raum dazu führen, dass Geflüchtete weitere Wege in Kauf nehmen müssen, weil sich die eigentlich nahliegende größere Stadt in einem anderen Verwaltungsbezirk befindet. Die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung stellt somit ein massives gesetzliches Hemmnis bei der Integration von Geflüchteten dar.

4.2 Wohnsitzregelung, § 12a AufenthG § 12a Abs. 1 S. 1 AufenthG normiert, dass zur Förderung einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland Ausländer_innen, die als Asylberechtigte, Flüchtlinge im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG oder subsidiär Schutzberechtigte im Sinne von § 4 AsylG anerkannt worden sind oder denen nach § 22 AufenthG oder § 25 Abs. 1 AufenthG erstmalig eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist, verpflichtet sind, für den Zeitraum von drei Jahren ab Anerkennung oder Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in dem Land ihren gewöhnlichen Aufenthalt (Wohnsitz) zu nehmen, in das sie zur Durchführung ihres Asylverfahrens oder im Rahmen ihres Aufnahmeverfahrens zugewiesen worden sind.20 Das findet gemäß § 12a Abs. 1 S. 2 AufenthG keine Anwendung, wenn Ausländer_innen, ihre Ehegatt_innen, eingetragenen Lebenspartner_innen oder minderjährigen ledigen Kinder, mit denen sie verwandt sind und in familiärer Lebensgemeinschaft leben, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit einem Umfang von mindestens 15 h wöchentlich aufnehmen oder aufgenommen haben, durch die diese Personen mindestens über ein Einkommen in Höhe des monatlichen durchschnittlichen Bedarfs nach den §§ 20, 22 SGB II für eine Einzelperson verfügen, oder eine Berufsausbildung aufnehmen oder aufgenommen haben oder in einem Studien- oder Ausbildungsverhältnis stehen. Laut Gesetzgeber ist das Ziel der Wohnsitzregelung die Ermöglichung einer schnellen und nachhaltigen Integration durch die Unterstützung und Einforderung

20Statt

22 ff.

vieler: Röcker in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 12a Rn.

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von Integrationsbemühungen bei gleichzeitiger Vermeidung einer integrationshemmenden Segregation von Personen, die keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, keiner Ausbildung oder keinem Studium nachgehen und die aufgrund ihres Flüchtlingshintergrundes vor besonderen Integrationsherausforderungen stehen.21 Dieser Ansatzpunkt ist nicht frei von Widersprüchen. Er funktioniert zunächst nur unter der Prämisse, dass Geflüchtete ihren Wohnort nicht primär nach den Erfordernissen des Arbeitsmarkts ausrichten, sondern dahin ziehen, wo bereits viele Geflüchtete und andere Ausländer_innen wohnen.22 Dass Segregation zahlreiche Ursachen hat und beispielsweise auch durch überbordende Mietpreise ausgelöst wird, ignoriert der Gesetzgeber. Des Weiteren unterscheidet der Gesetzgeber hinsichtlich der Anforderungen an die Mobilität von Arbeitssuchenden. Während deutschen Arbeitssuchenden ein hohes Maß an Mobilität und Flexibilität abverlangt wird, werden Geflüchtete durch die Wohnsitzregelung an der Integration in den Arbeitsmarkt gehemmt. Da die Zuweisung in ein Bundesland und die jeweilige Verteilung innerhalb des Bundeslandes die Belange der Geflüchteten ignorieren, wird es dem Zufall überlassen, wie hoch die Integrationschancen des_der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt tatsächlich sind. Der Logik des Arbeitsmarkts folgend, sind sie umso schlechter, je strukturschwächer die Region ist. Der Einwand, dass die Wohnsitzregelung entfällt, wenn der_die Geflüchtete eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit einem Umfang von mindestens 15 h wöchentlich aufnimmt, greift zu kurz, da Geflüchtete häufig durch ihr aufgebautes soziales Umfeld in den Arbeitsmarkt integriert werden. Die Wohnsitzregelung reiht sich somit in die rechtlichen Rahmenbedingungen ein, die, statt die Integration von Geflüchteten zu fördern, im Ergebnis die Integration hemmen.

5 Fazit Recht als Hemmnis der Integration ist nur ein Teil der Medaille. Es gibt zahlreiche andere Vorschriften, die die Integration implizit oder explizit fördern. Regelmäßig werden Maßnahmen, die die Integration massiv erschweren, durch

21BT-Drs

18/8615 S. 1, 42 ff. aber Ritgen, ZAR 2018, S. 409 (423) unter Verweis auf Kluth/Giesen, Gutachten D zum 72. DJT, 2018.

22So

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das Argument vom Gesetzgeber gerechtfertigt, dass die Maßnahmen zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung des Rechtsstaats erforderlich seien.23 Die ausdrückliche Hervorhebung der Nachteile für Geflüchtete, ohne, wie in der Rechtswissenschaft üblich, die Legitimation der Einschränkungen anzuführen, lenkt den Blick auf das eigentliche Problem. Wenn das Recht die Integration hemmt, mag das auf den ersten Blick den Rechtsstaat fördern. Auf den zweiten Blick muss jedoch die Tatsache in den Fokus geraten, dass zunächst die Geflüchteten als schwächstes Glied erheblich leiden und in der Folge durch fehlende Integration massive sozialstaatliche Folgekosten entstehen, die gerade nicht durch die (vermeintliche) Stärkung des Rechtsstaats ausgeglichen werden. Oberstes Gebot zukunftsträchtigen politischen Handelns auf dem Gebiet des Aufenthalts- und Asylrechts muss die Integration sein. Das erfordert auch, dass bei dogmatischen Widersprüchen zwischen Recht und Integration die Widersprüche durch eine maßvolle und humane Sozialpolitik ausgeglichen werden.

Literatur Bergmann, J., & Dienelt, K. (Hrsg.). (2018). Ausländerrecht (12. Aufl.). München: Beck. BumF et al. (2018). Stellungnahme: Ankerzentren für Kinder und Jugendliche ungeeignet. https://b-umf.de/material/stellungnahme-ankerzentren-fuer-kinder-und-jugendliche-ungeeignet/. Zugegriffen: 3. Jan. 2020. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend/UNICEF. (2017). Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften. https:// www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/mindeststandards-zum-schutz-vongefluechteten-menschen-in-fluechtlingsunterkuenften/117474. Zugegriffen: 3. Jan. 2019. Eichenhofer, J. (2013). Begriff und Konzept der Integration im Aufenthaltsgesetz. ­Baden-Baden: Nomos. Eichenhofer, J. (2016). Integrationsgesetzgebung. ZAR, 36, 251. Hofmann, R. M. (Hrsg.). (2016). Ausländerrecht (2. Aufl.). Baden-Baden: Nomos. Kluth, W. (2018a). Migration und ihre Folgen – Wie kann das Recht Zuwanderung und Integration regulieren? NJW-Beilage, 2, 46 ff. Kluth, W. (2018b). AnkER-Zentren – Ein Blick hinter die Kulissen eines migrationspolitischen Akronyms. ZRP, 7, 190 ff. Kluth, W. (2018c). Der „Masterplan Migration“ aus der Sicht der Migrationsrechtswissenschaft. ZAR, 8, 297 ff. Kluth, W., & Giesen, R. (2018). Gutachten D zum 72. Deutschen Juristen Tag. München: Beck.

23Ein

Beispiel in dieser Hinsicht ist das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (Geordnete-Rückkehr-Gesetz).

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Kluth, W., & Heusch, A. (Hrsg.). BeckOK Ausländerrecht (24. Aufl.). Stand: 01.11.2019. München: Beck. Neundorf, K. (2018). Verlängerte Wohnverpflichtung in Erstaufnahmeeinrichtungen – Zur Umsetzung des § 47 Absatz I b AsylG in den Bundesländern. ZAR, 11/12, 437. Oberhäuser, T. (Hrsg.). (2019). Migrationsrecht in der Beratungspraxis (1. Aufl.). ­Baden-Baden: Nomos. Pro Asyl. (2018). Warum Ankerzentren eine schlechte Idee sind. https://www.proasyl.de/ hintergrund/warum-ankerzentren-eine-schlechte-idee-sind/. Zugegriffen: 3. Jan. 2020. Riebau, M., & Onzález Méndez de Vigo, N. Ankerzentren – Verdorbener Wein in neuen Schläuchen?, Verfassungsblog 2018/6/11. https://verfassungsblog.de/ankerzentrenverdorbener-wein-in-neuen-schlaeuchen/. Zugegriffen: 30. Jan. 2020. Ritgen, K. (2018). Die rechtliche Steuerung von Zuwanderung und Integration in Gesellschaft, Arbeitsmarkt und Sozialordnung. ZAR, 11/12, 409.

Dr. Lasse Gundelach, ist Professor für Recht unter besonderer Berücksichtigung des Sozial- und Ausländerrechts am Fachbereich Soziale Arbeit an der Katholische Hochschule Mainz.

Sozialraum und Soziale Arbeit Reinhold Knopp

Zusammenfassung

Es geht um theoretische Zugänge zum Begriff Sozialraum: Dazu werden Hinweise aus der Stadt- und der Raumsoziologie dargestellt. Von Bedeutung ist ein Verständnis, dass eine wechselseitige Bedingung und Veränderung der materiellen Gestalt (Ausstattung) von Raum und menschlichem Handeln im Raum beinhaltet. Die Aneignung von Raum vollzieht sich widersprüchlich und in neuen Dimensionen durch virtuelle Räume. Welche Bedeutung hat dies für die Soziale Arbeit im Sozialraum? Dazu liefert ein Rückbezug auf die politischen Inhalte der Gemeinwesenarbeit Hinweise. Verdrängung durch die Entwicklungen und Wohnungsmarkt und Mobilitätsanforderungen aufgrund von Flucht und Ankommen verweisen auf neue Herausforderungen in der Sozialen Arbeit im Sozialraum, u. a. die Förderung von ortsungebundener Sozialraumkompetenz. Schlüsselwörter

Sozialraumbegriff · Stadt- und Raumsoziologie · Neue Dimensionen von Aneignung · Soziale Arbeit im Sozialraum · Sozialraumkompetenz

R. Knopp (*)  Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_6

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1 Einleitung Die Bedeutung „des Räumlichen“ liegt bei den Themen Flucht und Migration sehr nahe. Schließlich haben Menschen eine vertraute Umgebung, in der sie als Akteur_innen Teil des sozialräumlichen Lebens waren, verlassen und tausende von Kilometern überwunden, um ‚irgendwo‘ anzukommen. Den konkreten Ort des Aufenthalts in diesem ‚Irgendwo‘ können sie bei der Ankunft in der Regel nicht selber bestimmen und mussten oder müssen sich noch mit einer neuen räumlichen Umgebung arrangieren – in Aufnahmestationen und deren Umgebung in bestimmten Städten, Gemeinden und Gegenden. Der hohen Mobilität des „Durchquerens“ von Ländern, Meeren und Grenzen folgt damit bei der ersten Station des Ankommens eine starke Einschränkung. Parallel dazu sind die meisten der Geflüchteten über Mobilfunkgeräte im virtuellen Raum unterwegs, denn ohne die Kommunikation darüber ist sowohl die Flucht selber als auch das erste Ankommen kaum möglich bzw. ertragbar. Ein Beispiel aus der konkreten Praxis veranschaulicht die sozialräumlichen Bezüge in der Lebenssituation von in Deutschland angekommenen Geflüchteten mit Bleibeperspektive: Eine geflüchtete Familie lebt über eine längere Zeit in einer Aufnahmestation in einem Stadtteil, in dem sie von Akteur_innen der Sozialen Arbeit erreicht und zu verschiedenen Angeboten vermittelt wird. Sowohl die Eltern als auch die Kinder finden in einem Familienzentrum Möglichkeiten der Teilnahme an Angeboten und Beratung in den wichtigen Fragen des ­‚Wie-Weiter‘ mit Asylantrag, Wohnungssuche und Betreuung. Akteur_innen der Sozialen Arbeit und auch bürgerschaftlich Engagierte öffnen den Zugang zu den sozialen und kulturellen Ressourcen im Stadtteil. Nachdem die Familie mehrere Stationen des Ankommens absolviert hat und ihr eine Wohnung in einem anderen Stadtteil der gleichen Stadt vermittelt worden ist, verliert ‚die‘ Soziale Arbeit den Kontakt. Hier zeigen sich Chancen und auch Grenzen für eine sozialräumliche Integration. Eine Konzentration der Begleitung von Geflüchteten auf eine Station ihres Ankommens kann zunächst hilfreich sein, verweist aber bei einem Wechsel des Standortes auf neue Herausforderungen der Unterstützung. Bei diesem konkreten ‚Fall‘ hat ein bürgerschaftlich Engagierter den Kontakt aufrechterhalten und das Ankommen der Familie auch im neuen Stadtteil unterstützt, u. a. durch ein Sich-Vorstellen in dem Haus, in dem sie eine Wohnung gefunden hat. Weil Flucht und Migration so viel mit unterschiedlichen Orten und (­Sozial-) Räumen zu tun haben, soll an dieser Stelle den Chancen und Herausforderungen von sozialräumlicher Sozialer Arbeit in diesem Kontext nachgegangen werden. Dafür werden im Folgenden einige Grundbegriffe eingeführt sowie aktuelle Ent-

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wicklungen – insbesondere im Hinblick auf Raum als Ware – dargestellt, um abschließend auf die sozialraumorientierte Soziale Arbeit und Chancen einzugehen, die diese für eine Soziale Arbeit mit politischem Mandat bieten. Zugleich soll aufgezeigt werden, dass sich trotz Berücksichtigung der Besonderheiten der Situation von Geflüchteten auch andere ‚soziale Gruppen‘ im Hinblick auf den Zugang zu den Ressourcen eines Sozialraumes und auch einer Gesamtstadt bzw. den Ausschluss davon in einer ähnlichen Lage befinden und damit potenzielle Adressat_innen sozialraumbezogener Sozialer Arbeit sind.

2 Sozialraum, Quartier und Stadtteil Die Veröffentlichungen ‚Handbuch Sozialraum‘ (Kessl et al. 2005)1 und ‚Handbuch Stadtsoziologie‘ (Eckardt 2012) bieten zahlreiche Beiträge, um sich der inhaltlichen Bestimmung von Sozialraum, Quartier und Stadtteil zu nähern. Dabei werden unterschiedliche Zugänge präsentiert, die sich letztendlich alle auf die räumliche Dimension der Lebenswelt von Menschen beziehen. In der Stadtsoziologie werden mit dem Begriff der Urbanität Abgrenzungen zum ländlichen Raum vorgenommen, die allerdings in der Entwicklung neuer Medien und aufgrund der Veränderungen der Lebensweise zunehmend an Bedeutung verlieren (Siebel 2012). Unter der Überschrift sozialräumliche Segregation (Farwick 2012) wird die überdurchschnittliche Konzentration von Armut und Benachteiligung in konkreten Gebieten erfasst. Es handelt sich hier nicht um ein statisches Verständnis von (Sozial-)Raum, denn die gesellschaftlichen Tendenzen und das Agieren von Akteur_innen im Raum werden in den Blick genommen. Dies zeigt sowohl die Auseinandersetzung um die unterschiedlichen Formen von sozialräumlicher Segregation (Häußermann et al. 2004) als auch über die Entwicklung von Urbanität (Siebel 2015). Besonders dynamisch in der Betrachtung stadtsoziologischer Forschung gestaltet sich dies im Begriff der Gentrifizierung (Holm 2012), die das Interagieren zwischen unterschiedlichen Akteursgruppen (‚Verdrängung‘) in dem städtischen Raum, den ­baulich-materiellen Ausstattungen dort (‚Sanierung‘) sowie der Entwicklung von neuen Nutzungen beinhaltet: Die Nachfrage von Studierenden und Künstler_ innen nach Wohn- und Arbeitsraum führt sowohl zu Sanierungen von Altbauten als auch zu neuen Infrastrukturen, insbesondere im Bereich der Gastronomie,

1Erweiterte

2. Auflage ist 2018 erschienen.

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und über diesen Aufwertungsprozess ziehen neue, finanzielle bessergestellte Akteursgruppen in ein solches Stadtquartier und lösen damit neue Prozesse von Veränderung aus. Solche dynamischen Prozesse zeigen inzwischen sehr unterschiedliche Entwicklungen und Ausdrucksformen und können auch durch städtebauliche Planungen „top down“ vollzogen werden (Üblacker 2018). In der Raumsoziologie wird kritisch2 auf die stadtsoziologische Herangehensweise an das Verständnis von (Sozial-)Raum (Löw 2001, S. 44 ff.) geblickt und die Konstitution des Räumlichen in den Fokus genommen: „Jede Konstitution von Raum ist damit bestimmt durch die sozialen Güter und Menschen zum einen und durch die Verknüpfung derselben zum anderen.“ (Löw und Sturm 2005, S. 43) Das Verhältnis von sozialen Gütern im Raum und dem Agieren von Menschen wird somit als „relational“ verstanden, d. h., nicht nur die Menschen gestalten durch ihr Agieren und Interagieren mit den vorzufindenden Ausstattungen an einem Ort einen (Sozial-)Raum, sondern auch „soziale Güter entfalten eine Außenwirkung zum Beispiel in Gerüchen und Geräuschen […]“ (ebenda, S. 44). Mitunter kommt ein geschichtliches „Aufgeladensein“ des Ortes hinzu, das ebenfalls die Konstitution von Raum beeinflusst. Eine in der Raumsoziologie beschriebene Variante der Ausgestaltung dieses Verhältnisses zwischen Menschen und sozialen Gütern ist die sog. Syntheseleistung (Löw 2001, S. 158 ff.). Hierbei eignen sich die Menschen die Informationen an, die die Ausgestaltung eines Raumes bieten, und verhalten sich so, wie diese es vorgeben – vielfach im Falle einer stark vorgegebenen Nutzungsstruktur und Kontrolle derselben durch sog. ‚Raumwächter‘, wie dies z. B. in einer Shopping Mall der Fall ist (Deinet 2018). Eine andere Variante ist die (Um-)Nutzung von vorgegebenen Strukturen und dies wird als Spacing (Löw 2001, S. 158 ff.) bezeichnet: „Spacing bezeichnet bei beweglichen Gütern oder bei Menschen sowohl den Moment der Platzierung als auch die Bewegung zur nächsten Platzierung“ (Löw 2018, S. 44). Allerdings verweist Martina Löw auf das Zusammenspiel von Syntheseleistung und Spacing: „Im alltäglichen Handeln der Konstitution von Raum existiert eine Gleichzeitigkeit der Syntheseleistung und des Spacing, da Handeln immer prozesshaft ist.“ (ebenda) Mit Blick auf die unterschiedlichen Herangehensweisen an den Raumbegriff plädieren Fabian Kessl und Christian Reutlinger dafür, eine „Gleichzeitigkeit

2Martina

Löw stellt kritisch die Frage, inwieweit „Raum eine zentrale Kategorie der Theoriefindung“ in der Stadt- und Regionalsoziologie ist (Löw 2001, S. 44).

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von konstruktivistischen und materialistischen Einsichten“ über den Raum zu akzeptieren: „Hilfreich ist vielmehr ein relationaler Raumbegriff, der die Verschränkung beider Dimensionen im Blick behält: das Wechselspiel von symbolischer Wirkung materialisierter Raumanordnungen und deren permanente (Re)Konstruktion als Kampf um die Vorherrschaft bestimmter Redeweisen vom Raum. Raumtheorie kann damit aber nicht mehr heißen, einen unabhängig von konkreten sozialen Praktiken gültigen Raumbegriff bestimmen zu wollen.“ (Kessl und Reutlinger 2007, S. 27 – H. i. Original)

Sowohl in der Stadt- als auch der Raumsoziologie kommt der Qualität der materiellen Ausgestaltung Bedeutung bezogen auf das Verhalten im Raum zu: Ist diese „fix“ oder lässt sie Flexibilität zu, z. B. durch einen freien (‚unmöblierten‘) Platz. Ist eine vielfältige Nutzung zugelassen, z. B. dadurch, dass Bänke nicht fest installiert und damit nach Bedarf für die Kommunikation umgestellt werden können? Lädt die Anordnung des Baulichen zum Verweilen ein oder schließt sie dies eher aus, wie Richard Sennett es Mitte der 70er Jahre am Beispiel der Promenade des Brunswick Centre in London schildert: „Diesen Raum durchquert man, man benutzt ihn nicht; sich für längere Zeit auf einer der wenigen Betonwände auf der Promenade niederzulassen ist ebenso unerfreulich, wie sich in einer riesigen, leeren Halle zur Schau zu stellen.“ (Sennett 1986, S. 28) Bei der Konstruktion von Räumen kommt allerdings auch den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Machtstrukturen große Bedeutung zu, dies ist in der Auseinandersetzung um ‚den‘ öffentlichen Raum ein vorrangiges Thema (Klamt 2012, S. 792 ff.). So ist es entscheidend, ob es sich um private Räume handelt, deren Nutzung zulasten des öffentlichen Raumes eingeschränkt werden kann. Ordnungsanweisungen gibt es z. B. in den Bahnhöfen der Deutschen Bahn und weniger sichtbar in den großen Shopping Malls. Ebenso ist eine Privatisierung von Raum häufig mit Konsumzwängen verbunden, wie z. B. bei einer Außengastronomie. Auch im öffentlichen Raum gibt es Regeln, die über die Strafgesetze hinausreichen. So beinhalten in den Kommunen sog. Straßensatzungen oder auch Nutzungssatzungen Ordnungsanweisungen, die sich sowohl auf den Aufenthalt (‚Lagern‘) als auch das Verhalten beziehen. Es können ebenso ‚Raumkämpfe‘ entstehen, weil bestimmte Gruppen keinen anderen Ort haben und sich zugleich in bestimmten Stadträumen anders als gesellschaftlich erwünscht verhalten und z. B. Spielorte okkupieren.

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3 „Aneignung als Verknüpfung von Räumen“ Ulrich Deinet und Christian Reutlinger beziehen sich einleitend in einem Beitrag für das Handbuch Sozialraum zum Thema „Aneignung“ auf die Arbeiten der sog. Kulturhistorischen Schule in der Sowjetunion der 20er und 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, insbesondere durch Alexejew Nikolajew Leontjew, und auf die Weiterentwicklung dieses Ansatzes durch die Kritische Psychologie. Kernaussage ist dabei, dass durch das menschliche Schaffen im historischen Prozess materialisierte „Gegenstandsbedeutungen“ verdinglicht werden, die sich jede folgende Generation durch Tätigkeit aneignen muss – weshalb von einem Aneignungskonzept gesprochen wird (Deinet und Reutlinger 2005, S. 297 f.). „Ausgangspunkt dieses Konzeptes war die Annahme, dass sich die konkreten Verhältnisse in einer Gesellschaft räumlich vermitteln […] und dass Aneignungsprozesse eingebettet sind in räumliche Strukturen“ (Deinet et al. 2018, S. 9), womit auch die Regeln und Normen einer Gesellschaft in ihrer jeweils aktuellen ‚Gestalt‘ mit einbezogen sind. Das Aneignungskonzept wurde meist im Kontext informeller Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen genutzt (Deinet 1999). Die Entgrenzung von Lebenswelten, insbesondere durch die neuen Medien, und neuere Erkenntnisse aus der Raumsoziologie von Martina Löw über die Konstitution von Räumen nehmen Deinet und Reutlinger zum Ausgangspunkt einer Erweiterung des ‚klassischen‘ Aneignungsbegriffes durch eine aktive Verknüpfung von Räumen. „Kinder und Jugendliche, die in der Mediengesellschaft bzw. einer verinselten Lebenswelt aufwachsen, entwickeln nicht nur gleichzeitig unterschiedliche Raumvorstellungen […], sondern auch die Fähigkeit, sozusagen in unterschiedlichen Räumen gleichzeitig zu agieren.“ (Deinet und Reutlinger 2005, S. 304)

Damit besteht die Möglichkeit, sowohl am konkreten Ort des aktuellen Aufenthaltes als auch via diverse Medien in entfernten Räumen Aneignungsprozesse durchzuführen, und hinzu kommt noch die aktive oder passive Teilnahme an virtuellen Räumen durch das Internet (ebenda). Die Weiterentwicklung einer Theorie und Praxis der Aneignung von Raum – und dies auch unter der zunehmenden Ausgrenzung aus Räumen (ebenda, S. 306) – ist jedoch nicht auf Kinder und Jugendliche beschränkt, sondern auch für Erwachsene relevant (Deinet et al. 2018, S. 8).

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4 Raum als Ware Die Privatisierung von Räumen ist keine Erscheinung, die erst der zweiten Moderne oder auch reflexiven Moderne3 zugeordnet werden kann, wie dies das folgende Zitat veranschaulicht: „Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse […] durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietspreise [sic!], eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden.“ (Engels 1962, S. 213)

Diesen Text hat Friedrichs Engels 1872 „Zur Wohnungsfrage“ geschrieben. Die Einstellung der Investitionen in den ‚Sozialen Wohnungsbau‘ und die Privatisierung von landeseigenen Wohnungsgesellschaften, wie z. B. in NRW der LEG, leiteten bereits in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Renaissance der ‚Wohnungsfrage‘ in Deutschland ein. Mit der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank geht allerdings gegenwärtig eine Entwicklung in den Städten einher, der eine neue Dimension zukommt: Die Investitionen in das sog. ‚Betongold‘, also in Häuser und Wohnungen, haben zu einem enormen Preisanstieg für den Erwerb von Eigentum und Miete geführt (von Einem 2016, S. 51). Andrej Holm hat dazu bereits vor nunmehr fünf Jahren unter dem Titel „Mieten Wahnsinn“ eine prägnante Analyse vorgelegt. Er kommt zu der Einschätzung, dass damit ein „Weg in die gespaltene Stadt“ einhergeht, denn die „Renditeaussichten lenken nun wie eine Weichenstellung die Investitionen in bestimmte Teile der Stadt“. (Holm 2014, S. 35) Inzwischen zeigt sich, dass diese Aussage durch die rasante Entwicklung am Wohnungsmarkt schon wieder auf den Prüfstand gestellt werden muss, da die Suche nach Rendite Wohnungsunternehmen auch in die Stadtteile führt, die nicht zu den bevorzugten Lagen gehören4. Der Anstieg der Mieten zunächst in den Großstädten und inzwischen auch in kleineren Umlandstädten führt zur Verdrängung und zu einem Wegzug, so textet die Westdeutsche Tageszeitung bezogen auf die aktuelle Entwicklung in Düssel-

3Der

Begriff der reflexiven Moderne wird von Ulrich Beck im Kontext seiner Individualisierungstheorie eingeführt, Beck 1986. 4So hat die LEG Wohnungen ‚im Paket‘ in Düsseldorf Hassels übernommen und ist auch in Düsseldorf Garath mit kontinuierlichen Mieterhöhungen präsent.

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dorf: „Trotz wachsender Stadt: Die Zahl der Familien sinkt.“ (wz 28.12.2019, S. 15) Betroffen sind allerdings nicht nur Familien, die sich zu einem Umzug ins Umland gezwungen sehen, sondern auch vor allem die Gruppen der Stadtbewohnerschaft, die am Wohnungsmarkt nur schwach oder gar nicht ‚aufgestellt‘ sind: Menschen in Armutslagen, Ältere mit geringer Rente, Wohnungslose und auch Geflüchtete. Die nachgefragten Kommunen versuchen dieser Entwicklung in erster Linie durch das Bauen neuer Wohnungen entgegenzusteuern. Hierbei setzen sie überwiegend auf die Zusammenarbeit mit Investor_innen, da den kommunalen Wohnungsgesellschaften in der jüngeren Vergangenheit vielfach kaum Handlungsspielräume zugemessen wurden. Die Auseinandersetzungen um städtischen Raum sind allerdings auch in einem Zusammenhang mit Umweltfragen und der Verkehrswende zu betrachten. Aufgrund einer jahrzehntelangen Politik der Förderung des privaten Verkehrs nehmen in Folge Fahrspuren und Parkplätze für PKWs einen großen Teil des knapp gewordenen öffentlichen Raumes ein. Konfrontiert mit Klagen der Deutschen Umwelthilfe versuchen nun die Kommunen mit verschiedenen Maßnahmen der Einschränkung des privaten Verkehrs generelle Fahrverbote zu verhindern. Auch die Förderung von Fahrradwegen und Abstellmöglichkeiten für Fahrräder wird in diesem Zusammenhang angegangen, was nur auf Kosten von Fahrspuren für PKWs und Parkplätzen machbar ist. Bei diesen beiden Strängen der Auseinandersetzung um Raum in den nachgefragten Kommunen ist allerdings eine Verzahnung von Themen gegeben, so entstehen z. B. ‚Konkurrenzen‘ zwischen der Schaffung von Wohnraum und der Versiegelung von Grünflächen und Luftschneisen. Auch ist zu berücksichtigen, dass zwar eine autofreie Innenstadt als ökologisch sinnvolles Ziel angesteuert werden kann, dies aber für die gegenwärtig dort wohnende Stadtbevölkerung nur dann Sinn macht, wenn es ihr weiterhin möglich ist, die Mieten zu bezahlen. Das Beispiel Paris zeigt, wie eine Metropole ihre Innenstadt autofrei bzw. autoverkehrsarm gestaltet, aber zugleich die angestammte Wohnbevölkerung durch Verdrängung aufgrund hoher Mietpreise für Wohnungen und Geschäfte verliert und damit zu einem ökologischen Touristenort wird.

5 Sozialraumbezug in der Sozialen Arbeit Dem Sozialraum kommt in der Sozialen Arbeit Bedeutung zu als Nahraum der Menschen, wobei insbesondere das Wohnumfeld als Lebens-, Aktions- und Alltagsraum betrachtet wird (Oelschlägel 2008). In der Geschichte der Sozialen Arbeit sind mit dem Engagement der Settlement-Bewegung Ende des 19. Jahr-

Sozialraum und Soziale Arbeit

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hunderts erste Bezüge zur sozialräumlichen Lebenswelt von Menschen in benachteiligten Lebenslagen zu verzeichnen. Ziel der aus bürgerlichen Kreisen kommenden Settlement-Bewegung in Großbritannien und in den USA war es, die Lebensbedingungen in Stadtquartieren mit sozialer Benachteiligung, den sog. Armutsvierteln, zu verbessern. In Deutschland gab es mit den Nachbarschaftshäusern ein Pendant dazu (van Rießen 2018, S. 14). Soziales Engagement im Quartier benötigt ein Haus als wichtige Ressource für Treffen, Beratung und gegenseitige Unterstützung – dies und die Suche nach weiteren materiellen, aber auch personalen Ressourcen zeichnet diese ersten Schritte in Richtung Sozialraumorientierung aus. Wissenschaftlich reflektiert wurden diese Aktivitäten insbesondere von Jane Addams, die auch als Pionierin der Gemeinwesenarbeit bezeichnet wird (Staub-Bernasconi 2013, S. 37). Martin Becker verzeichnet ein vermehrtes Auftauchen des Begriffes ‚Sozialraumorientierung‘ „im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausenderwende“ und sieht dies vor allem im Zusammenhang mit der Diskussion über „Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit“. (Becker 2014, S. 25) Bezogen auf sozialräumliche Ansätze in der Kinder- und Jugendarbeit ist hier der Verweis auf noch frühere Arbeiten von Ulrich Deinet von Belang (Deinet 1999), der gemeinsam mit Richard Krisch die sozialräumlichen Ansätze und Methoden aktualisiert hat (Deinet und Krisch 2002). Mit dem „Fachkonzept Sozialraumorientierung“ und der „gängigen Stabreim-Formel ‚vom Fall zum Feld‘“ hat Wolfgang Hinte einen Aufschlag gemacht, bei dem der „konsequente Bezug auf die Interessen und den Willen der Menschen […] den Kern“ dieses Konzeptes bildet. (Hinte 2012, S. 7; Hinte et al. 1999) Zweifelsohne sind auch die in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts formulierten Ansätze aus der Gemeinwesenarbeit, insbesondere das ‚Arbeitsprinzip GWA‘ (Boulet et al. 1980), als Soziale Arbeit im Raum zu verstehen. Dieter Oelschlägel schreibt dazu: „Das Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit sieht seinen zentralen Aspekt in der Aktivierung der Menschen in ihrer Lebenswelt. Sie sollen zu Subjekten politisch aktiven Handelns und Lernens werden und zunehmend Kontrolle über ihre Lebensverhältnisse gewinnen.“ (Oelschlägel 1997, S. 37)

Sehr grob verallgemeinert lassen sich folgende Aussagen hinsichtlich der sozialraumbezogenen Ansätze in der Sozialen Arbeit treffen (Knopp und van Rießen 2020): Erstens reichen diese über eine Individualisierung sozialer Probleme hinaus, da damit die räumlichen Bedingungen in der Lebenswelt in den Blick genommen werden und diese eine Vielzahl von Menschen betreffen. Eine Verbesserung der Lebensqualität im Nahraum, Quartier und Stadtteil kann

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dazu beitragen, dass individuelle Probleme im Kontext einer anderen, positiven ‚Rahmung‘ stehen (z. B. soziale Infrastruktur oder auch unterstützende Nachbarschaft5) oder diese zumindest nicht verstärken. Zweitens besteht auf dieser sozialräumlichen Ebene die Möglichkeit, sich mit anderen gemeinsam für die Verbesserung der Lebensqualität (vor Ort) einzubringen und damit eine größere Handlungsfähigkeit zu erfahren6 (Knopp 2007). Drittens verweist der Blick auf die Qualität dieser räumlichen Bedingungen immer auch auf ‚das Politische‘, da diese aufgrund gesellschaftlicher Entscheidungen und entsprechender Machtverhältnisse zustande kommen. Dieter Oelschlägel formuliert dies im Kontext mit einem politischen Verständnis von Gemeinwesenarbeit: „Gemeinwesenarbeit ohne ein politisches Handeln gibt es nicht, denn indem es der Gemeinwesenarbeit nicht um das einzelne Individuum, sondern um viele Menschen […] geht, um gemeinsame, kollektive Problembehandlung, bleiben sowohl die Probleme als auch die Aktionen nicht privat.“ (Oelschlägel 1997, S. 40).

6 Sozialraumbezogene Soziale Arbeit – einige Hinweise Für die meisten Menschen ist die Lebensqualität in ihrem Nahraum, ihrem Quartier von großer Bedeutung – ausgenommen hiervon sind fast nur Menschen, die so hochgradig mobil arbeiten und leben, dass das Quartier lediglich ein ‚Ausgangspunkt‘ ihrer Aktivitäten ist. Die Angewiesenheit auf die Qualitäten im Sozialraum – sowohl bezogen auf die materielle Ausstattung und Infrastruktur als auch auf die sozialen Kontakte – trifft aber für viele andere Menschen zu: Ältere, Menschen mit Einschränkungen, aber auch Familien mit Unterstützungsbedarf im Alltag und Menschen in Armutslagen, ebenso wie im Quartier neu Ankommende, sei es aufgrund von Verdrängung oder auch Flucht. Sozialraumbezogene Arbeit nimmt dies zum Ansatz, Menschen an der Gestaltung dieser Lebensqualität aktiv zu beteiligen, ihre Handlungsfähigkeit bezogen auf das Sich-Zurechtfinden dort und die Nutzung der vorhandenen Ressourcen zu fördern. Praxisbezogene Beispiele sind dafür Projekte wie ‚Stadtteillotsen_innen‘ oder auch ‚Stadtteilmütter‘, in denen mit dem Stadtteil vertraute Akteur_innen den Zugang zu den Ressourcen im Wohnquartier (und auch darüber hinaus) öffnen.

5Kritisch 6Kritisch

dazu: Reutlinger et al. (2015). dazu: Kessl und Reutlinger (2007, S. 212 ff.).

Sozialraum und Soziale Arbeit

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Der Beteiligung von Bewohner_innen an den Beratungen und (!) Entscheidungen über die Entwicklung im Quartier kommt eine besondere Bedeutung zu (Knopp 2015). So ist es wichtig, dass bei den vielfach durchgeführten ‚Runden Tischen‘ nicht nur die Vertreter_innen von Einrichtungen der Sozialen Arbeit, Stadtverwaltung und Wohnungsgesellschaften etc. zusammenarbeiten, sondern vor allem auch Bewohner_innen beteiligt werden. Bei zahlenmäßig größeren Wohneinheiten von Wohnungsgesellschaften kann über die Wahl von Mietersprecher_ innen eine Beteiligung erfolgen. Über diese und weitere Formen der Beteiligung hinaus ist die Förderung von ‚Sozialraumkompetenz‘ eine wichtige Aufgabe im Rahmen der Sozialraumprojekte der Sozialen Arbeit. So weist das Beispiel des Umzugs einer geflüchteten Familie darauf hin, dass es dabei nicht nur relevant ist, ein Ankommen und Zurechtfinden in einem konkreten Quartier zu fördern. Nicht ausschließlich Geflüchtete müssen sich darauf einstellen, dass Ankunftsort und späteres Wohnen in unterschiedlichen Quartieren liegen können. Die geschilderten Entwicklungen am Wohnungsmarkt verstärken Verdrängungen innerhalb der Städte und ebenfalls ins Umland. In der sozialraumbezogenen Sozialen Arbeit gilt es auch solche Kompetenzen zu fördern, die eine Integration in neue Sozialräume erleichtern. ‚Sozialraumkompetenz‘ beinhaltet damit zum einen den Erwerb von Fähigkeiten sozialräumlichen Denkens und Handelns und zum anderen die Auseinandersetzung mit Stadtthemen, die über das konkrete Wohnquartier hinausreichen aber – wie z. B. Mobilität und Umweltschutz – sich auch dort konkretisieren. Ein weiterer Hinweis ist, dass ein Quartier ‚Grenzen‘ hat und die sozialraumorientierte Soziale Arbeit im Quartier über diese ‚Grenzen‘ hinaus agieren muss. Das betrifft zum einen, die Bezüge des Quartiers zur Gesamtstadt in den Blick zu nehmen und dort ‚Brücken‘ zu bauen, wo Abkoppelungstendenzen bestehen oder sich entwickeln. Dies beinhaltet mehrere Dimensionen: die Arbeit am Image, die Verbesserung der Verkehrsanbindungen und damit der räumlichen Mobilität in ‚beide Richtungen‘, aber auch, Strukturen (z. B. ein Kulturzentrum mit gesamtstädtisch ausgerichteten Angeboten7) und Anlässe zu schaffen, Menschen aus anderen Stadtteilen für einen Besuch zu gewinnen (Knopp 2006, S. 99 f.). Zum anderen stellt sich die ‚Grenze‘ im Hinblick auf die Problemlagen, mit denen sich die im Quartier wohnenden Menschen aus-

7Wie

die Freizeitstätte im Düsseldorfer Stadtteil Garath.

96

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einandersetzen müssen. Arbeitslosigkeit oder armutsgefährdende Arbeit8 z. B. sind gesellschaftliche Problemlagen, die nicht oder nur sehr bedingt im Quartier bearbeitet werden können. Der Ansatz, die Lebensbedingungen der Menschen im Quartier zu verbessern, bietet eine andere Perspektive, als dies durch eine Individualisierung von sozialen Problemen gegeben ist. Er verweist allerdings auch darauf, dass sich Soziale Arbeit im Sinne des politischen Mandats9 (Staub-Bernasconi 2018, S. 111 ff.) in gesellschaftliche Auseinandersetzungen einbringen muss, die wiederum die Rahmenbedingungen der Menschen im Quartier beeinflussen. Das können Themen sein wie die Verteilung der Ressourcen in der Stadtpolitik (Knopp 2006, S. 96 ff.) sowie die Entwicklung in der Wohnungs- und Sozialpolitik.

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8Der

Bericht des Statistischen Bundesamtes zur „Struktur der einkommensarmen Bev∝ölkerung“ 2018 verweist darauf, dass jeder vierte Armutsgefährdete in Deutschland erwerbstätig ist. 9Oder auch ‚Trippelmandat‘, als von Silvia Staub-Bernasconi entwickelter Ansatz.

Sozialraum und Soziale Arbeit

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Dr. Reinhold Knopp  ist Professor für Stadt- und Kultursoziologie und lehrt und forscht am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Auf- und Abwertungsprozesse in Großstädten, insbesondere unter Berücksichtigung der Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt. Stadt- und Stadtteilentwicklung im Kontext der Alterung der Gesellschaft. Soziale Arbeit in Wohnquartieren.

Teil II Handlungsfeld Kommunale Integrationspolitiken

Vielfalt wird vor Ort gelebt: Praxisforschung zu kommunalen Strategien im Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität Schahrzad Farrokhzad und Anno Kluß

Zusammenfassung

Im Aufsatz „Vielfalt wird vor Ort gelebt: Praxisforschung zu kommunalen Strategien im Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität“ werden kommunale Handlungsstrategien im Umgang mit migrationsbedingter Vielfalt am Beispiel von sechs Kommunen erörtert. Basis des Artikels sind die zentralen Ergebnisse der Studie „Impulse für Innovationen in der Migrations- und Integrationsarbeit“ (Farrokhzad et al. 2017), die im Auftrag des Kommunalen Integrationszentrums Köln erstellt wurde. Nach einem allgemein gehaltenen Einblick in die Genese und aktuellen Entwicklungen der kommunalen Integrationsarbeit in Deutschland werden u. a. Konzepte, Strukturen, Steuerungsmodelle und Strategien der Monitorings und Berichterstattung in den sechs erforschten Kommunen (Zürich, Stuttgart, Essen, Solingen, Frankfurt am Main und München) in vergleichender Perspektive erörtert und Handlungsempfehlungen mit Blick auf andere Kommunen ­dargestellt.

S. Farrokhzad (*)  Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften/Institut für Interkulturelle Bildung und Entwicklung, Technische Hochschule Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Kluß  context - interkulturelle kommunikation und bildung, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_7

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S. Farrokhzad und A. Kluß

Schlüsselwörter

Migration · Integration · Teilhabe · Kommunen · Praxisforschung · Konzepte · Steuerung · Monitoring

Für Kommunen in Deutschland ist der konstruktive und systematische Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität eine zentrale Aufgabe. Dies haben immer mehr Kommunen in den letzten Jahren erkannt und strategische Handlungskonzepte entwickelt, die dem Umstand Rechnung tragen, dass Migration nicht (mehr) als Ausnahmezustand zu denken ist, sondern als dauerhafter Prozess gesellschaftlicher Normalität. Im Rahmen dieses Beitrags werden aktuelle kommunale Handlungsstrategien im Umgang mit migrationsbedingter Vielfalt am Beispiel von sechs Kommunen veranschaulicht, die im Kontext der praxisforschungsorientierten Studie „Impulse für Innovationen in der Migrations- und Integrationsarbeit“ (Farrokhzad et al. 2017) analysiert wurden. Ziel der Studie war es, u. a. durch die Erforschung vergleichbarer Kommunen Impulse für Innovationen hinsichtlich des strategischen Umgangs mit migrationsbedingter Vielfalt auszuarbeiten. Nach einer knappen Rekonstruktion der Genese kommunaler Integrationspolitik liegt der Hauptfokus dieses Beitrags auf einer praxisorientierten exemplarischen Erörterung der kommunalen Handlungsstrategien in den sechs Beispielkommunen Stuttgart, München, Essen, Zürich, Solingen und Frankfurt am Main.1

1 Kommunale Integrationsarbeit als Praxis- und Forschungsfeld – Ausgangslage Aktivitäten, Initiativen und Maßnahmen zur Stärkung der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund – als Maßnahmen der vielbeschworenen „Integration vor Ort“ – finden in vielen bundesdeutschen Kommunen bereits seit Jahrzehnten statt (Filsinger 2018). Ausgangspunkt hierfür war die

1Empirische

Grundlagen der Analysen waren qualitative Interviews mit den kommunalen Hauptverantwortlichen in der Steuerung und Konzeption der Integrationsarbeit vor Ort und die Analyse von Dokumenten in den Jahren 2016 und 2017 (wie z. B. Integrationskonzepte, Ratsbeschlüsse zu einzelnen Handlungsfeldern etc.). Ein ähnlicher Fachbeitrag zur Studie wurde bereits in 2018 publiziert (Farrokhzad und Kluß 2018). Im vorliegenden Fachbeitrag wurden zum Teil neue inhaltliche Schwerpunkte gesetzt und einige Informationen aktualisiert.

Vielfalt wird vor Ort gelebt: Praxisforschung zu kommunalen …

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Erkenntnis in den 1970er und 1980er Jahren, dass viele Gastarbeiter_innen sowie ihre Familienangehörigen nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehrten, sondern ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlegten.2 Allerdings waren für viele Kommunen lange Zeit eine unsystematische, projektbezogene und eher „zufällig passierende“ Integrationspolitik und -arbeit kennzeichnend. Lediglich einige Großstädte, die früh und intensiv die sozialen Folgen der Anwerbepolitik spürten, hatten schon in den 1970er und 1980er Jahren erste Handlungsprogramme entwickelt.3 Die Konzepte waren jedoch durch einen stark defizitorientierten Blickwinkel gekennzeichnet, was bedeutet, dass vor allem Kompensationsarbeit mit der Zielgruppe der Menschen mit Migrationshintergrund im Fokus stand.4 In den 1990er Jahren setzte sich (auch vor dem Hintergrund neuerlicher Einwanderungsbewegungen etwa durch Geflüchtete bzw. Aussiedler_innen) zunehmend die Erkenntnis durch, dass die Kommunen systematische lokale integrationspolitische Strategien benötigen, um dauerhaft konstruktiv mit migrationsbedingter Vielfalt vor Ort umzugehen. Nachdem in Deutschland 2000 das Staatsangehörigkeitsrecht reformiert und 2005 ein Zuwanderungsgesetz verabschiedet wurde, in dem offiziell formuliert war, dass Integration nicht nur eine von der Bevölkerung mit Migrationshintergrund abzufordernde Leistung sei, sondern auch eine Aufgabe des deutschen Staates, lässt sich eine erkennbar systematische Fortentwicklung der Migrations- und Integrationspolitiken auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene feststellen (Gesemann und Roth 2009, S. 12). Gleichsam folgten im Jahr 2006 der erste Integrationsgipfel und die erste Islamkonferenz sowie 2007 der

2Einen

fundierten Überblick über die Entwicklungen kommunaler Integrationsarbeit in den letzten Jahrzehnten geben die Handbücher zu kommunaler Integrationspolitik von Gesemann und Roth (2009, 2018). 3Ein Beispiel hierfür ist etwa das „Handlungsprogramm zur Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen aus den Anwerbeländern“ der Stadt Essen von 1984 (Filsinger 2018, S. 320). 4Auch wenn sich bis heute Vieles verändert hat, ist diese defizitorientierte Perspektive auf kommunalstrategischer Ebene nicht verschwunden. Vielmehr scheinen mit der angestiegenen Einwanderung von Geflüchteten solche defizitorientierten Perspektiven und auch damit verbundene „alte“ Konzepte (wie das der Ausländersozialarbeit) stellenweise wieder aufgelebt zu sein. Umso wichtiger ist es, die eigenen Haltungen bezüglich Migration und Vielfalt und damit konnotierte Zuschreibungen immer wieder kritisch zu reflektieren – Anregungen zu kritischen reflexiven Perspektiven sind mittlerweile sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus praxisorientierter Sicht reichlich vorhanden (vgl. z. B. Mecheril 2011; Castro Varela 2008; Scherr und Inan 2018; Schröer 2018; Schweitzer 2016), die dazu beitragen können, einen „Roll back“ in vermeintlich überwundene Diskurse (z. B. einseitige Assimilationsanforderungen an Geflüchtete usw.) zu relativieren.

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Nationale Integrationsplan und damit einhergehend Bestrebungen, Integrationspolitik und Integrationsarbeit sowohl auf der Ebene des Bundes als auch der Länder und Kommunen aufzuwerten und zu systematisieren. In den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende machten sich – zum Teil unter finanzieller Förderung durch Landesmittel – immer mehr Kommunen auf den Weg, unter der Beteiligung verschiedener Akteur_innen systematische Strategien zum Umgang mit migrationsbedingter Vielfalt zu entwickeln, Integrationskonzepte aufzusetzen und fortzuentwickeln. Hierbei werden Leitbilder, Ziele, Schlüsselbegriffe sowie Monitoring- und Berichterstattungssysteme oftmals kritisch und kontrovers diskutiert. Hinzu kommt, dass vor Ort migrations- und integrationspolitisch immer wieder auf neue Anforderungen reagiert werden muss. Angesichts oftmals angespannter Haushaltslagen finden zudem in den Debatten von Kommunen vor Ort wiederholt kritische Reflexionen bezüglich eines angemessenen Verhältnisses von (nachhaltig finanzierten) Regelstrukturen und (befristet finanzierten) Projekten statt.

2 Handlungsstrategien von sechs Kommunen im Vergleich – empirische Ergebnisse Im Jahr 2016 wurden Dokumentenanalysen und Interviews mit verantwortlichen Führungskräften in den Integrationsfachstellen der sechs Beispielkommunen durchgeführt. Sie beinhalten zahlreiche Informationen, unter anderem zu den Zielen und dem Aufbau der jeweiligen Integrationskonzepte, zu Strukturen und Steuerungsmodellen in den Kommunen, ausgewählten Aktivitäten und dahinterliegenden Ressourcen sowie zu Partizipationsformaten, dem Stand der Interkulturellen Öffnung in den Kommunen und Strategien des Monitorings und der Berichterstattung. Im Folgenden können im Rahmen dieses Beitrags nur einige zentrale Erkenntnisse dargestellt werden, die in der Langfassung der Studie ausführlich empirisch begründet vertieft erörtert werden.

2.1 Konzepte Unsere Studie (Farrokhzad et al. 2017) zeigt, dass es in jeder der von uns untersuchten Kommune bestimmte Ereignisse gab, die als Beginn der sich bis heute immer weiter fortentwickelnden Konzepte und Strukturen auszumachen sind. Anlässe für strukturierte Konzepte kommunaler Migrations- und Integrations-

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arbeit waren zum Teil gesellschaftliche Krisen, wie die rassistischen Übergriffe zu Beginn der 1990er Jahre (z. B. in Solingen), kommunalpolitische Umbrüche wie etwa der Wechsel der politischen Mehrheiten, aber auch die erfolgreiche Praxis bestimmter Verwaltungseinheiten oder bundesweite Veränderungen der Migrations- und Integrationspolitik. Durchgehend werden als Wirkfaktor ebenso bestimmte Personen aus Verwaltung, Politik und Stadtgesellschaft genannt, die die Themen Migration und Teilhabe durch ihr Engagement und ihre Positionierung vorangebracht haben. Alle betrachteten Konzepte sind durch Beschlüsse der Stadt- oder Gemeinderäte politisch diskutiert und legitimiert worden. Die zugehörigen Haushaltspositionen und Berichte werden meist turnusgemäß von den zuständigen Ausschüssen und/oder der Runde der Verwaltungsspitzen behandelt. Die Konzepte gestalten sich in Aufbau und Umgang mit Zielen und Handlungserfordernissen unterschiedlich. Eine Vielzahl von Zielen für verschiedene inhaltliche Handlungsfelder steht einer kompakten Beschränkung auf wenige Leitziele oder einer an das gesamtstädtische Ziel- und Steuerungssystem angeschlossenen Zielpyramide gegenüber. Viele der genannten und bearbeiteten Handlungsfelder ähneln sich: Sprache, Bildung, Kultur, Beschäftigung/Beruf/Arbeit/ Wirtschaft, Teilhabe/politische Partizipation und Interkulturelle Öffnung der Verwaltung. Einzelne Kommunen setzen vergleichsweise deutliche Akzente, etwa durch die Betonung von Internationalität (z. B. Stuttgart), Potenzialorientierung oder Interkultureller Öffnung (z. B. München). Themen wie bürgerschaftliches Engagement, Antidiskriminierung oder Interreligiöser Dialog erscheinen nur punktuell als eigene Handlungsfelder. Der Umgang mit geflüchteten Menschen spielt aufgrund der migrationsdemografischen Entwicklungen der letzten Jahre überall eine zunehmende Rolle. Kernfrage der kommunalen Steuerung ist momentan, inwieweit Strategien und Angebote für Geflüchtete in bestehende Strukturen und Konzepte eingebunden werden können oder ob es für diese Zielgruppe gänzlich neuer Konzepte bedarf. Zum Umgang mit Begriffen zeigte bereits die Studie von Gesemann et al. (2012, S. 42), dass vor allem langjährig in der Migrations- und Integrationsarbeit erfahrene Kommunen den Integrationsdiskurs verändern wollen, den Integrationsbegriff kritisch reflektieren und zum Teil Anschluss an andere Diskurse, z. B. zu Diversität, Interkultureller Orientierung und Antidiskriminierung, suchen. Dieser Befund deckt sich in Teilen mit unseren Ergebnissen. In einigen der vorliegenden Konzepte wird der Begriff der Integration beispielsweise pragmatisch verwendet, gleichzeitig aber kritisch diskutiert und häufig um andere Begriffe, wie z. B. Diversität und/oder Inklusion, ergänzt.

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Die Stadt Essen definiert z. B. Integration wie folgt: „Integration umfasst die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen unterschiedlicher Herkunft am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben auf der Grundlage der UN Menschenrechtskonvention, der Werteordnung des Grundgesetzes und der bestehenden Rechtsordnung. Inklusion beinhaltet die Akzeptanz der gesellschaftlichen Heterogenität und den Umgang mit Vielfalt als Normalität voranzutreiben. Dazu muss das Handeln so ausgerichtet werden, dass der Zugang und die Inanspruchnahme aller Bürgerinnen und Bürger zu Institutionen und Dienstleistungen unter Berücksichtigung ihrer individuellen Unterschiede ermöglicht sind.“ (Stadt Essen 2012, S. 13)

In allen Konzepten ist eine prinzipielle Öffnung der auf Herkunft und Migration bezogenen Integrationspolitik für andere Diversitätskategorien erkennbar, die jedoch von einem sehr unterschiedlichen Umfang und Verhältnis zwischen Integration und Diversität geprägt ist. In den meisten Fällen ist die inhaltliche Ausrichtung weiterhin auf Migration und Interkulturalität fokussiert und im Sinne einer Intersektionalität verschiedener Unterschiede differenziert. Damit ist auch die Zielgruppenthematik angesprochen. Mit bedarfsgerechten Zielgruppenzuschnitten setzen sich einzelne Kommunen immer wieder kritisch auseinander, z. B. Zürich mittels STRUB – eines Konzepts zur strukturierten kollegialen Beratung5.

2.2 Strukturen, Steuerung und Ressourcen Im Bereich Strukturen und Steuerung sind die Ansätze der sechs befragten Kommunen höchst unterschiedlich: Während einige Kommunen ihre Ressourcen der Entwicklung bewusst auf ihre direkte Einflusssphäre in der städtischen Verwaltung fokussiert haben, etwa durch stringente Prozesse der Interkulturellen Öffnung (z. B. München), nehmen andere Kommunen die gesamte Stadtgesellschaft in ihrer institutionellen Vielfalt in den Blick und setzen hier auf die dynamische Tragfähigkeit heterogener Netzwerke (z. B. Solingen). Wiederum andere scheinen beide Perspektiven zu verfolgen, indem sie z. B. einen jährlichen Innovationshaushalt gleichermaßen für verwaltungsinterne als auch für externe

5Vgl.

Quelle: https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/stadtentwicklung/integrationsfoerderung/ integrationsthemen/transkulturelle_kompetenz.html Zugegriffen: 19. Juli 2019.

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Akteur_innen zur Verfügung stellen (z. B. Essen). Die in den Kommunen verantwortlichen Stellen für die Konzeptionierung, Begleitung und Steuerung der Migrations- und Integrationsarbeit sind in den Beispielkommunen zudem auf sehr unterschiedlichen Ebenen in der Verwaltung angesiedelt. Manche sind (oder waren lange Zeit) als Stabsstelle des Bürgermeisteramtes bzw. Stadtdirektoriums implementiert, andere bilden ein eigenes Dezernat, weitere Stellen sind unterhalb der Dezernate angesiedelt, fungieren also z. B. als Amt, Stadtdienst oder Fachbereich. In Frankfurt beispielsweise werden im Integrationskonzept Aussagen zu Arbeitsstruktur und Organisation der Integrationsarbeit getroffen (Stadt Frankfurt 2011, S. 46 ff.). Ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Querschnittsarbeit Integrationsförderung, aber auch die Herausforderungen, die damit verbunden sind, können gleich in der Einleitung zu diesem Abschnitt erkannt werden: „Ressortübergreifende Zusammenarbeit sowie eine gute Kooperation und Vernetzung sind wichtige Voraussetzungen für die erfolgreiche Arbeit aller Institutionen, Organisationen und Personen, die sich um die stadtgesellschaftliche Integration bemühen. […] Die öffentliche Verwaltung ist nach Sachzuständigkeiten gegliedert. In den einzelnen Aufgabenbereichen ist jeweils eine Vielzahl von Interessen und Sachzwängen abwägend zu berücksichtigen. Integrationspolitische Zielsetzungen sind als Querschnittsaufgabe daher bereits organisatorisch eine besondere Herausforderung.“ (Stadt Frankfurt 2011, S.  46)6

In Solingen existiert ein breit gefächertes Netzwerk der Integrationsarbeit quer durch die verschiedenen Strukturebenen von Verwaltung, Verbänden der Wohlfahrtspflege, Vereinen, Migrantenorganisationen (ca. 40 Organisationen) und Initiativen. Gleichzeitig laufen die Fäden im Stadtdienst Integration/Kommunales Integrationszentrum zusammen (dieser ist dem Ressort: Jugend, Schule, Integration, Kultur und Sport zugeordnet), deren „Wissen um die einzelnen Integrationsaktivitäten […] implizit vorhanden ist, die Menge an Aktivitäten und Zielen [ist] aber letztlich viel zu groß […], um von wenigen Personen allein im Blick behalten und gesteuert zu werden“ (Stadt Solingen 2015, S. 9). Ein wichtiges Ergebnis der Studie über alle Beispielkommunen hinweg besteht darin, dass häufig mit der Positionierung in der Verwaltungshierarchie die Priorisierung bestimmter Politikfelder gegenüber anderen verbunden ist, wobei die Funktionslogik von Hierarchien dieser Annahme zugrunde liegt. Die institutionelle Verortung der Integrationspolitik und damit verbundenen

6Zur

vertieften Beschreibung siehe Farrokhzad et al. (2017, S. 176 ff.).

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praktischen Arbeit ergibt aber nicht den allein wirksamen Erfolgsfaktor. Entscheidend für die Wirksamkeit ist, dass sie persönlich und durch Ressourcen von möglichst einflussreicher Seite getragen wird. Dabei ist immer auf ein gegenseitig wertschätzendes, energiereiches und funktionierendes Gefüge zwischen Politik- und Verwaltungsspitzen, der zuständigen Fachstelle und den zivilgesellschaftlichen Akteuren zu achten. Da Integrationspolitik durchgängig als Querschnittspolitik verstanden wird, ist offensichtlich, dass dem Zusammenwirken zwischen der Querschnittsfachstelle und den sogenannten Regeldiensten der Verwaltung eine besondere Aufmerksamkeit zukommt. Querschnittspolitiken können aus ihrer inneren Logik heraus nicht „unten“ oder „oben“ in einer Hierarchie angesiedelt sein und fordern daher von allen Akteuren ein kooperatives und dialogisches Verständnis in der Zusammenarbeit über Organisationen und Hierarchien hinweg. Zu einer teilhabeorientierten und effektiven Steuerung in Kommunen gehört ferner, dass das Dreieck Verwaltung, Politik und Verbände/Vereine in einer ausgewogenen Form zusammenarbeitet. Wenn das nicht gegeben ist, können verschiedene Schieflagen entstehen, wie etwa das Beispiel der Stellung von Migrantenorganisationen in einer der Interviews mit den kommunalen Verantwortlichen zeigte: „Wir werden immer dann angesprochen, wenn die Probleme da sind, wenn man die (MO) braucht als Feuerlöscher, als Informator […] Das kann nicht sein, dass man die immer instrumentalisiert, wenn wir nicht weiterkommen. Sondern wir müssen die auch im Planerischen mit einbeziehen.“ (Interview Essen, zit. nach Farrokhzad et al. 2017, S. 119)

Ebenso entstehen Schieflagen, wenn zwar Akteursgruppen der Politik und Vereine sehr aktiv sind und im Wesentlichen die Migrations- und Integrationsarbeit steuern, aber vergessen, die Verwaltung angemessen auf verschiedenen Ebenen einzubeziehen. Die Frage danach, wie viele Ressourcen – Finanzen und Personal – für die Migrations- und Integrationsarbeit vor Ort eingesetzt werden, ist anhand der porträtierten kommunalen Beispiele, vermutlich aber auch mit Blick auf andere Kommunen, kaum zu klären, gerade wegen des unweigerlichen Querschnittcharakters dieses Politikfeldes und seines Anspruchs, in allen Politikbereichen relevant zu sein. Schon auf Maßnahmenebene ist schwer zu bestimmen, zu welchem Anteil eine Maßnahme die Ziele der Integrationspolitik befördert, bei organisationsentwickelnden Interventionen ist dies möglicherweise noch schwieriger. Insofern lassen sich die real eingesetzten Mittel so gut wie nicht

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aus den Positionen eines städtischen Haushalts „herausrechnen“. Dennoch existieren in allen untersuchten Kommunen zentrale Einrichtungen der Verwaltung mit Zuständigkeiten für die Migrations- und Integrationsarbeit, eine Vielzahl von ausdrücklich auf Diversität und Integration bezogene Maßnahmen in den Regeldiensten und ein besonderes Jahresbudget, das innovative Projekte und Entwicklungen der verschiedenen Akteure ermöglichen soll. Diese Budgets sind – auch umgelegt auf die Bevölkerungszahlen – unterschiedlich groß. Da die zentralen Integrationseinrichtungen nie nur „für sich“ arbeiten, sondern immer im Querschnitt Anstöße, Beratung und Unterstützung in die gesamte Verwaltung und Politik geben, ist ihre Ausstattung als zentrale Ressource der Integrationsarbeit für das gesamte Themenfeld anzusehen.

2.3 Monitoring und Berichterstattung7 Berichte, statistische Daten, qualitative Erhebungen, Studien, Evaluationen und wissenschaftliche Forschung haben im Rahmen der kommunalpolitischen Steuerung die Hauptzwecke, Übersicht zu schaffen, Entwicklungen sichtbar zu machen und Voraussetzungen für Bewertungen zu erarbeiten. In Verbindung mit vorab gesteckten Zielen wird eine strategische Steuerung dadurch erst möglich. Die Studie von Gesemann et al. (2012) zeigte, dass 54,2 % der dort befragten Kommunen auf interne Evaluationen von Maßnahmen setzen, 46,4 % auf die Erstellung von Integrationsberichten, 39,1 % auf Bedarfserhebungen bei Zielgruppen, 31,8 % auf Integrationsmonitoringsysteme und 25,5 % auf externe Evaluationen. Hierbei nehmen wiederum die größeren Städte eine Vorreiterrolle ein. Gerade weil sich diese Art von Dokumenten und deren Benennung in der Praxis oft überschneiden, lohnt es sich, zwischen den Konzepten von Monitoring und Berichterstattung trennscharf zu unterscheiden. Der in den folgenden Abschnitten thematisierte Ansatz des Monitorings bezeichnet die regelmäßig wiederholte Beobachtung und Beschreibung klar definierter Sachverhalte auf Grundlage statistischer Erhebungen, für die ausdrücklich keine direkten Bezüge zu Maßnahmen und Zielen notwendig sind.

7Zur

systematischen und detaillierten Unterscheidung dieser beiden Begrifflichkeiten vgl. Farrokhzad et al. (2017, S. 86 ff.).

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Die von uns befragten Kommunen wenden unterschiedliche Instrumente an und diskutieren zum Teil durchaus kritisch eine einseitige Konzentration von Monitoring auf „Integration“ mit Blick auf Menschen mit Migrationshintergrund – so wie etwa die Stadt Frankfurt am Main, die durch ihr „Diversitätsund Integrationsmonitoring“ eine begriffliche Öffnung vorgenommen hat. Diese Kommunen setzen auf ein in langjähriger Kleinarbeit entwickeltes Monitoring, das anhand definierter Kriterien und Indikatoren in regelmäßigen Abständen den „Stand der Integration“ in der Kommune zu erfassen sucht sowie deren Entwicklungen beschreibt, um daraus einen allgemeinen Handlungsbedarf in Bezug auf bestimmte Themenfelder ableiten zu können. Monitoringsysteme sind zudem hilfreich, da sie die Migrationsdebatte versachlichen können, sofern sie keine einseitige Problem- und Defizitorientierung aufweisen. Bezüglich der Indikatoren orientieren sich die Kommunen oftmals an den Integrationsindikatorenberichten der Bundesregierung, der Länder oder aber auch denen anderer Kommunen (ebd., S. 113 f.). Um also ein für den Integrationsbereich geeignetes Monitoringsystem einzusetzen, bedarf es eines Systems, das sich sowohl mit den Integrationsprozessen von Zugewanderten, der Frage nach der Zielerreichung eingesetzter Maßnahmen und Projekte als auch mit den Prozessen einer diversitätsorientierten kommunalen Politik auseinandersetzt (ebd., S. 115 f.). Manche der von uns befragten Städte wiederum messen einem (umfangreichen) Monitoring weniger Bedeutung bei, teilweise auch, nachdem Erfahrungen mit Monitoringsystemen gemacht wurden, die dann aber in der Durchführung als zu aufwendig und nicht hilfreich für die Steuerung empfunden wurden. Diese Kommunen beziehen die notwendigen Daten aus den vorhandenen Statistiken, wie z. B. dem Sozialmonitoring der Stadt mit dem Bestreben, dass in diesen nicht nur Nationalität, sondern auch Migrationshintergrund als Differenzierungsmerkmal durchgängig mit erhoben wird. Sie konzentrieren sich darauf, die durch sie initiierten und begleiteten Projekte inner- und außerhalb der Stadtverwaltung zu erfassen, deren Erfolgsfaktoren zu extrahieren und damit Voraussetzungen dafür zu schaffen, innovative Ansätze „in die Fläche“ zu bringen. Dem Monitoring gegenüber steht die Integrationsberichterstattung, die in allen befragten Kommunen sehr unterschiedlich ausfällt. In den Konzepten der Stadt Frankfurt a. M. findet sich eine aufschlussreiche Übersicht zu verschiedenen Formen der Berichterstattung, die hilft, Klarheit darüber zu schaffen, was ein Bericht darstellen und leisten kann:

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Tabelle:  Formen der Berichterstattung Tätigkeitsbericht/ Maßnahmendokumentation Umsetzungsbericht

Evaluation

• Einfache Dokumentation • Inhaltliche Beschreibung Zielbezogen

• SOLL-IST-Abweichung • ggf. Effektivitäts- oder • Effizienzeinschätzung

Prozessbezogen

• Verlaufsdarstellung • ggf. Wertung

Erfolgsbezogen

• Erklärung • ggf. Erfolgsfaktoren • Nachweis von Wirkungsketten • Herstellung eines Ursachenbezugs

(Stadt Frankfurt 2014, S. 33)

Teilweise gibt es im Sinne einer umfassenden Berichterstattung sogar Erhebungen und Darstellungen, die versuchen, die gesamten auf irgendeine Weise organisierten Integrationsaktivitäten in einer Stadt darzustellen, zu systematisieren und zu bewerten (z. B. Solingen). Darüber hinaus spielt die Berichterstattung in Bezug auf die Verwendung von themengebundenen Budgets, wie z. B. Innovationshaushalten, eine große Rolle. Andere Kommunen wiederum (z. B. Zürich) setzen bewusst auf eine sehr „schlanke“ und auf wenige Kriterien fokussierte Berichterstattung, die dann auch hilfreich als Gesprächsgrundlage etwa für jährliche Fortschrittsgespräche in einzelnen Verwaltungseinheiten ist. Sowohl im Kontext von Monitoring als auch von Berichterstattung wird häufig nach den Wirkungen einzelner Maßnahmen gefragt. Die Komplexität der sozialen Interaktionen und Wirkzusammenhänge im Feld der Integrationspolitik lässt jedoch vereinfachte Aussagen zur Wirksamkeit dieser oder jeder Einzelmaßnahme kaum zu. Zur Steuerung der Migrations- und Integrationsarbeit ist daher von entscheidender Bedeutung, sich (externe) Expertise über die verschiedenen Möglichkeiten der Qualitätsbeschreibung und -entwicklung heranzuziehen und eine passende Mischung verschiedener Verfahren zu entwickeln, die auf unterschiedlichsten Ebenen greifen. Die Stadt München etwa hat in diesem Zusammenhang zur Planung von Maßnahmen ein informelles mehrstufiges Verfahren etabliert, mit dem Zielgruppen und deren Bedarfe identifiziert werden können. Quellen der Planungen sind die Bevölkerungsstatistik (z. B. mit Aussagen zu Geschlecht, Alter und z. T. Migrationshintergrund) und Milieudaten

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(sofern vorhanden), die Sozialberichterstattung, der Armuts-, Bildungs- und Integrationsbericht. Hinzu kommen Bürgerinnen- und Bürgerbefragungen, die auch auf das Merkmal „Migrationshintergrund“ hin gefiltert werden können, und weitere Befragungen, z. B. zu Zufriedenheit und Bedarfen von Nutzer_innen städtischer Angebote. Abwägungen über den Aufwand und Nutzen der jeweiligen Maßnahme spielen ebenso eine Rolle, wie der interaktive Mehrwert, der dadurch entsteht, dass sich alle Beteiligten mit Aspekten der Qualität auseinandersetzen. In den befragten Kommunen wird summa summarum ein unterschiedlicher Umgang mit der Frage des Monitorings und der Berichterstattung deutlich – unbestritten ist jedoch, dass in systematischer Form Aktivitäten und Kennzahlen vor Ort erfasst und Gespräche über deren Wirkungen mit Verantwortlichen geführt werden sollten. Eine regelmäßige Berichterstattung ist Voraussetzung für eine evidenzbasierte Verständigung derjenigen mit Entscheidungsbefugnissen.

3 Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen Aus der vergleichenden Analyse der kommunalen Strategien der sechs Beispielkommunen im Umgang mit migrationsbedingter Vielfalt und der kritischen Analyse eines umfassenderen Forschungsstandes8 sind im Rahmen der Studie Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen entwickelt worden, die auf andere Kommunen übertragen werden können. Im Folgenden wird eine Auswahl der Handlungsempfehlungen der Studie dargestellt, die sich auf die hier im Artikel vorgestellten Themen: Konzepte, Strukturen, Steuerung, Ressourcen, Monitoring und Berichterstattung beziehen.9 • Migrationsbedingte Vielfalt als Normalität und Potenzial für die Stadtgesellschaft anerkennen: Kommunen, die Vielfalt als Normalität und als Ressource betrachten und nicht als „Dauerausnahmezustand“, tragen realen gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung und sind für die Zukunft gerüstet.

8Eine

diesbezügliche ausführliche Analyse unter Bezugnahme auf die aktuellen wissenschaftlichen Diskurse findet sich in Farrokhzad et al. (2017, S. 29 ff.). 9Zu den ausführlich ausformulierten Handlungsempfehlungen vgl. Farrokhzad et al. (2017, S. 379 ff.).

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• Integrationsleitbilder kritisch reflektieren, migrationsbedingte Vielfalt diversitätsbewusst, inklusiv und menschenrechtsorientiert gestalten: Die kritische Auseinandersetzung mit dem Integrationsverständnis in Kommunen ist notwendig, um den konstruktiven Umgang mit Vielfalt als gesamtgesellschaftliche Verantwortung auch auf Grundlage von menschenrechtsorientierten internationalen Konventionen und nationalen Gesetzen zu erkennen – und gegebenenfalls ebenfalls über alternative Begriffe und Konzepte nachzudenken. • Gruppenbezogene Etikettierungen hinterfragen, komplexe Lebenslagen im Blick haben: Eine kontinuierliche kritische Reflexion von gruppenbezogenen Etikettierungen (z. B. Migrationshintergrund, Neuzugewanderte, Geflüchtete, bildungsferne Milieus) hilft, Stigmatisierungen vorzubeugen und Bedarfe zu erkennen, die Gruppen mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen haben können (z. B. Sprachförderung bei Kindern). • „Migrationshintergrund“ und „Ausländer_innen“ – statistische Erhebungen und Kategorisierungen überprüfen, differenziertere Perspektiven ermöglichen: Sind Statistiken potenzialorientiert? Viele Kommunen wissen, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund Sozialhilfe beziehen – aber sie wissen selten, welche Wirtschaftsleistungen Menschen mit Migrationshintergrund für eine Kommune erbringen. Entsprechend ist es empfehlenswert, in der Kommune die eigenen statistischen Erhebungsstrategien kritisch zu reflektieren und weiterzuentwickeln. • Strukturen, Steuerungsarchitektur und Ressourcenkonzept überprüfen: Für die Wirksamkeit der kommunalen Strategien ist entscheidend, dass sie von möglichst einflussreicher Seite persönlich und durch Engagement und Ressourcen (mit)getragen werden und ein gegenseitig wertschätzendes und funktionierendes Gefüge zwischen zentralen Akteursgruppen etabliert ist. Zudem sind zuverlässige finanzielle Budgets notwendig (idealerweise Regelbudgets und parallel dazu Innovationsbudgets für Modellvorhaben). • Die Verankerung von Integration als Querschnittsaufgabe weiterentwickeln: Die Verankerung von Integration als Querschnittsaufgabe wird in Studien und in den porträtierten Kommunen als wichtiger Erfolgsfaktor beschrieben. Solche „Querschnittspolitiken“ setzen ein Kooperationsverständnis voraus, das über Hierarchieebenen und Zuständigkeitsgrenzen hinweggeht und von gegenseitiger Wertschätzung und dialogischem Handeln geprägt ist. • Kommunale Konzepte fortschreiben, Zielsysteme weiterentwickeln: Bei den Konzepten sollte die Balance zwischen Überschaubarkeit, Detaillierungsgrad und Aktualität gehalten werden. Konzepte und Zielsysteme sollten möglichst die dahinterstehenden Personen, Institutionen und Haltungen wiedergeben und möglichst nah an der Praxis sein.

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• Bestandsaufnahme und Berichterstattung konzeptionell überdenken: Neben einer Beschreibung von Aktivitäten und Budgets können Wirkungsanalysen, externe Evaluationen oder Selbstevaluation die Strategien kommunaler Berichterstattung zum Thema Migration und Vielfalt vor Ort wirkungsvoll unterstützen – jedoch in Form von angemessen „schlanken“ und mit dem Arbeitsalltag der Betroffenen „sozialverträglichen“ Formaten. • Interkommunale Vernetzungsstrukturen nutzen – voneinander lernen: Interkommunale Vernetzung, so zeigten es die Beispielkommunen, schafft nicht nur die Möglichkeit, voneinander zu lernen, sondern auch, aus kommunaler Perspektive gemeinsame Forderungen zu formulieren und einzubringen. Orte dafür sind z. B. der bundesweite „Qualitätszirkel zur Integrationspolitik“ oder das internationale Netzwerk „Cities of Migration“.

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Mecheril, P. (2011). Wirklichkeit schaffen – Integration als Dispositiv. http://www.bpb.de/ apuz/59747/wirklichkeit-schaffen-integration-als-dispositiv-essay?p=all. Zugegriffen: 19. Juli 2019. Stadt Essen, Geschäftsbereich 4 Kultur, Integration und Sport, Fachbereich 04–01 Interkulturelle Orientierung/Kommunales Integrationszentrum Essen. (2012). Strategiekonzept Interkulturelle Orientierung 2012–2016.Leitbild – Strategische Ziele – Strategisches Management. Anlage 2 zur Ratsdrucksache Nr. 0424/2012/4. Essen. Stadt Frankfurt a. M. – Integrationsdezernat. (2011). In (Hrsg. vom Magistrat der Stadt Frankfurt a. M., Dezernat XI – Integration), Vielfalt bewegt Frankfurt. Integrations- und Diversitätskonzept für Stadt, Politik und Verwaltung. Frankfurt a. M. Scherr, A., & Inan, C. (2018). Leitbilder in der politischen Debatte: Integration, Multikulturalismus und Diversity. In F. Gesemann & R. Roth (Hrsg.), Handbuch lokale Integrationspolitik (S. 201–226). Wiesbaden: Springer VS. Schröer, H. (2018). Vielfalt als kommunale Gestaltungsaufgabe. Interkulturelle Öffnung und Diversity Management als strategische Antworten. In F. Gesemann & R. Roth (Hrsg.), Handbuch lokale Integrationspolitik (S. 227–261). Wiesbaden: Springer VS. Schweitzer, H. (2016). Migration und Integration. In W. Schröer, N. Struck, & M. Wolff (Hrsg.), Handbuch der Kinder- und Jugendhilfe (S. 1285–1331). Weinheim: Beltz. Stadt Frankfurt am Main – Amt für interkulturelle Angelegenheiten (2014): Frankfurter Integrations- und Diversitätsbericht 2011-2014. Interkulturelle Öffnung von Stadt, Politik und Verwaltung. Quelle: https://www.vielfalt-bewegt-frankfurt.de/sites/default/ files/amka-integration-v1-final-ansicht_0.pdf Zugegriffen 02. Juli 2020. Stadt Solingen, & Stadtdienst Integration. (2015). Interkulturelles Gesamtkonzept Solingen. Fortschrittsbericht 2014. Solingen.

Dr. Schahrzad Farrokhzad ist Professorin an der Technischen Hochschule Köln, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften, Institut für Interkulturelle Bildung und Entwicklung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind interkulturelle Bildung und Organisationsentwicklung, diversitätsorientierte Soziale Arbeit und Bildung, Migration und Teilhabe (v. a. mit Fokus auf Geschlechterverhältnisse), Familienbildung und Jugendarbeit. Sie hat Mitgliedschaften u.a. in den wissenschaftlichen Beiräten der Zeitschrift „Migration und Soziale Arbeit“ und des Forschungsprogramms „Migration und gesellschaftlicher Wandel“ des BMBF sowie im Rat für Migration, im Netzwerk Fluchtforschung und in der DGSA. Anno Kluß,  Diplom-Pädagoge, ist Mitbegründer von und Mitarbeiter bei context – interkulturelle kommunikation und bildung GbR (Training, Beratung, Prozessbegleitung, Evaluation). Seine Arbeitsschwerpunkte sind interkulturelle Öffnung, Diversitätsbewusste Konzept- und Organisationsentwicklung.

„Betreute Integration“ – Zur integrationstheoretischen Unterscheidung von Flüchtlingen und regulären Migrant_innen am Beispiel Hamburgs Jürgen Friedrichs, Felix Leßke, Vera Schwarzenberg und Kim Elaine Singfield Zusammenfassung

Der Zuzug von Flüchtlingen hat von allen europäischen Ländern vor allem auch Deutschland und deutsche Städte betroffen. Dies stellte die Städte und Kommunen vor große Herausforderungen. Innerhalb kurzer Zeit wurden die Aufgaben der städtischen Verwaltungen neu strukturiert und eine engere Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen initiiert. Neue Institutionen wurden geschaffen und nicht staatliche Organisationen, die Flüchtlinge betreuen, mussten in ihren Bemühungen koordiniert werden. Wir möchten zur Literatur beitragen, indem wir die besondere Stellung von Flüchtlingen gegenüber regulären Migrant_innen theoretisch aufarbeiten und empirisch am BeiProf. em. Dr. Jürgen Friedrichs ist leider noch vor Erscheinen dieses Sammelbandes überraschend verstorben. J. Friedrichs (*)  Universität Köln, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln, Deutschland F. Leßke · V. Schwarzenberg · K. E. Singfield  Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] V. Schwarzenberg E-Mail: [email protected] K. E. Singfield E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_8

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J. Friedrichs et al.

spiel Hamburgs belegen. Hierzu werden wir zunächst integrationstheoretische Unterschiede diskutieren, bevor wir Daten über den Prozess der Integration entlang der Dimensionen Unterkunft, kognitive Fähigkeiten (Sprache, Schulen), Arbeitsmarkt und soziale Kontakte präsentieren. Um die Integration von Flüchtlingen zu erfassen, schlagen wir vor, den Theorien der Integration von Migrant_innen eine Phase hinzuzufügen, die als „betreute Integration“ bezeichnet werden kann. Schlüsselwörter

Flüchtlinge · Deutschland · Hamburg · Sozialräumliche Integration · Reorganisation der Verwaltung · Betreute Integration

1 Einführung Seit 2012 kam es in den europäischen Ländern im Vergleich zu den Vorjahren zu einem verstärkten Zuzug von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und Afrika. Im Jahr 2016 stellten 1,3 Mio. Menschen in einem der 28 europäischen Länder einen Asylantrag (Eurostat 2017). Deutschland nahm hierbei in absoluten Zahlen die meisten Flüchtlinge auf.1 Seit dem Jahr 2010 ist die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, stetig gestiegen; der Höhepunkt wurde 2015 mit 890.000 registrierten Neuankömmlingen erreicht (BAMF 2018a, S. 3). Von den Flüchtlingen, die nach Deutschland gelangen, muss die Stadt Hamburg jedes Jahr nach dem Königsteiner Schlüssel etwa 2,5 % unterbringen. 2015 waren dies über 20.000 Personen (Stadt Hamburg 2019). Seit 2017 sind die Flüchtlingszahlen wieder deutlich zurückgegangen. Die zahlreichen Aufgaben bei der Integration von Flüchtlingen haben die Städte in vielerlei Hinsicht herausgefordert. Sie waren keineswegs auf eine so große Zahl von Menschen vorbereitet, die Schutz, Nahrung, Sicherheit, medizinische Versorgung, finanzielle Unterstützung und Sprachunterricht benötigten. Das erste Problem betraf die Unterbringung – eine Querschnittsaufgabe, bei der verschiedene Behörden zusammenarbeiten mussten. Das

1Bereits

in den Jahren von 1981 bis 1999 hatte Deutschland den größten Anteil an Asylbewerbern aller EU-15-Länder aufgenommen: 53 % in den Jahren 1980 bis 1983 und 57 % in den Jahren 1995 bis 1999 (Hatton 2004, S. 14).

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nächste Problem bestand darin, in kürzester Zeit pragmatische Lösungen zu finden und z. T. neue Organisationsstrukturen zu etablieren. Darüber hinaus war die Zusammenarbeit mit nicht staatlichen Institutionen, wie Wohlfahrtsverbänden, Verbänden zur Betreuung von Migrant_innen und mit Freiwilligen, ein wichtiger Bestandteil der Betreuung von Flüchtlingen. Wie unsere Experteninterviews in verschiedenen Städten zeigen, wusste die Stadtverwaltung im Jahr 2015 häufig nicht, wie viele Flüchtlinge am nächsten Morgen ankommen würden, für die sie Unterkunft und Verpflegung bereitstellen mussten – 50, 500 oder 1000? Die Integration von Flüchtlingen ist daher eine viel komplexere Aufgabe als die Integration von Migrant_innen – wie wir im Folgenden darlegen werden. Unsere Analyse ist Teil der Kölner Flüchtlings-Studien2 und basiert auf 28 ­leitfaden-gestützten Experteninterviews in Hamburg, die von Mitarbeiter_innen der Sozialbehörde und Flüchtlingsinitiativen bis hin zu Mitarbeiter_innen in Hamburger Schulen und Vereinen reichen. Die Interviews wurden größtenteils im Mai und Juni 2016 durchgeführt, einige auch 2017; die Dauer betrug 20 bis 110 min. Die Interviews wurden aufgenommen, transkribiert und nach Mayring (2010) codiert. Zusätzlich haben wir zahlreiche Drucksachen der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg3 sowie offizielle Statistiken herangezogen. Unser Beitrag befasst sich mit den Unterschieden zwischen der Integration von Migrant_innen und Flüchtlingen. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Integrationspolitik der Stadt Hamburg. Wir möchten zu diesem Sammelband beitragen, indem wir die Aufgaben analysieren, die sich aus dem Zuzug von Flüchtlingen und dem Integrationsprozess in verschiedenen Dimensionen ergeben. Die Stadt steht als wichtiger Träger der Integrationsarbeit im Mittelpunkt dieser Analyse. Inwiefern die Aufnahme organisiert und die Integration forciert wird, wollen wir im Folgenden näher beleuchten. Dafür entwickeln wir zuerst einen Analyserahmen. Die zentrale Frage ist, wie die Besonderheiten des Flüchtlingsstatus mit den konventionellen Integrationstheorien von Migrant_innen erklärt werden können. Zudem schlagen wir vor, die etablierten Assimilations- und Integrationstheorien bei Flüchtlingen um die Phase der „betreuten Integration“ zu erweitern. Die Analyse erfolgt anhand von Maßnahmen der Stadt Hamburg, die die Betreuung und Integration von Flücht-

2Initiiert

und geleitet wurden die Kölner Flüchtlings-Studien durch Professor Jürgen Friedrichs, der sehr unerwartet im Februar 2019 verstorben ist. 3Im Folgenden mit „Drs“ abgekürzt.

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lingen betreffen. Im letzten Abschnitt fassen wir die wichtigsten Ergebnisse zusammen und diskutieren die Konsequenzen für die soziologische Integrationstheorie.

2 Theoretischer Rahmen Flüchtlinge sind Migrant_innen, aber in einem bestimmten Sinne. Der begrifflichen Klarheit halber verwenden wir eine von der OECD vorgeschlagene Differenzierung in vier Gruppen (2016, S. 9). Ein_e Migrant_in ist eine Person, „that moves to a country other of his/her residence for a period of at least one year“. Im Gegensatz dazu sind humanitäre Migrant_innen „people who have successfully applied for asylum and have been granted some sort of protection“; Asylbewerber sind „people who have formally applied for asylum, but whose claim is pending“. Schließlich sind undokumentierte Migrant_innen „persons who have not claimed for asylum“. Im Folgenden werden wir – sofern nicht anders angegeben – den Begriff „Flüchtling“ sowohl für humanitäre Migrant_ innen als auch für Asylbewerber_innen verwenden. Die Integration von Migrant_innen wird durch zwei prominente Theorien erklärt. Das räumliche Assimilationsmodell (Alba 1985; Alba et al. 1999; Alba 2008, 2017; Alba und Nee 1997) beschreibt eine langfristige intergenerationelle Assimilation. Die Theorie geht davon aus, dass die Integration in die ­Mainstream-Gesellschaft innerhalb von drei Generationen erfolgt. Einschränkend räumt die Theorie einerseits ein, dass sich die Integration in den europäischen Ländern von der jüngeren asiatischen und hispanischen Migration unterscheiden kann, andererseits, dass sich die Bedingungen der Integration nach dem Zweiten Weltkrieg von jenen vor dem Zweiten Weltkrieg unterscheiden. Nach dem Zweiten Weltkrieg seien die Arbeitsmöglichkeiten, ein entscheidender Faktor der Integration, weniger geworden. Gleichzeitig komme es zu einer größeren Anzahl an Migrant_innen, die nun in gesteigertem Wettbewerb um die vorhandenen Arbeitsplätze stehen. Dennoch geht die Theorie davon aus, dass die (durchschnittliche) Bildung von Generation zu Generation zunehme und letztendlich zu mehr und besseren Beschäftigungsmöglichkeiten führen wird, was wiederum die Integration fördert. Die zweite Theorie, die segmentierte Assimilationstheorie (Portes und Rumbaut 1996; Portes und Zhou 1993; Zhou 1997) postuliert drei mögliche Ergebnisse des Integrationsprozesses: Assimilation in den Mainstream (entsprechend dem Alba-Modell), Abwärtsassimilation und die Integration in eine ethnische

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Enklave.4 Die Beispiele für Migrant_innen aus verschiedenen Ländern in Portes und Rumbaut (2001) dokumentieren solche Prozesse. Das wichtigste Beispiel für die Integration von Migrant_innen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Gastarbeiter_innen, die zwischen 1954 und Mitte der 70er Jahre kamen. Sie wurden als Zeitarbeitskräfte angeworben, um den bestehenden Mangel an einheimischen Arbeitskräften auszugleichen, und sie sollten in ihre Heimatländer zurückzukehren, sobald sie nicht mehr benötigt wurden (Höhne et al. 2014). Obwohl viele der italienischen, griechischen, türkischen und jugoslawischen Arbeiter_innen tatsächlich zurückkehrten, blieben einige, und nach dem „Gastarbeiterstopp“ 1973 ließen sie ihre Familien nach Deutschland nachziehen (Richter 2015). Sie mussten integriert werden – obwohl die nationale Politik dies nicht vorgesehen hatte. Ihr Integrationsprozess folgt überwiegend dem Alba-Modell, wenn wir die Spanne von drei Generationen betrachten. Es gibt nur sehr wenige ethnische Enklaven in deutschen Großstädten, wenn diese als Mehrheit einer Nationalität in bestimmten Stadtvierteln verstanden werden. In Teilen ist auch eine Assimilation nach unten zu beobachten, insbesondere in Familien türkischer Herkunft. Die beiden Hauptgründe für die Abwärtsassimilation sind der Mangel an Arbeitsplätzen für Geringqualifizierte und die niedrige Schulleistung, die wiederum auf geringe Sprachkenntnisse zurückzuführen ist. In vielen türkischen Haushalten spricht die Mutter kein Deutsch, daher wird innerhalb der Familie Türkisch gesprochen. Schüler_innen aus solchen Haushalten haben eine deutlich geringere Chance, die Sekundarschule oder das Gymnasium zu besuchen (für ähnliche Ergebnisse s. Alba et al. 1994; Strobel und Seuring 2016). Leider stehen uns keine Daten zur Verfügung, um zu quantifizieren, wie viele Gastarbeiter-Migranten_innen zu jeder der drei selektiven Assimilationsgruppen gehören. Das entscheidende Element des Zuzugs von Gastarbeiter_innen war, dass sie so lange arbeiten sollten, wie Arbeitsplätze verfügbar waren, und anschließend in ihre Heimatländer zurückkehren sollten. Mit dieser einfachen Begründung konnte die Bundesregierung alle mit der Integration verbundenen sozialen Aufgaben ignorieren. Die Gastarbeiter_innen a) kamen, um zu arbeiten, waren b)

4Brubaker

(2001, S.  534) hat argumentiert, dass die Assimilationstheorie eine „differentialistische Wendung“ erlebt hat, indem sie nicht mehr nach Identität, sondern nach Ähnlichkeit strebt, wobei Assimilation eine „Richtung der Veränderung“ ist. Vergleicht man die Politik Frankreichs, Deutschlands und der Vereinigten Staaten, so zeigt sich, dass sich Deutschland am stärksten einer differenzierten Sichtweise von Assimilation oder Integration zugewandt hat.

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fast alle Männer, die c) sofort einen Arbeitsplatz und d) eine günstige Unterkunft von dem_der Arbeitgeber_in oder ein einzelnes gemietetes Zimmer in einer Wohnung bekamen. Sie erhielten e) keine Sprachkurse, sondern mussten Deutsch am Arbeitsplatz und in alltäglichen Interaktionen erlernen, und erhielten f) keine Unterstützung durch Freiwillige oder Freiwilligenverbände. Hilfe bekamen sie vor allem von anderen Migranten gleicher Herkunft. Kurz gesagt: Sobald sie zu bleiben beabsichtigten, hing ihre Integration fast vollständig von ihnen selbst ab. Erst Mitte der 70er Jahre, als die Familien der Gastarbeiter_innen nach Deutschland nachkamen, gestand sich die Regierung ein, dass sie sich um die Integration dieser großen Gruppe kümmern musste. Der Fall der Flüchtlinge weicht in mehrfacher Hinsicht von dem der Gastarbeiter_innen und anderer Migrant_innen ab. Erstens ist das Hauptmotiv der Migrant_innen die Verbesserung der wirtschaftlichen Position. Die meisten Migrationstheorien basieren auf unterschiedlichen ökonomischen Perspektiven, wie z. B. dem Gefälle von Löhnen zwischen der Heimat und dem Zielland (Borjas 1994; Massey et al. 1993; Portes 1997; Todaro 1969). Man könnte davon ausgehen, dass die Migration von Gastarbeiter_innen durch einen Pull-Faktor erklärt werden kann, während Flüchtlinge hauptsächlich durch Push-Faktoren in ein Land kommen. Sie wollen einem (Bürger-)Krieg entkommen, der Verfolgung aus politischen, religiösen, ethnischen oder sexuellen Gründen entfliehen, wie Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea. Obwohl dies eine plausible Unterscheidung zu sein scheint, hat eine Studie über die Asylentwicklung in Europa zwischen 1981 und 1999 gezeigt, dass Länder mit besseren wirtschaftlichen Bedingungen, wie einer niedrigeren Arbeitslosenquote, aber auch mit bürgerlichen Freiheiten und politischen Rechten, signifikant häufiger zum Ziel von Flüchtlingen werden (Hatton 2004, S. 33–34). Wir kommen daher zu dem Schluss, dass sich erstens nicht nur Migrant_ innen, sondern auch Flüchtlinge an Pull-Faktoren orientieren, wobei demokratische und wirtschaftliche Faktoren entscheidend sind. Zweitens müssen Flüchtlinge ein Antrags- und Auswahlverfahren mit ungewissem Ausgang durchlaufen. Dieser Prozess kann Monate dauern, wie insbesondere in Deutschland zu beobachten ist (vgl. Übersicht der OECD 2016). Ihr Schicksal und ihr zukünftiges Leben hängen von administrativen Entscheidungen ab. Drittens wird die Integration von Flüchtlingen im Gegensatz zu den Gastarbeiter_innen von der Stadtverwaltung und vielen (Freiwilligen-)Organisationen überwacht und gesteuert. Über einen langen Zeitraum, der vom Grenzübertritt bis zur eigenen Wohnung reicht, werden sie von verschiedenen städtischen Behörden oder ähnlichen Organisationen betreut. Im Vergleich zu regulären Migrant_innen

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durchlaufen Flüchtlinge eine Zeit der „betreuten Integration“. Sie ist durch drei Komponenten gekennzeichnet: a) Es handelt sich um eine gesteuerte Abfolge von Einzelschritten, die durch die lokale oder nationale Politik definiert ist; b) was in jedem einzelnen Schritt zu tun ist, wird von der Verwaltung und der Politik festgelegt; c) es wird kontrolliert, ob die Schritte eingehalten werden, und abweichendes Verhalten wird sanktioniert (z. B. Kürzung finanzieller Hilfen). Wir werden diesen Prozess im folgenden Abschnitt erläutern. Ein Großteil der Literatur betrachtet die Assimilation in verschiedenen Dimensionen und als eine Reihe von Stufen, z. B. Berry (1997, S. 24) und Gordon (1964). Basierend auf dieser Literatur schlug Esser (1980, 2000) vier Dimensionen der Assimilation vor: kognitiv (z. B. Spracherwerb), strukturell (z. B. Position auf dem Arbeitsmarkt), sozial (z. B. interethnische soziale Netzwerke) und identifikativ5 (z. B. Normen, Rückkehrabsicht). Wir ergänzen eine fünfte Dimension: Unterkunft und Unterbringung. Nach diesen Dimensionen werden wir die Darlegung unserer Analyse strukturieren.

3 Ergebnisse Schon im „Hamburger Integrationskonzept: Teilhabe, Interkulturelle Öffnung und Zusammenhalt“ (Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg 2013) „sind Flüchtlinge ausdrücklich mitgedacht“ (S. 9). Integration wird hier verstanden „als chancengerechte und messbare Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens“ (Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg 2013, S. 7). Bestandteile sind ebenfalls ein Phasenkonzept und daraus abgeleitete „Masterplankennzahlen“, die die Phasen des Integrationsprozesses von Flüchtlingen und die angestrebte Entwicklung bis 2025 beschreiben. Die Erstintegration von Flüchtlingen wird dabei besonders hervorgehoben, also die ersten drei Jahre nach ihrer Ankunft. In dieser Zeit sollen die Flüchtlinge durch Spracherwerb, die konkrete Einbindung in Kindertagesbetreuung/Schule oder die Aufnahme von Ausbildung und Arbeit und ggf. durch eine Wohnung befähigt werden, den Alltag selbstständig zu bewältigen (BASFI 2017, S. 11–12). Das Integrationskonzept sieht so einen Fahrplan der Integration vor, der einer betreuten Integration entspricht. Im Folgenden sollen diese Schritte anhand fünf verschiedener Integrationsdimensionen aufgezeigt werden.

5Diese

Dimension wurde in der Analyse unserer Flüchtlingsbefragung berücksichtigt (Friedrichs et al. 2019).

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3.1 Der Prozess der sozialräumlichen Integration Nach der Ankunft in Hamburg durchlaufen die Flüchtlinge eine Reihe verschiedener Unterbringungsformen. Um in die deutsche Gesellschaft integriert zu werden, sind eine Wohnung und ein stabiles Wohnumfeld wichtige Voraussetzungen. Bis dieser Schritt vollzogen werden kann, dauert es jedoch mithin Jahre.

3.1.1 Städtische Unterbringung Der Stadtstaat Hamburg schreibt eine Unterbringung in zentralen Gemeinschaftsunterkünften vor, d. h. in großen Einrichtungen, in denen viele Flüchtlinge auf relativ engem Raum untergebracht werden können. Für die Unterbringung in vielen kleineren Einrichtungen (dezentrale Unterbringung) fehlten zunächst Zeit, Platz und Personal: Die Expert_innen räumten ein, dass in Anbetracht der Zuzugszahlen in der 2. Jahreshälfte 2015 „die Leute auf der Straße geschlafen“ hätten, wenn die Unterbringung nicht in Großunterkünften erfolgt wäre (E12). Erst seit dem Frühjahr 2016, als die Anzahl ankommender Flüchtlinge abnahm, konnten neue Flächen für kleinteiligere Standorte erschlossen werden. Im Mai 2016 wurde in Hamburg ein Zentrales Ankunftszentrum für Flüchtlinge eingerichtet. Es soll den Prozess des Ankommens für Flüchtlinge vereinfachen, indem die Registrierung, die ärztliche Erstuntersuchung und der Asylantrag unter einem Dach innerhalb weniger Tage erfolgen können. Von dort werden die Neuankömmlinge auf Erstaufnahmeeinrichtungen verteilt. Die Kapazität der 24 Erstaufnahmeeinrichtungen variiert zwischen 50 und 1300 Plätzen. Auch die Art der Unterbringung ist unterschiedlich; sie umfasst ehemalige Schulen, Krankenhäuser, Container, Gewerbehallen und Zelte (Freie und Hansestadt Hamburg 2017). In der Regel teilen sich vier Personen eine Fläche von 10 – 15 qm sowie weitere Gemeinschaftsflächen, u. a. Sanitäranlagen. Eine eigenständige Versorgung (Kochen) ist in großen Gemeinschaftsunterkünften normalerweise nicht möglich. Regulär sind Schutzsuchende bis zum Ablauf ihrer Residenzpflicht nach sechs Monaten an die Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen gebunden. Je nach Schutzstatus kann ihr Aufenthalt mehr als ein Jahr dauern, z. B. bei Duldungsentscheiden oder bei einer verzögerten Bearbeitung des Asylantrags.6 Generell gilt: 6Während des Höhepunkts der Ankunft schutzbedürftiger Menschen verzögerte sich die Bearbeitung der Asylanträge. 60 % derjenigen, die über Hamburg verteilt waren, konnten Asyl beantragen, von denen wurden wiederum 70 % innerhalb dieses Jahres bearbeitet. Der Unterschied zwischen ankommenden Personen und der Anzahl der Anmeldungen wird oft als „EASY-Gap“ bezeichnet. EASY (Erstverteilung der Asylsuchenden) ist eine ITAnwendung des BAMF für die Erstzuordnung der Bewerber_innen.

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Je höher die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland bleiben zu können, desto kürzer ist der Aufenthalt in der Erstaufnahmeeinrichtung. Die Verteilung der Flüchtlinge auf eine der 111 Folgeunterkünfte (Stand: 2016) wird von der Aufnahme- und Vermittlungsstelle fördern und wohnen koordiniert. Eine Verlegung erfolgt nur, wenn die Residenzpflicht abgelaufen ist und eine Aufenthaltserlaubnis und eine gesundheitliche Freigabe vorliegen. Bei der Verteilung auf Unterkünfte wird – sofern möglich – auf das Verhältnis von Alleinreisenden zu Familien (40/60) sowie eine möglichst ausgewogene Durchmischung verschiedener Nationalitäten (sozialverträgliche Verteilung) geachtet. In der Regel steht zwei Personen ein Zimmer bzw. 10 – 15 qm zur Verfügung. In den Gemeinschaftsunterkünften werden Sanitäranlagen und Küchen weiterhin geteilt, eine eigenständige Versorgung ist jedoch möglich. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Folgeeinrichtungen beträgt zwei bis drei Jahre.

3.1.2 Eigene Wohnung Flüchtlinge mit einem Aufenthaltstitel von mindestens einem Jahr sind nach Ablauf ihrer Residenzpflicht berechtigt, eine private Wohnung zu mieten, ggf. mit Unterstützung aus Erziehungs- und Sozialhilfen (SGB II). Hilfe finden Flüchtlinge bei verschiedenen Beratungs- und Vermittlungsstellen, z. B. der Wohnbrücke oder den bezirklichen Fachstellen für Wohnungslose. Allerdings ist der Wohnungsmarkt in Hamburg dermaßen angespannt, dass selbst deutsche Haushalte mit einem Durchschnittseinkommen Schwierigkeiten haben, bezahlbare Wohnungen zu finden. Kommen Sprachbarrieren und Vorurteile hinzu, wird die Situation schnell entmutigend. Daher sind die Chancen für einen Flüchtling, eine Wohnung auf dem Wohnungsmarkt zu finden, relativ gering. Aus Sicht vieler Expert_innen ist der Kontakt mit Ehrenamtlichen sehr wichtig für den Erfolg bei der Wohnungssuche. Die Sprachbarriere kann auch dann zu einem Problem werden, wenn bereits eine Wohnung bezogen wurde: Im Gegensatz zu öffentlichen Unterkünften erfolgt dann keine Betreuung mehr durch Sozialarbeiter_innen, die ihnen bei der Orientierung sowie bei bürokratischen Angelegenheiten und den Verhaltensregeln in den Wohnhäusern helfen könnten. Hier können Ehrenamtliche eine wichtige Stütze sein. Die Unterbringung von Flüchtlingen ist somit ein stark regulierter Prozess, der sich auf die Integrationschancen auswirkt: Flüchtlinge werden bestimmten Unterkünften zugeteilt, ohne diese Entscheidung beeinflussen zu können, und selbst wenn es um den Umzug in eine Privatwohnung geht, müssen sie feststellen, dass sie auf die Unterstützung Freiwilliger angewiesen sind. Daher ist die Unterbringung ein Hinweis auf die Richtigkeit unserer These der „betreuten Integration“.

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3.2 Kognitive Integration: Sprache und Schule Nach der Unterbringung ist die erste und wichtigste Phase im Integrationsprozess das Erlernen der Sprache des Aufnahmelandes. Alle anerkannten Flüchtlinge sind verpflichtet, an Integrations- und Sprachkursen teilzunehmen; dies ist der zweite Hinweis auf unser Argument der „betreuten Integration“. Im Gegensatz zu den Gastarbeiter_innen können Flüchtlinge nicht selbst entscheiden, ob und wann sie mit dem Deutschlernen beginnen wollen. Im Gegenteil, wenn sich anerkannte Flüchtlinge ohne triftigen Grund weigern, am Integrationskurs teilzunehmen, können ihre Sozialleistungen gekürzt werden (basierend auf dem Integrationsgesetz). An den offiziellen Integrationskursen können jedoch nur anerkannte Flüchtlinge und solche aus Ländern mit einer „guten Bleibeperspektive“ teilnehmen. Andere Asylbewerber_innen, die noch auf die Entscheidung warten, müssen mehrere Monate bis über ein Jahr warten, sofern es nicht noch freie Plätze gibt oder sie sich die Kurse selbst leisten können (Aumüller et al. 2015, S. 74). Ergänzende Sprachkurse durch Ehrenamtliche sind ebenfalls sehr hilfreich, um die Dauer bis zum Beginn des Integrationskurses zu überbrücken. Nach der Einschätzung der BASFI ist dies allerdings eine Zeit- und Ressourcenverschwendung, wenn diese Zeit nicht für den Spracherwerb genutzt werden kann (BASFI 2017, S. 25–26). Die Stadt Hamburg investierte daher 1,5 Mio. EUR, um 2000 zusätzliche Kurse für Flüchtlinge anbieten zu können, die regulär noch keinen Zugang zu den Integrationskursen haben (Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg 2017). Des Weiteren werden u. a. vom Jobcenter berufsbezogene Sprachkurse angeboten, die auch mit geringen Sprachkenntnissen begonnen werden können. Dieses Angebot basiert auf der Erfahrung, dass nicht alle Teilnehmer_innen des Integrationskurses das Niveau B1 erreichen (BASFI 2017, S. 25). Laut Expert_in E13 sind Flüchtlinge sehr begierig darauf, Deutsch zu lernen. Sie erkennen, dass dies die Voraussetzung ist, um einen Job zu finden und Geld zu verdienen. Daher sollten insbesondere die berufsbezogenen Sprachkurse ausgebaut werden. Die Integration der Kinder in die Schule erfolgt je nach Bildungsstand in bis zu drei Schritten: Grundkurs, Internationale Vorbereitungsklassen (IVK) und regulärer Unterricht.7 Die Grundkurse richten sich an Kinder, die noch nicht alphabetisiert wurden oder noch nie eine Schule besucht haben. Nach einem Jahr werden die Schüler_innen in einer IVK unterrichtet, wo die Kinder ein

7In anderen Städten, wie Mülheim an der Ruhr, ziehen es Schulen vor, Flüchtlingskinder von Anfang an in den regulären Unterricht zu integrieren, weil sie der Meinung sind, somit die Integration und den Spracherwerb besser zu unterstützen.

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weiteres Jahr verbringen. Infolgedessen kann ein Kind zwei Jahre lang in einer von deutschsprachigen Schüler_innen getrennten Klasse verbringen, bevor es den regulären Unterricht besucht. IVKs müssen an allen Schultypen geschaffen werden, unabhängig von den Lernfähigkeiten der Kinder. Besondere Probleme bei der Schulbildung ergeben sich bei der Gruppe der 18bis 25-Jährigen. Diese konnten aufgrund der Flucht häufig keinen Schulabschluss erwerben und sind nun zu alt, um eine reguläre Schule zu besuchen, da die Schulpflicht in Deutschland nur für Heranwachsende bis zum Alter von 18 Jahren gilt. Die Verteilung der Schutzsuchenden nach Altersgruppen verdeutlicht, wie wichtig ein umfangreiches Bildungsangebot für die Gruppe junger Erwachsener ist: 50 % der Migrant_innen sind unter 25 Jahre alt, 70 % sind unter 30 Jahre alt (E12, BAMF 2018b). Die Expert_innen waren sich einig, dass die Altersgruppe der 18bis 25-Jährigen eine kritische Gruppe darstellt, deren Integration in den Bildungsund Arbeitsmarkt bisher nur unzureichend unterstützt wurde.

3.3 Integration in den Arbeitsmarkt „Die wichtigste Voraussetzung für die Integration ist die Beschäftigung.“ (E12) Als die Ankunft von Flüchtlingen im Jahr 2015 ihren Höhepunkt erreichte, äußerte sich Angela Merkel optimistisch, dass Flüchtlinge dazu beitragen könnten, den Arbeitskräftemangel zu verringern (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2016). Wie haben die Hamburger Expert_innen jedoch die tatsächliche Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt bewertet?

3.3.1 Berufsschulen und duale Ausbildung Die berufliche Integration von Jugendlichen beginnt mit der Berufsschule, die eine Schnittstelle zwischen kognitiver und beruflicher Integration bildet. Junge Erwachsene, in der Regel zwischen 16 und 20 Jahren, haben die Möglichkeit, an einem Programm des Hamburger Instituts für Berufsbildung teilzunehmen. Hier besuchen sie eine Berufsschule, um sich auf eine Ausbildung vorzubereiten. Junge Erwachsene zu motivieren, ihre Zeit in eine Berufsausbildung zu investieren, ist dabei eine Herausforderung der Integrationspolitik. Häufig wollen junge Flüchtlinge schnell Geld mit Arbeitsplätzen für gering qualifizierte oder ungelernte Arbeitnehmer_innen verdienen, um damit Familienmitgliedern in ihrem Heimatland finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen, die oftmals von den Familien erwartet wird. Darüber hinaus ist das deutsche System der dualen Berufsausbildung in den meisten Ländern unbekannt, z. T. werden ähnliche Berufsqualifikationen in den Heimatländern in Universitätsstudiengängen

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erworben. Das Integrationsgesetz unterstützt die Entscheidung für eine Berufsausbildung, indem es den Absolvent_innen durch die 3 + 2-Regelung ermöglicht, nach Abschluss mindestens zwei Jahre in Deutschland zu arbeiten. Außerdem sind die Auszubildenden vor einer Abschiebung geschützt. Dies bietet den Flüchtlingen nicht nur Stabilität, sondern motiviert auch die Unternehmen, in sie zu investieren.

3.3.2 Arbeitsmarkt Nur mit einem Sprachniveau von mindestens A2, oder nach europäischem Vorbild meist B1, werden Migrant_innen vom Jobcenter bei der Berufsausübung unterstützt. Die Hamburger Behörden bemühen sich sehr darum, die Integration von Flüchtlingen in den deutschen Arbeitsmarkt zu fördern. Gerade für Menschen mit hoher Qualifikation und langjähriger Berufserfahrung gibt es hinreichende Strukturen, die eine schnelle Integration gewährleisten sollen. Insbesondere bei jungen Erwachsenen mit mangelnder Schulbildung und bei älteren Menschen mit geringen Qualifikationen wird dies jedoch Zeit und Mühe kosten. Dabei sollen Anreize gesetzt werden, sich für einen Beruf zu entscheiden, der in Deutschland gebraucht wird. Auch in diesem Bereich müssen die Flüchtlinge den Anweisungen der Behörden folgen. Vor Abschluss des Integrationskurses wird das Jobcenter in der Regel nicht aktiv, wenn es darum geht, parallel zum Sprachkurs eine Stelle zu finden. Nur selbstständig und mithilfe anderer Institutionen oder Freiwilliger können sie versuchen, ihren Integrationskurs mit einer Teilzeitstelle zu verbinden. Dies ist ein weiterer Punkt, der unser Argument der „betreuten Integration“ bestätigt.

3.4 Soziale Integration Eine entscheidende Voraussetzung für die soziale Integration sind nach Ansicht all unserer Interviewpartner_innen die zahlreichen Freiwilligen (cf. Klöckner 2016). Integration wird heute als Aufgabe der Gesellschaft gesehen. „Das Engagement wird von der Politik und durch die Medien gefördert. Das ist sehr wichtig, denn Kontakte sind ein Türöffner zur Nachbarschaft und so funktioniert Integration.“ (E18) Mentor_innen- (oder Paten_innen-) Programme sind von besonderer Bedeutung. Hier werden Freiwillige und Flüchtlinge in einem 1:1-Betreuungsverhältnis zusammengebracht. Die Mentor_innen unterstützen, indem sie Termine bei Behörden begleiten und bei der Suche nach einer Wohnung oder einem

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Arbeitsplatz helfen. Ein wesentlicher Vorteil dieses Engagements ist, dass die Freiwilligen nicht an bürokratische Regeln gebunden sind. Diese hohe Flexibilität schafft Vertrauen, auch gegenüber dem Staat (E16). Gerade in Anbetracht unserer Theorie der „betreuten Integration“ kommt dem sozialen Engagement in der Flüchtlingshilfe ein enormer Stellenwert zu: Zwar wurden auch bei fördern & wohnen, ebenso wie bei den Bezirksämtern und der Zentralen Koordinierungsstelle, neue Arbeitsplätze für die Koordination von Freiwilligen geschaffen und somit das Ehrenamt ein Stück weit institutionalisiert. Dennoch beruht das ehrenamtliche Engagement als einzige der beschriebenen Dimensionen auf einer freiwilligen Entscheidung der Flüchtlinge und wird nicht sanktioniert, wenn das Angebot ausgeschlagen wird oder nicht bekannt ist.

4 Schlussfolgerungen Um den spezifischen Fall von Flüchtlingen bei der Integration zu erfassen, schlugen wir vor, die bestehenden Assimilationstheorien um die Phase der betreuten Integration zu erweitern. Unsere Analyse des Falles Hamburg zeigt, dass die Integration von Flüchtlingen zu einem großen Teil von der Stadtverwaltung und den mit ihr verbundenen Organisationen gesteuert und betreut wird. Im Hinblick auf die Dimensionen der Integration finden wir enorme Anstrengungen, um die erforderliche Anzahl von Sprach- und Integrationskursen anzubieten, von denen Hamburg neben den staatlich finanzierten Kursen selbstständig weitere Kurse bereitstellt. Integrationskurse sowie die IVKs in Schulen beziehen sich auf die identifikative oder normative Dimension der Integration, da sie sich mit Normen und Werten des Grundgesetzes befassen. Die funktionale Integration in den Arbeitsmarkt kann nicht vollständig bewertet werden, da die Mehrheit der Flüchtlinge bisher nicht in den regulären Arbeitsmarkt integriert werden konnte. Das liegt auch an fehlenden Sprachkenntnissen. Schließlich ist die soziale Integration vor allem Aufgabe von Freiwilligenorganisationen und Mentoringprogrammen, die die Integration der Flüchtlinge bisher mit außergewöhnlichem Engagement unterstützt haben. Vermutlich sind sich die meisten Bürger_innen der enormen Anstrengungen nicht bewusst, die notwendig waren (und sind), um die Flüchtlinge aufzunehmen, die oft in unerwartet hoher Zahl von einem Tag auf den anderen in den Städten und Kommunen ankamen. Grundsätzlich haben die Regierungen der Städte, Länder und des Bundes zu spät auf den wachsenden Zuzug von Flüchtlingen reagiert, da der Anstieg der Flüchtlingszahlen seit 2010 bekannt war. Unsere Analysen der Maßnahmen in Hamburg verdeutlichen die Anstrengungen, die von

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kommunaler Seite nötig waren, um die Flüchtlinge zu versorgen. Auf die Frage, wie es möglich war, in so kurzer Zeit neue Verwaltungsstrukturen zu entwickeln, die auch die Zusammenarbeit verschiedener Behörden und die Verlagerung einiger Arbeitsplätze auf andere Institutionen erforderten, antworteten fast alle Expert_innen: Es war „der politische Wille“. Der damalige Erste Bürgermeister, Olaf Scholz, der Senatslandbund und die Abteilungsleiter_innen arbeiteten zusammen. Insgesamt hat die Analyse gezeigt, dass die Integration auf allen Dimensionen der Flüchtlingsintegration durch (verpflichtende) Strukturen gekennzeichnet ist, die das Konzept der „betreuten Integration“ stützen. Diese zeichnen sich durch Verbindlichkeit und eine stufenweise Abfolge aus, bei der eine Abweichung in der Regel sanktioniert wird. Nur die Unterstützung durch Ehrenamtliche liefert ein optionales Angebot, das selbstbestimmt wahrgenommen werden kann. Die betreute Integration wird damit in der Praxis zu einem ambivalenten Instrument, schränkt sie doch einerseits die Freizügigkeit und Selbstbestimmung der Flüchtlinge ein, um andererseits eine aktive Integrationspolitik zu verfolgen, deren bisherige Ergebnisse vorsichtig als positiv bewertet werden können. Auf der theoretischen Ebene stellt diese Phase eine grundlegende Differenzierung von Flüchtlingen gegenüber regulären Migrant_innen dar, die bisher integrationstheoretisch noch keine Berücksichtigung gefunden hat. Diese Phase legt jedoch den Grundstein für die Integration von rund einer Million Menschen, die in den vergangenen fünf Jahren nach Deutschland kamen. Dieser blinde Fleck bedarf daher dringend weiterführender Bearbeitung. Letztendlich werden die entscheidenden Weichen für die Integration der Flüchtlinge in der Bildung und den Arbeits- und Wohnungsmärkten gelegt. Die Integrationschancen hängen somit direkt von den (segmentierten) räumlichen Assimilationsprozessen ab. Das Ergebnis dieser Prozesse wird politische Auswirkungen haben, wie Gurrien und Walsh erklärten: „Die Angst vor Migration folgt Populismus und Misstrauen und untergräbt die Fähigkeit der Regierungen, Ströme zu steuern.“ (OECD 2016) Für die zukünftige Forschung sollte das Konzept der betreuten Integration auf die Integration von Flüchtlingen in anderen Städten Anwendung finden, um zu testen, wie fruchtbar dieses ist. Die Folgen dieser Art der Integration sollten langfristig untersucht werden, sowohl in der Migrationstheorie als auch in der empirischen Forschung. Dabei ist eine wichtige Frage, in welchem Umfang sich die betreute Phase auf die spätere Integration von Flüchtlingen auswirkt und wie lange diese Phase im Durchschnitt andauert.

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„Betreute Integration“ – Zur integrationstheoretischen …

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Dr. Jürgen Friedrichs, war Professor em. und ehemaliger Direktor des Forschungsinstitutes für Soziologie der Universität zu Köln und Mitherausgeber der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität zu Köln (bis 2012). Seit 2007 ist er emeritiert, aber war bis zu seinem Tod im Februar 2019 weiterhin in der Lehre und Forschung im Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität zu Köln tätig. Seine letzten Forschungsprojekte waren Integration von Flüchtlingen (Kölner FlüchtlingsStudien), Städtische Armutsgebiete und Gentrification. Felix Leßke,  M.A., war wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Kölner Flüchtlings-Studien, die er nach dem Tod von Professor Friedrichs administrativ leitete. Zudem ist er Doktorand und Mitarbeiter am Fachbereich Soziologie der Universität Bonn. Seine Arbeitsschwerpunkte sind quantitative empirische Sozialforschung, Migrations- und Flüchtlingsforschung, klassische soziologische Theorie, Stadtsoziologie sowie Sozialstruktur- und Ungleichheitsanalyse. Vera Schwarzenberg, M.A., war wissenschaftliche Mitarbeiterin in den Kölner ­Flüchtlings-Studien unter der Leitung von Prof. em. Dr. Jürgen Friedrichs. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind qualitative empirische Sozialforschung, Flüchtlingsforschung, Entwicklungssoziologie sowie Entwicklungszusammenarbeit. Kim Elaine Singfield, M.A., war wissenschaftliche Mitarbeiterin in den Kölner Flüchtlings-Studien. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der qualitativen empirischen ­ Sozialforschung, Migrations- und Flüchtlingsforschung sowie der deutschen Entwicklungspolitik.

Kommunale Integrationskonzepte in Sachsen Ann-Christin Damm

Zusammenfassung

Eine Möglichkeit der Organisation kommunaler Integrationsarbeit stellen Integrationskonzepte dar. Sie bilden kein gänzliches neues Steuerungskonzept, vielmehr wurden sie bereits seit den 1970er Jahren in Kommunen mit traditionell hohen Ausländeranteilen entwickelt. Heute spielen kommunale Integrationskonzepte inzwischen auch in Bundesländern mit historisch vergleichsweise niedrigen Zuwanderungsraten eine immer größere Rolle. So haben in Sachsen inzwischen elf der 13 Landkreise und kreisfreien Städte ein solches Konzept erarbeitet. Vor dem Hintergrund einer wachsenden ausländischen Bevölkerung und öffentlichkeitswirksam verbreiteter Vorbehalte gegenüber Zuwanderung stellt Sachsen einen besonders interessanten integrationspolitischen Akteur dar. Durch Integrationskonzepte können Kommunen Integration zwar nicht verordnen, aber die Rahmenbedingungen der Integrationsprozesse beeinflusst werden. Dafür werden in den Konzepten Akteure auf integrationspolitische Ziele verpflichtet, Integrationspolitik wird als Querschnittsaufgabe in der Verwaltung verankert und gesellschaftlicher Dialog befördert. Anhand des Bundeslandes Sachsen werden exemplarisch die Ausgestaltung der Konzepte, einschließlich der Integrationsverständnisse, Adressierung sowie deren Wirkung, aber auch Grenzen dargestellt.

A.-C. Damm (*)  Frankfurt am Main, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_9

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Schlüsselwörter

Integration · Sachsen · Integrationskonzepte · Integrationsmonitoring

1 Kommunale Integrationskonzepte in Deutschland 1.1 Forschung zu kommunalen Integrationskonzepten Etwa 15 Jahre nach der ersten Einführung umfassender kommunaler Integrationskonzepte in die kommunale Integrationspolitik fehlt es an weiterführender, insbesondere qualitativ ausgerichteter Forschung. Kommunale Integrationskonzepte sind empirisch bisher wenig untersucht. Repräsentative Untersuchungen liegen fast ausschließlich für Großstädte vor (siehe Friedrich und Waible 2012; Gersting 2014; Krüger 2016; Farrokhzad 2017; Gesemann 2009). Eine Ausnahme bildet die Kommunalstudie von Roth, Gesemann und Aumüller (2012), welche neben Großstädten auch mittelgroße Städte, Landkreise und kleinere Städte/Gemeinden umfasst. Rar bleiben systematische Fallstudien einschließlich der Untersuchung von Politikprozessen in Kommunen (siehe einschlägig Gesemann 2009) sowie konkrete Fallstudien zu Auswirkungen vor Ort (vgl. Pütz und Rodatz 2013, S. 197). Mit der vorliegenden Fallstudie zu Integrationskonzepten auf Landesebene in Sachsen soll ein exemplarischer Beitrag zu der beschriebenen Forschungslandschaft geleistet werden. Grundlage der Darstellungen zu sächsischen kommunalen Integrationskonzepten ist unter anderem eine von MIDEM (Mercator Forum für Migration und Demokratie) durchgeführte und ausgewertete Umfrage unter sächsischen Kommunen auf Basis eines teilstandardisierten Fragebogens. Die Rücklaufquote betrug 54 %. Da die Stichprobe in ihren Merkmalen nicht der Grundgesamtheit der lokalen Integrationsakteure entspricht, können die Ergebnisse der Befragung nicht als repräsentativ gelten. Sie vermitteln jedoch einen Eindruck von der kommunalen Sicht auf die Integrationslandschaft in Sachsen.

1.2 Einordnung in das föderale System Kommunen kommt bei der Gestaltung von Integrationspolitik eine zentrale Bedeutung zu. Im Rahmen ihrer freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben können sie Beratungsangebote fördern, Sprachkurse anbieten und kommunale Integrationskonzepte erstellen. Auch Landkreise unterliegen der kommunalen

Kommunale Integrationskonzepte in Sachsen

137

Abb. 1   Verbreitung von Integrationskonzepten in 2017. Zahlen für Kleinstädte aus 2016. (Eigene Darstellung)

Selbstverwaltung und machen von der Möglichkeit Gebrauch, eigene Integrationskonzepte zu erlassen.1 Integrationskonzepte stellen kein neues kommunalpolitisches Phänomen dar. Bereits in den 1970er Jahren entwickelten westdeutsche Großstädte Leitbilder für die Integration von Ausländer_innen, welche jedoch selten fortgeschrieben wurden (SVR 2018, S. 130). Ein Großteil der aktuell bestehenden Konzepte wurde zwischen 2005 und 2012 erarbeitet. Über die Verbreitung kommunaler Integrationskonzepte liegen keine einheitlichen Daten vor (siehe Zusammenstellung der verfügbaren Informationen in Abb. 1). Da es sich um eine freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe handelt, werden die Instrumente nicht zentral erfasst. Im Jahr 2017 verfügten 69 der 79 deutschen Großstädte (87,3 %) über ein Leitbild oder Konzept zum Thema Integration. Damit hat sich deren Anzahl seit 2007 mehr als verdoppelt. Zur selben Zeit besaßen etwa ein Drittel der Landkreise, aber nur 17,9 % der Mittelstädte ein Integrationskonzept (SVR 2018, S. 130 f.; Gesemann et al. 2012, S. 39). 17,4 % der Kleinstädte gaben in einer Befragung von 2016 an, ein Integrationskonzept zu haben (vhw 2016, S. 191).2 Ein wichtiger Faktor für das

1Insgesamt

beschränken sich Integrationskonzepte nicht auf die kommunale Ebene. In Deutschland haben alle Bundesländer eigene Integrationskonzepte bzw. -pläne beschlossen. 2An der vom 7. März bis 8. April 2016 durchgeführten bundesweiten Online-Befragung zu der Situation der Flüchtlingsaufnahme und -integration nahmen 53 % der Kommunen und 24 % der Landkreise teil.

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Vorhandensein eines Integrationskonzeptes scheint somit erstens die Größe der Kommune zu sein. Als weiterer Faktor kann die unterschiedliche wirtschaftliche und demografische Lage der Kommunen gelten. Integrationskonzepte sind am häufigsten bei Kommunen in stark prosperierenden Gebieten (30 % mit verabschiedetem Integrationskonzept) und in Städten mit hoher Wirtschaftskraft (28 %) anzutreffen. Weniger häufiger finden sich diese in Regionen mit nur durchschnittlicher wirtschaftlicher und demografischer Stabilität (13,8 %) und in sogenannten „Entleerungszonen“, welche von Prozessen wirtschaftlicher Stagnation oder Rückentwicklung und einer damit verbundenen arbeitsplatzbedingten Abwanderung betroffen sind (6,7 %). Des Weiteren scheint die geografische Lage ein Einflussfaktor zu sein: Kommunen in Ostdeutschland verfügen nur selten (13,6 %) über Integrationskonzepte im Vergleich zu anderen Regionen (Nord 17 %, Mitte/West 18,5 % und Süd 31,4 %) (vhw 2016, S. 191).3

1.3 Funktionen Mit kommunalen Integrationskonzepten werden grundsätzlich mehrere Strategien verfolgt (Filsinger 2018, S. 330; Pütz und Rodatz 2013, S. 170 ff.). Integrationskonzepte sind zwar im rechtlichen Sinne nicht bindend, dennoch zielen sie auf eine Verpflichtung politischer und administrativer Akteure auf Ziele und Inhalte – insbesondere dann, wenn die Konzepte veröffentlicht, durch parteiübergreifende Beschlüsse legitimiert und deren Umsetzung mit Plänen, Maßnahmen und Indikatoren versehen sind. Ebenso führen die Konzepte zu einer Institutionalisierung von kommunaler Integrationspolitik. Sie organisieren und vereinheitlichen Verwaltungshandeln und geben diesem damit eine strategische integrationspolitische Richtung vor. Meist wird in ihnen Integration als Gemeinschaftsaufgabe definiert, an der eine Vielzahl an Fachpolitiken beteiligt sind (vgl. Gersting 2014, S. 317 f.). Jenseits einer Steuerung auf administrativer Ebene spielen die Konzepte auch für die Kommunikation und Aufwertung des Themas eine wichtige Rolle: Schon bei der möglichst inklusiven Erarbeitung eines Konzeptes wird ein Dialog über Fragen der Integration und somit auch des Zusammenlebens vor Ort initiiert. Dadurch fungieren die Konzepte nicht nur als

3Datenbasis

sind u. a. Informationen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung, der Statistischen Ämter sowie des Bundesverbands für Bevölkerungsforschung. Die hier dargestellte Einteilung beruht auf einer Untersuchung des Bundesverbandes für Wohnen und Stadtentwicklung e. V. (vhw 2016).

Kommunale Integrationskonzepte in Sachsen

139

Abb. 2   Anteil Menschen mit Migrationshintergrund 2018 an Gesamtbevölkerung. (Eigene Dasrstellung)

kommunales Steuerungsinstrument für die Verwaltung, sondern bestenfalls auch als „Vision des Zusammenlebens aller“ (Kasper und Moser 2009, S. 333). Sie bieten Orientierung und werten das Thema der Integration auf. Letztlich wird mit Integrationskonzepten die Strategie verfolgt, eine Vielzahl von Akteuren an kommunalen Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen. Dazu zählen unter anderem der Aufbau von Netzwerken und die Verstetigung bestehender Kooperationen.

2 Kommunale Integrationskonzepte in Sachsen 2.1 Sachsen als integrationspolitischer Akteur Der Freistaat Sachsen ist ein besonders interessanter integrationspolitischer Akteur. Obwohl der Anteil der Ausländer_innen sowie von Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung in westdeutschen Bundesländern deutlich höher ist, verändert sich die Struktur der Bevölkerung in Sachsen sehr viel schneller als im bundesweiten Durchschnitt (siehe auch Abb. 2). Der Anteil der in Sachsen lebenden Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung ist von 2011 bis 2018 von 4,4 auf 8,2 % gestiegen (Statistisches Bundesamt 2019a). Damit liegt der absolute Anteil zwar deutlich hinter dem bundesdeutschen Durchschnitt von 25 % in 2018. Von 2011 bis 2018 stieg der Anteil in Deutschland um 35 %, in Sachsen hingegen um 86 %. Der

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Ausländeranteil hat sich von 2012 bis 2018 mehr als verdoppelt (2,2 % in 2012 auf 5 % in 2018; deutschlandweit von 8,9 % auf 12,2 % im gleichen Zeitraum). Ein Drittel der Ausländer_innen in Sachsen sind Schutzsuchende, deutschlandweit hingegen nur 16 %.4 (Stand 2018, Statistisches Bundesamt 2019b). Diese Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass der Stellenwert der Integrationspolitik in Sachsen stark gestiegen ist. Sachsen weist mit 1,29 % nach Baden-Württemberg (770 Mio. Euro integrationspolitische Ausgaben, 1,75 % des Gesamthaushalts) die höchsten integrationspolitischen Ausgaben in Relation zu den Gesamtausgaben des Haushalts der Bundesländer auf. Neben der Integration nimmt aber vor allem die Zuwanderung einen hohen politischen Stellenwert ein. Ein starker wirtschaftlicher Aufschwung hat in dem bevölkerungsreichsten Bundesland im Osten zu einer Vielzahl von Maßnahmen zur Förderung von Fachkräftezuwanderung geführt. Zuwanderung wird – nicht zuletzt verdeutlicht in dem im Mai 2018 novellierten Zuwanderungs- und Integrationskonzept des Landes – als Potenzial und existenzielle Voraussetzung für die zukünftige Entwicklung Sachsens erkannt (Damm 2018). Neben dem Zuwanderungs- und Integrationskonzept (ZIK II) liegen elf Integrationskonzepte beziehungsweise –pläne vor: in den Landkreisen Bautzen, Erzgebirge, Görlitz, Leipzig, Meißen, Nordsachsen, Sächsische Schweiz – Osterzgebirge und Zwickau sowie in den kreisfreien Städten Chemnitz, Dresden und Leipzig. Mit Ausnahme des Landkreises Sächsische Schweiz – Osterzgebirge sowie der Städte Chemnitz, Dresden und Leipzig wurden alle Konzepte (bzw. die Vorgängerkonzepte) nach 2015 verabschiedet. Die Konzepte reichen von kurzen und wenig detaillierten Integrationsleitlinien oder -plänen bis zu ausführlichen Dokumenten von über 100 Seiten mit überprüfbaren Umsetzungstabellen.

2.2 Beteiligte Akteure und Erarbeitung der Konzepte Die Erarbeitung kommunaler Integrationskonzepte in Sachsen erfolgte nicht nach einem einheitlichen Schema. Die einbezogenen Akteure und Prozeduren ähneln sich jedoch zunehmend – wie in Deutschland, so auch in Sachsen. Die sächsischen Konzepte wurden vornehmlich von Akteuren aus Politik und Verwaltung initiiert. Dazu zählen Landrät_innen bzw. Bürgermeister_innen,

4Dazu

zählen Asylsuchende, anerkannte Flüchtlinge sowie Schutzsuchende mit abgelehntem Schutzstatus.

Kommunale Integrationskonzepte in Sachsen

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Migrations- und/oder Integrationsbeauftragte, Landkreis- bzw. Stadtverwaltungen und politische Parteien. Zivilgesellschaftliche Gruppen wurden in zwei Fällen als initiierende Akteure genannt. Auch bei der anschließenden Ausarbeitung der Konzepte gibt es eine große Spannbreite an einbezogenen Akteuren und Prozeduren. Allgemein wird die Erarbeitung der Konzepte immer mehr von öffentlichen, mehrstufigen Beteiligungsprozessen begleitet (Krüger 2016, S. 8). Dieser partizipative Trend ist auch für Sachsen deutlich zu beobachten: Federführend bei der Erarbeitung sind hier zumeist Migrations- und/ oder Integrationsbeauftragte oder eine verwaltungsinterne Steuerungsgruppe, die eng mit Vertreter_innen aus dem Kreistag und/oder der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Als Auftaktveranstaltung dienen Integrationskonferenzen oder Analyseworkshops. Darauffolgende Beteiligungsverfahren bestehen aus ­ Online-Umfragen, repräsentativen Befragungen und Interviews. An dem Erarbeitungsprozess sind zudem weitere kommunale Akteure beteiligt: Bildungsagenturen, Wohlfahrtsverbände, Sprach- und Jugendhilfeträger, Kreishandwerkerschaften, Betreiber_innen von Gemeinschaftsunterkünften und Ehrenamtliche. Alle sächsischen kommunalen Integrationskonzepte wurden anschließend durch Kreis- oder Stadttage beschlossen.

2.3 Handlungsfelder: Von Arbeit bis Zusammenhalt Die Ausformulierung und Gestaltung von Handlungsfeldern bildet den Hauptteil kommunaler Integrationskonzepte. Die folgende Auflistung in den sächsischen Konzepten spiegelt dabei zugleich auch die typischen Schwerpunkte kommunaler Integrationskonzepte in Deutschland wider: Sprache/Sprachförderung, frühkindliche und schulische Bildung, Berufsausbildung sowie Arbeit(-smarktintegration) bilden die zentralen Handlungsfelder aller sächsischen Konzepte.5 Am zweithäufigsten finden sich die Felder Gesundheit, interkulturelle Öffnung der Verwaltung und Wohnen/Unterbringung. Dabei hat das Handlungsfeld Wohnen/ Unterbringung in Sachsen einen vergleichsweise hohen Stellenwert: Die sächsischen Integrationskonzepte wurden größtenteils vor dem Hintergrund der gestiegenen Fluchtmigration entworfen und legen deshalb einen Schwerpunkt auf die (Erst-)Unterbringung von Geflüchteten. Gesellschaftliche Teilhabe wird in sechs der Konzepte als eigenständiges Handlungsfeld definiert. Dazu gehören

5Sprache

wird dabei teilweise unter dem Handlungsfeld Bildung subsumiert.

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Maßnahmen der politischen Partizipation wie Einbürgerungsmaßnahmen und die Unterstützung der migrantischen Selbstorganisation, z. B. in Beiräten. Die Handlungsfelder Kultur/Kunst/Sport und Integrationsförderung/soziale Beratung, religiöser Dialog, Antidiskriminierung/Abbau von Fremdenfeindlichkeit, Öffentlichkeitsarbeit und Ehrenamt sind weniger verbreitet.6 Fraglich ist, wie die Umsetzung innerhalb der Handlungsfelder gewährleistet wird, wo doch die kommunale Integrationspolitik eine hochkomplexe Aufgabe darstellt. Unter der Prämisse, dass Integrationskonzepte nicht den Anspruch besitzen, Prozesse des Verständnisses, der Eingliederung und des Zusammenlebens in einer sich stetig im Wandel befindlichen sozialen Umwelt abschließend regeln zu können, kann die Umsetzung der Maßnahmen jedoch durch die Benennung von Zielen, Verantwortlichkeiten und Zeithorizonten unterstützt werden (KGSt 2017, S. 7). Alle sächsischen Kommunen arbeiten mit Zielen, in der Hälfte der Konzepte werden außerdem konkrete Zuständigkeiten für die Umsetzung der Maßnahmen angegeben. Zwei Konzepte verbinden diese mit Zeiträumen für die Umsetzung. Dies stellt keine Besonderheit dar: Vielmehr zeigt der Blick auf andere Bundesländer, dass Kommunen Handlungsfelder selten mit Zeithorizonten für die Umsetzung versehen, jedoch oft Ziele und konkrete Maßnahmen benennen.

2.4 Integrationsverständnis Nicht in allen kommunalen Konzepten in Sachsen wird Integration explizit definiert. Dennoch werden bestimmte Grundhaltungen und Leitbilder deutlich. Integration als Querschnitts- und Netzwerkaufgabe Einem bundesweiten Trend folgend, wird in der Mehrheit der sächsischen Konzepte Integration als Querschnittsaufgabe dargestellt, die eine Vielzahl an Politikfeldern und beteiligten Stellen der Verwaltung umfasst. Ebenso wird Integration nicht ausschließlich als staatliche Aufgabe konzipiert. Integrationsprozesse geschehen vielmehr in einem Netzwerk mit einer großen Bandbreite an gesellschaftlichen Akteuren: „Integrationspolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und der Politik berührt“ (Sächsische

6Das

Thema Fremdenfeindlichkeit wird – wenn auch nicht als Handlungsfeld konzipiert – in mehreren Konzepten aufgegriffen (z. B. Sächsische Schweiz – Osterzgebirge 2011, S. 3).

Kommunale Integrationskonzepte in Sachsen

143

Schweiz – Osterzgebirge 2011, S. 2). Abstimmung, Kooperation und Vernetzung mit Partnern werden als grundsätzliche Voraussetzungen für gelingende Integrationsarbeit angesehen. Potenzialorientierung: Chancen statt Defizite Eine deutschlandweite Kommunalbefragung von 2012 zeigt, dass unausgeschöpfte Potenziale sowie die demografische Entwicklung die wichtigsten Gründe für eine hohe bis sehr hohe Bedeutung von Integrationsarbeit in der Kommune darstellen (Gesemann et al. 2012). Ähnliches gilt für Sachsen: Dort messen über 80 % der befragten Kommunen der demografischen Entwicklung und dem Mangel an Fachkräften sowie 50 % den unausgeschöpften Potentialen von Menschen mit Migrationshintergrund eine hohe Bedeutung für Integrationsanstrengungen zu. Diese Potenzialorientierung spiegelt sich auch in den sächsischen Integrationskonzepten wider: Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels werden in sieben der zehn sächsischen Konzepte die mit Integration verbundenen Vorteile für die gesamte Gesellschaft explizit betont. Darüber hinausgehende soziale Vorteile, durch Sprachkenntnisse oder eine gestiegene kulturelle Vielfalt in der Kommune, werden in den Konzepten der kreisfreien Städte7 und drei Landkreise thematisiert. Integration als Prozess Deutschlandweit findet sich in vielen Konzepten die Vorstellung von einer aufnehmenden Mehrheit und einer zu integrierenden Minderheit von Zuwanderern und/oder Geflüchteten. Die meisten der sächsischen Konzepte folgen einer solchen Annahme. Dabei unterscheiden sich die Konzepte hinsichtlich der Frage, wie die Integration dieser beiden Gruppen erfolgen soll. In den sächsischen Konzepten wird diese als wechselseitiger Integrationsprozess beschrieben. Dieser Prozess erfordere aktives Bemühen um Integration vonseiten der Einwanderungsgesellschaft als auch von Migrant_innen. Anstrengungen seitens der Einwanderungsgesellschaft beziehen sich größtenteils auf notwendige Veränderungen der Institutionen, z. B. durch die interkulturelle Öffnung der Verwaltung. Konkret umfasst dies unter anderem Maßnahmen zur Stärkung interkultureller Kompetenzen der Mitarbeiter_innen oder zum Abbau von Sprachbarrieren. Ebenso zählen der Abbau von Fremdenfeindlichkeit und

7Die

Landeshauptstadt Dresden widmet dem Thema kulturelle Vielfalt ein eigenes Handlungsfeld.

144

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das Bemühen um Dialog und Begegnung zu den Forderungen an die Einwanderungsgesellschaft. Acht der Konzepte betonen explizit die Bedeutung der Schaffung von Begegnungsräumen – z. B. im Rahmen von Vereinsmitgliedschaften, Sport oder kulturellen Veranstaltungen –, in denen der wechselseitige Prozess ganz praktisch stattfinden kann. Notwendige Anstrengungen seitens der zu integrierenden Minderheit werden vornehmlich als Forderung des Spracherwerbs und der Anerkennung gemeinsamer Grundwerte formuliert: In Sachsen werden der Erwerb der deutschen Sprache, die Ausbildung oder Integration in den Arbeitsmarkt durchgehend als Voraussetzungen für einen erfolgreichen Integrationsprozess genannt. Neben diesen notwendigen Voraussetzungen für die selbstständige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wird zusätzlich in sechs Konzepten der Respekt der Rechts- und Werteordnung Deutschlands explizit eingefordert. Darüber hinausgehende typische Anpassungs- oder Assimilationsforderungen an eine bestimmte Lebensweise werden nicht verlangt. Wohl aber formulieren drei Konzepte die Aufforderung, dass Grundwerte, gesellschaftliche Regeln und die deutsche Kultur anerkannt oder akzeptiert werden sollen (Bautzen, Görlitz und Zwickau). Die Aufgabe der kulturellen Indentität einer Gruppe wird nicht verlangt, ähnlich wie in einem Großteil der Integrationskonzepte von Kommunen anderer Bundesländer (SVR 2018, S. 131). Des Weiteren gibt es – auch deutschlandweit – Konzepte, welche über einen wechselseitigen Prozess zweier Gruppen hinausgehen und die Gesellschaft als per se vielfältig und heterogen darstellen.8 Durch die Betonung von Heterogenität wird Integration nicht als Angleichung von Lebensstilen verstanden, sondern als notwendige Veränderung von gesellschaftlichen Strukturen und Praktiken. Ziel solcher Konzepte ist die Herstellung von Teilhabe an gesellschaftlichen Teilbereichen bzw. die Chancengleichheit der Wohnbevölkerung. Konkrete Maßnahmen dieses Leitbildes sind beispielsweise die kulturelle Öffnung der Institutionen sowie Antidiskriminierungsmaßnahmen (Filsinger 2018, S. 26). Das Verständnis von Integration als wechselseitigem Prozess und Teilhabe an gesellschaftlichem Leben gehört zu den zentralen Leitbildern in den sächsischen Konzepten. Partizipationsmöglichkeiten werden in fünf und Chancengleichheit in vier der sächsischen Konzepte als Voraussetzungen für eine umfassende Teilhabe an der Gesellschaft genannt. In über der Hälfte der sächsischen Konzepte werden zusätzlich die Heterogenität und Vielfalt der Bevölkerung zumindest erwähnt: „Tatsächlich leben wir in einer Gesellschaft, in der eine Vielzahl von Lebens-

8Beispiele

hierfür sind Konzepte aus Frankfurt am Main, Essen und Köln.

Kommunale Integrationskonzepte in Sachsen

145

stilen und Lebensentwürfen nebeneinander existieren.“ (Dresden 2015, S. 6) „Die Städte und Landkreise müssen mit der Vielfalt unserer Bürger umgehen.“ (Sächsische Schweiz-Osterzgebirge 2011, S. 14)9 Die alleinige Nennung der Begriffe macht die Dokumente jedoch noch nicht zu Teilhabekonzepten: Die für eine teilhabeorientierte Integrationspolitik notwendigen Handlungsfelder Antidiskriminierung, interkulturelle Öffnung und gesellschaftliche Teilhabe und die damit verbundenen Maßnahmen sind zwar jeweils in acht Konzepten vertreten, aber nur in den beiden kreisfreien Städten werden alle drei Handlungsfelder gleichzeitig adressiert. Das ebenso damit verbundene Thema der Unterstützung von migrantischer Selbstorganisation ist explizit lediglich in dem Konzept von Meißen als Handlungsfeld ausgewiesen.

2.5 Wer wird durch die sächsischen Konzepte adressiert? Bezüglich des Adressatenkreises muss zwischen zwei Gruppen unterschieden werden: Zum einen sind vornehmlich Menschen mit Migrationshintergrund Empfänger_innen von Maßnahmen sowie Adressat_innen von Forderungen. Darunter subsumiert werden vor allem Geflüchtete – insbesondere in Konzepten, die ab 2015 erarbeitet wurden. Die Landkreise Erzgebirge, Meißen, Nordsachsen und Zwickau schränken diese Auswahl noch einmal auf Geflüchtete mit guter beziehungsweise mittelfristiger bis dauerhafter Bleibeperspektive ein.10 Alle sächsischen Landkreise mit Grenzregion benennen zusätzlich explizit Zuwanderer_innen, zumeist EU-Ausländer_innen und Arbeitsmigrant_innen, als Zielgruppe. Hieran zeigt sich, dass die Integrationspolitik zwar zunehmend mit Zuwanderungspolitik verknüpft, oftmals jedoch noch in dem Kontext von Fluchtmigration verstanden wird. Besonders seit 2010 wurden deutschland-

9Die

Betonung von Vielfalt und Toleranz von Stadt und Stadtgesellschaft kann aber auch auf eine andere Funktion der Konzepte hindeuten: Sie sollen die Stadt bzw. die Landkreise als Standortfaktor sowie die entsprechenden Politiken als Zeichen einer modernen Verwaltung vermarkten (Pütz und Rodatz 2013, S. 168). 10Der Begriff der Bleibeperspektive ist unterbestimmt, es fehlt eine klare Rechtsgrundlage. Für die Bestimmung der Bleibeperspektive wird die Schutzquote für die jeweiligen Herkunftsländer herangezogen, welche jedoch nicht immer der tatsächlichen Bleibeperspektive entspricht (Voigt 2016). Geduldete als eine Unterkategorie der Geflüchteten werden in drei Konzepten angesprochen.

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weit Konzepte entwickelt, die ausdrücklich die gesamte Gesellschaft zumindest deklaratorisch in den Mittelpunkt stellen (Krüger 2016, S. 6; SVR 2018, S. 131). Auch die sächsischen Konzepte folgen diesem Trend und nennen in sieben Fällen die Gesamtgesellschaft als Zielgruppe. Spezifische Maßnahmen werden hingegen nur vereinzelt formuliert und teilweise indirekt an die Gesamtgesellschaft adressiert. Sie beschränken sich auf die Handlungsfelder Antidiskriminierung/ Abbau von Fremdenfeindlichkeit, religiöser Dialog, Ehrenamt, Unternehmen und Zusammenhalt. Direkt profitieren kann die Gesamtgesellschaft als Zielgruppe von den Konzepten jedoch in einem anderen Bereich: So wird in Nordsachsen und Görlitz,11 den am ländlichsten ausgeprägten Regionen des Freistaates, das Problem der teilweise fehlenden Infrastruktur thematisiert. Die abgeleiteten Maßnahmen, wie Sozial- und Ausbildungstickets für den Öffentlichen Personennahverkehr sowie die Errichtung von Fahrdiensten, sollen auch Menschen ohne Migrationshintergrund in den Landkreisen zugutekommen. Die zweite, eher indirekt adressierte Zielgruppe besteht aus Vertreter_innen der kommunalen Verwaltung sowie der Politik. Diese Personengruppe ist nicht nur verantwortlich für die Umsetzung der Konzepte, sondern häufig selbst Adressatin von Maßnahmen (z. B. durch Fortbildungen).

2.6 Der Reality-Check: Wie wirken Integrationskonzepte? Nur wenige Kreise und Städte verfügen über Systeme zur Beobachtung kommunaler Integrationsprozesse. Im Vergleich mit der bislang aktuellsten Studie von 2012 schneidet der Freistaat Sachsen heute leicht überdurchschnittlich ab (Gesemann et al. 2012): Integrationskonzepte werden öfter durch Integrationsberichte und interne Evaluationen überprüft, lediglich Integrationsmonitorings sind weniger verbreitet als im bundesdeutschen Durchschnitt.12 Nicht alle Wirkungen der Konzepte lassen sich mit Hilfe von Integrationsmonitorings systematisch erfassen  und auf Maßnahmen der Konzepte zurückführen. So kann ein Konzept ein neues Bewusstsein für Vielfalt und ­ Toleranz in der Verwaltung schaffen und den gesellschaftlichen Diskurs anregen.

11Ländlichkeit

bezogen auf den Thünen-Ländlichkeitsindex (siehe Küpper 2016). den beiden Großstädten Dresden und Leipzig plant der Landkreis Meißen ein Integrationsmonitoring.

12Neben

Kommunale Integrationskonzepte in Sachsen

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Welcher Faktor nun tatsächlich die Veränderung in der Kommune verursacht hat, lässt sich schwer quantifizieren. Veränderungen schlagen sich außerdem zumeist erst langfristig nieder (SVR 2018, S. 132). Aus diesem Grund ist ein Mix der genannten Instrumente wichtig – was auch in der überwiegenden Mehrheit der Konzepte umgesetzt wird. Fortschreibungen der Integrationskonzepte bieten eine zusätzliche Möglichkeit, Wirkungen zu überprüfen, langfristige Entwicklungen aus unterschiedlichen Blickpunkten heraus zu betrachten und Maßnahmen und Handlungsfelder, wenn nötig, anzupassen. Fortschreibungen sind in sieben sächsischen Kommunen vorgesehen. Vor dem Hintergrund der begrenzten Möglichkeiten einer exakten Wirkungsmessung wurden die integrationspolitischen Akteure der Landkreise und kreisfreien Städte in Sachsen direkt nach den antizipierten Wirkungen gefragt. Daraus ergab sich insgesamt ein positives Bild: Fortschritte haben sich vor allem verwaltungsintern sowie im Bereich des Netzwerkaufbaus ergeben. Alle befragten sächsischen Kommunen verzeichneten oder erwarteten eine Verbesserung der Kooperation zwischen zentralen Akteuren, einen effizienteren Mitteleinsatz, eine interkulturelle Öffnung der Verwaltung sowie die Etablierung von Integrationsstrukturen. Ebenfalls wurde Integration in allen befragten Landkreisen und kreisfreien Städten sichtbarer: Handlungsbedarfe werden besser erkannt und das Thema insgesamt aufgewertet. Weniger als die Hälfte der Kommunen verzeichnet eine bessere Beteiligung von Zugewanderten sowie eine gestiegene Akzeptanz von Menschen mit Migrationshintergrund, erwarten dies aber in der Zukunft.

3 Fazit Für das Integrationsverständnis in den sächsischen Konzepten ergibt sich folgendes Bild: Eindeutige Leitbilder sind das Verständnis von Integration als Querschnitts- und Netzwerkaufgabe sowie die Potenzialorientierung. Bezogen auf den Umgang mit Vielfalt vor Ort wird Integration als Prozess verstanden, der Anstrengungen von zwei Seiten voraussetzt. Ebenso wird Wert auf die Ermöglichung von Teilhabe gelegt. Passende Maßnahmen werden damit allerdings nicht immer verbunden. Diese vermeintliche Diskrepanz lässt sich jedoch auflösen: Die Mehrheit der Integrationskonzepte wurde vor dem Hintergrund der gestiegenen Flüchtlingsmigration verfasst. Für die Erstintegration von Neuankommenden, aber auch die langfristige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sind Voraussetzungen wie Spracherwerb, Bildung und ein einigermaßen sicherer Umgang mit alltäglichen Formen des Zusammenlebens unabdingbar. Dies einzufordern muss nicht in einem Gegensatz zu dem Leitbild der Teilhabe stehen. Verwiesen

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sei hier auf die Tatsache, dass es zwischen den einzelnen Konzepten erhebliche Unterschiede gibt: So verstehen sich die Konzepte der Großstädte ausdrücklich als Teilhabekonzepte und verbinden diese Leitidee mit passenden Maßnahmen sowie Handlungsfeldern. Anhand der Ausgestaltung der untersuchten kommunalen Integrationskonzepte zeigt sich, dass die sächsischen Kommunen – insbesondere seit 2015 – divergierenden Zielen genügen müssen: In den von ihnen erarbeiteten Integrationskonzepten sollen sie besonders in Bezug auf Geflüchtete eine möglichst rasche Erstintegration gewährleisten, Zuwanderung im Interesse einer auf Fachkräfte angewiesenen Wirtschaft gestalten und Teilhabe an der Gesellschaft herstellen. Die untersuchten Konzepte stellen nur einen kleinen Teil des Repertoires für die Erreichung dieser Ziele und die Steuerung kommunaler Integration dar. Viele der von Kommunen aufgeführten Faktoren, die eine sehr hohe bis hohe Bedeutung von Integration bedingen – hohe Zuwanderung, demografische Entwicklung sowie den Mangel an Fachkräften –, sind durch Integrationskonzepte ebenfalls nur begrenzt steuerbar. Wichtige Kompetenzen liegen auf anderen Ebenen der föderalen Ordnung. Was sich letztlich auch aus demokratietheoretischen Aspekten als zentrale Funktion der Konzepte herausstellt, ist die gesellschaftliche Diskussion über Integration und damit die Formen des lokalen Zusammenlebens, welche kommunale Integrationskonzepte anstoßen können.

Literatur Damm, A.-C. (2018). MIDEM-Policy Brief 2018-1: „Das Zuwanderungs- und Integrationskonzept II des Freistaats Sachsen“. https://forum-midem.de/cms/data/fm/download/ TUD_MIDEM_PolicyBrief_2018-1_ZIK2.pdf. Zugegriffen: 6. Jan. 2019. Farrokhzad, S. (2017). Impulse für Innovation in der Migrations- und Integrationsarbeit. Studie. im Auftrag des Kommunalen Integrationszentrums Köln. Unter Mitarbeit des Instituts für Interkulturelle Bildung und Entwicklung der Technischen Hochschule Köln und context – interkulturelle Kommunikation und Bildung GbR. Filsinger, D. (2018). Entwicklung, Konzepte und Strategien der kommunalen Integrationspolitik. In F. Gesemann & R. Roth (Hrsg.), Handbuch Lokale Integrationspolitik (S. 315–343). Wiesbaden: Springer VS. Friedrich, L., & Waible, S. (2012). Local integration concepts in Germany – Diffusion of an integration model? IMIS Beiträge, 41, 53–71. Gersting, N. (2014). Widersprüche und Ambivalenzen kommunaler Integrationskonzepte. In P. Gans (Hrsg.), Räumliche Auswirkungen der internationalen Migration (Bd. 3, S. 311–326). Hannover: Forschungsberichte der ARL.

Kommunale Integrationskonzepte in Sachsen

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Gesemann, F. (Hrsg.). (2009). Lokale Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft. Migration und Integration als Herausforderung von Kommunen. Arbeitstagung am 3. September 2007 in Berlin. Arbeitstagung zum Thema „Lokale Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft“. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss. Gesemann, F., Roth, R., & Aumüller, J. (2012). Stand der kommunalen Integrationspolitik in Deutschland. Studie erstellt für das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Berlin. http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Veroeffentlichungen/ BMVBS/Sonderveroeffentlichungen/2012/DL_StandKommunaleIntegrationspo litik.pdf;jsessionid=33014FA3EA0BA86287818DEB1AFB65EC.live11294?__ blob=publicationFile&v=2. Zugegriffen: 06. Jan. 2019. Kasper, C., & Moser, B. (2009). Konzepte für das Zusammenleben: Integrationsleitbilder und -konzepte im Vergleich. In A. Khol, G. Ofner, St. Karner, & D. Halper (Hrsg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2008 (S. 331–347). Wien: Böhlau. KGst. (2017). Kommunales Integrationsmanagement. Teil 2: Handlungsfelder und Erfolgsfaktoren gestalten. KGSt-Bericht Nr. 15/2017. Unter Mitarbeit von Robert Bosch Stiftung und Bertelsmann Stiftung. Köln. Krüger, K. (2016). Integration oder der Umgang mit Vielfalt – kommunale Integrationskonzepte in Deutschland. Eine Dokumentenanalyse. Berlin (10). In vhw werkSTADT (S. 1–14). Pütz, R., & Rodatz, M. (2013). Kommunale Integrations- und Vielfaltskonzepte im Neoliberalismus: Zur strategischen Steuerung von Integration in deutschen Großstädten. Geographische Zeitschrift, 101, 166–183. Statistisches Bundesamt. (2019a). Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2018. Fachserie 1 Reihe 2.2. Statistisches Bundesamt. (2019b). Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Schutzsuchende. Ergebnisse des Ausländerzentralregisters 2018. Fachserie 1 Reihe 2.4. SVR. (2018). Steuern, was zu steuern ist: Was können Einwanderungs- und Integrationsgesetze leisten. Jahresgutachten 2018. Berlin. Vhw. (2016). Die vhw-Kommunalbefragung Herausforderung Flüchtlingskrise vor Ort. Begleitmaterial zum Pressegespräch am 28. April 2016. Berlin. Prof. Dr. Jürgen Aring, Vorstand vhw Bundesverband. Voigt, C. (2016). Die „Bleibeperspektive“. Wie ein Begriff das Aufenthaltsrecht verändert. In Asylmagazin (S. 245–251).

Sächsische kommunale Integrationskonzepte Bautzen: „Integrationsleitlinien des Landkreises Bautzen“, 2016. Chemnitz: „Rahmenplan zur Integration von Migranten/Migrantinnen in Chemnitz“, 2008. Dresden: „Konzept zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in der Landeshauptstadt Dresden“ (2015 – 2020), 2015. Erzgebirge: „Integrationskonzept des Erzgebirgskreises“, 2017. Görlitz: „Ankommen und Leben im Landkreis Görlitz“, 2018.

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Küpper, P. (2016). Abgrenzung und Typisierung ländlicher Räume. Thünen Working Paper 68. Braunschweig: Johann Heinrich von Thünen-Institut. https://www.econstor.eu/bitstr eam/10419/148398/1/874961904.pdf. Zugegriffen: 28. März 2019. Leipzig, Stadt: „Gesamtkonzept zur Integration der Migrantinnen und Migranten in Leipzig“, 2012. Leipzig, LK: „Integrationskonzept des Landkreises Leipzig“: Teil I (Situationsanalyse), Juli 2018; Teil II (Ziele und Handlungsfelder), Juni 2019. Meißen: „Fortschreibung Integrationskonzept Landkreis Meißen“, 2018. Nordsachsen: „Integrationskonzept“, 2017. Sächsische Schweiz – Osterzgebirge: „Integrationskonzept des Landkreises Sächsische Schweiz-Osterzgebirge“, 2011. Zwickau: „Integrationskonzept Landkreis Zwickau“, 2018.

Ann-Christin Damm, M.A. ist ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin des Mercator Forums Migration und Demokratie (MIDEM). MIDEM ist ein Projekt der Technischen Universität Dresden in Kooperation mit der Universität Duisburg, gefördert durch die Mercator Stiftung. Ihre Forschungsschwerpunkte sind zirkuläre Migration sowie Bildungsund Integrationspolitik Sachsens.

Praxiseinblick: Kommunale Integrationspolitik in Düsseldorf: „Vom Krisenmodus zum Integrationsmanagement“ Frank Griese Zusammenfassung

Die Landeshauptstadt Düsseldorf hat 2014 auf die verstärkte Zuwanderung reagiert und einen sogenannten Runden Tisch Asyl gegründet. Als sich die Situation ausweitete, wurde eine Flüchtlingsbeauftragte ernannt, die die zunehmenden Herausforderungen im Innenverhältnis der Verwaltung, aber auch im Außenverhältnis koordinieren sollte. Nur durch diese Maßnahme war es möglich, der Unterbringungsverpflichtung aller Düsseldorf zugewiesenen Flüchtlinge nachzukommen. In der Spitze zum Jahresbeginn 2017 waren es rund 7700 Personen. Düsseldorf befand sich zu dieser Zeit schon länger im Krisenmodus. Mit dem Höhepunkt der Zuweisungen intensivierte die Verwaltung die Planungen zur Gründung eines Amtes, dessen Ziel ein umfassendes Integrationsmanagement sein sollte. 2018 startete das Amt mit der Herausforderung, aus der Kombination der ordnungsbehördlichen Grundausrichtung einer Ausländerbehörde sowie der eher sozialbehördlich agierenden Unterbringungsorganisationseinheit eine neue Amts-DNA zu entwickeln. Neben der Verwaltungseinheit wurden auch die Welcome Points kontinuierlich weiterentwickelt. Als Anlaufstelle und Knotenpunkt für Geflüchtete und Ehrenamtliche gestartet, stellen sie heute einen Ort der Vielfalt dar.

F. Griese (*)  Amt für Migration und Integration, Landeshauptstadt Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_10

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Schlüsselwörter

Flüchtlingsbeauftragte · Landeshauptstadt Düsseldorf · Amt für Migration und Integration · Welcome Points · Integration · Runder Tisch Asyl ·  Unterbringungsverpflichtung · Ehrenamt

1 Anfangsphase und erste Entwicklungen 1.1 Einrichtung „Runder Tisch Asyl“ Aufgrund des seit 2013 stetigen Anstieges der Zuwanderung von Flüchtlingen beauftragte der Rat der Landeshauptstadt Düsseldorf in seiner Sitzung vom 18. September 2014 die Verwaltung, einen Runden Tisch zu Asyl- und Flüchtlingsfragen einzurichten. Damit verbunden war das Ziel, einerseits kurzfristig eine ämterübergreifende Steuerung zu bilden, andererseits sollte ein fachämterübergreifendes Handlungskonzept entwickelt und begleitet werden. Auf Einladung von Oberbürgermeister Thomas Geisel fand das erste Treffen des Runden Tisches zu Asyl- und Flüchtlingsfragen am 30. September 2014 statt. Neben der Verwaltung nahmen Mitglieder aus den Ratsfraktionen sowie Vertreter_innen der Wohlfahrtsverbände, Kirchen und regionalen Flüchtlingsinitiativen sowie der Arbeitsgemeinschaft Düsseldorfer Wohnungs-unternehmen teil. Es wurde zunächst sich ein Überblick über die aktuelle Situation in Düsseldorf verschafft, um im Anschluss Handlungsfelder zu bestimmen, für die es galt, schnellstmögliche Lösungen zu finden. Zu diesem Zeitpunkt brachte die Stadt Düsseldorf rund 1800 Personen, darunter 700 in Hotels, unter. Die Herausforderungen, mit welchen sich die Landeshauptstadt Düsseldorf in den nächsten Monaten würde beschäftigen müssen, waren zu diesem Zeitpunkt vielleicht zu erahnen, jedoch nicht abzusehen.

1.2 Einführung der Stelle „Flüchtlingsbeauftragte“ sowie Übernahme der Drehkreuzfunktion am Fernbahnhof des Düsseldorfer Flughafens Bereits Anfang 2015 waren es schon über 2000 Personen und es wurde bis Jahresende mit einer benötigten Unterbringungskapazität von 4000 Plätzen gerechnet. Dies nahm der Oberbürgermeister zum Anlass, Miriam Koch als Flüchtlingsbeauftragte zu benennen. Damit sollte auf eine „der größten

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­erausforderungen für Düsseldorf“, wie es der Oberbürgermeister nannte, H reagiert werden, um die Zusammenarbeit vieler unterschiedlicher Ämter sowie anderer Träger und Institutionen zu koordinieren. Die Flüchtlingsbeauftragte nahm sofort die Öffentlichkeit mit, veranstaltete Bürgerforen in den Stadtbezirken und vernetzte die unterschiedlichen Akteure miteinander. Verwaltungsintern leitete sie die Arbeitsgruppe „Asyl“, wo die wesentlich beteiligten Ämter für die Unterbringung von Geflüchteten wöchentlich zusammenkamen und auf kurzem Dienstweg Absprachen trafen. Einmal monatlich traf sich der Steuerungskreis „Asyl“, bei dem die beteiligten Dezernent_innen, mit der Legitimation des Verwaltungsvorstandes und mit wesentlichen Entscheidungsbefugnissen ausgestattet, die weitere Vorgehensweise abstimmten. Am 1. September 2015 stellte die Landeshauptstadt bereits 4200 Unterbringungsplätze für Flüchtlinge zur Verfügung. Innerhalb von vier Monaten wurden über 1600 neue Plätze geschaffen, darunter auch Plätze in Zelten und Turnhallen. Die Verhandlungen über weitere Kapazitätsmöglichkeiten liefen auf Hochtouren, als bekannt wurde, dass die Bundesregierung bzw. Frau Bundeskanzlerin Merkel beschlossen hatte, die in Ungarn festsitzenden über die Balkanroute gekommenen Flüchtlingen aufzunehmen. Daraufhin trat die Bezirksregierung Arnsberg, die in Nordrhein-Westfalen für die Zuweisung von Flüchtlingen in die Kommunen zuständig ist, an die Stadt Düsseldorf heran und bat darum, Notfallplätze für das Land zur Verfügung zu stellen. Ergebnis: Die Flüchtlingsbeauftragte teilte mit, dass sich die Stadt Düsseldorf seit Sonntag, den 6. September im Krisenstabmodus befindet. Der Krisenstab ist eine besondere Organisationsform einer Behörde und wird ereignisabhängig für einen begrenzten Zeitraum gebildet. Er eignet sich zur Aufgabenerledigung, wenn aufgrund eines besonderen Ereignisses ein über das gewöhnliche Maß hinausgehender hoher Koordinations- und Entscheidungsbedarf besteht. Gleichzeitig zur Anfrage der Bezirksregierung bat auch die Stadt Dortmund um Unterstützung bei der Erstannahme und Weiterleitung von Geflüchteten, die täglich mit Sonderzügen aus Süddeutschland ankamen. Mit einer Vorlaufzeit von weniger als zehn Stunden bis zum ersten eintreffenden Zug wurde organisiert, dass die ankommenden Menschen am Fernbahnhof des Düsseldorfer Flughafens in Empfang genommen und erstversorgt wurden. Das Verfahren wurde mit jedem weiteren Zug optimiert. Die reinen Zahlen sprechen für sich: Im Zeitraum vom 6. September 2015 bis 31. März 2016 wurden 42.046 Personen in 128 Zügen in Empfang genommen – darunter 10.056 Kinder. Bis zu 170 Helfer_innen aus 28 unterschiedlichen Organisationen, Behörden und Unternehmen waren an jedem Ankunftstag vor Ort. Im Hintergrund traf sich der Krisenstab in dieser Zeit 9-mal, es gab 93 Treffen bzw. Konferenzen der Vorbereitungsgruppe und des Leitungsstabes. Es

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mussten 917 medizinische Hilfeleistungen erbracht, davon 252 Krankenhaustransporte durchgeführt werden. Die ankommenden Menschen erhielten Essen und Getränke, wurden mit Hygieneartikeln, Babynahrung bzw. Babywindeln versorgt, bekamen Informationen in der Landessprache sowie Unterstützung bei dem Umtausch von Geld beziehungsweise dem Kauf von Bahntickets.

1.3 Große Solidarität aus der Bevölkerung Unterstützung bei der Bewältigung der Unterbringung von Geflüchteten erhielt die Verwaltung auch aus der Bevölkerung. In kürzester Zeit hatten sich über 3000 Menschen als ehrenamtliche Helfer_innen bei der Stadt registrieren lassen. Dies gipfelte darin, dass bei einem Aufruf zum Bettenaufbau in neu eingerichteten Zeltanlagen mehr als doppelt so viel Ehrenamtliche vor Ort erschienen, als Betten aufzubauen waren. Die Arbeit war anschließend in nicht einmal einer Stunde erledigt. Die Spendenbereitschaft aus der Bevölkerung war so groß, dass die Landeshauptstadt Düsseldorf extra Lagerräume anmieten musste und dort in Kooperation mit den Wohlfahrtsverbänden ein Annahme- und Verteilungssystem entwickelte. Besonders auffällig in dieser Zeit waren die Schnelligkeit und Einigkeit, mit denen Verwaltung, Politik, Wohlfahrtsverbände, Kirchenverbände, Institutionen und Ehrenamt gemeinsam agierten. Prozesse und Abläufe wurden verschlankt. Hier hat vor allem die Flüchtlingsbeauftragte dafür gesorgt, dass schnell auf die jeweiligen Situationen immer wieder neu reagiert werden konnte – dies trotz auch schon zu dieser Zeit immer wieder aufkommender Anfeindungen aus dem rechten Spektrum, die sich in den sozialen Medien zuspitzten und eskalierten, als das Büro der Flüchtlingsbeauftragten nach einem Brand in der Messehalle am 7. Juni 2016, die als Flüchtlingsunterbringung genutzt wurde, um Unterstützung beim Umzug der dort untergebrachten Personen bat. Auch bei Informationsveranstaltungen gab es neben zahlreicher wohlwollender Befürwortung immer wieder Menschen, die ihren Unmut über eine Unterkunft in ihrer Nachbarschaft zum Teil sehr aggressiv formulierten. Auf der anderen Seite fanden sich jedoch unzählige Bürgerinitiativen, Vereine, Wirtschaftsunternehmen und Organisationen, die sowohl in finanzieller Hinsicht als auch mit personellen Ressourcen zu einer guten Willkommenskultur beitrugen – angefangen von Büchern für Kinder und Jugendliche über Sprachunterricht, Hilfen bei Behördengängen, Einrichtung und Installation von IT-Ausstattungen, Verschönerungen von Außenanlagen in Unterkünften von Mitarbeiter_innen im Rahmen eines Sozialtages, Finanzierung von Betreuungsangeboten in Unterkünften für Kinder,

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die noch keinen Kindergarten- oder Schulplatz erhalten hatten, bis hin zu der Begleitung bei Arztbesuchen. Auch die Hochschule und die Universität in Düsseldorf beteiligten sich mit Hilfs- und Unterstützungsangeboten – sowohl über die Studentenorganisationen als auch in Form von Semesterarbeiten. Manchmal war es wirklich schwierig, den Überblick über all die Angebote und Hilfen zu behalten.

1.4 Konsolidierung und neue Planungen Mit 7708 untergebrachten Personen im Januar 2017 war der Höhepunkt der Unterbringungspflicht erreicht. Durch die faktische Schließung der Balkanroute im März 2016 nahmen die wöchentlichen Zuweisungen in der Folgezeit kontinuierlich ab. Schon im Laufe des Jahres 2016 konnte die Landeshauptstadt Düsseldorf damit beginnen, die Notplätze, wie die Turnhalle auf dem Universitätscampus, sukzessive abzubauen. Gleichzeitig wurden Wohnmodulanlagen mit einem Gesamtvolumen von 69 Mio. Euro gekauft und errichtet, darunter zwei Einrichtungen in Holzrahmenbauweise, die durch besondere Nachhaltigkeit auffielen. Mit der Fertigstellung und dem Bezug dieser Einrichtungen in 2017 begann auch der Abbau von Hotelplätzen. Diese Form der Unterbringung ist nicht nur sehr teuer, sondern behindert auch erheblich die Integration der dort untergebrachten Personen. Diese Entwicklung ermöglichte Politik und Verwaltung den Blick auf die nächsten notwendigen Schritte abseits der Unterbringungsverpflichtung zu werfen, die der starke Zustrom von Geflüchteten mit sich gebracht hat. Das Team im Büro der Flüchtlingsbeauftragten befasste sich erstmals intensiv mit den Möglichkeiten der Integration für die Menschen, die dauerhaft in Düsseldorf ihr weiteres Leben verbringen würden. Es wurden Arbeitsgruppen zu den Themenbereichen „Vorschulische und schulische Versorgung“, „Arbeit, Ausbildung und Beschäftigung“, „Integration durch Sport“, „Gesundheitliche Versorgung“ und „Zugang zum Wohnungsmarkt“ gebildet und Handlungsempfehlungen für den Runden Tisch Asyl erarbeitet. Hinzu wurde an vielen Hilfestellungen zu Problemen des Alltages für Zugewanderte gearbeitet – angefangen bei Hausordnungen und Handyverträgen oder den Notwendigkeiten von Haft- und Hausratversicherungen bis zu Themen wie Karneval und Mülltrennung. Der Krisenmodus konnte beendet und somit die ersten Schritte zu einem Integrationsmanagement eingeleitet werden. Die zentrale Frage dabei lautete: Wie können die Menschen, die dauerhaft und rechtmäßig in Düsseldorf leben, möglichst umfassend und gleichberechtigt in die städtische Gesellschaft integriert werden?

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Integration wurde in diesem Rahmen als ein dynamischer, ausdauernder und sehr differenzierter Prozess des Zusammenfügens und Zusammenwachsens definiert. Eine solche Aufgabe darf nicht als kurzfristiges Ziel innerhalb einer Wahlperiode verstanden werden, sondern bedarf möglicherweise Generationen bis zur vollständigen Umsetzung. Daher war der Ansatz, die Aufgabe eines Integrationsmanagements so zu verstehen, dass damit der Rahmen für Integration geschaffen werden kann – also Fragen der rechtlichen Gleichbehandlung anzugehen, den Abbau von Diskriminierung voranzubringen, gegenseitige Akzeptanz und Anerkennung zu fördern und zu unterstützen. Begleitet durch den Auftrag des städtischen Integrationsrates zur Gründung eines „Welcome Centers“, intensivierte die Verwaltung daraufhin die Planungen zur Gründung eines Amtes, dessen Ziel ein umfassendes Integrationsmanagement sein sollte. Die Federführung lag im Büro der Flüchtlingsbeauftragten. Ein Grundsatz der Flüchtlingsbeauftragten galt auch bei der Planung eines neuen Amtes: Transparenz und Beteiligung. Um möglichst viele Ideen auf- und mitzunehmen, wurde am 14. September 2017 ein Workshop veranstaltet, bei dem auch den in der Flüchtlingshilfe tätigen Akteuren die Möglichkeit unterbreitet wurde, ihre Ideen im Rahmen der Word-Café-Methode1 mit einfließen zu lassen. Außerdem wurde eine Funktions-E-Mail-Adresse verbreitet, die eine Kommunikationsplattform für Ideen darstellte. Schnell war die grobe Startaufstellung klar. Mit dem Büro der Flüchtlingsbeauftragten, der Kommunalen Ausländerbehörde, dem Kommunalen Integrationszentrum sowie der Abteilung „Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten und Obdachlosen“ des Sozialamtes waren die wesentlichen Verwaltungseinheiten schnell benannt. Wichtig dabei war, dass sich dieses Amt nicht nur um die Geflüchteten kümmern sollte, sondern für alle rund 145.0002 Ausländer_innen sowie alle obdachlosen Menschen zuständig ist. Um über den Planungsstand zu informieren, wurden die Kolleg_innen aus den Fachbereichen der beteiligten Ämter zu Teilpersonalversammlungen eingeladen. Am 1. Januar 2018 ging aus diesem Prozess das Amt für Migration und Integration unter der Leitung von Miriam Koch hervor

1Bei

einem ­Word-Café handelt es sich um eine Methode, bei der unter professioneller Anleitung unterschiedliche Sicht- und Herangehensweise konstruktiv und kooperativ diskutiert werden, um gemeinsame Strategien und Ziele zu finden. 2In Düsseldorf leben zum Stichtag 31. Dezember 2017 insgesamt 639.407 Personen, davon 261.350 (40,9 %) mit Migrationshintergrund. Von diesen Personen wiederum sind 145.094 (22,7 %) Ausländer_innen. (Quelle: Migrations- und Integrationsmonitoring 2012–2017 des Amtes für Wahlen und Statistik der Landeshauptstadt Düsseldorf).

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und nahm seinen Betrieb auf. Eine der größten Herausforderung dabei war von Anfang an, aus der Kombination der ordnungsbehördlichen Grundausrichtung einer Ausländerbehörde sowie der eher sozialbehördlich agierenden Unterbringungsorganisationseinheit eine neue Amts-DNA zu entwickeln. Eingespielte Prozesse und Handlungsweisen müssen neu definiert, mit neuer Ausrichtung versehen werden. Dieser Prozess ist auch nach anderthalb Jahren noch nicht abgeschlossen. Verwaltungsvorgänge benötigen außerhalb von Krisenzeiten Zeit, dies zu akzeptieren, was nach dem Tempo der vergangenen Jahren nicht leicht war, zumal sich Zuständigkeiten und Handlungshoheiten nun wieder auf viele unterschiedliche Bereiche der Stadtverwaltung verteilen. Eingebunden in einen gesamtstädtischen Standort-Reorganisationsprozess, agiert das Amt für Migration und Integration an vielen Stellen nach wie vor mit Provisorien. Dies gilt zum Beispiel für den Service Point, der in den Planungen eine Visitenkarte des Amtes darstellen sollte, jedoch am provisorisch untergebrachten Standort lange Warteschlangen produziert, weil sich aufgrund von Brandschutzvorschriften nur wenige Personen tatsächlich innerhalb der Räumlichkeiten aufhalten dürfen und nicht genügend Platz für Schalterplätze zur Verfügung steht. Auch das Online-Angebot ist gesamtstädtisch zu betrachten und kann daher verständlicherweise nicht als Insellösung für das Amt angeboten werden.

1.5 Welcome Points Zur Bündelung und Steuerung des großen Engagements außerhalb der Verwaltung wurde bereits im September 2015 im Düsseldorfer Norden der erste Welcome Point ins Leben gerufen. Dieser sollte alle Aktivitäten vor Ort erfassen und als Anlaufstelle für Ehrenamt und Geflüchtete dienen, um die Menschen entsprechend zusammenbringen zu können. Ihm folgten schon bald weitere Welcome Points in weiteren Stadtbezirken, die durch die Wohlfahrtsverbände mit unterschiedlichen Ressourcen geführt wurden. Die Verwaltung erarbeitete daraufhin gemeinsam mit den Verbänden ein Handlungskonzept, welches in der Folgezeit aufgrund wechselnder Bedarfe mehrfach angepasst bzw. verändert wurde. Nun gilt es, Bedingungen zu schaffen, die eine Integration unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Strukturen vor Ort und im Quartier unter Federführung des Amtes für Migration und Integration gewährleisten kann. Der Umzug aus einer Gemeinschaftsunterkunft in eine Wohnung ist für Geflüchtete ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Integration. Daher bedarf es einer Anlaufstelle vor Ort, welche Hilfe und Unterstützung im neuen sozialen Umfeld

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anbietet. Die Förderung der Integration der geflüchteten Neu-Düsseldorfer_innen in die Stadtgesellschaft ist mittlerweile das vorrangige Ziel. Dies soll vor allem durch Bündelung, Vernetzung und Begleitung mit vor Ort ansässigen Akteuren, der sogenannten lokalen Aufnahmegesellschaft, erfolgen. Dabei sieht sich die Landeshauptstadt Düsseldorf, wie im „Gesamtstädtischen Integrationskonzept“ aufgeführt, als weltoffene, tolerante Stadt, die sich verpflichtet, die Chancengerechtigkeit für alle hier lebenden Menschen – unabhängig von nationaler, kultureller oder ethnischer Zugehörigkeit, von sexueller Identität, Behinderung, Religion, Weltanschauung, Alter, Geschlecht und sozialer Lage – zu realisieren. Da Diskriminierung, Rassismus, Antisemitismus und religiöser Fundamentalismus Integrationsbemühungen behindern, will Düsseldorf diesen Tendenzen entschlossen entgegentreten. Eine gleichberechtigte Teilhabe von Migrant_innen an der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung ist ein unverzichtbarer Beitrag zur Zukunftsfähigkeit der Stadt. Dies gilt selbstverständlich auch für die Menschen, die als Flüchtlinge in Düsseldorf aufgenommen werden. Das Potenzial der Vielfalt ist von wachsender Bedeutung für die Attraktivität des Wirtschafts-, Bildungs- und Kulturstandortes Düsseldorf. Somit umfassen die wesentlichen Aufgaben der Welcome Points die Beratung sowie die Information und Vermittlung zu Anliegen von Geflüchteten außerhalb von Unterkünften. Zudem sollen sie Integrationsbedarfe erfassen und gemeinsam mit dem Amt für Migration und Integration auf ihre Umsetzbarkeit hin geprüft werden.

2 Aktuelle Situation und Perspektiven Die Herausforderungen für die Zukunft sind nicht weniger geworden. Der Übergang zu einem gut funktionierenden Integrationsmanagement dauert noch an. Mit der Gründung des Amtes für Migration und Integration in Kombination mit den Welcome Points wurde ein Grundgerüst gelegt. Für die Zukunft ist es das Ziel, an einem neuen Standort und im Rahmen von modernen Bürokonzepten mit tief greifenden Umstrukturierungen innerhalb der bisherigen Fachbereiche ein modellhaft neues Amt zu werden. Die Abläufe und Strukturen sollen vom sichtbaren „Willkommen“ geprägt sein und sich an den Anliegen der Menschen auf beiden Seiten des Schreibtisches orientieren. Jeder Mensch wird dabei wertgeschätzt und willkommen geheißen. Sein Anliegen wird im Spannungsfeld zwischen ordnungsbehördlichen Aufgaben und Integrationsförderung wahr- und

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ernst genommen sowie sachkundig und wirkungsvoll begleitet. Das Handeln soll bestimmt sein von Sachkunde, Respekt, Verantwortungsbereitschaft, Freundlichkeit, Aufgeschlossenheit sowie Einfühlungsvermögen und Verständnis für vielfältige kulturelle Prägung. Allen Beteiligten ist bewusst, dass wir uns hier noch auf einem langen Weg befinden. Frank Griese war kommissarisch stellvertretender Amtsleiter des Amtes für Migration und Integration der Landeshauptstadt Düsseldorf.

Teil III Handlungsfeld Unterbringung und Wohnen

Ankunftsquartiere als Kontext der Integration Nils Hans, Mona Wallraff und Ralf Zimmer-Hegmann

Zusammenfassung

Die neue Quantität und Qualität der Zuwanderung der letzten Jahre hat die Debatte um die Integrationsfähigkeit von Städten intensiviert. So rücken insbesondere Quartiere in den Fokus, die Zugewanderten als erste Anlaufstelle in der neuen Stadt dienen. Das Konzept der Ankunftsquartiere ist als eine neue Perspektive der Stadtforschung zu verstehen und damit als Gegenpol zur eher stigmatisierenden Debatte um benachteiligte und benachteiligende Quartiere. Die aktuelle Literatur zu Ankunftsquartieren legt nahe, dass diese Quartiere Potenziale bieten, Menschen unterschiedlicher Gruppen zusammenzubringen und Integration zu fördern. Am Beispiel der Dortmunder Nordstadt wird ein deutsches Ankunftsquartier skizziert und die Herausforderungen und Chancen des Quartiers als Kontext der Integration werden diskutiert. Potenziale ergeben sich insbesondere durch ankunftsbezogene Gelegenheitsstrukturen, durch die Zugewanderte Unterstützung im Ankommensprozess erfahren können.

N. Hans (*) · R. Zimmer-Hegmann  Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung, Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] R. Zimmer-Hegmann E-Mail: [email protected] M. Wallraff  Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_11

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Schlüsselwörter

Ankunftsquartiere · Ankunftsräume · Arrival City · ­(Super-)Diversität · Migration · Integration

1 Einleitung Die gestiegenen Zuwanderungszahlen der vergangenen Jahre haben die Debatte um die Integrationsfähigkeit von europäischen Städten bzw. deren Teilräumen noch einmal intensiviert. So rücken vor allem die Quartiere in den Fokus, in denen ein großer Teil der Zugewanderten die erste Wohnung in der Ankunftsstadt findet – sogenannte Ankunftsquartiere. Neben dieser gestiegenen Quantität der Zuwanderung lässt sich eine veränderte Qualität in Form einer neuen Migrationsvielfalt beobachten. Die Diversität der Gruppe der Zugewanderten zeigt sich unter anderem bezüglich Alter, Ethnizität und Religion, sozioökonomischem Status, transnationaler Vernetzungspraktiken, Migrationsgeschichten und Aufenthaltsstatus (Vertovec 2007, S. 1024). Mit der zunehmenden Diversität („super-diversity“, Vertovec 2007) ist also eine ansteigende horizontale und vertikale Ausdifferenzierung der Stadtbevölkerung gemeint, die eine Veränderung urbaner Räume und neue Komplexitäten des Zusammenlebens nach sich zieht, indem sich Neuzugewanderte in Räume begeben, die bereits von vorherigen Migrant_innen geprägt sind (Vertovec 2015, S. 2). Am Beispiel der Zuwanderung der vergangenen Jahre nach Deutschland lässt sich diese Migrationsvielfalt ganz gut beschreiben: Neben der Gruppe der Schutzsuchenden (v. a. aus Syrien, Afghanistan, Irak und einigen afrikanischen Ländern), die allerdings lediglich im Jahr 2015 die größte Zuwanderungsgruppe darstellte, war die Zuwanderung vor allem durch EU-Binnenmigration geprägt. Hier stellen Zugewanderte aus Rumänien, Polen und Bulgarien im Zeitraum 2013 bis 2017 die größte Gruppe dar (BAMF 2019). Neben der durch diese Zahlen deutlich werdenden Diversität bezüglich Ethnizität, Migrationsgeschichte und Aufenthaltsstatus gibt es auch Hinweise darauf, dass sich die Zugewanderten hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft unterscheiden (Pries 2016, S. 38; Bertelsmann Stiftung 2018, S. 35). Städtische Räume mit einer hohen Konzentration von Ausländer_innen stehen schon seit längerer Zeit im Fokus geografischer und soziologischer Stadtforschung. Einen Ausgangspunkt bilden Studien der Chicagoer Schule zu idealtypischen Migrations- und Integrationsmustern in Chicago, nach denen die Zugewanderten zunächst in ethnisch segregierte, zentrumsnahe Quartiere (sogenannte Transitzonen) ziehen, sich dort in vorwiegend ­ mono-ethnischen

Ankunftsquartiere als Kontext der Integration

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Communitys zusammenfinden und von dort aus ihre Integrationskarrieren starten (u. a. Park und Burgess 1925). Ein Großteil der aktuelleren Studien zu ethnisch segregierten Quartieren, die zumeist auch von Armut und sozialer Benachteiligung gekennzeichnet sind, beschäftigt sich in erster Linie mit den negativen Folgen des längerfristigen Lebens in diesen Quartieren – mit sogenannten Kontext-, Quartiers- oder Nachbarschaftseffekten (van Ham und Manley 2012). Allerdings verweisen Studien mit Blick auf die Integrationsleistung von ethnisch segregierten Stadtquartieren auch auf positive Effekte. Studien zu diesen Quartieren, die u. a. als „urban enclaves“ (Zhou 1992) oder im deutschsprachigen Raum als „ethnische Kolonien“ (Heckmann 1998; Häußermann und Siebel 2005; Ceylan 2006) bezeichnet werden, heben die integrationsfördernden Potenziale hervor, die sich z. B. durch die räumliche Nähe zu innerethnischen Unterstützungsnetzwerken und migrantischen Ökonomien ergeben. Das Konzept der Ankunftsquartiere ist gewissermaßen als eine neue Perspektive der Stadtforschung – u. a. anknüpfend an die Debatten um „urban enclaves“ und „ethnische Kolonien“ – zu verstehen und damit als Gegenpol zur eher stigmatisierenden Debatte um benachteiligte und benachteiligende Quartiere. Die „neue“ Literatur zu Ankunftsquartieren legt nahe, dass diese Quartiere Potenziale bieten, Menschen unterschiedlicher Gruppen zusammenzubringen und Integration1 zu fördern.

2 Ankunftsquartiere als Räume der Zuwanderung und des Ankommens Die Bedeutung städtischer Ankunftsquartiere ist in den vergangenen Jahren vermehrt in das Blickfeld des medialen, (fach-)politischen und wissenschaftlichen Diskurses gerückt. Dabei ist ‚Ankunft‘ nicht nur als das Erreichen eines physischen Ortes zu verstehen, sondern vielmehr im Sinne eines ‚Ankommensprozesses‘ in der Ankunftsgesellschaft, der in diesen Quartieren häufig seinen Anfang nimmt (Pries 2016, S. 131 f.). Ein wesentlicher Impulsgeber der Debatte ist Doug Saunders (2011), der in seinem populärwissenschaftlichen Buch „Arrival City“ weltweit unterschiedliche Ankunftsräume

1Integration

ist hier im Sinne des Zugangs zu funktionalen, sozialen und symbolischen Ressourcen zu verstehen.

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betrachtet und sich anhand dieser mit Mechanismen und Bedingungen des Ankommens von Zugewanderten in Städten beschäftigt. Er beschreibt diese „städtischen Übergangsräume“ (Saunders 2011, S. 10) als hochdynamische Gebiete, die lokale Ressourcen bieten, um wichtige Weichen für die langfristige Integration zu stellen. Diese Räume sind geprägt durch eine Verdichtung sozialer Netzwerke, die einerseits den Herkunfts- und Ankunftsort miteinander verbinden (Saunders 2011, S. 22 f.) und andererseits Zugangsmechanismen zu sozialen und funktionalen (z. B. Unterkunftsmöglichkeiten) Ressourcen bieten (Saunders 2011, S. 37 f.). Zusätzlich zu den sozialen Netzwerkstrukturen haben p­hysisch-räumliche Gegebenheiten sowie institutionelle Strukturen eine Bedeutung für das ‚Funktionieren‘ dieser Ankunftsquartiere. So sind zum einen eine gewisse Wohndichte und öffentliche Freiräume als Kontexte der Begegnung entscheidend für die Funktion dieser Orte. Zum anderen sind die Nähe und der Zugang zu sozialen Infrastrukturen und öffentlichen Einrichtungen ein wichtiger Ausgangspunkt für die Integration der Bewohner_innen (Saunders 2011, S. 58). Bei entsprechender Ausprägung der genannten Merkmale können Ankunftsquartiere den Zuwanderungsgemeinschaften „als wichtigste Brücke der Integration“ dienen (Saunders 2019, S. 23). Mit seinen Beschreibungen hat Saunders eine kontroverse Debatte zur Funktion von Ankunftsquartieren angestoßen. Auch wenn viele der von ihm beschriebenen Merkmale aus unterschiedlichen Kontexten weltweit nicht uneingeschränkt auf den europäischen Kontext übertragen werden können, bieten seine Beobachtungen Anknüpfungspunkte für Forschungen zu diesen städtischen Räumen. So beschreibt Biehl (2014) diese hochgradig diversifizierten Gebiete am Beispiel des innerstädtischen Quartiers Kumkapı in Istanbul als Ankunftsorte für unterschiedliche Zuwanderergruppen, die neben Zugängen zum Wohnungsmarkt auch Gelegenheitsstrukturen und erste Arbeitsmöglichkeiten bereithalten. Kurtenbach (2015) charakterisiert städtische Ankunftsgebiete im deutschen Kontext als sozial und ethnisch segregierte Gebiete, die eine hohe Fluktuation der Wohnbevölkerung aufweisen. Eine migrantische Sockelbevölkerung bietet Neuzugewanderten Wohn- und erste Arbeitsgelegenheiten über ausgeprägte soziale Netzwerk- und Gelegenheitsstrukturen (z. B. migrantische Ökonomien). Schillebeeckx et al. (2018) nehmen am Beispiel des Quartiers Antwerpen-Noord die „arrival infrastructures“ in den Blick und legen dar, dass insbesondere über soziale Netzwerkstrukturen und durch Nichtregierungsorganisationen Ressourcen vermittelt werden, die Wohnmöglichkeiten sowie Arbeitsgelegenheiten (häufig im informellen Sektor) eröffnen. Zur Vermittlung dieser Ressourcen nehmen ankunftsbezogene Gelegenheitsstrukturen wie öffentliche Räume, Geschäfte, Vereine oder religiöse Stätten eine besondere Funktion ein. Meeus et al. (2018)

Ankunftsquartiere als Kontext der Integration

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beschreiben Ankunftsquartiere als jene städtischen Bereiche, in denen Neuzugewanderte Anknüpfungspunkte, Hilfeleistungen und Stabilität erfahren, indem durch staatliche und nicht staatliche Akteure sowie migrantische Praktiken entsprechende Ressourcen bereitgestellt werden. Sie beschreiben Ankunftsquartiere als Startpunkt der sozialen Aufwärtsmobilität. Zusammenfassend und in Anlehnung an die Definition von Hans et al. (2019, S. 5) können Ankunftsquartiere als hochdynamische Räume verstanden werden, die von (teilweise temporärer) internationaler Migration und einer fluktuierenden Bevölkerung geprägt sind. Es handelt sich um hochgradig sozial und ethnisch diversifizierte Räume mit einer heterogenen Bewohnerschaft, die darüber hinaus häufig von sozialer Benachteiligung geprägt sind. Ankunftsquartiere weisen in der Regel einen hohen Anteil an niedrigpreisigem und zugänglichem Wohnraum auf. Sie sind charakterisiert durch transnationale Lebensweisen, ausgeprägte soziale Netzwerkstrukturen und eine besondere Dichte ankunftsbezogener Gelegenheitsstrukturen, über die Unterstützungsleistungen vermittelt werden können. Gerade diese Vielzahl an ankunftsbezogenen Gelegenheitsstrukturen macht die Besonderheit dieser Quartiere aus, denn diese Strukturen sind lokale Settings, die niedrigschwellige Ausgangspunkte für soziale Interaktionen und Ressourcenaustausch bilden und damit den Menschen das Ankommen2 erleichtern können. Es sind Strukturen gemeint, „die Menschen darin unterstützen, ihre transnationalen Lebensweisen aufrechtzuerhalten und gleichzeitig Orientierungs- und Unterstützungsleistungen für das Leben im Ankunftsquartier bereithalten“ (Hanhörster und Hans 2019, S. 12). Es lässt sich unterscheiden zwischen informellen und formellen Gelegenheitsstrukturen. Zu den formellen Gelegenheitsstrukturen zählen z. B. migrantische Ökonomien (wie beispielsweise Lebensmittelläden oder Dienstleistungen, z. B. zum internationalen Geldtransfer), Orte der Religionsausübung (z. B. Moscheen) oder soziale Infrastrukturen (z. B. Beratungs- und Hilfsangebote). Informelle Gelegenheitsstrukturen bezeichnen hingegen freundschaftliche, familiäre oder nachbarschaftliche Netzwerke, die den Zugewanderten lebensweltliches Wissen, z. B. über Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten vor Ort, weitergeben und somit Zugänge eröffnen können (Gehne und Kurtenbach 2018, S. 302).

2Während Saunders (2011) unter Ankommen in erster Linie soziale Aufwärtsmobilität versteht, verwenden wir den Begriff im Sinne unseres Integrationsverständnisses als Zugang zu funktionalen, sozialen und symbolischen Ressourcen.

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Zur kontroversen Debatte um die Funktion von Ankunftsquartieren gehören neben den Forschungen, die Potenziale dieser städtischen Räume in den Vordergrund stellen, nach wie vor Stimmen, die das Konzept kritisch sehen. So schreiben beispielsweise Helbig und Jähnen (2019, S. 46): „Dass Bernt und Hausmann (2019, S. 25) mit Bezug auf Saunders (2011) Quartiere, in denen sich ausländische Arme konzentrieren, als ‚Ankunftsquartiere[.]‘ bezeichnen, von denen aus Integration und Aufstieg gelingen soll, ist fast schon zynisch. Viele dieser ‚Ankunftsquartiere‘ sind von verschiedensten sozialen Herausforderungen gekennzeichnet, die Integration eher erschweren.” Dem ist zu entgegen, dass Quartiere dieser Art in einem weitgehend unregulierten kapitalistischen Wohnungsmarkt Realität sind und planerisch mit dieser Realität umgegangen werden muss. „Integration trotz Segregation“ (Häußermann und Siebel 2007, S. 92) ist eine Antwort, die in der deutschen Debatte Anfang der 2000er Jahre die Diskussion um eine räumliche Integrationspolitik bestimmt hat. Darin wird die besondere gesellschaftliche Integrationsleistung solcher Einwanderungsquartiere gewürdigt und anerkannt, die nicht sich selbst überlassen werden dürfen, sondern der Unterstützung und Stabilisierung von öffentlicher Seite bedürfen.

3 Ankunftsquartier Dortmunder Nordstadt Ein Beispiel eines solchen deutschen Ankunftsquartiers ist die Dortmunder Nordstadt (offiziell: Bezirk Innenstadt-Nord) (Abb. 1). Hierbei handelt es sich um ein klassisches innerstädtisches Arbeiterquartier, das bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts über viele Industriearbeitsplätze verfügte und aufgrund der schon damals im Vergleich zum restlichen Stadtgebiet niedrigen Mieten Wohnort für Arbeiter_innen und sozioökonomisch Benachteiligte war. Die Nordstadt war so auch für viele vom Land in die Stadt migrierende Personen die erste Anlaufstelle in Dortmund. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs und zu Zeiten des Wiederaufbaus und der wirtschaftlichen Prosperität zogen einerseits vom wirtschaftlichen Aufschwung profitierende Einwohner_innen aus der Nordstadt in andere, wohlhabendere Stadtgebiete, während gleichzeitig ab den 1960er Jahren eine große Zahl an sogenannten Gastarbeiter_ innen in den nach wie vor günstigen Wohnraum in der Nähe der Fabriken der Nordstadt übersiedelte. So kam es vermehrt zu einer räumlichen Ballung von Arbeiter_innen, sozioökonomisch benachteiligten Personen sowie ausländischen Gastarbeiter_innen (Stadt Dortmund o. J.). Mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel und dem Wegfall eines großen Teils der industriellen Arbeitsplätze verstärkte sich die (Armuts-)Segregation in der Dortmunder Nordstadt. Viele

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Abb. 1   Lage des Stadtbezirks Innenstadt-Nord (Nordstadt) im Dortmunder Stadtgebiet. (Darstellung: ILS)

Menschen, inklusive eines großen Teils der Gastarbeiter_innen, die ihre Arbeitsplätze verloren, blieben weiterhin in der Nordstadt wohnen (Kurtenbach 2015, S. 310). Heute ist die Dortmunder Nordstadt von einer Konzentration von Ausländer_innen und Personen mit Migrationshintergrund sowie einer sozioökonomisch benachteiligten Bewohnerschaft gekennzeichnet. Von den 59.496 (Stand 2017) in dem Stadtbezirk lebenden Menschen haben 51,2 % keinen deutschen Pass (im Vergleich zu 17,7 % in der Gesamtstadt) und weitere 20,6 % einen

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­ igrationshintergrund (16,5 % in der Gesamtstadt). Dabei lässt sich eine große M ethnische Diversität mit Personen aus mehr als 100 verschiedenen Ländern feststellen (Zimmer-Hegmann und Kubiak 2015, S. 12). Der Stadtteil ist mit einer SGB-II-Quote von 18,4 % sozioökonomisch benachteiligt im Vergleich zur ­ Gesamtstadt (9 %). Noch interessanter vor dem Hintergrund der Thematik ist allerdings der Blick auf die Bewegungsdaten. In den Jahren 2013 bis 2017 fanden durchschnittlich 46,3 % der aus dem Ausland nach Dortmund zugezogenen internationalen Migrant_innen, also etwa jede zweite Person, ihre erste Wohnung in Dortmund in der Nordstadt – und das, obwohl nur etwa ein Zehntel der Gesamtbevölkerung Dortmunds in der Nordstadt wohnt. Zugleich waren pro Jahr durchschnittlich 47,6 % aller in die Nordstadt ziehenden Personen Ausländer_innen, während von allen nach Dortmund ziehenden Personen nur 20,5 % Ausländer_ innen waren (vgl. Tab. 1). Dies verdeutlicht die Attraktivität dieses Stadtteils, insbesondere für international Zugewanderte. Ein wesentlicher Grund liegt in den im Vergleich zur Gesamtstadt nach wie vor günstigen Mieten (Stadt Dortmund 2017, S. 63) sowie in den Zugängen zum Wohnungsmarkt, die vielen Neuzugewanderten in anderen Stadtteilen verwehrt bleiben. Zahlreiche Migrant_innen, auch höherer sozialer Lagen, verfügen bei ihrer Ankunft zunächst über geringe finanzielle Ressourcen (Saunders 2019, S. 25) und sind zudem häufig einer Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt ausgesetzt (Hanhörster 2019, S. 47). Ein weiterer Indikator dafür, dass es sich bei der Dortmunder Nordstadt – vor dem Hintergrund der theoretischen Ausführungen im vorherigen Kapitel – um ein Ankunftsquartier handelt, ist die hohe Fluktuation der Bevölkerung. Der Wanderungssaldo liegt

Tab. 1   Statistische Daten im Vergleich Bezirk Innenstadt-Nord

Gesamtstadt Dortmund

Bevölkerung (2017)

59.496

601.785

Anteil Ausländer_innen (2017)

51,2 %

17,7 %

Anteil Menschen mit Migrationshintergrund (2017)

20,6 %

16,5 %

SGB-II-Quote (2017)

18,4 %

9 %

Anteil Ausländer_innen am Gesamtzu- 47,6 % zug (Ø 2013 bis 2017)

20,5 %

Wanderungen je 1000 EW (Ø 2013 bis 2017)

188,2

305,7

Eigene Darstellung, Datenquelle: Stadt Dortmund – Stabsstelle Dortmunder Statistik

Ankunftsquartiere als Kontext der Integration

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mit ca. 306 Umzügen je 1000 Einwohner_innen um ein Vielfaches höher als in der Gesamtstadt (ca. 188 Umzüge je 1000 Einwohner_innen). Statistisch gesehen tauscht sich die Bevölkerung der Nordstadt demnach etwa alle dreieinhalb Jahre aus. Die Konzentration von sozioökonomisch benachteiligten Personen, die stetige (Armuts-)Zuwanderung aus dem Ausland sowie der ständige Austausch der Bevölkerung stellen den Stadtteil vor große Herausforderungen bezüglich des sozialen Zusammenhalts. Und natürlich gibt es dabei auch Probleme insbesondere im Bereich von Sicherheit und Kriminalität oder hinsichtlich der Bildungschancen von Kindern an den Schulen und den Kindertagesstätten, die angesichts der vielen Kinder ohne Deutschkenntnisse und schwierigen familiären Situationen besondere Integrationsleistungen zu erbringen haben. Nicht allein aufgrund der statistischen Zahlen und der beschriebenen Herausforderungen hat die Dortmunder Nordstadt ein schlechtes Image, das den Stadtteil auf Armut, (Banden-)Kriminalität und Drogenhandel reduziert und nicht zuletzt auf einer negativen Medienberichterstattung beruht (vgl. beispielhaft Haneke 2016). Dies deutet auf die Gefahr einer „Ethnisierung“ bzw. „Kulturalisierung“ von Problemen in super-diversen Stadtquartieren hin (vgl. May 2002). In der öffentlichen Wahrnehmung wird die Integrationsleistung dieser Quartiere – auch für die Gesamtstadt – häufig verkannt. Im Ankunftsquartier Nordstadt lässt sich eine Reihe ankunftsbezogener Gelegenheitsstrukturen feststellen, die Zugewanderten das Ankommen erleichtern können. Kurtenbach (2015, S. 317 f.) beschreibt diese am Beispiel des Dortmunder Sozialraums Nordmarkt. Dazu zählen Kioske, (migrantische) Lebensmittelläden, Prepaid-Telefonanbieter, Internetcafés sowie Imbisse, Cafés oder Restaurants. Neben den alltäglichen Funktionen dieser Orte, beispielswiese als Nahversorgungsstruktur, verweist er auf die Rolle dieser Orte als Treffpunkte des informellen Austauschs. Auch Karulska (2018) analysiert am Beispiel der Münsterstraße, die als Einkaufsstraße das Nahversorgungszentrum der Dortmunder Nordstadt bildet, die Veränderung der Geschäftsstruktur von 1955 bis 2018 und identifiziert für das Jahr 2018 eine Vielzahl ankunftsspezifischer Strukturen. Neben allerhand Einzelhandel und Gastronomie gibt es diverse ankunftsbezogene Dienstleistungen, die von ehemals Zugezogenen bzw. deren Nachkommen betrieben werden (z. B. Übersetzungsbüros, Reisebüros, Anwaltskanzleien, Immobilienmakler). Zimmer-Hegmann und Kubiak (2015, S. 12) stellen am Beispiel der Zuwanderung von Menschen aus Südosteuropa nach Dortmund dar, dass im Zuge der erhöhten Zuwanderung spezifische Strukturen wie bulgarische Cafés in der Dortmunder Nordstadt entstanden sind und als Orte des Austauschs dieser Zuwanderungsgruppe fungieren. Dies weist einerseits

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auf die Etablierung dieser Bevölkerungsgruppe in der Nordstadt hin und erhöht zugleich die Attraktivität für Zuziehende (Staubach 2014, S. 6). Weitere ankunftsbezogene Gelegenheitsstrukturen bieten die vielfältigen sozialen Infrastrukturen und zivilgesellschaftlichen Vereine, die sich aufgrund der langen Tradition der Zuwanderung in Dortmund etabliert haben, sich häufig in der Nordstadt befinden und Zugewanderten durch facettenreiche Beratungs- und Hilfsangebote das Ankommen erleichtern (Dymarz et al. 2016, S. 56 f.; Karulska 2018, S. 62 f.). Um die vorhandenen Strukturen zu stärken und zu einer Stabilisierung und Verbesserung der sozialen, ökonomischen und städtebaulichen Situation in der Dortmunder Nordstadt beizutragen, werden seit vielen Jahren verschiedene Instrumente und Förderprogramme der unterschiedlichen staatlichen Ebenen eingesetzt (z. B. EU-Gemeinschaftsinitiative URBAN II, Städtebauförderungsprogramm Soziale Stadt, Clearingstelle Gesundheit für Quartiere der Sozialen Stadt, Projekt „nordwärts“ der Stadt Dortmund), um dem hohen Handlungsbedarf gerecht zu werden und die Potenziale der Nordstadt zu fördern. Insbesondere auch die Unterstützung im Bereich der Bildungseinrichtungen (Kindertagesstätten und Schulen) ist ein zentrales Handlungsfeld der Stadt Dortmund.

4 Diskussion: Ankunftsquartiere als Kontext der Integration? Ankunftsquartiere verfügen über gewachsene Strukturen, die sich teilweise über viele Jahrzehnte ausgebildet haben und Zugewanderten häufig als Anlaufstellen und Orte des ersten Ankommens dienen. Durch die stetige Zuwanderung und starke Fluktuation bei häufig gleichzeitiger Ballung sozialer Problemlagen sind sie allerdings auch besonderen Herausforderungen ausgesetzt. Für ein ‚Funktionieren‘ dieser Orte ist es zunächst notwendig, dass diese Quartiere als das anerkannt werden, was sie sind – nämlich als Orte, in denen Zugewanderte erste Integrationsschritte machen –, und entsprechende Unterstützung erfahren. Ankunftsquartiere lassen sich nicht planen, die gewachsenen Strukturen hingegen können gestärkt und stabilisiert werden (BBSR 2017, S. 17). Forschungsergebnisse zeigen, dass die Ballung von Zugewanderten in einem Quartier den Aufbau ankunftsbezogener Gelegenheitsstrukturen und produktiver, sozialer (ethnischer) Netzwerke nach sich zieht, die Neuzugezogenen Unterstützungsleistungen im Prozess des Ankommens bieten (Kurtenbach 2015; Schillebeeckx 2018). Mischungsstrategien können diese Funktionen behindern, indem sie die natürliche Selbstorganisation ethnischer Gruppen und die Ausbildung entsprechender Netzwerke einschränken (Schillebeeckx 2018, S. 149; S ­chulze-Böing 2019,

Ankunftsquartiere als Kontext der Integration

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S. 65 f.). Wesentlich produktiver kann in diesem Zusammenhang die Akzeptanz von ethnischer Segregation sein, wenn es gelingt, in diesen Quartieren angemessene Ressourcen und Infrastrukturen bereitzustellen. Dazu zählen z. B. die Sicherung fairer Zugangschancen zu Wohnraum (Staubach 2013, S. 259), eine den sozialen Belastungen entsprechende Ausstattung der Schulen sowie Möglichkeiten zur (Weiter-)Bildung und zum Spracherwerb ebenso wie die Qualifizierung öffentlicher Freiräume als Orte der Begegnung und Teilhabe (Haase und Schmidt 2019, S. 19). Zudem sind dauerhafte Investitionen in die sozialen Hilfs- und Beratungsinfrastrukturen notwendig, die den Menschen kostenfreie Unterstützungsleistungen im Ankommensprozess bieten (Dymarz et al. 2016, S. 57; Schulze-Böing 2019, S. 78). Sofern diese Maßnahmen und Investitionen ausbleiben, drohen Ankunftsquartiere zu einer ‚Sackgasse‘ der Integration zu werden, die in einer Verfestigung von Armut und Perspektivlosigkeit münden kann. Gelingt es jedoch, diese Gebiete zu stabilisieren und in ihrer Funktion als ‚Integrationsmaschine‘ der Gesamtstadt zu stärken, können Ankunftsquartiere als erfolgreiche ‚Durchlauferhitzer‘ fungieren und zu einem individuellen ‚Sprungbrett‘ für Integration werden.

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N. Hans et al.

Nils Hans, M.A. Stadt- und Regionalentwicklung, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung in der Forschungsgruppe „Sozialraum Stadt“. Mona Wallraff,  M.A. Sozialwissenschaften, Stadt- und Regionalentwicklung, war wissenschaftliche Mitarbeiterin im ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung in der Forschungsgruppe „Sozialraum Stadt“. Ralf Zimmer-Hegmann,  Diplom-Sozialwissenschaftler, ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe „Sozialraum Stadt“ und Leiter der Stabsstelle „Transfer und Transformation“ im ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind sozialräumliche Exklusions- und Inklusionsprozesse in Städten und Quartieren sowie die Evaluation von stadtentwicklungspolitischen Programmen.

Wohnortzuweisung als integrationspolitisches Instrument: eine kritische Betrachtung des § 12a Aufenthaltsgesetz Nona Renner

Zusammenfassung

Anfang Juni 2019 stimmte der Bundesrat einer Reihe von Gesetzen zum Asylrecht, zur Einwanderung und zu Abschiebungen zu. Das sogenannte Migrationspaket beinhaltet auch die Entfristung der Gesetzesgrundlage für die Erteilung von Wohnsitzauflagen für anerkannte Geflüchtete. Durch eine Verschärfung des Aufenthaltsrechts, die 2016 im Rahmen des Integrationsgesetzes eingeführt wurde und ursprünglich im August 2019 außer Kraft treten sollte, sind viele Geflüchtete über den positiven Abschluss ihres Asylverfahrens hinaus verpflichtet, in dem Bundesland zu verbleiben, dem sie im Rahmen ihres Aufnahmeverfahrens zugewiesen wurden. Darauf aufbauend können die Landesregierungen eigene Regelungen erlassen, um die Verteilung der Schutzberechtigten innerhalb der Bundesländer zu steuern. Der Entfristung – wie auch schon der Einführung von § 12a Aufenthaltsgesetz – liegt der politische Leitgedanke zugrunde, eine gleichmäßigere räumliche Verteilung beeinflusse die Integration der betroffenen Personengruppe positiv. Die Annahme, die derzeitige Regelung wirke integrationsfördernd, ist strittig, bildet aber zugleich die Basis der rechtlichen Zulässigkeit der Erteilung von Wohnsitzauflagen. Teile des vorliegenden Beitrags stützen sich auf eine frühere Veröffentlichung unter dem Titel „Die Wohnsitzauflage als Mittel deutscher Integrationspolitik? Das Beispiel Sachsen“ der Autorin. N. Renner (*)  Leibniz-Institut für Länderkunde, (IfL), Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_12

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N. Renner

Schlüsselwörter

Aufenthaltsgesetz · Desegregation · Geflüchtete · Integration · Königsteiner Schlüssel · Segregation · Wohnsitzauflage · Wohnsitzregelung · Zuzugssperre

1 Einleitung Anfang Juni 2019 stimmte der Bundesrat dem sogenannten Migrationspaket und damit einer Reihe von Gesetzen zum Asylrecht, zur Einwanderung und zu Abschiebungen zu. Dies beinhaltete auch die Entfristung einer Verschärfung des Aufenthaltsrechts, die vielen Geflüchteten über den positiven Abschluss ihres Asylverfahrens hinaus vorschreibt, ihren Wohnsitz innerhalb eines Bundeslandes oder eines kleinräumigeren Gebietes zu nehmen. Mit Hilfe von Wohnsitzauflagen soll – so der Gesetzestext – die Integration der betroffenen Personengruppe gefördert werden. Beginnend mit einer Einführung in die Inhalte von § 12a  Aufenthaltsgesetz und die Auswirkungen der staatlichen Verteilungspolitik zeigt der vorliegende Beitrag auf, dass die Annahme, die Einschränkung der Niederlassungsfreiheit wirke integrationsfördernd, durchaus strittig ist, insbesondere da bei der Zuweisung nur in wenigen Ausnahmefällen integrationsrelevante Kennzahlen berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang wird abschließend der integrationspolitische Leitgedanke, welcher der gegenwärtigen Regelung zugrunde liegt, kritisch reflektiert.

2 Rechtliche Rahmenbedingungen zur Erteilung von Wohnsitzauflagen Als im Jahr 2016 in Reaktion auf anhaltende Fluchtmigrationsbewegungen das Integrationsgesetz verabschiedet wurde, trat mit dem Artikelgesetz auch eine Neuregelung im Aufenthaltsgesetz in Kraft, welche die freie Wohnortwahl von Personen, die nach Abschluss des Asylverfahrens asylberechtigt (Artikel 16a GG) sind oder denen Flüchtlingsschutz (§ 3 AsylG), subsidiärer Schutz (§ 4 AsylG) oder eine Aufenthaltserlaubnis (§§ 22, 23, 25 Absatz 3 AufenthG) erteilt wurde – diese Gruppe wird im Weiteren als anerkannte Geflüchtete bezeichnet –, stark beschneidet. Die Einführung von § 12a Aufenthaltsgesetz, der sogenannten Wohnsitzregelung, ermöglicht es, vielen anerkannten Geflüchteten

Wohnortzuweisung als integrationspolitisches Instrument …

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die Auflage zu erteilen, ihren Wohnsitz für drei Jahre in dem Bundesland zu nehmen, welchem sie im Rahmen ihres Asylverfahrens zugewiesen wurden. Auf dieser – quasi automatisch geltenden – gesetzlichen Wohnsitzpflicht aufbauend, können die Bundesländer eigene Bestimmungen für Personen, die unter den Anwendungsbereich von § 12a Aufenthaltsgesetz fallen, erlassen und die Wohnsitznahme anerkannter Geflüchteter innerhalb der Bundesländer durch behördlich angeordnete Wohnsitzauflagen weiter steuern, indem sie den Personen entweder einen genauer bestimmten Ort innerhalb des Bundeslandes als Wohnsitz zuweisen (positive Wohnsitzauflage) oder einzelne Gebiete für einen Zuzug sperren (negative Wohnsitzauflage). Nicht für alle anerkannten Geflüchteten gelten Wohnsitzauflagen. Einer Person, die einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung von mindestens 15 Stunden in der Woche nachgeht und über ein Mindesteinkommen in „Höhe des monatlichen durchschnittlichen Bedarfs nach den §§ 20 und 22 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für eine Einzelperson verfügt“ (§ 12a Absatz 1 AufenthG)1, kann keine Wohnsitzauflage erteilt werden beziehungsweise entfällt auf Antrag eine bestehende Wohnsitzauflage mit der Arbeitsaufnahme an einem anderen Ort. Auch die Wohnortzuweisung für deren Ehepartner_in beziehungsweise eingetragene_n Lebenspartner_in oder das minderjährige Kind ist dann aufzuheben. Das Steuerungsinstrument zielt somit auf die Teilgruppe der anerkannten Geflüchteten, die staatliche Transferleistungen bezieht. Hierin liegt auch die Möglichkeit, die Einhaltung der Wohnsitzauflage zu kontrollieren. Leistungen sollen nur vom Träger des Ortes erbracht werden müssen, an den die jeweilige Person zugewiesen wurde. Personen, die ihren Wohnsitz entgegen der Auflage an einem anderen Ort des Bundesgebietes wählen, soll regelmäßig nur eine Reisekostenbeihilfe gezahlt werden, welche die Kosten für die Rückreise an den Ort deckt, für welchen die Wohnsitzauflage erlassen wurde (§ 23 Absatz 5 SGB XII). Darüber hinaus sind anerkannte Geflüchtete, die in einem Ausbildungs- oder Studienverhältnis stehen oder dieses aufnehmen, von Wohnsitzauflagen ausgeschlossen. Auch zum Zweck der Zusammenführung der Kernfamilie sowie zur Vermeidung einer Härte, z. B. bei besonders schutzbedürftigen Personengruppen, kann die räumliche Beschränkung der Wohnsitznahme aufgehoben werden. Die Aufhebung

1Im Jahr 2019 betrug der Bedarf nach § 20 SGB II 424 € für Einzelpersonen. Zum Mindesteinkommen werden die nach § 22 SGB II angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung, die je nach Wohnort divergieren, hinzugerechnet.

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erfolgt auf Antrag der von der Wohnsitzauflage betroffenen Person (§ 12a Absatz 5 AufenthG) durch die zuständige Ausländerbehörde.2 Ursprünglich war § 12a Aufenthaltsgesetz mit einer Auslaufklausel versehen. Demnach sollte der Paragraf Anfang August 2019 außer Kraft treten (Artikel 8 Absatz 5 Integrationsgesetz). Wohnsitzauflagen, die vor diesem Stichtag erteilt worden sind, sollten jedoch ihre Gültigkeit behalten und wären demnach spätestens im Jahr 2022 ausgelaufen. Bereits der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD von 2018 sah jedoch vor „die Regelungen des Integrationsgesetzes [zu, N. R.] entfristen und die Wohnsitzregelung zeitnah [zu, N. R.] evaluieren“ (CDU, CSU und SPD 2018, S. 106). Eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an die Bundesregierung (Deutscher Bundestag 2019b, S. 2 ff.) zeigt, dass die Bundesregierung weder Kenntnisse darüber besitzt, wie viele behördliche Wohnsitzauflagen erteilt wurden beziehungsweise in wie vielen Fällen auf die Erteilung einer Wohnsitzauflage verzichtet oder diese nachträglich aufgehoben wurde, noch wie hoch der zusätzliche Verwaltungsaufwand der Ausländerbehörden für die Erteilung von Wohnsitzauflagen ausfiel. Mit der Verabschiedung des sogenannten Migrationspaketes im Juni 2019 wurde die Befristung von § 12a Aufenthaltsgesetz ohne vorherige Evaluation aufgehoben. Zugleich wurde die Regelung geringfügig modifiziert. Die Begründung zum Gesetzesentwurf der Entfristung sieht nun vor, die Wohnsitzauflage innerhalb von drei Jahren nach der Gesetzesänderung insbesondere hinsichtlich der Frage, ob die Wohnsitzregelung Integration fördert, zu evaluieren (Deutscher Bundestag 2019a, S. 9).

3 Die Wohnsitzauflage: Verstetigung der räumlichen Effekte des Königsteiner Schlüssels Das Steuerungsinstrument Wohnsitzauflage ist in das föderale System der geteilten Zuständigkeiten bei der Aufnahme und Unterbringung von Asylsuchenden in Deutschland eingebunden. Nach der Ankunft in Deutschland

2Laut

Antwort der Landesregierung von Sachsen-Anhalt auf eine Kleine Anfrage benötigen die Ausländerbehörden nach eigener Schätzung für die Bearbeitung eines Antrags auf Aufhebung der Wohnsitzauflage zwischen drei Tagen und sechs Monaten. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit variiert je nach Landkreis bzw. kreisfreier Stadt zwischen zwei Wochen und drei Monaten (Landtag von Sachsen-Anhalt 2017). Lange Bearbeitungszeiten sind insbesondere bei Vorliegen einer akuten Gefährdungssituation (z. B. Gewalterfahrung in der Partnerschaft) problematisch und können bei der Arbeitsaufnahme an einem anderen Ort als dem zugewiesenen hinderlich sein.

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werden Asylsuchende auf die Bundesländer verteilt und dort zunächst in Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder untergebracht. Die Aufnahmequoten der Länder werden durch den sogenannten Königsteiner Schlüssel (Abb. 1) festgelegt: Die anteilige Zahl aufzunehmender Asylbewerber_innen – und in der Folge die Höhe der Personen, für die eine Wohnsitzpflicht innerhalb eines Bundeslandes gilt – errechnet sich zu zwei Dritteln aus den Steuereinnahmen und zu einem Drittel aus der Bevölkerungszahl eines Bundeslandes, ein Instrument, das ursprünglich die Höhe der Zuschüsse für wissenschaftliche Forschungseinrichtungen regelte – das sogenannte Königsteiner Staatsabkommen. Durch die Erteilung von Wohnsitzauflagen wird die räumliche Verteilung von ehemaligen Asylbewerber_innen beziehungsweise nun anerkannten Geflüchteten über den positiven Abschluss des Verfahrens hinaus auf Basis des Königsteiner Schlüssels um drei Jahre verlängert und somit verstetigt. Asylbewerber_innen, die nicht aus als sicher definierten Herkunftsstaaten stammen, müssen für höchstens 18 Monate (§ 47 Absatz 1 AsylG)3 in den Erstaufnahmeeinrichtungen verbleiben. In den allermeisten Flächenstaaten werden sie dann auf Basis von landesintern festgelegten Verteilschlüsseln einer kreisfreien Stadt oder einem Landkreis zugewiesen. Bis zum Abschluss ihres Verfahrens leben sie dort entweder in kommunalen Gemeinschaftsunterkünften oder dezentral in Wohnungen. Die Durchführung des Asylverfahrens obliegt durchgehend dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Von der Wohnsitzauflage ist die häufig als Residenzpflicht bezeichnete Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf den Bezirk der Erstaufnahme – welcher Asylsuchende während der ersten drei Monate ihres Aufenthaltes in der Bundesrepublik und solange für sie die Verpflichtung besteht, in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu leben, unterliegen (§ 56, § 59a AsylG) – zu unterscheiden. Während im Rahmen

3Für

minderjährige Kinder und ihre Eltern bzw. Sorgeberechtigten sowie volljährigen, ledigen Geschwister gilt eine verkürzte Aufenthaltspflicht von höchstens sechs Monaten (§ 47 Absatz 1 AsylG). Asylsuchende aus sogenannten sicheren Herkunftsländern sind unabhängig von dieser Frist verpflichtet, bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag und im Falle einer Ablehnung des Antrags bis zu ihrer Abschiebung oder freiwilligen Ausreise in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu wohnen (§ 47 Absatz 1a AsylG). Seit Juli 2017 können die Länder unter bestimmten Bedingungen allen Asylsuchenden vorschreiben, bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag in Erstaufnahmeeinrichtungen zu verbleiben, höchstens jedoch bis zu 24 Monaten (§ 47 Absatz 1b AsylG). Für die beiden letztgenannten Personengruppen verlängert sich damit auch die Residenzpflicht bis zum Zeitpunkt der Entlassung aus den Erstaufnahmeeinrichtungen bzw. der Abschiebung oder freiwilligen Ausreise.

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Abb. 1   Verteilquoten nach dem Königsteiner Schlüssel für das Jahr 2019 (Daten: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 2019, eigene Darstellung)

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der Residenzpflicht auch das vorübergehende Verlassen des Gebietes, für welches die räumliche Beschränkung gilt, genehmigungspflichtig ist (§ 57, § 58 AsylG), beschneidet die Wohnsitzauflage das Recht der freien Wohnortwahl von Personen, die das Asylverfahren erfolgreich durchlaufen haben. Bei vorübergehender Abwesenheit vom Ort, für welchen die Wohnsitzauflage gilt, muss keine Genehmigung eingeholt werden.

4 Die entscheidende Frage: die Wohnsitzauflage, ein integrationsförderndes Instrument? Die Frage, ob erteilte Wohnsitzauflagen die Integration der betroffenen Personen fördern, ist entscheidend für ihre rechtliche Zulässigkeit. Im Jahr 2016 stellte der Gerichtshof der Europäischen Union in einem Urteil zunächst fest, dass Wohnsitzauflagen gegen die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011, nach der für international schutzberechtigte Personen dasselbe Freizügigkeitsrecht innerhalb eines Mitgliedstaates gilt wie für andere Drittstaatenangehörige, verstoßen. Vorausgegangen war dem Urteil ein beim Bundesverfassungsgericht anhängiges Verfahren, in dem zwei subsidiär Schutzberechtigte gegen erteilte Wohnsitzauflagen klagten. Im weiteren Urteil unterschied der Europäische Gerichtshof, mit welcher Zielstellung die Einschränkung der Freizügigkeit erfolgt. Demnach sind Wohnsitzauflagen, die allein eine bestimmte Gruppe von Drittstaatenangehörigen – im verhandelten Fall subsidiär Schutzberechtigte im Sozialleistungsbezug – betreffen, nur dann mit der Richtlinie vereinbar, wenn diese Gruppe mit besonderen Integrationsschwierigkeiten konfrontiert ist und Wohnsitzauflagen mit dem Ziel erteilt wurden, die Integration der Betroffenen zu erleichtern. Auflagen, die allein mit dem Zweck verhängt wurden, die Lasten durch gewährte Sozialleistungen zwischen den verschiedenen Kostenträgern angemessen zu verteilen, sind nicht zulässig (Gerichtshof der Europäischen Union 2016). Entsprechend hebt der Entwurf des Integrationsgesetzes diesen Punkt hervor: „Die Regelungen zur Wohnsitzverpflichtung für anerkannte Flüchtlinge und Inhaberinnen und Inhaber bestimmter anderer humanitärer Aufenthaltstitel […] sollen die Integration dieser Personengruppe fördern und integrationshemmenden Segregationstendenzen entgegenwirken.“ (Deutscher Bundestag 2016, S. 3)

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Aufbauend auf der dreijährigen gesetzlichen Wohnsitzpflicht im Bundesland der Erstaufnahme „zur Förderung seiner [gemeint ist die anerkannte Person, N. R.] nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland“ (§ 12a Absatz 1 AufenthG), werden im Gesetzestext die drei Bereiche Wohnen, Arbeit und Sprache genannt, in denen die Integration der betroffenen Personen durch die Erteilung von restriktiveren Wohnsitzauflagen gefördert werden soll. Die Bundesländer können die räumliche Verteilung Geflüchteter innerhalb des Landes durch zwei Arten von sogenannten behördlichen Wohnsitzauflagen steuern. Eine positive Wohnsitzauflage, also die Verpflichtung, innerhalb eines bestimmten Gebietes den Wohnsitz zu nehmen, kann aus zwei Gründen erteilt werden: (1) Zur Versorgung mit angemessenem Wohnraum können Geflüchtete, die in Einrichtungen des Landes oder der Kommune untergebracht sind, innerhalb von höchsten zwölf Monaten nach ihrer Anerkennung verpflichtet werden, an einem bestimmten Ort zu wohnen (§ 12a Absatz 2 AufenthG). (2) Außerdem kann eine Wohnortzuweisung innerhalb der ersten sechs Monate nach Anerkennung erteilt werden, wenn dadurch die Versorgung mit angemessenem Wohnraum, der Erwerb der deutschen Sprache (Niveau A2 des Europäischen Referenzrahmens) und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder Ausbildung erleichtert werden können (§ 12a Absatz 3 AufenthG). „[Z]ur Vermeidung von sozialer oder gesellschaftlicher Ausgrenzung […], insbesondere wenn zu erwarten ist, dass der Ausländer Deutsch dort nicht als wesentliche Verkehrssprache nutzen wird“ (§ 12a Absatz 4 AufenthG), können als zweite Form negative Wohnsitzauflagen ausgesprochen und dadurch Zuzugssperren für einzelne Orte verhängt werden. Sowohl durch die Verpflichtung innerhalb eines definierten Gebietes den Wohnsitz zu nehmen als auch durch das Verbot an einen Ort zu ziehen, darf die freie Wohnortwahl für maximal drei Jahre eingeschränkt werden. Kritik an der Wohnsitzregelung entzündet sich demnach vor allem an der Frage, ob das Instrument eine integrationsfördernde Wirkung entfaltet. So sind unter anderem PRO ASYL (2016), Der Paritätische Gesamtverband (2016, S. 7) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (2016, S. 10 ff.) der Meinung, die Ausgestaltung des Steuerungsinstruments widerspreche dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Es wird insbesondere argumentiert, dass die gesetzliche Wohnsitzpflicht anhand der Quoten des Königsteiner Schlüssels keinerlei integrationsrelevante Kennzahlen berücksichtigt. Bislang bestehen in neun Bundesländern eigene Regelungen zur landesinternen Verteilung anerkannter Geflüchteter. Abweichend von Tab. 1 können

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Tab. 1   Landesinterne Regelungen zum Erlass von positiven oder negativen Wohnsitzauflagen gem. § 12a AufenthG zum Stand August 2019 Bundesland

Art

Berechnungsgrundlage für die Verteilung anerkannter Geflüchteter

Berechnungsgrundlage für die Verteilung von Asylbewerber_innen

BadenWürttemberg

positive Wohn­ sitzauflage

Einwohnerzahl

Einwohnerzahl

Bayern

positive Wohn­ sitzauflage

Einwohnerzahl

Einwohnerzahl

Hessen

positive Wohn­ sitzauflage

Einwohnerzahl Anteil der Ausländer_innen an der Einwohnerzahl

Einwohnerzahl Anteil der Ausländer_ innen an der Einwohnerzahl*

Niedersachsen

negative Wohnsitzauflage



Einwohnerzahl

NordrheinWestfalen

positive Wohn­ sitzauflage

Einwohnerzahl der Gemeinden (80 %) Flächenanteil der Gemeinden (10 %) Anteil der als arbeitslos gemeldeten erwerbsfähigen Personen in den Gemeinden (10 %) Integrationsschlüssel verringert sich um je 10 % für 1) Gemeinden, die aufgrund einer Gefährdung der Versorgung der Bevölkerung mit Mietwohnungen der Mietpreisbegrenzungsverordnung unterliegen. 2) Gemeinden, die einen mindestens 50 % über dem Landesdurchschnitt liegenden Anteil von Personen aus bestimmten EU-Mitgliedstaaten, die Grundsicherung für Arbeitssuchende erhalten, aufweisen.

Einwohnerzahl der Gemeinden (90 %) Flächenanteil der Gemeinden (10 %)



Einwohnerzahl

Rheinland-Pfalz negative Wohnsitzauflage

(Fortsetzung)

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Tab. 1   (Fortsetzung) Berechnungsgrundlage für die Verteilung anerkannter Geflüchteter

Berechnungsgrundlage für die Verteilung von Asylbewerber_innen

Bundesland

Art

Saarland

positive Wohnsitz- Einwohnerzahl auflage

Einwohnerzahl

Sachsen

positive Wohnsitz- Einwohnerzahl auflage

Einwohnerzahl

Sachsen-Anhalt positive Wohnsitz- Einwohneranteil des Land- Einwohnerzahl auflage kreises/der kreisfreien Stadt (70 %) Anteil der arbeitslos gemeldeten erwerbsfähigen Personen in dem Landkreis/ der kreisfreien Stadt (20 %) Verhältnis Berufsausbildungsstellen je Bewerber_ innen (10 %) *In

Hessen existiert kein fester Schlüssel für das Verhältnis zwischen Einwohnerzahl und dem Anteil von Ausländer_innen an der Einwohnerzahl. Laut Verteilungs- und Unterbringungsverordnung verringert sich der Anteil aufzunehmender Personen abhängig von der Höhe des Ausländeranteils in festgelegten Prozentanteilen

behördliche Wohnsitzauflagen auch in Ländern verhängt werden, in denen keine landesweiten Regelungen vorliegen: In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage weist die Landesregierung Brandenburg darauf hin, dass „die Landkreise und kreisfreien Städte bereits seit Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung die Möglichkeit [haben, N. R.], Wohnsitzauflagen in eigener Verantwortung nach § 12a Absatz 2 bis 4 AufenthG zu erlassen“ (Landtag Brandenburg o. J., S. 2). Aus Tab. 1 ist außerdem ersichtlich, dass die Bundesländer mit positiven Wohnsitzauflagen überwiegend dieselbe Berechnungsgrundlage für die Verteilung heranziehen, die sie für die Zuweisung von Asylbewerber_innen auf die Landkreise und kreisfreien Städte nutzen, und damit nur selten über die Einwohnerzahl hinausgehende Kriterien anlegen. Lediglich zwei Bundesländer, in denen landesweite Regelungen zur Vergabe von positiven Wohnsitzauflagen bestehen, beziehen Kennzahlen,

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welche die Bereiche Arbeit und/oder Wohnen operationalisieren sollen, in die Berechnungen mit ein. Ob durch diese differenzierteren Verteilschlüssel – wie sie ­Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt nutzen – annäherungsweise das Integrationspotenzial der Landkreise und kreisfreien Städte abgebildet werden kann, darf bezweifelt werden (u. a. Renner 2018, S. 14 ff.). Die quotierte Zuteilung durch Bund und Länder legt den Schluss nahe, dass es hier weniger um eine Entscheidung über die Integration im Einzelfall geht als vielmehr um eine gleichmäßige(re) Verteilung der anerkannten Geflüchteten, die auch eine ausgewogenere Lastenverteilung zwischen den Gemeinden garantiert. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat im September 2018 Teile der landesrechtlichen Regelung zur Wohnsitzzuweisung für nichtig erklärt. Demnach überschritt das Land mit der Regelung, einer Person ohne vorherige Anhörung den Wohnort in der Gemeinde zuzuweisen, in welcher die Person zum Zeitpunkt der Zuweisung ihren tatsächlichen Wohnsitz hat, seine Kompetenz. Die Zuweisungsentscheidung auf Basis des tatsächlichen Wohnorts ohne Prüfung der örtlichen Voraussetzungen zur Erfüllung der Integrationsziele nach § 12a Aufenthaltsgesetz nehme eine positive Prognoseentscheidung hinsichtlich der Integration vorweg. Das Gericht beanstandete außerdem die fehlende Berücksichtigung der örtlichen Lage am Arbeits- und Ausbildungsmarkt bei dieser Form der Zuweisung (Oberverwaltungsgericht NRW 2018). Zuzugssperren, welche auf die Freizügigkeit weniger restriktiv wirken als Zuweisungen, da die Niederlassungsfreiheit innerhalb des Bundeslandes – ausgenommen der Orte, die für einen Zuzug gesperrt sind – bestehen bleibt, liegen derzeit für vier Städte vor. In Rheinland-Pfalz dürfen anerkannte Geflüchtete in der Regel ihren Wohnsitz nicht in der Stadt Pirmasens nehmen, Niedersachsen untersagt den Zuzug in die Städte Delmenhorst, Salzgitter und Wilhelmshaven. Die Praktiken der Länder mit Wohnsitzauflagen divergieren teilweise stark. So wurden landesweit geltende Regelungen bislang in Form von Anwendungshinweisen, Durchführungsverordnungen und Erlassen formuliert. In einigen Ländern können die Geflüchteten ihren Wohnsitz innerhalb des Landkreises frei wählen, andere Länder, wie z. B. Sachsen, räumen den Ausländerbehörden des Landkreises oder der kreisfreien Stadt die Möglichkeit ein, gemeindescharfe Wohnsitzauflagen zu erteilen. Die variierenden Regelungen bedingen unterschiedlich starke Restriktionen bezüglich der Wohnortwahl seitens der betroffenen Personen und bergen somit ein hohes Maß an Ungleichbehandlung.

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5 Ein integrationspolitisches Leitbild: ethnische Segregation beeinträchtigt Integration Ethnisch gemischte Quartiere sind ein weit verbreitetes integrations- und stadtentwicklungspolitisches Leitbild.4 Die Annahme, eine  –  wie auch immer definierte – gleichmäßigere Verteilung fördere die Integration der betroffenen Personengruppe, liegt auch der Wohnsitzregelung zugrunde. Der ehemalige SPD-Vizekanzler Sigmar Gabriel warb für die Wohnsitzauflage, da sonst „Ghettoprobleme“ (Schuler et al. 2016) in den Großstädten entstünden, und die Bundesregierung (o. J.) äußerte die Befürchtung, der Zuzug von anerkannten Geflüchteten in die Ballungsräume erschwere die Integration. Nachteilige Effekte auf die gesellschaftliche Teilhabe von Migrant_innen, ausgelöst durch ethnische Segregation5, sind wissenschaftlich umstritten und nicht hinreichend empirisch belegt (Münch 2014, S. 328). Sozialwissenschaftler_innen betonen in der deutschsprachigen Debatte das integrative Potenzial ethnischer Netzwerke (u. a. Siebel 2013) oder fordern wie Koopmanns (2017) Assimilation statt Multikulturalismus. Oftmals wird übersehen, dass die residentielle Segregation von Menschen mit Migrationserfahrung häufig Resultat einer sozio-ökonomischen Segregation und von Diskriminierung ist, nicht Effekt der freiwilligen Entscheidung des_der Einzelnen in ein ethnisch geprägtes Viertel zu ziehen. Hartmut Häußermann schreibt  bezüglich der Debatte über negative Effekte räumlicher Konzentration auf die Integration von einer „Ethnisierung sozialer Probleme“ (Häußermann 2007, S. 466). Dementsprechend wird einem sozialen Prozess, der sich räumlich manifestiert, mit räumlichen, nicht sozialen Ansätzen begegnet.

4So

ist es unter anderem verbreitete Praxis, dass Wohnungsunternehmen Belegungsstrategien verfolgen und intern tipping points festlegen, um innerhalb von Häusern oder Quartieren eine bestimmte „Mischung“ herzustellen. Schwammig bleibt hierbei, wen diese Obergrenzen adressieren (Ausländer_innen, Menschen mit Migrationserfahrung oder ausländisch klingenden Namen) und wann das Verhältnis als ausgeglichen gilt (Münch 2014, S. 330 u. 337). Nach Rodatz (2012) zeichnet sich in deutschen Großstädten jedoch auch eine Abkehr integrationsbezogener Stadtpolitiken vom Paradigma der ethnischen Mischung hin zu einer „Stadt der Vielfalt“ ab. 5Darauf, dass eine Strategie der Desegregation nicht nur mit dem Argument verfolgt wird, ethnische Segregation verhindere Integration, sondern dass ethnisch geprägten Nachbarschaften häufig ein besonderes Gefahrenpotenzial zugeschrieben wird, verweist Häußermann (2018, S. 395 f.).

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Die Ergebnisse verschiedener Studien weisen darauf hin, dass eine politisch gelenkte Strategie der Desegregation die Integration der betroffenen Personen(gruppe) nicht fördert. Vielmehr kann sie die Integration in den Arbeitsmarkt erschweren. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) verweist in seiner Stellungnahme zum Gesetzesentwurf der Entfristung des Integrationsgesetzes auf vorläufige Befunde einer Untersuchung des Instituts zur Wirkung positiver Wohnsitzauflagen. Die Ergebnisse „deuten darauf hin, dass die Anwendung der Wohnsitzauflage auf Kreisebene den Übergang in die erste Erwerbstätigkeit verlangsamt hat und sich keine statistisch positiven Ergebnisse in Hinblick auf die Sprachkompetenz und die Versorgung mit Wohnraum ergeben“ (Brücker et al. 2019, S. 9). Die Untersuchung einer staatlichen Verteilungspolitik in Schweden, die Mitte der 1980er Jahre mit dem Ziel verhängt wurde, der Konzentration von Geflüchteten in Großstädten entgegenzuwirken, stellt ebenfalls negative Effekte der Zuweisung auf die Arbeitsmarktintegration fest. Die Ergebnisse zeigen, dass die von Wohnortzuweisung betroffenen Geflüchteten langfristig weniger verdienten, seltener überhaupt Einkommen erzielten oder in einem Ausbildungsverhältnis standen und häufiger auf Sozialhilfe angewiesen waren als Geflüchtete, die vor Inkrafttreten der Regelung ins Land kamen (Edin et al. 2004, S. 145). Eine umfassende Evaluation des Wohnortzuweisungsgesetzes (WoZuG) im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, das zwischen 1989 und 2009 für die Gruppe der (Spät-)Aussiedler_innen galt, kam zu dem Ergebnis, dass ihre „sprachliche und strukturelle Integration nicht in direkter Verbindung mit der Wohnortzuweisung [steht, N. R.], sondern […] durch örtliche Gegebenheiten und persönliche Ressourcen geprägt“ ist (Haug und Sauer 2007, S. 162). Zugleich hatte die Wohnortzuweisung keinen Effekt darauf, ob im Wohnumfeld überwiegend andere (Spät-)Aussiedler_innen lebten. In der von Wohnortzuweisungen betroffenen Gruppe der (Spät-)Aussiedler_innen war der Anteil derer, die in einem Umfeld wohnten, in welchem mehrheitlich andere (Spät-)Aussiedler_innen lebten, annähernd gleich hoch wie in der nicht betroffenen Vergleichsgruppe (Haug und Sauer 2007, S. 125). Die Entfristung von § 12a Aufenthaltsgesetz begründet die Bundesregierung insbesondere mit dem Verweis auf eine bessere Planbarkeit von integrationspolitischen Maßnahmen in den Ländern und Kommunen, die durch Wohnsitzauflagen hergestellt werde (Deutscher Bundestag 2019a, S. 1). Im Rahmen der Evaluation des Wohnortzuweisungsgesetzes für (Spät-)Aussiedler_innen wurden auch kommunale Expert_innen befragt: Sie gaben an, dass sich durch das Gesetz „die Planbarkeit von infrastrukturellen Maßnahmen und von Integrationsangeboten erhöht“ (Haug und Sauer 2007, S. 63) habe. Wie die Ergebnisse der Evaluation zeigen, wirken bessere Bedingungen in der Planung jedoch nicht

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zwangsläufig positiv auf den Verlauf des Integrationsprozesses. Somit ist höchst fraglich, ob das Argument den tiefgehenden Eingriff in die Freizügigkeit, den die Zuweisung eines Wohnortes darstellt, rechtfertigt.

Literatur Brücker, H., Jaschke, P., & Gundacker, L. (2019). Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Entfristung des Integrationsgesetzes. http://doku.iab.de/stellungnahme/2019/ sn0819.pdf. Zugegriffen: 6. Sept. 2019. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). (2019). Erstverteilung der Asylsuchenden (EASY). http://www.bamf.de/DE/Fluechtlingsschutz/AblaufAsylv/Erstverteilung/erstverteilung-node.html. Zugegriffen: 30. Aug. 2019. CDU, CSU und SPD. (2018). Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode. https://www.bundesregierung.de/resource/blob/65 6734/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data. pdf?download=1. Zugegriffen: 30. Aug. 2019. Der Paritätische Gesamtverband. (2016). Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum Entwurf eines Integrationsgesetzes (Drs. 18/8615). http:// infothek.paritaet.org/archive/a_fachinfos.nsf/0/54b3fd931e158814c1257fd2004ef96a/$F ILE/Stelln%20Integrationsgesetz_%2014-06-2016.pdf. Zugegriffen: 30. Aug. 2019. Deutscher Bundestag. (2016). Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Integrationsgesetzes (Drs. 18/8615). http://dip21.bundestag.de/dip21/ btd/18/086/1808615.pdf. Zugegriffen: 30. Aug. 2019. Deutscher Bundestag. (2019a). Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Entfristung des Integrationsgesetzes (Drs. 19/8692). https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/086/1908692.pdf. Zugegriffen: 30. Aug. 2019. Deutscher Bundestag. (2019b). Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Filiz Polat, Luise Amtsberg, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 19/8815 – Entfristung des Integrationsgesetzes aus dem Jahr 2016 (Drs. 19/9537). https://dipbt. bundestag.de/dip21/btd/19/095/1909537.pdf. Zugegriffen: 30. Aug. 2019. Deutscher Gewerkschaftsbund. (2016). Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Entwurf eines Integrationsgesetzes und zum Entwurf einer Verordnung zum Integrationsgesetz (Kabinettsentwurf vom 25. Mai 2016). https://www.proasyl.de/ wp-content/uploads/2015/12/2016-05-03-Stellungnahme-des-DGB-zum-Entwurf-einesIntegrationsgesetzes.pdf. Zugegriffen: 30. Aug. 2019. Edin, P.-A., Fredriksson, P., & Aslund, O. (2004). Settlement policies and the economic success of immigrants. Journal of Population Economics, 1, 133–155. Gerichtshof der Europäischen Union. (2016). Pressemitteilung Nr. 22/16: Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-443/14 und C-444/14. Der Gerichtshof äußert sich zum Verhältnis zwischen der Freizügigkeit von Personen, denen internationaler Schutz gewährt wurde, und den Maßnahmen, die darauf abzielen, die Integration dieser Personen zu erleichtern.

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Nona Renner,  M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am  Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL). Ihre Forschungsinteressen und Arbeitsschwerpunkte liegen unter anderem in den Bereichen Migration, europäische Grenzregime und Methoden der empirischen Sozialforschung.

Hindernisse und Gelingensfaktoren der Wohnraumvermittlung von Geflüchteten in Düsseldorf. Empirische Befunde und Lösungsansätze aus dem Forschungsprojekt INTESO Lisa Scholten, Simone Rehrs und Katja Jepkens Zusammenfassung

Die Suche nach geeignetem Wohnraum ist für Geflüchtete auf dem angespannten Düsseldorfer Wohnungsmarkt erschwert. Insbesondere im niedrigen Preissegment fehlen Wohnungen und im Wettbewerb um bezahlbaren Wohnraum haben Menschen mit Fluchterfahrung im Vergleich zu anderen Personengruppen eine schwierige Ausgangslage – basierend auf rechtlichen Regelungen, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Vorurteilen und persönlichen Ressourcen gelten sie als benachteiligt. Der folgende Beitrag skizziert die erschwerte Ausgangslage der Menschen mit Fluchterfahrung auf dem Wohnungsmarkt, stellt exemplarisch Unterstützungsmaßnahmen kommunaler, freier und privater Akteur_innen vor und versucht diese anhand von Expert_innenbefragungen zu den Erfahrungen mit verschiedenen Maßnahmen zu bewerten.

L. Scholten (*) · S. Rehrs · K. Jepkens  Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Rehrs E-Mail: [email protected] K. Jepkens E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_13

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Schlüsselwörter

Praxiseinblick · Düsseldorfer Wohnungsmarkt · Wohnsituation für Geflüchtete · Maßnahmen zur Wohnraumvermittlung · Empfehlungen

1 Einleitung Seit Projektbeginn von INTESO im Jahre 2016 ist die Relevanz des Themas ‚Wohnen‘ bei der Integration von Menschen mit Fluchterfahrung unumstritten. Wie im deutschlandweiten Trend in vielen Großstädten, haben Wohnungsknappheit und Wohnungsnot auch in Düsseldorf zugenommen und werden auf gesellschaftlicher und politischer Ebene diskutiert. Der Entwicklung entsprechend wird das Thema ‚Wohnen‘ ebenso in städtischen Integrationskonzepten zunehmend fokussiert (vgl. Schlee und Jepkens 2017a, S. 15). Auch im Projekt INTESO wurde der Bereich ‚Wohnen und Unterbringung‘ als zentrales Handlungsfeld der Integration thematisiert (vgl. ebd., S. 21) und anhand unterschiedlicher Methoden (u.  a. Expert_inneninterviews, Fokusgruppen, sozialräumlichen Beteiligungsmethoden) mit verschiedenen Akteur_innen (u. a. Sozialarbeitenden, Ehrenamtlichen, kommunalen Vertretenden, Menschen mit Fluchterfahrung) diskutiert. In allen Erhebungen wurde dem Thema eine hohe Bedeutung zugesprochen und ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Wohnsituation und der sozialräumlichen Integration hergestellt (vgl. Jepkens und Scholten 2019, S. 9). Der folgende Beitrag liefert eine Zusammenfassung der empirischen Projektergebnisse und Erkenntnisse zu dem Bereich ‚Wohnen und Unterbringung‘ von Menschen mit Fluchterfahrung in Düsseldorf mit dem Fokus auf Maßnahmen zur Unterstützung bei der Wohnraumvermittlung, der eine überblicksartige wissenschaftliche Einordnung des Themas und eine Beschreibung des Forschungsdesigns  vorausgehen.

2 Zur Bedeutung der Wohnsituation für die Integration Wohnen, als existenzielles Bedürfnis und Menschenrecht (Krennerich 2018), ist ohne Raum nicht denkbar (Knabe 2016). Die Verteilung von Wohnraum ist jedoch von sozialer Ungleichheit geprägt (Holm 2014; Bordieu 1995, S. 9) und damit die Wohnsituation Ausdruck dieser Ungleichheit, welche wohnungspolitisches Handeln erfordert. Holm benennt vier Aspekte, anhand derer sich Wohnstrukturen im Hinblick auf ihre sozialpolitische Relevanz analysieren lassen: erstens das

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Verhältnis von verfügbarem, bezahlbaren Wohnraum zur Nachfrage (quantitative Wohnungsfrage), zweitens den Zustand und die Ausstattung der Wohnung (qualitative Wohnungsfrage), drittens die vertragliche Situation und Aspekte des Mieterschutzes (rechtliche Wohnungsfrage) und viertens die Allokationsfunktion und damit verbundene Exklusionsprozesse vorhandener Wohnraumversorgungssysteme (sozialräumliche Wohnungsfrage) (Holm 2014, S. 26f.; Knabe 2016). Vor dem Hintergrund, dass in erster Linie Städte, welche sich durch besonders angespannte Wohnungsmärkte auszeichnen, Ziel von Migration sind, kommt der sozialräumlichen Wohnungsfrage und der Unterbringung von Geflüchteten und anderen Hilfebedürftigen, die nicht über die gleichen Teilhabechancen verfügen wie andere Gruppen, eine besondere Bedeutung zu. Dabei wird die sozialräumliche Dimension in der wissenschaftlichen Diskussion vor allem unter dem Begriff der Segregation thematisiert (Müller 2015, ILS und ZEFIR 2006). Für die Gruppe der Geflüchteten ist die Teilhabe am Wohnungsmarkt und an den vorhandenen Wohnversorgungssystemen darüber hinaus durch ihren rechtlichen Status erschwert. Während die Mechanismen des Wohlfahrtsstaates leistungsberechtigten Staatsbüger_innen vorenthalten sind, muss für Geflüchtete im Rahmen ihres Asylverfahrens zuerst geklärt werden, ob sie als Geflüchtete anerkannt werden und ihnen somit ein Anrecht auf bestimmte Leistungen der sozialen Sicherung zugesprochen wird. Geflüchtete haben in der Regel keinen Anspruch auf eine eigene Wohnung, sondern werden zuerst in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht (zur Unterbringung siehe auch Abschn. 4.2 in diesem Beitrag). Für Geflüchtete stellen sich die Unterbringung innerhalb des durch soziale Ungleichheit gekennzeichneten Wohnungssystems und ihre entsprechende Wohnsituation aber zugleich als Teil ihres Ankommens in einer neuen Gesellschaft dar. Aus diesem Grunde gilt die Unterbringung von Geflüchteten in diversen Studien als wichtiges Handlungsfeld der Integration (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung 2017). Gleichsam wie das häufig genannte Bildungs- und Arbeitsmarktsystem, zählen der Wohnungsmarkt und das System der Wohnraumversorgung zu einem Teilbereich der Gesellschaft, zu dem ein Zugang besteht oder nicht. Die Wohnsituation lässt sich somit als Ausdruck der Integration in einen spezifischen Teil der Gesellschaft deuten. Aber auch für die Integration in andere Teilsysteme der Gesellschaft (z. B. das Wirtschaftssystem) spielen die Wohnsituation und das umgebende Wohnquartier eine erhebliche Rolle (vgl. Bourdieu 1991; Jepkens und Scholten 2019). So werden als Vorteile der Wohnsituation in einer Gemeinschaftsunterkunft für den weiteren Verlauf der Integration die Argumente genannt, dass Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften besser für die Sozialbetreuung erreichbar sind und ihnen die Orientierung erleichtert wird bzw. sie nicht durch selbstständiges Wohnen überfordert werden (Bundesinstitut für ­Bau-,

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Stadt- und Raumforschung 2017, S. 12). Mehrere und gewichtigere Argumente hingegen werden für die dezentrale Unterbringung von Geflüchteten genannt, so etwa, dass in Wohnungen bessere humanitäre Standards eingehalten werden und die Integration in den Sozialraum leichter gelingt. Dazu zählt auch, dass dezentral in Wohnungen lebende Geflüchtete mehr Kontakte zur ansässigen Bevölkerung haben, ihre Voraussetzungen zum Spracherwerb besser und sie zufriedener mit ihrer Wohnsituation sind, auch weil sie nicht (mehr) dem Konfliktpotenzial ausgesetzt sind, das in Gemeinschaftsunterkünften besteht, in denen Geflüchtete aus verschiedenen Herkunftsländern aufeinandertreffen (ebd.).

3 Forschungsdesign und empirische Grundlage Die nachfolgenden Ergebnisse ergeben eine Zusammenfassung der empirischen Erkenntnisse aus dem Projekt ‚INTESO – Integration im Sozialraum‘ zu dem Bereich ‚Wohnen und Unterbringung' von Menschen mit Fluchterfahrung in Düsseldorf. Die empirische Grundlage bildet das umfangreiche Forschungsmaterial, das für zwei verschiedene Stadtbezirke im Zeitraum von 2016 bis 2019 zusammengetragen wurde und einem multimethodischen Vorgehen entstammt, welches u. a. Expert_inneneninterviews, Gruppendiskussionen, Dokumentenanalysen und sozialräumliche Partizipations- und Beteiligungsmethoden beinhaltet. Insbesondere ist dabei die Fokusgruppe ‚Wohnen‘ hervorzuheben, durch die im Jahr 2018 die Perspektiven und Einschätzungen der relevanten sozialräumlichen Akteur_innen aus dem Bereich ‚Wohnen und Unterbringung‘ in Bezug auf Maßnahmen zur Unterstützung von Menschen mit Fluchterfahrung bei der Wohnraumvermittlung zusammengetragen werden konnten. Zuerst werden die Ergebnisse zur Wohnsituation von Geflüchteten in Düsseldorf beschrieben (Abschn. 4) einschließlich vorhandener Maßnahme- und Hilfesysteme (Abschn. 5) sowie ihrer Bewertung seitens der Expert_innen aus der Praxis (Abschn. 6), bevor der empirische Teil mit einer Herausarbeitung der fördernden und hemmenden Faktoren bei der Wohnraumvermittlung endet (Abschn. 7).

4 Ergebnisse zur Wohnsituation in Düsseldorf für Menschen mit Fluchterfahrung Zunächst werden die empirischen Ergebnisse aus dem Projekt INTESO zur Wohnsituation von Menschen mit Fluchterfahrung in Düsseldorf, vor allem aus der Perspektive der Akteur_innen aus den Unterstützungs- und Hilfesystemen,

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zum Thema Zugang zum hiesigen Wohnungsmarkt thematisiert (Abschn. 4.1), bevor ihre Eindrücke und Einschätzungen zu der Wohnsituation in Gemeinschaftsunterkünften dargestellt werden (Abschn. 4.2).

4.1 Zugang zum regulären Wohnungsmarkt Zunächst zeigt sich anhand vorliegender Daten, dass sich die Unterbringungszahlen geflüchteter Menschen sowohl im gesamten Düsseldorfer Stadtgebiet als auch in den beiden untersuchten Stadtbezirken 5 und 6 im Laufe des Forschungszeitraums des Projektes INTESO – Integration im Sozialraum verändert haben. So wurden in der ersten Untersuchungsphase rd. 7600 Geflüchtete in Düsseldorf untergebracht, von denen 659 Personen im Stadtbezirk 5 und 1820 Personen im Stadtbezirk 6 lebten (vgl. Schlee und Jepkens 2017a, S. 11). Zu Projektende lebten stadtweit noch rd. 4900 Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften (ca. 540 Personen in Stadtbezirk 5 und knapp 1300 in Stadtbezirk 6) (vgl. Landeshauptstadt Düsseldorf 2019a, 2019b, 2019c). So hat sich der Wohnungsmarkt in Düsseldorf, welcher seit Beginn des Projektes als „angespannt“1, „katastrophal“, „schwierig“ und „problematisch“ bewertet wird, datenmäßig zwar etwas entspannt, aber dennoch hat sich die Wohnungslage – im Hinblick auf geeignete Wohnraumsuche – weiter „verschärft“. Sichtbar wird diese Wohnungsproblematik besonders bei Wohnraum im unteren Preissegment. Gerade hier sind der „Druck“ und die „Konkurrenz um bezahlbare Wohnungen“ hoch und potenzieren sich in den Stadtteilen, in denen viele Personen Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein haben (wie bspw. dem untersuchten Stadtbezirk 6). Die Gruppe der Menschen mit Fluchterfahrung gehört – nach Meinung der Expert_innen – zum Zeitpunkt des Auszugs aus Gemeinschaftsunterkünften zumeist zum Kreis der Leistungsempfänger_innen nach SGB II und sucht dementsprechend in der Regel in eben diesen niedrigeren Preissegmenten Wohnraum. Es zeigt sich, dass sie im „Konkurrenzkampf“ um bezahlbaren Wohnraum mit anderen Menschen oftmals eine „erschwerte Ausgangslage“ haben. Hierzu zählen zunächst aufenthaltsrechtliche Restriktionen (v. a. die Wohnsitzauflage). Zudem fehlt es in vielen Fällen zu Beginn an Kenntnissen über das hiesige Wohnungssystem und

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Folgenden sind jene Begriffe im Text, die in doppelten Anführungszeichen stehen, wörtliche Zitate aus den empirischen Befragungen im Rahmen des Projekts INTESO, sofern nicht anderweitig gekennzeichnet.

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über vorhandene Unterstützungssysteme bei der Wohnraumvermittlung. Ebenso führen (anfängliche) sprachliche Hürden zu Schwierigkeiten bei der Akquirierung von Wohnungen sowie der Kommunikation mit potenziellen Vermietenden. Des Weiteren wird berichtet, dass es zum Teil vonseiten der (privaten) Vermietenden eine geringere Bereitschaft gibt, Wohnungen an Menschen mit Fluchterfahrung zu vermieten. Dies – so die Expert_innen – hängt zum einen damit zusammen, dass der Vermietungsprozess als „komplizierter“ und in Verbindung mit „Mehraufwand“ gesehen wird, da im Vorfeld bzw. während der Mietzeit Ämter (bspw.: die Agentur für Arbeit) zwischengeschaltet werden und die dortigen Vorgänge z. T.  „intransparent“ sind oder sich verzögern können. Zum anderen spielt eine Rolle, dass z. T. vonseiten der Vermietenden das Mietverhältnis als unsicher angesehen wird, wenn bspw. unklare Bleibeperspektiven oder sonstige Restriktionen dazu führen, dass die Mietenden nicht längerfristig in der Wohnung bleiben können. Zudem können  Vorurteile eine Rolle spielen, welche aufseiten der Vermietenden und der Nachbarschaft bestehen. Im Hinblick darauf, dass auch ein Teil der Wohnungen im niedrigen Preissegment von privaten Vermietenden zur Verfügung gestellt wird, wird die Wohnungssuche somit weiter erschwert.

4.2 Wohnsituation in Gemeinschaftsunterkünften Die bis hier skizzierten Ursachen führen dazu, dass Menschen mit Fluchthintergrund einen erschwerten Zugang zum regulären Wohnungsmarkt haben und oftmals auch nach Abschluss ihres Verfahrens längerfristig in Gemeinschaftsunterkünften wohnen. Die Unterbringung dort hat erkennbare Auswirkungen auf die individuelle Lebenslage und Zufriedenheit sowie auf die sozialräumliche Integration (vgl. u. a. Lechner und Huber 2017). Auf der persönlichen Ebene wird das Leben in Gemeinschaftsunterkünften dadurch (negativ) beeinflusst, dass es z. T. wenig Privatsphäre gibt: Die Zimmer – oftmals Mehrbettzimmer – sind klein und die Menschen fühlen sich häufig „überwacht“, u. a. durch Sicherheitspersonal. Dazu kommt, dass die Unterbringungssituation die „Isolation“ fördert, da es Besucher_innen (Verwandtschaft, Bekanntschaft, Freund_innen) aufgrund bestimmter Regelungen erschwert wird, die Menschen zu besuchen, bspw. durch Pforten mit Sicherheitspersonal oder Verbote von Übernachtungen. Ebenso zeigt sich, dass die Wohnsituation stigmatisierend wirkt und sich Menschen dafür „schämen“, dort zu leben (vgl. Scholten et al. 2019, S. 21 ff.). Des Weiteren wirkt sich die dortige Unterbringung hinderlich auf die Integration in anderen Lebensbereichen, wie reguläre Bildungs- und

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­ rbeitsmarktsysteme, aus. Beispielsweise wird der Geräuschpegel als hoch und A die Atmosphäre als unruhig beschrieben, was sich negativ  auf ein Lernumfeld oder hinreichend reguläre Schlaf- und Erholungsphasen auswirken kann (vgl. ebd.). Im Hinblick auf die Integration in den Sozialraum, bspw. bezüglich Kontakte zur Nachbarschaft, führen die Lage der Unterkünfte, z. T. in unbewohnter Industrielage und/oder ohne hinreichende Anbindung an den ÖPNV, sowie bauliche Barrieren wie hohe Zäune um die Unterkunft, dazu, dass diese erschwert ist. All dies hat Einfluss auf soziale Kontakte, Austausch- und Begegnungsmöglichkeiten sowie die Nutzung von sozialräumlichen Einrichtungen (Freizeit, Beratung etc.) und bedeutet auch, dass soziale Netzwerke, welche eine wichtige Ressource für die Wohnungssuche und den Zugang zum regulären Wohnungsmarkt bedeuten können, nur schwer aufgebaut und aufrechterhalten werden können (vgl. Schlee und Jepkens 2017b, S. 17 ff.; Scholten et al. 2018, S. 13). Jedoch gibt es (sozialräumliche) Unterstützungs- und Hilfesysteme jenseits privater Netzwerke, welche bei der Wohnungssuche genutzt werden können, die im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden.

5 Maßnahmen und Hilfesysteme Düsseldorfweit gibt es eine Vielzahl an Maßnahmen von privaten, freien und öffentlichen Trägern sowie ein ausgebautes Hilfesystem und zivilgesellschaftliches Engagement, um Menschen mit Fluchterfahrung in den regulären Wohnungsmarkt zu integrieren, und auch von städtischer Seite wurden Schritte unternommen, den Wohnungsmarkt zu entlasten.

5.1 Unterstützung durch die Kommune Bereits vor dem gesteigerten Zuzug von Menschen aus Krisen- und Kriegsregionen gab es in Düsseldorf einen Mangel an Wohnungen, insbesondere in den unteren Preissegmenten, und es wurden Projekte angestoßen, um Sozialwohnungen zu schaffen. So wurde bereits 2013 im Handlungskonzept Wohnen „Zukunft Wohnen Düsseldorf“ festgehalten, dass es für alle Bauvorhaben eine Quotierung für geförderten Wohnbau geben soll: Insgesamt müssen 40 % der neu geplanten Wohneinheiten im öffentlich geförderten und preisgedämpften Segment realisiert werden, davon 20 % bis 30 % öffentlich geförderter Wohnungsbau und 10 % bis

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20 % preisgedämpfter Wohnungsbau (vgl. Landeshauptstadt Düsseldorf 2013, S. 2). Zudem werden vonseiten der Stadt weitere Investitionen in den Wohnungsbau getätigt (u. a. im Wohnungsbau der Städtischen Wohnbaugesellschaft, SWD) und es soll insbesondere Wohnraum für größere Familien und Menschen mit Fluchterfahrung geschaffen werden, was z. T. geförderten Wohnraum beinhaltet. Des Weiteren gibt es Kooperationen zwischen der Stadt und weiteren Organisationen, bspw. der Arbeitsgemeinschaft der Wohnungsunternehmen in Düsseldorf und der Region (AG:WD), welche beinhaltete, dass Wohnungen für Geflüchtete zur Verfügung gestellt werden sollen, und die Stadt arbeitet mit dem BDA (Bund Deutscher Architekten) zusammen, um modulartige Unterkünfte für Geflüchtete zu schaffen. Auch wurde vom Amt für Migration und Integration eine Sammelunterkunft speziell für Auszubildende eingerichtet, in der es Einzelzimmer gibt, welche eine ruhigere Lebens- und Lernsituation fördern sollen. Diese bzw. ähnliche Formate sind in weiteren Unterkünften geplant. Zudem organisierte die Stadt 2017 das Projekt „Integratives Wohnen für Geflüchtete“ (vgl. Landeshauptstadt Düsseldorf 2018b), bei dem es zunächst ein „Probemietverhältnis“ gibt, in dessen Rahmen die Stadt den Vertrag an Stelle der Mietenden übernimmt, aufsuchende und begleitende Hilfe anbietet und anschließend, wenn alles positiv verläuft, der Vertrag an die Bewohner_innen übergeht. Ebenso bietet die Stadt Düsseldorf das Förderprogramm „Erwerb von Belegungs- und Mietpreisbindungen“ an, mithilfe dessen freifinanzierte Wohnungen aus dem Bestand für die Vermietung an einkommensschwache Haushalte akquiriert werden sollen (Landeshauptstadt Düsseldorf 2019d). Für ein (zeitlich begrenztes) Belegungsrecht des Wohnungsamts in nicht gefördertem Wohnungsbau wird den Wohnraumgebenden  bspw. eine Prämie von € 3 pro m2 pro Jahr gezahlt. Zuletzt wird berichtet, dass es im Hinblick auf (erschwerende) Regelungen oder Verfahren zur Wohnraumbeschaffung von städtischer Seite z. T. Anpassungen gab, um auf die besondere Lage von Geflüchteten einzugehen. So werden bspw. höhere Mieten anerkannt oder Kautionen auf Antrag beim Amt für Soziales bereitgestellt. Bezüglich der genannten Maßnahmen, die darauf abzielen, den Wohnungsmarkt zu entlasten, sozialen Wohnungsbau auszuweiten und speziell Wohnraum für Geflüchtete zu schaffen, ist jedoch auch festzuhalten, dass in der Vergangenheit geförderter Wohnraum nicht in jedem Fall konsequent und zielführend geplant und gebaut wurde, sodass in Düsseldorf immer weniger Sozialwohnungen zur Verfügung stehen (vgl. auch Landeshauptstadt Düsseldorf 2018a, S. 87). Ein Akteur aus der Verwaltung beschreibt das Dilemma hinsichtlich des Bedarfs und der Realisierung zusätzlichen Wohnraums folgendermaßen:

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„[…] und dort werden halt 100% sozialgeförderte Wohnungen gebaut. Aber auch erst in Zukunft. […] Aber das sind dann auch nur punktuell Wohnungen. Ich sage jetzt nicht, das ist der Tropfen auf dem heißen Stein, bei der Masse, die benötigt wird. Irgendwann gibt es auch keine Fläche mehr.“

Abschließend wurden auf städtischer Ebene personelle Ressourcen und Aufgaben (neu) organisiert. So wurde beim Amt für Migration und Integration eine „Wohnungsnotfallstelle“ eingerichtet, welche u. a. Menschen nach „Zwangsräumungen“ Unterstützung anbietet. Weiter wird berichtet, dass es im Amt für Soziales speziell eine Ansprechperson gibt, die für die Einzelfallhilfe von Menschen mit Fluchterfahrung zuständig ist, und im Amt für Wohnungswesen wurde eine Stelle geschaffen, bei der sich ein Mitarbeiter um die Wohnraumvermittlung von Menschen mit Fluchterfahrung kümmert. „Beim Wohnungsamt ist ein Mitarbeiter […], er hatte die Funktion, kurze Dienstwege einzuhalten. Kontakt zum Jobcenter, Sozialamt herzustellen, um sich das Ok einzuholen, damit es einfach schneller geht. Wir haben das [ …] an ein paar Stellen so bearbeitet und das hat auch wunderbar geklappt. Das war äußerst positiv.“

Neben rechtlichen und verfahrensbetreffenden Veränderungen gibt es somit kommunale Anlaufstellen zur Unterstützung bei der Wohnungssuche. Nicht nur die Kommune, sondern auch zahlreiche weitere Akteur_innen sowie deren Vernetzung untereinander spielen eine Rolle bei der Wohnraumvermittlung Geflüchteter.

5.2 Unterstützung durch weitere Institutionen Vor allem freie Träger (u. a. Wohlfahrtsverbände) organisieren stadtweit ein breites Angebot zum Thema ‚Wohnen‘. Neben dem generellen Ausbau vorhandener Angebote als Antwort auf eine erhöhte Nachfrage nach Wohnraum wurden Angebote spezifisch auf die Zielgruppe der Menschen mit Fluchterfahrung ausgerichtet, bspw. durch die Einbeziehung von Dolmetschenden oder durch Sprechstunden in Gemeinschaftsunterkünften. Unter anderem werden Informationsveranstaltungen um das Thema Wohnen (bspw. Wohnungssuche, Finanzierung, Beantragung des WBS, mögliche Zusatzkosten) angeboten, Hilfestellungen bei sprachlichen Hürden (bspw. bei Formularen, Telefonaten und persönlichen Terminen) werden bereitgestellt und, wenn möglich, gibt es Begleitangebote, etwa zu Ämtern oder zu Besichtigungsterminen. Zudem wird versucht

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die Begleitung, Betreuung und Unterstützung der Personen auch nach dem Einzug in die eigene Wohnung sicherzustellen, bspw. durch weitere Unterstützung bei der Kommunikation mit Vermietenden, Nachbar_innen etc., oder bei Fragen zum alltäglichen Leben in der Hausgemeinschaft.

5.3 Unterstützung durch ehrenamtliches Engagement Hervorzuheben im Tätigkeitsfeld ‚Wohnen‘ sind ehrenamtlich Engagierte, welche die Hauptamtlichen unterstützen und wichtige Aufgaben erfüllen („Ehrenamtliche erfüllen da einen großen Dienst“). Von besonderer Relevanz bei der ehrenamtlichen Unterstützung sind die sozialen und zeitlichen Ressourcen der Ehrenamtlichen. So verfügen sie in der Regel über „informelle Wissensressourcen“ zum hiesigen privaten Wohnungsmarkt und können wichtige Netzwerkfunktionen übernehmen. „Kennt jemand jemanden, der gehört hat, dass da und da eine Wohnung frei wird. Viel gearbeitet wird über Mundpropaganda.“

Zu den Hauptaufgaben Ehrenamtlicher gehören die Akquise von Wohnraum, die Begleitung zu Ämtern und Besichtigungsterminen, die Unterstützung beim Formularwesen (bei inhaltlichen und sprachlichen Schwierigkeiten) sowie die Kontaktaufnahme und Vermittlung bei Sprachbarrieren (u. a. zu Vermietenden). Zudem organisieren sie in der Regel auch die Betreuung der Personen nach dem Einzug.

5.4 Kooperation und Netzwerke Als weitere wichtige Aspekte, um die Aufgaben der Wohnraumvermittlung zu bearbeiten, werden unabhängig von der Art der Akteur_innen und Unterstützung die gegenwärtige Zusammenarbeit unter den Institutionen sowie der Auf- und Ausbau von Netzwerken gesehen, welcher sowohl die gesamtstädtische als auch die sozialräumliche Ebene einbezieht. Als zentrale Akteur_innen bei der Wohnungsvermittlung werden kommunale Einrichtungen (u. a. Amt für Wohnungswesen, Jugendamt, Jobcenter, Amt für Soziales, Amt für Migration und Integration, hier insbesondere die kommunale Ausländerbehörde), die SWD, freie Träger/Wohlfahrtsverbände (z.  B. die Diakonie, Caritas, Arbeiterwohlfahrt, der Sozialdienst katholischer Frauen und

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Männer Düsseldorf e. V.) sowie einzelne Personen im Sozialraum (Mitarbeitende in den Gemeinschaftsunterkünften, den Mieterbüros, Dolmetschende) genannt. Ebenso gibt es z. T. Zusammenarbeiten mit den Welcome Points (siehe hierzu auch das abschließende Kapitel dieses Bandes). Hierhin werden Personen u. a. verwiesen, um in den Sprechstunden Beratung zum Thema Wohnen zu erhalten oder Unterstützung bei der Suche nach Wohnungen oder bei Umzügen zu bekommen. Zudem sind manche Welcome Points eine Plattform für Austauschtreffen und Arbeitskreise der verschiedenen sozialräumlichen bzw. stadtweiten Akteur_innen und spielen deshalb in der sozialräumlichen Vernetzung eine zentrale Rolle.

6 Bewertung bisheriger Maßnahmen und Unterstützungssysteme Die bisherigen Bemühungen werden weitestgehend positiv bewertet, aber an vielen Stellen sehen die Akteur_innen aus der Verwaltung und Praxis noch Verbesserungs- oder Handlungsbedarf, bspw. bei strukturellen Hürden, bestehend aus gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie rechtlichen Gegebenheiten. Die zentralen Kritikpunkte werden im Folgenden dargestellt.

6.1 Vorhandene kommunale Maßnahmen Einer der größten Kritikpunkte bezieht sich auf die Planung vergangener und zukünftiger (städtischer) Bauvorhaben auf dem Düsseldorfer Wohnungsmarkt. So wird von den meisten Akteur_innen kritisiert, dass es zwar von städtischer Seite Bemühungen gibt, den Wohnungsmarkt zu entspannen, dies aber aus ihrer Sicht insgesamt zu spät und nicht hinreichend geplant wurde. So werden immer noch zu wenige sozial geförderte Wohnungen gebaut. Vonseiten der Befragten wird jedoch auch zu bedenken gegeben, dass eine weitere Verdichtung der Stadt negative Auswirkungen nach sich ziehen kann und bspw. den Wohnstandort unattraktiv macht oder Probleme in der Verkehrsinfrastruktur mit sich bringt. Ebenso wird insgesamt im Hinblick auf den notwendigen Wohnraum kritisch gesehen, dass es in Düsseldorf wenige Flächen gibt, welche noch bebaut werden können. Bei bisherigen kommunalen Maßnahmen wird zudem kritisiert, dass diese die Segregation fördern und es eine starke Konzentration einzelner Personengruppen auf bestimmte Stadtteile oder Wohnobjekte gibt, hierdurch keine Durchmischung stattfindet und sich dies insgesamt negativ auf die Integrationen und/oder den

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Abbau von Ausgrenzung, Stigmatisierung und Vorurteilen auswirkt. Diese Konzentration „potenziert Probleme“. Vonseiten der Akteur_innen aus der Praxis wird weiter negativ angemerkt, dass Regelungen und Verfahren zum Thema Wohnung und hier insbesondere zu Finanzierungsfragen für sie nicht immer verständlich, eindeutig und transparent ausfallen und z. T. Entscheidungen von einzelnen Sachbearbeitenden abhängig sind. Zudem ist ihnen z. T. unklar, welche Stellen wofür zuständig sind. Somit sind vereinzelte Lösungsansätze unbekannt oder mit hohen Barrieren verbunden. Dies führt letztlich dazu, dass nicht alle Personen bestehende Möglichkeiten und rechtliche Ansprüche nutzen (können). Weitere Maßnahmen, wie die Schaffung der Stelle im Amt für Wohnwesen, wurden positiv hervorgehoben, ebenso wie das „Integrative Wohnen/ Probewohnen“ für private Vermietende und der Erwerb von Belegungsrechten, welche gut angenommen werden („finanzielle Anreize funktionieren“), wobei wünschenswert ist, dass sich noch mehr private Vermietende hieran beteiligen.

6.2 Vorhandene Angebote von öffentlichen, freien und privaten Trägern Die meisten Einrichtungen, welche im Bereich Wohnen tätig sind, haben ihr Angebot ausgebaut. Dennoch reichen die personellen und zeitlichen Ressourcen oftmals nicht aus, dem hohen Aufkommen an Beratungs- und Begleitungsbedarf („massiv volle[n] Sprechstunden zum Thema Wohnungssuche“) gerecht zu werden. Um effizienter zu agieren, werden teilweise Informations- und Beratungsangebote für größere Gruppen (bspw. Informationsabende) organisiert, welche jedoch z. T. wenig genutzt werden. Dies liegt u. a. daran, dass die Beratungsbedarfe speziell bzw. individuell sind oder auch kurzfristig geklärt werden müssen, was bei allgemeinen Informationsveranstaltungen nicht möglich ist. Stattdessen wären verstärkt Einzelberatungen und -betreuung notwendig. Des Weiteren orientieren sich die Angebote, u. a. Sprechstunden, zu dem Thema nicht immer an der Lebenssituation der Menschen. Beispielsweise können viele Erwerbstätige keine Sprechstunden im Vormittagsbereich nutzen oder die Angebotsorte sind schlecht erreichbar. Ausreichende Angebote im Nachmittagsbereich und/oder vor Ort, z. B. in den Gemeinschaftsunterkünften, fehlen bislang noch. Im Hinblick auf die Angebotsinhalte wird kritisiert, dass präventive Beratungen und Informationen zu der dauerhaften Finanzierung (bspw. zu Nebenkosten)

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fehlen, sodass zu wenig unternommen wird, um Personen vor bzw. nach Kündigungen und Räumungen zu schützen. Die größten Angebotslücken sehen die Befragten aus der Praxis, der Verwaltung und der Zielgruppe selber in der Beratung, Betreuung und Begleitung nach dem Einzug in die eigene Wohnung.

6.3 Netzwerke und Zusammenarbeit Im Hinblick auf die Teilnahme von weiteren Akteur_innen aus den Unterstützungs- und Hilfesystemen, welche in den Netzwerken bislang noch nicht beteiligt sind, sehen die Befragten kaum weiteren Bedarf. Erkennbar ist jedoch, dass in den informellen und formellen Netzwerken kaum Akteur_innen aus der Zielgruppe vertreten sind und oftmals „über“ sie gesprochen wird und „nicht mit ihnen“. Hierdurch gehen wichtige Ressourcen verloren. Auf der Seite der Institutionen fehlen die Perspektiven, um die Lebenslagen und Bedarfe genau zu kennen, und auf der Seite der Wohnungssuchenden fehlt der Anschluss an die insbesondere informellen Netzwerke, um hierdurch Wohnungen zu finden bzw. auf die individuellen Bedarfe aufmerksam zu machen. Mögliche Gründe hierfür können sein, dass gegenwärtige Netzwerkstrukturen geschlossen sind und zu hohe Barrieren haben, um einen ersten Zugang zu finden und sich aktiv zu beteiligen. Bei der konkreten Zusammenarbeit gibt es noch weiteres Verbesserungspotenzial. So ist der Austausch untereinander z. T. zu intensivieren, u. a. um Zuständigkeiten einzelner Institutionen bekannter zu machen oder Abläufe zu beschleunigen. Eine engere, kontinuierliche Zusammenarbeit mit (potenziellen) Vermietenden wäre zudem wichtig, auch, um gegen Vorurteile, Ressentiments, Rassismus und Stigmatisierung vorzugehen. Hier fehlt es an Austausch- und Informationsangeboten.

7 Fördernde und hindernde Faktoren für die Wohnraumvermittlung In dem Arbeits- und Tätigkeitsfeld mit Menschen mit Fluchterfahrung stellt die Vermittlung in den Wohnungsmarkt eine Schwerpunktaufgabe dar. Dabei kann „keinem Königsweg“ gefolgt werden, vielmehr sind verschiedene Faktoren zu beachten und individuelle Lösungen zu finden. Im Folgenden werden Faktoren zusammengefasst, die von den Expert_innen aus der Praxis zusammengetragen

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wurden und dabei insbesondere auch das Potential der sozialräumlichen Ebene berücksichtigen. Nachhaltige Wohnungspolitik Um insbesondere Personengruppen mit einem erschwerten Zugang zu Wohnungen in den hiesigen Wohnungsmarkt zu integrieren, sind Städte, Kommunen sowie Wohnungsanbietende vor Ort angehalten, eine nachhaltige Wohnungspolitik anzustreben. So sind u. a. Wohnprojekte zu fördern, welche attraktiven Wohnraum im unteren Preissegment schaffen. Um zudem gegen Segregation, Ausgrenzung und hiermit verbundene Stigmatisierung vorzugehen, empfiehlt es sich weiter, stadtweit günstigen Wohnraum zu schaffen und nicht nur in ausgewiesenen Gebieten. Ebenso führt eine stärkere Berücksichtigung von individuellen Wohnbedarfen bei der Wohnungssuche zu höherer Wohnzufriedenheit bei den Wohnungssuchenden und die Lebensumstände der Wohnungssuchenden sind konsequent zu beachten, sodass bspw. Familien mit Kindern in der Nähe von Kitas oder Schulen untergebracht werden. Vernetzung und Zusammenarbeit Auf städtischer und sozialräumlicher Ebene empfiehlt es sich, dass sich Hilfe- und Unterstützungssysteme stärker miteinander vernetzen. So können bspw. Informationen über vorhandene Wohnraumbedarfe oder zur Verfügung stehenden Wohnraum schneller weitergegeben werden. Ebenso führt eine stärkere Zusammenarbeit von Akteur_innen in dem Bereich dazu, dass sich Einrichtungen besser kennenlernen, was mehr Transparenz über Aufgaben, (rechtliche) Zuständigkeiten und Angebote nach sich ziehen würde. Dies wäre förderlich, um bei Bedarf Menschen vor Ort zielgerichtet zu beraten und ggf. an andere Angebote zu verweisen. Wichtig ist, dass auch ehrenamtliche Personen in die Netzwerke eingebunden werden, um Synergien zu schaffen. Angebote Relevant ist es gleichfalls, weiterhin zielgerichtete und passende Angebote im Bereich ‚Wohnen‘ auf- und auszubauen und diese sichtbar zu machen. Als geeignete Angebote werden solche gesehen, die niederschwellig ausgerichtet sind. So sind Angebote zugänglich zu organisieren und vor Ort in den Sozialräumen anzusiedeln, bspw. können Angebote in Gemeinschaftsunterkünften gemacht werden. Auch sind Öffnungszeiten auf die Zielgruppe zuzuschneiden, sodass neben festen Sprechzeiten ebenso Möglichkeiten gegeben werden, individuelle Termine zu vereinbaren. Empfehlenswert ist weiter, dass die Angebote mehrsprachig sind bzw. Dolmetscher_innen verstärkt eingebunden werden. Um das

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Ziel zu erreichen, dass die Menschen dauerhaft in Wohnungen bleiben (können), sollten neben Unterstützungsangeboten bei der Wohnungssuche auch Angebote gemacht werden, welche Informationen über die dauerhafte Finanzierung geben (bspw.: Welche Nebenkosten fallen an? Welche Fördermöglichkeiten gibt es?). Insgesamt ist es ratsam, wenn auch nach dem Einzug Personen, bei Bedarf, als Ansprechpersonen zur Verfügung stehen, bspw. über sogenannte „Pat_innensysteme“. Neben aufkommenden Fragen zur Organisation in der ersten Wohnphase kann über Rechte und Pflichten von Mietenden aufgeklärt werden. Ebenso können die Ansprechpersonen bei Bedarf eine Vermittler_innenrolle einnehmen und bspw. die Kommunikation zu Vermietenden oder Behörden (sprachlich und/ oder inhaltlich) unterstützen. Personelle Ressourcen Um die benötigten personellen Ressourcen der (dauerhaften) Unterstützung abzudecken, empfiehlt es sich, neben hauptamtlichen Mitarbeiter_innen auf die Unterstützung von Ehrenamtlichen zurückzugreifen. Hierzu sind ehrenamtliche Personen einzubeziehen und Anreize zu schaffen, diese zu binden. Insgesamt ist es ratsam, wenn Personen, welche in dem Feld tätig sind – haupt- oder ehrenamtlich –, über rechtliche Rahmenbedingungen in dem Feld verfügen und zudem sozialräumliches Know-how besitzen. Hierzu zählen u. a., dass Ortskenntnisse vorhanden sind und, optimalerweise, die Personen über gute formelle und informelle sozialräumliche Netzwerke verfügen, um bspw. Wohnbedarfe und -angebote vor Ort zusammenzubringen. Stärkung von Nachbarschaften Zuletzt machen die Erfahrungen aus der Praxis deutlich, dass nahräumliche Angebote, bspw. für die Nachbarschaft oder Hausgemeinschaften, sinnvoll sind, um u. a. eine dauerhafte Wohnzufriedenheit herzustellen. So können gemeinsame Aktionen (bspw.: Nachbarschaftsfeste) von alten und neuen Bewohner_innen dazu führen, dass man sich begegnet, austauscht und kennenlernt und hierdurch mögliche Vorurteile abgebaut werden und eine Vergemeinschaftung in der Nachbarschaft stattfindet.

8 Fazit Auch wenn zuvorderst auf der gesamtgesellschaftlichen und politischen sowie rechtlichen Ebene Strukturen und Regelungen zu verändern sind, um den Wohnungsmarkt insgesamt gemeinwohlorientiert sowie sozial gerecht

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a­ uszugestalten und um strukturell schwachen Personen(gruppen), wie Menschen mit Fluchthintergrund, den Zugang zu Wohnraum zu erleichtern, spielt die sozialräumliche Ebene eine relevante Rolle bei dem Thema Wohnen. Wohnraumvermittlung Zunächst zeigt die Praxis, dass Menschen mit Fluchterfahrung oftmals den Sozialraum bei der Wohnungssuche präferieren, in dem sie bereits – in Gemeinschaftsunterkünften – untergebracht wurden. Als Gründe lassen sich zunächst die bereits bekannte Infrastruktur, zu der Nahversorgung und Institutionen wie etwa Kindergärten und Schulen sowie Beratungs- und Unterstützungsangebote zählen, nennen. Ebenso bestehen oftmals schon soziale Kontakte und Netzwerke – wie Nachbarschaften, Bekannte und Freund_innen – in der bekannten Umgebung. Des Weiteren spielt der Sozialraum bei der aktiven Unterstützung der Wohnraumsuche eine Rolle. So zeigt sich  bspw., dass haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter_innen, welche über sozialräumliches Know-how sowie sozialräumliche (informelle und formelle) Netzwerke verfügen, oftmals Wohnungsbedarfe und Wohnungsangebote schneller übereinbringen können. Zudem ist es von großem Vorteil, wenn Angebote zum Thema ‚Wohnen‘ vor Ort im Sozialraum angeboten werden, um so u. a. einen niederschwelligen Zugang zu ermöglichen. Wohnzufriedenheit Auch ist sichtbar, dass das nahräumliche Wohnumfeld einen hohen Einfluss auf die Wohnzufriedenheit hat. Gerade für Menschen mit (vorerst) geringeren Mobilitätsmöglichkeiten, welche u. a. darauf basieren, dass keine individuellen Verkehrsmittel zur Verfügung stehen und der ÖPNV aus Kostengründen oder aufgrund einer schlechten Anbindung nicht genutzt wird, ist der Sozialraum ein relevanter Aufenthalts- und Lebensraum. So zeigt sich, dass insbesondere Menschen mit Fluchterfahrung in ihrer Freizeit Angebote und Orte im Sozialraum aufsuchen (vgl. Scholten et al. 2019) und im nahen Umfeld Unterstützungsangebote wahrnehmen und soziale Netzwerke aufbauen, um sich ihren neuen Lebensraum anzueignen. Dem folgend ist es abschließend sinnvoll, vor Ort im Sozialraum einen intermediären Akteur zu verorten, welcher die vielschichtigen Bedarfe und Möglichkeiten im Hinblick auf das Thema Wohnen bündelt, als Anlaufstelle für Informationen und Beratungen fungiert und Netzwerke etabliert (siehe hierzu auch das abschließende Kapitel dieses Bandes). Nicht zuletzt kann er – als ein zentraler Akteur der integrativen Gemeinwesenarbeit – als Austausch- und Begegnungsplattform von Institutionen sowie Nachbarschaften dienen und die Vergemeinschaftung vorantreiben.

Hindernisse und Gelingensfaktoren der Wohnraumvermittlung …

Literatur

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Literatur Bourdieu, P. (1991). Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum. In M. Wentz (Hrsg.), Stadt-Räume (S. 25–34). Frankfurt a. M. & New York. Bourdieu, P. (1995). Sozialer Raum und,Klassen‘. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen (3. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (Hrsg.). (2017). Integration von Flüchtlingen in den regulären Wohnungsmarkt. BBSR-Online-Publikation 21/2017. Bonn. https://www. bbsr.bund.de/BBSR/DE/Veroeffentlichungen/BBSROnline/2017/bbsr-online-212017-dl.pdf;jsessionid=1E01B95CED23673B86F3BAA66364428F.live11294?__ blob=publicationFile&v=3. Zugegriffen: 19. März 2020. Holm, A. 2014. Wiederkehr der Wohnungsfrage. Aus Politik und Zeitgeschichte 64: 25–30. Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und Bauwesen des Landes Nordrhein-Westfalen (ILS NRW), &  ­ Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung (ZEFIR) (Hrsg.). (2006). Sozialraumanalyse. Soziale, ethnische und demografische Segregation in den nordrhein-westfälischen Städten. Dortmund: ILS NRW. Jepkens, K., & Scholten, L. (2019). INTESO. Integration im Sozialraum: Working Paper Nr. 5: Ehrenamtliche Arbeit mit Geflüchteten: Situation, Herausforderungen, Bedarfe. Ergebnisse einer Online-Befragung ehren- und hauptamtlich Tätiger in Düsseldorf. Düsseldorf. Knabe, J. (2016). Wohnen und Wohnungspolitik als sozialraumbezogenes Handlungsfeld. In F. Kessl & C. Reutlinger (Hrsg.), Handbuch Sozialraum (S. 1–24). Wiesbaden: Springer VS. Krennerich, M. (2018). Ein Recht auf (menschenwürdiges) Wohnen? APuZ (25–26), S. 9-14. Landeshauptstadt Düsseldorf. (2013). Zukunft Wohnen. Düsseldorfer Handlungskonzept für den Wohnungsmarkt. https://www.duesseldorf.de/fileadmin/Amt61/planung/Bilder_ und_Plaene_2017/Handlungskonzept_Wohnungsbau/Handout_Quotierungsregelung. pdf. Zugegriffen: 18. Nov. 2019. Landeshauptstadt Düsseldorf. (2018a). Wohnungsmarktbericht 2018. Statistik & Stadtforschung Nr. 57. https://www.duesseldorf.de/statistik-und-wahlen/statistik-und-stadtforschung/veroeffentlichungen.html#c131031. Zugegriffen: 2. März 2020. Landeshauptstadt Düsseldorf. (2018b). Vermieten Sie Wohnungen an Flüchtlinge. Informationen zum integrativen Wohnen. https://www.duesseldorf.de/fileadmin/Amt54/ Startseite__Amt_54_/grafik/Broschueren/Wohnungen_fuer_Fluechtlinge.pdf. Zugegriffen: 18. Nov. 2019. Landeshauptstadt Düsseldorf. (2019a). Stadtbezirk 5. https://www.duesseldorf.de/fileadmin/ Amt12/statistik/stadtforschung/download/stadtbezirke/Stadtbezirk05.pdf. Zugegriffen: 6.Dez. 2019. Landeshauptstadt Düsseldorf. (2019b). Stadtbezirk 6. https://www.duesseldorf.de/fileadmin/ Amt12/statistik/stadtforschung/download/stadtbezirke/Stadtbezirk06.pdf. Zugegriffen: 6. Dez. 2019. Landeshauptstadt Düsseldorf. (2019c). Düsseldorf kompakt. https://www.duesseldorf.de/ fileadmin/Amt12/statistik/stadtforschung/download/stadtbezirke/Duesseldorf_kompakt. pdf. Zugegriffen: 6. Dez. 2019.

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Lisa Scholten,  Soziologin, M.A., Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, B.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung an der Hochschule Düsseldorf. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Flucht- und Migrationsforschung, Engagementforschung sowie Kinder- und Jugendarbeit. Simone Rehrs, M.Sc., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung an der Hochschule Düsseldorf in den Bereichen Methoden empirischer Sozialforschung, Flucht- und Migrationsforschung, Bildungsforschung und Kinder- und Jugendarbeit. Katja Jepkens,  Diplom-Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Düsseldorf. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Perspektive der Nutzer_innen und Maßnahmen für junge Menschen am Übergang Schule-Beruf.

Praxiseinblick: Wohnst du schon oder wirst du noch untergebracht? Wohnraumvermittlung in Augsburg Corinna Höckesfeld

Zusammenfassung

Städte wachsen, Spekulationen und Privatisierung lassen die Mieten explodieren – Wohnen wird vielerorts zu einem Privileg Wohlhabender. Das Recht auf privaten Wohnraum ist oft nur theoretisch vorhanden, denn insbesondere in Ballungsgebieten sind preiswerte Wohnungen auf dem privaten Wohnungsmarkt, aber auch geförderte Sozialwohnungen knapp. Aufgrund von Mehrfachdiskriminierungen und einer Reihe institutioneller und bürokratischer Hürden stehen Geflüchtete dabei oft am Ende der Reihe der Interessent_innen. Ausgehend von den Erfahrungen des ‚Wohnprojekts Augsburg‘, eines Projekts, das in Augsburg Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund bei der Wohnungssuche unterstützt, beleuchtet der Beitrag den Zugang zum Wohnungsmarkt im Spannungsverhältnis der kommunalen Integrationsarbeit. Er geht dabei der Frage nach, welche Schritte nötig sind, um die selbstständige Orientierung und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund auf einem immer angespannteren Wohnungsmarkt zu fördern. Schlüsselwörter

Wohnen · Wohnsituation · Integration · Kommunale Integration · Geflüchtete · Wohnraumvermittlung · Wohnprojekt Augsburg ·  Flüchtlingsunterkunft · Ehrenamt

C. Höckesfeld (*)  Lehrstuhl für Europäische Ethnologie/Volkskunde, Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_14

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1 Themenaufriss „In einer Zeit der Heimatlosigkeit wird das Wohnen, das Heimischsein, zum Problem. Erst (…), der Mangel, die Abwesenheit zeigt [sic!] uns mit aller Deutlichkeit, was einmal war, und im Schmerz des Verlustes, (…) erfahren wir, was uns fehlt: Heimat, ein Heim, ein Zuhause, in dem wir wohnen und heimisch werden können, (…).“ (Zabrowski 2008, S. 189)

Gerade für Menschen, die ihre Heimat aufgrund von Krieg und Verfolgung verlassen mussten, ist der Umzug in die eigene Wohnung ein wichtiger Schritt in Richtung Normalität – ein Schritt, der für viele Geflüchtete jedoch in weite Ferne rückt, und das nicht nur, weil bezahlbarer Wohnraum angesichts des angespannten Wohnungsmarktes derzeit fehlt oder Mehrfachdiskriminierungen die Suche zusätzlich erschweren. Auch fehlendes Systemwissen über Behördenabläufe oder Worthülsen wie ‚ZKB‘ und Bruttokaltmiete hinterlassen oftmals nicht nur bei Geflüchteten ein großes Fragezeichen. Ebenfalls haupt- und ehrenamtliche Unterstützer_innen stehen häufig vor der Frage: Wie und wo muss ich welchen Antrag abgeben? Wie viel Miete zahlt das Jobcenter? Und was hat es noch einmal mit der SCHUFA auf sich? Wie in dem Beitrag gezeigt werden soll, erfordert die Wohnungssuche nicht nur Geduld, sondern aufgrund des komplexen Themenfeldes auch ein vielfältiges Unterstützungsangebot – nicht nur für Geflüchtete. Wie diese Unterstützung ganz konkret aussehen kann, welche Hürden und Stolperfallen den Wohnungssuchenden, aber auch den Haupt- und Ehrenamtlichen dabei in den Weg gelegt werden, wird im Folgenden näher beleuchtet werden. Neben den Erfahrungen des ‚Wohnprojekts Augsburg‘ sollen dabei die Stimmen der einzelnen Akteur_innen, die im Bereich der Wohnraumversorgung tätig sind, ebenso berücksichtigt werden wie die der Geflüchteten selbst. So sollen strukturelle Merkmale der Wohnraumversorgung beleuchtet, Herausforderungen und Grenzen aufgezeigt sowie beteiligte Akteur_innen aus ethnografischer und alltagskultureller Perspektive nach persönlichen Erfahrungen zwischen Anspruch und Wirklichkeit befragt werden. Grundlage der Ausführungen bilden Praxiserfahrungen aus der Wohnraumvermittlung sowie Interviews mit Akteur_innen aus der kommunalen Integrations- und Flüchtlingsarbeit, die im Rahmen eines Promotionsprojektes1 zur kommunalen Integration von Geflüchteten in Augsburg durchgeführt wurden.

1Das

Promotionsprojekt wird von Corinna Höckesfeld durchgeführt.

Praxiseinblick: …

213

Nach einer deskriptiven Darstellung der Beratungs- und Lebenssituation von Geflüchteten in Augsburg wird in einem ersten Schritt der Frage nachgegangen, welche Hürden und Stolperfallen bei der Wohnungssuche auftreten. Ausgehend von den Erfahrungsberichten und Erkenntnissen aus den Interviews soll dabei kurz die Rolle der eigenen Wohnung beleuchtet und abschließend die Frage gestellt werden, welche Maßnahmen nötig sind, um die Wohnsituation geflüchteter Menschen zu verbessern.

2 Zur Situation in Augsburg Fragt man haupt- und ehrenamtliche Akteur_innen der Asyl- und Migrationsarbeit in Augsburg, wie sie die Situation und Integrationsarbeit in ihrer Stadt wahrnehmen, ergibt sich meist ein sehr positives Bild an Aussagen, wie: „Augsburg ist gut aufgestellt. (…) Also wenn man mal sucht, man findet sich gut zurecht und hat auch gute Ansprechpartner.“ (Interview mit Ehrenamtlichen, 31. August 2018) Ähnlich wird es ebenso von den Ratsuchenden selbst empfunden, wie der aus Afghanistan geflüchtete Aryan2 feststellt: „Mich hat Hilfsorganisationen in der Stadt Augsburg sehr unterstützt. Mich hat ‚Tür an Tür‘ sehr gut unterstützt. (…) Die deutsche Gesellschaft hat mich in Augsburg unterstützt. Aber keine deutsche Ämter (…).“ (Interview mit Aryan 2016) Hier bestätigt sich die auch schon von der Sozialwissenschaftlerin Jutta Aumüller gewonnene Erkenntnis, dass „Kommunen bereits frühzeitig auf die Herausforderungen und Notwendigkeiten der Ansiedlung von Immigranten reagiert und entsprechende Strukturen aufgebaut“ (Aumüller und Bretl 2008, S. 14) haben. So reagierte man auch in Augsburg schon frühzeitig auf die Herausforderungen und hat sich mit dem Verein ‚Tür an Tür‘3 bereits Anfang der 1990er Jahre eine Organisation gegründet, die sich bis heute aktiv für Geflüchtete und Migrant_innen einsetzt. Dies führt zu der „Besonderheit“, wie ein Mitarbeiter der Stadt Augsburg bestätigt, „dass es hier schon alles gibt. Und es gab schon ‚Tür an Tür‘ und es gab alle möglichen guten und schlechten Erfahrungen von Unterbringung durch die Regierung von Schwaben. Neu war die dezentrale

2Der

Name Aryan wurde von der interviewten Person als Pseudonym gewünscht. von dem ersten bayerischen Kirchenasyl hat sich 1992 in Augsburg der Verein ‚Tür an Tür – miteinander wohnen und leben e.V.‘ gegründet, um sich für Rechte und Chancen zugewanderter Menschen einzusetzen. Mehr zum Verein: www.tuerantuer.de. 3Ausgehend

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Unterbringung und gar nicht so sehr die Zahlen. Die haben sich vielleicht nur verdreifacht in Augsburg.“ (Interview mit Mitarbeiter der Stadtverwaltung 2017). Mit einem Migrantenanteil von fast 46 % ist Augsburg eine kulturell vielfältige Einwanderungsstadt mit Menschen aus 171 Nationen. Vielfalt und Diversität prägen schon seit Langem das Stadtbild, was sich insbesondere in der Infrastruktur und Projektlandschaft wie interkulturellen Einrichtungen und Institutionen widerspiegelt. Gerade mit dem bereits erwähnten Verein ‚Tür an Tür – miteinander wohnen und leben‘ und der gleichnamigen ‚Tür an Tür – Integrationsprojekte gGmbH‘4, wie auch dem dazugehörigen Zentrum für interkulturelle Beratung (kurz: zib.) ist in Augsburg eine zentrale und trägerübergreifende Anlaufstelle für Neuzugewanderte geschaffen worden. Gebündelt an einem Ort gibt es neben Erstberatung u. a. auch Deutschlernangebote, Schulungen zu interkulturellen und asylpolitischen Themen und mit dem von ‚Tür an Tür‘ koordinierten Projekt ‚MigraNet‘ zudem ein umfassendes Beratungsangebot zur beruflichen Qualifizierung.5 Etablierten sich damit vor allem im Bereich der Arbeitsmarktintegration feste Beratungsstrukturen und ein großes Netzwerk, das sich bereits vor dem Jahr 2015 dem Thema Integration sowie auch den Herausforderungen und Problemen des interkulturellen und -ethnischen Zusammenlebens auf unterschiedlichste Weise annahmen, fehlen diese Strukturen bislang bei der Wohnraumvermittlung.

2.1 Wohnst du schon oder wirst du noch untergebracht – zur Rolle der eigenen Wohnung Stand August 2019 leben noch rund 2000 Geflüchtete in den insgesamt elf staatlichen Gemeinschafts- und 38 kommunalen dezentralen Unterkünften. Fast die Hälfte dürfte eigentlich bereits privaten Wohnraum beziehen – ein Schritt, der

42005

gründete der Verein ‚Tür an Tür‘ als Hauptgesellschafter die ‚Tür an Tür – Integrationsprojekte gGmbH‘, die seitdem verschiedene lokale, regionale, bundesweite und internationale Projekte zur Arbeitsmarktintegration von Migrant_innen und Geflüchteten initiiert, organisiert und durchgeführt. 5Das durch das Förderprogramm „Integration durch Qualifizierung (IQ)“ geförderte Projekt ist ein Teilprojekt des bundesweiten Förderprogramms „Integration durch Qualifizierung (IQ)“ und „vernetzt seit 2005 relevante Organisationen, Einrichtungen, Institutionen, Unternehmen und Migrant_innenorganisationen um die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Migrationshintergrund in Bayern nachhaltig zu verbessern.“ Mehr zum Projekt: www.migranet.org.

Praxiseinblick: …

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aufgrund des angespannten Wohnungsmarktes jedoch nur wenigen auf Anhieb gelingt, wie eine Heimleiterin beschreibt: Dadurch, „dass sie einfach keinen bezahlbaren Wohnraum mehr finden, bleiben [sie] lange in diesen Unterkünften. (…) Das führt zu ganz viel Frustration, in der Folge dann wieder zu Konflikten. (…) Das heißt, wir haben da teilweise Geschichten von drei, vier Jahren ist gar nicht überraschend, teilweise bis zu zehn, 15 Jahre, die hier in solchen Unterkünften leben müssen auf beengtem Raum.“ (Feldnotiz 30. November 2018) Die Tatsache, dass die Unterkunft somit über Jahre hinweg zu einer ‚Ersatzwohnung‘ wird, stellt gerade vulnerable Gruppen, wie Opfer von psychischer und physischer Gewalt, Menschen mit Behinderung, aber auch Familien und Alleinerziehende, vor erhebliche Schwierigkeiten. Aufgrund fehlender Rückzugs- oder Lernräume und der unterschiedlichen Lebens- und Alltagssituationen kommt es zudem immer wieder zu Stresssituationen, wie ein Bewohner beschreibt: „Für mich ist Stress. Ich muss immer zur Schule gehen, arbeiten, danach ist elf Uhr, zwölf Uhr und dann gehe ich Küche, essen und dann ist so laut, (…) ich kann nicht, wirklich. Bis drei Uhr (…).“ (Interview mit Davood 2018). Während das Leben in der Unterkunft mit zunehmendem Aufenthalt für die meisten Bewohner_innen mit eingeschränkten Selbstbestimmungsmöglichkeiten und Stresssituationen verbunden ist, kehren mit der eigenen Wohnung wieder Ruhe und Normalität in das Leben der Personen ein, wie Farid6 beschreibt: „Dann du hast einfach Ruhe. Du kannst nachdenken. Du kannst etwas verändern in deinem Leben.“ (Interview Farid 2018). Dass Konflikte in Unterkünften „keine Ansammlung von Einzelfällen darstellen, sondern auf tiefergreifende Strukturen zurückzuführen sind“ (Christ et al. 2017, S. 40), konnte bereits in einigen Studien zu Flüchtlingsunterkünften dargelegt werden. So wirkt sich die Wohn- und Unterbringungssituation entscheidend auf den Integrationsprozess und Alltag der Menschen aus. Mit dem Wohnen wird somit nicht nur verdeutlicht, wo der Mensch verweilt und sich aufhält. Im Wohnen manifestiert sich auch der soziale Status. „Der Verlust der Wohnung [bedeutet zumeist] einen erheblichen sozialen Abstieg in unserer Gesellschaft und tendenziell eine Ausgrenzung aus der Gesellschaft.“ (Hannemann 2014, S. 4) Philosophisch betrachtet „gehört Wohnen zu den elementaren Bedürfnissen des Menschen (…). Sie [die Wohnung] steht nicht nur für Schutz vor Witterung und Unwägbarkeiten, sondern auch für

6Der

Name Farid wurde von der interviewten Person als Pseudonym gewünscht.

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I­dentität, Wünsche, Status. Sie ist, im Wortsinn, essenziell“ (Kaltenbrunner und Waltersbacher 2014, S. 3) und „für die meisten Haushalte der sozialräumliche Mittelpunkt“ (Hannemann 2014, S. 3). Fehlt dieser sozialräumliche Mittelpunkt, wirkt sich dies nicht nur auf den Gesundheitszustand negativ aus. Auch Lernund Schulerfolge wie ganz allgemein die Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe leiden darunter, wie folgendes Zitat zeigt: „(…) ich wohne in der Unterkunft und hier bis zwei Uhr in der Nacht gibt es viel Streit, gibt es viel laut. Meine Kinder sind sehr brav, haben sehr gute Note. Aber wenn so weiter wir hier wohnen, dann die Kinder haben Stress und können nicht so gut lernen.“ (Interview mit Said 2018). Während die Wohnsituation in den Unterkünften zum Teil als sehr belastend wahrgenommen wird, „gehen [die Geflüchteten, Anm. d. V.] noch mal völlig neu auf und können plötzlich auch freie Gedanken fassen, wenn sie tatsächlich ihren eigenen Wohnraum haben“ (Interview mit Ehrenamtlichen am 09. August 2018), wie eine Ehrenamtliche beschreibt. Somit kehrt mit der eigenen Wohnung nicht nur Ruhe ein. Für viele Geflüchtete ist das auch der erste Schritt, um wieder ein eigenständiges und selbstverantwortetes Leben zu führen – ein Schritt, der jedoch mit vielen Hürden verbunden ist, wie die weiteren Ausführungen zeigen werden. Das Wohnprojekt Augsburg, eine Kooperation der Tür an Tür – Integrationsprojekte gGmbH und des Diakonischen Werks Augsburg e. V. setzt bei diesen Hürden an und unterstützt Personen mit Flucht- oder Migrationshintergrund bei der Wohnungssuche. Wie genau diese Unterstützung aussieht, welche Erfahrungen die Mitarbeiter_innen bei der Wohnraumvermittlung machen, aber auch, vor welche Herausforderungen sie wie auch die Wohnungssuchenden selbst gestellt sind, soll daher näher erläutert werden.

2.2 Unterstützung bei der Wohnungssuche in Augsburg: Wohnprojekt Augsburg Wie in dem vorhergehenden Kapitel angedeutet, gibt es für den Bereich Wohnen innerhalb der Beratungs- und Projektlandschaft in Augsburg vergleichsweise wenig Anlauf- und Beratungsstellen. Trotz steigenden Bedarfs ist das ‚Wohnprojekt Augsburg‘ das einzige Projekt, das Geflüchtete in Augsburg bei der Wohnungssuche unterstützt. So bestanden in der Vergangenheit mit dem ‚Wohnbüro‘ (1996 bis 2000) von ‚Tür an Tür‘ oder dem Projekt ‚Mov’in‘ (2013 bis 2016) der Diakonie, Caritas und ‚Tür an Tür‘ zwar schon einmal vereinzelt Beratungsstellen, die bei der Wohnungssuche unterstützten. Sowohl das ‚Wohnbüro‘ als auch ‚Mov’in‘ mussten ihre Arbeit jedoch nach drei bis vier Jahren

Praxiseinblick: …

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e­ instellen, da sie keine Weiterfinanzierung erhalten haben. In den ersten Monaten nach ‚Mov’in‘ waren es dann größtenteils Ehrenamtliche, die Wohnungen vermittelt und Geflüchtete bei der Suche unterstützt haben – eine Aufgabe, die jedoch zunehmend frustriert, wie eine Ehrenamtliche berichtet: „Ja, das war schwer. Und ich muss ehrlich sagen, weil das so hoffnungslos ist, ich hab eine Weile lang immer die Annoncen durchtelefoniert und so, das mach ich nicht mehr. Das ist für mich so ein Frust.“ (Interview mit Ehrenamtlichen am 3. Dezember 2018). Vor dem Hintergrund, dass der Bedarf an Ratsuchenden gerade nach dem Ende von ‚Mov’in‘ mehr zu- als abnahm und die Unterstützung nicht mehr nur allein von Ehrenamtlichen übernommen werden konnte, schlossen sich im Jahr 2017 Mitarbeiterinnen der Diakonie, die zum Teil schon bei ‚Mov’in‘ gearbeitet haben, und von ‚Tür an Tür‘ im Rahmen ihrer Tätigkeiten als Migrationsberaterinnen und Ehrenamtskoordinatorin zum ‚Wohnprojekt Augsburg‘ zusammen. Angepasst an die individuellen Bedürfnisse haben sie ein mehrstufiges Konzept entwickelt, das nicht nur Ansprechpartner_innen für die unterschiedlichen Zielgruppen (Geflüchtete, Ehrenamtliche und Vermieter_innen) vorsieht, sondern auch individuelle Informations- und Unterstützungsangebote für die Wohnungssuchenden wie auch für Haupt- und Ehrenamtliche anbietet. Ziel ist es, eine gleichberechtigte Teilhabe und selbstständige Orientierung auf dem Wohnungsmarkt zu fördern.7 Während sich die Ehrenamtskoordinatorin um die Fragen und Unterstützung der Ehrenamtlichen kümmert, indem sie Schulungen und Fortbildungen rund um das Thema Wohnen anbietet oder Austauschtreffen organisiert, sind die beiden Migrationsberaterinnen Ansprechpersonen für Wohnungssuchende und Vermieter_innen. Sie helfen beim Ausfüllen von Formularen und Beantragen von Unterlagen oder vermitteln bei Konflikten und Problemen mit Behörden, wie dem Jobcenter oder der Ausländerbehörde. Da vielen Geflüchteten das Wissen fehlt, wie und wo sie eine Wohnung suchen können, werden im Rahmen sogenannter ‚Mietkurse‘ wichtige Tipps und Informationen zu der Wohnungssuche und den Rechten und Pflichten als Mieter_ in vermittelt. Dass mit dem Besuch eines solchen Kurses nicht jede_r sofort mietfähig ist, ist den Beraterinnen klar. „Wir wollen damit einen ersten Schritt in Richtung Hilfe zur Selbsthilfe leisten und ihnen die wichtigsten Infos zur Wohnungssuche mit auf den Weg geben“ (Gesprächsnotiz Mitarbeiterin Wohnprojekt 2019), sagen sie. Wichtig sei, dass sie lernen, selbst aktiv zu werden. Das klappe nicht immer so gut. „Viele kommen in die Beratung und denken, dass sie

7Mehr

zum Projekt online unter: www.wohnprojekt-augsburg.de.

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C. Höckesfeld

da sofort eine Wohnung bekommen.“ (Gesprächsnotiz Mitarbeiterin Wohnprojekt 2019). Hilfe zur Selbsthilfe soll daher auch das Wohn-Café leisten, wo Ehrenamtliche einmal pro Woche noch einmal individuell bei der Wohnungssuche unterstützen, indem sie bei der Recherche im Internet, dem Einrichten eines E-Mail-Kontos oder dem Formulieren einer E-Mail helfen. Grundsätzlich stellen die Mitarbeiter_innen des Wohnprojekts fest, dass die Gruppe der Wohnungssuchenden sehr heterogen ist und es ganz unterschiedlicher Angebote bedarf, die weit über die reine Wohnungssuche hinausgehen. Wie folgende Ausführungen zeigen, hören die Fragen und Probleme nämlich nicht bei der Schlüsselübergabe auf, sondern es werden vor allem auch nach dem Einzug noch Begleitung und Unterstützung benötigt.

3 Zugang zum Wohnungsmarkt zwischen strukturellen Hürden und persönlichen Vorbehalten Welchen Zugang Geflüchtete zum Wohnungsmarkt haben, hängt primär vom Schutz- und Aufenthaltsstatus der Personen ab. Grundsätzlich gilt: Aus der Unterkunft ausziehen und in privaten Wohnraum einziehen darf nur, wer einen sicheren Aufenthaltstitel hat. Geflüchtete mit einer Aufenthaltsgestattung oder einer Duldung unterliegen – zumindest in Bayern – einer Wohnsitzauflage. Für sie gilt: Wenn sie die Unterkunft wechseln oder ausziehen möchten, ist dies nur nach Antrag möglich, und wenn sie, der/die Ehepartner_in bzw. das minderjährige Kind • mindestens 15 h pro Woche arbeitet und damit mehr als ca. 745 € pro Monat verdient, • eine Ausbildung oder ein Studium beginnt, • an studienvorbereitenden Sprachkursen oder berufsvorbereitenden Maßnahmen zur Aufnahme einer Ausbildung teilnimmt • und die kommunale (Ausländer-)Behörde dem Antrag auf Umzug zustimmt. Geflüchtete, deren Asylverfahren beendet ist, haben in der Regel einen freien Zugang zum Wohnungsmarkt. Mit Zuerkennung des Aufenthaltstitels erhalten sie von dem zuständigen Regierungsbezirk oder der jeweiligen Kommune die Aufforderung, aus der Unterkunft auszuziehen. Sie gelten nun als auszugspflichtig

Praxiseinblick: …

219

und müssen sich aktiv um Wohnraum bemühen, heißt es in einem Schreiben der Regierung von Schwaben – ein Bemühen, das für viele jedoch nicht nur angesichts des angespannten Wohnungsmarktes zu einem schwierigen Unterfangen wird. Auf die größten Hürden wird das Kapitel nun etwas näher eingehen, bevor abschließend Ansätze zur Überwindung vorgestellt werden.

3.1 „Wohnung nur an Personen ohne Kinder und mit sicherem Einkommen zu vermieten“ – Probleme der (Mehrfach-)Diskriminierung Neben der Tatsache, dass in Städten wie Augsburg preiswerte Wohnungen auf dem privaten Immobilienmarkt fehlen und auch sozial geförderte Wohnungen immer knapper werden, endet die Wohnungssuche für viele Geflüchtete nicht selten schon am Telefon. Dass ausländisch klingende Namen und fremdes Aussehen ein Hindernis bei der Wohnungssuche darstellen können, haben mittlerweile einige Studien nachgewiesen8. Diese Erfahrung machen auch in Augsburg Haupt- und Ehrenamtliche. Dennoch stellen sie fest, dass „es sicher schon deutlich weniger geworden [ist] und wer dann persönliche Erfahrungen gesammelt hat, (…) lässt sich da auch sehr leicht bekehren“ (Interview mit Ehrenamtlichen am 9. August 2018). Deutlich häufiger komme es dagegen zu Vorbehalten gegenüber größeren Familien, wie das Zitat einer afghanischen Familie zeigt: „Die Wohnungssuche war besonders für uns schwierig, weil wir siebenköpfige Familie sind. Die wollten nicht uns geben mit sieben Leuten. (…) Als mein Mann angerufen hat und dann die Leute haben gefragt, wie viele Kinder hast du, und dann habe ich gesagt, habe ich fünf Kinder. Dann die Leute, die Telefon gelegt und nicht geantwortet.“ (Interview mit Said, 2018).

Erschwerend kommt hinzu, dass das Angebot an Vier- oder Fünfzimmerwohnungen allgemein sehr begrenzt ist. Und wenn es dennoch einmal eine größere Wohnung auf dem freien Markt gibt, entspricht die Miete oder Größe den sogenannten Mietobergrenzen des Jobcenters oft nicht. Für fünf Personen ist in

8Eine Expertise wurde u. a. im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes erstellt. Vgl.: Müller, A. (2015). Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt Strategien zum Nachweis rassistischer Benachteiligungen. Berlin.

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Augsburg eine Wohnfläche von 105 Quadratmeter vorgesehen, mit einer Bruttokaltmiete von maximal 1.009,80 €. Erst kürzlich habe das Jobcenter eine Wohnung, die eine fünfköpfige Familie in Aussicht hatte, abgelehnt. 74 Quadratmeter, verteilt auf vier Zimmer, seien für fünf Personen zu wenig, so die Begründung. Was vonseiten des Jobcenters gut gemeint ist und einer Überbelegung vorbeugen soll, ist für die einzelnen Familien oft nur schwer verständlich: „Vier Zimmer oder drei – für mich kein Problem. Hauptsache Wohnung. Jetzt wir leben zusammen in eine Zimmer“, (Feldnotiz am 21. Juni 2019) heißt es oft von den Familien. Auch wenn Geflüchtete aufgrund der Familienstruktur oder Herkunft immer wieder benachteiligt warden – die größte Hürde ist und bleibt dennoch das Amt. Wenn Vermieter_innen hören, dass die Miete vom Jobcenter übernommen wird, lehnen viele sofort ab. Vermehrt ist bereits auch schon in den Anzeigen zu lesen: ‚Nicht zu vermieten an Jobcenterkunden‘. Hintergrund mögen vereinzelt Vorbehalte gegenüber Sozialhilfeempfänger_innen sein. Immer häufiger liegt es jedoch daran, dass es im Durchschnitt bis zu sechs oder acht Wochen dauert, bis das Geld für Miete und Kaution vom Jobcenter überwiesen wird – Wochen und Monate, die Vermieter_innen nicht warten wollen und daher lieber an Personen mit festem Einkommen vermieten. Allein diese Beispiele zeigen, dass der Zugang zum Wohnungsmarkt für Geflüchtete stark durch bürokratische Behördenabläufe eingeschränkt ist und sie vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Dies hat zur Folge, dass sie bei der Vergabe oft ganz am Ende der Reihe der Interessent_innen stehen, wie auch eine Ehrenamtliche berichtet: „Zurzeit ist es mit Wohnungen ganz schlimm. Da kommt jetzt überhaupt nichts. Und wenn man anruft, ja, dann haben hunderttausend sich gemeldet. (…) Die Immobilienmakler sagen: Wenn die ‘ne Arbeit haben, dann kriegen sie eventuell eine Wohnung. Aber da sind auch genug, die dastehen und warten.“ (Interview mit Ehrenamtlichen am 31. August 2018).

3.2 Sprache ist das Tor zur Welt und der Schlüssel zur Wohnung „Selbst wenn viele der Geflüchteten mittlerweile schon arbeiten“, erklärt eine Mitarbeiterin, „scheitert die Wohnungssuche oftmals doch auch an den sprachlichen Fähigkeiten“ (Gesprächsnotiz Mitarbeiterin Wohnprojekt 2019) – und das nicht nur, weil Begriffe wie ‚ZKB‘, ‚EBK‘ oder ‚Bruttokaltmiete‘ lediglich selten in Deutschkursen vorkommen und erst einmal gelernt und verstanden werden müssen. Zum Teil verfügen gerade Frauen und alleinerziehende Mütter, aber auch zahlreiche Männer nach wie vor über geringe bis keine Deutschkenntnisse.

Praxiseinblick: …

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Liegt es bei den Frauen zum einen daran, dass es nur wenige Deutschkurse mit Kinderbetreuung gibt und sie aufgrund fehlender Kita- oder Kindergartenplätze keine Betreuung für die Kinder haben und somit keinen Deutschkurs besuchen können, ist bei Männern ein häufiger Grund, dass sie den Deutschkurs oftmals abgebrochen haben, um schnell Geld zu verdienen, und nun in irgendwelchen Aushilfsjobs arbeiten. Dies hat zur Folge, dass sie sowohl bei der Suche als auch bei der Kommunikation mit Ämtern und Vermieter_innen immer auf fremde Hilfe angewiesen sind, wie dieses Beispiel zeigt: „Jetzt hätte sie letzte Woche zwei Besichtigungstermine gehabt“, berichtet eine Ehrenamtliche von einer alleinerziehenden Mutter, die sie begleitet, „doch wusste sie nicht, wie sie ihre E-Mails abruft, und hat nicht verstanden, dass sie den Termin per E-Mail bestätigen muss. (…) Natürlich war die Wohnung dann weg.“ (Feldnotiz am 21. Juni 2019).

3.3 Fehlendes Systemwissen Wie das Beispiel mit der E-Mail zeigt, kommen zu den Sprachbarrieren auch ganz praktische Hindernisse hinzu, und es hakt zum Teil an alltäglichen Dingen, wie dem Bedienen eines E-Mail-Kontos. In den Mietkursen und Gesprächen wurde zudem sichtbar, dass mitunter große Unterschiede zwischen den einzelnen Herkunftsländern und Deutschland dahin gehend bestehen, wie Menschen wohnen und Wohnraum finden. In Ländern wie Eritrea, Afghanistan oder Somalia werden Wohnungen meist über Familien, Freund_innen oder Makler_innen vermittelt und nicht über Zeitungen oder Plattformen wie ‚immoscout‘ oder ‚ebay-kleinanzeigen‘ gesucht. In Ländern wie Syrien oder im Irak ist es zum Teil üblich, dass die Miete bar bezahlt wird, da nur wenige Menschen ein Bankkonto besitzen. Das Prozedere der ‚Wohnungsbewerbung‘ mit den Bewerbungsgepflogenheiten oder die Einrichtung eines Dauerauftrages für die Überweisung der Miete ist für viele Menschen aus diesen Herkunftsländern daher fremd. Wissen und Erfahrungen, die nicht nur bei der Wohnungssuche fehlen, sondern auch nach Schlüsselübergabe. Fragen, was eine Nebenkostenabrechnung ist oder was es bedeutet, wenn an der Wohnungstür das Schild ‚Kehrwoche‘ angebracht ist, stehen dabei ebenso im Raum, wie die Frage, wo ich günstige Möbel besorgen kann. Hinzu kommt das Problem, dass dieses Unwissen und die Verzweiflung der Wohnungssuchenden zunehmend mehr von halbkriminellen Makler_innen ausgenutzt werden, die Geld für Besichtigungstermine oder Vermittlungstätigkeiten nehmen und den Zuschlag für eine Wohnung garantieren.

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C. Höckesfeld

3.4 Von der Unterkunft in die eigene Wohnung Ist eine Wohnung gefunden, geht es darum, diese auch langfristig zu halten – ein Punkt, der aus Sicht der Beraterinnen einer verstärkten Unterstützung bedarf. Dies ergibt sich nicht nur daraus, dass Kündigungen wegen Eigenbedarfs zunehmen und es dadurch vermehrt zu mietrechtlichen Problemen kommt. Auch bei kleineren Alltagsproblemen, beispielsweise wenn der Müll nicht richtig getrennt wird oder zu viele Schuhe vor der Wohnungstür stehen, werden oftmals klärende und vermittelnde Gespräche zwischen Vermieter_innen und Mieter_innen notwendig. Viele Fragen und Probleme treten zum Teil erst Wochen oder Monate nach der Schlüsselübergabe auf, wie eine ehemalige Mitarbeiterin von ‚Mov’in‘ berichtet: „Vermieter von Klienten, die wir damals bei ‚Mov’in‘ vermittelt haben, rufen mich zum Teil auch heute, drei Jahre nach Projektende, noch an, wenn irgendwas nicht passt mit der Wohnung.“ (Gesprächsnotiz Mitarbeiterin Wohnprojekt 2019) Dies verdeutlicht, wie wichtig dauerhafte Beratungsstrukturen sind, da Fragen und Probleme häufig auch über das Projektende bestehen bleiben. Beobachtungen zeigen, dass viele Probleme vor allem darin begründet liegen, dass das Leben in der Unterkunft größtenteils fremdbestimmt und durch feste Vorgaben reglementiert ist. Dadurch, dass in der Unterkunft nur ein Pauschalbetrag für Strom und Wasser bezahlt wird, werden Energieverbrauch und -kosten z. B. oft unterschätzt, was wiederum zu hohen Nachzahlungen und teilweise auch finanziellen Schwierigkeiten führen kann.

3.5 Ankommen in den eigenen vier Wänden – den Ehrenamtlichen sei Dank Die letzten Kapitel haben gezeigt, dass der formelle Weg zu einer Wohnung oft mühsam sein und ein ganzes Bündel an Herausforderungen und Aufgaben mit sich bringen kann. „Ja, wir haben das nicht verstanden, wie kann man eine Wohnung suchen. Und da war Frau Huber uns geholfen. Sie können so, so, Sie können in der Zeitung schauen und lesen oder im Internet“ (Interview mit Said 2018), erzählt Said, der mit ehren- und hauptamtlicher Unterstützung eine Wohnung für seine fünfköpfige Familie gefunden hat. Da vielen Geflüchteten neben dem Wissen und der Erfahrung, wie und wo eine Wohnung gesucht werden kann, vor allem auch soziale Netzwerke und Kontakte fehlen, sind sie meist auf ehren- oder hauptamtliche Unterstützung angewiesen. Gerade das Engagement und die Hilfe der Ehrenamtlichen stellen nach wie vor eine wichtige und notwendige Stütze bei der Wohnungssuche dar.

Praxiseinblick: …

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So haben Ehrenamtliche oftmals nicht nur ein großes Netzwerk, über das freie Wohnungen vermittelt werden, wie eine Ehrenamtliche berichtet: „Wenn tatsächlich mal eine Wohnung frei wird, dass sie [Freunde und Bekannte, Anm. d. V.] dann mich zuerst ansprechen und sagen, hast du nicht jemand? Wenn du jemanden hast und sagst, der hat‘s verdient, dann soll er die Wohnung auch bekommen.“ (Interview mit Ehrenamtlichen am 31. August 2018) Durch den persönlichen Kontakt und die vermittelnde Tätigkeit tragen sie auch dazu bei, Vorbehalte gegenüber Geflüchteten abzubauen. Gerade der persönliche Kontakt zu Einheimischen sei vielen Vermieter_innen sehr wichtig, falls es einmal Probleme gibt. Relevant sei jedoch, dass Ehrenamtliche dabei nicht allein gelassen und von hauptamtlichen Stellen begleitet und unterstützt werden.

4 Integration beginnt mit einem Zuhause – Handlungsempfehlungen und Schlussfazit Die Erfahrungen des Wohnprojekts haben gezeigt, dass die Bedarfe sehr vielschichtig sind und es wichtig ist, auch über die Wohnungsvermittlung hinaus Anlaufstellen und Beratungsstrukturen für Geflüchtete, aber auch Vermieter_ innen zu schaffen, die bei Fragen und Problemen helfen und unterstützen können. Auch wenn die persönlichen Hürden je nach sprachlichen Kenntnissen oder Bildungshintergründen zum Teil ganz unterschiedlich gelagert sind, kristallisieren sich für die Mitarbeiterinnen des Wohnprojekts – jenseits der Tatsache, dass bezahlbarer Wohnraum fehlt – insgesamt drei große Hindernisse heraus: Zum einen erschweren bürokratische Strukturen und komplexe Anträge die Wohnungssuche. Zum anderen sind Geflüchtete vermehrt persönlichen Vorbehalten und Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt und drittens kommen fehlendes Systemwissen und mangelnde Sozialkontakte erschwerend hinzu. Hier gilt es anzusetzen, entsprechende Strukturen sowie Beratungsangebote auszubauen und fest zu etablieren. Aus den Erfahrungen und Ergebnissen der Feldforschung lassen sich daher folgende Handlungsempfehlungen ableiten: Ausbau und Verstetigung der hauptamtlichen Strukturen So wichtig Ehrenamtliche auf der einen Seite sind, so relevant ist es auch, die Grenzen des Ehrenamts zu erkennen. Da der Unterstützungsbedarf nicht allein von Ehrenamtlichen übernommen werden kann, ist es bedeutsam, hauptamtliche Beratungsstrukturen, die u. a. auch bei der Wohnraumakquise und -vermittlung helfen, auszubauen und von Projekt- in Regelstrukturen zu überführen.

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C. Höckesfeld

Wohnen will gelernt sein – Hilfe zur Selbsthilfe Größtes Ziel muss sein, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten und die Handlungskompetenzen der Geflüchteten zu stärken. Aufklärungsarbeit über Rechte und Pflichten als Mieter_innen sowie Schulungen und Workshops können dabei helfen, fehlendes Wissen zu vermitteln, sodass eine selbstständige Orientierung auf dem Wohnungsmarkt ermöglicht wird. Abbau von Vorurteilen und Aufklärung von Vermieter_innen Viele Vermieter_innen sind verunsichert, wenn die Miete vom Jobcenter kommt, oder haben Vorbehalte gegenüber Geflüchteten. Persönliche Kontakte und Begegnungen, aber auch Informationsangebote und Erfahrungsberichte über erfolgreiche Vermietungen sowie Schulungen und interkulturelle Trainings, z. B. für Wohnbaugesellschaften, können helfen, Ängste und Vorbehalte abzubauen, und einen Weg für einen diskriminierungsfreieren Zugang zum Wohnungsmarkt ebnen. Selbstbestimmtes Wohnen statt fremdbestimmte Unterbringung Wie gezeigt, erschwert eine dauerhafte Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften ein selbstbestimmtes Leben. Verbindliche Standards und die Schaffung von Übergangswohnungen, in denen Bewohner_innen mehr Eigenverantwortung (z. B. für ihren Wasser- und Energieverbrauch) übernehmen, könnten helfen, bessere und vor allem stressfreiere Lebensbedingungen für Geflüchtete zu schaffen.

Literatur Aumüller, J., & Bretl, C. (2008). Lokale Gesellschaften und Flüchtlinge: Förderung von sozialer Integration. Die kommunale Integration von Flüchtlingen. Berlin: Edition Parabolis. Christ, S., Meininghaus, E., & Röing, T. (2017). All Day Waiting. Konflikte in Unterkünften für Geflüchtete in NRW. Bonn: bicc Working Paper. Hannemann, C. (2014). Zum Wandel des Wohnens. In Bundeszentrale für politische Bildung. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) – Schwerpunkt: Wohnen, 20–21, 36–43. Kaltenbrunner, R., & Waltersbacher, M. (2014). Besonderheiten und Perspektiven der Wohnsituation in Deutschland. In Bundeszentrale für politische Bildung. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) – Schwerpunkt: Wohnen, 20–21, 3–12. Zabrowski, H. (2008). Zur Phänomenologie des Wohnens. In J. Hasse (Hrsg.), Die Stadt als Wohnraum (S. 180–208). Freiburg: Karl Alber Verlag.

Praxiseinblick: …

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Quellenverzeichnis Interview mit Mitarbeiter der Stadtverwaltung, Augsburg 2017. Interview mit Davood, Augsburg, 2017. Interview mit Ehrenamtlichen, Augsburg, 2018. Interview mit Farid, Augsburg, 2018. Interview mit Said, Augsburg, 2018. Feldnotiz, Augsburg, 30. November 2018. Interview mit Ehrenamtlichen, Augsburg, 9. August 2018. Interview mit Ehrenamtlichen, Augsburg, 31. August 2018. Interview mit Ehrenamtlichen, Augsburg, 3. Dezember 2018. Gesprächsnotiz Mitarbeiterin Wohnprojekt, Augsburg 2019.

Corinna Höckesfeld, M.A. arbeitet als Ehrenamtskoordinatorin bei der Tür an ­Tür-Integrationsprojekte gGmbH und ist dort für das Wohnprojekt Augsburg verantwortlich. Zudem promoviert sie im Fach Europäische Ethnologie an der Universität Augsburg zum Thema Kommunale Integration von Geflüchteten in Augsburg, wo sie auch in der Lehre tätig ist.

Teil IV Handlungsfeld Bildung

Raumerleben junger Geflüchteter. Sozialräumliche Nutzer_innenforschung zu Orten und Räumen der Freizeitgestaltung junger Menschen mit Fluchterfahrung – Präferenzen und (Nicht-)Nutzung Katja Jepkens, Lisa Scholten und Anne van Rießen Zusammenfassung

Um die Integration junger Menschen mit Fluchterfahrung zu fördern, spielt die Freizeitgestaltung eine relevante Rolle: Hier werden u. a. soziale Kontakte aufgebaut und vertieft und es werden relevante (u. a. sprachliche) Kompetenzen erworben. Die Analyseergebnisse sozialräumlicher Nutzer_innenforschung zeigen, dass Freizeitgestaltung – ebenso wie die Menschen selber – stark heterogen ist; dennoch werden Orte, Räume sowie Einrichtungen und Institutionen sichtbar, welche für die Zielgruppen besonders relevant sind, präferiert werden und einen (hohen) Gebrauchswert haben bzw. einen (hohen) Nutzen aufweisen. Hierauf aufbauend wurden anhand von nutzer_innenorientierter und sozialräumlicher Forschung die Nutzungs- und Nichtnutzungsgründe sowie die Ursachen

K. Jepkens (*) · L. Scholten · A. van Rießen  Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] L. Scholten E-Mail: [email protected] A. van Rießen E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_15

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K. Jepkens et al.

der Attraktivität bzw. Unattraktivität von Orten herausgearbeitet, um schließlich Empfehlungen für die Verbesserung des Nutzens und der Qualität von Räumen, Angeboten etc. zu entwickeln. Schlüsselwörter

Sozialräumliche Nutzer_innenforschung · Sozialraum · Sozialraumbezogene Soziale Arbeit · Geflüchtete · Nahraum · Nutzung · Nutzen · Nicht-Nutzen

1 Zum Projekthintergrund Im Mittelpunkt des Forschungsprojekts INTESO standen die Fragen nach Bedingungen und Voraussetzungen einer sozialräumlichen Zuwanderungs- und Integrationsarbeit, nach der Rolle intermediärer Instanzen im Stadtbezirk und nach zuwanderungsbedingten Veränderungen im Sozialraum (siehe dazu ausführlich Kap. „Sozialräumliche Integrationsarbeit im Kontext von Menschen mit Fluchterfahrung – Vorüberlegungen zu Chancen und Grenzen“ und „Vielfalt wird vor Ort gelebt: Praxisforschung zu kommunalen Strategien im Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität“ in diesem Band). Im Rahmen der Erhebungen wurden diesen Fragestellungen entsprechend vor allem durch Akteur_innen(gruppen) im Sozialraum sowie deren Netzwerke in den Blick genommen. Dieser Blick auf die organisierten Kommunikationszusammenhänge exkludiert jedoch, so wurde im Projektverlauf deutlich, systematisch die Bedarfe, Bewertungen und Sinnzuschreibungen der Personen mit Fluchtgeschichte selbst und damit eben jener, die die Angebote und Strukturen dieser komplexen Arbeitszusammenhänge potenziell in Anspruch nehmen (müssen) (vgl. Schlee und Jepkens 2017b, S. 20).

1.1 Das Projekt ‚Raumerleben junger Geflüchteter‘ An die Feststellung dieser Ausschlüsse schloss sich die Entwicklung partizipativer Erhebungsformate mit jenen, die diese Angebote nutzen (sollen), an, um diese Leerstelle zu schließen. Denn die Berücksichtigung und empirische Erfassung der Perspektive der Personen mit Fluchtgeschichte selber – und somit „von unten“ (van Rießen 2016, S. 59) – ist nicht nur normativ-partizipatorisch geboten, sondern gewährleistet zugleich auch einerseits eine „andere“ Perspektive auf die Angebote Sozialer Arbeit sowie andererseits eine bessere Information und Passgenauigkeit institutioneller Angebote und operativer Arrangements. Durch die Einbeziehung

Raumerleben junger Geflüchteter …

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der subjektiven Einblicke der potenziellen Inanspruchnehmenden selbst können zusätzliche individuelle, strukturelle und sozialräumliche Gelingensfaktoren sowie Grenzen und Barrieren von Integration herausgestellt, aber auch ggf. sozialräumliche Strategien zur Handhabung der Integrationsaufgaben ausgearbeitet werden. Dem folgend wurde der Anspruch formuliert, die Perspektive von Menschen mit Fluchtgeschichte verstärkt in die Untersuchung einzubeziehen. Dazu wurde das an INTESO angegliederte Projekt Raumerleben junger Geflüchteter entwickelt und – finanziert durch Mittel des Forschungsinstitutes für gesellschaftliche Weiterentwicklung e. V. (FGW) – umgesetzt. Im Projekt wurde mittels sozialräumlicher Analyse- und Beteiligungsmethoden die sozialräumliche Integration von jungen Erwachsenen und Jugendlichen1 mit Fluchtgeschichte in den Blick genommen.

1.2 Forschungsleitende Fragestellungen Für den Integrationsprozess von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Fluchtgeschichte spielt neben den institutionell organisierten Arrangements insbesondere der Sozialraum eine bedeutende Rolle (Deinet und Scholten 2019; Hovenga und Nier 2019). So zeigen empirische Analysen auf, dass die persönlichen Kontakte und Beziehungen vor Ort relevante Gelingensfaktoren für eine Integration2 sind. Direkte Begegnungen und persönliche Kontakte sowie Beziehungen zwischen Bewohner_innengruppen vor Ort unterstützen nicht nur den Abbau von Hemmschwellen sowie Vorurteilen, sondern fördern Offenheit und Toleranz (vgl. Jepkens und Hauprich 2018). Integration findet so also maßgeblich „vor Ort“ statt, wenngleich dabei stets beachtet werden muss, dass

1Der

Fokus auf Jugendliche und junge Erwachsene ist auch deshalb von besonderem Interesse, da unter den Personen, die in Deutschland in den Jahren 2015 bis 2018 Asyl suchten, der Anteil der Antragsteller_innen am größten ist, die jünger als 30 Jahre alt sind. 2Unter Integration werden hier ein gesamtgesellschaftlicher Prozess und eine gesamtgesellschaftliche sowie politische Querschnittsaufgabe verstanden. In Bezug auf das Thema Flucht bedeutet dies, dass sich sowohl die Menschen der Aufnahmegesellschaft als auch die Ankommenden integrieren (müssen) (vgl. Schlee und Jepkens 2017a, S. 4; Treibel 2015, S. 44 f.). Im Fokus steht hier die Sozialintegration, welche die Integration von individuellen Akteur_innen und ihren Einbezug in bestehende soziale Systeme beschreibt (vgl. Esser 2001).

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K. Jepkens et al.

Integration weder nur von den sozialräumlichen noch ausschließlich von den persönlichen Voraussetzungen abhängig ist3. Unter Raum verstehen wir hier – in Anlehnung an die theoretischen Ansätze von Baacke (1984), Zeiher und Zeiher (1994), Löw (2001) sowie Muchow und Muchow (2012) – einen dynamischen, flexiblen Gegenstand, der sich nicht an geografische Begrenzungen hält und zur gleichen Zeit von verschiedenen Gruppen auf unterschiedlichste Arten genutzt, verändert etc. werden kann. Es wird davon ausgegangen, dass sich Menschen fortlaufend in ihrer Entwicklung Räume aneignen und sich in diesen Räumen aufhalten, dort kommunizieren, agieren und interagieren, somit ein Raum ein Aufenthalts- und Handlungsraum ist. Mit Kessl und Reutlinger (2010) begreifen wir den Raum in einer relationalen Begriffsbestimmung als sozial konstruiert und nicht als „der menschlichen Handlungsdimension vorgeordnet“ (S. 7). Vielmehr gehen wir von einem wechselseitigen Bezug zwischen Raum und Gesellschaft und somit den Subjekten als den Raum konstituierende Akteur_innen aus (a. a. O., S. 25), wobei „bestimmte soziale Prozesse sich in konkreten historischen Konstellationen materialisieren und diese Materialisierungen wiederum den (Mit-)Ausgangspunkt aktueller gesellschaftlicher Prozesse bilden“ (a.  a.  O., S.  12). So sind „räumliche Ordnungen immer als Ausdruck sozialer Praktiken“ (ebd.) zu verstehen. Auf Basis dieser Überlegungen sind wir erstens der Fragestellung nachgegangen, in welchen Räumen bzw. an welchen Stellen, Plätzen und Orten Jugendliche und junge Erwachsene mit und ohne Fluchtgeschichte außerhalb von Schule ihre Zeit verbringen und welche Faktoren hierbei eine Rolle spielen. Hierzu wurde zweitens auch in den Fokus genommen, ob und wenn ja welche Einrichtungen der Sozialen Arbeit, bspw. Jugendfreizeiteinrichtungen, genutzt werden und was die Gründe für die Nutzung oder eben auch Nicht-Nutzung sind. Damit einhergehend stellt sich die Frage, ob und unter welchen Umständen Einrichtungen aus der Perspektive der Jugendlichen und jungen Erwachsenen selbst

3So definieren bspw. Bundesgesetze die Aufenthaltstitel, liegen Integrationskurse in der Hand des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge und werden Zugänge zu Bildung und Kultur jeweils auf Landesebene gestaltet. Auch auf die lokale Arbeitsmarkt- und Wohnraumsituation kann Sozialraumarbeit nur begrenzt Einfluss nehmen. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass der Sozialraum auf der institutionellen Ebene im Hinblick auf die Zielgruppe Menschen mit Flucht- und Zuwanderungsgeschichte in den letzten Jahren eine Aufwertung erfahren hat und Integration maßgeblich vor Ort geschieht sowie dort – in Abhängigkeit und Kontextualisierung zu den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen – gefördert werden kann (vgl. van Rießen und Bleck 2020).

Raumerleben junger Geflüchteter …

233

einen Beitrag zur Integration leisten können (siehe zur offenen Kinder- und Jugendarbeit mit Geflüchteten ausführlich Deinet 2019). In diesem Sinne können aus den hier vorgestellten Erkenntnissen auch Reflexionsmöglichkeiten erarbeitet werden, anhand derer über bestehende Angebote nachgedacht werden kann.

1.3 Sozialräumliche Nutzer_innenforschung mit jungen Menschen mit Fluchthintergrund Im Mittelpunkt der Untersuchung stand die Analyse der Lebens- und Aktionsräume von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Fluchthintergrund aus zwei Düsseldorfer Bezirken, welche in mehrfacher Hinsicht starke Differenzen aufweisen (vgl. Schlee und Jepkens 2017a, b). Durch die Einbeziehung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ohne Fluchthintergrund in die Erhebungen können an relevanten Stellen Aussagen zum Vergleich beider – wohl wissend stark heterogener – Gruppen gezogen werden. Der forschungsleitende Ansatz bestand darin, einerseits die Perspektive der jungen Erwachsenen mit Fluchtgeschichte zu erheben, andererseits aber nicht wieder Einschließungs- und Kategorisierungsprozesse durch die Forschung selber zu initiieren (‚die Geflüchteten‘). Von daher erfolgte in der Ansprache keine Unterscheidung zwischen Jugendlichen mit und ohne Fluchtgeschichte. So wurden mittels sozialräumlicher partizipativ ausgerichteter Analyse- und Beteiligungsmethoden (vgl. Deinet 2007; Deinet und Krisch 2002; van Rießen und Bleck 2013; vgl. zur Partizipation von sozialräumlichen Analyse- und Beteiligungsmethoden insbesondere van Rießen und Bleck 2020) an Orten und Räumen, an denen sich auch Jugendliche mit Fluchtgeschichte aufhalten, all jene Jugendlichen und jungen Erwachsenen in die Forschung miteinbezogen, die Interesse signalisierten. In der Auswertung erfolgte dann jedoch – um spezifisch auch die Räume der Integration aus der Perspektive junger Erwachsener mit Fluchtgeschichte analysieren zu können – eine Differenzierung u. a. nach den Kategorien ‚mit oder ohne Fluchtgeschichte‘. Das eingesetzte empirische Methodenset orientierte sich in erster Linie an sozialräumlichen Methoden, hier der Nadelmethode (vgl. Deinet 2009), und wurde ergänzt durch Kurzinterviews sowie eine strukturierte Rückkopplung und Diskussion der Ergebnisse im Rahmen eines Dialogworkshops. An dem Dialogworkshop nahmen ausschließlich Jugendliche und junge Erwachsene mit Fluchtgeschichte teil. Zusätzlich wurden Expert_inneninterviews mit jenen Personen geführt, die aufgrund ihrer beruflichen Funktion als Sozialarbeiter_innen an Schulen bzw. als Streetworker in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit wichtige

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K. Jepkens et al.

Einblicke und Erkenntnisse zu der Zielgruppe – sowie auch den Zugang zu jenen – beitragen können. Die Kontextualisierung der Erhebung erfolgte dabei mittels des analytischen Fokus der Sozialpädagogischen Nutzer_innenforschung (vgl. Oelerich und Schaarschuch 2005, 2013), die wir hier erweitern und als sozialräumliche Nutzer_innenforschung fassen, um einerseits spezifisch die Akteur_innenposition der Geflüchteten selbst und andererseits insbesondere deren sozialräumliche Nutzung bzw. Nicht-Nutzung von Räumen und Einrichtungen zu fokussieren. Die Sozialpädagogische Nutzer_innenforschung eignet sich als theoretisches Modell für die Bearbeitung der oben genannten Fragestellungen deshalb besonders gut, weil sie als sog. subjektorientierte Forschungsperspektive den Anspruch formuliert, forschend die Perspektive der (potenziellen) Nutzer_innen, also hier spezifisch die Perspektive der Geflüchteten, zu erheben. Sie zielt als subjektorientierte Forschungsperspektive darauf, durch die Priorisierung der Nachfrageseite (Schaarschuch 2003, S. 156) die Stimme derjenigen zu stärken, die weniger gehört werden, und so Partizipation und Emanzipation herzustellen bzw. zu ermöglichen (Bitzan und Bolay 2013; van Rießen und Jepkens 2020). Im Fokus stehen bei den Analysen die Gebrauchswerthaltigkeit und die Nutzung bzw. die Aneignung sozialer Dienstleistungen aus der Perspektive der Nutzer_innen (Oelerich und Schaarschuch 2005). Der ‚Gebrauchswert‘ beschreibt dabei letztlich den Nutzen bzw. im Umkehrschluss den Nicht-Nutzen eines Angebotes, welcher immer im Kontext der aktuellen individuellen Lebenssituation und ihrer Bedingungen zu sehen ist (Oelerich und Schaarschuch 2005). Infolgedessen beschäftigt sich die Sozialpädagogische Nutzer_innenforschung auch mit professionsbezogenen Fragestellungen, dem Gedanken folgend, dass Beurteilungen hinsichtlich der ‚Qualität‘ Sozialer Arbeit immer auch als Kompromiss zwischen den verschiedenen beteiligten Akteur_innen zu verstehen sind. Davon ausgehend handelt es sich hier um eine emanzipatorische Qualitätsdefinition (Bauer 1996, S. 32), bei der das Subjekt zum Ausgangspunkt genommen wird. Folglich geht es im Hinblick auf eine emanzipatorische Perspektive um ein normatives Verständnis von Qualität als „Qualität von ‚unten‘“ (van Rießen 2016, S. 59), im Sinne von Partizipation, Autonomie und Selbstbestimmung der Inanspruchnehmenden Sozialer Arbeit. Durch die Verbindung der methodischen Ansätze zu einer sozialräumlichen Nutzer_innenforschung entstehen für beide Blickwinkel Synergien: Auf der einen Seite wird die sozialräumliche Methode durch die Einbeziehung der Sichtweise der Nutzer_innen um wichtige Erkenntnisse (potenzieller) Nutzer_innen ergänzt und somit um eine ‚andere‘ Perspektive auf den Sozialraum angereichert. Auf der anderen Seite kann die Erweiterung des

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s­ozialräumlichen Blicks für die Nutzer_innenforschung wichtige Erkenntnisse liefern, um die (nah)räumlichen – gesellschaftlichen, politischen sowie infrastrukturellen – Bedingungen und Ressourcen sichtbarer zu machen und somit die Lebensumstände der (potenziellen) Nutzung sowie die Lebensbedingungen der (potentiellen) Nutzer_innen besser zu kontextualisieren (vgl. u. a. van Rießen 2016; Rathgeb 2005). Diese Synergieeffekte können wichtige Ergebnisse liefern, um u. a. die Bedürfnisse der Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowohl von der subjektiven Perspektive als auch von den vorliegenden Rahmenbedingungen her besser einzuordnen (vgl. u. a. Oelerich und Schaarschuch 2013; van Rießen 2020).

2 Ergebnisse sozialräumlicher Nutzer_ innenforschung: Nutzung, Nutzen und Gestaltung von Räumen Im Folgenden werden wir damit beginnen, erstens überblicksartig die beliebten sowie unbeliebten Räume, Stellen und Plätze der Jugendlichen und jungen Erwachsenen darzustellen sowie damit verbunden einen Einblick in ihre räumliche Mobilität zu geben. Dabei werden wir vor allem jedoch – zweitens – den Blick auf die Nutzung und Nicht-Nutzung institutioneller Einrichtungen richten und die jeweiligen Gründe dafür beschreiben. Die Darstellungen in Bezug auf die relevanten Orte erfolgen nach den Differenzkategorien Geschlecht und Fluchthintergrund. Bei den Ergebnissen zur Nutzung bzw. Nicht-Nutzung hingegen liegt der Fokus ausschließlich auf Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Fluchtgeschichte. Zur Einordnung der genannten Orte und Räume greifen wir auf sozialökologische Modelle zurück, spezifisch auf das Zonenmodell nach Dieter Baacke. Die sozialökologischen Modelle stellen „räumliche Bedingungen des Aufwachsens“ in den Mittelpunkt (Deinet 2014, S. 31 f.) und tragen so der „Verflochtenheit und [dem] Zusammenwirken der dauerhaften alltäglichen Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen“ (Engelhard und Herlth 2010, S. 103) Rechnung. Das Zonenmodell von Dieter Baacke beispielsweise ordnet „den Handlungs- und Erfahrungszusammenhang Heranwachsender […] nach vier expandierenden Zonen“ (Baacke 1980, S. 499). Diese vier ökologischen Zonen werden konsekutiv erschlossen und umfassen das „ökologische Zentrum“ („die Familie, das ‚Zuhause‘“), den „ökologischen Nah-raum“ („die ‚Nachbarschaft‘, de[n] Stadtteil, das Viertel“), funktionsspezifische „ökologische Ausschnitte“ („die Schule, […] die Schwimmhalle, die Bank, die Läden“) sowie die

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„­ ökologische Peripherie“ („jenseits der Routinisierung“) (Baacke 1984, S. 84 f.; vgl. auch Deinet 2014, S. 35 f.).

2.1 Relevante Orte und Räume Jugendlicher im Sozialraum und darüber hinaus Die empirischen Analysen anhand der Nadelmethode zeigen deutlich auf, dass relevante Orte der Nutzung Jugendlicher und junger Erwachsener mit und ohne Fluchthintergrund sowohl im Sozialraum selbst – bspw. neben dem Zuhause insbesondere Angebote mit dem Fokus Sport („ökologischer Nahraum“) (Baacke 1984) – als auch darüber hinausgehend – sowohl in anderen Stadtteilen als auch über die Stadtgrenzen hinaus („ökologische Ausschnitte“ oder „ökologische Peripherie“) (ebd.) – verortet sind. Der räumlichen Nähe wird dabei von den jungen Erwachsenen erst einmal keine besondere Bedeutung beigemessen; Mobilität ist ‚machbar‘ und wird weder problematisiert noch besonders herausgestellt. Beliebte Orte Ein zentrales Ergebnis der Analyse ist, dass sich die Freizeitgestaltung zwischen den Jugendlichen mit oder ohne Fluchtgeschichte auf den ersten Blick anhand der Häufigkeit der Nennungen nicht zu unterscheiden scheint (für eine ausführliche Darstellung vgl. Scholten et al. 2019). Bei differenzierter Betrachtung lassen sich jedoch, insbesondere in Verbindung mit den Interviews, in Bezug auf die Kategorien Geschlecht und Fluchtgeschichte Differenzen hinsichtlich der Bedeutung und Nutzung der genannten Orte erkennen. So haben – neben den bei allen Gruppen beliebtesten Orten wie dem „Rhein“ oder der „Altstadt“ – die Bereiche Sport und Fitnessstudio eine besonders große Bedeutung bei den befragten männlichen jungen Erwachsenen mit Fluchtgeschichte; Sport wird auch von den befragten weiblichen jungen Erwachsenen mit Fluchtgeschichte häufig genannt. Dass das eigene Zuhause (hier wird nicht unterschieden zwischen den Wohnformen) ein positiver Ort ist, wird ebenfalls häufiger von den jungen Erwachsenen mit Fluchtgeschichte berichtet, die zudem öfter von der Einbindung in familiäre Aktivitäten berichten. Auch der Aufenthalt in anderen Städten oder Regionen wird häufiger von jungen Erwachsenen mit Fluchtgeschichte angeführt; sie besuchen dort Familie oder Freund_innen und verbringen mit ihnen ihre freie Zeit. Hier zeigt sich eine durch familiäre Bezüge und vergangene Umzüge weniger starke Orientierung an Düsseldorf als Stadt. Auch Orte der Kultur/Bildung nennen Jugendliche mit Fluchtgeschichte häufiger als relevante Orte, bspw. die (Stadtteil-)Bibliothek, die u. a. auch zum Lernen

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und zur Vorbereitung auf die Schule genutzt wird. Gastronomie und Restaurants hingegen führen die jungen Erwachsenen mit Fluchtgeschichte weniger häufig an. Dies könnte auf deren finanzielle Situation zurückzuführen sein: Beim detaillierteren Blick auf die beliebtesten Orte der Befragten mit Fluchtgeschichte wird insgesamt deutlich, dass deren Nutzung größtenteils kostenfrei ist. Unbeliebte Orte Parallel wurden die Jugendlichen auch nach Orten gefragt, an denen sie sich nicht gerne aufhalten bzw. die sie meiden. Hier zeigt sich ebenfalls, dass sich jene Orte, die am häufigsten genannt werden, bei allen Gruppen ähneln. Sichtbar wird auch, dass beliebte Orte wie bspw. „Zuhause“ oder „Altstadt“ von einigen jungen Erwachsenen genau gegenteilig – als unbeliebte Orte – benannt werden. Als übereinstimmend „unbeliebter Ort“ werden der Hauptbahnhof beschrieben, an dem zu viele Menschen unterwegs seien, es sei „schmutzig“, „laut“ und es gebe dort viele „schlechte Menschen“4, aber auch und aus denselben Gründen spezifische Straßenzüge Düsseldorfs sowie die „Altstadt am Abend und in der Nacht“. Die empirischen Analysen machen auch hier Differenzen der Nutzung zwischen weiblichen und männlichen jungen Erwachsenen mit und ohne Fluchtgeschichte sichtbar. So sehen sich die Jugendlichen mit Fluchtgeschichte am Hauptbahnhof zusätzlich zur oben beschriebenen unangenehmen Atmosphäre (polizeilichen) Kontrollen und Verdächtigungen ausgesetzt, während die Jugendlichen ohne Fluchtgeschichte diesen als Ort erleben, an dem wenig Kontrolle gegeben ist. Vor allem die jungen Erwachsenen mit Fluchtgeschichte nannten andere Stadtteile Düsseldorfs und andere Städte als Orte, an denen sie sich nicht gern aufhalten, was wieder auf eine stärkere (über)regionale Orientierung hinweisen kann. Das eigene Zuhause führten fast ausschließlich Jungen mit Fluchtgeschichte als unbeliebten Ort an, wobei sie sich damit auf die Gemeinschaftsunterkünfte für Personen mit Fluchthintergrund beziehen.

2.2 Räumliche Mobilität Wie eingangs beschrieben, ermöglichen die empirischen Analysen auch erste Erkenntnisse über die räumliche Mobilität – bezogen auf die geografische

4Im

Folgenden sind jene Begriffe im Text, die mit doppelten Anführungszeichen gekennzeichnet sind, wörtliche Zitate aus den Befragungen mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus dem Jahr 2018.

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Beweglichkeit. Im Fokus steht im Weiteren die Personengruppe mit Fluchtgeschichte; so können die empirischen Analysen Einblicke in die Lebenswelten aufzeigen, die u. a. zur Förderung der sozialräumlichen Integration dieser Gruppe oder zur Schaffung zielgerichteter Unterstützungsmöglichkeiten im Betreuungs-, Freizeit- oder Beratungsbereich führen. Dabei wird deutlich, dass sich insbesondere junge Erwachsene mit Fluchtgeschichte (über)regional bewegen. Von besonderer Bedeutung sind hierbei Orte, an denen Familien, Bekannte oder Freund_innen leben. Daneben spielen Communitys eine Rolle, wie beispielsweise die Anbindung an bestimmte kulturelle/religiöse Gemeinschaften. Vorwiegend sind dies Städte in der näheren Umgebung. Bei der Ergebnisanalyse werden auch Faktoren erkennbar, die sich negativ auf die Lebenswelten der Zielgruppen auswirken und deren Mobilität einschränken. So gibt es Stadtteile, welche insbesondere von jungen Erwachsenen mit Fluchthintergrund nicht aufgesucht werden: Auf der einen Seite spielen hierbei allgemeine Gründe eine Rolle, wie das Fehlen passender Beschäftigungsmöglichkeiten oder das Vorhandensein einer unangenehmen Atmosphäre („langweilig“, „laut“, „dreckig“). Auf der anderen Seite wird deutlich, dass auch abwertende Erfahrungen, z. B. in Form von Rassismus, dazu führen, dass sie Orte nicht mehr nutzen. Hierdurch erfahren sie diskriminierende Erlebnisse und werden Opfer von Übergriffen. Infolgedessen passen sie ihr Verhalten an und werden so in ihrer Beweglichkeit und Flexibilität begrenzt. Insgesamt zeigt sich, dass die Jugendlichen mit Fluchtgeschichte in der Regel zwar räumlich eine engere Bindung an ihr Zuhause haben, aber bezogen auf die Entfernungen, welche im Freizeitbereich zurückgelegt werden, insbesondere überregional mobiler sind.

2.3 Nutzung und Nicht-Nutzung von (Jugend-) ­­ Freizeiteinrichtungen Im Rahmen der Erhebung wurden die Jugendlichen auch zu Einrichtungen befragt, die sie kennen und nutzen bzw. noch nicht oder nicht mehr nutzen. Die Frage zielte sowohl auf jugendspezifische Einrichtungen wie Angebote der Offenen Kinder- und Jugendarbeit als auch auf Einrichtungen wie Beratungsstellen, Vereine, Kultureinrichtungen o.  Ä., wobei sich die vorliegenden Ergebnisse vor allem auf die Nutzung bzw. Nicht-Nutzung von ­(Jugend-)Freizeiteinrichtungen fokussieren. Die jungen Erwachsenen wurden dabei explizit aufgefordert, anzugeben, aus welchen Gründen sie Einrichtungen (nicht) nutzen.

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Nutzung Wie die Ergebnisse der Nadelmethode zeigen, nutzen viele der Befragten die Jugendfreizeiteinrichtungen im Sozialraum, während Einrichtungen außerhalb des Stadtbezirks wenig genutzt werden. Hier scheint der soziale Nahraum eine größere Bedeutung zu haben als bei der sonstigen Freizeitgestaltung. Die Nutzungsweisen lassen sich unterscheiden: So nutzen die männlichen Befragten die Angebote sehr vielfältig; sie treffen sich mit Freund_innen, nehmen an gemeinsamen Sportangeboten oder an darüber hinausgehenden Angeboten teil, „chillen“, spielen am Computer oder an der Playstation. Manche nutzen die Einrichtungen auch, um ihre Hausaufgaben zu machen oder bei Bewerbungen Unterstützung zu bekommen und mit den Fachkräften zu sprechen. Einige von ihnen nehmen in den Ferien an den angebotenen Ferienprogrammen der Einrichtungen teil. Die weiblichen Befragten beschreiben ebenfalls, dass sie sich in den Jugendfreizeiteinrichtungen mit Freund_innen treffen, um dort einfach zu reden, zu „chillen“ und miteinander zu spielen, in der Disco zu tanzen oder Playstation zu spielen. Sie geben aber seltener an, an Angeboten teilzunehmen, dafür nennen sie häufiger die Inanspruchnahme der Unterstützung bei den Hausaufgaben und dem Schreiben von Bewerbungen. Der Zugang zu den genutzten Angeboten geschieht entweder über professionelle Multiplikator_innen oder über enge Bezugspersonen. Manche Einrichtungen arbeiten auch mit Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete zusammen und organisieren Hol- und Bringdienste. An anderer Stelle bedauern die jungen Erwachsenen, dass die Wege zu einzelnen Einrichtungen (zu) lang seien, sodass ein regelmäßiger Besuch erschwert werde. Dies betont noch einmal die Bedeutung der räumlichen Nähe der Einrichtungen aus Sicht der ­Jugendlichen. Auffällig ist, dass die Mädchen mit Fluchtgeschichte in Jugendfreizeiteinrichtungen im Vergleich zu den anderen drei Gruppen stark unterrepräsentiert sind. Die Befragten geben in den Kurzinterviews Hinweise auf mögliche Gründe. So wirken sowohl Einrichtungen, in denen sich weniger/keine jungen Frauen aufhalten, als auch jene, die keine „interessanten Angebote“ vorhalten, wenig attraktiv, auch, da sie sich zielgruppenspezifische Angebote wünschen. Nicht-Nutzung Zugleich zeigen die Ergebnisse auf, dass ein Teil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Angebote der Jugendfreizeiteinrichtung nicht (mehr) nutzt. Neben dem oben angeführten Grund, dass Einrichtungen (zu) weit vom Wohnort entfernt liegen, werden weitere Nutzungsbarrieren deutlich, welche eine Nicht-Nutzung begründen. Während einigen Befragten keine Einrichtungen ­

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K. Jepkens et al.

bekannt sind, spielen bei jenen, die Einrichtungen kennen, diese jedoch nicht nutzen, verschiedene Faktoren eine Rolle. Die jungen Erwachsenen nutzen Einrichtungen nicht, wenn sie dort niemanden kennen bzw. wenn ihre Freund_innen diese nicht nutzen. In diesem Kontext beschreiben einige Jugendliche ein ‚Schamgefühl‘, wenn sie in den Einrichtungen niemanden kennen, oder weisen darauf hin, dass ihnen die Inanspruchnahme unangenehm ist. Dabei wird nicht deutlich, worin dieses Schamgefühl begründet liegt. Möglicherweise besteht hier eine generelle Skepsis gegenüber Angeboten wie Jugendfreizeiteinrichtungen. Vereinzelt berichten die jungen Erwachsenen auch, dass die Eltern Vorbehalte gegenüber dem Besuch von Jugendfreizeiteinrichtungen haben. Weiter äußern einige Befragte, dass die „Atmosphäre“ in den Einrichtungen unangenehm sei, sei es aufgrund der (zu) vielen Menschen vor Ort oder aufgrund von Menschen, die dort Alkohol konsumieren. Ebenso kommt es vor, dass Einrichtungen nicht mehr aufgesucht werden, da sich aus Sicht der Nutzer_innen kein Gebrauchswert realisieren lässt. So schilderte ein Befragter, dass er in einer Einrichtung nach Hilfe fragte, ihm aber nicht weitergeholfen wurde und er diese danach nicht mehr besuchte. Ein weiterer Aspekt für die Nicht-(mehr-)Nutzung von Jugendfreizeiteinrichtungen liegt auch in der fehlenden Zeit aufgrund anderer Prioritäten und Verpflichtungen, insbesondere durch die Priorisierung selbstorganisierter Freizeitgestaltung gegenüber der Nutzung institutionalisierter Angebote.

3 Diskussion und Interpretation der Ergebnisse Mit Blick auf die Ergebnisse könnte man insgesamt von einer „vorsichtigen“ Raumaneignung durch die Jugendlichen mit Fluchtgeschichte sprechen (Deinet 2018, S. 142 ff.). Diese nutzen ihre Nahräume, ziehen sich aber auch gern ins „ökologische Zentrum“ (Baacke 1984) zurück. Sie erweitern zugleich ihre Handlungsräume und eignen sich unabhängig von räumlicher Nähe „Rauminseln“ (Zeiher 1983) in Form relevanter (Freizeit-)Orte im Stadtgebiet und darüber hinaus an. Die Ergebnisse der sozialräumlichen Nutzer_innenforschung machen dabei deutlich, dass sich relevante, gebrauchswerthaltige (Freizeit-)Orte für Jugendliche und junge Erwachsene mit Fluchtgeschichte durch verschiedene Faktoren auszeichnen. Festhalten lässt sich, dass der Gebrauchswert von Orten für Jugendliche und junge Erwachsene mit Fluchtgeschichte im Zusammenhang steht mit a) der sozialen An- und Einbindung und b) den Inhalten des Angebots. Orte werden dann als gebrauchswerthaltig erlebt, wenn sie die Möglichkeit bieten,

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Kontakte zu knüpfen und Freund_innen zu treffen, und zugleich möglichst kostengünstig in der Nutzung sind. Nutzenlimitierend wirkt es hingegen, wenn die jungen Erwachsenen ausschließende und rassistische Erfahrungen gemacht haben, wenn die Inanspruchnahme aufwändig oder schambesetzt ist oder wenn keine sozialen Kontakte zu anderen Inanspruchnehmenden bestehen (vgl. hierzu auch Jepkens und van Rießen 2020). Auf dieser Grundlage lassen sich für Angebote der Sozialen Arbeit – speziell für Jugendfreizeiteinrichtungen, Beratungs- oder Freizeitangebote für junge Menschen mit Fluchtgeschichte – Empfehlungen ableiten, um deren Gebrauchswerthaltigkeit für die Nutzer_innen zu erhöhen. Zunächst nimmt der Sozialraum eine relevante Rolle ein: Die räumliche Nähe bzw. die gute Erreichbarkeit von Einrichtungen und Angeboten fördert deren Nutzung. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Fluchtgeschichte nannten zudem den Wunsch nach vermehrtem Austausch mit in Deutschland aufgewachsenen jungen Menschen. Durch Begegnungs- und Austauschangebote im sozialen Nahraum entstehen diese gewünschten sozialen Kontakte, möglicherweise auch über die konkret genutzten Angebote hinaus. Wie die Ergebnisse weiter zeigen, nehmen ebenso soziale und persönliche Faktoren Einfluss auf die Inanspruchnahme und den Gebrauchswert der Angebote. So sind Aufenthaltsorte von Freund_innen und/oder Peergruppen sowie der Familie von hoher Bedeutung, ebenso wie individuelle Präferenzen und Ressourcen. Dementsprechend sind Angebote (noch) stärker auf die jeweiligen subjektiven Relevanzkontexte der Nutzer_innen auszurichten, um vorhandene Barrieren abzubauen. Dies kann u. a. dadurch gelingen, dass Angebote intensiver auf die Interessen, Erfahrungen und Ressourcen sowie individuellen Zielsetzungen der (potenziellen) Nutzer_innen Bezug nehmen, welche immer vor dem Hintergrund der gegenwärtigen institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen einzuordnen sind (vgl. van Rießen et al. 2018; Oelerich und Schaarschuch 2005, 2013). Dies bedeutet auch, speziell bei Personen mit Fluchtgeschichte darauf zu achten, dass eine niedrigschwellige, kostengünstige und funktionierende Verkehrsinfrastruktur vorhanden ist. Neben den Einrichtungs- und Angebotsorten, der Niedrigschwelligkeit von Angebotsformaten, den subjektiven Interessen und der Teilnahme/Präsenz von relevanten Personen(gruppen) beeinflussen letztlich auch eigene Erfahrungen und Empfindungen der potenziellen Nutzer_innen die Inanspruchnahme von Einrichtungen und Angeboten (vgl. dazu auch Jepkens und van Rießen 2020). Negative Erlebnisse führen so dazu, dass Orte und Einrichtungen nicht (mehr) aufgesucht werden. Dementsprechend sollten sich Fachkräfte verstärkt für eine offene, tolerante und diskriminierungsfreie Atmosphäre einsetzen, in der sich

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alle akzeptiert und wertgeschätzt fühlen. Um dies zu erreichen, ist es förderlich, Möglichkeitsräume zu schaffen, in denen einerseits negative Erfahrungen thematisiert und andererseits zugleich positive Erfahrungen im sozialen Kontakt gemacht und (inter-)kulturelle Kompetenzen erworben werden können.

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Katja Jepkens,  Diplom-Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Düsseldorf. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Perspektive der Nutzer_innen und Maßnahmen für junge Menschen am Übergang Schule-Beruf. Lisa Scholten,  Soziologin M.A., Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, B.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung an der Hochschule Düsseldorf. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Flucht- und Migrationsforschung, Engagementforschung sowie Kinder- und Jugendarbeit. Dr. Anne van Rießen, ist Professorin für Methoden Sozialer Arbeit am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf. Sie leitet – zusammen mit Prof. Dr. Ulrich Deinet – die Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung und ist stellvertretende Leiterin des interdisziplinären Institutes für lebenswerte und umweltgerechte Stadtentwicklung; ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Partizipation und Demokratisierung Sozialer Arbeit, Nutzer_innenforschung, Sozialraumbezogene Soziale Arbeit und interdisziplinäre Stadtentwicklung.

Die subjektive Perspektive von jungen Geflüchteten als Ausgangspunkt der Kinder- und Jugendhilfe. Erkenntnisse zur Frage der gelingenden Integration am Beispiel des Projektes ‚Hiergeblieben‘ Tobias Kindler und Mandy Falkenreck Zusammenfassung

Das Ankommen junger Geflüchteter stellte und stellt die bundesdeutsche Kinder- und Jugendhilfe vor neue Herausforderungen. Der Beitrag von Tobias Kindler und Mandy Falkenreck nimmt die subjektive Perspektive junger Geflüchteter als Ausgangspunkt, um nach Bedingungen gelingender Integration im Sozialraum zu fragen. Anknüpfend an die Vorstellung einer Kinder- und Jugendhilfe als subjektorientierte Bildungs- und Erziehungspraxis, die immer nur verortet stattfindet, gibt der Beitrag Einblick in ausgewählte Ergebnisse Im Rahmen des Projekts ‚Hiergeblieben‘ entwickelte die FHS St. Gallen von September 2017 bis September 2019 in Zusammenarbeit mit den Einrichtungen Linzgau Kinder- und Jugendhilfe e. V. sowie Rückenwind für Familien Konzept- und Angebotsstrukturen für die Arbeit mit jungen Geflüchteten. Das Projekt wurde vom Kommunalverband für Jugend und Soziales ­Baden-Württemberg (KVJS) gefördert. Als Ergebnis liegt ein mit den Mitarbeiter_ innen und jungen Geflüchteten partizipativ erarbeiteter Orientierungsrahmen für die Arbeit mit jungen geflüchteten Menschen vor (vgl. Linzgau Kinder- und Jugendhilfe e. V. et al. 2019). T. Kindler (*) · M. Falkenreck  Institut für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR), OST – Ostschweizer Fachhochschule, St.Gallen, Schweiz E-Mail: [email protected] M. Falkenreck E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_16

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aus dem Praxisforschungsprojekt ‚Hiergeblieben‘. Dargestellt und diskutiert werden die Bedeutungen beliebter und unbeliebter Orte sowie Einzelfallportraits von jungen Geflüchteten. Dabei zeigt sich, dass Raumaneignung für die Jugendlichen bedeutet, sich zwischen R ­ ückzugs- und Gemeinschaftsorten ‚gut‘ zu bewegen bzw. bewegen zu können. Für den stationären Kontext heißt dies u. a., dass sich die Mitarbeiter_innen nicht allein auf die Arbeit ‚in‘ der Wohngruppe selbst fokussieren, sondern darüber hinaus die jungen Geflüchteten beim Ankommen, Hiersein und Hierbleiben in der Stadt, der Gemeinde, der Region, dem Gemeinwesen vielfältig aktiv unterstützen. Schlüsselwörter

Junge Geflüchtete · Kinder- und Jugendhilfe · Praxisforschung · Integration ·  Raumaneignung · Sozialraum · Soziale Orte · Bildungsprozesse ·  Subjektorientierung

1 Einleitung: Kinder- und Jugendhilfe vor neuen Herausforderungen Während sich die Anzahl der Asylgesuche in Deutschland zwischen 2004 und 2011 relativ stabil zwischen 28.000 und 53.000 bewegte, kam es ab 2012 zu einem außerordentlichen Anstieg der Gesuche mit einem Maximum im Jahr 2016 von 745.545 Gesuchen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF] 2018a, S. 4). Wenn diese Zahl manchmal mit Begriffen wie z. B. „Flüchtlingswelle“ (Deinet 2019, S. 7) umschrieben wird, hilft eine Relationierung: 750.000 Personen entsprechen gerade einmal 0,9 % der ständigen Wohnbevölkerung in Deutschland (Demografieportal 2019). Mit der zunehmenden Ankunft von Menschen aus anderen Ländern kamen auch unbegleitete minderjährige Geflüchtete1 nach Deutschland. Während 2013 noch 2486 Kinder und Jugendliche ohne ihre Eltern einen Asylantrag

1Während

sich der Begriff an dieser Stelle auf eine statistisch erfassbare Bevölkerungsgruppe bezieht, schreiben wir im Folgenden vorwiegend von ‹jungen Geflüchteten›, wozu wir teilweise auch junge Geflüchtete über 18 Jahren zählen.

Die subjektive Perspektive von jungen Geflüchteten …

247

gestellt haben, wurden im Jahr 2016 bereits 35.939 Anträge von Minderjährigen registriert (BAMF 2018b, S. 20). Seither gehen die Zahlen auch in Folge politischer Steuerungs- und Begrenzungsentscheide wieder zurück, sodass im Jahr 2018 insgesamt 4087 Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen gestellt wurden (Mediendienst Integration 2019). Die beschriebenen Bewegungen hatten und haben Auswirkungen auf die Ausgestaltung des bundesdeutschen Kinderund Jugendhilfesystems. Dieses sieht vor, dass unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Obhut genommen und von den Jugendämtern eine Betreuung und Unterbringung organisiert wird. Im Jahr 2015 war dies bei ungefähr 66.000 jungen Geflüchteten der Fall. Inzwischen befinden sich u. a. aufgrund des fortgeschrittenen Alters vieler junger Menschen noch 35.000 junge Geflüchtete in der Zuständigkeit der Jugendhilfe (Mediendienst Integration 2019). Die skizzierten Entwicklungen stellen sowohl die jungen Geflüchteten als auch das System der bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilfe vor entscheidende Herausforderungen (Deinet 2019; Schröer und Graßhoff 2018). Oftmals erweisen sich bestehende Formen und Möglichkeiten der Begleitung, Unterstützung und Unterbringung als wenig situations- und bedarfsgerecht, sodass viele Träger und Einrichtungen der stationären Jugendhilfe ab 2013 ihre Konzeptionen überarbeitet und angepasst haben. Seither rücken Fragen des Ankommens, der Integration oder des Hierbleibens verstärkt in den Fokus von (Praxis-)Forschungsprojekten (u. a. Lechner und Huber 2017; Brüschweiler et al. 2019). Dabei wenig berücksichtig bleibt bislang die subjektive Perspektive bzw. das subjektive Raumerleben der betroffenen jungen Geflüchteten selbst: Was beschreiben sie als ihre alltäglichen Herausforderungen und Bedarfe? Wie kommen sie an den Orten in Deutschland bzw. der stationären Einrichtung an? Welche Angebote und Räume nutzen sie im Gemeinwesen und welche zusätzlichen Angebote wünschen sie sich? Der vorliegende Beitrag schließt an dieser Lücke an und möchte anhand des Praxisforschungsprojektes ‚Hiergeblieben‘ aufzeigen, wie sich junge Geflüchtete den Raum bzw. die Welt im Kontext stationärer Jugendhilfe aneignen und welche Schlussfolgerungen sich daraus für eine gelingende Integration im sozialräumlichen Gefüge vor Ort ergeben. Dabei wird im ersten Abschnitt dargelegt, weshalb eine raumsensible Inblicknahme von Integrationsprozessen junger Geflüchteter wichtig ist. Im zweiten Abschnitt stellen wir Ergebnisse aus dem Projekt ‚Hiergeblieben‘ vor, in dem eine solche Inblicknahme konzeptionell und forscherisch erfolgte, und im dritten Teil diskutieren wir diese Ergebnisse hinsichtlich der Frage, wie die Kinder- und Jugendhilfe die Integration von jungen Geflüchteten im Sozialraum fördern kann.

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2 Raumaneignung von jungen Geflüchteten als Bildungsprozess – subjektorientierte Anschlüsse der Kinder- und Jugendhilfe Die Diskussion der bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilfe zu jungen Geflüchteten beschäftigt sich in den letzten Jahren vor allem mit der Frage, wie eine bedarfsgerechte Kinder- und Jugendhilfe gestaltet werden kann (Schröer und Graßhoff 2018). Dabei stehen derzeit vor allem zwei dominante Perspektiven im Vordergrund: „einerseits die Kinder- und Jugendhilfeplanung und zweitens die Hilfeplanung und -gestaltung“ (ebd., S. 19). Fragen der subjektiven Perspektive von jungen Geflüchteten auf ihre Flucht, auf ihren Ankommens- und Bleibeprozess, auf ihre Lebens- und Bewältigungslagen rücken dabei wenig(er) in den Fokus bzw. werden seltener als fachlicher Ausgangspunkt markiert. Daher ist es zentral, (wieder) an eine Vorstellung einer Kinder- und Jugendhilfe als subjektorientierte Bildungs- und Erziehungspraxis (Scherr 1997, 2011; Walther 2014) anzuknüpfen. Folglich ist Kinder- und Jugendhilfe in diesem Verständnis ein Bildungs- und Erziehungsraum, der eingebettet ist in ein Gemeinwesen und im Zusammenspiel von privaten, halb-öffentlichen und öffentlichen Räumen vor Ort realisiert wird. Im Mittelpunkt dieser subjektorientierten Bildungs- und Erziehungspraxis stehen die Adressat_innen, mit ihrem aktiven Prozess der „Aneignung von Welt und der Ausformung und Entwicklung der Person in dieser Welt“ (Thiersch 2002, S. 59). Krassimir Stojanov (2006) drückt dies treffend so aus: Jeder Mensch muss „in die Welt hinausgehen und dadurch zu sich selbst kommen“ (S. 115). Dieses ungemein offene und nicht zu planende Unterfangen meint Bildung. Ziel einer subjektorientierten Bildungs- und Erziehungspraxis ist es daher, Sorge zu tragen um das leibliche Wohlergehen, Zugänge zur sozialen Welt (auch außerhalb des gegenständlichen Ortes der Einrichtung) zu eröffnen sowie die Anerkennung der Adressat_innen bzw. jungen Geflüchteten, mit denen die Fachkräfte vor Ort arbeiten (Falkenreck 2018). Realisiert werden kann dies immer nur an und entlang sozialer Orte (Bernfeld 1971; Winkler 1988, 2011). Auch wenn über eine lange Zeit hinweg die Bedeutung von Räumen und Orten für sozialpädagogisches Handeln „notorisch übersehen“ (Winkler 2011, S. 30) wurde, „denn Orte sind für die meisten einfach gegeben“ (ebd.), muss berücksichtigt werden, dass „Erziehungs- und Bildungsprozesse nur verortet stattfinden können“ (Dirks und Kessl 2012, S. 507). Michael Winkler hat vor diesem Hintergrund auch den Begriff des „Ortshandelns“ (1988) als zentrales Charakteristikum von Kinder- und Jugendhilfe geprägt: Wie gelingt es, die Einrichtung als Ort so zu beleben und zu gestalten,

Die subjektive Perspektive von jungen Geflüchteten …

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dass Kinder und Jugendliche, vor allem auch solche mit Fluchterfahrung, als Subjekte an und mit ihm leben, sich diesen aneignen und ausgehend davon ihr Leben bilden können? Wichtig dabei ist mitzudenken, dass es nicht alleine ausreicht, „eine Wohngruppe für diese jungen Menschen zu haben, sondern es braucht vielfältige sozialräumliche Gelegenheitsstrukturen für die jungen Menschen und individuelle Arrangements in den Hilfestrukturen“ (Schröer und Graßhoff 2018, S. 20; Oehme 2016). Erst auf dieser Grundlage kann Integration, kann gesellschaftliche Teilhabe von jungen Geflüchteten wie auch von allen Kindern und Jugendlichen ermöglicht werden. Aus der Sicht einer subjektorientierten Bildungs- und Erziehungspraxis geraten also Fragen der Aneignungstätigkeit der jungen Geflüchteten in den Blick: Wie eignen sie sich die (historisch bedingte und vorgefundene) Welt vor Ort, u. a. in Deutschland, an? Wie erleben, erschließen, begreifen, verändern, aber auch funktionieren und wandeln sie diese räumliche und soziale (Um)Welt (mit) um? (Deinet 2019) Diesen Fragen muss und sollte sich Kinder- und Jugendhilfe stellen, will sie den ‚Bedarfen‘ von Kindern und Jugendlichen nachgehen und diese systematisch als Ausgangspunkt einer subjektorientierten Ausrichtung der eigenen professionellen Tätigkeit nehmen. Integration von jungen Geflüchteten zu bespielen und zu ermöglichen bedeutet daher zweierlei: Auf der einen Seite gilt es, die strukturelle, die Vermittlungsebene in den Blick zu nehmen: Welche strukturellen Anforderungen müssen von jungen Geflüchteten bewältigt werden? Wie werden räumliche Zugänge geschaffen oder auch verhindert? Welche werden als gelingende, welche als nicht-gelingende Orte der Integration gesehen und gefördert? etc.; auf der anderen Seite gilt es, diese aber immer zu relationieren mit der Aneignungsperspektive, die Aufschlüsse darüber gibt, wie je individuell die jungen Geflüchteten ihren Bildungsprozess gestalten: Wie gehen die Geflüchteten mit den strukturellen Anforderungen um? Was sind relevante (beliebte wie unbeliebte) Orte für junge Geflüchtete?

3 Raumaneignung von jungen Geflüchteten – empirische Perspektiven aus dem Projekt ‚Hiergeblieben‘ Wie eingangs erwähnt, sahen sich ab 2015 viele Einrichtungen der bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilfe mit einem stark zunehmenden Bedarf nach Plätzen für junge Geflüchtete und damit mit ungeklärten konzeptionellen sowie alltagspraktischen Fragestellungen konfrontiert. An diesen setzte das

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Projekt ‚Hiergeblieben‘ an. Im Rahmen des zweijährigen Praxisforschungsprojekts wurden in Zusammenarbeit mit den Einrichtungen Linzgau Kinder- und Jugendhilfe e. V. sowie Rückenwind für Familien Konzepte und Angebotsstrukturen für die Arbeit mit jungen Geflüchteten entwickelt, erprobt und evaluiert. Dieser Prozess erfolgte entlang eines partizipativen Forschungsverständnisses im Dialog und im gemeinsamen Handeln mit den involvierten bzw. betroffenen Personen und Einrichtungen. Dabei waren die Perspektiven der Mitarbeiter_innen ebenso von Interesse wie diejenigen von ehrenamtlich Engagierten und geflüchteten jungen Menschen. Im Folgenden stellen wir Ergebnisse aus der Forschung mit den jungen Geflüchteten dar. Das Erkenntnisinteresse galt der Frage, wie sich die jungen Geflüchteten in den beiden Einrichtungen die Welt vor Ort aneignen. Als leitende Fragestellung wurde formuliert: „Wie sind die jungen Geflüchteten hier?“ Um die Perspektive der jungen Geflüchteten auf ihre Aneignungstätigkeit in den Blick nehmen zu können, forschte das Projektteam des IFSAR2 zwischen Mai und August 2018 mit zehn in einer Jugendwohngruppe sowie drei im betreuten Jugendwohnen untergebrachten jungen Geflüchteten. Ursprünglich war angedacht, mit den beiden mitforschenden Gruppen der jungen Geflüchteten sowohl die Nadelmethode als auch ein autofotografisches Vorgehen anzuwenden (Deinet und Krisch 2009a, b), um eine Vergleichbarkeit zwischen den Gruppen gewährleisten zu können. Die drei ambulant wohnenden jungen Geflüchteten bekundeten jedoch, dass ihnen weder die Nadelmethode noch die gestellte Aufgabe der Autofotografie behagen würden und sie den Forscher_innen lieber ihre Gegend zeigen wollten. In diesem Sinne wurde der Forschungszugang den Bedürfnissen der jungen Geflüchteten angepasst. Gemeinsam mit den im betreuten Jugendwohnen lebenden Geflüchteten haben wir dann eine Stadtbegehung durchgeführt, uns von ihnen an ihre beliebten und weniger beliebten Orte führen lassen, diese gemeinsam fotografiert und währenddessen und im Nachhinein erzählen lassen, welche Bedeutung diese Orte für sie haben. Abschweifungen an geografisch weiter entfernte oder virtuelle (und somit nicht direkt physisch zugängliche) Räume waren dabei erlaubt bzw. sogar explizit erwünscht. Somit kamen insgesamt vier sich ergänzende Methoden in zwei

2Institut

für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR). Projektmitarbeiter_innen: Christian Reutlinger, Stephan Schlenker, Tobias Kindler und Mandy Falkenreck. Studentische Mitarbeiterin bei der Forschung mit den jungen Geflüchteten: Corina Bieri.

Die subjektive Perspektive von jungen Geflüchteten …

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v­ erschiedenen Gruppen zum Einsatz: Mit den stationär untergebrachten jungen Geflüchteten fanden die Nadelmethode und die Autofotografie Anwendung, mit den im betreuten Jugendwohnen lebenden jungen Geflüchteten begaben wir uns auf eine Stadtbegehung, fotografierten und werteten unsere Eindrücke in Form von Gesprächen und subjektiven Landkarten aus (Deinet und Krisch 2009c).

3.1 Beliebte und unbeliebte Orte der jungen Geflüchteten: Zwischen Rückzug, Gemeinschaft und Aktivitäten Die Ergebnisse aus der Nadel- und autofotografischen Methode mit den in der Jugendwohngruppe untergebrachten jungen Geflüchteten weisen übereinstimmend auf drei beliebte Orte hin: Orte des Rückzugs, Orte der Gemeinschaft und Orte der Aktivität. 1. Orte des Rückzugs und der Ruhe werden von den jungen Geflüchteten als sehr relevant empfunden. Solche Orte sind für sie beispielsweise der Balkon und die eigenen Zimmer in der Einrichtung, aber auch öffentliche Erholungsorte wie Parks der nahegelegenen Städte. Wenn sich die jungen Geflüchteten an diesen Plätzen aufhalten, genießen sie es, für sich alleine zu sein. Sie schätzen die frische Luft und eine schöne Aussicht. Außerdem beschäftigen sie sich dabei gerne mit dem Handy, trinken Kaffee oder Tee oder hören Musik. In einer Einrichtung, in der verschiedene Jugendliche zusammenwohnen, scheint es wichtig zu sein, dass Räume für Rückzug und Ruhe sowohl in der Einrichtung als auch in der nahen räumlichen Umgebung zur Verfügung stehen. So erhalten die jungen Geflüchteten die Möglichkeit, für sich zu sein, vom Alltag abzuschalten oder ungestört mit Familienmitgliedern und Freund_innen aus ihrem Herkunftsland zu kommunizieren. 2. Orte der Gemeinschaft werden von den jungen Geflüchteten ebenfalls als zentral markiert. Gemeinschaft bedeutet für sie, Zeit mit Jugendlichen, Betreuer_innen, Freund_innen aus der Schule und den Vereinen oder dem/ der Partner_in zu verbringen. Der Gemeinschaftsraum der stationären Wohngruppe bietet dafür einen Platz. Die jungen Geflüchteten haben dort die Möglichkeit, gemeinsam zu essen, Karten zu spielen, zu gamen oder fernzusehen. Der Raum wird als Treffpunkt angesehen. Auch der Fußballplatz in der Nähe der Einrichtung wird genutzt, um in Kontakt zu treten. In der nahegelegenen Stadt sind verschiedene öffentlich-bekannte Orte sowie Cafés

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beliebte Orte, an denen sich die jungen Geflüchteten gerne mit Freund_innen oder Partner_in verabreden. Der Weg von der Einrichtung in die Stadt ist jedoch umständlich, da die Einrichtung im (mit öffentlichen Verkehrsmitteln schwer zugänglichen) Umland liegt. Orte der Gemeinschaft ermöglichen es den jungen Geflüchteten, neue Kontakte zu knüpfen, bestehende Beziehungen zu pflegen und gemeinsame Aktivitäten auszuüben. 3. Orte der Aktivität zählen ebenso zu den relevantesten Orten für die stationär untergebrachten jungen Geflüchteten. Der Fußballplatz neben der Einrichtung bietet ihnen hierfür einen Raum. Auch das Schwimmen oder Sonnenbaden sowie das Fahrrad- und Tretbootfahren oder Volleyballspielen an öffentlich bekannten Orten der nahegelegenen Stadt sind beliebte Freizeitbeschäftigungen. Die genannten Aktivitäten können dabei teils alleine, teils in Gruppen ausgeübt werden und ermöglichen den jungen Geflüchteten einen Ausgleich in ihrem Alltag. Als unbeliebt beschrieben die jungen Geflüchteten diejenigen Orte, an denen mangelnde Hygiene herrscht. Dazu zählen beispielsweise die Bahnhöfe in den nahegelegenen Städten oder auch eine der Toiletten in der stationären Einrichtung. Diese verfügt über keine ausreichende Belüftung und ist nicht sauber. Auch Orte mit erhöhtem Konfliktpotenzial meiden die jungen Geflüchteten tendenziell oder äußern diesbezüglich ein ambivalentes Verhältnis. So werden ebenfalls in diesem Zusammenhang erneut die Bahnhöfe der nahegelegenen Städte prominent genannt, u. a. deshalb, weil sich dort Personen aufhalten, die bei den jungen Geflüchteten Unbehagen auslösen. Dazu zählen z. B. Betrunkene, Raucher_innen, Obdachlose oder auch Drogendealer_innen. Ebenso die Anwesenheit der Polizei gefällt den jungen Geflüchteten nicht. Doch trotz hoher Polizeipräsenz geben die jungen Geflüchteten an, nicht häufig oder gar nicht mit einer Ausweiskontrolle zu rechnen. Einer der jungen Geflüchteten sieht Snapchat als einen negativen Ort, da dort das Trinken von Alkohol übermäßig zelebriert werde. Insgesamt wurde auch das Dorf, in dem sich die Einrichtung befindet, als unbeliebt beschrieben. Die jungen Geflüchteten halten sich zwar generell gerne in der Einrichtung auf, in dem Dorf selber ist jedoch nichts los, sodass die jungen Männer eher in eine der nahegelegenen Städte fahren. In ethnografischen ­Tür-und-Angel-Gesprächen mit den Mitarbeiter_innen der Einrichtung zeigten sich gewisse Widersprüche zwischen den Aussagen der jungen Geflüchteten und den Beobachtungen der Mitarbeiter_innen. Diese stellen fest, dass sich die jungen Geflüchteten durchaus auch an Orten mit erhöhtem Konfliktpotenzial aufhalten, was u. a. auf die benannte Ambivalenz solcher Orte hinweist.

Die subjektive Perspektive von jungen Geflüchteten …

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3.2 Ergänzende Einzelfallportraits der jungen Geflüchteten: „Gut“ hier sein und bleiben Ergänzend zur Befragung der stationär untergebrachten jungen Geflüchteten interessierten wir uns in der Stadtbegehung mit den drei ambulant wohnenden jungen Männern stärker für das Raumerleben und die individuelle Qualität von Orten. Auch hier fragten wir danach, „wie die jungen Geflüchteten hier sind“. Schaut man sich an, wie Mustafa3 ‚hier‘ in der Stadt der betreuten Jugendwohngruppe ist, kann festgehalten werden, dass es für ihn zentral ist, „gut“ hier zu sein und hierzubleiben in Deutschland. „Gut“ bedeutet für ihn zunächst auf einer abstrakten Ebene, dass er angenehm leben, sich wohlfühlen und den von verschiedenen Stellen an ihn gestellten Ansprüchen gerecht werden will. Sein Verständnis von „gut“ erarbeitet Mustafa in Gesprächen mit Landsleuten und deutschen Freund_innen. Er spricht mit ihnen z. B. darüber, „was gut und was nicht gut ist, wie die Betreuer sind, was sie machen: Schule, Ausbildung, Arbeiten“ (Protokoll 1 2018, S. 1). Dieser Dreischritt mit dem Ziel einer guten Arbeit gehört für Mustafa zu einem guten Hiersein und Hierbleiben dazu und eröffnet ihm die Perspektive, seiner Familie im Herkunftsland zukünftig Geld schicken zu können. Zu einem guten Hiersein zählt für Mustafa auch, dass es seiner Familie gut geht. Auf die Frage nach seinem größten Traum antwortet er: „Ausbildung, Arbeit, dass es meiner Familie gut geht und dass sie herkommen kann. Wenn es meiner Familie gut geht, geht es mir auch gut“ (ebd.). Er steht mit Familienangehörigen vor allem über Facebook Messenger in Kontakt, wobei er nie genau weiß, wann er angerufen wird. Deshalb versucht er, so oft wie möglich online und erreichbar zu sein. Neben dieser Beziehung im Hier und Jetzt über eine weite geografische Distanz pflegt Mustafa Beziehungen mit Peers in der unmittelbaren Umgebung. Mustafa hatte bis vor kurzem eine Freundin und trifft sich in seiner Freizeit mit Deutschen und Freund_innen aus seinem Herkunftsland, wobei er lieber mit deutschen Jugendlichen unterwegs ist – seine Landsleute trinken viel Alkohol und „tun dann blöd“, so Mustafa. Um sich zu verabreden, schreibt oder telefoniert er mit seinen Freund_innen, trifft sich dann mit ihnen am Bahnhof (den er nicht mag – dort gebe es häufig Stress) und zieht von dort aus weiter. Mustafa hält sich gerne an „schönen“ Orten auf. Er verwendet auch oft das Adjektiv „schön“ bei der Beschreibung von Orten und

3Namen

der jungen Geflüchteten wurden anonymisiert.

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kommentiert mehrfach schöne Häuser und Wohnungen. Zum Beispiel gefällt ihm ein Picknickplatz im Park über der Stadt. Dort chillt er mit Freund_innen, sie machen Fotos, spazieren, feiern, hören Musik, grillen oder kiffen gelegentlich. Eine ähnliche Stelle nutzt Mustafa in einem weiter entfernten Stadtteil. Auf einer Anhöhe genießt er den schönen Ausblick über den ganzen See. Dort sei es „geil“ zum Chillen und Fotografieren, das Handysignal sei jedoch schlecht. Am See könne man gut schwimmen. Abends sei es in dem Stadtteil etwas gruselig, da es dort viele Bäume und einen „verrückten Deutschen“ gebe. Andere beliebte Aufenthaltsorte in der Stadt sind der Jugendtreff, wo Mustafa Playstation, Billard und Tischfußball spielt, und ein Park am See, den er etwa zweimal pro Woche besuche, im Sommer auch zum Schwimmen. Manchmal geht Mustafa in ein größeres Einkaufszentrum in der Stadt, um zu chillen oder einzukaufen. Für größere Einkäufe fährt Mustafa jedoch zusammen mit seinen Mitbewohnern und manchmal auch mit seinen Betreuer_innen in nahegelegene Städte, da dort im türkischen Laden oder bei Lidl Kleider und Esswaren günstiger zu kaufen seien. Auf dem „Weg zum Gut sein“ beweist Mustafa einen starken Integrationswillen bzw. ein ausgeprägtes Integrationsgeschick. Er betont immer wieder, dass er die Chance in Deutschland nutzen wolle. „Wir müssen pünktlich sein und dürfen keine Fehler machen“ (Protokoll 1 2018, S. 2). Er scheint sehr genau zu wissen, was von außen als „gut“ angesehen wird, also was von ihm verlangt und gefordert wird. Mustafa bemüht sich um deutsche Regeln, Tugenden und Fähigkeiten, wie z. B. die Sprache zu lernen und zu übernehmen, und erklärt, dass er am liebsten bei einer deutschen Familie wohnen würde. „Ich würde mich an alle Regeln halten, die in dieser Familie gelten“ (ebd.). Schaut man sich an, wie Pascal ‚hier‘ in der Stadt der betreuten Jugendwohngruppe ist, kann festgehalten werden, dass für ihn in seiner Alltagsgestaltung zentral ist, viele verschiedene Menschen kennenzulernen und gemeinsam mit ihnen Zeit zu verbringen. Pascal ist nicht gerne alleine und sucht den direkten sozialen Kontakt. Wenn keine Menschen um ihn herum sind, ist ihm oftmals langweilig. „Wenn es gibt nicht die Sonne, siehst du niemanden draußen. Wo sind die Leute?“ (Protokoll 2 2018, S. 1) Um Menschen kennenlernen oder treffen zu können, sind für ihn die folgenden konkreten Orte wichtig: Der Bahnhof ist für Pascal immer der erste Treffpunkt, von dem aus auch andere Orte angesteuert werden können. Pascal geht z. B. nach der Schule dorthin, um mit dem Bus nach Hause zu fahren oder sich mit Freund_innen zu treffen. Gemeinsam chillen sie dort, reden, sitzen einfach, spielen mit dem Handy oder hören Musik. „Ich kenne viele Jungs“ (Protokoll 2 2018, S. 2). Pascal gefällt am Bahnhof, dass sich dort viele unterschiedliche Personen aufhalten. Es ist immer Betrieb, Menschen

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kommen und gehen. Er sagt aber auch, dass es am Bahnhof viele schlechte Dinge gibt, und erwähnt insbesondere Betrunkene. Er lasse diese Menschen dann bewusst in Ruhe und sage nichts. Pascal besucht das Fitnesscenter unter der Woche jeden Tag, manchmal auch sonntags. Dort trifft er viele Bekannte, die er teilweise bereits von seinem Aufenthalt in der stationären Jugendwohngruppe kennt. Im Sommer geht Pascal auch gerne im See schwimmen. Das Seeufer eignet sich gut, um in Kontakt mit (noch) Unbekannten zu kommen. In seiner Freizeit arbeitet Pascal in einem Café. Seine Arbeitsstelle nutzt er auch, um neue Personen kennenzulernen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Pascal besucht gerne Partys. In seiner Wohnstadt sei diesbezüglich nicht viel los, weshalb er dafür in nahegelegene Städte reist. Party macht er vor allem mit „afrikanischen“ Freund_innen. Pascal wohnt zusammen mit zwei männlichen Mitbewohnern in einem betreuten Jugendwohnen. Er bemerkt, dass er hier im Gegensatz zu seinem vorherigen Wohnort im stationären Jugendheim vieles selber machen muss: Einkaufen, Kochen, Putzen, Geld-Einteilen etc. „Das ist ein neues Leben“ (ebd.). Gleichzeitig kann er aber auch einiges selbstständiger bestimmen, und so laden er und seine Mitbewohner regelmäßig Freund_innen zum gemeinsamen Kochen, Essen oder Spielen ein. Teilweise bleiben diese dann über Nacht. Neben physischen Orten trifft sich Pascal auch in virtuellen Räumen mit anderen Menschen. Er ist im Umgang mit Internet und Smartphone versiert und kennt und nutzt unterschiedliche Kanäle. Über eine Dating-App versuchte er erfolglos, Frauen kennenzulernen, sodass er die Applikation wieder gelöscht hat. Bei Instagram folgen ihm 661 Personen und er postet regelmäßig Bilder von sich oder von Stars, die ihm gefallen. Den Facebook-Messenger oder WhatsApp verwendet er, um mit Freund_innen oder seiner Familie im Herkunftsland zu kommunizieren. Fragt man nun danach, welche Strategien Pascal nutzt, um andere Menschen kennenzulernen und zu treffen, erweisen sich die folgenden Vorgehensweisen als relevant: Pascal nutzt die Sprache als Zugang zu den Menschen. Er selber spricht mehrere Sprachen und je nach Gegenüber nutzt er eine andere Sprache oder einen anderen Slang. Als Ergänzung zum sprachlichen Kontakt tritt Pascal immer wieder über Musik in Beziehung. Er hört gerne und macht auch selber Musik. Er rappt auf Französisch und Englisch und musiziert manchmal gemeinsam mit anderen. Pascal legt sich nicht auf eine bestimmte Personengruppe fest, sondern pflegt Kontakt mit vielen verschiedenen Menschen. Seine Freund_innen besitzen beispielsweise unterschiedliche Nationalitäten. Neben den Treffen mit bereits bekannten Personen, lernt Pascal auch gerne neue Menschen kennen, bemerkt aber, dass dies in Deutschland nicht immer einfach ist: „Die Leute hier sind nicht

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so offen, aber wir müssen es trotzdem weiter versuchen“ (Protokoll 2 2018, S. 2). Seine Taktik lautet, seinen Mitmenschen positiv zu begegnen, sie anzulächeln und fröhlich zu sein. Für Treffen im virtuellen Raum oder für Verabredungen z. B. per WhatsApp nutzt Pascal eine Funktion auf seinem Smartphone, die er freies Internet nennt. Damit kann er kostenlos das Internet nutzen.

3.3 Resümee: Aneignung bedeutet für junge Geflüchtete, sich zwischen Rückzugs- und Gemeinschaftsorten „gut“ zu bewegen bzw. bewegen zu können Die bisher dargestellten Ergebnisse aus beiden Erhebungen deuten darauf hin, dass in einer Einrichtung, in der verschiedene junge Geflüchtete zusammenwohnen, Räume des Rückzugs und der Ruhe sowohl in der Einrichtung selbst als auch in der Umgebung von hoher Bedeutung sind. Dazu zählen beispielsweise der Balkon, das eigene Zimmer, aber auch öffentliche Plätze. Ergänzend dazu beschreiben die jungen Geflüchteten Orte der Gemeinschaft sowie der Aktivität als relevant, wobei sie insbesondere das Fitnesscenter, das Einkaufszentrum, Cafés, die Arbeits- bzw. Praktikumsstelle, den Jugendtreff, Partys, Fußballplätze, die eigene Wohnung als Treffpunkt oder virtuelle Räume wie beispielsweise Facebook Messenger erwähnen. Dort treffen sie sich mit bereits Bekannten, versprechen sich aber auch, neue Freund_innen kennenzulernen und mit Jugendlichen aus Deutschland in Kontakt zu kommen. Diesbezüglich betonen die jungen Geflüchteten immer wieder die Wichtigkeit und ihre hohe Motivation, die deutsche Sprache zu lernen. Kritisch merken sie an, dass die benannten Treffpunkte aufgrund der abgelegenen geografischen Lage der Jugendhilfeeinrichtung oft nur umständlich erreichbar sind. In dem Dorf, in dem sich die Einrichtung befindet, sei nichts los, sodass die jungen Männer öfter in die weiter entfernten nächstgrößeren Städte fahren, um dort Party zu machen, zu shoppen oder sich mit Freund_innen zu treffen. Als unbeliebt beschreiben die jungen Geflüchteten diejenigen Orte, an denen mangelnde Hygiene oder erhöhtes Konfliktpotenzial herrscht. Als prominenter Ort wird in Bezug auf diese beiden Kritikpunkte der Bahnhof in seiner Ambivalenz genannt: Einerseits nutzen die jungen Geflüchteten diesen, um sich mit Freund_innen zu verabreden, dort zu chillen oder von dort aus weiterzuziehen. Andererseits berichten sie aber auch, dass sich Personen am Bahnhof aufhalten, die bei ihnen Unbehagen auslösen. Insgesamt betonen die jungen Geflüchteten immer wieder, dass sie die Chance in Deutschland nutzen, eine Ausbildung absolvieren und eine gute Arbeit finden wollen. Dabei scheinen

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sie genau zu wissen, welcher Anstrengungen es dafür bedarf: „Wir müssen pünktlich sein und dürfen keine Fehler machen“ (Protokoll 1 2018, S. 2). Beim Vergleich der hier dargestellten Ergebnisse mit ähnlichen, vorangehenden Untersuchungen zeigen sich eindeutige Überschneidungen. So wurden beispielsweise in der Studie von Jepkens und Scholten (2019) öffentlich bekannte Orte wie das Rhein-Ufer oder die Düsseldorfer Innenstadt als beliebte Orte für junge Geflüchtete identifiziert. Auch die Bereiche Sport und Fitnessstudio wurden von den Autorinnen, übereinstimmend mit den hier vorgestellten Ergebnissen, als wichtige Räume für die jungen Geflüchteten beschrieben (S. 109 f.). In der Forschung von Jepkens und Scholten bezeichneten die jungen Geflüchteten diejenigen Orte als unbeliebt, „wo es beispielsweise ‚laut‘, ‚voll‘, ‚dreckig‘ und ‚gefährlich‘ sei und wo ‚kriminelle‘ und ‚unfreundliche‘ Menschen seien, die sich aggressiv verhielten“ (ebd., S. 112). Diesbezüglich wurde auf bestimmte Stadtbezirke hingewiesen und ebenfalls der Bahnhof wurde, wie auch im Projekt ‚Hiergeblieben‘, prominent genannt (ebd.). Ein Unterschied zeigt sich dahin gehend, dass die von Jepkens und Scholten befragten jungen Geflüchteten am Bahnhof häufig von der Polizei kontrolliert werden (ebd.), während die am Projekt ‚Hiergeblieben‘ beteiligten jungen Geflüchteten von keinen solchen Kontrollen berichteten. Die Autorinnen weisen weiter auf die Wichtigkeit der räumlichen Mobilität hin und zeigen auf, dass die von ihnen befragten jungen Geflüchteten „bestimmte Orte nicht aufsuchen, weil diese zu weit von ihrem Zuhause entfernt sind“ (ebd., S. 117). Im hier vorgestellten Projekt konnten ähnliche Ergebnisse erarbeitet werden, wobei die jungen Geflüchteten durchaus von regelmäßigen Fahrten in weiter entfernte nächstgrößere Städte berichteten, wo sie verschiedene Angebote in Anspruch nehmen oder sich mit Freund_innen und Familie treffen. Insgesamt schliessen wir uns jedoch vor dem Hintergrund unserer Ergebnisse dezidiert der Empfehlung von Jepkens und Scholten (2019) an, dass die Erreichbarkeit von Freizeit- und Beratungsangeboten im unmittelbaren Wohnumfeld und/oder der Ausbau mobiler Angebote von zentraler Bedeutung für die Integration junger Geflüchteter im Sozialraum ist (S. 122).

4 Fazit: Etablierung einer integrierten, sozialräumlichen Kinder- und Jugendhilfe Was folgt nun aus den im Rahmen des Projektes ‚Hiergeblieben‘ gewonnenen Erkenntnissen für die Frage nach der gelingenden Integration von (jungen) Geflüchteten im Sozialraum? Dazu wird in einem letzten Schritt danach gefragt, wie die Einrichtungsakteur_innen aus dem Projekt ‚Hiergeblieben’

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ihr Angebot angepasst und ausgerichtet haben, um eine gelingende Integration von jungen Geflüchteten vor Ort zu fördern4. Als wesentlicher Ausgangspunkt der fachlichen Arbeit lässt sich dabei die subjektive Perspektive der jungen Geflüchteten nennen. Diese wird nicht nur im Kinder- und Jugendhilfediskurs (Schröer und Graßhoff 2018) markiert, sondern hat sich auch im Projekt ‚Hiergeblieben‘ als zentral herausgestellt. Dabei ist es für den stationären Kontext wesentlich, dass sich die Mitarbeiter_innen nicht allein auf die Arbeit ‚in‘ der Wohngruppe selbst fokussieren, sondern darüber hinaus die jungen Geflüchteten beim Ankommen, Hiersein und Hierbleiben in der Stadt, der Gemeinde, der Region, dem Gemeinwesen vielfältig aktiv unterstützt werden: beim Aufbau und Erhalt sozialer und persönlicher Netzwerke, bei der Bewältigung der Flucht- und Asylsituation, bei der Ausbildungs- und Arbeitssuche etc. Mitarbeiter_innen der Kinder- und Jugendhilfe müssen daher mit jungen Geflüchteten ins Gespräch gehen, sie fragen, welches ihre zentralen Ziele und Bedarfe sind, welches ihre zentralen Anschlüsse, welche sie sich auch selber erschlossen haben und welche sie sich noch erschließen können/ wollen. Dies wird besonders in Übergangssituationen, z. B. bzgl. der Wohnfrage, relevant, um etwa Wohnungslosigkeit entgegenzuwirken. Hier zeigte sich auch in den beiden Einrichtungen Linzgau Kinder- und Jugendhilfe e. V. und Rückenwind für Familien die hohe Relevanz einer integrierten, sozialräumlichen Kinder- und Jugendhilfeperspektive (Oehme 2016). Im Linzgau Kinder- und Jugendhilfe e. V. wurde dazu das Projekt ‚Bus Stop‘ ins Leben gerufen, ein Angebot der mobilen Jugendarbeit, das ergänzend zum stationären Angebot am zentralen Ort des Bahnhofs niedrigschwellige Beratung für junge Geflüchtete vor Ort anbietet. Die integrierte sozialräumliche Kinder- und Jugendhilfeperspektive beinhaltet aber auch eine Art ‚Lobbyarbeit‘, d. h. das Sprechen mit Arbeitgeber_innen, Ausbildungsbetrieben und Behörden und das Sich-Einsetzen für ausreichend Ressourcen, damit u. a. beim Austritt aus der Kinder- und Jugendhilfe junge Geflüchtete zu ihren wichtigen Bezugs- und Vertrauenspersonen weiterhin eine gewisse Zeit Kontakt halten können, um anstehende Fragen und Anschlüsse besser bespielen zu können.

4Dazu

wurden ergänzend zum Projekt kurze Interviews mit Roland Berner (Vorstandsvorsitzender Linzgau Kinder- und Jugendhilfe e. V.) und Carlos Goeschel (Mitarbeiter beim Projekt ‚Bus Stop‘, Linzgau Kinder- und Jugendhilfe e. V.) geführt. Aussagen daraus sind hier aufgenommen.

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Tobias Kindler, MSc, ist Sozialpädagoge und arbeitet als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR) der OST – Ostschweizer Fachhochschule. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Soziale Arbeit, politisches Engagement von Studierenden und Fachpersonen der Sozialen Arbeit, Migration sowie Kinder- und Jugendhilfe. Mandy Falkenreck, Diplom-Pädagogin, ist Erziehungswissenschaftlerin und arbeitet als Dozentin am Institut für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR) der OST – Ostschweizer Fachhochschule, wo sie die Co-Leitung des Schwerpunkts ‚Aufwachsen & Bildung‘ verantwortet. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kindheit, Jugend – Raum – Pädagogik, Bildungsräume(n), subjektorientierte Bildung und Erziehung in außerschulischen Kontexten.

Tolerated? Auswirkungen des Duldungsstatus auf Bildungsentscheidungen von geflüchteten jungen Erwachsenen aus Subsahara-Afrika in Deutschland Sandrine Bakoben Zusammenfassung

In Informations- und Kommunikationsgesellschaften ist Bildung zu einer der wichtigsten Ressourcen avanciert, deren Besitz bzw. Nicht-Besitz zur Inklusion bzw. Exklusion in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen führen kann (vgl. Soyka 2006; Bader 2010, S. 10). Als Teil einer noch laufenden qualitativen Feldstudie ist das Ziel dieses Beitrages, die Bildungsentscheidungen von geduldeten jungen Erwachsenen aus Subsahara-Afrika vor dem Hintergrund ihres Aufenthaltsstatus und den vorhandenen Bildungsangeboten darzustellen. Der Beitrag zeigt, welche Bildungsangebote es für Geduldete gibt und welche Kriterien die Bildungsentscheidungen dieser Zielgruppe beeinflussen. Der Beitrag fokussiert geduldete junge Erwachsene aus Subsahara-Afrika, die zwischen 2014 und 2015 Zuflucht in Deutschland gefunden haben, und basiert auf der sozialpädagogischen Nutzer_innenforschung, (Schaarschuch und Oelerich 2005).

S. Bakoben (*)  Institut für Arbeit und Qualifikation, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_17

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S. Bakoben

Schlüsselwörter

Aufenthaltstitel · Bleibeperspektive · Duldung · Bildung · Fluchtmigration ·  Geflüchtete · Subsahara-Afrika · Migration · Immigrant_innen · Afrika

1 Einleitung Der Zugang zu höherer Bildung und der Erwerb hochwertiger Bildungsabschlüsse für sozial benachteiligte Gruppen, wie die der ­ (Flucht-)Migrant_ innen, ist sehr problematisch (Becker 2009). Gerade für Geflüchtete mit einer sogenannten „schlechten“ Bleibeperspektive1 ist der Zugang zu Bildung und höherwertigen Bildungsabschlüssen mit sehr großen Hürden verbunden (Bakoben 2020). Zu dieser Gruppe gehören Geflüchtete aus Subsahara-Afrika (SSA), die sowohl beim Zugang als auch bei der Nutzung von Bildungsangeboten doppelt marginalisiert werden (vgl. Seukwa 2012, S. 33). Trotz des zahlenmäßigen Anstieges von Personen aus dieser Region in Deutschland (Brücker et al. 2016; Pew Research Center 2018) steht diese Gruppe eher selten im Fokus wissenschaftlichen Interesses. Die durch den Bund geförderten Bildungsangebote für Geflüchtete – der Integrationskurs, Deutschförderkurse wie auch die aktivierungspolitischen Sprach- und Qualifizierungsangebote  –  richten sich primär an Menschen, „bei denen ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt zu erwarten ist“ (Bundesregierung 2019), also an Personen mit sogenannter guter Bleibeperspektive. Die Frage, welche Bildungsangebote Personen, die keine dieser Maßnahmen nutzen dürfen, offen stünden bzw. wahrnehmbar wären, wenn sie sich dafür entscheiden müssten, ihre Bildungsbiografien in Deutschland fortzuführen, bleibt bisher unzureichend geklärt. Auf Basis von episodischen Interviews (Flick 2011) werden im Rahmen dieses Beitrages die Bildungsentscheidungen von geflüchteten jungen Erwachsenen aus SSA beleuchtet. Dabei wird aufgezeigt, wie sie mit dem deutschen Migrationsregime interagieren. Der Begriff Migrationsregime bezeichnet dabei das uneinheitliche Geflecht von lokalen Akteuren, Restriktionen und Chancen beim

1Menschen, die aus Herkunftsländern mit einer Schutzquote von über 50 % kommen, d. h., die unbereinigte Schutzquote für Flüchtlinge aus den genannten Ländern im Asylverfahren liegt bei über 50 %, haben eine gute Bleibeperspektive. 2017 zum Beispiel trifft dies auf die Herkunftsländer Eritrea, Irak, Iran, Syrien und Somalia zu. Menschen aus diesen Ländern haben Zugang zu Integrationskursen während des laufenden Asylverfahrens. https://www.bamf.de/SharedDocs/FAQ/DE/IntegrationskurseAsylbewerber/001bleibeperspektive.html.

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Zugang zu den sozialen Systemen (Karakayali und Tsianos 2007; Kleist 2018). Dazu wird zunächst ein kurzer Einblick in die Datengrundlage gewährt und die Auswertungsmethode dargestellt (Abschn. 2). Anschließend werden die rechtlichen Rahmenbedingungen, in denen sich Personen mit einem Duldungsstatus bewegen, erläutert und die Bildungsmöglichkeiten, die sich daraus ergeben, dargestellt (Abschn. 3). Darauf aufbauend wird exemplarisch in einer Falldarstellung gezeigt, wie sich Personen mit dem Duldungsstatus diese Strukturen aneignen. Das letzte Kapitel schließt mit einem Fazit ab, das die Ergebnisse in den Gesamtkontext der Arbeit setzen soll.

2 Datengrundlage und methodische Herangehensweise Der vorliegende Beitrag lehnt sich an die sozialpädagogische Nutzer_innenforschung an. Es wird davon ausgegangen, dass Geduldete als Nutzer_innen von Bildungsangeboten ihre Bildungswünsche und individuellen Bildungserfahrungen in die Interaktion mit dem Bildungssystem und dem deutschen Migrationsregime einbringen. Im Mittelpunkt dieses methodischen Analyserahmens steht, wie Schaarschuch und Oelerich (2005, S. 10) betonen, „radikal die Perspektive der Nutzer_innen im Dienstleistungsprozess“. Folgt man diesen Gedanken, so ist festzustellen, dass sich der Nutzen, oder auch Nicht-Nutzen bzw. die Entscheidung, ein Angebot zu nutzen, aus der Sicht des Subjektes ergibt. Das heißt, dass nicht die staatlichen Institutionen oder die Angebotsträger entscheiden, ob ein Angebot nützlich oder auch nicht nützlich ist. Vor dem Hintergrund orientiert sich die Bewertung eines Angebotes oder auch die Entscheidung für oder gegen ein Angebot an einem subjektiven Relevanzkontext. So kann laut Oelerich und Schaarschuch (2005) die begriffliche Bestimmung des Nutzens als Gebrauchswerthaltigkeit sozialpolitischer Angebote im Hinblick auf die produktive Auseinandersetzung der Nutzer_innen mit den Anforderungen, die sich für sie aus den sich ihnen stellenden Aufgaben der Lebensführung ergeben, nicht a priori bestehen, sondern es kann nur jeweils konkret empirisch die subjektive Perspektive darauf rekonstruiert werden, welche die Anforderungen beinhaltet, vor die sich die Nutzer gestellt sehen. Dabei wird zwischen dem subjektiven und institutionellen Relevanzkontext unterschieden (vgl. Oelerich und Schaarschuch 2005, S. 92 ff.). Die Datengrundlage des vorliegenden Beitrags bilden zwei episodische Interviews (Flick 2011) mit geflüchteten jungen Erwachsenen aus SSA, die seit

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mindestens zwei Jahren in Deutschland leben, aktuell an einem Bildungsangebot teilnehmen oder in der Vergangenheit an einem teilgenommen haben. Beide Interviews fanden im Frühjahr 2019 statt und wurden auf Wunsch der Befragten auf Deutsch geführt. Dabei handelt es sich um zwei kontrastierende Fälle, die sich in ihrem Aufenthaltsstatus, nicht aber in ihren Bildungsvoraussetzungen unterscheiden. So lassen sich mögliche Unterschiede oder auch Gemeinsamkeiten, in den Bildungsentscheidungen der geflüchteten jungen Erwachsenen herausarbeiten. Die Datenauswertung erfolgte in Anlehnung an die strukturierende Inhaltsanalyse nach Mayring (2010, S. 65) mithilfe vereinfachter Interviewtranskripte (Kuckartz et al. 2008, S. 27 f.).

3 Institutionelle Relevanzkontext: Der Duldungsstatus und Bildungsangebote für geduldete junge Erwachsene Für Menschen, die ihre Heimatländer aufgrund von Armut, Gewalterfahrung und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit verlassen wollen, ist Asyl häufig der einzige Weg, um innerhalb der EU legal und in Sicherheit leben und arbeiten zu können (vgl. Hentges und Staszczak 2010; Hentges 2019, S. 53 ff.). In den meisten EU-Ländern jedoch ist die Antragstellung des Asyls nicht mit dem eigentlichen Recht auf Asyl gleichzustellen. Diese zwei Komponenten sind unabhängig voneinander zu betrachten. Die bundesdeutsche Gesetzgebung benennt sichere Herkunftsstaaten2 (§ 29a AsylG), bei denen angenommen wird, dass die politische Situation im Land stabil ist und demokratische Grundrechte gegeben sind. Geflüchtete aus sicheren Drittstaaten werden in den meisten Fällen in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Allerdings kann die Abschiebung ausgesetzt werden, wenn Vollstreckungshindernisse bestehen, wie beispielsweise eine Reiseunfähigkeit aufgrund einer Krankheit, aber auch, wenn die Identität der geflüchteten Person nicht eindeutig geklärt ist oder Papiere (beispielsweise eine Durchförderungsbewilligung oder Visa) fehlen (vgl. Bakoben und Rühl 2020; Wendel 2014, S. 5). Personen, bei denen ein Vollstreckungshindernis besteht, erhalten eine Duldung, welche keinen rechtmäßigen Aufenthalt garantiert. Falschangaben, wie die Zurückhaltung der Identität, können sich negativ auf das Integrationsverfahren auswirken und werden den Personen im späteren Verfahren zur Last

2Eine

„gute“ bzw. „schlechte“ Bleibeperspektive wird somit per Gesetz bestimmt (vgl. Bakoben 2020).

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gelegt. Die Dauer der Ausstellung ist vom Einzelfall abhängig. Hier bilden sich in der Handhabung der verschiedenen Ausländerbehörden oft starke Diskrepanzen, die meist mit dem ihnen qua Gesetz zugesprochenen Ermessensspielraum begründet werden (vgl. Bakoben und Rühl 2020; Schammann und Kühn 2017). Hentges und Staszczak wiesen schon 2010 darauf hin, dass „die Behörden von ihrem Ermessensspielraum nur äußerst selten Gebrauch machen, da das Bundesministerium des Innern und die Innenminister der Länder in ihren Anwendungshinweisen deutlich machen, dass § 25 Abs. 4 des Aufenthaltsgesetzes3 nur in sehr spezifischen Situationen angewandt werden dürfe“ (Hentges und Staszczak 2010, S. 52). Laut dem Statistischen Bundesamt hielten sich 2018 392.490 Personen aus SSA4 in Deutschland auf. Jede dritte von ihnen hatte keinen Aufenthaltstitel, darunter befanden sich 28.700 Personen mit einer Duldung (7 %) (Statistisches Bundesamt 2018, S. 131 ff.). Die meisten von ihnen stammen aus Nigeria (10.168 Personen, 6,3 % der Anträge), gefolgt von Eritrea (5.571 Personen 3,4 % der Anträge) und Somalia (5.073 Personen, 3,1 % der Anträge) (BAMF 2019, S. 1). Für Personen aus Krisengebieten, wie beispielsweise Eritrea bestehen nach wie vor gute Chancen, in Deutschland Asyl zu erhalten. Im Gegensatz dazu haben Personen aus sicheren Herkunftsstaaten, wie z. B. Ghana oder Senegal, eher schlechtere Chancen auf eine Anerkennung als Flüchtling. Der Zugang zum deutschen Bildungssystem ist für Personen mit einer Duldung generell möglich, aber mit einigen Einschränkungen und Hindernissen verbunden. Für geduldete minderjährige Geflüchtete besteht genau wie für jedes minderjähriges Kind in Deutschland die Schulpflicht. Auch der Zugang zu beruflichen Bildungsangeboten, Praktika und einer Ausbildung ist für junge Erwachsene mit Duldungsstatus generell möglich. Allerdings werden hier in den ersten drei Monaten nach Neuankunft eine Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit und eine Erlaubnis der Ausländerbehörde benötigt (Bakoben und Rühl 2020). Der Zugang zum Studium ist hochschulabhängig und die Ausländerbehörde kann in bestimmten Fällen ein Verbot erteilen. Voraussetzung für ein Studium ist das Sprachniveau C1. Auch hier können sich Schwierigkeiten für Geduldete mit Studienwunsch ergeben, da der Zugang zu Sprach- und Integrationskursen Geduldeten vermutlich verwehrt bleibt. Wie die ersten Ergebnisse dieser Studie

3Aufenthalt

aus humanitären Gründen. Zahlen unterliegen Schwankungen, da Personen von einem in den anderen Status wechseln können. Der genaue Anteil lässt sich demnach nur schwer ermitteln.

4Die

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aufzeigen, werden aber von vielen Universitäten Sonderleistungen zur Studienvorbereitung angeboten. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich bei der Finanzierung des Studiums. Geduldete Personen sind vom BAföG ausgeschlossen. Der Zugang zu ­SGB-II-Leistungen sowie zu Sprach- und Integrationskursen bleibt Geduldeten jedoch verwehrt (BMAS 2019, S. 13 ff.). Je nach Ermessen bieten Kommunen mit Unterstützung der Länder Sonderleistungen zur Integration und zum Spracherwerb für Geduldete an. Im Jahr 2019 wurde mit einer Reform des Aufenthaltsgesetzes die Bleibeperspektive für geduldete Geflüchtete verbessert. In das Gesetz wurden eine Beschäftigungsduldung (§ 60c AufenthG) und eine Ausbildungsduldung (§ 60a AufenthG) aufgenommen. So können Geduldete neben der Ausbildung eine finanzielle Unterstützung nach einem 15-monatigen Aufenthalt über die Bundesausbildungsförderung (BAföG) erhalten. Dies ist aber vor dem Ablauf der gesetzlich festgelegten 15-monatigen Frist nur möglich, wenn sich die geduldete Person bereits seit fünf Jahren in Deutschland aufhält und in dieser Zeit rechtmäßig erwerbstätig war oder aber ein Elternteil während der letzten sechs Jahre für insgesamt drei Jahre diese Voraussetzung erfüllt hat (siehe § 8 Absatz 3 BAföG). Ähnliches gilt für die Berufsausbildungsbeihilfe. Nach 12-monatigem Aufenthalt – nicht mehr wie bisher nach vier Jahren – haben Geduldete einen Anspruch auf eine Berufsausbildungsbeihilfe während einer betrieblichen Ausbildung, nach sechsjährigem Aufenthalt sogar während einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme (siehe § 132 Absatz 2 SGB III). Vor Ablauf dieser zwölf Monate gelten erneut die Bestimmungen des § 59 Absatz 3 SGB III. Strukturell stehen geduldeten jungen Erwachsene aus SSA in den bis jetzt untersuchten Kommunen, wie die vorliegende Tabelle 1 zeigt, Sprach- und Landeskurse, die aktivierenden Standardinstrumente der BA sowie studienbegleitende Maßnahmen zur Verfügung. Diese Tabelle erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern stellt die Situation in den untersuchten Kommunen zum Zeitpunkt der Felderkundung dar. Fest steht, dass, gekoppelt an gewisse Integrationsleistungen und Bedingungen, die Möglichkeit des Erwerbs eines Aufenthaltstitels nach Abschluss einer anerkannten Ausbildung oder nach einer länger dauernden Beschäftigung (30 Monate) gegeben ist. Ein Studium ist von dieser Regelung ausgeschlossen. Das führt so die Vermutung häufig dazu, dass sich Geflüchtete mit prekärem Aufenthaltstitel eher für eine Ausbildung entscheiden. Abschließend kann festgestellt werden, dass sich theoretisch gesehen bessere Bleibeperspektiven für geduldete Geflüchtete ergeben, wenn sie den Weg einer Ausbildung oder Beschäftigung einschlagen. Welche Entscheidung treffen sie in der Praxis? Für welche Bildungsangebote entscheiden sie sich und wie bewerten sie ihre Entscheidungen?

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Tab. 1   Lokale Bildungsangebote für Geduldete ab 18 Jahre. (Eigene Darstellung, Stand September 2019) (Quelle: https://www.integration-in-braunschweig.de/integrationskurse/ neue-kurse/neue-kurse.html) Durch Länder finanzierte Sprachkurse und weitere Bildungsmaßnahmen für Geflüchtete

– Sprachkurse für geflüchtete Frauen 2018 – Spracherwerb von Geflüchteten – Grundbildungsmaßnahmen für Geflüchtete – Sprachkurs zur gesellschaftlichen/kulturellen Teilhabe

Regelinstrumente der BA für junge Erwachsene

– Assistierte betriebliche Ausbildung (AbA) (siehe § 130 SGB III) – Ausbildungsbegleitende Hilfe (AbH) (siehe § 75 SGB III) – nach 12-monatiger Aufenthaltszeit ohne besondere Voraussetzungen möglich – Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen (BvB) (siehe § 51 SGB III) – sechsjähriger Voraufenthalt mit rechtmäßiger Erwerbstätigkeit – Einstiegsqualifizierung (EQ) (siehe § 54 SGB III) – Berufsausbildung in außerbetrieblichen Einrichtungen (BAE) Aktivierungshilfen für Geflüchtete

Übergang in Studium und studienbegleitende Maßnahmen vom DAAD finanziert

– Sprachlernunterstützung – Brückenkurse für Geflüchtete – Gasthörerstudium – Studienzugangsangebote für Geflüchtete

4 Subjektiver Relevanzkontext: Zum Duldungsstatus und zu Bildungsentscheidungen von Geflüchteten am Beispiel von zwei jungen Erwachsenen aus Subsahara-Afrika Anhand zweier Fallbeispiele fasst das vorliegende Kapitel erste Erkenntnisse einer laufenden empirischen Analyse zu den Auswirkungen des deutschen Migrationsregimes – dem Duldungsstatus, dem deutschen Bildungssystem und den Beratungsangeboten – auf die Bildungsentscheidungen geflüchteter junger Erwachsenen aus SSA zusammen.

4.1 Zu den Personen: Biografie, Flucht und Status Für die Analyse wurden zwei Fälle ausgewählt, die sich zwar hinsichtlich ihres Aufenthaltsstatus unterscheiden, aber vergleichbare Statuspositionen und Bildungshintergründe wie auch familiäre Situationen aufweisen. Beide Personen

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teilen außerdem den Wohnort und sind junge Erwachsene im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. Es handelt es sich dabei zum einen um den 19-jährige Kwame. Er kommt aus Ghana und ist im Alter von 14 Jahren allein nach Deutschland gereist, um endlich bei seinen leiblichen Eltern und Geschwistern, die schon seit einigen Jahren hier in Deutschland leben, zu sein. Seine Anreise beschreibt er als wenig umständlich, weil ein Onkel alles organisiert hatte. Seit seiner Ankunft verfügt Kwame über den Duldungsstatus, welchen er alle drei Monate verlängern muss. Er ist in Ghana ca. acht Jahre zur Schule gegangen und hat keinen Schulabschluss. Kwame kommt aus einem bildungsfernen Elternhaus, seine Eltern haben eine eigene Reinigungsfirma und sprechen seiner Meinung nach unzureichend Deutsch. Nach seiner Ankunft in Deutschland wurde er, da er noch schulpflichtig war, in eine Sprachlernklasse einer Hauptschule eingeschult. Nach zwei Jahren kam er in die 9. Klasse. In der 10. Klasse konnte er seinen Hauptschulabschluss nachholen. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet er sich in einer Realschule, wo er seinen Realschulabschluss erlangen möchte, um eine Ausbildung als Altenpfleger aufnehmen zu können. Genau wie Kwame ist Mahmut 2015 als Minderjähriger allein aus Eritrea nach Deutschland eingereist. Im Gegensatz zu Kwame hat Mahmut eine langjährige und sehr komplizierte Reise hinter sich, über die er im Interview nicht sprechen mag. Sein Ziel dabei war nicht, nach Deutschland oder in ein anderes europäisches Land zu kommen, sondern in Freiheit leben zu können: „das Ziel war nicht, dass ich nach Deutschland komme oder nach England oder Frankreich, Ziel war, dass ich einfach in Freiheit leben kann.“ (Interview Mahmut Absatz 274). Mahmut ist in seinem Heimatland bis zur sechsten Klasse zur Schule gegangen. Seine Eltern, so sagt er, waren nie in der Schule. Er stammt aus einem nicht sicheren Herkunftsland. Deswegen bekommt er knapp ein Jahr nach seiner Registrierung in Deutschland einen Aufenthaltstitel für drei Jahre. Zum Zeitpunkt des Interviews besucht er eine Ausbildungsvorbereitungsmaßnahme. Zuvor hatte er den Hauptschulabschluss in einem Berufskolleg seines Wohnortes erlangt und eine Ausbildung als Altenpfleger begonnen, die er dann nach sechs Monaten abgebrochen hat. Nach der Ausbildungsvorbereitungsmaßnahme wird Mahmut eine Lehre als Sozialassistent beginnen.

4.2 Das deutsche Bildungssystem und die Bildungsentscheidungen von geduldeten jungen Erwachsenen Ziel dieses Abschnittes ist es, die Auswirkung des Aufenthaltsstatus auf die Bildungsentscheidungen von geduldeten jungen Erwachsenen darzustellen.

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Beide Befragten sind zum Zeitpunkt der Ankunft in Deutschland minderjährig und unterliegen somit der gesetzlich festgeschriebenen Schulpflicht. Diese ist in Deutschland aufgrund der Kulturhoheit der Länder in den einzelnen Landesverfassungen geregelt. Die Länder sind hierzu durch das Grundgesetz ermächtigt (Artikel 7 Absatz 1 GG) und für die Zuweisung von Schulplätzen bei Neuzugewanderten zuständig. Diesen Zuweisungen wurden jedoch in den letzten Jahren eher pragmatischere Motivationen als die Kompetenzen der Jugendlichen zugrunde gelegt. Die Befragten beschreiben ihre Wahrnehmung der Schulpflicht wie folgt: „B: Als ich neu in Deutschland war, wurde ich sofort auf der Hauptschule gesetzt. I: Warum? Wer hat dich dahingeschickt? B: Wegen der Sprache. I: Ah wegen der Sprache, ja, wolltest du dahin? B: „Nein, die Stadt2 hat alles gemacht, also die Schule wurde für mich gewählt und ich bin dahingegangen, ich habe zwei Jahre Sprachschule gemacht und danach haben sie mich auf die neunte Klasse anfangen lassen und dann danach zehnte und von der zehnte habe ich mein äh Hauptschulabschluss absolviert [] I: Was haben denn deine Eltern dazu gesagt, als die Stadt2 dich in eine Hauptschule geschickt hat? War es okay für die? B: Die haben nichts gesagt, weil die haben lange gewartet. Wir haben ungefähr ähm sechs Monaten gewartet, bis ich einen Schulplatz bekommen habe.“ (Interview Kwame, Absatz 111)

Kwame macht deutlich, dass es nicht seine Entscheidung und auch nicht sein Wunsch war, in die Hauptschule zu gehen. Er war ja aus seinem Land mit dem Traum gekommen, eines Tages Englischlehrer zu werden. Zurzeit sieht er jedoch nicht die Möglichkeit, diesen Traum in seiner neuen Heimat zu verwirklichen, da laut ihm alles anders sei. „Ja ich wollte Englischlehrer werden and, und äh und ich habe immer wieder, ich hatte nur den Englischlehrer im Kopf, aber, wenn ich nach Deutschland gekommen bin, ist es jetzt voll anders geworden für mich.“ (Interview Kwame, Absatz 171.

Hinsichtlich der Frage, was denn alles jetzt anders sei, geht der Befragte auf Unterschiede in den Bildungssystemen seines Herkunftslandes und Deutschland ein. Dabei ist für ihn die Tatsache hervorzuheben, dass es in Deutschland diverse Bildungsabschlüsse gibt, die eine wichtige Rolle zu spielen scheinen. Weiterhin spricht er das doch sehr typische deutsche duale Bildungssystem mit seiner Möglichkeit, eine Ausbildung zu absolvieren, an. Er erklärt:

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„Ja, weil in Ghana ähm könnt man kein äh Abitur und äh diese Abschlüsse, man geht bis zum zehnte Klasse und dann gehst noch drei Jahre zu und dann kannst du zur Universität. Ja, aber hier gibts viele andere. Und in Ghana gibts auch keine Ausbildung, also diese Möglichkeit gibts auch nicht.“ (Interview Kwame, Absatz 231)

Wie zuvor bei Kwame wurde Mahmut nach seiner Ankunft in Deutschland ohne jegliche Möglichkeit, darauf Einfluss zu nehmen, einer Schule zugewiesen. Seine Erfahrung beschreibt er wie folgt: „In der Schule ich war in Heim die haben sofort für mich Schule angemeldet und ich wusste auch gar nichts, die haben gesagt, morgen fängst du Schule, wir haben Schule für dich gefragt und nicht nur morgen vorher, die haben gesagt, Schule haben für dich gefunden und du gehörst zur Schule, ich war 17 Jahre alt und dann bin ich zur Schule angefangen und dann habe ich die neunte Klasse auch abgeschlossen.“ (Interview Mahmut Absatz 355ff.)

Auf die Frage, wie denn die Zeit für ihn in der Schule verlaufen sei, antwortet er: „Für die Schule war ich, weil es gibt viele Leute, die immer, wenn die Pause ist, du redest immer mit gute Leute, du unterhaltest dich wie bin ich, wie möchte ich weitermachen äh hörst du viele Kollegen, die Abschiebung kriegen, die müssen zurückgehen, und gibts Leute, die nach Wohnung suchen, die Wohnung nicht gefunden haben nach länger Zeit, ja und trotzdem lernen ist auch, du bist mit denen auch in einem Teil in einer Klasse und du hörst auch viele Probleme in der Klasse von denen. Aber war gut für mich, ich habe die Lehrer, die ich gehabt habe, die war gute Lehrer, bis jetzt habe ich nicht so ein Lehrer gesehen, die hat uns verstanden, die hat uns viel versucht geholfen zu versuchen, wie hatten Sport äh Sportunterricht, da können wir viel Spaß haben, und das war gut, und wir haben auch viel verstanden und ich habe auch die neunte Klasse Abschluss mit gute Note abgeschlossen.“ (Interview Mahmut, Absatz 366)

Bezogen auf oben dargestellten Erfahrungen beider Befragten in ihrer Interaktion mit dem deutschen Bildungssystem lässt sich feststellen, dass die institutionellen Mechanismen der Schulpflicht, die wahrscheinlich in einem anderen Kontext ins Leben gerufen wurden, noch nicht auf Herausforderungen einer pluralen Gesellschaft vorbereitet sind. Insbesondere in den ersten Jahren sollten den Jugendlichen, die oft ohne Familie nach Deutschland reisen, jedoch diesen Mechanismen zielgruppenspezifische Ausnahmen zur Seite gestellt werden, damit die Jugendlichen die Möglichkeit bekommen, die für sie richtige Schulform zu besuchen.

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4.3 Die Duldung und Bildungsentscheidungen Bildungsentscheidungen von geduldeten jungen Erwachsenen werden sehr stark von ihrem Aufenthaltsstatus im Aufnahmeland konditioniert. Hinweise darauf lassen sich sowohl in Gesprächen mit Jugendlichen im Duldungsstatus als auch mit denjenigen, die eigentlich eine so genannte „bessere Bleibeperspektive“ haben, finden, denn diese erleben oft im Kontakt mit anderen Jugendlichen im Duldungsstatus die Unsicherheit und die Zweifel, die ihren Alltag bestimmen. Mahmut beschreibt die Situation wie folgt: „B: Ja, ich habe Aufenthaltstitel für drei Jahre, Asyl habe ich bekommen, Gott sei Dank, genau ja. I: Und denkst du, dass dein Aufenthaltstitel dir geholfen hat bei der Ausbildungsfindung, denkst du, wenn du vielleicht einen anderen Titel oder kein Asyl gehabt hätte, hättest auch die Ausbildung gefunden? B: Ich glaube nicht, weil ich kenne viele Leute, die die auf die Straße was/ die verkaufen Drogen, die sind meine Freunde, die ich habe die in die Sprachschule kennengelernt und äh, wenn ich mit denen treffe, dann treffe ich die, die verkaufen Drogen und äh die suchen immer nach so, so Frau, so deutsche Frau, die deutschen Pass haben, die mit denen Kinder machen können, damit die hier bleiben können. Wenn die Chance, die ich habe gehabt haben, die können auch viel besser machen. Und wenn ich die nicht Aufenthaltstitel gehabt habe, ich würde nicht so viel erreichen, ich würde nicht so ruhig, so in meinem Leben ruhig bleiben, also das bringt dir nur die Ruhigheit, dann kannst du ruhig bleiben, du kannst jeder Zeit was erreichen, das gibt dir einfach, dass du Ruhe bleiben kannst, du kannst hier in Ruhe bleiben, aber wenn du nicht die Aufenthaltstitel, dann hast du nicht die Ruhe in Deutschland. So fühle ich mich.“ (Interview Mahmut Absatz 225)

Er geht sogar einen Schritt weiter und sieht im Aufenthalts- bzw. Duldungsstatus den Grund, warum andere Geflüchtete aus SSA in illegalen Aktivitäten rutschen. Er ist sich sicher, dass er mit einer „schlechteren“ Bleibeperspektive nicht die Möglichkeit erhalten hätte, diese Ausbildung zu absolvieren, sowie nicht einmal die Sicherheit, irgendetwas zu lernen. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Kwame. Er empfindet das Leben mit der Duldung als ein Damoklesschwert, das über seinem Leben schwebt. Im Gespräch ist es für ihn sehr wichtig zu erwähnen, dass er den Weg der Ausbildung nur geht, weil er denkt, dadurch seinen Aufenthaltsstatus in Deutschland verbessern zu können. „Eine Duldung würdest du gedroht, dass du äh wieder zurückreisen sollst. Ja, aber ich habe schon en Anwalt und er kämpft auch, dass ich hierbleiben darf. Also für ein Ausbildung würde es helfen, darum geh ich den Ausbildungsweg.“ (Interview Kwame Absatz 192)

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Um seinen Aufenthaltsstatus so schnell wie möglich zu verbessern, hat er sich sogar dazu entschlossen, seine Ausbildung in der Pflege zu durchlaufen, obwohl er seinen Realschulabschluss in den Fächern Wirtschaft und Verwaltung macht. In verschiedenen Beratungen – sowohl mit seinem Rechtsanwalt als auch mit den Sozialarbeiter_innen –, mit denen er in Kontakt kam, wurde ihm klar gesagt, dass bei ihm als Geduldeten die Chancen für eine Ausbildung und die daran anschließende Ausbildung (siehe Abschn. 3  in diesem Beitrag) nur in manchen Berufszweigen gut wären. Auf die Frage, wie denn sein Abschluss in den Bereichen Wirtschaft und Verwaltung mit der von ihm getroffenen Bildungsentscheidung zusammenhänge sagt er: „Ich weiß, das passt gaaar nicht zusammen [LACHT], aber ähm das ist en äh äh äh es gibt ein paar Berufe, die stark beliebt sind und Krankenpfleger und Altenpfleger werden zurzeit richtig gesucht oder Bäcker und so, die sind stadtbedingte Berufe, also wenn man als, als ähm diesen Kaufleute [I: Kaufmann] Kaufmann und so macht, ist, es ist kein stadtbedingte Beruf, hab ich gehört. I: Was ist der Nachteil, wenn du das machen möchtest? B: Also stadtbedingte Beruf, wann es richtig gesucht ist, die Stadt muss dann die ganzen Sachen geben, die Aufenthalt, die Sachen, vielleicht verstehe ich es auch falsch. Ich weiß aber noch nicht. Aber durch Beratungen und so habe ich, habe ich es so verstanden. Das stadtbedingte Berufe, geht alles schneller.“ (Interview Kwame Absatz 391)

Interessant ist dennoch zu sehen, dass Kwame durchaus verstanden hat, dass sein Bildungsweg nicht zwangsläufig mit der Ausbildung als Altenpfleger enden muss. Er sagt zwar, dass er diese Ausbildung nur wegen seines Aufenthaltsstatus absolviert, jedoch wird ihm diese helfen, sich irgendwann später weiterzubilden. „Wegen mein Aufenthalt, wo ich gerade, stehe ist nicht gut, der Duldung ist schlecht, ich möchte was Besseres haben, damit ich irgendwann Schule weitermachen kann.“ (Interview Kwame Absatz 368)

5 Fazit Im Rahmen des vorliegenden Buchbeitrags wurde analysiert, welche Auswirkungen das deutsche Migrationsregime in Form sozialstaatlicher Leistungen im Bereich der Bildung und des Duldungsstatus auf die Bildungsentscheidungen von geflüchteten jungen Erwachsenen aus Subsahara-Afrika, die ihre Bildungsbiografie in Deutschland fortschreiben wollen, hat. Dabei wurde, basierend auf der sozialpädagogischen Nutzer_innenforschung im Sinne von

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Schaarschuch und Oelerich (2005), geschaut, wie sich Geflüchtete mit einer Duldung im deutschen Bildungssystem positionieren, welche Entscheidungen sie treffen und welche Strategien diese Entscheidungen begründen. Diese Analyse des institutionellen und subjektiven Relevanzkontextes hat verdeutlicht, dass bereits die Entscheidung, ein Angebot zu nutzen bzw. nicht zu nutzen, oft schon durch bestehende Strukturen geformt sowie beeinflusst wird. So hat die detaillierte Bearbeitung der rechtlichen Rahmenbedingungen die bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten, die den Geflüchteten bei ihren Bildungsentscheidungen zur Verfügung stehen, verdeutlicht. Die Auseinandersetzung mit dem subjektiven Relevanzkontext anhand von zwei Fallbeispielen war wichtig, um zu zeigen, dass neben dem Aufenthalts- bzw. Duldungsstatus wichtige Faktoren, wie z. B. das Bildungssystem an sich, das Konzept der Schulpflicht, z. B. die Entscheidungsräume der Geflüchteten, sehr stark einschränken. Trotz verbesserter rechtlicher Rahmenbedingungen, z. B. durch das Gesetz zur Ausbildungsduldung, bleibt festzuhalten, dass oft die Angst, von Deutschland abgeschoben zu sein, die Bildungsentscheidungen von geflüchteten jungen Erwachsenen leitet und nicht ihre Kompetenzen und Aspiration. Die hier dargestellten Fallbeispiele zeigen, wie sehr Aufenthaltsstatus und institutioneller Relevanzkontext die Strategien und Hoffnungen junger Menschen ausformen. Sie legen den Schluss nahe, dass die Untersuchung von Bildungsund Integrationsverläufen solche Ausschlüsse und Positionierungen zukünftig stärker wird berücksichtigen müssen, um nicht normative Integrationsverläufe und ihre Abweichungen zu schildern, sondern um empirisch zu erfassen, wie Personen soziale und Bildungsangebote nutzen. Dazu gehört auch eine nähere Auseinandersetzung mit weiteren Einflüssen, wie z. B. die traumatische Fluchterfahrungen und die fehlenden Kenntnisse des Bildungssystems, die die Entscheidungen der Geflüchteten beeinflussen, dennoch noch sehr unbelichtet sind.

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Sandrine Bakoben,  M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen und promoviert derzeit zum Thema „Integration durch Bildung? Kommunale Fallstudien zur Nutzung von Bildungsangeboten bei geflüchteten jungen Erwachsenen aus Subsahara-Afrika“ im Rahmen der Forschungsgruppe (Flucht-) Migration und Sozialpolitik.

Junge Geflüchtete in den Angeboten der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Ulrich Deinet und Maria Icking

Zusammenfassung

Die Offene Kinder- und Jugendarbeit hat sich als niedrigschwelliges Angebot der Freizeitgestaltung wie auch als Angebot für Lernhilfen und Beratung für die Zielgruppe der jungen Menschen, die durch die Fluchtmigration seit 2014 verstärkt zugewandert sind, bewährt. Viele Einrichtungen haben die Geflüchteten in ihre regelmäßigen Angebote integriert, aber auch besondere Angebote für die Zielgruppe entwickelt. Ergebnissen einer bundesweiten Befragung der Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit werden Schlussfolgerungen für den Transfer von Erfahrungen aus der Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen in das gesamte Feld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit analysiert. Diskutiert werden die Notwendigkeit einer sozialräumlichen Flexibilität und Vernetzung, eine verstärkte Elternarbeit und die Bedeutung inklusiver Formate.

U. Deinet (*)  Fachbereich für Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf, Düseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Icking  Forschungsstelle Sozialraumorientierte Praxisforschung und Entwicklung, Hochschule Düsseldorf, Düseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_18

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Schlüsselwörter

Offene Kinder- und Jugendarbeit · Geflüchtete Kinder und Jugendliche ·  Kooperation · Vernetzung · Sozialraumorientierung · Elternarbeit

1 Einleitung Mit der großen Zahl geflüchteter Menschen, die insbesondere seit dem Jahr 2014 in Deutschland zugewandert sind, kamen vor allem auch junge Menschen. So waren 2016 rd. 45 % derjenigen, die Asylerstanträge stellten, zwischen sechs bis unter 25 Jahre alt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2017, S. 22). Diese Altersgruppe ist die Zielgruppe der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA). Es liegt also nahe zu fragen, wie die Einrichtungen aus diesem Feld der Jugendhilfe auf die möglichen Herausforderungen durch diese neue Zielgruppe reagiert und wie sie sich mit ihren Angeboten darauf eingestellt haben. Zum einen hat sich gezeigt, dass die OKJA vor dem Hintergrund ihrer grundlegenden Arbeitsweise mit niedrigschwelligen und offenen Angeboten, die ohne Zutrittsbarrieren von allen Kindern und Jugendlichen genutzt werden können, einladend gewirkt hat. Die Einrichtungen wurden schnell von den jungen Geflüchteten „entdeckt“ und zum Teil intensiv genutzt (vgl. Deinet 2016). Zum anderen haben die Einrichtungen aber auch abgestimmt auf die Zielgruppe reagiert und Angebote zu ihren besonderen Bedarfen und Bedürfnissen entwickelt. Dazu gehören inhaltliche Angebote ebenso wie solche in und an den Unterkünften (z. B. Spielmobile u. Ä.) oder „Bring- und Holdienste“ zu den Einrichtungen. Die in diesem Beitrag präsentierten Einblicke und Befunde sind vor dem Hintergrund eines „Flüchtlingsprojekts“ entstanden, das an der Hochschule Düsseldorf entwickelt und angeboten wurde (vgl. Scholten und Deinet 2019). Im Rahmen des Projekts haben in drei Jahren ca. 100 Studierende ein vorgezogenes Praktikum in der Flüchtlingsarbeit absolviert. Dazu wurde eine Begleitforschung initiiert und durch die Unterstützung des NRW Jugendministeriums konnte eine bundesweite Befragung von Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit durchgeführt werden, deren wichtigsten Ergebnisse im Folgenden zuerst präsentiert werden. Anschließend folgt der Versuch eines Transfers der Erfahrungen aus der Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen in das gesamte Feld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit.

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2 Ergebnisse einer bundesweiten Befragung von Einrichtungen der OKJA 2017 wurden bundesweit Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zu ihrer Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen befragt. Dazu wurde von der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und Entwicklung der Hochschule Düsseldorf ein onlinegestützter Fragebogen erstellt, der über Multiplikatoren wie Landesorganisationen der OKJA, Verbände und Jugendämter an die Einrichtungen weitergeleitet wurde. Da Verzeichnisse oder Listen zu Einrichtungen der OKJA fehlen, musste über ein solches Schneeballverfahren versucht werden, möglichst viele Einrichtungen zu erreichen. Die Ergebnisse einer solchen willkürlichen Stichprobe können vor diesem Hintergrund keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben. Die Befragung wurde im Zeitraum von Juni bis September 2017 durchgeführt. Insgesamt konnten 555 Fragebögen in die Auswertung einbezogen werden. Die befragten Einrichtungen befinden sich mehrheitlich in Kommunen mit mindestens 60.000 Einwohner_innen (56 %). Damit dürften Einrichtungen aus Kleinstädten und Gemeinden eher unterrepräsentiert sein. Gefragt wurde auch, ob sich das Einzugsgebiet der Einrichtungen durch besondere soziale Problemlagen wie z. B. einen hohen Anteil von Einwohner_innen mit Grundsicherungsbezug nach SGB II auszeichnet. Rund 52 % gaben an, dass dies der Fall sei, wobei 13 % ankreuzten, dass ihnen dies nicht bekannt sei. Hinsichtlich der Trägerschaft zeigt sich, dass sich knapp 38 % der Einrichtungen in kommunaler Trägerschaft befinden. Die nächstgrößere Gruppe sind Einrichtungen in Trägerschaft überwiegend von Vereinen. In der Tendenz insgesamt entspricht die Struktur nach Trägern der Verteilung der Einrichtungen nach Trägerschaft bundesweit (Seckinger et al. 2016, S. 42). Dies gilt eher nicht für die Größe der Einrichtungen. Von allen Einrichtungen der Stichprobe verfügen nur zehn (1,8  %) über keine hauptamtlichen pädagogischen Fachkräfte. Damit sind diese Einrichtungen deutlich unterrepräsentiert. Das gilt auch für Einrichtungen, die weniger als elf Stunden pro Woche geöffnet haben (3,3 % in der Stichprobe). Insgesamt muss davon ausgegangen werden, dass es eher die größeren Einrichtungen sind, die sich gegenüber der neuen Zielgruppe offen zeigen bzw. in der Lage sind, ihr ein gezieltes Angebot zu machen.

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2.1 Angebote der OKJA für geflüchtete junge Menschen Im Mittelpunkt stand hier neben den konkreten Inhalten der Angebote die Frage, ob die Einrichtungen für die Zielgruppe gesonderte Angebote bzw. Projekte entwickelt und durchgeführt haben. Rund 67 % der Einrichtungen geben an, dass sie zum Befragungszeitpunkt gezielt spezifische Angebote machen. Wenn Angebote und Projekte für Geflüchtete durchgeführt werden, heißt dies keineswegs, dass nur junge Menschen aus dieser Zielgruppe teilnehmen. Zielsetzung vieler Angebote ist gerade der Kontakt auch zu Kindern und Jugendlichen aus dem Stadtteil. Jeweils rund die Hälfte der Einrichtungen geben an, dass sie für die Zielgruppe Angebote im Bereich Sport bzw. Kochen entwickelt haben. Auch Ferienangebote werden häufig genannt. Beratungsangebote zu Arbeit, Ausbildung und Praktika sowie Lernhilfen bzw. schulunterstützende Angebote spielen eine große Rolle. Die meisten Angebote finden in den Einrichtungen statt, zum Teil mit Bringund Holdiensten aus den Unterkünften. Rund 40 % der Einrichtungen geben an, dass ihre Angebote für die Zielgruppe im öffentlichen Raum stattfinden. Ein eher kleiner Teil der Einrichtungen (15 %) gehen mit ihren Angeboten auch in die Flüchtlingsunterkünfte. Der Bring- und Holdienst steht durchaus im Zusammenhang mit der Frage, ob auch geflüchtete Mädchen und junge Frauen von den Einrichtungen erreicht werden. So lässt sich zeigen, dass Einrichtungen, die überdurchschnittlich von dieser Gruppe besucht werden, auch häufiger diesen Dienst anbieten. Möglicherweise lässt dies den Schluss zu, dass die Einrichtungen darüber die Hemmschwellen abbauen, die dem Besuch von Mädchen z. B. aus muslimisch geprägten Elternhäusern entgegenstehen. Eine weitere Frage bezog sich auf den Anlass bzw. Anstoß zur Arbeit mit geflüchteten jungen Menschen. Rund 60 % der Einrichtungen geben an, dass sie aktiv geworden sind, weil sie auf den Bedarf aufmerksam geworden sind. Bei knapp einem Drittel der Einrichtungen ging der Anstoß von einer Anfrage aus den Flüchtlingsunterkünften aus. Aus den Antworten auf die offene Frage nach dem Anstoß wurde deutlich, dass es vielfach die Kinder und Jugendlichen selbst waren, die ohne besondere Ansprache in die Einrichtungen kamen. Auch der Anstoß über Schulkontakte wurde in diesem Zusammenhang genannt. Rund ein Drittel der befragten Einrichtungen macht zusätzlich Angebote für die Eltern der geflüchteten jungen Menschen. Das niedrigschwellige Angebot in Form von Elterngesprächen in den Einrichtungen hat hier die größte Bedeutung. Aufsuchende Elternarbeit und Elterncafés werden jeweils von rd. einem Viertel der Einrichtungen genannt.

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2.2 Zielgruppen 542 Einrichtungen haben im Rahmen der Befragung Angaben zur Zahl der geflüchteten jungen Menschen gemacht, die zum Befragungszeitpunkt die Einrichtung besuchen. Diese Einrichtungen beziffern die Zahl auf insgesamt 14.440; im Durchschnitt werden damit je Einrichtung rd. 27 geflüchtete Kinder und Jugendliche erreicht. Aussagekräftiger als die durchschnittliche Zahl ist die Verteilung der Projekte nach der Anzahl der erreichten geflüchteten Kinder und Jugendlichen. Knapp die Hälfte der Einrichtungen werden von maximal 19 geflüchteten Kindern und Jugendlichen besucht, aber fast ein Viertel der Einrichtungen zählen 31 und mehr Besucher_innen aus dieser Gruppe. Zu 14.121 gezählten Besucher_innen machten die Einrichtungen auch Angaben zum Alter. Demnach sind mehr als 40 % jünger als 14 Jahre, aber rd. 25 % älter als 18 Jahre. Damit unterscheidet sich die Altersstruktur der geflüchteten Besucher_innen leicht von der Altersstruktur der Besucher_innen der OKJA insgesamt. So sind vor allem die über 18-Jährigen überrepräsentiert. In einer bundesweiten Studie zur OKJA wird der Anteil der 17- bis 21-Jährigen mit 16 % und der Anteil der über 21-Jährigen mit 10 % angegeben (Seckinger et al. 2016, S. 156). Von allen Besucher_innen mit Fluchthintergrund sind knapp 25 % Mädchen und junge Frauen. Auch hier ist eine Abweichung von der Zusammensetzung nach Geschlecht bei den Besucher_innen insgesamt zu verzeichnen. 2011 lag der Anteil weiblicher Besucherinnen bundesweit bei 39 % (Seckinger et al. 2016, S. 158). Werden die Einrichtungen nach ihrem jeweiligen Anteil an Mädchen und jungen Frauen betrachtet, dann zeigt sich, dass fast 28 % aller Einrichtungen überhaupt nicht von Mädchen besucht werden. Andererseits weist ein fast ebenso starker Anteil einen überdurchschnittlichen Mädchenanteil von 40 % und höher auf. Der Mädchenanteil hängt stark mit dem Anteil unbegleiteter Minderjähriger zusammen. Diese Teilgruppe macht insgesamt an allen geflüchteten Besucher_ innen einen Anteil von knapp 20 % aus. Hintergrund dürfte u. a. sein, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge fast ausschließlich junge Männer sind. Die Einrichtungen erreichen geflüchtete junge Menschen, die in unterschiedlichen Wohnsituationen leben. In großer Zahl geben die Einrichtungen an, dass zumindest ein Teil ihrer Besucher_innen (mit ihren Familien) in eigenen Wohnungen leben. Aber zwei Drittel der Einrichtungen betreuen auch junge Menschen aus Gemeinschaftsunterkünften. Pflegefamilien und Wohngemeinschaften wurden nicht explizit abgefragt, aber häufig in der offenen Frage als sonstige Wohnformen genannt.

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2.3 Kooperationen vor Ort Die Einrichtungen konnten des Weiteren angeben, mit welchen Organisationen bzw. Akteuren sie in der Flüchtlingsarbeit zusammenarbeiten. Hier zeigt sich die große Bedeutung von ehrenamtlich Engagierten. Rund 60 % der Einrichtungen nennen sie als relevante Akteure. Auch die Schulen bzw. die Schulsozialarbeit spielt hier eine große Rolle. Schaut man auf die in der Flüchtlingsarbeit einschlägigen Organisationen, dann zeigt sich, dass die Flüchtlingsbeauftragten in den Kommunen eine größere Relevanz aufweisen als z. B. die Jugendmigrationsdienste (s. Abb. 1). 148 Einrichtungen (26,7 %) verfügen über hauptberufliche Mitarbeiter_innen oder regelmäßig über Honorarkräfte bzw. ehrenamtlich Tätige, die mindestens eine der Sprachen aus den Hauptherkunftsländern (Syrien, Irak, Afghanistan, Iran, Eritrea) der Geflüchteten sprechen. Mit rd. 48 % können etwas weniger als die Hälfte der Einrichtungen im Jahr 2017 auf zusätzliche Mittel zur Finanzierung der Arbeit mit Geflüchteten zurückgreifen. Knapp die Hälfte der Einrichtungen gibt an, dass die zusätzlichen Mittel von der Kommune kommen. Ein Viertel der Einrichtungen nennen Spenden von Unternehmen und Privatpersonen hier als zusätzliche Finanzquelle.

Ehrenamtliche

60.1

Schule/Schulsozialarbeit

60.0

sozialpädagogische Betreuungskräfte in den Unterkünften

55.7

andere Jugendeinrichtungen

53.8

Jugendamt

47.9

Flüchtlingsbeauftragte in der Kommune

43.6

Sportvereine

22.9

Religionsgemeinschaften/Kirchengemeinden Dolmetscher_innen bzw. Sprachmittler_innen Jugendmigrationsdienste

21.0 17.7 15.1

Abb. 1   Zusammenarbeit mit Organisationen und Akteuren in % (Mehrfachnennungen, n = 537)

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2.4 Einschätzungen und Bewertung durch die Fachkräfte Am Schluss wurden die Einrichtungen zu Einschätzungen und Bewertungen ihrer Arbeit mit Geflüchteten befragt. Die erste Frage bezog sich auf gängige, häufig gehörte Aussagen aus Einrichtungen, wenn es um diese Arbeit geht. Welche Bedeutung messen sie den oft dahinterstehenden Problemen und Teilhabebarrieren für ihre Arbeit zu? Rund zwei Drittel der Einrichtungen stellen fest, dass es für sie von hoher bzw. sehr hoher Bedeutung ist, dass Mädchen und junge Frauen kaum zu erreichen sind (s. Abb. 2). Unklar sind dabei allerdings die Hintergründe, da auf der einen Seite Mädchen und junge Frauen bei den Geflüchteten insgesamt unterrepräsentiert sind. So lag 2016 bundesweit der Anteil der weiblichen Geflüchteten in der Altersgruppe von elf bis unter 25 Jahren nur bei rd. 26 %, während der Anteil bei den Kindern unter elf Jahren bei leicht unter 50 % auszumachen war (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2017). Hintergrund ist u. a., dass die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge überwiegend männlich sind. Andererseits könnte

Abb. 2   Bewertung folgender Aussagen (Sehr hohe bis eher hohe Bedeutung in %, n = 498–550)

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aber auch eine Rolle spielen, dass es vor dem Hintergrund kultureller Muster Mädchen und jungen Frauen aus den Hauptherkunftsländern der Geflüchteten weniger leicht gestattet ist, Einrichtungen der OKJA zu besuchen. Zwei Drittel der Einrichtungen sehen den unsicheren Aufenthaltsstatus der Geflüchteten und die drohende Abschiebung als Problem, das die Arbeit erschwert. Ähnlich hoch ist der Anteil der Einrichtungen, die relevante Probleme bei der sprachlichen Verständigung sehen. Für fast die Hälfte der Einrichtungen ist es (sehr) bedeutsam hinsichtlich der Arbeit, dass qualifiziertes Personal für diese Arbeit schwer zu bekommen ist. Dass durch die Arbeit mit Geflüchteten die Stammbesucher_innen verdrängt werden, wird nur von vergleichsweise wenigen Einrichtungen bestätigt. Die Einrichtungen stellen überwiegend fest, dass die Angebote für geflüchtete Kinder und Jugendliche mittlerweile fester Bestandteil der Arbeit sind und die Zielgruppe inzwischen überwiegend Stammbesucher_innen umfasst. Dass die Zahl der geflüchteten Kinder und Jugendlichen im Verlauf der letzten zwei Jahre in den Einrichtungen deutlich zurückgegangen ist, wird von den Einrichtungen mehrheitlich nicht bestätigt, in NRW ist der Anteil mit 29,3 % aber höher als bundesweit.

2.5 Fazit Die Strukturprinzipien der Offenen Kinder- und Jugendarbeit wie freiwillige Teilnahme, offene Ziele, Inhalte und Arbeitsweisen, Diskursivität und Partizipation scheinen sich in der Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen zu bewähren. Die befragten Fachkräfte aus den Einrichtungen stellen zudem die hohe Akzeptanz niedrigschwelliger Angebote im Freizeitbereich heraus, die von Kindern und Jugendlichen aus Flüchtlingsfamilien gerne wahrgenommen werden. Vor dem Hintergrund, dass es in den Herkunftsländern keine Offene Kinder- und Jugendarbeit gibt, kann nicht von einem prinzipiellen Verständnis der Strukturprinzipien und Rahmenbedingungen bei den Geflüchteten und ihren Familien ausgegangen werden. Diese müssen sozusagen „eingeübt“ werden; darin liegt auch eine große Bildungschance der OKJA als neuer Erfahrungsraum für die geflüchteten Kinder und Jugendlichen. Sozialräumliche Flexibilität bei Orten und Formaten: Die Ergebnisse zeigen die große sozialräumliche Flexibilität der OKJA, die sich den unterschiedlichen Bedingungen und Bedarfen auch in der Gestaltung ihrer Orte anpassen kann. Neben der Einrichtung der OKJA spielen z. B. die Flüchtlingsunterkünfte

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eine Rolle, die als Angebotsort gestaltet werden und die Erreichbarkeit der Zielgruppe erleichtern. Dazu kommen weitere Formate wie mobile, aufsuchende Angebote im öffentlichen Raum oder Bring- und Holdienste. Bei der Gestaltung von Orten in Einrichtungen geht es auch um die konzeptionelle Frage von Räumen und Angeboten, die sich speziell an die Geflüchteten richten, wie etwa ein Flüchtlingscafé. Angebote im öffentlichen Raum (Spielmobile etc.) tragen dazu bei, dass sich geflüchtete Kinder und Jugendliche ihren Sozialraum aneignen können. Zielgruppen sind auch Eltern: Die Ergebnisse zeigen, dass die OKJA mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen auch deren Eltern mit einbeziehen muss. Hintergrund dürften kulturelle Unterschiede im familiären Zusammenleben, aber ebenso die Fluchterfahrungen und eine Grundskepsis gegenüber staatlichen Institutionen sein. Eine zentrale Aufgabe in der OKJA ist es deshalb, mit den Eltern Kontakt aufzunehmen, sie nicht nur über die Angebote für Kinder und Jugendliche zu informieren und aufzuklären, sondern auch spezielle Angebotsformate für sie zu entwickeln. Ohne die Unterstützung der Eltern im Hintergrund sind die Angebote der OKJA wenig effektiv. Offene freizeitpädagogische Angebote sind die Basis für Inklusion: Offene freizeitpädagogische Angebote haben in der Arbeit mit Geflüchteten deshalb einen hohen Stellenwert, weil sie kompensatorische Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche auch außerhalb ihrer oftmals beengten Wohnverhältnisse schaffen. Sport- und Bewegungsangebote z. B. sind aufgrund ihrer Niedrigschwelligkeit und der geringen Sprachbarrieren besonders geeignet für die Zielgruppe. Lernhilfen und Beratungsangebote sind bedarfsorientiert:  Die Unterstützung bei der schulischen Bildung wie insgesamt ein präventiver Ansatz werden im Feld der OKJA kontrovers diskutiert (vgl. Icking und Deinet 2017). Dabei stellen die durch die Arbeit mit benachteiligten Kindern und Jugendlichen in der OKJA vorhandenen Ressourcen gerade für geflüchtete Kinder und Jugendliche eine wichtige Unterstützung zur Bewältigung ihrer Alltagssituation dar. Dies gilt auch für die verstärkten Beratungsangebote der Einrichtungen. Wie die Ergebnisse der Befragung zeigen, haben solche schulbezogenen Angebote und Beratungsangebote in der OKJA für geflüchtete Kinder und Jugendliche tatsächlich einen großen Stellenwert. Verdrängung von Stammbesucher_innen ist kein großes Problem: Auch wenn sich dies im Rahmen dieser Befragung als kein großes Problem darstellt,

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ist die Integration der neuen Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen durchaus eine Herausforderung. Hier bedarf es einer strukturierenden Kompetenz der Fachkräfte und einer klugen Auswahl der Formate, mit denen es gelingen kann, neue Zielgruppen in die OKJA zu integrieren. Für die Fachkräfte der OKJA stellt sich immer wieder die Anforderung, Strukturen des Zusammenlebens in den Einrichtungen zu schaffen, die sowohl für die Stammbesucher_innen als auch für die neuen Zielgruppen transparent und nachvollziehbar sind. Dazu gehören etwa die gewaltfreie Austragung von Konflikten und die Toleranz gegenüber ­Minderheiten. Mädchen und junge Frauen sind schwer erreichbar:  Die in der OKJA diskutierte Problematik, dass mit zunehmendem Alter der Besuch von Mädchen und jungen Frauen zurückgeht, wird im Bereich der Arbeit mit geflüchteten Jugendlichen noch durch kulturelle und gesellschaftliche Umstände beeinflusst. In vielen Herkunftsländern sind Frauen im öffentlichen Raum weniger präsent, und auch aus religiösen Gründen können weibliche Jugendliche nicht so frei agieren wie die männlichen. Ein spezifischer Aspekt in der Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen ist deshalb die Situation der Mädchen, die mit spezifischen Angeboten angegangen werden kann. Nutzbringend sind hier jahrzehntelange Erfahrungen aus der Mädchenarbeit, z. B. mit spezifischen Angebotsformaten (Mädchengruppen, Mädchentagen etc.) und zielgruppenspezifischen Inhalten. Kooperationen und Vernetzung in der Flüchtlingsarbeit bleiben schwierig:  Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingszuwanderung ging es insbesondere um die Schaffung von Strukturen in Stadtteilen im Sinne einer besseren Kooperation und Vernetzung der bestehenden Einrichtungen sowie deren sozialpolitische Steuerung in Bezug auf das Flüchtlingsthema. Die Herausforderung bestand auch darin, die vorhandenen Netzwerke für die neuen Herausforderungen nutzbar zu machen, da diese in der Sozialen Arbeit nur zum Teil. anschlussfähig für die neuen Herausforderungen der Flüchtlingsarbeit zu sein scheinen. Dazu kommt, dass die OKJA in den vorhandenen Kooperationen und Netzwerken zum Thema Bildung, insbesondere den Bildungslandschaften, nicht gut vertreten ist. Bildung ist aber der zentrale Schlüssel für die Inklusion der zugewanderten Menschen und stellt sich deshalb auch als zentrales Thema der Flüchtlingsarbeit dar. Es ist deshalb wichtig, dass die OKJA in Koordinations- und Steuerungsgremien vertreten ist, um sich entsprechend ihren Möglichkeiten auch in die Flüchtlingsarbeit einer Kommune insgesamt einbringen zu können.

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3 Transfer von Erfahrungen aus der Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen in das gesamte Feld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Seit Beginn der Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen im Rahmen der OKJA und der dazu notwendigen Anpassungen und Veränderungen von Konzepten, Formaten und Angeboten lag ein fachliches Interesse bei der Frage, ob die OKJA in der Flüchtlingsarbeit innovative Potenziale entwickeln kann und ob es einen Transfer der im Rahmen der Flüchtlingsarbeit gemachten Erfahrungen und entwickelten Konzepte in die Breite des Feldes der Offenen Kinder- und Jugendarbeit geben kann. Die Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen in der OKJA wird auch als große Chance begriffen, das gesamte Feld weiterzuentwickeln (vgl. Deinet 2019).

3.1 Mehr sozialräumliche Flexibilität für die gesamte OKJA Die Ergebnisse der Studie zeigen eine sozialräumliche Flexibilität der OKJA, die sich den unterschiedlichen Bedingungen und Bedarfen auch in der Gestaltung ihrer Orte anpassen kann. Neben der Einrichtung der OKJA spielen z. B. die Flüchtlingsunterkünfte eine Rolle, die als Angebotsorte gestaltet werden und die Erreichbarkeit der Zielgruppe erleichtern. Für den Transfer bedeutet dies, dass die sozialräumliche Flexibilität keine Sondersituation in Bezug auf die neuen Zielgruppen sein sollte, sondern auch für die Breite des Feldes ein wichtiges Element darstellt. Die nach wie vor verbreitete Einrichtungszentriertheit mit Einrichtungen der OKJA, die heute sozialräumlich gesehen oft am falschen Ort liegen, muss durch flexible Formen mobiler Arbeit oder Angebote im öffentlichen Raum überwunden werden. Dafür gibt es viele Beispiele, die sich aber immer noch nicht in der Breite des Feldes durchgesetzt haben. Die in der Flüchtlingsarbeit gesammelten Erfahrungen der OKJA verweisen auf eine weitere sozialräumliche Flexibilisierung, um Zielgruppen zu erreichen, die man bisher nicht erreichen konnte. Nur durch aufsuchende, mobile Angebote an ihren Orten können viele Kinder und Jugendliche überhaupt erreicht werden – nicht durch die Existenz von Einrichtungen mit ihrer „Komm-Struktur“. Auch die Studie zu Jugendlichen in Shoppingmalls (Deinet 2017) zeigt, wie Jugendliche heute andere, hier kommerzialisierte gesellschaftliche Bereiche nutzen, dort ihre eigenen Räume „schaffen“ und sich damit der institutionellen

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Pädagogik und Sozialpädagogik sowie deren Angebote weitgehend entziehen. Auch in diesem Bereich existieren mobile aufsuchende Angebote, die niedrigschwellig Jugendliche außerhalb der existierenden Einrichtungen erreichen können. Diese sollten in Zukunft zum Standard der OKJA gehören und dürfen nicht weiter als spezielle Einrichtungen oder Angebotsformen verstanden werden.

3.2 Inklusive Formate erweitern Die Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen zeigt noch einmal das Für und Wider spezieller Angebote für spezielle Zielgruppen, so wie sie z. B. auch in der Jungen- und Mädchenarbeit in der Tradition der OKJA entwickelt wurden. In bestimmten Situationen kann es durchaus richtig sein, spezielle Formate für bestimmte Zielgruppen einzurichten, um diese überhaupt zu erreichen und ihnen auch eine gewisse Sicherheit zu geben, die sie vielleicht so im offenen Bereich einer Einrichtung nicht hätten. Für die Frage von Chancen und Problemen inklusiver und exklusiver Formate bringt die Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen unter dem Strich nicht wirklich neue Erkenntnisse oder neue Entwicklungen. Sie macht es aber möglich, vorhandene Formate vor dem Hintergrund der Arbeit mit Geflüchteten und der daraus resultierenden Erfahrungen zu diskutieren und auch infrage zu stellen. Insofern bietet der Transfer der hier gemachten Erfahrungen in die Breite des Feldes der OKJA auch den Anlass, die Ergebnisse und Einschätzungen als Reflexionsfolien oder als Anstoß für eine konzeptionelle Weiterentwicklung zu nutzen.

3.3 Eltern als „neue“ Zielgruppe für die OKJA? Die Ergebnisse zeigen, dass die OKJA mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen ebenso deren Eltern miteinbeziehen muss. Hintergrund dürften u. a. kulturelle Unterschiede im familiären Zusammenleben, aber gleichfalls die Fluchterfahrungen und eine Grundskepsis gegenüber staatlichen Institutionen sein. Eine zentrale Aufgabe in der OKJA ist es deshalb, mit den Eltern Kontakt aufzunehmen, sie nicht nur über die Angebote für Kinder und Jugendliche zu informieren und aufzuklären, sondern auch spezielle Angebotsformate für sie zu entwickeln. Ohne die Unterstützung der Eltern im Hintergrund sind die Angebote der OKJA wenig effektiv. Die Arbeit mit Eltern der geflüchteten Kinder und Jugendlichen, die anfangs notwendig war, um das Vertrauen der Familien herzustellen und Hindernisse und

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Hürden zu überwinden, hat zumindest zeitweise zu Formen einer Elternarbeit im Bereich der OKJA geführt, die es so vorher nicht gab. Spezielle Angebote für Eltern, niedrigschwellige Beratungsangebote etc. waren notwendig, um die Kinder und Jugendliche der Familien überhaupt erreichen zu können. Obwohl sich diese Form der Elternarbeit inzwischen weitgehend erübrigt hat, weil viele Kinder und Jugendliche nun selbstständig Jugendfreizeiteinrichtungen besuchen können, kann die Breite der OKJA aus diesen Entwicklungen in der Elternarbeit der geflüchteten Kinder und Jugendlichen durchaus Rückschlüsse ziehen. Auch wenn die Tradition der Kinder- und Jugendarbeit darin besteht, einen Freiraum für Jugendliche zwischen Schule und Elternhaus zu bilden – was tendenziell ebenso damit verbunden war, Eltern weitgehend aus der Arbeit herauszuhalten –, so hat sich diese Situation gesellschaftlich schon lange durch ein neues Generationenverhältnis und liberalere Erziehungsstile in den Familien deutlich verändert. Insbesondere mit den niedrigschwelligen Formen von Elterncafés etc. konnte die OKJA in der Arbeit mit Eltern hier auch wieder an ihre Strukturprinzipien und „Didaktik“ anknüpfen und entsprechende Formate entwickeln, die gleichfalls für andere Bereiche interessant sein können.

3.4 Sozialräumliche Vernetzung Die in der Flüchtlingsarbeit aufgetretenen Kooperationsprobleme mit Wohlfahrtsverbänden und Trägern von Flüchtlingsunterkünften, aber auch die Probleme in der Kooperation auf kommunaler Ebene (vgl. Projekt INTESO) zeigen noch einmal die schwierige Stellung der OKJA in den sozialräumlichen Vernetzungsgremien. Zum einen hat sie aufgrund ihrer sozialräumlichen Nähe zu vielen Zielgruppen die Kompetenz, hier als geschätzter Partner aufzutreten (so wie in der Flüchtlingsarbeit) und sich entsprechend einzubringen, gleichzeitig fehlen ihr aber auch im Vergleich zu anderen Institutionen aufgrund ihrer Struktur mit in der Mehrzahl eher kleineren Einrichtungen die Personalressourcen dafür. Auch der „Überbau“ der OKJA ist zum Teil schlecht entwickelt, sodass viele Einrichtungen ohne Trägerunterstützung weitgehend allein sowie isoliert agieren und schnell mit Kooperationsanforderungen überfordert sind. Im Transfer auf die Breite des Feldes bleibt die Frage, welche Rolle die OKJA und ihre Einrichtungen in sozialräumlichen Vernetzungsprojekten einnehmen und wie sie diese aufgrund ihrer zum Teil schwierigen Rahmenbedingungen gestalten können.

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Die im Rahmen der Entwicklung kommunaler Bildungslandschaften in Deutschland in vielen Kommunen entstandenen Vernetzungsgremien stellen für die OKJA ebenfalls eine große Herausforderung dar. Bisher scheint es ihr nicht gelungen zu sein, sich dort auch mit ihren spezifischen Rahmenbedingungen und Bildungsformaten einzubringen (vgl. Deinet 2013). Auch in den im Rahmen der Fokussierung des Themas Kindeswohlgefährdung entstandenen präventiven Netzwerken, z. B. im Bereich der Frühen Hilfen, tut sich die OKJA schwer, ebenso in der Kooperation mit anderen Bereichen der Jugendhilfe, wie den Hilfen zur Erziehung oder Institutionen wie Schule. Die Erfahrungen im Rahmen der Flüchtlingsarbeit zeigen deutlich, dass die Stärken der OKJA in der kleinräumigen sozialräumlichen Vernetzung liegen können und ihre Fachkräfte Schlüsselpersonen sind, die auch in der Flüchtlingsarbeit entsprechend genutzt wurden (bis hin zur „Abordnung“ einiger Fachkräfte für die Koordination der Flüchtlingsarbeit vor Ort). Vor dem Hintergrund der in der Flüchtlingsarbeit gesammelten Erfahrungen der sozialräumlichen Kompetenz der Fachkräfte vor Ort und ihrer Überforderung in größeren und abstrakteren (z. B. gesamtstädtischen) Netzwerkstrukturen deutet alles darauf hin, dass die Strukturen der OKJA oberhalb der Einrichtungsebene gestärkt werden müssen, um diese z. B. im Bereich der Bildungslandschaften entsprechend repräsentieren und einbringen zu können. Die bisherige Trägerstruktur scheint diesem gemeinsamen Auftreten der OKJA zum Teil aber entgegenzuwirken und muss hinterfragt werden.

Literatur Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. (2017). Das Bundesamt in Zahlen 2016. Asyl, Migration und Integration. Nürnberg. Deinet, U. (2013). Innovative Jugendarbeit. Bausteine und Perspektiven einer sozialräumlichen Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Reihe Soziale Arbeit und sozialer Raum, Bd. 3. Opladen u. a.: Barbara. Deinet, U. (2016). Offene Kinder- und Jugendarbeit mit Flüchtlingen: Herausforderung und Chance. deutsche jugend, (64), 149–160. Deinet, U. (2017). Jugendliche und die „Räume“ der Shopping Malls – Herausforderungen für die Offene Jugendarbeit. deutsche jugend, (65), 9–17. Deinet, U. (Hrsg.). (2019). Herausforderung angenommen – Offene Kinder- und Jugendarbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Forschungen, Praxisprojekte, Konzepte. Weinheim: Beltz Juventa. Icking, M., & Deinet, U. (2017). Offene Kinder- und Jugendarbeit und Prävention. Möglichkeiten und Grenzen. FGW Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung (Hrsg.). Düsseldorf. http://www.fgw-nrw.de/fileadmin/user_upload/FGWStudie-VSP-06-Deinet-A1-komplett-Web.pdf. Zugegriffen: 26. Nov. 2018.

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Projekt INTESO. Integration im Sozialraum: Lokale Konzepte zur Vernetzung und Steuerung zivilgesellschaftlicher und institutioneller Ressourcen in der Arbeit mit Flüchtlingen (INTESO), https://soz-kult.hs-duesseldorf.de/forschung/ forschungsaktivitaeten/forschungsprojekte/inteso/aktuelles, Zugegriffen: 26. Nov. 2018. Scholten, L., & Deinet, U. (2019). Kompetenzen von Fachkräften in der sozialpädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Flucht- und Zuwanderungshintergrund. In U. Deinet (Hrsg.), Herausforderung angenommen – Offene Kinder- und Jugendarbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Forschungen, Praxisprojekte, Konzepte (S. 67–79). Weinheim: Beltz Juventa. Seckinger, M., Pluto, L., Peucker, C., & Santen, E. (2016). Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Eine empirische Bestandsaufnahme. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Dr. Ulrich Deinet ist Professor für Didaktik/Methodik und Verwaltung/Organisation an der Hochschule Düsseldorf und Leiter der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung (FSPE) sowie Mitherausgeber des Onlinejournals Sozialraum.de. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kinder- und Jugendarbeit, Sozialraum und Methoden der Sozialen Arbeit. Dr. Maria Icking  ist Sozial- und Erziehungswissenschaftlerin und selbstständig tätig im Institut für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung (www.ispe-net.de). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Kooperation von Jugendhilfe und Schule, Offene Kinderund Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit und Schulsozialarbeit.

Sozialräumliche Barrieren in der Bildungslandschaft. Die Unterbringungspolitik von Geflüchteten als Hindernis für fluchtsensible Schulkonzepte Joachim Schroeder Zusammenfassung

Der Schulbesuch und auch die soziale Integration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen wird in hohem Maße vom Verlauf der Erst- und Folgeunterbringung bestimmt. In zwei von der DFG geförderten Forschungsprojekten wurden die Wohnbiografien von Geflüchteten in Hamburg untersucht. Es zeigt sich, dass häufige Unterkunftswechsel in wenigen Jahren eher die Regel als die Ausnahme sind. Dies bringt für die Kinder und Jugendlichen zumeist viele Schulwechsel mit sich, wie auch Vereine und andere Freizeiteinrichtungen in kurzer Zeit bis zu acht Mal gewechselt werden müssen. Für Schüler_innen mit einer Behinderung treten in urbanen Räumen, die nicht barrierefrei gebaut sind, weitere Erschwernisse hinzu. Dies sind die Ausgangsbedingungen und zugleich die Koordinaten für die Entwicklung von Schulkonzepten, für die im Beitrag abschließend einige Anregungen skizziert werden. Schlüsselwörter

Unterbringung · Wohnbiografien · Schulkonzepte · Bildungsangebote · Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung · Barrierefreiheit

J. Schroeder (*)  Fakultät Erziehungswissenschaften, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_19

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1 Schule, Sozialraum, Flucht Seit Jahrzehnten orientiert sich in Deutschland die Entwicklung einzelner Schulen und Schulsysteme an sozialraumorientierten Ansätzen (Schroeder 2016): Das Prinzip der wohnortnahen Beschulung ist zumindest für die Primarstufe fast überall gesetzlich verankert. Die Kooperation der Schulen mit den kulturellen und sportlichen Einrichtungen sowie den Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe im sozialen Umfeld ist in Grund- und Sekundarschulen eine Selbstverständlichkeit. Schulische und außerschulische Angebote werden aufeinander bezogen und in Schulprogrammen curriculare Lebensweltbezüge hergestellt, um den Schüler_innen die Aneignung ihres Umfelds und die Erfahrung der Mitgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse im Nahraum zu ermöglichen. Lehrkräfte arbeiten in kommunalen Netzwerken mit, Schulen kooperieren mit Betrieben, Behörden und Beratungsstellen, der herkunftssprachliche Unterricht wird gezielt an den im Sozialraum vorhandenen Familiensprachen ausgerichtet. In ganz ambitionierten Konzepten sollen Schulen sogar zum Zentrum und Motor der sozialen und kulturellen Entwicklung im lokalen Sozialraum werden (Maykus et al. 2017). In einigen Bundesländern wurde zudem die sozialraumindexierte Ressourcenzuweisung eingeführt, sodass Schulen in sozial schwachen Stadtteilen oder ländlichen Regionen mehr Lehrpersonal, sozialpädagogische Fachkräfte und zusätzliche Stunden für die Förderung erhalten, um Chancengleichheit herzustellen (Fickermann und Maritzen 2014). Bezogen auf soziale Benachteiligung wird der in diesen Ansätzen implizierte pädagogische Optimismus zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit jedoch stark gedämpft, weil der Sozialraum eben immer auch die Reproduktion sozialer Ungleichheit befördert (Schroeder 2019): In marginalisierten Stadtteilen haben Heranwachsende in aller Regel ungünstigere infrastrukturelle Bedingungen der individuellen Entwicklung und Entfaltung. Oftmals gibt es keine Vereine oder sozialpädagogischen Einrichtungen, in denen beispielsweise die Möglichkeiten des „Bildungspakets“ ausgeschöpft werden könnten, das Eltern, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, finanziell unterstützt, sodass ihre Kinder kostenlos bzw. mit reduziertem Beitrag in einem Sportverein oder am Unterricht in einer Musikschule teilnehmen können. Der Öffentliche Nahverkehr ist wenig ausgebaut, die Nutzung von Angeboten in anderen Stadtteilen für Kinder und Jugendliche ist schwierig. Bau und Ausstattung von Schulen sind Sache der Kommunen und Landkreise, weshalb in Gemeinden mit hohem Steueraufkommen größere finanzielle Spielräume bestehen als in überschuldeten Orten (vgl. zu alldem auch Grotheer und Schroeder 2013). Im Handlungsfeld Flucht,

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so meine These, wird der Sozialraum sogar überwiegend zu einem Hindernis für die Teilhabe an schulischer Bildung. Diese Behauptung soll mit empirischen Befunden aus zwei aktuellen Forschungsprojekten belegt werden, in denen wir in einer Forschungsgruppe für Hamburg insbesondere den Zusammenhang zwischen der Unterbringungs- bzw. Wohnbaupolitik und den Möglichkeiten des Zugangs zu Bildung für Geflüchtete untersucht haben.1

2 Auswirkungen der Unterbringung auf den Schulbesuch Nach § 47 Asylgesetz sind Geflüchtete verpflichtet, bis zur Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag, längstens jedoch bis zu 18 Monate, bei minderjährigen Kindern und ihren Eltern bis zu sechs Monate, in der für ihre Aufnahme zuständigen Einrichtung zu wohnen. Zunächst ist dies für maximal sechs Monate eine Erstaufnahmeeinrichtung mit Mehrbettzimmern, standardisierter Essensversorgung und geringer Wohnqualität. Danach dürfen Geflüchtete innerhalb des Bundeslandes, dem sie zugewiesen wurden, in eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt ziehen. Wenn die Suche nicht erfolgreich ist, dann sind die Kommunen für die Folgeunterbringung in ­öffentlich-rechtlichen Einrichtungen zuständig (Sylla 2018, S. 96). Sowohl die Erst- als auch die Folgeunterbringung implizieren spezifische Probleme des Schulbesuchs junger Geflüchteter.

2.1 Erstunterbringung und Schule Die Unterbringung in der Erstaufnahme erfolgt überwiegend in halbgeschlossenen Einrichtungen, wie z. B. Wohncontainern, Turnhallen, ehemaligen

1„Fluchtort

Stadt. Explorationen in städtische Lebenslagen und Praktiken der (Orts-) Aneignung von Flüchtlingen“ (2016–2018; vgl. hierzu auch die Buchveröffentlichung Arouna et al. 2019) und „Transformationsprozesse am Fluchtort Stadt“ (2018–2020). Beide Projekte wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert und von Prof. Dr. Ingrid Breckner (HafenCity Universität Hamburg) und Prof. Dr. Joachim Schroeder (Universität Hamburg) gemeinsam geleitet. Zur Forschungsgruppe gehörten außerdem Dr. Mariam Arouna, Hazal Budak-Kim, Umut Ibis, Dr. Frauke Meyer und Dr. Cornelia Sylla.

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Supermärkten oder Kasernen. Um dies zu ermöglichen, wurden 2015 „Sonderregelungen für Flüchtlingsunterkünfte“ in das Baugesetzbuch (§ 246 BauGB) eingefügt: Bauliche Anlagen wie Einkaufszentren oder großflächige Einzelhandelsbetriebe dürfen zur Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden genutzt werden und es ist zulässig, auch in Gewerbegebieten mobile Unterkünfte sowie Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünfte anzusiedeln. In diesen umzäunten und kontrollierten Großeinrichtungen leben zumeist mehrere hundert Menschen zusammen, bewacht von einer Security. Somit ist die Unterbringung zumeist beengt und laut, Übergriffen sind Frauen und Kinder oftmals schutzlos ausgeliefert (vgl. Täubig 2009). Die meisten haben kein Zimmer für sich alleine, häufig gibt es keine ruhige Ecke zum ungestörten Lernen, was jedoch eine elementare Voraussetzung für einen Schul- und Ausbildungserfolg ist. Grundsätzlich sollen schulpflichtige Kinder und Jugendliche bereits in der Erstaufnahme in eine unterbringungsnahe Schule aufgenommen werden. Gesichert ist dies aber nur bei den unbegleiteten Minderjährigen, weil diese in einer Maßnahme der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht werden (zumeist Wohngruppen), in denen die Einschulung verlässlich organisiert wird. In den Erstaufnahmeeinrichtungen in Hamburg findet der Besuch einer öffentlichen Schule in den sechs Monaten sehr häufig nicht statt; auf die vielfältigen Gründe wird noch eingegangen. Fast immer werden dann Schulen in den „dezentralen Lagern“ (Pieper 2008) eingerichtet, um eine gewisse pädagogische Versorgung zu gewährleisten, wenngleich oftmals nur ein zeitlich sehr reduzierter und auf den Erwerb des Deutschen eingeschränkter Unterricht erteilt wird (Schroeder 2012, S. 179–241). Mitarbeitende der Unterkünfte in Hamburg berichten, dass Kita- und Schulplätze oftmals im Vorfeld, bisweilen noch vor Einzug der Familien in die Unterkunft, gesucht werden. Gleichzeitig werden die Schulbehörden kritisiert, dass man sich auf einen funktionierenden Ablauf nicht verlassen könne und es in der Regel vom Engagement des Personals abhänge, die notwendigen Schulplätze ausfindig zu machen. Je ungünstiger ein Standort gelegen ist – beispielsweise in einem Industriegebiet –, desto weniger Angebote gibt es. Solche Unterkünfte erweisen sich als doppelt benachteiligt, weil auch die Anbindung an den Öffentlichen Nahverkehr oftmals schlecht ist und somit z. B. Schulen in anderen Quartieren nur schwer erreicht werden können (Arouna et al. 2019, S. 121). Andererseits fällt gerade die pädagogische Versorgung in den Erstaufnahmeeinrichtungen relativ gut aus. Insbesondere für minderjährige Geflüchtete ist die sozialpädagogische und schulische Betreuung gesichert, und mit viel ehrenamtlichem Engagement werden Spielgruppen, Lernangebote, vor allem Deutsch, Rechnen und Orientierung, des Weiteren Hausaufgabengruppen für diejenigen,

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die in die Schule gehen, Lesepatenschaften usw. vorgehalten. Manche Vereine öffnen sich für Flüchtlingskinder, oftmals werden die Angebote allerdings ebenfalls im Lager durchgeführt, wo die jungen Geflüchteten dann vorwiegend unter sich Fußball spielen oder malen. Selbst wenn die Kinder in eine öffentliche Schule gehen, ist es dennoch schwierig, dort Freundschaften zu entwickeln, weil Besuche in der Unterkunft für Minderjährige oftmals nur in Begleitung von Erwachsenen erlaubt sind. Manche jungen Geflüchteten vermeiden es, ihre Peers einzuladen, weil sie sich für die Unterbringung schämen. Die gemeinsame Nutzung eines umzäunten Spielplatzes in einer Erstaufnahme von geflüchteten Kindern und denen einer nahen Wohnsiedlung wurde von den Behörden nur erlaubt, weil in der Sozialsiedlung kein anderer Spielplatz vorhanden ist (Grotheer und Schroeder 2019). An solchen Beispielen wird deutlich, dass sich soziale Integration in den Sozialraum während der Erstaufnahme als äußerst schwierig erweist.

2.2 Folgeunterbringung und Schule Der Schritt von der oftmals geschlossenen und überwachten Erstunterkunft in eine Folgeunterbringung kann für die Geflüchteten zu einem Zugewinn an Selbstbestimmung führen, weil die Wohnung etwas geräumiger bzw. besser ausgestattet ist und vor allem nicht mehr von der Security kontrolliert wird. Der Umzug kann jedoch auch einen Verlust an Unterstützung bedeuten, wenn z. B. die Kinder keine Hausaufgabenhilfe mehr erhalten oder die sozialpädagogische Unterstützung wegfällt. Der Transfer findet häufig in eine Folgeunterkunft in einem anderen Bezirk statt, sodass die Integrationsarbeit in örtliche Gruppen, Vereine und in die Schule von vorn beginnt. Auch in den Bildungseinrichtungen müssen ständig neue Schüler_innen integriert werden, selten sind die Lerngruppen über einen längeren Zeitraum hinweg stabil. Aber gerade tragfähige soziale Beziehungen und personelle Kontinuität von Ansprech- bzw. Bezugspersonen sind von zentraler Bedeutung für ein Ankommen in Deutschland und die soziale sowie berufliche Integration. Die Bundesregierung hatte 2015 ein „Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“ auf den Weg gebracht, um solchen Schwierigkeiten entgegenzuwirken. Doch in den oben erwähnten Untersuchungen in Hamburg konnten wir in unserer Forschungsgruppe zeigen, dass der gesetzlich vorgesehene Prozess der Erst- und Folgeunterbringung in dieser Weise sehr häufig nicht stattfindet, sondern diskontinuierliche Wohnbiografien entstehen. Dies erschwert nicht nur die Sozial-

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raumorientierung in der Sozialen Arbeit, sondern auch für die Schulpädagogik ist das ein Problem.

2.3 Diskontinuierliche Wohnbiografien in der Stadt Viele Geflüchtete ziehen in Hamburg innerhalb der ersten zwei Jahre sehr oft um (Arouna et al. 2019, S. 196–199). Die Umzüge erfolgen kreuz und quer im gesamten Stadtgebiet und teilweise zwischen weit auseinanderliegenden Unterkünften, was immer wieder neue sozialräumliche Aneignungsbemühungen erforderlich macht und mehrere Schulwechsel der Kinder zur Folge hat. Ein aus unserem Datenmaterial noch nicht veröffentlichtes Wohnprofil einer aus Syrien stammenden palästinensischen Familie mit zwei schulpflichtigen Kindern zeigt einen recht typischen Verlauf (vgl. Abb. 1). Nach der Ankunft in Deutschland werden die Eltern mit ihren Kindern zunächst nach Lübeck (Schleswig-Holstein) geschickt und wenige Tage später dann dem Bundesland Hamburg zugewiesen. Dort müssen sie zwei Tage in der zentralen Aufnahmeeinrichtung im Bezirk Harburg bleiben, ganz im Süden der Stadt. Danach werden sie in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Bergedorf, dem östlichsten Bezirk der Hansestadt, in einem ehemaligen Baumarkt („Max Bahr“) untergebracht. Hierbei handelt es sich um eine große Halle an einer verkehrsreichen Straße in einem Industriegebiet. Vorhänge fungieren als Trennwände, es gibt somit kaum Privatsphäre, die Sanitärräume liegen außerhalb der Halle, Kinder trauen sich nachts nicht auf die Toiletten. Dort lebt die Familie etwa viereinhalb Monate, während dieser Zeit gehen die Kinder nicht zur Schule. Die Eltern erhalten die Auskunft, dass die Kinder nicht eingeschult werden könnten, weil die Unterkunft keine richtige Wohnung sei. Nachdem die Tochter mehrfach erkrankt und sogar im Krankenhaus behandelt werden muss, wird die Familie in die Erstaufnahmeeinrichtung „Schnackenburgallee“ verlegt, in den Containern leben zu dieser Zeit 850 Geflüchtete. Zu viert teilen sie sich einen kleinen Raum mit zwei Etagenbetten. Das Zimmer ist kaum besser als in der vorherigen Unterkunft, aber die Kinder können nun endlich (einrichtungsnah) zur Schule gehen. In dieser Unterkunft bleiben sie acht Monate. Die Einrichtung ist inzwischen geschlossen und rückgebaut worden. Es folgt eine Verlegung in die Luruper Hauptstraße, eine sogenannte Folgeunterkunft, zu dieser Zeit mit knapp tausend Plätzen. Auch diese Wohnanlage hat einen niedrigen Unterbringungsstandard: pro Stockwerk 18 vergleichsweise kleine, elf Quadratmeter große Räume in dreigeschossigen Containerbauten, die dicht aneinandergereiht stehen. Aus dem Fenster blickt man direkt in die benach-

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Abb. 1   Wohnbiografie einer vierköpfigen Familie in Hamburg zwischen 2015 und 2018 (Eigene Bearbeitung). (Quelle der Kartenvorlage: Wikimedia Commons User TUBS [CCBY-SA 3.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de])

barten Zimmer. Zunächst will die Familie nicht einziehen, doch sie erhält zwei Zimmer und es wird gesagt, dass es nur eine kurzfristige Lösung sei und bereits nach einer Wohnung für sie gesucht werde. Die Tochter wird in die sechste und der Sohn in die achte Klasse eingeschult. Sie fahren mit dem Bus zur Schule. Beide Kinder spielen Musikinstrumente, können in der Unterkunft aber nicht üben. Aufgrund eines weiteren Umzugs in den Albert-Einstein-Ring, etwa acht Monate später, müssen Sohn und Tochter erneut die Schule wechseln, obwohl beide gerne auf der vorherigen Schule bleiben wollen. Zudem muss der Junge

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einen neuen Fußballverein und das Mädchen einen anderen Chor finden. Die Familie wünscht sich eine 3-Zimmer-Wohnung, wichtig sei nur, dass ihre beiden Kinder jeweils einen eigenen Raum für sich haben könnten. Die Eltern würden dann im Wohnzimmer schlafen. Sie möchten gerne in Hamburg bleiben. Wohnpolitisch ist in Hamburg vorgesehen, dass es möglichst wenige Transfers von einer Erstaufnahme- in eine Folgeunterkunft geben soll. Faktisch finden jedoch binnen relativ kurzer Zeit oftmals mehrere Umzüge statt. Außerdem gibt es einen erheblichen Rückstau so genannter „Überresidenten“ in den Erstaufnahmeeinrichtungen, weil zu wenige Folgeunterkünfte verfügbar sind. Zum Teil kommt es zu Standortschließungen, ohne dass eigener Wohnraum gefunden werden kann, sodass ein erneuter Transfer in eine Unterkunft notwendig wird. Die behördlichen Entscheidungen über Transfers sind zudem oftmals sehr kurzfristig, in der Regel werden sie erst am Tag des Umzugs mitgeteilt, und sie sind intransparent, beinhalten Konfliktpotenzial und sind wenig förderlich für die Lebenslagen; Einsprüche haben aber manchmal Erfolg (Arouna et al. 2019, S. 64 ff.).

3 Weitere Erschwernisse der schulpädagogischen Sozialraumorientierung Die sozialräumliche Integration ist vielerorts durch Bürgerproteste erschwert, die sich gegen den Bau von Unterkünften richten und somit Geflüchteten signalisieren, dass sie nicht willkommen sind. Ein anderes Problem des Sozialraums betrifft den Fakt, dass er nur selten barrierefrei gestaltet ist und deshalb Geflüchteten mit einer Behinderung den Zugang nicht nur zur Schule erschweren kann.

3.1 Abwehrreaktionen der ansässigen Wohnbevölkerung In Hamburg haben sich mehrere Bürgerinitiativen gebildet, die gegen die Pläne der Stadtentwicklungsbehörde zur Einrichtung von Erstaufnahme- und Folgeunterkünften kämpfen. Solche Initiativen entstanden einerseits in Stadtteilen, in denen sehr viele Notunterkünfte eingerichtet worden waren, aber auch in wohlhabenden Quartieren, in denen zum ersten Mal eine Unterkunft gebaut werden sollte (Friedrichs et al. 2017; Sylla 2018). Die Bürgerinitiativen waren und sind

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gerade in solchen Gebieten besonders aktiv, in denen die Grundstücke groß und die Grundstückspreise hoch sind und „Unterkünfte direkt an Wohngebiete mit größeren Einfamilienhäusern grenzen“ (Sylla 2018, S. 102). „Die AnwohnerInnen der Planungsgebiete waren nicht durchgängig mit den Maßnahmen der Stadt einverstanden, Bürgerinitiativen formierten sich, schlossen sich zu einer Volksinitiative zusammen und strebten einen Volksentscheid zur Unterbringungspolitik in Hamburg an. Da der Senat fürchtete, ein solcher Volksentscheid könnte die politische Stimmung weiter polarisieren, wurde in den sogenannten Bürgerverträgen ein Kompromiss ausgehandelt. Diese Bürgerverträge haben die Unterbringungspolitik in Hamburg maßgeblich beeinflusst.“ (ebd., S. 96)

Solche Bürgerverträge wurden aber nicht überall geschlossen, gerade in manchen benachteiligten Stadtteilen nicht, „obwohl hier auf engstem Raum mehrere sehr große Unterkünfte in einem Industriegebiet stehen und eine Schule und ein Kindergarten ausschließlich von Kindern aus diesen Einrichtungen besucht werden“ (ebd., S. 99). Auch die Beteiligung von Geflüchteten war zwar rhetorisch angestrebt, faktisch jedoch nicht vollzogen worden (ebd., S. 100). Letztendlich erlangten die Bürgerinitiativen „offizielle machtvolle Positionen, die jedoch nicht durch demokratische Wahlen legitimiert sind, die Unterbringungspolitik aber dennoch (zu ihren Gunsten) beeinflussen“ (ebd., S. 100), und „nach wie vor werden Geflüchtete möglichst aus der Stadt sowohl räumlich als auch politisch herausgehalten“ (ebd., S. 103). Die durch die Bürgerverträge vorgesehenen Einschränkungen führen zu Standortschließungen und Kapazitätsreduzierungen von Unterbringungsplätzen für Geflüchtete, die wiederum erneute und unfreiwillige Umzüge bedeuten können. Für die Geflüchteten selbst konterkarieren erzwungene Umzüge die Bemühungen um Integration, da sich die Betroffenen in mehrfach wechselnden räumlichen Umgebungen zurechtfinden müssen (Arouna et al. 2019, S. 43).

3.2 Fehlende Barrierefreiheit in Unterkünften und Schulen In ersten empirischen Studien habe ich mich mit Kolleginnen zusammen in Hamburg auch mit den Lebenslagen von Geflüchteten mit einer Behinderung befasst (Gag und Schroeder 2015; Grotheer und Schroeder 2019). Sind sie in manchen Erstunterkünften relativ gut versorgt, drohen viele Unterstützungsmaßnahmen in der Folgeunterbringung wegzufallen. Zwar

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werden im Rahmen der Optimierung bestehender und der Einrichtung neuer Unterkünfte, soweit möglich, auch die Belange körperlich oder geistig beeinträchtigter Personen berücksichtigt, aber in Folgeunterkünften gibt es darüber hinaus keine Versorgung im Sinne einer Essens- oder Getränkeausgabe und keine eigene Gesundheitsversorgung vor Ort. Vielmehr sollen die Bewohner_innen das medizinische Regelsystem nutzen, was aber schwierig ist. Von lokalen Verbänden erhielten wir in unseren oben genannten Erhebungen Hinweise, dass in manchen Erstunterkünften die Kinder und Jugendlichen mit einer schweren Behinderung teilweise nicht in den Schulen angemeldet werden, weil erst einmal die nichtbehinderten Kinder und Jugendlichen versorgt würden. In vielen Erstunterkünften wurden Gemeinschaftsräume eingerichtet, in denen Hausaufgabenhilfen, Sprachkurse usw. stattfinden. Doch diese Räume sind – wie auch die Wohncontainer – nicht barrierefrei gebaut und somit für Kinder und Jugendliche mit physischen Einschränkungen kaum zugänglich. In Hamburger Schulen kann es auch vorkommen, dass ein junger Geflüchteter ein halbes Jahr lang durch die Klasse humpelt, bis die Lehrerin einmal nachfragt, ob er denn eine Gehhilfe benötige, eine Frage, die dem Jugendlichen auch in der Erstunterkunft bislang niemand gestellt hatte (Grotheer und Schroeder 2019). In Kooperationen von deutschen und migrantischen Selbsthilfeorganisationen für Gehörlose etablierte sich in Hamburg recht schnell ein Unterstützungssystem, das sowohl wohnortnahe Strukturen schaffen konnte als auch mobile Dienste in der ganzen Stadt anbietet. In direkter Nachbarschaft zur Schule für Gehörlose werden sowohl alleinstehende Gehörlose als auch Familien mit hörbeeinträchtigten Kindern im Bereich der öffentlich-rechtlichen Unterbringung auf Wunsch und bei freien Kapazitäten in der schulnahen Wohnunterkunft untergebracht. Vergleichbare Initiativen gibt es beispielsweise bislang für blinde oder sehbeeinträchtigte Geflüchtete nicht. Offensichtlich reicht eine Inklusionsrhetorik nicht aus, die alle Kinder und Jugendlichen in den Erziehungs- und Bildungseinrichtungen willkommen heißt. Vielmehr braucht es im Handlungsfeld Flucht und Asyl eine aufsuchende Pädagogik, die aktiv so genannte schwer Erreichbare und rechtlich Exkludierte im Nahraum der Schule aufspürt. In Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen müssen zudem nachgehende Ansätze etabliert werden, weil Wohnkarrieren, die unter erschwerten Bedingungen verlaufen, eine verbindliche und verstetigte Alltagsbegleitung durch kompetente Laien benötigen. Und es muss sozialräumliche Konzepte geben, denn auch die Lebenswelt Geflüchteter mit einer Behinderung beschränkt sich nicht auf die „Bewegungsfreiheit“ vor dem Bett oder im Bad.

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4 Koordinaten sozialräumlicher Schulentwicklung Die Darlegungen zeigen, dass eine pädagogische Sozialraumorientierung von Schulen im Handlungsfeld Flucht und Asyl aufgrund der diskontinuierlichen Wohnbiografien von geflüchteten Schüler_innen kompliziert ist. Es stellen sich zum einen Herausforderungen für die Planung der regionalen Bildungssysteme, zum anderen gilt es, trotz aller struktureller Schwierigkeiten, sozialraumorientierte Bildungsprogramme an den einzelnen Schulen fluchtsensibel weiterzuentwickeln.

4.1 Regionale Schulplanung Schulentwicklungspläne werden auf der Grundlage „regionalisierter Schülerprognosen“ erstellt. Die Einschätzung des künftigen Schüleraufkommens für die jeweiligen Schulformen und Schulstandorte erfolgt im Wesentlichen mit Hochrechnungen zur Zahl der Schüler_innen auf der Grundlage von Übergangsquoten, dem Elternwahlverhalten und dem abgeschätzten Anstieg schulpflichtiger Kinder und Jugendlicher durch Wohnungsneubau. Vor dem Hintergrund von Migration ist es jedoch unzureichend, lediglich die „Neubaukinder“ einzubeziehen, und die regionale Schulplanung rechnet schon gar nicht mit Fluchtzuwanderung. Freilich, dies ist schwierig, weil der Zuzug aufgrund von Flucht nicht kalkulierbar ist – doch dass sind Geburtenraten auch nicht und trotzdem muss in der Schulplanung prognostiziert werden, wie viele Schulplätze in sechs Jahren in den Kommunen vorgehalten werden müssen. Das Statistische Bundesamt legt regelmäßig Berechnungen zur Bevölkerungsfortschreibung vor, aufgrund derer sich, differenziert nach „Bildungsalter“, Bedarfe für Kitas, Schulen, Ausbildungsund Studienplätze näherungsweise prognostizieren lassen.2 Da es zudem Verteilungsschlüssel der Geflüchteten auf Bundesländer und Landkreise gibt, können die quantitativen Prognosen sogar auf kommunale Sozialräume bezogen werden. Entsprechende, Fluchtwanderung einbeziehende Modellierungen regionaler Schulplanungen sind aber bislang allenfalls vereinzelt entwickelt worden. Diskontinuierliche Wohnprofile von Geflüchteten verweisen zudem auf die Notwendigkeit der Optimierung des Instruments „Schülerakte“. In Hamburg gibt es ein zentrales Schülerregister der Schulbehörde. Die geflüchteten Kinder und Jugendlichen werden außerdem in den Dateien der Ausländerbehörde, der Träger

2https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Fluechtlinge/_inhalt.html

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der Erstversorgung und in denen der Kinder- und Jugendhilfe registriert. Hierzu verwendet jede dieser Behörden und Organisationen eine andere Datenbanksoftware, selbst das allgemeine und das berufliche Schulsystem nutzen zwei verschiedene Erfassungsportale. Die in den amtlichen „Schülerbögen“ gesammelten Daten sind sehr unterschiedlich und oftmals pädagogisch wenig relevant, weil sie nicht auf die Lebenslagen der Kinder und Jugendlichen bezogen sind (Gag und Schroeder 2012, S. 28). Bislang ist es in Hamburg nicht gelungen, Datenschutzregelungen zu entwickeln, die die Vereinheitlichung, wechselseitige Zugänglichkeit und den reibungslosen Datentransfer für Schulen und Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen ermöglichen. Das führt z. B. dazu, dass die nächste Schule, die geflüchtete Kinder und Jugendliche aufnimmt, oftmals gar nicht oder sehr verspätet wichtige Bildungsdaten und pädagogisch relevante Informationen von der vorherigen Schule erhält. Hamburg hat bislang noch kein standardisiertes Verfahren, welches eine Identifizierung von geflüchteten Menschen mit Behinderung erlaubt, und somit gibt es auch keine Anerkennung ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit. Nicht nur das Informationsmanagement ist gegenwärtig ungenügend, es existieren ebenfalls keine verbindlichen Verfahrensabläufe, wie Geflüchtete mit Behinderung in das reguläre Bildungs- und Unterstützungssystem integriert werden können. Das Personal in den Unterkünften ist in dieser Hinsicht kaum geschult und in manchen Fällen angesichts vielfältiger multipler Problemstellungen auch überfordert, zudem beschränkt sich der Aufgabenbereich in den Unterkünften auf die Verweisberatung. Im schlechtesten Fall werden Ratsuchende einfach auf das Internet hingewiesen, um sich selbst Informationen und Hilfestellung zu suchen. Doch auch Geflüchtete mit einer Behinderung benötigen Sprachkurse, müssen Behördengänge erledigen, wollen arbeiten. Die räumlichen Gegebenheiten bei Sprachkursangeboten sind jedoch „barrierevoll“. Schon minimalste Standards, wie z. B. für Rollstühle geeignete Räumlichkeiten, sind nicht eingehalten. Wie Wagner (2016) herausgefunden hat, gibt es nur einen Bildungsträger in Hamburg, der „barrierereduziert“ gebaut und eingerichtet ist. In Untersuchungen zur Grundbildung für Erwachsene hat sie herausgefunden, dass die Zugangsmöglichkeiten zu solchen Angeboten in Hamburg oftmals erschwert sind und sich wiederum ausschließlich auf die Überwindung baulicher Hindernisse wie z. B. Treppen konzentrieren. Rehabilitative Maßnahmen wie Unterstützte Kommunikation zur Überwindung sprachlicher Barrieren oder spezielle Computerprogramme zur Ermöglichung visueller Barrierefreiheit fehlen in der Erwachsenenbildung weitgehend (vgl. Wagner 2016). Bildungseinrichtungen sollten dem Thema Barrierefreiheit intensive Beachtung schenken und Konzepte entwickeln bzw. umsetzen, um allen

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Menschen – unabhängig von einer vorliegenden Behinderung oder Beeinträchtigung – Zugang zu den Angeboten zu verschaffen. Hierbei empfiehlt es sich, auf die langjährigen Erfahrungen der Behindertenhilfe oder Sonderpädagogik zurückzugreifen. Anknüpfend an die Forderung nach barrierefreien Bildungseinrichtungen und in Weiterentwicklung dieser, sollte die gegenseitige Öffnung der Angebote aus der Erwachsenenbildung für Menschen mit und ohne Behinderung weiter vorangetrieben werden. Ähnliches gilt für den Zugang zum Beschäftigungssystem und zur beruflichen Bildung.

4.2 Fluchtsensible Schulprogrammentwicklung Sozialraumorientierung zielt darauf ab, frühzeitig auf eine Inklusion der jungen Geflüchteten in die diversen gesellschaftlichen Funktionsbereiche abzuzielen und eine Zentralisierung von Erziehungs-, Bildungs-, Betreuungs- und Freizeitangeboten in der Schule zu vermeiden (Schroeder 2018). Die Schulprogramme müssten so angelegt sein, dass es den Geflüchteten möglich ist, sich zumindest temporär im sozialen Nahraum zu vernetzen. Hierfür ist es notwendig, in den Schulen umfassendes Lebensweltwissen zu den jungen Geflüchteten zusammenzutragen. Das Kollegium wird sich folglich die Erst- oder Folgeunterkünfte im Einzugsgebiet der Schule ansehen, sich regelmäßig mit den sozialpädagogischen Fachkräften in den Unterkünften austauschen und enge Kontakte zu den wichtigsten Beratungsstellen für Geflüchtete herstellen. In allen Bildungsplänen überall in Deutschland sind ab Klasse sieben betriebliche Praktika vorgeschrieben. Diese sind für junge Geflüchtete besonders wichtig, weil sie darüber am ehesten einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz finden können. Schulen sind deshalb gut beraten, nicht erst ein oder gar mehrere Schuljahre verstreichen zu lassen, bevor den jungen Geflüchteten betriebliche Lern- und Erfahrungsfelder angeboten werden. Vielmehr sollte damit möglichst rasch begonnen werden, selbst wenn es zunächst nur Betriebserkundungen oder Hospitationen sind. Das Kollegium muss außerdem den arbeitsrechtlichen Status eines_einer jeden jungen Geflüchteten präzise kennen, hierfür braucht es verbindliche Ansprechpersonen im zuständigen Jobcenter bzw. bei der Agentur für Arbeit. Junge Geflüchtete sind neben Ausbildungsberufen ebenso auf andere Formen der Beschäftigung angewiesen, deshalb sollten Schulen in ihre „Berufs“-Vorbereitung auch eine sorgfältige Erkundung von Jobs im Einzelhandel, Catering, in Pflegetätigkeiten oder in der Logistik einbeziehen. Jungen Geflüchteten, die noch keine Beschäftigungserlaubnis haben, sind genehmigungsfreie Angebote zu unterbreiten, in denen arbeitsweltliche und vorberufliche

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Kompetenzen ausgebildet werden, z. B. in Renovierungs- oder Umbauprojekten von Jugendhilfeträgern, in die einzelne Jugendliche vermittelt werden können. Ohne eine kompetente Unterstützung durch Erwachsene werden die jungen Geflüchteten ein schulisches Angebot gleich welchen Anspruchsniveaus kaum erfolgreich durchstehen können (Heinemann und Kals 2019). Die minderjährigen Alleinreisenden haben in aller Regel einen Amts- oder Privatvormund und sind günstigstenfalls in eine intensive sozialpädagogische Betreuung eingebunden. Andere Jugendliche haben bereits in der Erstunterkunft eine ehrenamtliche Begleitperson gefunden. Aufgrund von Unterkunftswechseln kann eine begonnene Alltagsbegleitung abbrechen und muss neu angebahnt werden. Deshalb ist relativ frühzeitig im Schuljahr für jede_n Jugendliche_n zu klären, wer noch ohne soziale Unterstützung ist, wer keine Patenfamilie, keine_n Mentor_in oder keine Wahl(groß)eltern hat. Es ist Sorge dafür zu tragen, dass diese „unbegleiteten“ jungen Geflüchteten schnellstens in tragfähige soziale Beziehungen eingebunden werden, deren Zweck es ist, zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der Kinder und Jugendlichen beizutragen. Aus den Lebenslagen der jungen Geflüchteten ergibt sich auch, kulturelle, künstlerische, sportliche, ökologische und politische Angebote, in denen Schüler_ innen individuelle Interessen zur kreativen Freizeitgestaltung erproben und weiterentwickeln können, weder in der Regie noch in den Räumen der Schule durchzuführen, denn Kinder und Jugendliche müssen persönliche Neigungen im Blick auf ihre freie Zeit individuell entdecken und kultivieren können. Ein Unterricht, in dem alle zur selben Zeit dieselben ästhetischen, sportlichen und kulturpädagogischen Aktivitäten auszuführen haben, steht diesem Anspruch entgegen. Zu denken ist stattdessen an Wahlpflichtkurse in Kunst, Kultur, Sport/Fitness, Musik, Ökologie oder Jugendpolitik, die durch die (bescheinigte) Teilnahme an Angeboten von Kulturwerkstätten bzw. der offenen Jugendarbeit oder durch die Mitgliedschaft auf Zeit in einer außerschulischen Sportgruppe, in einem Verein bzw. in einem Fitness-Studio (Nachweis durch Einschreibung und regelmäßige Testate) erfüllt werden. Deutlich wird durch die hier dargestellten Handlungsempfehlungen, dass eine fluchtsensible Schulprogrammentwicklung differenzierter Angebote bedarf, welche die Heterogenität der Geflüchteten und deren unterschiedlichen Erfahrungen, aktuellen Lebenssituationen und Zielsetzungen berücksichtigen.

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Literatur Arouna, M., Breckner, I., Ibis, U., Schroeder, J., & Sylla, C. (2019). Fluchtort Stadt. Explorationen in städtische Lebenslagen und Praktiken der Ortsaneignung von Geflüchteten. Wiesbaden: Springer VS. Fickermann, D., & Maritzen, N. (Hrsg.). (2014). Grundlagen für eine daten- und theoriegestützte Schulentwicklung. Münster: Waxmann. Friedrichs, J., Lesske, F., & Schwarzenberg, V. (2017). Sozialräumliche Integration von Flüchtlingen. Das Beispiel Hamburg-Harvestehude. Aus Politik und Zeitgeschichte (67), 34–40. Gag, M., & Schroeder, J. (2012). Refugee Monitoring. Zur Situation junger Flüchtlinge im Hamburger Übergangssystem Schule/Beruf. Hamburg: passage gGbmH. Gag, M., & Schroeder, J. (2015). Country Report Germany – focus: Migrants with special needs. In J. Schroeder (Hrsg.), Breaking down barriers from education to employment. The journey towards inclusion for vulnerable groups (S. 167–202). Sofia: Investpress. Grotheer, A., & Schroeder, J. (2013). Hindernisse und Fallstricke auf dem Bildungsweg von Kindern und Jugendlichen aus Hohenhorst und Neuwiedenthal – Größenordnungen und Gründe für schulische Erfolglosigkeit. Eine sozialräumliche Analyse für das Projekt heimspiel. Im Auftrag und herausgegeben von der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S und der Joachim Herz Stiftung. Hamburg: www.toepfer-stiftung.de. Grotheer, A., & Schroeder, J. (2019). Unterbringung von Geflüchteten mit einer Behinderung. Ein Problemaufriss am Beispiel von Hamburg. In M. Westphal & G. Wansing (Hrsg.), Migration, Flucht und Behinderung: Herausforderungen für Politik, Bildung und psychosoziale Dienste (S. 81–101). Wiesbaden: VS Verlag. Heinemann, P., & Kals, E. (2019). Mentoring unbegleiteter Minderjähriger. Ein Manual zur Förderung geflüchteter Kinder und Jugendlicher. Stuttgart: Kohlhammer. Maykus, S., Beck, A., Eikötter, M., & Martin Sanabria, A. (2017). Inklusive Bildung in der Kommune. Empirische Befunde zu Planungs- und Beteiligungsmodellen zwischen Schule und Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim: Beltz. Pieper, T. (2008). Die Gegenwart der Lager. Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik. Münster: Westfälisches Dampfboot. Schroeder, J. (2012). Schulen für schwierige Lebenslagen. Studien zu einem Sozialatlas der Bildung. Münster: Waxmann. Schroeder, J. (2016). Schule, Gemeinwesen und Inklusion. Möglichkeiten und Grenzen sozialraumorientierter Schulentwicklung. In I. Beck (Hrsg.), Inklusion im Gemeinwesen (S. 85–144). Stuttgart: Kohlhammer. Schroeder, J. (Hrsg.). (2018). Geflüchtete in der Schule. Vom Krisenmanagement zur nachhaltigen Schulentwicklung. Stuttgart: Kohlhammer. Schroeder, J. (2019). Soziale Benachteiligung – Ein (selbst-)kritischer Blick auf eine schulpädagogische Leitkategorie. Sonderpädagogische Förderung heute, 64(2), 121–133. Sylla, C. (2018). Neue Akteur*innen der Flüchtlingspolitik – Bürgerinitiativen in Hamburg. standpunkt: sozial 2, 95–104.

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Täubig, V. (2009). Totale Institution Asyl. Empirische Befunde zu alltäglichen Lebensführungen in der organisierten Desintegration. Weinheim: Juventa. Wagner, U. (2016). Grundbildung für Menschen mit Behinderung. Markante Unterschiede in der Angebotslandschaft. In M. Gag, A. Grotheer, J. Schroeder, U. Wagner, & M. Weber (Hrsg.), Berichte aus den Randbezirken der Erwachsenenbildung. Eine empirische Analyse der Hamburger Grundbildungslandschaft (S. 99–116). Bielefeld: Bertelsmann.

Dr. Joachim Schroeder, ist Lehrer, Diplompädagoge und Erziehungswissenschaftler, sowie Professor für Pädagogik und Didaktik bei Beeinträchtigungen des Lernens an der Universität Hamburg. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind Bildung und transnationale Migration, Schulentwicklung in der Stadt, arbeitsweltbezogene Alphabetisierung und Grundbildung, Internationale Entwicklungszusammenarbeit im Bildungssektor. Zudem ist er Sprecher des Kooperativen Graduiertenkollegs „Vernachlässigte Themen der Flüchtlingsforschung“, gefördert von der Hans Böckler Stiftung.

Praxiseinblick: Arbeitsgemeinschaft Offene Türen Nordrhein-Westfalen e. V. (AGOT) Andrea Heinz und Vinorjan Thambithurai

Zusammenfassung

„Das Fundament der Vielfalt ist die Einzigartigkeit“, so wird der österreichische Lehrer, Dichter und Aphoristiker Ernst Ferstl zitiert. Dieses Zitat trifft den Kern des AGOT-Projektjahres: „Vielfalt – wir leben sie 2019!“ Der Schwerpunkt des aktuellen Projektjahres lag darin, die Einzigartigkeit der agierenden Personen in den Projekten anzuerkennen und die dadurch entstehende Vielfalt als Chance zu begreifen. In unseren Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit bieten wir den Kindern und Jugendlichen einerseits einen Schutzraum, andererseits aber auch die Möglichkeit, sich selbst – angeregt durch die Vielfalt – zu hinterfragen und neue Positionen und Werte zu entwickeln. Dies geschieht tagtäglich und immer wieder neu mit und durch die Einzigartigkeit der Besucher_innen und Mitarbeiter_innen. Das „Wir“ wird immer wieder neu ausgehandelt. So wird aus ICH und DU ein WIR – ein WIR, das Unterschiede zulässt, Andere achtet und respektiert. Ein VIELFÄLTIGES WIR! Gleichzeitig stellen wir aber auch fest, dass dieser Prozess Jahrzehnte dauert, da er immer wieder neu angestoßen wird, durch wechselnde Akteur_innen, neue Einflüsse, und weil „Zusammenwachsen“ nicht von heute auf morgen gelingt. Lesen Sie hier etwas über Chancen und A. Heinz (*)  Landesarbeitsgemeinschaft Katholische Offene Kinder- und Jugendarbeit NRW, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] V. Thambithurai  Arbeitsgemeinschaft Offene Türen Nordrhein Westfalen, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_20

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Grenzen in unserem Projekt oder wie es gelang, das Projekt vom Sammelsurium bedarfsgerechter Angebote zu einem zukunftsweisenden Projekt zu entwickeln. Eine Online-Dokumentation des Jahres 2019 finden Sie ab Dezember unter: www.agot-nrw.de. Dort können Sie auch die Druckversion aller vergangenen Dokumentationen bestellen. Schlüsselwörter

Vielfalt · Identität stiften · Mitbestimmung leben · Raum geben · Mädchen stärken

1 Vorstellung Arbeitsgemeinschaft Offene Türen Nordrhein-Westfalen e. V Die Arbeitsgemeinschaft Offene Türen Nordrhein-Westfalen e.  V., kurz ­AGOT-NRW, ist seit ihrer Gründung 1971 die zentrale Interessenvertretung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) in Nordrhein-Westfalen. Sie vertritt die Belange und Interessen junger Menschen gegenüber dem zuständigen Jugendministerium, den beiden Landesjugendämtern im Rheinland und in Westfalen-Lippe sowie den kommunalen Spitzenverbänden. Sie ist der freiwillige Zusammenschluss von Trägergruppen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit: ABA Fachverband für Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen e. V., Evangelische Landesarbeitsgemeinschaft Offene Türen in N ­ ordrhein-Westfalen, Falken Bildungs- und Freizeitwerk NRW e. V. und Landesarbeitsgemeinschaft Katholische Offene Kinder- und Jugendarbeit NRW e. V. Die AGOT-NRW steht in regelmäßigem Austausch mit den im Landtag vertretenen Parteien und dem parlamentarischen Ausschuss für Kinder- und Jugendfragen. Gegenüber den politischen Akteuren_innen berichtet sie kontinuierlich über Lebenslagen und Probleme von Kindern und Jugendlichen und berät gemeinsam über Bedarfe, Bedingungen, Perspektiven und Ziele der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Neben den kontinuierlichen politischen Aushandlungen zur Verbesserung der Arbeitsgrundlagen im Feld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit bietet die AGOT-NRW Fachtage zur Qualifizierung von Fachkräften an. Thematisch beschäftigt sie sich mit vielfältigen aktuellen Themen, die seitens der Träger, der Einrichtungen, der Fachkräfte oder der Politik an sie herangetragen werden und von Bedeutung für die Offene Kinder- und Jugendarbeit sind.

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2 Vom Sammelsurium der spontanen Angebote über die Willkommenskultur hin zu einem differenzierten zukunftsweisenden Projekt Die Einrichtungen der OKJA in Trägerschaft einer der vier Trägergruppen der AGOT-NRW sind seit 2014 besonders intensiv mit der Öffnung der Angebote für junge Geflüchtete und Migranten_innen befasst. Notwendig geworden war dies durch die starke Zuwanderung und die daher zunehmende Zahl an Kindern und Jugendlichen in den Sozialräumen rund um die Einrichtungen der Offenen Kinder und Jugendarbeit. Zusätzliche Angebote außerhalb der Öffnungszeiten und Unterstützung von zivilgesellschaftlichem Engagement im Sozialraum sowie begleitend dazu Workshops und Fachtage für die Mitarbeitenden – so sah das Engagement 2014 aus. Neben der fachlichen Qualifizierung und dem kollegialen Austausch boten die Fachtage eine erste Möglichkeit, sich über den Sozialraum hinaus mit anderen Fachkräften zu vernetzen. Diese Maßnahmen waren natürlich nicht ausreichend und nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Mithilfe der von der Landesregierung bereitgestellten finanziellen Mittel konnten wir im Jahr 2016 mit dem Projekt beginnen, welches dem damaligen Titel Feuerwehrtopf alle Ehre machte. Das Geld wurde eingesetzt, eine Willkommenskultur zu entwickeln und Zugänge zu unseren Angeboten zu schaffen bzw. zu erleichtern. Viele kleine Projekte beschäftigten sich damals mit dem Kennenlernen der neuen Lebenswelt, der Sprachförderung und der Sozialraumerkundung. Zum Ende des ersten Projektjahres war allen Beteiligten schnell deutlich, dass es in Zukunft anstatt um Soforthilfe mehr um eine vollwertige Teilhabe gehen musste. So erhielt das Projekt mit dem Titel „Vielfalt – Wir leben sie!“ nicht nur einen neuen Namen, sondern konnte auch inhaltlich mehr auf Teilhabe und Vielfalt erweitert werden. Zur Beschreibung unserer Ziele nutzen wir den erweiterten Inklusionsbegriff, da dieser bereits umfänglich Ziele und dahinterstehende Haltung verdeutlicht. Unser oberstes Ziel ist also die Inklusion, die Teilhabe aller Menschen an unseren Angeboten. Niemand wird ausgegrenzt oder an den Rand gedrängt. Alle Menschen sind mit der gleichen Würde ausgestattet und haben die gleichen Rechte und den Anspruch darauf, dass der Staat sie umsetzt, so besagt es Artikel 1 der Menschenrechte. Im nächsten Artikel garantieren sie den Schutz vor jeglicher Form der Diskriminierung. Inklusion ist also ein Menschenrecht. Inklusion ist aber auch ein Prinzip der Sozialen Arbeit, das z. B. in der OKJA allen Besucher_innen die Teilhabe garantiert. In unseren Einrichtungen setzen wir uns konkret mit Grenzen und Barrieren auseinander und schaffen neue Möglichkeiten zur Selbstbestimmung für die Besucher_innen. Inklusion ist nichts Fertiges, es ist

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ein Weg, das Bekenntnis zu einer diversitätsorientierten Arbeit, die sich stetig, mit neuen Besucher_innen, neuen Mitarbeiter_innen und neuen Angeboten verändert. Inklusion beginnt im Kopf, mit der Bereitschaft, dem Gegenüber mit Offenheit zu begegnen. Das „Wir“ muss immer wieder neu ausgehandelt werden (vgl. auch Deutsches Institut für Menschenrechte 2016). Die Steuerung des Projekts geschieht durch den Arbeitskreis Vielfalt der AGOT, in welchem alle Trägergruppen vertreten sind. Dort werden sämtliche Aufgaben gebündelt. Der Arbeitskreis (AK) steht in ständigem Kontakt mit Einrichtungen und ist so am Austausch über Chancen, Herausforderungen und Bedarfe beteiligt. Auf diese Weise konnte der AK Rückmeldungen an die entsprechenden Fachabteilungen im Ministerium geben und dort in einen fachlichen Austausch treten, was eine Weiterentwicklung des Projekts und den Fortbestand der Fördermittel im Jahr 2018 ermöglichte. Als besonders wertvoll in diesen ersten Jahren erachten wir den Aspekt, dass die Fachkräfte in den Einrichtungen fachlich begleitet wurden. Dies geschah durch Besuche in den Einrichtungen, Diskussionen und Fortbildungsangebote. Diese fachliche Begleitung ist ein besonderes Qualitätsmerkmal, wie durch die Ergebnisse der Studie „Die Offene Kinder- und Jugendarbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen“ von Herrn Prof. Dr. U. Deinet (Hochschule Düsseldorf, 2018, Deinet, Ulrich (Hrsg.) Herausforderung angenommen, Beltz Verlag 2019) bestätigt wird. Die Studie stellt die Ergebnisse einer bundesweiten Befragung den Ergebnissen der Befragung von AGOT-Projekten gegenüber. Als besonders wertvoll beschreiben die Fachkräfte in den Einrichtungen aber auch den Blick über den Tellerrand und den damit verbundenen Austausch sowie die kollegiale Beratung unter den Kolleg_innen. Dies wurde und wird durch regionale und themenspezifische Treffen der Akteur_innen ermöglicht.

3 Projekt 2019: Vier (Profil-)Themen – eine Struktur, die Bildung ermöglicht – für ALLE Jugendlichen Im vierten Projektjahr 2019 werden die Projekte der AGOT („Feuerwehrtopf“, „Vielfalt – Wir leben sie“) weitergeführt. Parallel dazu werden vier Profilthemen fachlich-konzeptionell weiterentwickelt, um Erkenntnisse und Erfahrungen aus den Jahren 2016 bis 2018 zu bündeln und diese für die Praxis der Jugendarbeit in NRW insgesamt aufzubereiten. Aus diesem Grund fördern wir, neben den Basisprojekten (kleinen Projekten, wie in den Vorjahren), sogenannte „Profileinrichtungen“. Deren Aufgabe ist es, zusätzlich zu der klassischen Projektarbeit

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die Erfahrungen aus der Praxis zum gewählten Profilthema aufzubereiten. Die Einrichtungen, deren Projekte dafür ausgewählt wurden, partizipieren nicht nur finanziell, sondern sind intensiv an der inhaltlichen Ausgestaltung des Gesamtprojekts beteiligt. Die fachliche Weiterentwicklung vor Ort, aber auch der Austausch auf Landesebene und die Erarbeitung von Gelingensbedingungen für die pädagogische Praxis stehen im Fokus des Jahres 2019. Dazu erhielt jedes Profilprojekt eine zusätzliche Stelle für eine pädagogische Fachkraft mit 50 % Beschäftigungsumfang. Eine koordinierende Fachkraft (als Mitarbeiter_in in der AGOT-Geschäftsstelle) begleitet diese Mitarbeiter_innen und den Prozess, unterstützt bei der Aufbereitung der Ergebnisse für die Fachpraxis und ist für die Veröffentlichung verantwortlich. Die vier Profilthemen sind: Raum geben, Mitbestimmung leben, Mädchen stärken und Identität stiften. Diese werden im Folgenden näher beschrieben und durch Aussagen der Profilprojekte zu der Themenauswahl, den Herausforderungen und wie sie diesen entgegentreten ergänzt. Raum geben Die Einrichtungen, die ein Profilprojekt zum Thema „Raum geben“ durchführen, sind die Ev. Jugend Essen-Katernberg – Jugendhaus Neuhof – und das Forum Ev. Jugendarbeit Duisburg e. V. – Jugendforum Duisburg. Sie umschreiben das Thema wie folgt: „Raum sowohl im eigentlichen als auch im übertragenen Sinne ermöglicht Offene Jugendarbeit. Raum im Sinne von Räumlichkeit ermöglicht es jungen Menschen, einen Ort zu gestalten, in dem sie sich wohl und sicher fühlen, den sie nutzen können für den Austausch mit Gleichaltrigen, um Zeit für sich zu haben, die eigenen Interessen auszuleben und so Abstand von ihren häufig sehr belastenden Lebensumständen zu haben. Wir geben Raum für freie Entfaltung, Orientierung und Weiterentwicklung. Räume können aber auch Orte sein, an denen man sich aufhält: Das sind neben dem Jugendzentrum auch Stadtteile, Parks, etc.“ (Einrichtungsmitarbeitende der Profilprojekte „Raum geben - 2019“)

Die dafür zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten werden gleichermaßen Erfahrungs-, Erlebnis- und Beziehungsräume für alle Kinder und Jugendlichen. Sie dürfen die Räume nutzen, gestalten, verändern, umfunktionieren und mitbestimmen. Der Raum wird auch gerne als dritter Pädagoge bezeichnet – der erste Pädagoge ist der Lernende, der zweite sind die anderen. Räume in der OKJA sind nicht nur funktionell, sondern auch Ausdruck von Wertschätzung. Die Räume sind offen gestaltet und dienen der Individualität und Gemeinschaft. Durch die pädagogische Gestaltung der Räume wird Haltung sicht-

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bar, sie bestimmen das Verhalten und regen unterschiedliche Aktivitäten und Auseinandersetzungen an. Die Räume wecken Emotionen. Sie wirken auf die Besucher_innen. Das Thema „Raum“ wird in den Profilprojekten multiperspektivisch betrachtet: Auf der einen Seite bietet das Jugendzentrum eigene Räume für junge Menschen und somit auch für Geflüchtete. Diese Räume der OKJA sind gezielt für Jugendliche gedacht – so ist es in den Einrichtungskonzepten hinterlegt und in den kommunalen Förderplänen abgesichert. Gleichzeitig ist das Jugendzentrum aktiver Bestandteil eines lebendigen Sozialraums. Doch geht es in unserem Projektschwerpunkt nicht nur um materielle Räume, sondern auch darum, Jugendliche zu stärken und zu unterstützen, sich neue Räume anzueignen – neue Erfahrungsräume, Räume für Weiterentwicklung, Räume für gesellschaftliches Engagement usw. Wir fragten einen Mitarbeiter des evangelischen Kinderund Jugendzentrums Valdorf in Vlotho – dieses Projekt ist ein Basisprojekt zum Thema „Raum geben“ –, was sein Projekt, eine Fahrradhilfewerkstatt, bewirkt: „Die Fahrradhilfewerkstatt bewirkt, dass wir die Geflüchteten mobil bekommen. Wir sind hier in einer ländlichen Region, und da ist es wichtig, dass wir ein bisschen Mobilität reinbringen, damit die Geflüchteten eben auch am Leben teilhaben können. (2019)“ Wie es gelingt, bzw. was mögliche Gelingensbedingungen sind, dass junge Menschen mit Fluchthintergrund die Räume im Jugendzentrum (mit) nutzen, sich im Sozialraum einbringen, neue Räume für sich entdecken, das wird im Rahmen der Profilprojekte ermittelt. Mitbestimmung leben Für das Thema „Mitbestimmung leben“ engagieren sich der Caritasverband für die Stadt Köln e. V. – Bugs Jugendcafé – sowie der Falkenheime e. V. – Alternatives Zentrum im Falkenheim Gerresheim. Mitbestimmung ist für sie ein Querschnittsthema, welches in der OKJA allgegenwärtig ist: „Die Besucher_innen mit Fluchtbiographie haben die Möglichkeit, in den pädagogischen Angeboten eine Anerkennung und Selbstwirksamkeit zu erleben, die sie in anderen Lebensbereichen nur wenig erfahren. In den Lebenswelten der Jugendlichen ist sehr viel vorbestimmt. Wir sehen es als Chance der OKJA an, Situationen zu schaffen, die den Jugendlichen sehr niederschwellig Möglichkeiten eröffnen, ihre Ideen und Meinungen einzubringen. Durch ihre Sozialisation und Biographie haben die geflüchteten Jugendlichen oft wenige Erfahrungen sammeln können, ihr Leben mitzugestalten und für ihre Meinung einzustehen. Aktives Einbeziehen und Beteiligen sind häufig noch schwer, da sie es nicht gewohnt sind, Raum für eigene Ideen zu haben und die Unterstützung zu erfahren, diese auch umzusetzen. Räume und Situationen für Beteiligung und Mitbestimmung müssen

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so geschaffen werden, dass sie für die Teilnehmenden nah an ihrer Lebenswelt und damit sehr niederschwellig zugänglich sind. Nur durch das Erleben der eigenen Selbstwirksamkeit wird erfahrbar, was es bedeutet ‚mitzubestimmen‘. OKJA muss sich hier in ihrer Arbeit immer wieder bedürfnisorientiert neu anpassen. Partizipation ist ständiger Austauschprozess, den es immer wieder zu überprüfen und anzupassen gilt an die jeweilige Zielgruppe.“ (Einrichtungsmitarbeitende der Profilprojekte „Mitbestimmung leben, 2019“)

Wie hier beschrieben, sind die Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit aufgrund der Niedrigschwelligkeit und Offenheit als Orte der Mitbestimmung besonders geeignet. Dies gilt gleichfalls für die Arbeit mit Geflüchteten. Auch das Thema Kinderrechte spielt dabei eine große Rolle. Instrumente der Beteiligung sollen daraufhin überprüft werden, wie eine Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung gelingen kann, insbesondere, wenn sie noch keine Erfahrungen mit Partizipation machen konnten. Daneben gilt es für die Praxis, Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung zu ermutigen, ihre kulturellen Wurzeln in Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse einzubringen und ihr zivilgesellschaftliches Engagement zu fördern. Eine Mitarbeiterin des HOT Senne Bielefeld, die das dortige Projekt zum Thema „Mitbestimmung leben“ begleitet, ist begeistert von der Wirkung ihres Projekts: „Wir haben das Projekt gesplittet – einmal die Älteren und einmal die Jüngeren. Im Moment arbeiten wir mit den Älteren. Wir haben festgestellt, dass die Teilnehmer_ innen des Projekts seit März regelmäßiger kommen und mittlerweile die Projekttage mitgestalten, das Programm mitgestalten und sich verantwortlich fühlen, dass sie selber Spaß haben. Wir freuen uns sehr auf den zweiten Teil, der nach den Sommerferien startet. Da binden wir die Älteren, die bis jetzt das Projekt mitgemacht haben, in das Projekt der Jüngeren ein und hoffen so, dass über die Gestaltung hinaus auch Verantwortung für die anderen Kinder übernommen wird.“ (Mitarbeiterin des HOT Senne Bielefeld, 2019)

Diese Aussage beschreibt sehr anschaulich, dass der Weg zur Mitbestimmung einer des Lernens ist und hier gesellschaftliche Bildung im außerschulischen Kontext geschieht. Mädchen stärken So lautet die Herausforderung, der sich die Sportjugend im Sportbund Bielefeld e. V. – Jugendtreff Walde –, der VKJ e. V. – Treffpunkt Mitzmannweg –, der SKM Köln – OT Vita –, die Evangelische Kirchengemeinde Lippstadt – Jugendtreff Shalom – und – Spielraum e. V. Begegnungsstätte Horsthausen –, stellen. Sie

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befassen sich thematisch inhaltlich mit diesem Thema und entwickeln es für die Fachpraxis weiter: „In vielen Einrichtungen überwiegt der Anteil der männlichen Besucher deutlich. Wir sehen es als Aufgabe der OKJA, unsere Räume auch für Mädchen zu öffnen und spezifische Angebote für sie bereitzuhalten. Nach unserem Verständnis muss Mädchenarbeit dabei immer zweidimensional wirken: auf der Ebene der Mädchen selbst, aber auch auf der gesellschaftlichen Ebene – Mädchenarbeit hinterfragt gesellschaftliche Strukturen, Rollenzuweisungen und Auswirkungen auf Mädchen und Frauen und wirkt so in die Gesellschaft hinein. Parteiliche Mädchenarbeit stellt die Mädchen in den Mittelpunkt und ist die Grundlage für gelungene Beziehungsarbeit, Partizipation und Empowerment. Angebote für Mädchen eröffnen vielen Mädchen mit Fluchthintergrund erstmalig die Chance, wertfrei ihre Rolle mit allen Zuschreibungen zu hinterfragen und zu reflektieren.“ (Einrichtungsmitarbeitende der Profilprojekte „Mädchen stärken, 2019“)

Wie hier durch die Einrichtungen beschrieben, stellt die Zielgruppe „Mädchen“ die Fachkräfte in den Einrichtungen vor besondere Herausforderungen. In der Praxis beobachten wir, dass den Mädchen die Erschließung ihres Sozialraumes schwerer fällt. Entsprechende Hinweise auf diese Tatsache finden sich auch in einigen qualitativen Studien. (Vgl. etwa Daigler et. al. 2003) Viele der geflüchteten Familien kommen aus Kulturkreisen, in denen aufgrund der religiösen und kulturellen Prägung andere Umgangsformen, andere Normen gelten. Die Umgangsformen der Geschlechter untereinander sind different zu unseren deutschen Gepflogenheiten und die Rolle der Mädchen ist ebenfalls eine andere. Daher lehnen die Eltern oder auch die Mädchen selbst oft erst einmal den Besuch der Einrichtung ab. Werben, Aufklären, Kennenlernen und ­Chancen-Bieten sind hier die Stichworte, wie es gelingt, Mädchen in der Offenen Arbeit Möglichkeiten und Räume zur Verfügung zu stellen. Neben einer geschlechtsdifferenzierten Sichtweise auf die pädagogische Praxis bedarf es der Entwicklung von konkreten Handlungsempfehlungen und „Best-Practice“-Beispielen, um Mädchen in der Einrichtung und darüber hinaus einen Schutzraum zu bieten sowie sie in ihrer Selbstermächtigung zu fördern. Im Tanzprojekt des „Picco Jugendzentrums“ in Köln gelingt dies sehr gut. Eine siebenjährige Teilnehmerin beschreibt die Wirkung des Projekts äußerst treffend: „Ich mag es, beim Tanzen zu sein, weil es mir Spaß macht. Dann mag ich mich sehr. Dann fühle ich mich auch wie in einem Wunsch und ich mag auch, dass bei der Aufführung mein Bruder da ist und meine Mama und mein Papa und meine Nachbarn und alle mir Applaus geben.“ (Zitat einer Teilnehmerin aus dem AGOT Projekt  2018) Die

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kleine Tänzerin erfährt sich selbst im Tanzen neu, ist stolz auf sich und darauf, ihr Können präsentieren zu können. Die Bestätigung durch den Applaus, den sie sich erhofft, gibt ihr Selbstvertrauen und stärkt sie. Identität stiften Der Caritasverband für die Stadt Köln e. V. – GOT Elsaßstraße –, der Katholische Verein zur Förderung der Kinder- und Jugendhilfe – Domiziel e. V.-, – Jugendzentrum Domizil –, das Evangelische Jugendreferat Iserlohn – Jugendcafé Checkpoint – und der CVJM Münster – Johannes Busch Haus – setzen sich für die Förderung von Identität ein: „Alles neu, alles anders. Neues Land, neue Sprache, neue Kultur, andere Struktur: Junge Menschen, die nach einer Flucht neu nach Deutschland kommen, stehen vor vielfältigen Herausforderungen. Wir sehen die OKJA hierbei in der Verantwortung, eine bedarfsgerechte Begleitung und professionelle Hilfe anzubieten, die besonders junge Neuzugewanderte in dem Prozess der Identitätsentwicklung und Persönlichkeitsbildung unterstützen kann. Die Annäherung mit dem neuen Zuhause bei gleichzeitiger ‚Aufrechterhaltung‘ der eigenen Herkunft und Wurzeln gehört ebenso zu den Aufgaben, wie die klassischen Hürden der Bildung einer stabilen und starken Persönlichkeit. So sind wir der Spannung zwischen der Übergangsperiode – nicht mehr Kind und noch nicht Erwachsener – ausgesetzt sowie gleichsam auch der Konfrontation zwischen alter und neuer Heimat. Es geht darum, durch Methoden, Übungen und Spiele, aber auch durch die Auseinandersetzung in Konflikten sowie die Begegnungen in der freien Zeit die eigene Person zu reflektieren und Möglichkeiten zu schaffen, die Identität mit der eigenen Kultur zu erhalten und sie gleichsam um neue Werte zu erweitern.“ (Einrichtungsmitarbeitende der Profilprojekte „Identität stiften 2019“)

Als Ergebnis sollen Aspekte der diversitätsorientierten Pädagogik für die Offene Kinder- und Jugendarbeit in der Arbeit mit Geflüchteten ermittelt werden, um der Herausforderung des Aushandelns eines gemeinsamen „Wir“ unter Berücksichtigung von Identität, Erfahrungen und eigenen Konstruktionen des „Anderen“ zu begegnen. Zu der Frage, wie sie denn das Projekt finden und was ihnen daran gut gefällt, haben uns Kinder, Jugendliche und Mitarbeiter_innen des CVJM Münster Antworten gegeben: „Ist megacool hier, viele tolle Aktionen!“ „Ich habe viele Freundschaften neu geknüpft!“ „Sehr lustig hier, mit einem tollen Team. Man kann hier viel Sport treiben, aber auch ernste Sachen besprechen.“ Hier wird in Ansätzen deutlich, wie durch vielfältige Aktionen/Möglichkeiten, sich auszuprobieren und unterschiedliche Menschen kennenzulernen, Identität hinterfragt wird und sich verändert, wie Freundschaften geschlossen werden und ein „Wir“ entsteht.

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4 Fazit „Gleichheit ist ein Verhältnis, worin Verschiedenes zueinandersteht“, so sagte Wilhelm Windelband 1910, lange bevor der Begriff der Inklusion Einzug in den pädagogischen Alltag hielt. Er beschreibt sehr gut das, wofür die AGOT-NRW e. V. steht und was das Ziel unseres Engagements ist. Wir schaffen echte Teilhabemöglichkeiten für die Kinder und Jugendlichen vor Ort. In der Offenen Kinder- und Jugendarbeit gelingt das Miteinander unterschiedlicher Menschen – mit pädagogischer Begleitung – sehr gut. Offene Kinder- und Jugendarbeit ist Bildungsarbeit. Dies ist nicht erst seit Projektbeginn 2015 so. Den geflüchteten Kindern und Jugendlichen bieten die Kontakte zu Gleichaltrigen des Aufnahmelandes oder bereits länger hier lebenden Gleichaltrigen einige Vorteile. So ermöglicht der Kontakt zueinander Sprachpraxis, die den Erwerb der deutschen Sprache erleichtert, und darüber hinaus die Kultur und Werte der neuen Heimat kennenzulernen. Doch erleben wir, dass sich gerade durch die Anwesenheit der Kinder und Jugendlichen mit Fluchterfahrung noch einmal neue Bildungschancen für alle Besucher_innen eröffnen. Neben den Bildungsmöglichkeiten im Rahmen der Themenfelder geht es hier auch um gesellschaftspolitische Bildungsprozesse, um Themen wie Fluchtursachen, Umweltressourcen, Religionen und Kulturen, um Menschenrechte etc. Auseinandersetzungen zu diesen Themen laufen nicht immer problemfrei. Wir arbeiten mit den Herausforderungen und nutzen diese häufig als Einstieg in die Beschäftigung damit. (Vgl. Albert Scherr Junge Flüchtlinge eine Bewährungsprobe für die Offene Jugendarbeit in Ulrich Deinet (Hrsg.) Herausforderungen angenommen, 2019 Beltz Juventa). Diese alltägliche und kontinuierliche Auseinandersetzung schafft Bildung auf hohem Niveau und erreicht oft mehr als die alleinige Wissensvermittlung. In unseren Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit bieten wir den Kindern und Jugendlichen einerseits einen Schutzraum, andererseits aber auch die Möglichkeit, sich selbst – angeregt durch die Vielfalt – zu hinterfragen und neue Positionen und Werte zu entwickeln. In der Auseinandersetzung mit dem Gegenüber, das anders ist als man selbst, werden o. g. Themen greifbar, erlebbar und schaffen schon im Kindes- und Jugendalter eine Haltung zu diesen wichtigen gesellschaftspolitischen Prozessen. Gleichzeitig bilden sie die Grundlage für gelungene Inklusion. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass Inklusionsprozesse mehrere Jahre bzw. Jahrzehnte dauern und gut begleitet werden müssen, damit sie dauerhaft Bestand haben. Diesen Prozess können wir nicht wesentlich beschleunigen, doch ist unsere Arbeit richtungsweisend, wie Inklusion gesamtgesellschaftlich funktionieren kann. Wichtig dabei ist, schon im Kindes- und

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Jugendalter zu ermöglichen, eine vorurteilsfreie Haltung zu entwickeln. Dieser Inklusionsprozess braucht weiterhin Begleitung. Wir möchten in diesem und in den folgenden Jahren die Erkenntnisse aus der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sichern, die Gelingensbedingungen flächendeckend in unseren Einrichtungen verorten und unsere Ergebnisse für andere gesellschaftliche Bereiche sichern sowie die Übertragung auf diese prüfen.

Literatur Daigler, C., Häbel, H. & Wolff, M. (2003): Mädchen und junge Frauen im Sozialraum. Fragen, Problemanzeigen und Perspektiven eines interdisziplinären Themas. In Forum Erziehungshilfe (ForE), Ausgabe 1 2003, Verlag Beltz Votum. Deinet, U. (Hrsg.). (2019). Herausforderungen angenommen. Basel: Beltz. Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.) (2016): Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland: Januar 2015 – Juni 2016. Bericht an den Deutschen Bundestag. Scherr, A. (2019). Junge Flüchtlinge, eine Bewährungsprobe für die Offene Jugendarbeit in Herausforderungen angenommen, Hrsg. Deinet, U. Beltz Juventa. Windelband, W. (1910). Über Gleichheit und Identität. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Abh. 14. Heidelberg.

Andrea Heinz, Diplom.Sozialpädagogin, ist Fachreferentin bei der LAG Kath. Offene Kinder- und Jugendarbeit NRW  mit den Themenschwerpunkten Vielfalt, Inklusion, Kinder- und Jugendschutz. Darüber hinaus ist sie Leiterin des Arbeitskreises „Vielfalt“ bei der AGOT NRW. Vinorjan Thambithurai, B.A.,  war Projektkoordinator des Projektes „Vielfalt – Wir leben Sie 2019“, bei der AGOT NRW.

Teil V Handlungsfeld Erwerbsarbeit

Strukturprobleme der Arbeitsmarktintegration Geflüchteter. Steuerungs- und Handlungsrationalitäten zwischen Migrationskontrolle und Sozialpolitik Thorsten Schlee Zusammenfassung

Der bundesdeutsche Sozialstaat weist einen hohen Grad an rechtlicher und damit auch organisatorischer Fragmentierung auf. Akteure mit unterschiedlichen Aufgabenzuschnitten, professionellen Hintergründen und organisationalen Praktiken wirken bei der Bearbeitung komplexer sozialer Probleme zusammen. Das erfordert integrierte Vorgehensweisen auf lokaler Ebene. Auch die Arbeitsmarktintegration Geflüchteter folgt dieser Struktur sozialstaatlicher Aufgabenwahrnehmung. Im Unterschied zu anderen sozialpolitischen Feldern jedoch kennzeichnet sie sich durch das Zusammenwirken von ordnungs- und sozialpolitischen Rationalitäten und Organisationen. Der Beitrag fokussiert sich auf Handlungsrationalitäten und organisationale Praktiken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der lokalen Arbeitsagenturen und Jobcenter wie auch der kommunalen Ausländerbehörden. Deren Vorgehensweisen strukturieren die Arbeitsmarktintegration Geflüchteter. Er argumentiert, dass jede der involvierten Organisationen auch intern verschiedenen Rationalitäten folgt, die das Bild inkludierender sozialpolitischer Akteure und exkludierender ordnungspolitischer Akteure durcheinanderbringen, und schließt mit einem Ausblick auf Strukturprobleme der Arbeitsmarktintegration Geflüchteter, die in dieser Konstellation sichtbar werden. T. Schlee (*)  Institut für Arbeit und Qualifikation, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_21

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Schlüsselwörter

Fluchtmigration · Sozialpolitik · Arbeitsmarkt · Lokale Politik

1 Einleitung Die Arbeitsmarktintegration Geflüchteter ist ein wichtiges Themengebiet des wachsenden Feldes der Flucht- und Flüchtlingsforschung. Die Aufnahme einer Erwerbsarbeit verspricht die Verstetigung des Aufenthalts und soziale Teilhabe. Ökonomische und sozialpolitische Zielstellungen scheinen sich harmonisch mit den Hoffnungen Geflüchteter auf ein Leben in der Bundesrepublik in rechtlicher wie auch in ökonomischer Sicherheit zu decken. Die Gesetzgebung des Bundes zielte in den letzten Jahren auf selektive Liberalisierungen des Arbeitsmarktzugangs und führte – etwa mit der „Bleibeperspektive“ – zugleich neue Stratifizierungen ein. Sie verstärkte zudem die Konditionalität von Integrationsleistungen und Aufenthaltstiteln (Schammann 2017). Fluchtmigration verschränkte sich mit Diskursen zu Fachkräftemangel und demografischem Wandel und ließ ein breites Spektrum von Akteuren an der Beschleunigung von Prozessen der Arbeitsmarktintegration zusammenarbeiten. Gleichermaßen wird eine Reihe von Hürden, die der gewünschten zügigen Aufnahme einer Erwerbsarbeit im Wege stehen, offensichtlich (z. B. Etzold 2017, S. 92 ff.). Die Entwertung von im Ausland erworbenen Bildungs- und Berufsqualifikationen, die Unkenntnis hinsichtlich wohlfahrtsstaatlicher Strukturen in der Bundesrepublik, mangelnde Sprachkenntnisse und nicht zuletzt ein relativ standardisiertes Set an sozialstaatlichen Sprachlern-, Bildungs- und Qualifizierungsangeboten, das sich als wenig passgenau für die auch mit der Fluchtmigration sichtbar werdenden anhaltenden gesellschaftlichen Pluralisierungstendenzen erweist, erschweren die gewünschten Integrationsprozesse. Regulierungsbemühungen von Zuwanderung und Arbeitsmarkt bauen zusätzliche Hürden auf und verstärken die Tendenzen hin zu einem Teilarbeitsmarkt für Flüchtlinge (Kühne 2006, S. 256), der nicht nur informelle Beschäftigungsstrategien erzeugt, sondern sich auch in den Bereichen sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung intensiviert. Zwar steigt die Beschäftigungsquote der von der Bundesagentur für Arbeit geführten Statistiken zu Personen im Kontext von Fluchtmigration im Juli 2019 auf 34,7 % – damit gehen 333.000 Personen (BA 2019a, S. 14) aus den wichtigsten Asylherkunftsländern einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach –, gleichermaßen werden Segregationstendenzen am Arbeitsmarkt sichtbar. Von den Ende 2017 beschäftigten Personen arbeiteten ca.

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20 % in Arbeitnehmerüberlassungen und weitere 10 % in der Gastronomie und bei Gebäudereinigungen. 76.000 Personen gehen einer geringfügigen Beschäftigung nach. Entsprechend weicht auch der Verdienst der Personen weit vom Bundesdurchschnitt ab (Brücker et al. 2019, S. 9). Der Anteil von Frauen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen, ist weitaus geringer (BA 2019a, S. 11). Die Arbeitsmarktintegration Geflüchteter wird zumeist ausgehend von Integrationshemmnissen der Personen oder von institutionellen Hürden her thematisiert. Die Wissenschaft kann dann wichtige Vorschläge zu passgenaueren Integrationsprogrammen oder aber zur Optimierung von Verwaltungsabläufen unterbreiten. Gleichermaßen hängt diese Herangehensweise stark an normalisierenden Integrationserwartungen und institutionellen Problemdefinitionen, die mehr oder weniger explizit Humankapitaltheorien und volkswirtschaftlichen Verwertungslogiken folgen. Eine derartige Sozialpolitik- und Migrationsforschung unter nationalstaatlichen Paradigmen (Bommes 2011a) liefert wichtige Kennzahlen, um Phänomene grenzüberschreitender Mobilität1 einschätzen zu können. Sie werden in den letzten Jahren aber vermehrt durch Ansätze ergänzt, die weder den Staat als unitarischen Akteur und Sozialcontainer noch „den Flüchtling“ als Herausforderung staatlicher Integrationspolitik ins Zentrum ihrer Analysen rücken. Eine derart konstruktivistisch-dezentrierte Sozialstaats- und Migrationsforschung interessiert sich für die Frage, „wie staatliche Organisationsformen und institutionelle Regime die Phänomene von Migration, Diversität oder Flucht hervorbringen“ (Nieswand 2016, S. 287). Sie muss es dann leisten, zu zeigen, wie Rationalitäten, Regulierungs- und Steuerungsmechanismen „Flüchtlinge“ eben als solche im bundesdeutschen Wohlfahrtsstaat positionieren. Derart gewendet fragt dieser Beitrag nach Rationalitäten und organisationalen Praktiken öffentlicher Institutionen, die die Arbeitsmarktintegration Geflüchteter ermöglichen wollen. Arbeitsmarktpolitik ist – wie auch andere sozialpolitische Felder – durch einen hohen Grad an Fragmentierung von Zuständigkeiten geprägt (z. B. Aurich-Beerheide und Zimmermann 2017, S. 251). Das Feld der Arbeitsmarktintegration Geflüchteter kennzeichnet sich ­zusätzlich

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bietet sich an, zunächst von Mobilität zu sprechen. Migration bezeichnet zumeist die Beobachtung grenzüberschreitender Mobilität und knüpft an die Form des Nationalstaates an (Bommes 1999, S. 50). Fluchtmigrant_innen sind im Kontext bundesdeutscher Sozialstaatlichkeit einerseits anerkannte Flüchtlinge, aber auch Personen, die sich in der Bundesrepublik aufhalten, hier Asyl beantragt haben, deren Antrag aber noch nicht entschieden oder auch abgelehnt wurde. Der Begriff des ‚Flüchtlings‘ umfasst damit „einen umstrittenen Rechtsstatus, ein soziales und politisches Phänomen sowie eine Selbst- und Fremdzuschreibung“ (Kleist 2015, S. 158).

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durch das Z ­usammenwirken ordnungs- und sozialpolitischer Zielstellungen und Organisationen. Dieser Gemengelage geht der vorliegende Beitrag nach. Es gibt gute Gründe, lokale Felder der Arbeitsmarktintegration Geflüchteter im Spannungsverhältnis von aktivierender Sozialstaatlichkeit und nationalstaatlichen Migrationssteuerungsambitionen zu verorten (Schlee 2019, S. 133). Dementsprechend liegt der Fokus der folgenden Darstellungen auf dem Bundesamt für Migration und Flüchtlingen (BAMF), der Bundesagentur für Arbeit (BA) wie auch den Kommunalen Ausländerbehörden (KAB), ihren rechtlichen Grundlagen, Handlungsrationalitäten und Praxen der Arbeitsmarktintegration. Der Beitrag argumentiert, dass jede der involvierten Organisationen auch intern verschiedenen Rationalitäten folgt, die das Bild inkludierender sozialpolitischer Akteure und exkludierender ordnungspolitischer Akteure durcheinanderbringen, und schließt mit einem Ausblick auf Strukturprobleme der Arbeitsmarktintegration Geflüchteter, die in dieser Konstellation sichtbar werden.

2 Lokale Arbeitsmarktpolitik im Spannungsfeld von Migrationssteuerung und Integrationsförderung? Das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ersetzte 2005 das vorherige Ausländergesetz. Es wurde im Zuge der bundespolitischen Wende hin zu einer aktiven Integrationspolitik erlassen. Diese Wende fügt sich in die aktivierungspolitischen Leitlinien der Rot-Grünen Regierungskoalition ein. Explizit orientiert sich § 43 AufenthG an der aktivierungspolitischen Semantik des Förderns und Forderns. Die aufkommende Integrationspolitik des Bundes als spezifisch auf Migration reagierende Problematisierung zeigt an, dass der Sozialstaat Migrant_innen als Regelpublikum anerkennt, als tendenziell gesellschaftlich desintegrierend wahrnimmt und die Exklusionsrisiken, welche die grenzüberschreitende Mobilität mit sich bringt, bearbeitet (Bommes 2011b, S. 209).

2.1 Das BAMF als aktivierungspolitischer Akteur Mit dem Zuwanderungsgesetz 2005 wanderte auch die Sprachförderung für Ausländer_innen vom SGB III in das neue Aufenthaltsgesetz. Damit erscheint das BAMF (zuvor: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge) als integrationspolitischer und damit auch arbeitsmarktpolitisch relevanter Akteur in den lokalen Politikfeldern. Das BAMF ist eine Bundesbehörde im

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­ eschäftsbereich des Bundesministeriums des Inneren. Es nimmt nun eine G umstrittene Doppelrolle als ordnungspolitischer Gatekeeper, der über Asylanträge entscheidet (§ 5 Absatz 1 AsylG), und als integrationspolitischer Akteur ein. Die Zahl der BAMF-Mitarbeiter_innen vervielfachte sich zwischen 2015 und 2018 von ca. 2400 auf 7400 (Bt-Drs. 19/5877, S. 4). Die BAMF-Außenstellen sind funktional differenziert. Ihre Zahl variiert im Bereich über 40. In ihnen wird über Asylanträge entschieden; Regionalkoordinator_innen sollen lokale Integrationspolitiken vernetzen und entscheiden über die Zulassung von Integrationskursträgern. Qualifizierungszentren sind für die Ausbildung von Mitarbeiter_innen zuständig. Daneben unterstützt das BAMF den Aufbau der politisch, öffentlich und wissenschaftlich umstrittenen AnkER-Einrichtungen (Schader et al. 2018), die eine Bündelung von Zuständigkeiten „unter einem Dach“ versprechen und in denen Geflüchtete bis zur Beendigung ihres Asylverfahrens bleiben müssen. Sie werden bislang jedoch nur von den Ländern Bayern, Saarland und Sachsen umgesetzt. Für die Arbeitsmarktintegration Geflüchteter sind vor allem die Sprachkurse des BAMF relevant. Integrationskurse bilden das zentrale bundespolitische Instrument der Sprachförderung. Für Zuwanderer_innen besteht ein rechtlicher Anspruch und ggf. die Verpflichtung zur Teilnahme an den Integrationskursen. Die Integrationskursorganisation erfolgt über die Regionalstellen des BAMF (Bogumil u. a. 2018, S. 27 f.). Die Kurse werden an vom BAMF zugelassene lokale Träger vergeben. Kommunale Ausländerbehörde, BAMF sowie die lokalen Jobcenter (im Rahmen einer Eingliederungsvereinbarung) können zur Teilnahme verpflichten. Die Praktiken der Kursorganisation unterscheiden sich von denen der Arbeitsverwaltungen. Während die Zahl an Integrationskursteilnahmen tendenziell zurückgeht, wächst die Zahl der Teilnehmenden an den berufsbezogenen Deutschförderkursen (§ 45a AufenthG) (siehe BA 2019, S. 11). Seit 2016 mündeten 340.000 Personen in diese Kursart ein. Während das BAMF die Kurse organisiert und auch hier Trägerstandorte und Schulungsorte zulässt, finanziert das BMAS die berufsbezogene Deutschförderung. (BAMF 2019, S. 141). Mit der Einführung der berufsbezogenen Deutschförderung in das Aufenthaltsgesetz wächst die Organisations- und Kursverantwortung des BAMF in arbeitsmarkt- und integrationspolitischen Fragen weiter an. Gleichermaßen ist nicht nur unter funktionalen Gesichtspunkten umstritten, ob eine geteilte Verantwortung zwischen BAMF und Arbeitsverwaltung bei der Sprach- und Arbeitsförderung sinnvoll ist. Mit seinem doppelten Aufgabenzuschnitt jedenfalls ist das BAMF zentraler Akteur, der die Wege Geflüchteter und anderer Migrant_innengruppen in den Arbeitsmarkt strukturiert. Gleichermaßen unterhält das BAMF – gemessen an der Zahl der Kommunen, Arbeitsagenturgeschäftsstellen und

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J­obcenter – relativ wenige Außenstellen und ist damit auch nur bedingt in der Lage, seine Kurse mit anderen ansässigen Sprachlern- und Bildungsangeboten zu koordinieren und abzustimmen. Von mehreren Seiten wird deshalb eingefordert, die Kommunen stärker in die Organisation der Sprachlernangebote des BAMF einzubeziehen, wohingegen unstrittig ist, dass Currikula und Lerninhalte gut bei einer Bundesverwaltung mit besonderem Migrationswissen aufgehoben sind (Bogumil et al. 2018, S. 125 f.; Schammann 2018). Auch verfassungsrechtlich bestehen Zweifel, inwieweit ein weiterer Aufgabenzuwachs des BAMF hin zu einer „Bundesintegrationsagentur“ mit der Verwaltungshoheit der Länder in Einklang zu bringen ist (Bogumil et al. 2018, S. 171 f.). Integration bedeutet auf Basis dieser Handlungsrationalität vor allem den Nachweis von Sprachkenntnissen. Die Arbeitsmarktintegration selbst liegt außerhalb der BAMF-Rationalität, gleichermaßen konstruiert man Prozessketten, die von Spracherwerb über Maßnahmen der Berufsorientierung, der Bewerbungsunterstützung und ggfs. Qualifizierung hin in die Erwerbsarbeit führen sollen (BAMF 2018). Derartige Abläufe sind gut nachvollziehbar, scheitern aber – auch gemessen an den eigenen Ansprüchen – an mangelnder Flexibilität und nicht selten an langen Wartezeiten (Knuth 2019, S. 73). Gleichzeitig produziert das BAMF mit der Ablehnung von Asylanträgen Ausschlüsse, die dann zumeist von den kommunalen Behörden weiterbearbeitet werden.

2.2 Arbeitsverwaltungseinheiten: die Bundesagentur für Arbeit, die Agenturen für Arbeit und die lokalen Jobcenter Zentraler bundespolitischer Akteur der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik ist die Bundesagentur für Arbeit. Es handelt sich um eine bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts, die unter Rechts- nicht aber unter Fachaufsicht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales steht. Sie wird durch einen Vorstand sowie den paritätisch besetzten Verwaltungsrat gesteuert. Mit 95.000 Mitarbeiter_innen im Bundesgebiet gliedert sie sich in zehn Regionaldirektionen, 156 Agenturbezirke und ca. 600 Geschäftsstellen (BA 2019c). Ihr Auftrag leitet sich aus dem SGB II und dem SGB III ab. Die Arbeitsförderung im SGB III will „dem Entstehen von Arbeitslosigkeit entgegenwirken, die Dauer der Arbeitslosigkeit verkürzen und den Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt unterstützen“ (§ 1 SGB III). Die Versicherungsleistungen des SGB III zielen

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auf einen ­kurzzeitigen Statuserhalt bei Arbeitslosigkeit. Die Agentur für Arbeit betreut Arbeitslose und Arbeitssuchende sowie junge Erwachsene, die auf Ausbildungsplatzsuche sind (Kaps et al. 2017). Geflüchtete kommen mit der lokalen Arbeitsagentur in Berührung, wenn ihr Asylantrag noch nicht entschieden wurde und sie bei unklarer oder guter Bleibeperspektive die Beratungsangebote der Arbeitsagentur in Anspruch nehmen können. Die lokalen Arbeitsagenturen waren 2015 und 2016 wichtige Akteure, die auch Personen berieten, deren Asylverfahren noch einen offenen Ausgang hatte. Vielerorts wurden etwa dreimonatige Einstiegskurse aufgelegt, in denen Möglichkeiten bestanden, Deutsch zu lernen (Knapp et al. 2017, S. 26), wobei zu berücksichtigen war, dass die Kurse der Arbeitsagenturen keine reinen Sprachkurse sein dürfen, sondern immer Anteile der Berufsorientierung aufweisen. Mit der Aufarbeitung von Asylanträgen im BAMF gingen die Fallzahlen wie auch die Relevanz des Themas Fluchtzuwanderung in den lokalen Arbeitsagenturen zurück. Wie viele Personen im Kontext von Fluchtmigration inzwischen Anspruch auf Versicherungsleistungen aus dem SGB III erhalten, ist nicht bekannt. Die Regulierung des Arbeitsmarktes (Ausgleich von Angebot und Nachfrage) erfolgt über aktivierungspolitische Maßnahmen und die intendierte Produktion passgenauer und verwertbarer Qualifizierungen wie auch über die Steuerung des Arbeitsmarktzuganges für Ausländer_innen. Zentrales Instrument dazu ist die Vorrangprüfung. Sinn der Vorrangprüfung ist seit der Erfindung des Inländerprimats in der Weimarer Republik (Reinecke 2010, S. 358) das Vermeiden migrationsinduzierter Abwärtsspiralen auf dem nationalen Arbeitsmarkt durch Angebotsüberhang und schlechtere Beschäftigungsbedingungen für Migrant_innen. Prinzipiell ist es Ausländer_innen nur erlaubt, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, „wenn der Aufenthaltstitel sie dazu berechtigt“ (§ 4 Absatz 3 AufenthG). Gleichzeitig kann ein „Aufenthaltstitel, der einem Ausländer die Ausübung einer Beschäftigung erlaubt, […] nur mit Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit erteilt werden“ (§ 39 AufenthG). Erst 2013 entfiel die Vorrangprüfung für anerkannte Flüchtlinge (§ 31 BeschV; Goebel 2019, S. 109), während sie bei Personen im Verfahren wie auch bei Geduldeten in Zentralstellen der Arbeitsagentur vorgenommen wird (BA o. J.).2

2Das Integrationsgesetz 2016 setzte die Vorrangprüfung aus. Diese Regelung wurde im August 2019 um drei Jahre verlängert (§ 32 BeschV) und gilt nun Bundesweit. Trotz Wegfalls der Vorrangprüfung müssen Asylbewerber und Geduldete vor Aufnahme einer Beschäftigung einen Arbeitserlaubnisantrag bei der Ausländerbehörde stellen. Die Bundesagentur für Arbeit prüft in diesem Verfahren die Einhaltung der Arbeitsbedingungen. Auf dieser Basis gestattet die Ausländerbehörde die Beschäftigung.

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Nach der Anerkennung wechseln die meisten Flüchtlinge in den Regelungsbereich des zweiten Buches des Sozialgesetzes (SGB II). Das SGB II, die Grundsicherung für Arbeitssuchende, verknüpft die Existenzsicherung und Beschäftigungsförderung. Es zielt derart auf die Vermeidung und Beendigung von Hilfebedürftigkeit durch Erwerbstätigkeit und will es zugleich „Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht“ (§ 1 SGB II). Die Leistungen nach dem SGB II werden gegenwärtig von insgesamt 406 Jobcentern erbracht. Etwa ¾ der Jobcenter (302) sind in geteilter Trägerschaft zwischen Kommunen und Arbeitsagentur (gemeinsame Einrichtungen, gE); ein Viertel der Jobcenter ist dagegen Teil der Kommunalverwaltung. Bei diesen 104 (BA 2019b) zugelassenen kommunalen Trägern (zkT) ist die Kommune alleiniger Träger der Leistungen nach dem SGB II, sodass pauschale Aussagen über den kommunalen Einfluss auf Beschäftigungspolitik nur schwer möglich sind. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Bundesagentur für Arbeit mithilfe eines Systems von Zielsteuerung und Ausschreibungspraxen wie auch aufgrund ihrer Expertise lokale Arbeitsmarktpolitiken in den gE stark dominiert (Buestrich 2011, S. 146; Bourcade 2018, S. 746). ­ New-Public-Management-Techniken (NPM) – Zielvereinbarungen und Kontraktmanagement – spielen eine zentrale Rolle, um das Verhältnis der verschiedenen Ebenen (Ministerium, Zentrale, Regionaldirektion, Geschäftsstellen) auszugestalten (Reis et al. 2007, S. 69 ff.). Nicht nur die internen Beziehungen der Arbeitsverwaltung folgen den Techniken des NPM, sondern auch die Beziehungen zwischen der Arbeitsverwaltung und den für sie tätigen Dritten (privatwirtschaftlichen und freien Trägern). Das betrifft die Verfahren des Maßnahmeneinkaufs über Regionale Einkaufszentren (REZ), wobei hier die Preispolitik der Maßnahmeträger ein wichtiges Entscheidungskriterium ist, das mit anderen Faktoren – etwa bestehenden Netzwerken, erfahrenem Personal, verlässlichen Kommunikationsstrukturen, Wissen über lokale Gegebenheiten – konfligieren kann (Greer et al. 2017, S. 36–42) und damit auch Qualitätsrisiken birgt (Knuth 2018). Während in den gE der Jobcenter-Bezirke also eher von einer Entkommunalisierung der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik die Rede ist, gewannen die Jobcenter in den zkT an Einfluss. Zwar werden auch hier Personal und Klientel mit New-Public-Management-Techniken gesteuert, aber es besteht etwa ein größerer Spielraum bei der Umsetzung und Planung aktivierungspolitischer Instrumente wie auch bei der Maßnahmevergabe (Kaps 2012, S. 269 f.). Die BA reagierte mit einer Reihe spezifischer Instrumente auf die Aufgabe der Arbeitsmarktintegration Geflüchteter (zur Übersicht Knuth 2016), die aber im Vergleich zu den Standardinstrumenten zahlenmäßig nur eine geringe Bedeutung spielen (Bundesagentur für Arbeit 2019, 1b).

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Hinsichtlich lokaler Steuerungsstrukturen bleibt festzuhalten, dass aktuell kein systematisches flächendeckendes Wissen über die Zusammenarbeit zwischen lokaler Arbeitsagentur und zkT, über Kommunikationsprozesse in der Trägerversammlung oder auch im Beirat der JC besteht.3

2.3 Arbeitsmarktbezug der kommunalen Ausländerbehörden Die Kommune, also die mehr als 400 Kreise und kreisfreien Städte, wie auch die kreisangehörigen Städte und Gemeinden sind staatsrechtlich Teil der Landesverwaltung. Sie erledigen die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft selbstverwaltet. Bundespolitiken (BAMF, BA) strukturieren die lokalen Felder der Arbeitsmarktpolitik für Geflüchtete. Aus kommunaler Sicht werden Aufgaben der Beschäftigungsförderung zu freiwilligen Aufgaben, die bei anhaltend schlechter kommunaler Finanzlage lokalen Initiativen überlassen bleiben. Hinsichtlich der kommunalen Kostendeckung bestehen gehörige Unterschiede im Ländervergleich, wie der Blick auf die beiden einwohnerstärksten Bundesländer verdeutlicht. In Bayern kommt das Land für Asylsuchende und geduldete Flüchtlinge vollumfänglich auf (Artikel 8 AufnG Bay). Über zumeist aus dem Europäischen Sozialfonds mitfinanzierte Programme nehmen die Länder einen gewissen Einfluss auf lokale Arbeitsmarktpolitiken. Die Vielfalt der aufgelegten Flüchtlingsintegrationsprogramme ist – zumindest in kreisfreien Städten ab einer gewissen Größe – schwer zu kartieren und nicht selten arbeiten Wohlfahrtsträger, Arbeitsagentur und kommunale Verwaltung (etwa die Bildungskoordinator_innen für Neuzugewanderte) parallel an der Bestandsaufnahme von Angeboten für Geflüchtete. Die Rolle des BAMF beschränkt sich auf die Asylentscheidung, Organisation und Umsetzung integrationspolitischer Maßnahmen. Die Umsetzung des Aufenthaltsrechtes ist dagegen Angelegenheit der Bundesländer. Sie führen die Fachaufsicht über die kommunalen Ausländerbehörden. Während etwa im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW die Zuständigkeit für das Ausstellen von Aufenthaltsgenehmigungen und Dokumenten weitgehend bei kommunalen Ausländerbehörden liegt, differenziert das Bundesland Bayern die Zuständigkeiten. Alle abgelehnten Asylanträge werden von

3Einzig

die Evaluation der Experimentierklausel untersucht flächendeckend lokale Governancestrukturen zwischen der Kommune, den damaligen ARGEn (heute gE), den lokalen Geschäftsstellen der BA bzw. den zkT (Reis et al. 2007, S. 117 f.).

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einer Zentralen Ausländerbehörde, einer Landesmittelbehörde auf Ebene der Regierungsbezirke, weiterbearbeitet (ZustVAuslR-BY). Explizit weist der Gesetzgeber dem Aufenthaltsgesetz eine migrationssteuernde Funktion zu (§ 1 AufenthG). Um diese Funktion zu erfüllen, sind die über 500 kommunalen Ausländerbehörden mit sehr unterschiedlichen personellen Ressourcen ausgestattet. Ohne dass hier flächendeckende Daten existieren, ist davon auszugehen, dass in zahlreichen Ausländerbehörden strukturell Personalmangel herrscht (Teuscht 2019; Stadt Dortmund 2019). Für den Arbeitsmarktzugang spielen ihre Entscheidungen vor allem für Personen eine Rolle, über deren Asylantrag noch nicht entschieden ist, sowie für Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde. Zur Ausübung einer Beschäftigung benötigen Geduldete und Asylantragsteller_ innen seit 2005 eine Genehmigung der Ausländerbehörde. Diese Prüfung ist bei Geduldeten kein leichtes Unterfangen, weil deren Asylantrag abgelehnt wurde und ihre Abschiebung aus tatsächlichen, rechtlichen, humanitären oder persönlichen Gründen zeitweise ausgesetzt ist. Konkrete Duldungsgründe sind etwa medizinische Abschiebehindernisse, fehlende Reisedokumente oder eine unsichere Lage für die Person im Herkunftsland (BT-Drs. 19/8258, S. 38). Beginnen Geduldete nun eine Erwerbsarbeit aufzunehmen, verfestigen sie ihren Aufenthaltsstatus, weil Ausbildung und Arbeit als Integrationsleistungen angerechnet werden können und damit eigenständige Aufenthaltsgründe liefern, die letztlich in eine Daueraufenthaltsgenehmigung münden könnten (§ 18a, 25a, 25b, 60a und 60d n. F. AufenthG.). In gewisser Weise widerspricht die Arbeitsaufnahme Geduldeter der Ablehnung des Asylantrages. Die Öffnung dieser Möglichkeiten aber antwortet auf die Beobachtung, dass sich zahlreiche Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, langjährig mit verschiedenen Duldungsgründen in der Bundesrepublik aufhalten.4 Während die KAB keine Wege in den Daueraufenthalt bei eigentlich ausreisepflichtigen Personen produzieren wollen, können auch Geduldete in einem Dilemma stecken. Das betrifft vor allem die wachsende Zahl von Personen, die ohne Passpapiere in die Bundesrepublik einreisen (­BT-Drs. 19/8701), denn die Mitwirkung bei der Identitätsfeststellung kann zur Abschiebung führen und umgekehrt kann die Nicht-Erfüllung der Mitwirkungspflicht eine dauerhafte Exklusion in der Bundesrepublik nach sich ziehen und drängt eine nicht unerhebliche Personengruppe in prekäre Statuspositionen. 4Das

Ausländerzentralregister führt mehr als 600.000 Personen, die sich in der Bundesrepublik aufhalten, deren Asylantrag erstmalig abgelehnt wurde. Über den weiteren aufenthaltsrechtlichen Verlauf dieser Personengruppe ist jedoch nichts bekannt, d. h., man kann nicht sagen, welche abgelehnten Asylanträge auf dem Rechtsweg anerkannt oder welche anderen Aufenthaltsmotive diesen Personen inzwischen zugesprochen wurden.

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Wie die Ausländerbehörden und Geflüchtete mit dieser doppelten Dilemmakonstellation umgehen, ist nur ansatzweise erforscht (Bauer und Schreyer 2019). Für Arbeitsmarktforschung aber gilt es, die Produktion aufenthaltsrechtlicher Statusdifferenzierungen und deren Wirkungen auf Geflüchtete und den Sozialstaat und damit auch die ordnungspolitischen Akteure systematisch in den Blick zu nehmen.

3 Strukturprobleme der Arbeitsmarktintegration Geflüchteter Das BAMF, die intern stark differenzierte Arbeitsverwaltung und kommunale Ausländerbehörden sind drei zentrale, nicht aber alle Organisationen, die Prozesse der Arbeitsmarktintegration Geflüchteter in lokalen Politikfeldern strukturieren. Daneben verfolgen auch weitere Akteure wie Kammern und Zeitarbeitsfirmen, Migrantenorganisationen und Flüchtlingshilfen, Bildungsbüros, Jugendämter oder eigenständige Integrationsverwaltungseinheiten und nicht zuletzt die Geflüchteten ihre Strategien und Zielstellungen. Der Blick auf diese drei Institutionen aber ermöglicht es, die spezifische Verschränkung und Spannung zwischen Migrationssteuerung und Sozialpolitik weiter zu schärfen. Dieses Verhältnis erscheint hier als Überlagerung verschiedener Zielstellungen und Rationalitäten und macht bestehende Strukturprobleme (Offe 1984) des nationalen Sozialstaates unter den Bedingungen transnationaler Mobilität sichtbar. 1. Durch die Grundsicherung und Arbeitslosenversicherung wirkt der Sozialstaat zunächst dekommodifizierend, d. h., er bewirkt, dass Personen nicht unmittelbar zu ihrer Existenzsicherung eine Erwerbsarbeit aufnehmen müssen. Der Sozialstaat senkt mit seinen Leistungen das Angebot an Arbeitskraft. 2. Gleichzeitig aber zielt er darauf, Hilfebedürftigkeit zu vermeiden und Beschäftigungsfähigkeit herzustellen. Die Produktion von Arbeitskraft ist eine kommodifizierende Zielstellung des Sozialstaates, die in Widerspruch zu den dekommodifizierenden Elementen treten kann. Dieses Spannungsverhältnis wurde in den letzten Jahren in Richtung der Herstellung von Beschäftigungsfähigkeit und der Erhöhung von „Anreizen“ zur zügigen Aufnahme einer Beschäftigung (v. a. Dauer des ALG-I-Bezugs, Senkung von Zumutbarkeitsgrenzen, Sanktionen etc.) verschoben. Diese Anreizstrukturen haben durch Deportabilität (de Genova 2002) bei Ausländer_innen ein verschobenes Gewicht. 3. Wenn sie auch bei der Bundesagentur für Arbeit besonders ausgeprägt und sichtbar sind, so prägen NPM-Instrumente weite Teile der öffentlichen

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­ V erwaltung. Das betrifft die Beziehungsgestaltung innerhalb der Organisationen (Zielsteuerung) zum Publikum (Kontraktmanagement) und zu Dritten. Die Vermarktlichung sozialer Dienstleistungen erzeugt Kostensenkungen, kann aber zu dysfunktionalen Effekten im Hinblick auf das Angebot ausdifferenzierter, passgenauer sozialer Dienstleistungen führen, die dann auch nicht die gewünschten Ergebnisse erzielen. 4. Die Regulierung des nationalen Arbeitsmarktes erfolgt in diesem Kontext über den Inländervorrang (operativ durch die Vorrangprüfung), aber ebenfalls durch die Zuführung passender Humankapitalressourcen für die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes. Bei entsprechender Arbeitsmarktlage und Verwertungsinteressen von Unternehmen entstehen auch hier Zielkonflikte. 5. Die Steuerung von Zuwanderung in Asylfragen ist zunächst zwar originäre Aufgabe des BAMF, vermittelt über die Umsetzung des Aufenthaltsrechtes, jedoch auch Angelegenheit der kommunalen Ausländerbehörden und nicht zuletzt, vermittelt über Zugang und Nicht-Zugang zu sozialen Diensten und Leistungen, Teil der Sozialgesetzgebung, die Publikumsrollen als Leistungsbeziehende oder als Klientel der Aktivierungspolitik definiert. Der Sozialstaat errichtet Grenzen auch im Inneren des Nationalstaates. Diese interne Nachselektion will Fehlanreize für Fluchtmigration vermeiden. Inwieweit das mit internen Ausschlüssen gelingt, ist fraglich. Wenig fraglich aber ist der Outcome dieser Politiken, der Personen in eine Lage versetzt, für ihren Aufenthalt oder ihre ökonomische Existenzsicherung jedweder Tätigkeit nachzugehen. Diese migrationsspezifische Produktion sozialer Positionierung – die auch andere Migrationsformen, v. a. die EU-Freizügigkeit betrifft – ist gemessen an den sozialstaatlichen Zielstellungen (Würde des Menschen, Existenzsicherung) nicht zu rechtfertigen. Die systematische Produktion von Ausschlüssen koppelt sich zweifellos ebenso an ökonomische Interessen (wer profitiert von prekären Statuspositionen?) wie auch an nationalistische Ressentiments. Sie aber derart auf ­ökonomisch-rationale Eigeninteressen oder Irrationalität zurückzuführen, würde die Struktur des national-sozialen-Staates ignorieren. Der „Inländervorrang“ in einem weiten Sinn ist sein Prinzip. Die kollidierenden Rationalitäten, die wir in den lokalen Feldern der Arbeitsmarktintegration Geflüchteter beobachten können, werfen nicht einfach zu lösende Fragen nach dem Raum und dem Wirkungskreis sozialer Rechte angesichts anhaltender transnationaler Mobilität und weltgesellschaftlicher Arbeitsteilung auf.

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Dr. Thorsten Schlee  ist Politikwissenschaftler und leitet die Forschungsgruppe Migration und Sozialpolitik am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität ­Duisburg-Essen. Er untersucht in diesem Kontext, wie lokale arbeitsmarktrelevante Akteure auf Fluchtzuwanderung reagieren und wie Geflüchtete diese Strukturen für sich nutzen. Er lehrt an der Hochschule Düsseldorf und der Universität Duisburg-Essen.

Frauen mit Fluchterfahrung als Adressat_innen lokaler Arbeitsmarktintegration? Ein Analyserahmen kommunaler Gestaltungsspielräume Katrin Menke Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund jüngster Fluchtzuwanderungen wird in der Literatur über die unterschiedlichen Ausgestaltungen von Fluchtpolitik in der kommunalen Praxis verhandelt. Die Bedeutung der Kategorie Geschlecht bleibt dabei jedoch stets unterbelichtet, wenn nicht vollkommen ausgeblendet. Dieser Beitrag zeigt die systematische Bedeutung der sozialen Kategorie Geschlecht für Divergenzen lokaler Politikgestaltung auf, indem er Kommunen als lokale Sozialräume begreift und theoretisch mit Gender verknüpft. Am Beispiel gegenwärtiger Zielgruppen der lokalen arbeitsmarktpolitischen Verwaltungen, wie die von geflüchteten Frauen, werden geschlechterpolitische Paradoxien im aktivierenden Sozialstaat in ihrer Verwobenheit unterschiedlicher Politikfelder (erneut) sichtbar und aufgezeigt. Die Analyse macht deutlich, dass die Arbeitsmarktintegration geflüchteter Frauen nicht allein durch die gegenwärtige Fluchtpolitik in Deutschland bestimmt ist, sondern durch Paradoxien im Zusammenspiel mit dem schon länger etablierten aktivierenden Sozialstaat.

K. Menke (*)  Institut für Arbeit und Qualifikation, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_22

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Schlüsselwörter

Geschlecht · Flüchtlingspolitik · Kommune · Frauen · Flucht ·  Arbeitsmarktintegration · Sozialraum · Aktivierung · Sozialstaat

1 Einleitung Vor dem Hintergrund jüngster Fluchtzuwanderungen macht eine nicht unerhebliche Anzahl an Literatur auf die besondere Situation geflüchteter Frauen im Hinblick auf ihre familiale Lebensrealität sowie deren Teilhabe an Bildung, Qualifizierung und Erwerbsarbeit in Deutschland aufmerksam (zuletzt Pallmann et al. 2019; Fendel 2019; Kalkum et al. 2019). In diesem Zusammenhang wird auch auf die dahinterstehenden geschlechtsspezifischen Zusammenhänge verwiesen, etwa die Trennung in eine öffentliche und private Sphäre oder den vergeschlechtlichten deutschen Arbeitsmarkt (vgl. Farrokhzad 2017; Ullmann und Lingen-Ali 2018; Knuth 2017).1 Parallel dazu existiert eine hohe Anzahl an Literatur, die Flüchtlings- und Integrationspolitiken stärker räumlich verortet, namentlich in den Kontext von Kommunen und lokalem Verwaltungshandeln (vgl. Gesemann und Roth 2018; Kühn 2018; Bogumil et al. 2017; Schammann und Kühn 2016; Aumüller 2009). Vor diesem Hintergrund werden ebenso Varianzen kommunaler Politiken u. a. für den Alltag von Geflüchteten betont (vgl. Schammann 2015). Die Bedeutung von Gender als soziale Kategorie bleibt in diesen Studien in der Regel jedoch unsichtbar bzw. gänzlich unerwähnt (vgl. Bogumil et al. 2017, S. 38). So wird suggeriert, dass entweder die Konstitution des lokalen Sozialraumes für die Lebensrealität von (geflüchteten) Frauen eine untergeordnete Rolle spielt – nach dem Motto: Politiken gestalten sich Land auf, Land ab gleich –, oder andersherum, dass für die kommunale Politikgestaltung Gender als soziale Kategorie keinen systematischen Beitrag zur Divergenz lokaler Politikgestaltung habe. Dieser Beitrag zeigt: Eine systematische Verknüpfung von Geschlecht und Sozialräumlichkeit im Hinblick auf diverse kommunale Flüchtlings- und Integrationspolitiken ist dringend geboten, möchte man insbesondere die Arbeitsmarktaktivierung von Frauen mit Fluchthintergrund analysieren.

1So

werden geflüchtete Männer beispielsweise in ihrer Rolle als Väter (bisher) kaum in der öffentlichen Debatte noch in wissenschaftlichen Diskursen thematisiert.

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Der Beitrag beginnt mit einer Einführung zu dem hier zugrunde gelegten Verständnis von Sozialräumen in seiner Verknüpfung mit Geschlecht (Abschn. 2). Im Anschluss daran wird die politische Entdeckung lokaler Sozialräume in der Flüchtlingspolitik beschrieben. Diese Entwicklung ist eingebettet in den aktivierenden Sozialstaat, der weitere, miteinander verwobene Politikfelder umfasst (Abschn. 3). Schließlich werden auf dieser Grundlage Paradoxien in der Adressierung geflüchteter Frauen aufgezeigt, die kommunale Gestaltungsspielräume ermöglichen (Abschn. 4). Der Beitrag endet mit einem Fazit (Abschn. 5).

2 Sozialräume im Wandel und ihre geschlechtsspezifischen Implikationen Literatur, die sich methodisch wie theoretisch auf Soziale Arbeit und Soziale Dienste bezieht (Kessl und Reutlinger 2019, 2007), übersetzt den Begriff des Sozialraumes wiederkehrend als sozialen Nahraum, als soziale Räume lokaler, d.  h. auch kommunaler Gemeinschaften und beschreibt diesen entlang dreier Charakteristika: 1) Sozialräume umschreiben weniger physikalisch-substanzialistische Orte, Territorien oder Container sowie die ­ dort wohnenden Bevölkerungsgruppen, Sozialräume werden vielmehr als sozial konstruiert aufgefasst. Unterstellt wird eine gewisse Heterogenität von Territorialisierungsprozessen sowie der Akteure bzw. Akteursgruppen, die diese realisieren. Für Kessl/Reutlinger stellt sich mit einer solchen reflexiven Sozialraumperspektive unter Verweis auf Bourdieu die Frage nach Machtverhältnissen und Herrschaftsstrukturierungen im sozialen Raum (ebd., S. XXV). 2) Konstruktionen räumlicher Ordnungen finden durch soziale Praktiken statt, etwa die Entstehung sozialer Brennpunkte durch politische Praktiken einer Wohnungsbaupolitik der 1970/80er Jahre, eine liberalisierte Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik sowie eine fehlende Einwanderungs- und Sozialpolitik innerhalb der Bundesrepublik Deutschland. Praktiken dieser Art brächten spezifische Materialisierungen hervor, die ihrerseits neue soziale Realitäten schaffen würden bzw. (Mit-)Ausgangspunkt für diese seien (vgl. Kessl und Reutlinger 2007, S. 11). Räumliche Ordnungen lassen sich jedoch nicht beliebig und frei gestalten. Im Gegenteil sind an diesen Territorialisierungsprozessen heterogene Akteure und Akteursgruppen beteiligt, die ihrerseits in Machtverhältnisse verwoben sind. Räumliche Ordnungen als Ausdruck sozialer Praktiken sind dann stets im Wandel begriffen. 3) Ordnungen des Räumlichen müssen insofern kontextualisiert

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werden, wenn man sie als Konstruktion und Ergebnis sozialer Praxis ernst nimmt, denn „Raumordnungen stehen im Wechselverhältnis mit gesellschaftlichen Prozessen“ (ebd., S. 11) und diese gilt es zu benennen sowie ggf. kritisch zu reflektieren. Zusammenfassend lassen sich methodische sowie theoretische Forschungsperspektiven auf Sozialraum wie folgt verstehen: „das Interesse [gilt] einer Sozialraumperspektive dem von den Menschen konstituierten Raum der Beziehungen, Interaktionen und der sozialen Verhältnisse.[…] Mit Sozialraum werden somit der gesellschaftliche Raum und der menschliche Handlungsraum bezeichnet, das heißt der von den handelnden Akteuren […] konstituierte Raum“ (ebd., S. 23). Die so definierte Perspektive von Sozialräumen ist hochgradig anschlussfähig an Gender-Theorien, weil Geschlecht analog zu Sozialräumlichkeit ebenfalls als soziale, kontinuierlich durch vergeschlechtlichte Praxis herzustellende Konstruktion und damit stets in Veränderung befindliche Kategorie begriffen wird (vgl. West und Zimmermann 1987; Gildemeister und Wetterer 1995). Darüber hinaus ist Geschlecht als soziale Kategorie systematisch und wechselseitig mit Sozialräumen verknüpft, „Räume sind nicht geschlechtsneutral“ (Bauriedl et al. 2010, S. 10). Der Gegenstand feministischer Kritik an Stadt und Raum betrifft beispielsweise die „fehlende Alltagstauglichkeit“ (Becker 2010, S. 807) räumlicher Strukturen, indem die private Wohnung nicht als Arbeitsort zur Verrichtung von Sorgearbeit gedacht werde, oder adressiert die ungleichen Möglichkeiten des Raumnehmens von Frauen (ebd., S. 809). Privater sowie öffentlicher Raum als ungleich verteilte Ressource wird verstanden als die ungleich verteilten räumlichen Verfügbarkeiten, Aneignungs- und Handlungsmöglichkeiten der Geschlechter (Ruhne 2019, S. 204). Die Weiterentwicklung innerhalb des feministischen Diskurses im Hinblick auf Raum seit den 1980er Jahren kennzeichnet sich durch eine Hinwendung zu gesellschaftlichen Verhältnissen, die durch räumliche Strukturen hervorgebracht werden. Darüber hinaus finden seitdem stärker die Differenzen zwischen Frauen sowie die Vielfalt ihrer Lebensentwürfe jenseits von „Müttern kleiner Kinder“ Eingang in die Analysen (Becker 2010, S. 810). Feministische Forschung im Hinblick auf (Sozial-)Raum interessiert sich letztlich sowohl für die Wechselwirkungen zwischen Raumstrukturen und Geschlechterverhältnissen als auch für die Bedeutung kultureller Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit für die Konstitutionsprozesse von Raum. Relevante Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, lauten (vgl. ebd., S. 806): Wie sehen die räumlichen Aspekte einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung aus? Welche Möglichkeiten und Hindernisse existieren bei der öffentlichen wie privaten Raumaneignung durch Frauen? Für die Betrachtung von Frauen mit Flucht- bzw. Migrationserfahrungen besonders wichtig ist Folgendes: Welche besondere Relevanz haben

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i­neinandergreifende Prozesse von ‚race‘, ‚class‘ und ‚gender‘ für diese Fragen? Mit Bezug zu den vorherigen Ausführungen und der im Beitrag verfolgten Fragestellung rücken insbesondere Macht- und Herrschaftsverhältnisse bei der Konstruktion von Sozialräumen sowie lokale Praktiken in den Fokus. Wie sind lokale Arbeitsmarktpolitiken gegenwärtig ausgestaltet und in welchem Wechselverhältnis stehen diese zu kommunalen Fluchtpolitiken? Welche lokal zu verortenden Praktiken lassen sich aufzeigen im Hinblick auf die Adressierung von Frauen mit Fluchthintergrund? Fallen sie einheitlich oder widersprüchlich aus?

3 Die Entdeckung lokaler Sozialräume in der Flüchtlingspolitik Gestiegene Geflüchtetenzahlen seit dem Jahr 2014 haben dazu geführt, dass Kommunen in Deutschland nicht nur mit besonderen Herausforderungen konfrontiert sind – etwa der Unterbringung, Betreuung und Versorgung von Geflüchteten –, sondern auch verstärkt im Fokus medialen und politischen Interesses stehen. Gegenstand von Debatten und Berichterstattung war dabei zuletzt häufig, wie Kommunen ihren Gestaltungsspielraum in den unterschiedlichen Handlungsfeldern von Flüchtlingspolitik nutzen: etwa durch unterschiedliche Konzepte der Unterbringung, der medizinischen Versorgung oder Einbindung zivilgesellschaftlichen Engagements. Es ist zwar nicht neu, dass Städte, Kreise und Gemeinden im Kontext von Flucht und Zuwanderung tätig werden (müssen), kommunale Praxis also existiert. Die politische, mediale, aber auch wissenschaftliche Rede einer „kommunalen Flüchtlingspolitik“ spätestens seit dem Jahr 2015 ist es aber durchaus. Kommunen als eigentlich „letztes Glied in der Kette föderaler Flüchtlingspolitik“ (Schammann und Kühn 2016, S. 4) zum eigenständigen Akteur im politischen Mehrebenensystem zu begreifen, ist zumindest erklärungsbedürftig. Trotz einer europaweiten Vereinheitlichung der EU-Asyl- und Fluchtpolitik (vgl. Bendel 2015) ist Flüchtlingspolitik als Bestandteil von Migrationspolitik im Wesentlichen durch Bundesgesetze geregelt, namentlich „das Asylgesetz, das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), das Aufenthaltsrecht und die fluchtrelevanten Bücher der Sozialgesetzgebung (vor allem SGB II, SGGB III, SGB VIII), wie auch die Beschäftigungsverordnung“ (Bakoben et al. 2019). Sie stellen die Grundlage der Asylverfahren und stecken gleichzeitig die Rahmenbedingungen für den Zugang von Asylsuchenden zu relevanten Bereichen des sozialen Nahraumes. Die Bundesländer sind – neben der Vergabekompetenz humanitärer Aufenthaltstitel – für die Umsetzung des AsylbLG zuständig und damit für Aufnahme, Unterbringung und Gewährung

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existenzsichernder Leistungen. „In der Praxis reichen die meisten Bundesländer diese Aufgaben – mit Ausnahme der Erstaufnahme – ganz oder teilweise an die kommunale Ebene weiter“ (Schammann und Kühn 2016, S. 7). Gegenstand kommunaler Flüchtlingspolitik sind somit der Vollzug des Aufenthaltsrechts, die Unterbringung, Gewährung von Sozialleistungen, Gesundheitsversorgung, frühkindliche und schulische Bildung, Sprachförderung, Erwerbsarbeit und Ausbildung sowie das zivilgesellschaftliche Engagement – kurzum: Aus Perspektive von Geflüchteten werden im Prinzip alle relevanten Bereiche des Alltags nach der Erstaufnahme und jenseits des Asylverfahrens in kommunalen Behörden umgesetzt.2 Neben den formalen kommunalen Handlungsmöglichkeiten im politischen Mehrebenensystem zeigt sich die jüngste Debatte um kommunale Flüchtlingspolitik anschlussfähig an schon länger bestehende Integrationsdiskurse, innerhalb derer Kommunen als Sozialraum explizit adressiert werden. Bereits 2009 schrieb Bommes: „Es ist zum Topos des Integrationsdiskurses geworden, dass die soziale Integration von Migranten ‚vor Ort‘ stattfindet und gemeint ist dann: in Städten und oder Gemeinden.“ (Bommes 2009, S. 89) Gesemann und Roth (2018) sprechen gar vom Trend zur Institutionalisierung kommunaler Integrationspolitik, die im Kontext der jüngsten Flüchtlingszuwanderungen an Dynamik gewonnen hätte, so würden Kommunen inzwischen über strategisch orientierte Integrationskonzepte verfügen, in die interkulturelle Öffnung ihrer Verwaltungen und Einrichtungen investieren und das Engagement von und mit Zugewanderten durch Ehrenamtliche fördern (vgl. Gesemann und Roth 2018, S. 2). Auch frauenspezifische Angebote existieren in den Kommunen.3 Die Entdeckung lokaler Sozialräume im Handlungsfeld Flucht/Migration und Integration ist weder singulär4 noch zufällig. Im Gegenteil sind diese

2Zur

näheren Erläuterung der drei unterschiedlichen Weisungszusammenhänge zwischen Ländern und Kommunen siehe Schammann und Kühn (2016, S. 7 f.). 3Für einen bundesweiten Überblick über kommunale Best Practice siehe beispielsweise die Informations- und Servicestelle zu Frauen und Flucht der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten in Nordrhein-Westfalen: https://www.frauenundflucht-nrw.de/informationenzum-thema-frauen-und-flucht/best-practice-aus-kommunen.html, Zugriff am 5. September 2019. 4So ist etwa im Bereich sozialstaatlicher Pflegepolitiken ebenfalls ein politisch intendierter Trend erkennbar, die kommunale Ebene als Sozialraum zu stärken und sich auf vernetzte Angebotsstrukturen sowie einen ‚Welfare-Mix‘ aus professionellen, familialen und ehrenamtlichen Akteuren zu beziehen (Bleck et al. 2018, S. 3).

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gesellschaftlichen sowie sozialstaatlichen Wandlungsprozessen zuzuordnen, die ihrerseits den Sozialraum strukturieren. Kessl und Reutlinger (2007, S. 9 f.) nennen vier Transformationen: (I) Aufgrund einer zunehmenden Internationalisierung von Kapital, Homogenisierung von Waren und Lebensstilen sowie größerer sozialer und räumlicher Mobilität führe Globalisierung zu einer Neujustierung von Nationalstaatlichkeit. (II) Hinzu komme, dass sich das Maß an sozialen Ungleichheiten innerhalb, aber auch außerhalb des Nationalstaates verstärkt und räumlich durch Segregationstendenzen manifestiert habe. (III) Im Zuge sozialstaatlicher Wandlungsprozesse würden bisherige nationalstaatliche Integrationsräume und soziale Sicherungssysteme zunehmend in den Nahraum der einzelnen Gesellschaftsmitglieder rücken. Räume der Inklusion müssten in lokalen Gemeinschaften oder menschlichen Schutzgemeinschaften realisiert werden und kämen als Territorialisierung daher. Und schließlich (IV) würden diese kleinräumigen Einheiten zu lokalen Sicherheitsgemeinschaften erklärt, die den als hinderlich, ineffektiv und ineffizient ausgewiesenen (national-) staatlichen Sicherungssystemen überlegen seien. Voraussetzung für solch kleinräumige, lokale Gemeinschaften sei wiederum die Aktivierung subjektiver Verantwortlichkeit für die eigene Lebensgestaltung (Responsibilisierung) (vgl. Kessl und Krasmann 2019, S. 284 f.). Diese Wandlungsprozesse und sozialpolitischen Transformationen „charakterisieren aktuell vorherrschende Raumordnungen, das heißt, sie prägen das Handeln der Gesellschaftsmitglieder, so auch das (sozial) pädagogischer Fachkräfte oder (sozial)politisch Verantwortlicher“ (Kessl und Reutlinger 2007, S. 11). Damit verbunden ist der Anspruch, professionelles Handeln von Fachkräften und (sozial)politisch Verantwortlichen möge sich stärker am Lebensraum, Nahraum oder Umfeld von Nutzer_innen ausrichten (ebd., S. 15). Kessl und Krasmann sprechen gar von neo-sozialen Programmen sektoraler Inklusionsprozesse in soziale Räumen lokaler Gemeinschaften, die mit spezifischen politischen Regulationslogiken, institutionellen Verfahrensweisen und sozialkulturellen Deutungsmustern einhergehen (Kessl und Krasmann 2019, S. 284 f.). Die aufgeführten historischen sowie (sozial)politischen Transformationen spitzen sich aus geschlechtsspezifischer Perspektive allerdings (anders) zu. So gelten bis heute nationalstaatliche Integrationsräume und soziale Sicherungssysteme für Frauen nicht gleichermaßen. Citizenship als nationalstaatliche Vergesellschaftungsform ermöglicht bzw. verunmöglicht zugleich In- und Exklusionen entlang interdependenten sozialen Kategorien wie Geschlecht und ‚race‘ oder Ethnizität (vgl. Yuval-Davis 2001; Scherschel 2015). Staatsbürgerschaftliche Rechte sind eingelassen in ein System des „civic stratification“, sodass die Inanspruchnahme von Rechten durch intersektionale

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­iskriminierungen formal wie informell zum Beispiel durch VerwaltungsD handeln unterlaufen wird (vgl. Morris 2015). Asylverfahren sind durchzogen von stereotypen Einschätzungen im Hinblick auf Geschlecht und kulturelle Herkunft des Antragstellenden (vgl. Jubany 2011). Auch soziale Sicherungssysteme sind systematisch mit geschlechtsspezifischen sowie intersektional relevanten Auslassungen verknüpft, indem sie auf Erwerbstätigkeit im Rahmen von Normalarbeitsverhältnissen sowie das Konstrukt von Ehepaaren mit männlichem Familienernährer und weiblichem Zuverdienst abstellen (vgl. Orloff 1993; Lewis 1992). Weibliche Reproduktionsbiografien werden auf diese Weise zugleich (re)produziert und sozial schlechtergestellt. Kurzum: Bei Frauen wurde schon immer die Existenz von menschlichen Schutzgemeinschaften sowie eines (freilich heterosexuell konnotierten) „weiblichen Nahraumes“ im Kontext von Ehe und Familie vorausgesetzt. Insofern muss gefragt werden: Wie ist der vergeschlechtlichte Sozialraum im Rahmen aktueller Flüchtlingspolitiken konstruiert? Und welche lokalen Handlungsspielräume ergeben sich daraus?

4 Kommunale Gestaltungsspielräume in der arbeitsmarktpolitischen Adressierung geflüchteter Frauen–ein Analyserahmen Das Subjekt und seine eigenverantwortliche Lebensgestaltung werden im Sozialraum vorausgesetzt. Grundlage individueller Existenzsicherung bleibt gleichwohl die Erwerbsarbeit, deren Bedeutung ist im Kontext aktivierender Sozialpolitiken jedoch absolut gesetzt. Im Gegensatz zu einer zu Passivität einladenden Versorgungs- und Versicherungslogik setzt der national-soziale Staat auf Aktivierung. Herstellung von Beschäftigungsfähigkeit in allen gesellschaftlichen Gruppen lautet das Ziel. Sozialstaatliche Aktivierung zielt insofern auf die (Re-)Integration in den Erwerbsarbeitsmarkt (vgl. Götsch und Kessl 2017, S. 182). Neben Arbeitslosen und Jugendlichen sind auch Frauen und Mütter adressiert. Zwar werden sozialpolitische Aktivierungspolitiken im Kern durch die Arbeitsmarktpolitik realisiert (vgl. Bakoben et al. 2019), diese können aber nicht losgelöst von den damit einhergehenden Restrukturierungen von Geschlechterarrangements betrachtet werden (vgl. Pühl 2004; Knuth 2006) und stehen bei der Adressierung von (geflüchteten) Frauen und Müttern im Zusammenhang mit dazu inkonsistenten und inkohärenten Familien- und Gleichstellungspolitiken (vgl. Menke und Klammer 2017; Auth et al. 2010) sowie Asylpolitiken (Scherschel 2015).

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Dies trifft insbesondere auf die Grundsicherung von Arbeitssuchenden im Rahmen des SGB II und der Hartz-IV-Gesetzgebung zu, die alle Personen mit anerkanntem Asylstatus in Deutschland erhalten. Geflüchtete Frauen wie Männer mit anerkanntem Asylstatus befinden sich daher in der Betreuung der Grundsicherungsstellen in den Kommunen (Jobcenter). Widersprüchliche Diskurse im Hinblick auf die sozialstaatliche Regulierung von Geschlechterarrangements im SGB II zeigen sich einerseits durch die Benennung von mit Sorgearbeit verbundenen Vermittlungsherausforderungen. Konkret heißt es im Gesetzestext: Geschlechtsspezifischen Nachteilen wird entgegengewirkt, familienspezifische Lebensverhältnisse, etwa das Erziehen von Kindern oder Pflegen von Angehörigen, werden in der Vermittlung berücksichtigt (SGB II, § 1, Absatz 2). Dies steht jedoch im Widerspruch zu den (damals) neu eingeführten Zumutbarkeitskriterien für Arbeitssuchende: etwa bundesweite Mobilität, ausgedehntere Pendelentfernungen zum Arbeitsplatz sowie niedrig qualifiziertere Arbeitsplätze im Vergleich zu der Ausbildung oder dem letzten Anstellungsverhältnis. Nach Pühl würden Betreuungsaufgaben so als „‘Markthindernis‘ thematisiert; […] wer Kinder betreut, ist nicht ausreichend flexibel und mobil“ (Pühl 2004, S. 45). Andererseits komme es nach Pühl gleichzeitig zur Entnennung strukturell angelegter sozialer Widersprüche im SGB II (ebd.) hinsichtlich bestehender, zumal sozialpolitisch flankierter Geschlechterungleichheiten. So unterstellt das SGB II  –  in Übereinstimmung mit der Europäischen Beschäftigungsstrategie – ein Adult-Worker-Modell, in dem alle Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft im Erwerbsalter nicht nur die gleichen Rechte, sondern auch die gleichen Pflichten im Hinblick auf die Verwertung ihrer Arbeitskraft am Markt und die wechselseitigen Einstandsverpflichtungen haben (vgl. auch Jährling und Knuth 2010, S. 197). Das Adult-Worker-Modell als „normative Vorgabe fügt sich nicht bruchlos in das ‚konservative‘ deutsche Sozialstaatsmodell ein“ (ebd., S. 197). Im Gegenteil: Das arbeitsmarktpolitische Aktivierungsparadigma verlange spezifische Verhaltensanforderungen hinsichtlich der Geschlechterrollen, die im Widerspruch zu traditionellen Rollenvorstellungen stünden (ebd.). Das Modell des männlichen Familienernährers wird jedoch gleichzeitig sozialpolitisch gestützt: Das Ehegattensplitting im Steuerrecht, die beitragsfreie Mitversicherung in der Kranken- und Pflegeversicherung oder die steuerfreien Minijobs setzen Anreize zu einer ungleichen, d. h. geschlechtsspezifischen Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen (Ehe-)Partner_innen. Teil der Entnennung bestehender Geschlechterungleichheiten ist nach Pühl zudem, dass im Bericht der Hartzkommission „Frauen als ‚Kunden‘ für den Niedriglohnsektor gesehen werden; […] insbesondere für Frauenarbeitsplätze im Bereich Haushalt und persönliche Dienstleistungen“ (Pühl 2004, S. 45). Unterbelichtet bliebe,

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dass gerade diese Arbeitssegmente tief geschlechtlich strukturiert seien, insofern Frauen, insbesondere Migrantinnen, diskriminierenden Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen ausgesetzt seien. Diese Paradoxien würden letztlich zu einer Delegitimierung sozialer Forderungen führen, wie sie sich eigentlich aus der geschlechtsspezifischen Betrachtung von Fragen sozialer Absicherung durch sozialstaatliche Politiken ergäben (ebd., S. 44). Beispielhaft seien hier ausreichend Betreuungsplätze für Kinder und sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mit existenzsichernden Löhnen genannt. Letztlich würde das Aktivierungsparadigma zu einer partiellen Schlechterstellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt beitragen (ebd., S. 46). Diese ohnehin bereits bestehenden Paradoxien und widersprüchlichen Adressierungen von Frauen und Müttern im SGB II sind zusätzlich mit neuen Strukturprinzipien der Flüchtlingspolitik verwoben, denn auch der Umgang mit Fluchtmigration ist inzwischen geprägt von aktivierungspolitischen Erwägungen. So führen der erfolgreiche Zugang zu Erwerbsarbeit sowie Leistungen auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt neuerdings zu neuen aufenthaltsrechtlichen Optionen  –  freilich mit (nicht nur) geschlechtsspezifischen Implikationen (vgl. Scherschel 2016; Schammann 2017). Besonders sichtbar wird dies beim Spurwechsel für Geduldete: Wer im laufenden Asylverfahren in Ausbildung gelangt, erhält seit 2016 nach § 18a Aufenthaltsgesetz einen an die Ausbildung gekoppelten, befristeten Aufenthaltstitel. „Asylsuchende können sich […] ihr Bleiberecht trotz Ablehnung durch einen Erfolg auf dem Ausbildungsmarkt verdienen.“ (Schammann 2017, S. 750) Für geflüchtete Frauen ist der Zugang zu Ausbildung jedoch schwieriger als für Männer. Arbeitsagenturen und Jobcenter beraten vornehmlich im Korsett des dualen Systems mit einem Fokus auf „männlich“ dominierte, handwerkliche, gewerblich-technische Berufssegmente und weniger in Richtung Hochschul- oder Fachhochschulstudium (vgl. Knuth 2017). Für qualifizierte Beschäftigung im erzieherischen, pflegerischen oder Gesundheitsbereich bedarf es demgegenüber Qualifikationen, die vollzeitschulisch nach Landesrecht oder an Hochschulen erworben werden müssen.5 In der Vermittlungspraxis der Jobcenter und Arbeitsagenturen, so berichten geflüchtete Frauen selbst,

5Der Zugang zu diesen Ausbildungsberufen birgt insofern insbesondere für Neuzugewanderte einige Hürden: mindestens einen mittleren Bildungsabschluss, ein Fachschul-Curriculum nahe am Hochschulniveau und notwendige Weiterbildungen und ­ Spezialisierungen auch nach dem Ausbildungsabschluss (vgl. Stauber 2013, S. 146).

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wird in Bereichen wie Altenpflege insofern häufiger in Helfer_innen-Tätigkeiten vermittelt (Pallmann et al. 2019, S. 31). Diese mit dem deutschen Berufsbildungssystem einhergehende Geschlechtsspezifik ist seit den 1990er Jahren hinlänglich bekannt (vgl. Krüger 1991). Weibliche Geduldete dürften von Öffnungsklauseln wie der Ausbildungsduldung insofern kaum profitieren. Deutlich geworden sein dürften die paradoxen Restrukturierungen von Geschlechterarrangements im Kontext von Arbeitsmarkt-, Flucht- sowie Familien- und Gleichstellungspolitiken sowie eine sich daraus ergebende inkonsistente und inkohärente Adressierung von Frauen und Müttern. Wo Eindeutigkeit und Klarheit fehlen, entstehen Raum für Varianzen und Handlungsspielräume, die sich im Kontext von Fluchtpolitik insbesondere im lokalen Verwaltungshandeln zeigen dürften. Die Fachkräfte in den Arbeitsagenturen und Jobcentern sind mit diesen ambivalenten Anforderungen in ihrem Handeln konfrontiert. Frühere Forschungen im Hinblick auf Arbeitsmarktintegration und Integrationspolitik am Beispiel von SGB-II-Leistungsbeziehenden bestätigen den hier vorgelegten Analyserahmen. Unter dem „Eindruck eines Nebeneinanders sehr heterogener Praktiken“ (Jaehrling und Knuth 2010, S. 201) zeigten sich beispielsweise Unterschiede in der Arbeitsmarktaktivierung von Frauen mit Migrationshintergrund durch die Grundsicherungsstellen in den Kommunen. Dem Gesetz nach muss die Arbeitsaufnahme der Frau mit gleicher Priorität verfolgt werden wie die des Mannes – oder bei größeren Chancen auf Erwerbsintegration auch mit höherer Priorität. Sind Kinder im Haushalt, müsse entweder eine Kinderbetreuungsmöglichkeit vermittelt werden oder der männliche Partner stärkere Verantwortung für diese übernehmen (vgl. Jaehrling und Knuth 2010, S. 198). Die Fachkräfte in den Grundsicherungsstellen zeigten in der Studie jedoch ein sehr unterschiedliches Verhalten (ebd., S. 205 f.). So wurde unterstellt, dass die Erwerbsaufnahme der Frau nicht den Rollenvorstellungen der Paare bzw. der Herkunftsfamilie entspräche, eine Arbeitsmarktaktivierung insofern mit einer zeitintensiven Überzeugungsarbeit einherginge, die die Fachkräfte nicht in der Lage zu leisten seien. Dies galt auch für solche Frauen mit Migrationshintergrund in der Beratung, die sich an einer Erwerbstätigkeit interessiert zeigten, bei denen der Ehemann oder Vater dies jedoch ablehnte. Darüber hinaus trugen die Rollenleitbilder der Fachkräfte selbst zu einer gewissen Varianz in der Adressierung bei. So sei insbesondere in Westdeutschland unter den Fachkräften der Grundsicherungsstellen häufiger die Auffassung vertreten worden, dass mehr als eine stundenweise oder halbtägige Erwerbstätigkeit von Müttern vom Gesetz gar nicht gefordert werde (ebd., S. 206). Die Interpretationen des Gesetzes standen insofern im Einklang mit eigenen geschlechtsspezifischen Rollenleitbildern. Und schließlich adressierten Fachkräfte Frauen mit Migrationshintergrund nur zöger-

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lich, weil sie eine sequenzielle Integrationsstrategie verfolgten. Es wurde nicht als notwendig erachtet, beide Ehegatt_innen gleichzeitig in den Arbeitsmarkt zu vermitteln, sodass sich zunächst auf eine Person konzentriert wurde – aufgrund einer unterstellten größeren Arbeitsmarktnähe bzw. vorherigen Ernährerrolle war dies in der Regel der Mann. Im Kontext parallel bestehender, paradoxer (Re-)Strukturierungen von Geschlechterverhältnissen in der Arbeitsmarkt-, Familien-, Gleichstellungs- und Fluchtpolitik lassen sich Handlungsspielräume im kommunalen Verwaltungshandeln bereits im Vorfeld analytisch aufzeigen. Die zitierte Studie von Jaehrling und Knuth legt diesbezügliche Unterschiede beispielsweise zwischen ost- und westdeutschen Kommunen nahe, wenn eigene Geschlechterrollenvorstellungen bei der Interpretation der Anforderungen im SGB II relevant werden.

5 Fazit Im Gegensatz zur Migrationsforschung, die davon ausgeht, dass nationale Politiken zu überwiegend einheitlichem Verwaltungshandeln führen, hat dieser Beitrag in Anlehnung an bestehende Forschung (Schammann 2015; Aumüller 2009) auf Varianzen kommunaler Fluchtpolitik in der Praxis hingewiesen. Dabei wurde die Bedeutung politischer (Re-)Strukturierungen von Geschlecht bzw. Geschlechterverhältnissen für den Handlungsspielraum in kommunalen Sozialräumen, insbesondere mit Blick auf Frauen mit Migrationshintergrund, analytisch herausgearbeitet. Angesichts neuer Zielgruppen der lokalen arbeitsmarktpolitischen Verwaltungen, wie die  der geflüchteten Frauen, werden geschlechterpolitische Paradoxien im aktivierenden Sozialstaat in ihrer Verwobenheit unterschiedlicher Politikfelder erst sichtbar. Letztlich dürften diese strukturell angelegten Paradoxien nicht nur zu einer Varianz in der Adressierung, sondern zu einer insgesamt geringeren Arbeitsmarktaktivierung von geflüchteten Frauen führen. So bietet der Analyserahmen ein mögliches Erklärungsmuster für die statistisch nachweisbare geringere Teilhabe geflüchteter Frauen an Erwerbsarbeit in Deutschland – jenseits subjektivierter Zuschreibungen aufseiten der Geflüchteten. Freilich gilt es, die Analyse entlang von Empirie aus unterschiedlichen sozialen Räumen in lokalen Gemeinschaften zu ergänzen bzw. zu detaillieren. Wenn sozialpolitische Programmatiken eine Öffnung für den Sozialraum explizit einfordern, ist eine stärkere sowie kritische Hinwendung zu den lokalen Voraussetzungen unabdingbar. Analysen sollten dann sehr viel stärker in der Lage sein, eine divergierende Umsetzungspraxis innerhalb von Sozialräumen

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offen zu legen. Solch divergierende Umsetzungspraxis ist nach Schammann wahrscheinlicher, je höher die Ambiguität und Konflikthaftigkeit gesetzlicher Regelungen sind und je stärker policies mit einer hohen Symbolik verbunden werden (vgl. Schammann 2015, S. 165). Angesichts vergangener, aber auch aktueller politischer Debatten trifft dies auf die Verschränkung von Migration und Geschlecht jedenfalls zu.

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Frauen mit Fluchterfahrung als Adressat_innen lokaler …

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Dr. Katrin Menke ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Nachwuchsgruppe „Migration und Sozialpolitik“ am Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen. Derzeit forscht sie zur Arbeitsmarktteilhabe geflüchteter Frauen im kommunalen Vergleich aus qualitativer Perspektive. Ihre Arbeitsund Forschungsschwerpunkte sind Wohlfahrtsstaatlichkeit und Sozialpolitik im Wandel, sozialen Ungleichheiten im Kontext von Gender bzw. Intersektionalität sowie (­Flucht-) Migration und Sozialpolitik.

Praxiseinblick: Die KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart Ulrike Modery und Muhammet Karatas

Zusammenfassung

Die KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart (in Folge mit KSS abgekürzt) richtet sich als Informations- und Erstanlaufstelle rund um das Thema duale Ausbildung an Jugendliche, Eltern und Unternehmer_innen mit Migrationshintergrund und Migrantenselbstorganisationen sowie Unternehmerverbände, Elternvereine und sonstige Einrichtungen. Der folgende Artikel soll einen Einblick in die Arbeit der KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart zur Integration von Geflüchteten in die Strukturen der Dualen Ausbildung in Deutschland geben. Berücksichtigt wird dabei nicht nur die Zielgruppe der Geflüchteten an sich, sondern auch die Bedeutung eines gut funktionierenden Netzwerks zur Integration und besondere Gelingensfaktoren bei der Integrationsarbeit. Konkrete Beispiele zu den Arbeitsmethoden der KAUSA-Servicestelle und zu den entwickelten Veranstaltungsformaten machen die Integrationsarbeit anschaulich und fassbar; der Beitrag soll damit auch als best practice Beispiel für andere Projektvorhaben im Bereich der Integrationsarbeit dienen.

U. Modery (*) · M. Karatas  Abteilung Beruf und Qualifikation, IHK Region Stuttgart, KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Karatas E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_23

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Schlüsselwörter

KAUSA-Servicestelle · Geflüchtete · Duale Ausbildung · Jobstarter · Integration · Netzwerk · Region Stuttgart · Berufliche Bildung · Unternehmen

Die KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart1 richtet sich als Informations- und Anlaufstelle rund um das Thema duale Ausbildung an Jugendliche, Eltern und Unternehmer_innen mit Migrationshintergrund und Migrantenselbstorganisationen sowie Unternehmerverbände, Elternvereine und sonstige Einrichtungen. Die KAUSA-Servicestellen sind Teil des bundesweiten Ausbildungsstrukturprogramms JOBSTARTER und somit in ganz Deutschland vertreten; aktuell gibt es mehr als 20 aktive KAUSA-Servicestellen. Diese sind bei verschiedenen Trägern angesiedelt und sowohl in Städten als auch in Regionen aktiv.2

1 Entwicklung, Ziele und Aufgaben Bei der IHK Region Stuttgart werden seit 1999 Projekte zur Unterstützung von Menschen mit Migrationshintergrund im Bereich duale Ausbildung angeboten; die KAUSA-Servicestelle wurde 2013 eingerichtet und die Projektlaufzeit mehrfach verlängert. Langfristiges Ziel des ursprünglich auf drei Jahre angelegten Projektes war dabei, eine Koordinierungs- und Beratungsstruktur in der Region Stuttgart zur dualen Berufsausbildung aufzubauen. Vorrangiges Bestreben war daher die Vernetzung regionaler Angebote für Menschen mit Migrationshintergrund, damit alle Interessierten nach einer Erstberatung an die richtigen Stellen weitervermittelt werden konnten. Es war weiterhin Ziel, die Anzahl an Ausbildungsbetrieben mit Migrationshintergrund zu erhöhen, damit sich mehr Unternehmerinnen und Unternehmer mit Migrationshintergrund an der Ausbildung beteiligen. Insbesondere klein- und mittelständische Betriebe standen im Fokus, da bei dieser Betriebsgrößenklasse noch immer wenige Betriebe ausbilden. Aufgrund des hohen Flüchtlingsaufkommens im Jahr 2015 hatte die KSS zum 01. Februar 2016 ihre Koordinierungs- und Beratungsfunktion zum Thema

1In

Folge mit KSS abgekürzt. zu den bundesweit vertretenen KAUSA-Servicestellen auf den Seiten von JOBSTARTER: https://www.jobstarter.de/kausa-servicestellen#section1932.

2Mehr

Praxiseinblick: Die KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart

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„­Ausbildung und Migration“ um die Zielgruppe Geflüchtete erweitert. Die Anfragen nach Beratungsterminen für Geflüchtete in den Jahren 2016 und 2017 stiegen wie erwartet anhaltend kontinuierlich an, sodass die Beratung und Vermittlung der Zielgruppe immer mehr Ressourcen der KSS in Anspruch nahmen.

2 Die Arbeitsmethoden der KAUSA-Servicestelle Erstberatung relevanter Akteure und Netzwerkbildung Die KSS stand zum Thema „Ausbildung und Flüchtlinge“ sowohl geflüchteten Menschen als auch interessierten Unternehmen mit und ohne Migrationshintergrund zur Verfügung. Eltern und Jugendliche mit Migrationshintergrund zwischen 15 und 25 Jahren konnten sich für eine individuelle Erstberatung rund um das Thema Ausbildung an die KSS wenden. Für Unternehmen, die an einer Ausbildung für Geflüchtete interessiert sind, fungierte die KSS ebenfalls als zentrale Erstberatungsstelle. Sie informierte die Unternehmen über alle relevanten Themen rund um die Ausbildung von Geflüchteten, wie z. B. rechtliche Rahmenbedingungen, Sprachniveaus, Aufenthaltstitel, EQ-Praktika und andere vorgeschaltete Qualifizierungsmaßnahmen. Dabei wurde vonseiten der KSS auf eine hohe Beratungs- und Vermittlungsqualität Wert gelegt, um langfristige Ziele zu verfolgen und damit eine dauerhafte Integration der Geflüchteten zu ermöglichen. Zufriedene Unternehmen sind in diesem Kontext wichtig, da sie bei einer erfolgreichen Ausbildung der Geflüchteten wie bisher offen für die Bereitstellung weiterer Ausbildungsplätze sind und als Multiplikatoren auf Veranstaltungen, in Arbeitskreisen und im Austausch mit Geschäftspartner_innen dienen können. Auch sonstige Einrichtungen wie beispielsweise Schulen, Jugendvereine, regionale Projekte zur Bildungs-/Ausbildungsförderung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund etc. erhielten durch die KSS eine individuelle Erstberatung bezüglich der Thematik ‚Ausbildung: Jugendliche mit Migrationshintergrund‘. Zusammenarbeit mit Netzwerkpartnern Darüber hinaus sah die Kooperation mit den unterschiedlichen Netzwerkpartnern die Umsetzung gemeinsamer Veranstaltungen bzw. Aktionen vor, welche die duale Berufsausbildung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund fördern sollten. Die Aufgabe der Netzwerkpartner (z. B. Projekte) bestand hier insbesondere in der operativen Umsetzung (z. B. Informationsveranstaltungen zur dualen Berufsausbildung für Jugendliche und

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Eltern mit Migrationshintergrund). Die Organisation dieser Veranstaltungen erfolgte in Kooperation mit der KSS und den einzelnen Netzwerkpartnern. Hierbei übernahm die KSS vor allem eine „Türöffnerfunktion“, indem sie den Kontakt zu migrantischen Unternehmerverbänden herstellte bzw. intensivierte, so den Zugang zu bestimmten Migrantengruppen bekam und diese für das Thema duale Ausbildung sensibilisieren konnte. Durch die enge Zusammenarbeit mit den migrantischen Unternehmerverbänden wurde die KSS von vielen migrantischen Unternehmer_innen als fester Erstansprechpartner und bei Veranstaltungen zurate gezogen. Nach wie vor bestehen enge Kontakte der KAUSA-Servicestelle zu elf migrantischen Unternehmerverbänden verschiedener Nationen in der Region (z. B. türkisch, italienisch, griechisch, arabisch und kroatisch). Die meisten Anfragen bezogen sich auf den Berufsbildungsbereich, jedoch wurden ebenfalls Anliegen der Unternehmer_innen an die KSS herangetragen, die dann wiederum an die Expert_innen im Netzwerk weitervermittelt wurden. Bildungsträger, regionale Bildungsprojekte, Kammern, Einrichtungen der Jugendhilfe, Arbeitsagenturen, Migrantenselbsthilfeorganisationen, kommunale Einrichtungen, Schulen und weitere Beratungsstellen in der Migrantenarbeit haben während der gesamten Projektlaufzeit in regelmäßigen Abständen die Expertise der KSS erfragt. So wurde diese für Podiumsdiskussionen und Arbeitskreise, Fachreferate und Abgaben von Expertisen im Umgang mit Migrant_innen in der Berufsbildung in Anspruch genommen. Aufgrund der langjährigen Erfahrungen in der Migrantenarbeit war die KSS zu allen Fragen der Berufsbildung erster Ansprechpartner für einen Großteil der Migrant_innen in der Region Stuttgart und konnte durch die Kooperation mit den oben genannten Partnern das Netzwerk stärken. Darüber hinaus bekamen sonstige Einrichtungen wie beispielsweise Schulen, Jugendvereine, regionale Projekte zur Bildungs-/Ausbildungsförderung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund etc. die Möglichkeit, in Kooperation mit der KSS zu treten und sich so mit anderen Stellen der Bildungsund Ausbildungsförderung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund zu vernetzen sowie mit Unternehmer_innen der KAUSA-Netzwerkstruktur in Kontakt zu treten. Hierbei wurde darauf geachtet, bei diesen Einrichtungen möglichst große Gruppen anzusprechen, um bestenfalls hohe Multiplikatoreffekte zu erzeugen. Um nachhaltige Netzwerkstrukturen aufzubauen, wurde über die Teilnahme an zahlreichen Veranstaltungen und regelmäßige Abstimmung auch eine enge Vernetzung mit den Ministerien und Konsulaten erwirkt, die ihrerseits ebenfalls einen Transfer von netzwerkrelevanten Informationen an Partner gewährleisten konnten.

Praxiseinblick: Die KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart

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Eingliederung junger Geflüchteter in die duale Ausbildung Insbesondere durch die Kooperation mit Großunternehmen konnten zahlreiche Geflüchtete über spezielle Integrationsprogramme in den Ausbildungsmarkt integriert werden. Neben dem positiven Effekt, dass die Kandidat_innen nach Erreichen der Ausbildungsreife entweder in den Großunternehmen selbst oder nach Weitervermittlung in klein- und mittelständischen Unternehmen eine Ausbildung beginnen konnten, ermöglichte die Zusammenarbeit mit den Großunternehmen, dass das über die Integrationsprogramme erworbene Wissen und die Erfahrungen gezielt an klein- und mittelständische Unternehmen weitergegeben werden konnten. Um die KMU hinsichtlich der Ausbildungsaktivitäten im Bereich Geflüchtete zu sensibilisieren und diese zu steigern, wurden mehrfach Unternehmen aus der Region angeschrieben und auf die Unterstützung der KSS aufmerksam gemacht, wodurch neue ausbildende Betriebe gewonnen werden konnten; außerdem konnten über eine speziell entwickelte Abfrage der IHK Lehrstellenbörse interessierte Unternehmen als potenzielle Ausbildungsbetriebe für Geflüchtete und Jugendliche mit Migrationshintergrund gewonnen werden. Über Kooperationen mit diversen KMU konnten Geflüchtete in Kurz-, Berufsorientierungs- und Einstiegsqualifizierungspraktika, aber auch in Ausbildungsverhältnisse vermittelt werden. Hierbei wurden über die KSS eine Sensibilisierung und Vorgehensweise mit den Unternehmen dahin gehend entwickelt, wie eine erfolgreiche Integration von Geflüchteten in die duale Ausbildung erfolgen kann. Ziel der KSS war es, hierdurch nachhaltige Beratungsstrukturen aufzubauen, nach deren Modell unternehmensübergreifend gehandelt wird. Zu nennen sind an dieser Stelle insbesondere gemeinsam mit Unternehmen organisierte „Schnuppernachmittage“, an denen potenzielle Kandidat_innen im Beisein von Ausbilder_innen und Auszubildenden über Arbeitsproben etc. für einen Ausbildungsplatz ausfindig gemacht werden konnten. Des Weiteren wurden gemeinsam mit der KSS „Fahrpläne“ entwickelt, über welche Wege und Eingliederungsmöglichkeiten junge Geflüchtete in die duale Ausbildung finden können (z. B. Empfehlungen über berufsorientierende Praktika → Einstiegsqualifizierungspraktika → 2-jährige Ausbildungsberufe → ggfs. Stufenausbildungen (+1 Jahr) etc.). Über eine unternehmensübergreifende Kommunikation wurden diese Konzepte in weiteren Unternehmen ohne Mitwirkung der KSS angewandt und weitergereicht bzw. über deren Empfehlungen die KSS kontaktiert. Parallel wurde über Informationsangebote versucht, das Interesse der Geflüchteten für das in den Herkunftsländern unbekannte duale Ausbildungssystem zu wecken und auf die Chancen einer Ausbildung hinzuweisen.

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Besonders hilfreich bei der Vermittlung von Geflüchteten in Praktika oder in die Ausbildung waren die Kompetenzfeststellungstests (KFT), die 2016 eingeführt und seitdem vielfach durchgeführt wurden. Die Testergebnisse werden dafür genutzt, um die Kompetenzen (kognitive Fähigkeiten, vorhandene Kenntnisse, Berufseignung der Kandidat_innen) der Geflüchteten besser einschätzen zu können und gegebenenfalls eine passgenaue Vermittlung an Unternehmen zu ermöglichen. Vor allem bei Geflüchteten, die über keine Dokumente ihrer Schul- und Berufsabschlüsse verfügen, ist die Vermittlung in Praktika und/oder Ausbildung mit einem vorliegenden Kompetenztest für alle Beteiligten einfacher und zielführender. Es hat sich herausgestellt, dass die Unternehmen die Voreinschätzung und Vorauswahl bei der Vermittlung durch die KSS sehr schätzen, da diese den Auswahlprozess ungemein vereinfachen. Kandidat_innen, welche bei den Tests erhebliche Defizite aufwiesen, wurden an Betreuungsstrukturen des Netzwerks der KSS verwiesen. Somit wurde gewährleistet, dass diese Kandidat_ innen bis zur Ausbildungsreife weiter durch diese Stellen betreut werden. In den Jahren 2016 und 2017 fanden jeweils zwei Jobmessen (Beschäftigung und Ausbildung) für Migrant_innen und Geflüchtete in den Räumlichkeiten der IHK Region Stuttgart statt. Das Hauptaugenmerk lag dabei auf der Gruppe der Geflüchteten. Die KSS war Mitorganisator mit den Regelinstitutionen und übernahm das Matching zwischen den beteiligten Unternehmen und Geflüchteten sowie Migrant_innen. Aufgrund des großen Erfolges wird die Jobmesse im Jahre 2019 weiterhin mit den beteiligten Netzwerkpartnern stattfinden. Die IHK Region Stuttgart organisiert gemeinsam mit der KSS seit Ende 2015 einen separaten Arbeitskreis „Flüchtlinge ausbilden und beschäftigen“. In dem Arbeitskreis sind neben Mitgliedsunternehmen die Regelinstitutionen, Arbeitsmarktakteure sowie Entscheidungsträger aus dem Flüchtlingsumfeld vertreten. Die KSS übernimmt hier insbesondere die „Brückenfunktion“ zwischen den Beteiligten und führt interessierte Mitgliedsunternehmen mit den Akteuren zusammen. Ziel ist hierbei, eine direkte Kommunikation auch ohne die KSS zu erreichen. Auch ist sie Impulsgeber und informiert über die aktuelle Lage rund um das Thema Geflüchtete in Ausbildung. Über den Arbeitskreis erfolgen weitere Kooperationen mit KMU, welche Geflüchtete ausbilden wollen. Insbesondere Unternehmen, die bereits Geflüchtete integrieren, nutzen die Treffen im Arbeitskreis, um sich als Best-Practice-Beispiele vorzustellen und anderen Unternehmen ihre Erfahrungen mit den Geflüchteten und der KSS weiterzugeben.

Praxiseinblick: Die KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart

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3 Relevante Akteure vor Ort Die KSS war während der gesamten Projektlaufzeit auf eine Verstetigung unterstützender Maßnahmen von kleinen und mittleren Unternehmen fokussiert. Dabei erfolgten eine nachhaltige Kommunikation und Verstetigung des Erfahrungsaustausches untereinander, sowohl innerhalb der jeweiligen Migrant_ innencommunitys als auch von migrantischen und nichtmigrantischen Akteuren in der Region. Über diverse Maßnahmen und Aktionen konnte sich die KSS hierbei entscheidend einbringen, sowohl in Bezug auf die Personen mit Migrationshintergrund als auch hinsichtlich der Geflüchteten. Zur nachhaltigen Stärkung der Stuttgarter Netzwerkstruktur wurde in Kooperation mit der Bürgerstiftung Stuttgart der Stuttgarter Ausbildungscampus gegründet und am 7. April 2017 eröffnet. Ziel war die Schaffung eines Treffpunkts und einer Anlaufstelle für junge Migrant_innen, insbesondere Geflüchtete, durch den diese mit allen relevanten Ansprechpartnern (Jobcenter, Agenturen, Kammern, Ausländerbehörde etc.) ohne lange Kommunikationswege ihre Anliegen im Bereich der dualen Ausbildung klären konnten. Die KSS hat sich an der Steuerungsgruppe und Entwicklung beteiligt und stand als fester Bestandteil der Beratungskette an zwei Tagen in der Woche dem Ausbildungscampus mit ihren Beratungsleistungen zur Verfügung. Hierbei wurde bisher ein intensiver Austausch der Expertise der KSS mit den jeweiligen Arbeitsmarktakteuren erreicht und eine nachhaltige Zusammenarbeit der Zielgruppen mit den Wirkungs- und Entscheidungsträgern verfestigt. Eine anwachsende Kommunikationsstruktur innerhalb des Ausbildungscampus zwischen den beteiligten Akteuren ermöglichte es, gemeinsame Probleme anzusprechen und nachhaltige Lösungsansätze zu finden. Der Ausbildungscampus schuf insofern ein gemeinsames „Cluster“, an dem sich die KSS mit ihrer Expertise zum Thema „Ausbildung und Migrant_innen“ nachhaltig beteiligt hat. Ziel der KSS war es, den „Ausbildungscampus“ nachhaltig als Anlauf- und Beratungsstelle für junge Migrant_innen, insbesondere Geflüchtete, in Stuttgart zu etablieren, auch ohne die Beteiligung der KSS, welche aktuell von allen Beteiligten des „Ausbildungscampus“, Unternehmen und Geflüchteten als eine der wichtigsten Anlaufstellen wahrgenommen wird. Eine wesentliche Verbesserung der Netzwerkstrukturen wurde außerdem durch die Einrichtung von Beratungsstellen in den Städten Fellbach und Schorndorf des Landkreises Rems-Murr erreicht. Speziell in diesem Landkreis mangelte es vorher an verlässlichen Strukturen zum Wissenstransfer rund um die duale Ausbildung und zur Vermittlung von passenden Kandidat_innen an interessierte

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Unternehmen. In Kooperation mit den Wirtschaftsförderungen der Städte konnte die KSS als feste Anlaufstelle für Unternehmen und Geflüchtete sowie Migrant_ innen regelmäßige Sprechstunden anbieten und auch den Kontakt zwischen den einzelnen Netzwerkpartnern verbessern. Das Netzwerk wurde zudem durch Veranstaltungen wie z. B. ein Personalerfrühstück in Fellbach oder eine Infoveranstaltung für Unternehmen in Schorndorf gestärkt. Mittlerweile konnten die Beratungsstellen und das aufgebaute Netzwerk erfolgreich in die Verantwortung des neuen zuständigen Kümmerers im Projekt „Integration durch Ausbildung – Perspektiven für Flüchtlinge“ übergeben werden. Eine intensive Kooperation mit Modellcharakter für die Region wurde mit der Gewerblichen Schule im Hoppenlau Stuttgart (GSIH) aufgebaut. Im September 2017 wurden zwei eigene Berufsschulklassen (Integrationsklassen) für Geflüchtete, die eine EQ oder Ausbildung im Hotel- und Gaststättenbereich ausüben, und eine weitere Klasse für den Lebensmittelbereich mit spezieller Sprachförderung eingerichtet. Hierzu wurde zwischen der GSIH und KSS vereinbart, dass die durch die KSS vermittelten Geflüchteten und Jugendlichen mit MH, die eine besondere sprachliche Förderung benötigen, an die GSIH weitergeleitet werden; auch die Unternehmen wurden darüber informiert. Außerdem besteht für Interessent_innen einer Ausbildung zum Friseur/zur Friseurin die Möglichkeit, eine vorbereitende einjährige Berufsfachschulklasse zu besuchen. Momentan (Mai 2019) besuchen 200 Teilnehmer_innen diese Integrationsklassen; es gibt an der Schule mittlerweile fünf Integrationsklassen. Diese einzigartige Konstellation wurde im Rahmen des Jakobb3 -Workshops „Flüchtlinge in Ausbildung integrieren“ von Klett-MINT als ein erfolgreiches Beispiel an die Berufsschulen und Berufsschullehrer_innen durch die KSS und die GSIH gemeinsam herangetragen. Mithilfe der KSS ist das Modell mittlerweile in der gesamten Region bekannt geworden und einige Berufsschulen haben mit der Einrichtung eigener Integrationsklassen begonnen. Die GSIH ist nun auch in Unternehmerkreisen bekannt; das Wissen wird entsprechend weitergegeben. Die KSS war hinsichtlich der Flüchtlingsthematik, neben der intensiveren Beratungsstruktur dieser Zielgruppe, in unterschiedliche Arbeitskreise eingebunden. Sie war seit November 2015 in dem neu gegründeten Arbeitskreis der Stadt Stuttgart „Task Force Integration von Flüchtlingen“ mitvertreten und beteiligte sich an der Arbeitsgruppe mit dem Thema „Arbeit und Ausbildung“. Hierbei wurden wichtige Impulse in der zukünftigen Arbeit im Bereich der

3Jahreskongress

Berufliche Bildung.

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jungen Geflüchteten in der Region gegeben sowie ein intensiver Erfahrungsaustausch gewährleistet. Der Arbeitskreis setzt sich insgesamt aus sechs thematischen Arbeitsgruppen zusammen. Involviert sind alle relevanten Akteure wie Jugendamt, Agentur für Arbeit, Jobcenter, Stadt Stuttgart, Berufsschulen, Kammern, Stiftungen (wie z.  B. Bürgerstiftungen, Robert-Bosch-Stiftung), Elternvertretung, Kommunen, Diakonie, Caritas etc. Ebenfalls ist die KSS festes Mitglied im IHK-Arbeitskreis „Flüchtlinge ausbilden und beschäftigen“ (mittlerweile umbenannt in „Ausbildung und Migration“) sowie im Arbeitskreis der Bürgerstiftung „Flüchtlinge und Ausbildung“. Im Sommer 2017 wurde der Arbeitskreis Fellbach mit der Oberbürgermeisterin, der KSS, der Wirtschaftsförderung Fellbach und den Freundeskreisen ins Leben gerufen. Hiermit wurde eine weitere Verankerung in der Region erreicht, wo es vorher keine verlässlichen Beratungsstrukturen gab. Die KSS ist fester Bestandteil in der AG „Potenzialanalyse“ der Task Force Integration der Stadt Stuttgart. Ziel ist ein intensiver Austausch der relevanten Arbeitsmarktakteure der Stadt und der Region im Bereich der Kompetenz- und Potenzialanalysen für Geflüchtete. Als Ergebnis dieser Kooperation entstand mit dem „Qualipass für Flüchtlinge“ ein gemeinsamer, einheitlicher und allgemein anerkannter Standard zur institutionenübergreifenden Ersterfassung von Kompetenzen junger Geflüchteter in der gesamten Region Stuttgart. Der Qualipass soll eine Erleichterung für Betreuungs- und Beratungsstellen darstellen, da darin alle für die Beratung relevanten Unterlagen gesammelt und von den Geflüchteten vorgezeigt werden können. Dieser Standard wird dauerhaft in der Region Stuttgart Gültigkeit haben. Die KSS konnte in mehreren Gesprächen alle Berufsberater_innen der Jobcenter im Stadtkreis Stuttgart und zum Teil auch in den Landkreisen über die Möglichkeiten der Einbindung von Geflüchteten in die duale Ausbildung oder vorgeschaltete Qualifizierungsmaßnahmen informieren. Durch den konsequent betriebenen Wissenstransfer konnten die Beratungsstrukturen maßgeblich verbessert werden. Auch auf das gesamte Netzwerk hat dies einen entscheidenden gewinnbringenden Einfluss, denn die Jobcenter fungieren ihrerseits als Wissensmittler und geben relevante Informationen an andere Partner weiter. Innerhalb des Netzwerkes wurde über Maßnahmen und Veranstaltungen eine nachhaltige Zusammenarbeit mit den migrantischen und nichtmigrantischen Akteuren erzielt. Die KSS stand hierbei als Brückenbauer zur Verfügung. Die durch KSS für die Ausbildung gewonnenen Unternehmen bilden in Zukunft weiterhin aus. Die Kammern übernehmen hierbei die Betreuung und Beratung dieser Unternehmen zum Thema duale Berufsausbildung und unterstützen bei weiteren Ausbildungsaktivitäten, z. B. durch die jeweiligen Ausbildungsberater_innen der Kammern.

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Neuerdings erfolgte der Aufbau einer Zusammenarbeit mit dem Senior Experten Service (SES) zur gezielten Unterstützung und Betreuung bei der beruflichen Integration. 2017 betreuten acht KAUSA-Senior-Experten insgesamt 13 Geflüchtete, im Jahr 2018 wurde die Zusammenarbeit zum Teil mit neuen Kandidat_innen fortgesetzt. Senior-Experten unterstützen die KSS z. B. bei der Erstellung von Bewerbungsunterlagen, Vorbereitung zu Vorstellungsgesprächen sowie Behördengängen etc. Mithilfe der Senior Experten konnten Kandidat_innen der KSS erfolgreich bei der Integration in den Ausbildungsmarkt unterstützt werden und die Senior Experten stellen eine wichtige Komponente in der Erweiterung und Verstärkung der Beratungs- und Betreuungsstrukturen dar. Mit dem Landesprojekt „Willkommenslotsen“ erfolgte eine enge Kooperation im Bereich der Flüchtlingsarbeit. Da der Aufgabenbereich der Willkommenslots_ innen die konkrete Vermittlung von Geflüchteten nicht vorsieht, wurde in mehreren gemeinsamen Gesprächen vereinbart, dass die Willkommenslots_innen nach der Sensibilisierung der Unternehmen die freien Ausbildungsplätze für Geflüchtete an die KSS weiterleiten. Die KSS übernahm danach die gezielte Vermittlungsarbeit und konnte so klein- und mittelständische Unternehmen bei der Suche nach passgenauen Kandidat_innen unterstützen. Die Zusammenarbeit mit dem Landesprojekt „Integration durch Ausbildung – Perspektiven für junge Geflüchtete“, sogenannten „Kümmerer_innen“, verlief erfolgreich und in intensiver Abstimmung. Ein reger Wissenstransfer zwischen den beiden Projekten und gemeinsame Auftritte bei Veranstaltungen festigten die Zusammenarbeit und Beziehungen; so konnte auch eine bessere Verbindung zwischen den Beratungsstrukturen in Stuttgart und den umliegenden Landkreisen erreicht werden.

4 Erfahrungen, Gelingensfaktoren und Herausforderungen bei der Integration in die duale Ausbildung Herausforderungen bezüglich der Zielgruppe der Geflüchteten Geflüchtete Personen bedürfen einer besonderen Unterstützung, um ihren Weg in die duale Ausbildung zu finden. Abgesehen von den persönlichen Umständen, den Umständen der Unterbringung in Deutschland und denen, welche die jeweilige Person zur Flucht bewegt haben, ist bei Menschen mit Fluchthintergrund ein besonders hohes Maß an Orientierung, sprachlicher Unterstützung und praktischer Vorbereitung auf die duale Ausbildung erforderlich.

Praxiseinblick: Die KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart

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Bei den meisten Ratsuchenden, die sich im Rahmen der Projektlaufzeit an die KSS gewandt haben, ließ sich erkennen, dass sie weder Kenntnisse über das duale System noch über verschiedenen Berufe, deren wesentliche Aspekte und vor allem über realistische Einstiegschancen hatten. In vielen Fällen waren junge Menschen mit Fluchthintergrund durch ihr Studium oder ihre Berufserfahrung in der Heimat sehr fixiert auf einen bestimmten Bereich. Bei der Berufsorientierung wurden die Empfehlungen der beratenden Projektmitarbeiter_innen der KSS häufig nicht angenommen und dies änderte sich erst nach mehreren Beratungsterminen. In vielen Fällen waren auch mehrere berufsorientierende Praktika erforderlich, bis die Kandidat_innen ein realistisches Bild von den Ausbildungsmöglichkeiten in Deutschland gewinnen konnten. Weitere Herausforderungen bei geflüchteten Menschen im Kontext der dualen Ausbildung sind die sprachliche Unterstützung und Vorbereitung, um diesbezüglich zunächst eine Ausbildungsreife zu erreichen und anschließend die Ausbildung auch erfolgreich absolvieren zu können. Die meisten Kandidat_ innen bringen keine hinreichenden Sprachkenntnisse mit und überschätzen sich zudem in ihrer Sprachkompetenz. Hinzu kommt, dass auch die Unternehmen häufig nicht einschätzen können, inwiefern ein_e Kandidat_in sprachlich ausbildungsreif ist und ohne vorqualifizierende Maßnahme ein Ausbildungsverhältnis mit ihm oder ihr beginnen kann. In solchen Fällen ist das Vorhaben meistens zum Scheitern verurteilt, denn selbst wenn in der Praxis alles gut funktioniert, kommen Geflüchtete in der Berufsschule schnell an ihre Grenzen und erreichen das Klassenziel nicht. Um dies zu vermeiden, muss eine gut funktionierende Beratungs- und Betreuungsstruktur gewährleistet sein, die den Menschen aufzeigt, welches Sprachniveau für eine duale Ausbildung und eine vorgeschaltete Qualifizierungsmaßnahme erforderlich ist, und vor allem auch dafür sorgt, dass die Kandidat_innen in die entsprechenden Sprachkurse vermittelt werden. Zudem besteht im Austausch mit den ausbildenden Unternehmen ein erhöhter Sensibilisierungsbedarf für sprachbedingte Anfangsschwierigkeiten, damit die Kandidat_innen auch entsprechend sprachsensibel eingearbeitet und betreut werden. Besondere Ressourcen sind ebenso bei der praktischen Vorbereitung und Begleitung der Praxisphasen in der dualen Ausbildung erforderlich. Die meisten Geflüchteten brauchen auch bei guter Vorqualifizierung entsprechend Zeit, um sich an das neue Arbeitsumfeld, die besonderen Abläufe, kulturelle Besonderheiten und die jeweils praktizierte Fachsprache zu gewöhnen. Die KSS hat daher stets das Modell angewendet, die Geflüchteten vor Beginn einer dualen Ausbildung in eine Einstiegsqualifizierungsmaßnahme, kurz EQ, zu vermitteln. Die

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EQ ist ein mindestens sechsmonatiges, maximal zwölfmonatiges Praktikum im gewünschten Ausbildungsberuf; die Maßnahme wird finanziell gefördert von der Agentur für Arbeit und bietet sowohl den Betrieben als auch den Kandidat_ innen eine ausreichende Einarbeitungs- und Testphase. In den meisten Fällen bewährt sich das Modell und ermöglicht im Anschluss eine erfolgreiche duale Ausbildung; hier bestand im Rahmen der Projektlaufzeit allerdings die Herausforderung, die Geflüchteten selbst und auch die Betriebe von dieser Maßnahme zu überzeugen und sie hierfür zu gewinnen. Zu diesen drei Faktoren kommen bei der Gruppe geflüchteter Menschen zahlreiche weitere Besonderheiten, die eine sehr enge Betreuung und eine ausgeprägte Beratungsintensität erforderlich machen; diese reichen von kulturell bedingten unterschiedlichen Vorstellungen von Arbeit und Qualifizierung bis zu traumatischen Erlebnissen in der Vergangenheit mit Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit. Gelingensfaktoren und Erfahrungen Das Gelingen der Integration in die duale Ausbildung hängt von verschiedenen Faktoren ab. Gute Voraussetzungen bei der Integration in die duale Ausbildung sind allgemein vorhanden, wenn die Kandidat_innen selbst gewillt sind, sich zu integrieren, und vor allem auch bereit sind, die Empfehlungen von entsprechenden Beratungsstellen anzunehmen und umzusetzen. Hinzu sollte auch die Bereitschaft kommen, sich in einer Einstiegsqualifizierung auf die duale Ausbildung vorzubereiten und sich allgemein in die neuen Strukturen einzugewöhnen. Um die praktische und sprachliche Vorbereitung sowie die anschließende Betreuung in der dualen Ausbildung zu gewährleisten, bedarf es auch einer gut funktionierenden Netzwerkstruktur und Kommunikation zwischen den einzelnen Netzwerkpartnern. Stellt z. B. ein_e KAUSA-Berater_in fest, dass die geflüchtete Person sprachlich noch nicht ausbildungsreif ist, muss eine unkomplizierte Kontaktaufnahme zu den Mitarbeiter_innen in der Agentur für Arbeit und in den Jobcentern möglich sein, damit die Person gezielt in einen Sprachkurs und in eine vorqualifizierende Maßnahme vermittelt werden kann. Das Gelingen der Integration in die duale Ausbildung hängt außerdem maßgeblich von den ausbildenden Betrieben und ihrer Bereitschaft und natürlich auch den personellen und finanziellen Kapazitäten zur Integration der Kandidat_ innen ab. In der Regel braucht eine Person mit Fluchthintergrund sehr viel länger als hier aufgewachsene Auszubildende, um sich in den neuen Strukturen zurechtzufinden und sich an Arbeitsabläufe und -prozesse so zu gewöhnen, dass erfolgreich gearbeitet und gelernt werden kann. Hinzu kommen der besondere

Praxiseinblick: Die KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart

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sprachliche Förderbedarf und die fachliche Unterstützung bei der Bewältigung des Berufsschulstoffes. Diese Herausforderungen sind ohne verantwortliche Personen in den Unternehmen nur schwer zu bewältigen, die für die besonderen Erschwernisse sensibilisiert sind und die Auszubildenden mit Fluchthintergrund aktiv unterstützen – z. B. durch regelmäßige Mentor_innengespräche, zusätzliche Einarbeitungs- und Übungsphasen oder sprachliche sowie fachliche Nachhilfe. In vielen Fällen gilt es, vor den genannten Unterstützungsleistungen zur Integration in die duale Ausbildung auch primär über die Ausbildungsstrukturen und deren Rahmenbedingungen aufzuklären. Nach wie vor ist die hohe Bedeutung der dualen Ausbildung für die Erwerbskarriere in Deutschland vielen Personen mit Fluchthintergrund nicht bekannt; außerdem herrscht vielfach Unkenntnis darüber, dass der erfolgreiche Einstieg in die Ausbildung nur mit hinreichenden Sprachkenntnissen und entsprechender schulischer Vorbildung zu erreichen ist. Beratungsbedarf besteht auch bei Fragen hinsichtlich der möglichen Anerkennung von schulischer und beruflicher Vorbildung im Heimatland und dahin gehend, inwiefern diese in bestimmten Berufszweigen eingebracht werden kann. Die KAUSA-Servicestelle berät ebenso zu rechtlichen Rahmenbedingungen bei der Ausbildung von Geflüchteten; mehrheitlich treten hierbei Fragen zur Beschäftigungserlaubnis sowie Bleibeperspektive von Personen aus den sogenannten sicheren Herkunftsländern auf. Hierbei ist es sehr wichtig, dass die Projektmitarbeiter_innen der KAUSA-Servicestelle in Kontakt mit Netzwerkpartnern aus der Verwaltung, insbesondere der Ausländerbehörde, stehen, um sich fachlich auf dem neuesten Stand zu halten und zwischen Behörden und Geflüchteten vermitteln zu können.

5 Fazit: Vernetzung und Kooperation als Schlüssel erfolgreicher Integration vor Ort Die Vernetzung mit relevanten Partnern und Arbeitsmarktakteuren spielt eine ganz entscheidende, wenn nicht gar die maßgebliche Rolle für die erfolgreiche Projektarbeit. Die Integration geflüchteter Menschen in ein für sie fremdes Sozial- und Arbeitssystem ist ein komplexer Vorgang, der ausschließlich dann funktionieren kann, wenn die Integrationshilfe nicht nur von einer Stelle erfolgt, sondern über die Zusammenarbeit mehrerer Partner aus verschiedenen Kompetenzbereichen. Hilfreich ist dabei in der Region Stuttgart, dass die infrastrukturellen und wirtschaftlichen Bedingungen das Vorhandensein eines breit aufgestellten Netzwerks mit Partnern wie Ministerien, Agentur für Arbeit und Jobcenter, Städten, Behörden und Ämtern, Bildungsträgern und Schulen,

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­ nternehmen, Unternehmerverbänden, Kammern und sonstigen Einrichtungen U überhaupt erst ermöglichen und eine erfolgreiche Vernetzung begünstigen. Der regelmäßige Austausch über relevante Themen und Entwicklungen rund um die Arbeitsmarktintegration muss aber aktiv betrieben und aufrechterhalten werden. Ein wichtiger Teil der Arbeit der KSS ist daher auch die aktive Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit in der Region. Dazu zählen die regelmäßige Teilnahme an Informationsveranstaltungen sowie Tagungen, Kongresse und Messen, außerdem die eigenständige Organisation und Durchführung von integrationsbezogenen Veranstaltungen, Berichterstattungen und Servicehinweisen in der örtlichen Presse sowie über Kanäle der Kammern und auch die aktive Mitarbeit in Arbeitskreisen und -gruppen. Die Erfahrungen der KSS haben gezeigt, dass Menschen mit Fluchthintergrund nur dann erfolgreich in einem für sie neuen Raum ankommen können, wenn dieser aus verschiedenen Anlaufstellen besteht, über die die Geflüchteten Hilfe und Beratung zu verschiedenen Themen erhalten und bei Bedarf auch an andere Stellen weitergeleitet werden können.

Ulrike Modery ist Projektmitarbeiterin KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart bei der IHK Region Stuttgart. Muhammet Karatas  ist Projektleiter der KAUSA-Servicestelle Region Stuttgart, welche in der Abteilung Beruf und Qualifikation der IHK Region Stuttgart angesiedelt ist.

Teil VI Handlungsfeld Zivilgesellschaftliches Engagement

Arbeitsbeziehungen Ehrenamtlicher im Bereich (Flucht-)Migration Carina Bhatti, Katja Jepkens und Kai Hauprich

Zusammenfassung

Der Beitrag beschäftigt sich mit der Bedeutung, den Bereichen, Potenzialen und Grenzen ehrenamtlicher Arbeit im Feld der (Flucht-)Migration, auch in Abgrenzung zu hauptamtlicher Sozialer Arbeit. Ehrenamtliches Engagement für Geflüchtete hat quantitativ stark zugenommen und zugleich ist seine Relevanz gestiegen; bei der Begleitung Geflüchteter wird es als unterstützend und entlastend wahrgenommen. Jedoch fällt teils eine Abgrenzung der vielfältigen Aufgabenbereiche Ehrenamtlicher zu hauptamtlichen Fachkräften schwer. Die Gefahr besteht, dass Ehrenamtliche hierdurch an die Stelle professioneller Sozialer Arbeit treten, ohne eine entsprechende Ausbildung zu besitzen. Basierend auf den Charakteristika der professionellen Beziehung in der Sozialen Arbeit nach Schäfter (2010) findet deshalb eine Auseinandersetzung mit der Arbeitsbeziehung statt. Im Vergleich beider Arbeitsbeziehungskonzepte wird insgesamt deutlich, dass die Aufgabenbereiche und die Arbeitsbeziehungen von Ehrenamtlichen neben Unterschieden auch viele Ähnlichkeiten zu denen der Hauptamtlichen aufweisen. C. Bhatti (*)  Institut für lebenswerte und umweltgerechte Stadtentwicklung, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Jepkens · K. Hauprich  Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Hauprich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_24

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Schlüsselwörter

Arbeitsbeziehung · Professionelle Beziehung · Soziale Arbeit · Ehrenamtliches Engagement · Geflüchtete · Migration · Integration

1 Zur Bedeutung ehrenamtlicher Arbeit im Feld der (Flucht-)Migration Das ehrenamtliche Engagement im Bereich der (Flucht-)Migration hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Wie z. B. die Untersuchungen von Karakayali und Kleist (2016) zeigen, hat das Engagement in diesem Bereich seit 2011 kontinuierlich zugenommen. Ebenfalls haben sich der „spontane und proaktive Charakter der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit und das hohe Eigenengagement“ (Karakayali und Kleist 2016, S. 3) verstärkt – eine Feststellung, die auf das im Bereich (Flucht-) Migration stark ausgeprägte „neue Ehrenamt“ hinweist. Dieses unterscheidet sich in der Art des Engagements, der Motivation und in der Zusammensetzung von anderen Engagementformen (Schiffauer 2016; Karakayli und Kleist 2016; siehe auch Blickhäuser 2016; Gottschalk und Zajak 2018; IfD Allensbach 2017; Mutz und Wolff 2018) und erreicht auch Personengruppen, die sich zuvor nicht ehrenamtlich engagiert hatten. Karakayli und Kleist sprechen in diesem Kontext von „einer großen Mobilisierung der Hilfsbereitschaft“ (Karakayali und Kleist 2016, S. 7); andernorts ist die Rede von der „Explosion des bürgerschaftlichen Engagements“ (Hamann et al. 2016, S. 13) und „einem unvergleichlichen Ausmaß an bürgerschaftlichem Engagement“ (Hamann et al. 2016, S. 8). Die ehrenamtliche Arbeit lässt sich neben ihrem quantitativen Umfang im Zusammenhang mit (Flucht-)Migration auch qualitativ als außerordentlich wichtig bezeichnen. Karakayali und Kleist sehen „großes Potential für eine nachhaltige und dauerhafte ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit in Deutschland […], die bei richtigen Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle bei den anstehenden Integrationsaufgaben für Flüchtlinge einnehmen kann“ (2016, S. 5). Ehrenamtliche bewältigen nach Daphi (2016, S. 35) im Bereich (Flucht-)Migration einen großen Anteil der anliegenden Aufgaben und die Lage der geflüchteten Personen wird durch sie deutlich verbessert. Daphi zeigt auf, dass zumindest 2016 „die Betreuung von Flüchtlingen zu einem großen Teil von Ehrenamtlichen getragen“ wurde (2016, S. 35; vgl. auch Jepkens und Hauprich 2018; Jepkens und Scholten 2019). Schirilla fordert diesbezüglich sicherzustellen, „dass die ehrenamtliche Hilfsbereitschaft nicht als Lückenbüßer für die Politik, sondern als Ergänzung dient“ (2016, S. 161).

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Auch innerhalb des Forschungsprojekts (Schlee und Jepkens 2017, S. 20) wird die Frage nach der Abgrenzung zwischen Ehrenamt und Sozialbetreuung aufgeworfen. Es zeigt sich, dass viele Aufgaben in der Arbeit mit geflüchteten Personen sowohl von professionellen Fachkräften in den Unterkünften (Sozialbetreuer_innen) als auch von Ehrenamtlichen übernommen werden bzw. dass sich die Aufgaben decken. Die Aussagen der befragten Sozialbetreuer_innen, „[o]hne die [Ehrenamtlichen] können wir nicht die Arbeit leisten“ (ebd.) und „Ehrenamtliche müssten dafür bezahlt werden, wenn die die gleiche Arbeit leisten wie wir“ (ebd.), verstärken den Eindruck, dass ehrenamtlich Engagierte eine große Bedeutung im Bereich (Flucht-)Migration erlangt haben. Die sich daraus ableitenden Fragen nach der spezifischen Arbeitsbeziehung Ehrenamtlicher zu Geflüchteten sowie nach der Abgrenzung gegenüber hauptamtlicher Tätigkeit stehen in diesem Beitrag im Fokus.

2 Bereiche, Potenziale und Grenzen ehrenamtlicher Arbeit im Feld (Flucht-) Migration Sowohl Ehrenamtliche als auch Hauptamtliche betrachten ehrenamtliches Engagement hinsichtlich der Begleitung von Geflüchteten als „unterstützen[d] und entlasten[d]“ (Jepkens und Scholten 2019, S. 12). Es herrscht jedoch augenscheinlich Unklarheit darüber, wo die Grenzen ehrenamtlicher Tätigkeit liegen bzw. wie deren genaue Aufgabenzuschreibung aussieht. Es zeigt sich, dass die Aufgaben, die durch Ehrenamtliche erbracht werden, sehr vielfältig sind (Karakayali und Kleist 2016, S. 24 f.) und „die ganzheitliche persönliche Begleitung, aber auch sehr spezifische Unterstützungs- und Hilfeleistungen gleichermaßen“ (Schlee und Jepkens 2017, S. 20) von Ehrenamtlichen übernommen werden (vgl. auch Hamann et al. 2016, S. 23; Jepkens und Scholten 2019, S. 8 f.). Es wird deutlich, dass häufig „Aufgaben, die eine enge Zusammenarbeit zwischen Ehrenamtlichen und Geflüchteten voraussetzen“ (Hamann et  al. 2016, S. 25), durchgeführt werden, beispielsweise die persönliche Begleitung von geflüchteten Personen durch eine Patenschaft, wobei ein direkter Kontakt zwischen geflüchteten und nicht geflüchteten Personen entsteht (Hamann et al. 2016, S. 28; vgl. auch Jepkens und Scholten 2019, S. 8). Zu dieser Alltagsunterstützung zählen anfänglich „das Ringen um den Aufenthaltstitel und, nach dessen Erhalt, die Wege in Wohnung, Schule und Arbeit“ (Hamann et al. 2016, S. 24), aber auch Hilfe bei der Arbeitsvermittlung, Pat_innenbetreuung oder Behördengänge (Karakayli und Kleist 2016, S. 24; vgl. auch Han-Broich 2012, S. 42), kurz

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die Begleitung geflüchteter Personen durch Ehrenamtliche als „[u]nverzichtbare Lotsen im fremden und komplexen System“ (Hamann et al. 2016, S. 28). Die deutsche Sprache kann so im alltäglichen Gebrauch geübt werden, bei Behördenbegleitungen können Rechte geflüchteter Personen besser durchgesetzt werden und es können Alltagsfragen geklärt werden, die durch den hohen Betreuungsschlüssel (bis zu 1 : 500) in den Unterkünften nicht thematisiert werden können. Auch wenn die Patenschaften die Einnahme der jeweils anderen Perspektive sowie das Entstehen von sozialen Kontakten fördern, zeigen sich in der Untersuchung damit einhergehend ebenfalls Schwierigkeiten bzw. Gefahren (Hamann et al. 2016, S. 29). So können sowohl aufseiten der Ehrenamtlichen als auch auf Seiten der Geflüchteten Grenzsetzungen fehlen. Möglicherweise treten die Ehrenamtlichen hier an die Stelle professioneller Sozialer Arbeit „und übernehmen Verantwortung, für die sie nicht ausgebildet sind“ (Hamann et al. 2016, S. 29). Neben den Alltagsunterstützungen werden auch das Herstellen von „[s]oziale[n] Begegnungsräume[n] und Interaktion“ (Hamann et al. 2016, S. 30) sowie die Bereitstellung bzw. Organisation von Freizeitangeboten als Aufgabe ehrenamtlicher Arbeit angesehen. Sie eröffnen u. a. die Möglichkeit, dass Vorurteile abgebaut werden können, und schaffen Treffpunkte außerhalb der Unterkunft, die die bestehende Segregation auflösen können (Hamann et al. 2016, S. 30; Scholten et al. 2019; Hauprich und Jepkens 2019). Freizeitangebote erfüllen somit „eine Kontakt fördernde, mitunter sogar therapeutische Aufgabe“ (Hamann et al. 2016, S. 31). Insgesamt zeigt sich anhand einer Veränderung der Tätigkeitsfelder Ehrenamtlicher (Karakayali und Kleist 2016, S. 26; Becker et al. 2016, S. 2 f.), dass nach einer Phase der Ankunft nun „die Integration der Geflüchteten in die Gesellschaft im Mittelpunkt steht“ (Becker et al. 2016, S. 3; vgl. auch Jepkens und Hauprich 2018). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Tätigkeiten von der Erstversorgung geflüchteter Personen über Alltagshilfen, den Bildungsbereich, die Freizeitgestaltung und die Beratung bis hin zur engen, persönlichen Begleitung in Form von Patenschaften zahlreiche Bereiche umfassen (vgl. u. a. Hamann et al. 2016; Jepkens und Scholten 2019; Karakayali und Kleist 2016; Han-Broich 2012). Der größte Fokus des Engagements liegt jedoch in der Unterstützung bzgl. des ‚Ankommens‘ in Deutschland (Hamann et al. 2016, S. 24). Ehrenamtliche und Hauptamtliche sind sich einig, „dass das soziale Ankommen für die Geflüchteten durch ehrenamtliches Engagement erleichtert wird“ (Jepkens und Scholten 2019, S. 8). Diese Bedeutung der Ehrenamtlichen im Feld (­Flucht-) Migration bringt Fragen mit sich, vor allem angesichts der Entwicklung, dass sie umfassende Aufgaben übernehmen und stellenweise Tätigkeiten ausüben, die sonst von Fachkräften erbracht werden, die entsprechende Kompetenzen

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und Kenntnisse mitbringen. Hieraus sowie aus dem Umstand, dass in der Praxis der ehrenamtlichen Arbeit das Thema bereits Eingang gefunden hat1, ergibt sich die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Betrachtung der Arbeitsbeziehung ehrenamtlicher Mitarbeiter_innen zu den Adressat_innen ihrer ehrenamtlichen Arbeit. Der Thematik kommt in der aktuellen wissenschaftlichen Forschung – mit Ausnahme einiger weniger Aspekte, wie der Betrachtung der Vorteile einer Beziehung für die Adressat_innen der ehrenamtlichen Arbeit (vgl. u. a. HanBroich 2015) – wenig Aufmerksamkeit zu.

3 Die professionelle Beziehung in der Sozialen Arbeit Um sich der Frage der Ausgestaltung der Arbeitsbeziehung Ehrenamtlicher zu den Adressat_innen ihrer Arbeit (geflüchteten Personen) annähern zu können, wird die Perspektive Ehrenamtlicher auf ihre Arbeitsbeziehung ermittelt2. Zur Betrachtung der Arbeitsbeziehung wird ein Arbeitsbeziehungskonzept aus der Sozialen Arbeit herangezogen. Es soll daran anknüpfend festgestellt werden, wie sich die Beziehung innerhalb der Arbeitsbeziehungskonstellation gestaltet und ob bzw. wo Unterschiede zwischen Ehrenamtlichen und Fachkräften aus der Sozialen Arbeit in der Beziehung zu den Adressat_innen ihrer Arbeit zu finden sind. Die professionelle Beziehung in der Sozialen Arbeit kann laut Schäfter (2010, S. 64) durch die folgenden fünf Merkmale beschrieben werden: a) „Zweckgebundenheit und zeitliche Begrenzung“, b) „spezifische Verteilung der Rollen“, c) „Asymmetrie“, d) „Freiwilligkeit“, e) „Nähe“.

1Siehe hierzu unterschiedliche Schulungsprogramme für Ehrenamtliche im Feld (­Flucht-) Migration, wie z. B. diese Caritas-Schulung „Nähe und Distanz im Ehrenamt“ von 2015 (https://hochtaunus.bistumlimburg.de/beitrag/naehe-und-distanz-im-ehrenamt/). 2Erhebung und Analyse wurden im Jahr 2018 im Rahmen der Masterthesis „Arbeitsbeziehung ehrenamtlicher Mitarbeiter_innen in der Flüchtlingshilfe“ durchgeführt. Es wurden im Rahmen einer maximal kontrastierenden Einzelfallanalyse problemzentrierte Interviews mit Ehrenamtlichen analysiert, deren Tätigkeiten in den Bereichen der Alltagsunterstützungen wiederzufinden sind.

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Diese Merkmale beschreiben einerseits die professionelle Arbeitsbeziehung und ermöglichen es andererseits, „die Eigenart einer professionellen Beziehung von einer Alltagsbeziehung abzugrenzen“ (Schäfter 2010, S. 64). Entwickelt wurde das Konzept von Schäfter (2010) auf Basis der von Giesecke (1997, S. 250 ff., zit. in Schäfter 2010, S. 47) beschriebenen Merkmale einer professionellen pädagogischen Beziehung. Die beschriebenen Merkmale beziehen sich auf jede Art von professioneller Beziehung in der Sozialen Arbeit (Schäfter 2010, S. 59). Lediglich Merkmal d) richtet sich insbesondere auf die professionelle Beziehung im Bereich der Beratung als Teilgebiet der Sozialen Arbeit.

4 Die Arbeitsbeziehungen der Ehrenamtlichen Anhand der empirisch festgestellten Übereinstimmungen innerhalb der konträren Fälle und Bezug nehmend auf das Konzept von Schäfter (2010) kann die Arbeitsbeziehung Ehrenamtlicher wie folgt eingeordnet werden: a) Das Aufgabenfeld der Ehrenamtlichen stellt sich als vielfältig und gering eingegrenzt dar (Aufgaben verändern sich, es werden unterschiedlichste Facetten der persönlichen Begleitung durchgeführt). Die Aufgaben, die bewältigt werden, ergeben sich durch die jeweilige aktuelle Situation der geflüchteten Person in Deutschland. Des Weiteren finden sich ungeplante als auch geplante Aufgaben wieder, wobei seitens der Ehrenamtlichen eine Bestrebung nach zeitlicher Eingrenzung zu erkennen ist. b) Die Ehrenamtlichen sehen ihre Rolle als Helfer_innen, wobei sie in ihrer Arbeit auch weitere unterschiedliche Rollenpositionen (Berater_in, Lehrer_ in, Vermittler_in, Freund_in etc.) einnehmen. Außerdem werden sie durch die zu betreuenden geflüchteten Personen mit Erwartungen der aktiven Aufgabenübernahme und/oder der Einnahme einer familiären Rollenposition konfrontiert. c) Innerhalb der Arbeitsbeziehung herrscht eine Mischung zwischen der Asymmetrie und dem Fehlen von Asymmetrie. Einerseits suchen die Ehrenamtlichen die Verantwortung für das Gelingen von Aufgaben für die geflüchteten Personen bei sich. Das Übernehmen der Verantwortung zeugt von einer asymmetrischen Beziehung. Ebenfalls wird dies durch eine mögliche Abhängigkeit geflüchteter Personen deutlich. Andererseits zeigt sich ein Fehlen von Asymmetrie z. B. aufgrund von belastenden Situationen, wie der Betroffenheit durch emotionale Beteiligung oder auch des (teilweise) fehlenden Zugriffs auf Handlungsmöglichkeiten. Dass keine Vergütung gezahlt wird, trägt hierzu bei.

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d) Die geflüchteten Personen befinden sich durch ihre zielgruppenspezifischen Belastungen und fehlenden Kenntnisse möglicherweise in Abhängigkeitssituationen, wodurch von einer freiwilligen Arbeit mit den Ehrenamtlichen nicht automatisch ausgegangen werden kann. e) Innerhalb der Arbeitsbeziehung finden eine große Nähe zu den geflüchteten Personen und eine geringe eigene Abgrenzung zur Arbeit statt. Während für einige privater Kontakt zu geflüchteten Personen ein fester Bestandteil ist – „Also eine Familie, die ich betreue. Die betreue ich nicht, es sind Freunde. Also natürlich zeigen dir mir Briefe vom Amt und so“ (Interview Ehrenamtliche_r) –, wird von anderen jeglicher private Kontakt gemieden: „Also ich mache keine privaten Kontakte oder wenn sie mich einladen zu irgendetwas, weil sie sich bedanken wollen mit einem Kaffee oder so, lehn ich das grundsätzlich ab“ (Interview Ehrenamtliche_r). Auf Basis der betrachteten Fälle und in Anlehnung an die Merkmale einer Arbeitsbeziehung in der Sozialen Arbeit konnte ein erstes Gerüst für die Merkmale der Arbeitsbeziehung von Ehrenamtlichen im Bereich ­ (Flucht-) Migration aufgestellt werden. Neben den Ähnlichkeiten gibt es auch deutliche Unterschiede zwischen den Ehrenamtlichen. Es empfiehlt sich, die hier erlangten Erkenntnisse mithilfe zusätzlicher Untersuchungen zu vertiefen.

5 Die Arbeitsbeziehung: Ähnlichkeiten und Unterschiede zur hauptamtlichen Sozialen Arbeit Nach der Rekonstruktion der Arbeitsbeziehung Ehrenamtlicher im Feld (­Flucht-) Migration auf Basis des empirischen Materials betrachten wir diese nun bezogen auf Ähnlichkeiten oder Unterschiede zur professionellen Arbeitsbeziehung in der Sozialen Arbeit. Hinsichtlich der Arbeitsbeziehung in der Sozialen Arbeit gilt, dass beide Beziehungsteilnehmer_innen einen Auftrag in die Zusammenarbeit hineintragen (Schäfter 2010, S. 57). Dies lässt sich auch für die Arbeitsbeziehung der Ehrenamtlichen bestätigen. Der Auftrag stellt sich aus Sicht der Ehrenamtlichen als eine notwendige Aufgabe von gesellschaftlicher Bedeutung dar. So wird beispielsweise der Verzicht, geflüchtete Personen zu unterstützen, mit einer unterlassenen Hilfeleistung verglichen: „Es gibt immer wieder kritische Situationen und da muss man halt helfen, was ja so wie ein Unfall ist, und ein Krankenwagen wird gerufen […], da muss man halt dann erste Hilfe leisten“ (Interview Ehrenamtliche_r). Weiter existiert nach den Erfahrungen der Ehrenamtlichen

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ein Auftrag durch die Träger, der sich als Erfüllung einer kurzfristigen Ersatzfunktion darstellt, die auch als „Ersatzhilfe“ aufgrund von fehlenden personellen Ressourcen bezeichnet wird: dort einzuspringen, wo „eben der Staat […] noch nicht in der Lage war“ (Interview Ehrenamtliche_r). Zusätzlich handeln sie auch aus eigener Motivation heraus, z. B. durch die Erfahrungen des persönlichen Kontakts zu den geflüchteten Personen. Der Auftrag der Adressat_innen ergibt sich durch deren persönliche Schwierigkeiten (Schäfter 2010, S. 57), welche sich im Falle der geflüchteten Personen durch deren derzeitige Situation in Deutschland und hieraus resultierende persönliche Belastungen entwickeln. Dies deckt sich mit der Situation der Fachkräfte in der Sozialen Arbeit, die ihren Auftrag ebenfalls durch institutionelle Hintergründe, gesellschaftliche und staatliche Erwartungen sowie ihre persönlichen Erfahrungen formulieren (Schäfter 2010, S. 57). Ein Unterschied liegt jedoch darin, dass die Fachkräfte die Aufgaben auf Basis ihres erworbenen Fachwissens und der hieraus resultierenden Problemeinschätzungen definieren (Schäfter 2010, S. 57). Hierzu lassen sich bei den Ehrenamtlichen keine Anhaltspunkte finden, da sie vor allem auf Grundlage eigener „Lebenserfahrung“ handeln. Es zeigt sich auch ein Unterschied bezüglich der inhaltlichen Begrenzung: Während diese in der Sozialen Arbeit sowohl hinsichtlich der Problemlagen als auch der Zielgruppen durch die Institutionen, denen die Fachkräfte angehören, bestimmt wird (Schäfter 2010, S. 57), müssen die Ehrenamtlichen diese Eingrenzung selbst vornehmen. Eine Zielgruppenwahl bzw. eine Zielgruppenspezialisierung wird von den Ehrenamtlichen zwar durchgeführt, eine Eingrenzung der Problemlagen, mit denen sie sich beschäftigen, jedoch kaum. So erläutert z. B. ein_e Interviewt_er: „[D]a mache ich […] Beratung von Flüchtlingen für Jobs und Ausbildung […]. So, das sind so die unterschiedlichen Aufgaben, die sich stellen. Also Behördengänge oder Arztgeschichten oder Wohnung[ssuche]“ (Interview Ehrenamtliche_r). Die inhaltliche Eingrenzung, die sich teils finden lässt, hat sich erst im Laufe der Zeit entwickelt und unterscheidet sich zwischen den Ehrenamtlichen. Ein weiterer, ähnlicher Unterschied wird bezüglich der zeitlichen Eingrenzung deutlich, welche von den Ehrenamtlichen selbst durchgeführt wird und für sie eine Schwierigkeit darstellt. In der Sozialen Arbeit ergeben sich hingegen zeitliche Eingrenzungen durch die institutionelle Ausrichtung sowie teils durch inhaltliche Gründe, wie die Verhinderung von zu ausgeprägten Abhängigkeitssituationen (Schäfter 2010, S. 58). Die Rolle der Fachkräfte als Fachkraft mit Kompetenzen hinsichtlich eines Beratungsgegenstandes entwickelt sich auf Basis ihrer durch ihre fachliche und wissenschaftliche Ausbildung erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse. Die Gestaltung der Rolle wird einerseits in Bezug zur Institution, welcher sie

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angehören, und andererseits hinsichtlich persönlicher Merkmale bestimmt, wobei die Einnahme der Rolle durch die Aufstellung von Beziehungsregeln ermöglicht wird (Schäfter 2010, S. 49). Die Rollenerwartungen der Adressat_innen an die Fachkräfte ergeben sich in der Sozialen Arbeit durch ihre Problemsituationen und aus dem hierdurch entstehenden Bedarf nach Hilfe (Schäfter 2010, S. 48). Wie bereits oben erwähnt, liegen bei den Geflüchteten solche Problemsituationen vor. Die Erwartungen der Geflüchteten gehen jedoch aus Sicht der Ehrenamtlichen über die sich daraus ergebenden Hilfebedarfe hinaus. Sie umfassen eine aktive Aufgabenübernahme sowie die Einnahme einer familiären Rollenposition. Auch hier zeigt sich die Situation bei den Ehrenamtlichen unterschiedlich. Sie nehmen die Rollenpositionen von Helfer_innen ein, jedoch zeigt sich auch, dass sie viele unterschiedliche weitere Rollen annehmen, z. B. als Ausbilder_in, Flüchtlingsberater_in, Flüchtlingshelfer_in, Sozialarbeiter_in oder als Familienangehörige_r oder befreundete Person. Schließlich zeigt sich als weiterer Unterschied, dass sich in der Sozialen Arbeit die Fachkraft aufgrund ihrer Rolle nicht wie ein_e normale_r Beziehungspartner_in verhalten soll. Daraus folgt, dass eine Begrenzung der Beziehung hinsichtlich eines bestimmten Ziels vorgenommen wird (Schäfter 2010, S. 50 f.). Diesbezüglich zeigen sich die Ehrenamtlichen verschieden; sie bringen sich als Person mehr oder weniger in die Beziehung ein, wobei größtenteils keine konkrete Zielsetzung für die gemeinsame Arbeit festgelegt wird. Sowohl in der Sozialen Arbeit (hier in Bezug zur Beratung) als auch in der ehrenamtlichen Arbeit kann nicht davon ausgegangen werden, dass Freiwilligkeit seitens der Adressat_innen automatisch gegeben ist. In beiden Fällen kann es zu Situationen kommen, in denen sich die Adressat_innen aufgrund von Drucksituationen für eine Zusammenarbeit entscheiden (Schäfter 2010, S. 59). Auch hinsichtlich der Asymmetrie in der Beziehung gibt es Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Sozialer Arbeit und Ehrenamt. Im Gegensatz zur Sozialen Arbeit wird im Ehrenamt die Leistung nicht bezahlt und es fehlt der Zugriff auf zahlreiche Handlungs- sowie Lösungsmöglichkeiten (Schäfter 2010, S. 54). Umfangreicheres Fachwissen und größere Distanz zur Problemlage der Fachkräfte in der Sozialen Arbeit ermöglichen eine geringere eigene Betroffenheit (ebd.). Anders zeigt sich diesbezüglich die Situation der Ehrenamtlichen, da sie in unterschiedlich starker Intensität Betroffenheit durch die Problemlagen der Geflüchteten in Form (starker) eigener emotionaler Beteiligung empfinden. Dies zeigt sich z. B. in folgender Aussage: „Und das finde ich dann auch belastend. Ich kann ihnen ja auch nichts sagen. Ich kann ihnen nicht sagen, wird schon, weil es wird nicht. Ich kann gar nichts machen, nur zuhören“ (Interview Ehrenamtliche_r). Es gibt jedoch auch Ähnlichkeiten. In der Sozialen Arbeit sind die

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Adressat_innen in Notsituationen auf die Fachkräfte angewiesen, da diese als einzige Ansprechpartner_innen fungieren (Schäfter 2010, S. 54). Eine ähnliche Situation, sowohl hinsichtlich der bereits erwähnten Abhängigkeitssituation als auch der fehlenden weiteren Ansprechpartner_innen, zeigt sich bei den Ehrenamtlichen. Schließlich gilt für die Arbeitsbeziehung in der Sozialen Arbeit, dass die Herstellung von Nähe eine Voraussetzung für gelingende Arbeit ist – insbesondere, damit die Fachkraft Anteil an der geschilderten Problemsituation nehmen kann (Schäfter 2010, S. 61 f.). Nähe entsteht durch die eigene Öffnung der Adressat_ innen den Fachkräften gegenüber sowie durch die Handlungen der Fachkraft, ihre Anteilnahme und Empathie (Schäfter 2010, S. 62). Die Entscheidung darüber, ab wann zu viel Nähe bzw. zu viel Distanzierung vorliegt, wird jedoch von der Fachkraft getroffen (Schäfter 2010, S. 63). Dass diese Nähe in der Arbeitsbeziehung zwischen Ehrenamtlichen und geflüchteten Personen besteht, zeigt sich ebenfalls u. a. durch ihre emotionale Beteiligung. Sowohl in der Sozialen Arbeit als auch beim Ehrenamt liegt die Gefahr vor, dass sich durch zu viel Nähe eine zu starke Identifizierung mit den Problemen der Adressat_innen entwickelt und die angemessene Distanz verloren geht (Schäfter 2010, S. 61 f.). Folglich ist in der Sozialen Arbeit eine Abgrenzung nötig, damit die eigene Handlungsfähigkeit hergestellt werden kann (Schäfter 2010, S. 61). Dass eine fehlende Abgrenzung bei den Ehrenamtlichen vorzufinden ist, wird durch Belastungssituationen erkennbar, die sich aufgrund des Gefühls ergeben, nicht genug tun zu können, sowie durch entstehende Überforderungsgefühle. Im Ehrenamt zeigt sich weiter, dass die Abgrenzung bzw. die Entscheidung für oder gegen einen privaten Kontakt einen wesentlichen Unterschied zwischen den Ehrenamtlichen darstellt und somit individuell gestaltet wird. Dies hat auch Auswirkungen auf die Gestaltung von Nähe und Distanz.

6 Fazit Insgesamt wird deutlich, dass die Aufgabenbereiche und die Arbeitsbeziehungen von Ehrenamtlichen zu Geflüchteten neben Unterschieden auch viele Ähnlichkeiten zu denen der Hauptamtlichen aufweisen. Ehrenamtlicher Arbeit kommt im Feld (Flucht-)Migration weiterhin eine große Bedeutung zu – auch nach der Bewältigung der ersten Aufgaben (Unterbringung, Versorgung). Dazu zählen die Sicherstellung gesellschaftlicher Teilhabe und das Ermöglichen von Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Fluchthintergrund.

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Es bleibt jedoch zu beachten, dass die Grenzen ehrenamtlicher Arbeit überschritten werden können, wenn ehrenamtliche Arbeit aus den Kernbereichen der Sozialen Arbeit übernehmen, was zumindest teilweise zu erfolgen scheint. In Bezug auf eigene Belastungssituationen hinsichtlich fehlender Distanz, auf fehlende Handlungsmöglichkeiten, auf die eigene Gestaltung einer zeitlichen und inhaltlichen Begrenzung zeigen sich in der Arbeitsbeziehung Unterschiede zur professionellen Sozialen Arbeit. Zusammengenommen kann dies dazu führen, dass Ehrenamtliche Verantwortung übernehmen, „für die sie nicht ausgebildet sind“ (Hamann et al. 2016, S. 29) und die sie übermäßig belasten kann. Dementsprechend ist es für die ehrenamtliche Arbeit, für die Nutzung ihres großen Potenzials, aber auch für einen verantwortlichen Umgang mit Ehrenamtlichen wichtig, dass a) eine gute Qualifizierung durchgeführt wird und es b) folglich keinen Rückzug hauptamtlicher Sozialer Arbeit aus deren Kernbereichen bzw. keine Verlagerung deren Aufgaben auf das Ehrenamt geben darf, weshalb c) die jeweiligen Profile geschärft werden und eine klare Abgrenzung zwischen Ehrenamt und Sozialer Arbeit erfolgen sollte.

Literatur Becker, E., Speth, R., & Strachwitz, R. G. (2016). Zivilgesellschaft als Lotsen in die Gesellschaft. Die Betreuung geflüchteter Menschen in deutschen Kommunen. Observatorium 8. www.maecenata.eu/images/documents/Observatorium/MO-08.pdf. Zugegriffen: 10. Okt. 2019. Blickhäuser, A. (2016). Engagement in Zeiten der Flucht. Ein Blick aus der Praxis. In W. Stadler (Hrsg.), Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit. Mehr vom Miteinander. Wie bürgerschaftliches Engagement sozialen Zusammenhalt stärken kann (S. 140–144). Weinheim: Beltz. Daphi, P. (2016). Zivilgesellschaftliches Engagement für Flüchtlinge und lokale “Willkommenskultur”. Aus Politik und Zeitgeschichte, 66(14–15), 35–39. Gottschalk, I., & Zajak, S. (2018). Geflüchtetenengagement in Deutschland: Konturen eines neuen Engagementfelds. In S. Zajak & I. Gottschalk (Hrsg.), Flüchtlingshilfe als neues Engagementfeld. Chancen und Herausforderungen des Engagements für Geflüchtete (S. 7–19). Baden-Baden: Nomos. Hamann, U., Karakayalı, S., Wallis, M., & Höfler, L. J. (2016). Koordinationsmodelle und Herausforderungen ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe in den Kommunen. Qualitative Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/ GrauePublikationen/Koordinationsmodelle_und_Herausforderungen_ehrenamtlicher_ Fluechtlingshilfe_in_den_Kommunen.pdf. Zugegriffen: 19. Juni 2019. Han-Broich, M. (2012). Ehrenamt und Integration. Wiesbaden: VS Verlag.

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C. Bhatti et al.

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Arbeitsbeziehungen Ehrenamtlicher im Bereich (Flucht-)Migration

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Carina Bhatti,  M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für lebenswerte und umweltgerechte Stadtentwicklung der Hochschule Düsseldorf. Katja Jepkens,  Diplom-Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Düsseldorf. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Perspektive der Nutzer_innen und Maßnahmen für junge Menschen am Übergang Schule-Beruf. Kai Hauprich,  M.A. ist Sozialarbeiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsschwerpunkt Wohlfahrtsverbände der Hochschule Düsseldorf. Er promoviert derzeit an der Universität Duisburg-Essen zur Handy- und Internetnutzung wohnungsloser Menschen.

Zivilgesellschaftliches Engagement in der postmigrantischen Gesellschaft: Annäherung an eine vielschichtige Praxis Larissa Fleischmann Zusammenfassung

Seit dem Migrationssommer 2015 hat sich zivilgesellschaftliches Engagement im Bereich Migration und Integration in vielfältige Richtungen weiterentwickelt und ausdifferenziert. Vor diesem Hintergrund plädiert dieser Beitrag dafür, verstärkt über die zeitlichen und thematischen Grenzen von „Willkommenskultur“ und „ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe“ hinauszudenken. Eine postmigrantische Perspektive kann für dieses Anliegen fruchtbar gemacht werden, indem sie den Blick für die Vielfalt der Engagementpraktiken, ihre zeitlichen Dynamiken, die heterogenen Akteure, ihre teils widersprüchlichen und ambivalenten Erklärungslogiken sowie die politischen Potenziale des Engagements öffnet. Ein postmigrantischer Analyserahmen stellt Aushandlungsprozesse um Teilhabe und Anerkennung in den Mittelpunkt der Untersuchung und schärft das Verständnis für die feinen Nuancen und Zwischentöne des Engagements, statt bereits zu Beginn der Analyse zwischen „politisch-aktivistischen“ und vermeintlich „unpolitischen“ Ausprägungen des Engagements zu unterscheiden. Damit zeigt sich, dass sich Engagierte stets in weiteren Spannungsfeldern positionieren müssen, welche die Frage betreffen, wie Teilhabe in postmigrantischen Gesellschaften ermöglicht werden soll und wer überhaupt teilhaben soll.

L. Fleischmann (*)  Fachgruppe Anthropogeographie/Institut für Geowissenschaften und Geographie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_25

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Schlüsselwörter

Zivilgesellschaftliches Engagement · Postmigrantische Gesellschaft ·  Willkommenskultur · Politischer Aktivismus · Humanitäre Hilfe ·  Solidarität · Ehrenamtliche Flüchtlingshilfe · Flüchtlinge · Migration

1 Willkommen in der Postmigration: Aktuelle Dynamiken des zivilgesellschaftlichen Engagements Seit dem Spätsommer 2015 hat sich zivilgesellschaftliches Engagement im Bereich Migration und Integration von der damals besonders sichtbaren „ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe“ in vielfältige Richtungen weiterentwickelt und ausdifferenziert. Zahlreiche Initiativen wollen mit ihren Angeboten nicht mehr nur ausschließlich Geflüchtete unterstützen, sondern widmen sich dem übergreifenden Ziel, ein Zusammenleben in Vielfalt zu gestalten oder gegen Ausschluss- und Diskriminierungsprozesse einzutreten. Dies zeigt sich beispielsweise in den vielerorts gegründeten Gruppen zur Schaffung von Solidarity oder Sanctuary Cities (Bauder 2019; Scherr und Hofmann 2018), aber auch in den bundesweiten #unteilbar-Demonstrationen, die bei ihrem bis dato größten Ereignis im Oktober 2018 rund 240.000 Teilnehmer_innen auf den Straßen Berlins versammelten, um ein Zeichen für eine offene und tolerante Gesellschaft zu setzen1. Gleichzeitig entstanden neue zivilgesellschaftliche Bewegungen, die humanitäre Ziele stärker mit politischen Forderungen verknüpfen, zum Beispiel die zahlreichen Ableger des Bündnis Seebrücke, die sichere Fluchtwege fordern und sich durch lokale Aktionen für die Entkriminalisierung von Seenotrettung einsetzen. Vor dem Hintergrund dieser Vielfalt und Dynamik zivilgesellschaftlichen Engagements zeigt sich die Notwendigkeit, über die zeitlichen und thematischen Grenzen von „Willkommenskultur“ und „ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe“ hinauszudenken. Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass die Perspektive der Postmigration fruchtbare Anknüpfungspunkte für dieses Anliegen bietet. Konzeptuelle Arbeiten zur postmigrantischen Gesellschaft verstehen Migration als

1Zeit

online vom 13.10.2018: Veranstalter zählen 242.000 bei Berliner Demo gegen Rassismus. Online verfügbar: https://www.zeit.de/gesellschaft/2018-10/unteilbar-demo-berlingrossdemo-afd-gegen-rechts (letzter Zugriff 01.10.2019).

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gesellschaftsverändernde Konstante, die tiefgreifende Neuaushandlungsprozesse um Teilhabe, Zugehörigkeit und Anerkennung in Gang setzt (Foroutan 2016, 2019; Mecheril 2014; Yildiz und Hill 2014). Zivilgesellschaftliches Engagement in einer postmigrantischen Gesellschaft verstehe ich hier als ein heterogenes Feld aus Praktiken, die sich durch unterschiedliche Motivationen und Bedeutungszuschreibungen auszeichnen, welchen allerdings im Kern gemein ist, dass sie kultureller Vielfalt gegenüber aufgeschlossen sind. Die Frage, wie das Zusammenleben in Vielfalt dann im Spezifischen ausgestaltet werden soll, ruft jedoch vielfältige Positionierungen, Praktiken und Aushandlungsprozesse unter den Engagierten hervor. In diesem Sinne plädiere ich mit diesem Beitrag für ein de-essentialisiertes Verständnis von zivilgesellschaftlichem Engagement im Migrations- und Integrationsbereich, welches den Blick für die Vielfalt der Engagementpraktiken, ihre zeitlichen Dynamiken, die heterogenen Gruppierungen und Akteure und ihre teils widersprüchlichen und ambivalenten Erklärungslogiken sowie die politischen Potenziale des Engagements öffnet. Zunächst werden im zweiten Abschnitt dieses Beitrags aktuelle Schwerpunkte in der wissenschaftlichen Debatte um zivilgesellschaftliches Engagement skizziert. Darauf aufbauend arbeite ich heraus, welche fruchtbaren neuen Anknüpfungspunkte eine postmigrantische Perspektive für die Analyse zivilgesellschaftlichen Engagements bietet. In Abschnitt vier diskutiere ich, wie ein solcher postmigrantischer Analyserahmen die widersprüchliche Vielschichtigkeit des Engagements in den Fokus der Betrachtung rückt, indem er den Blick auf die Heterogenitäten, Ambivalenzen und Dynamiken des Engagements lenkt (Abschn. 4). Abschließend verweise ich auf zukünftige Forschungsfragen und -themen, die sich aus einer postmigrantischen Perspektive auf zivilgesellschaftliches Engagement ergeben.

2 Das Erbe der Willkommenskultur im wissenschaftlichen Diskurs um zivilgesellschaftliches Engagement Noch immer prägen die Ereignisse des Migrationssommers 2015 die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit zivilgesellschaftlichem Engagement im Migrations- und Integrationsbereich. Erstens kann eine anhaltende zeitliche Fokussierung auf die damals besonders sichtbare Hilfseuphorie beobachtet werden. In den letzten Jahren erschienen zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, die sich retrospektiv mit der damals viel diskutierten deutschen

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„­Willkommenskultur“ beschäftigen (siehe zum Beispiel Beckmann et  al. 2017; Hamann und Karakayali 2016; Schiffauer et al. 2017; Sutter 2019; van Dyk und Misbach 2016). Damit liefern sie wichtige Einblicke in diesen außergewöhnlichen und historisch bedeutsamen Moment, welcher zivilgesellschaftlichem Engagement für Geflüchtete zu besonderer Sichtbarkeit und Popularität verhalf. Eine anhaltende Fetischisierung der „Willkommenskultur“ könnte jedoch den Blick dafür verstellen, wie sich zivilgesellschaftliches Engagement seitdem in vielfältige Richtungen weiterentwickelt und ausdifferenziert hat. Schiffauer (2017, S. 13) verweist beispielsweise darauf, dass sich zivilgesellschaftliches Engagement seit dem Jahr 2015 hinsichtlich Quantität und Qualität „stabilisiert“ habe. Zwar ist durchaus eine gewisse Verstetigung der Hilfseuphorie des Spätsommers 2015 zu erkennen. Einige Jahre nach der vermeintlichen „Flüchtlingskrise“ lässt sich jedoch empirisch beobachten, dass sich viele Engagierte im Migrations- und Integrationsbereich inzwischen von einer Identifikation mit dem Begriff der „Willkommenskultur“ gelöst haben oder sich heute gar explizit von diesem distanzieren2. Zudem haben sich – parallel zum sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Kontext seit der „Flüchtlingskrise“ – neue Erklärungslogiken und Identifikationsprozesse unter den Engagierten etabliert, wie die Beispiele der #unteilbar-Demonstrationen oder des Bündnis Seebrücke zeigen. Neben der zeitlichen Fokussierung auf den Migrationssommer 2015 kann zweitens eine anhaltende thematische Schwerpunktsetzung auf Praktiken der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe in der wissenschaftlichen Debatte ausgemacht werden (siehe zum Beispiel Karakayali und Kleist 2016; Vey und Sauer 2016; Zick et al. 2018). Ehrenamtliche Flüchtlingshilfe wird dabei oft als vermeintlich unpolitische, humanitär-karitativ motivierte Hilfe verstanden, die eindeutig von Formen des politischen Aktivismus abgegrenzt werden könne (Karakayali 2018, S. 6). Zajak und Gottschalk (2018) betrachten Flüchtlingshilfe gar als

2Siehe

beispielsweise eine 2018 herausgegebene Broschüre des Kooperationsprojektes „Welcome – Willkommen in ­Baden-Württemberg“ des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit weiteren zivilgesellschaftlichen Gruppen. Die Broschüre arbeitet heraus, weshalb der Begriff der „Willkommenskultur“ kritisch betrachtet werden sollte und mit problematischen Konsequenzen einhergeht. Online verfügbar unter https://docplayer. org/127515458-Dokumentation-verfahren-zur-willkommenskultur.html (letzter Zugriff 10.08.2020).

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eigenständiges „neues Engagementfeld“ und analysieren damit einhergehende Chancen und Herausforderungen. In den vergangenen Jahren erschienen zahlreiche weitere Beiträge, die ehrenamtliche Flüchtlingshilfe in Hinblick auf aktuelle Ausprägungen des Ehrenamts in Deutschland untersuchen (Evers und Klie 2018; Han-Broich 2012; Kleist 2017), die direkten Beziehungen zwischen Ehrenamtlichen und Geflüchteten in den Blick nehmen (Knapp 2017; Sauer und Vey 2017) oder einen Fokus auf die Zusammenarbeit zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen in der Flüchtlingsaufnahme legen (Beck 2016; Daphi 2017; Kubisch et al. 2018). Auch jenseits des deutschen Forschungskontextes zogen Formen des volunteering mit Geflüchteten – die im Migrationssommer 2015 in anderen europäischen Ländern ebenfalls besonders sichtbar wurden – verstärktes Interesse auf sich (siehe zum Beispiel Feischmidt und Zakariás 2019; Frykman und Mäkelä 2019; Kalogeraki 2018). In der englischsprachigen Debatte wurden die Unterstützungspraktiken zudem mit wissenschaftlichen Arbeiten verknüpft, die sich schon seit geraumer Zeit mit den Fallstricken und Widersprüchen humanitärer Hilfe auseinandersetzen (De Cloet 2018; Jarmusch 2019; Rozakou 2017). Die humanitär-karitativen Ausprägungen des Bürgerengagements wurden dabei – in Abgrenzung zu den bisher im Fokus der Untersuchung stehenden internationalen humanitären Organisationen – als „grassroots humanitarianism“ (Fechter und Schwittay 2019; McGee und Pelham 2018) oder „volunteer humanitarianism“ (Sandri 2018) bezeichnet. Diese vermeintlich unpolitischen, humanitären Ausprägungen des Engagements waren es, die den öffentlichen Diskurs um die deutsche „Willkommenskultur“ im Jahr 2015 dominierten. In diesem Zuge wurde jedoch oftmals ein einseitig positives Bild der deutschen Migrationsgesellschaft gezeichnet, während die aufkeimenden migrationsfeindlichen Tendenzen und gleichzeitig stattfindenden massiven Asylrechtsverschärfungen weitestgehend von der Bildfläche verschwanden (vgl. Schwiertz und Ratfisch 2016). Auch staatliche Akteure machten sich das Bild der „deutschen Helfermentalität“ zu eigen, indem sie jene Ausprägungen der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe besonders förderten, die ihren Migrations- und Unterbringungspolitiken unkritisch gegenüberstanden. Damit einher ging eine gewisse Vereinnahmung der Helfer_innen für staatliche Ziele im Migrationsmanagement, bei gleichzeitiger Marginalisierung „ungemütlicherer“ Formen des Engagements, welche sich kritisch gegenüber staatlichen Akteuren zeigten oder politische Forderungen aufstellten (vgl. Fleischmann 2019; Vandevoordt 2017). Durch eine einseitige Fokussierung auf vermeintlich unpolitische Ausprägungen der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe könnte damit auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit zivilgesellschaftlichem Engagement im Migrations- und

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Integrationsbereich eine staatliche Verwertungslogik reproduzieren, die „nützliche“ Formen des Engagements privilegiert und gleichzeitig kritischere Formen des Engagements aus der Betrachtung ausklammert. Gerade die subversiven und ambivalenten Ausprägungen des zivilgesellschaftlichen Engagements sind es jedoch, die wichtige transformative Potenziale in Migrationsgesellschaften anstoßen können (Fleischmann und Steinhilper 2017; Sinatti 2019; Vandevoordt 2019). Politisch-aktivistische Formen des Engagements und Formen des sozialen Engagements wurden im wissenschaftlichen Diskurs jedoch bisher weitestgehend getrennt voneinander betrachtet. Einerseits steht dezidiert politisch motiviertes Engagement für, mit und von Migrant_innen bereits seit geraumer Zeit im Erkenntnisinteresse der kritischen Migrations- und Grenzforschung (siehe zum Beispiel Bendix 2018; Kubaczek 2016; Odugbesan und Schwiertz 2018) sowie der Sozialen Bewegungsforschung (siehe zum Beispiel Steinhilper 2017). Andererseits stehen vermeintlich ‚unpolitische‘ Formen der Unterstützung im Fokus der Engagementforschung. Politische Potenziale des zivilgesellschaftlichen Engagements, welche auf problematische rechtliche und politische Rahmenbedingungen verweisen, werden hingegen sehr viel seltener in die Engagementforschung miteinbezogen, nur am Rande erwähnt oder gar explizit ausgeklammert. Dies könnte jedoch den Blick auf die feinen Nuancen und ambivalenten Zwischenformen zivilgesellschaftlichen Engagements verstellen, die weder als vollkommen unpolitisch noch als dezidiert politisch-aktivistisch kategorisiert werden können. Vor dem Hintergrund dieser anhaltenden Schwerpunktsetzung in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit zivilgesellschaftlichem Engagement plädiert dieser Beitrag dafür, verstärkt über die thematischen und zeitlichen Grenzen der Willkommenskultur hinauszudenken. Eine postmigrantische Perspektive bietet wertvolle Anknüpfungspunkte für dieses Anliegen, wie im Folgenden aufgezeigt wird.

3 Die postmigrantische Zivilgesellschaft: Aushandlungsprozesse um Teilhabe, Zugehörigkeit und Anerkennung In der kritischen Migrationsforschung wird bereits seit geraumer Zeit darauf hingewiesen, dass Migration als gesellschaftsverändernde Kraft gedacht werden muss, als unumkehrbare Konstante, die unser Zusammenleben maßgeblich und nachhaltig mitgestaltet (Cresswell 2006; Mecheril et al. 2013). In der deutsch-

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sprachigen Debatte wurde in diesem Zusammenhang der Begriff der postmigrantischen Gesellschaft geprägt (Foroutan 2019; Mecheril 2014; Yildiz 2016; Yildiz und Hill 2014). Kennzeichnend für eine postmigrantische Gesellschaft sind vielfältige Neuaushandlungsprozesse um Teilhabe, Zugehörigkeit und Anerkennung (vgl. Canan et al. 2018; Foroutan 2018). Im Zentrum steht die Frage, wie unser Zusammenleben in einer zunehmend diversen und pluralisierten Gesellschaft gestaltet werden soll. Die damit einhergehenden Aushandlungsprozesse verlaufen jedoch nicht konfliktfrei, sondern rufen vielfältige Akteure mit teils konkurrierenden Meinungen und Ansprüchen auf den Plan (Ambrosini 2020; Johler und Lange 2019; Scherr 2017; Scherr und Inan 2017). Beispielsweise werden Migrant_innen selbst als politische Akteure sichtbar, die durch ihre Handlungen und widerspenstigen Praktiken Rechte auf Teilhabe und Anerkennung einfordern (Steinhilper 2017). Gleichzeitig sind aber auch rechtspopulistische und fremdenfeindliche Tendenzen zu beobachten und damit solche Akteure, die sich feindlich gegenüber Migrant_innen positionieren und eine weitere Einschränkung ihrer Teilhabemöglichkeiten fordern (Espahangizi et al. 2016). Foroutan (2019, S. 24) versteht diese aktuellen Auseinandersetzungen um das postmigrantische Zusammenleben gar als Kristallisationspunkt bzw. Katalysator tiefergreifender „gesellschaftspolitischer Kernkonflikte um Anerkennung, Chancengerechtigkeit und Teilhabe“. Postmigrantisches zivilgesellschaftliches Engagement verläuft aus dieser Perspektive nie in einem unpolitischen Vakuum. Stattdessen ist es Bestandteil eines weiteren Spannungsfeldes, welches durch eine heterogene Akteurslandschaft und divergierende Meinungen geprägt ist. In anderen Worten kommt zivilgesellschaftlichen Gruppen eine nicht unerhebliche Rolle bei der Auslotung der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zu, wie unser Zusammenleben in Vielfalt gestaltet werden soll. Dies gilt sowohl für jene Engagierten, die aus dezidiert politischen oder aktivistischen Ansprüchen handeln, indem sie beispielsweise für die Rechte von Geflüchteten und undokumentierten Migrant_innen eintreten, als auch für jene, die ihre Handlungen als humanitär, karitativ oder unpolitisch verstehen und sich beispielsweise praktisch in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe engagieren. Eine solche Analyse, die auf gesamtgesellschaftlichen Aushandlungsprozessen fußt, nimmt die uneindeutige Vielfältigkeit der Engagementpraktiken als Ausgangspunkt, anstatt bereits zu Beginn zwischen „politischen“ und „sozialen“ Ausprägungen des Engagements zu unterscheiden. Selbst jene Engagierten, die den Anspruch erheben, vollkommen „unpolitisch“ zu handeln, müssen sich doch zwangsläufig – bewusst oder unbewusst – zu anderen Akteuren ins Verhältnis setzen oder sich gegenüber (ungleichen) rechtlichen und politischen Rahmen-

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bedingungen positionieren. Aus dieser Perspektive stellt zivilgesellschaftliches Engagement selbst ein vielfältiges und dynamisches Aushandlungsfeld dar. Engagierte positionieren sich auf unterschiedliche Weise zu aktuellen Fragen um Teilhabe, Zugehörigkeit und Anerkennung – Positionierungen, die zum Teil stark variieren und gar im Konflikt oder Widerspruch zueinander stehen können. So können zum Teil beträchtliche Unterschiede zwischen verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen und Individuen bezüglich a) ihres Selbstverständnisses, b) der konkreten Praktik des Engagements sowie c) des Sich-ins-Verhältnis-Setzens zu anderen staatlichen oder nicht staatlichen Akteuren vorliegen. Daraus folgt schließlich auch, dass diese Positionierungen und Praktiken nicht statisch sind, sondern, vor dem Hintergrund eines dynamischen politischen und gesellschaftlichen Kontextes, kontinuierlichen Neuaushandlungen unterliegen. Ein postmigrantischer Blickwinkel, so schlägt dieser Beitrag vor, erlaubt es, mit diesem analytischen Fokus über die zeitlichen und thematischen Grenzen der Willkommenskultur hinauszudenken und stattdessen danach zu fragen, welche Rolle zivilgesellschaftliches Engagement vor dem Hintergrund tief greifender und anhaltender Veränderungs- und Neuaushandlungsprozesse langfristig spielen kann. Im Folgenden skizziere ich, wie ein solcher Analyserahmen den Blick für die Vielschichtigkeit, Heterogenität und Ambivalenz des Engagements schärft.

4 Heterogenitäten, Ambivalenzen und Dynamiken postmigrantischen Engagements Aus postmigrantischer Perspektive zeigt sich erstens eine Vielfältigkeit an möglichen Positionen unter den Engagierten, die sich in einem Spannungsfeld zwischen humanitär-karitativer Hilfe einerseits und politischem Aktivismus andererseits formieren. Bei genauerer empirischer Betrachtung wird deutlich, dass die Unterscheidung zwischen politischem Engagement einerseits und sozialem Engagement andererseits in der Praxis oft sehr viel uneindeutiger und ambivalenter ist, als es diese bisher in wissenschaftlichen Untersuchungen dominierende analytische Trennung suggeriert. Zum einen kann eine große Bandbreite an Positionen unter den Engagierten ausgemacht werden, die sich weder als vollkommen unpolitisch noch als dezidiert politisch-aktivistisch verstehen, sondern sich irgendwo „dazwischen“ positionieren (vgl. Frykman und Mäkelä 2019; Schmid et al. 2019), zum anderen scheinen zeitliche Dynamiken eine Rolle zu spielen. So können Engagierte, die aus vermeintlich unpolitischen und humanitär-karitativen Motiven heraus aktiv werden, im Zuge ihres Engagements

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„politisiert“ werden, zum Beispiel indem sie öffentlich Stellung zu wahrgenommenen Ungerechtigkeiten beziehen (Vgl. Vey und Sauer 2016, S. 15). Des Weiteren besteht ein nicht zu unterschätzendes Potenzial für fruchtbare Allianzen, die zwischen vermeintlich unpolitischen und politisch-aktivistischen Gruppierungen entstehen können (vgl. Schiffauer 2017, S. 19). Einige Arbeiten verwiesen jüngst auch auf die politischen und subversiven Potenziale humanitärer Hilfe, die trotz eines unpolitischen Selbstverständnisses vielfältige politische Effekte und Widerstandsformen mit sich bringen kann (Cantat und Feischmidt 2019; Stierl 2018; Vandevoordt 2019). Diese widersprüchliche Uneindeutigkeit weist auf zentrale Aushandlungsprozesse unter den Engagierten hin, die sich – so schlägt dieser Beitrag vor – um die Frage drehen, wie Teilhabe in postmigrantischen Gesellschaften ermöglicht werden soll. Damit deutet sich an, dass auch jene Individuen und Gruppen, die sich auf den ersten Blick (unpolitisch) für die soziale Teilhabe von Migrant_innen einsetzen – zum Beispiel indem sie gemeinsame Freizeitaktivitäten oder Nachbarschaftsfeste organisieren –, schließlich doch nicht umhinkommen, sich mit Fragen der politischen und rechtlichen Teilhabe auseinanderzusetzen. Damit wird ein Bedarf an wissenschaftlichen Arbeiten sichtbar, welche die vielfältigen Ausprägungen des postmigrantischen Engagements dahin gehend untersuchen, wie sie sich in diesem Dreieck aus sozialer, rechtlicher und politischer Teilhabe positionieren und mit daraus resultierenden Widersprüchen umgehen. Ein weiteres Spannungsfeld, in welchem sich zivilgesellschaftlich Engagierte auf unterschiedliche Weise positionieren, lässt sich nicht nur bezüglich der Frage beobachten, wie Teilhabe ermöglicht werden soll (sozial, rechtlich oder politisch), sondern auch dahingehend, wer in postmigrantischen Gesellschaften überhaupt teilhaben soll. So müssen sich zivilgesellschaftlich Engagierte (indirekt oder direkt) mit der Frage auseinandersetzen, wer von ihren Hilfsund Unterstützungsangeboten profitieren soll und wer, auf der anderen Seite, davon ausgenommen bleibt. Im Laufe meiner eigenen empirischen Erhebungen deutete sich beispielsweise an, dass viele der im Bereich der Flüchtlingshilfe Engagierten oftmals klare Vorstellungen davon haben, wer ihre Unterstützung „verdiene“ und wer nicht. Zum Beispiel wollten sie nur jene mit „guter“ „Bleibeperspektive“ unterstützen oder machten ihre Hilfsangebote von der nationalen Herkunft der Migrant_innen abhängig. Die Entscheidung, wer zur Zielgruppe des Engagements wird, ist dabei untrennbar mit der Frage verknüpft, wie sich Engagierte zu bestehenden Herrschafts- und Machtverhältnissen, die Teilhabemöglichkeiten in postmigrantischen Gesellschaften definieren, in Bezug setzen. So weisen Autor_innen im Bereich der kritischen Migrationsforschung

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bereits seit geraumer Zeit darauf hin, dass die Regierung von Migration auf der hegemonialen Logik beruhe, zwischen ‚erwünschten‘ und ‚unerwünschten‘ Migrant_innen zu unterscheiden (Ratfisch 2015; Scherr 2015). Dies spiegelt sich beispielsweise in der (problematischen) Trennung zwischen ‚legitimen‘ Kriegsflüchtlingen und ‚illegitimen‘ Wirtschaftsflüchtlingen wider. Während Erstgenannte zum Subjekt staatlicher Integrationsleistungen werden, stellen Zweitgenannte Objekte staatlicher Ausschlüsse und Abschiebungspolitiken dar (De Genova und Peutz 2010; Papastergiadis 2006). Damit deutet sich an, dass Engagierte, die im Migrations- und Integrationsbereich tätig werden, nicht umhinkommen, sich (implizit oder explizit) bezüglich der Unterscheidung zwischen ‚legitimen‘ und ‚illegitimen‘ Migrant_innen zu positionieren. Auf der einen Seite können solche Praktiken und Logiken unter den Engagierten beobachtet werden, die sich lediglich partiell an bestimmte Gruppen von Migrant_innen richten, zum Beispiel an jene mit guter „Bleibeperspektive“. Dabei werden hegemoniale Kategorien in der Regierung von Migration reproduziert oder Ausschlüsse gar verfestigt, da illegalisierte Migrant_ innen von den Engagementpraktiken ausgenommen bleiben. Auf der anderen Seite können aber auch Gruppen und Individuen ausgemacht werden, die einen universalistischen Anspruch an ihre Engagementpraktiken stellen, indem sie gleiche Rechte und Teilhabemöglichkeiten für alle einfordern. Dies ist beispielsweise bei den zahlreichen jüngst entstandenen Ablegern der Solidarity Cities zu beobachten, die gleiche soziale, politische und rechtliche Teilhabechancen für die gesamte Stadtbevölkerung fordern (vgl. Kron et al. 2019; Scherr und Hofmann 2018; Schilliger 2018). Zudem können Engagierte ausgemacht werden, die sich gegen Abschiebungen positionieren oder dezidiert solche Migrant_innen unterstützen, die von staatlichen Ausschluss- und Abschiebepolitiken besonders betroffen sind, zum Beispiel Migrant_innen mit Duldungsstatus oder schlechter „Bleibeperspektive“. Die damit verbundenen Engagementpraktiken stellen sich hegemonialen Unterscheidungen zwischen ‚legitimen‘ und ‚illegitimen‘ Migrant_innen oft implizit oder explizit entgegen und verhalten sich damit subversiv zu bestehenden Herrschafts- und Machtstrukturen. Solche Haltungen können dabei durchaus auch unter Engagierten beobachtet werden, die ihr Engagement als unpolitisch bezeichnen. Bei näherer Betrachtung zeigen sich auch hier kontinuierliche Aushandlungsprozesse darüber, wer zum Ziel ihrer Unterstützung gemacht werden soll und wer nicht – Positionierungen, die sich im Laufe der Zeit ändern können. Dies kann zum Beispiel dann der Fall sein, wenn sich politische und rechtliche Rahmenbedingungen ändern, beispielsweise im Zuge der staatlichen Definition neuer „sicherer Herkunftsstaaten“, welche auch unter vermeintlich unpolitischen Engagierten durchaus von Kritik und Widerstand begleitet werden kann.

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5 Zukünftige Forschungsperspektiven auf postmigrantisches Engagement Zentrales Anliegen dieses Beitrags war es, herauszuarbeiten, wie eine postmigrantische Perspektive für die Analyse zivilgesellschaftlichen Engagements fruchtbar gemacht werden kann. Den Ausgangspunkt bildete dabei die Beobachtung, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung bisher nur bedingt mit den neueren Entwicklungen und Dynamiken des zivilgesellschaftlichen Engagements im Migrations- und Integrationsbereich Schritt halten konnte. Zukünftige Forschungsprojekte, die sich zivilgesellschaftlichem Engagement aus postmigrantischer Perspektive widmen, sollten daher untersuchen, welche Rolle das Engagement vor dem Hintergrund andauernder Veränderungs- und Neuaushandlungsprozesse auch langfristig spielen kann. In welche vielfältigen Richtungen hat sich das zivilgesellschaftliche Engagement  –  jenseits von Willkommenskultur und ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe – ausdifferenziert und weiterentwickelt? Wie positionieren sich Engagierte in weiteren Spannungsfeldern um Teilhabe und Anerkennung in postmigrantischen Gesellschaften und wie gehen sie mit daraus resultierenden Widersprüchen praktisch um? Welche Akteurskonstellationen und neuen Möglichkeiten für Allianzen ergeben sich aus dieser uneindeutigen Vielfältigkeit postmigrantischen Engagements? Werden diese Fragestellungen ins Zentrum zukünftiger Untersuchungen gerückt, kann der Blick für die gesellschaftstransformierenden Potenziale von Migration und zivilgesellschaftlichem Engagement geschärft werden.

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Larissa Fleischmann, M. Res. ist Post doc in der Fachgruppe Anthropogeographie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, zuvor Doktorandin am Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ und am Lehrstuhl für Ethnologie und Kulturanthropologie der Universität Konstanz. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind kritische Migrationsforschung, Solidarität und politische Mobilisierung in Migrationsgesellschaften, humanitäre Hilfe und zivilgesellschaftliches Engagement im Kontext von Flucht und Migration.

„Engagiert in Vielfalt“ – Ehrenamtliches Engagement in der Flüchtlingshilfe Nordrhein-Westfalens Maike Dymarz, Hannah Klinkenborg und Charlotte Weber

Zusammenfassung

Das ehrenamtliche Engagement in der Flüchtlingshilfe unterliegt einem stetigen Wandel. Im Projekt „Engagiert in Vielfalt“ wurde dieser Wandel in sieben Modellinitiativen begleitet und erforscht. Der Beitrag stellt die Erkenntnisse zum ehrenamtlichen Engagement in der Flüchtlingshilfe N ­ ordrhein-Westfalens dar und geht der Frage nach, welche Chancen und Herausforderungen sich im Engagement zeigen und wie dieses langfristig gestärkt werden kann. Neben der Untersuchung der Initiativen selbst wurden die Erkenntnisse durch eine Befragung ehrenamtlich Engagierter in der Flüchtlingshilfe NRWs sowie durch Interviews mit geflüchteten Menschen ergänzt. Zentrale Erkenntnis ist, dass sich Engagierte nach wie vor unermüdlich für Geflüchtete einsetzen und sie eine zentrale Größe im Integrationsprozess einnehmen. Gleichzeitig bestehen aber verschiedenste Herausforderungen im Engagement, wie die zunehmend restriktivere Asylpolitik sowie die veränderte gesellschaftliche Stimmung.

M. Dymarz (*)  Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] H. Klinkenborg · C. Weber  Exzellenzcluster „Religion und Politik“, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Weber E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_26

401

402

M. Dymarz et al.

Schlüsselwörter

Ehrenamt · Flüchtlingshilfe · Sozialwesen · Kirchengemeinden · ­NordrheinWestfalen · Integration · Zivilgesellschaftliches Engagement · Geflüchtete

Einführung Die Zuwanderung vieler Tausend Asylsuchender in den Jahren 2015 und 2016 hat in Nordrhein-Westfalen ebenso wie in ganz Deutschland zahlreiche Menschen dazu bewegt, ein Engagement in der Flüchtlingshilfe aufzunehmen. Inzwischen sind diese Engagierten zu unverzichtbaren Akteur_innen im Arbeitsfeld Flucht, Migration und Integration geworden. Sie leisten einen zentralen Beitrag im Prozess der Integration geflüchteter Menschen, indem sie als „Brückenbauer_innen“ in unsere Gesellschaft fungieren. Nicht zuletzt sind ehrenamtlich Engagierte inzwischen zu Freund_innen geworden, die geflüchtete Menschen in Deutschland dabei unterstützen, eine neue Heimat zu finden. Dabei unterliegt das Engagement in der Flüchtlingshilfe einem stetigen Wandel – gesellschaftlich und in der Außenwahrnehmung, in der Gestaltung des Engagements selbst und in der Kooperation mit anderen Akteur_innen. Außerdem hat sich die Beziehung von Ehrenamtlichen und Geflüchteten verändert. Es hat sich die zunehmende Erkenntnis durchgesetzt, Geflüchtete aktiv in den Prozess von Integration und Teilhabe einzubinden und Prozesse von Selbstwirksamkeit und Verantwortungsübernahme über die Beteiligung am ehrenamtlichen Engagement zu fördern. Diesen Wandel des ehrenamtlichen Engagements hat das Projekt „Engagiert in Vielfalt – Wahrnehmung und Stärkung ehrenamtlicher Arbeit mit Geflüchteten“1 über drei Jahre begleitet und erforscht (für weiterführende Projekterkenntnisse Dymarz et al. 2019).

1 Das Engagement von, für und gemeinsam mit Geflüchteten Die Forschung zu den Themen Flucht und ehrenamtliches Engagement in Deutschland wurde in den letzten Jahren von der vermehrten Zuwanderung Geflüchteter in den Jahren 2015 und 2016 geprägt (Ghaderi und Eppenstein

1Das

Projekt wurde in den Jahren 2016 bis 2019 durchgeführt und vom Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert.

„Engagiert in Vielfalt“ – Ehrenamtliches Engagement …

403

2017, S. 3), worauf die Forschungslandschaft mit vielfältigen und umfangreichen Studien in verschiedenen Fachdisziplinen reagierte (Kleist 2018). Ein Gesamtüberblick ist aufgrund der vielfältigen Dynamik des Forschungsfeldes kaum leistbar (Beckmann et al. 2017; Linnert 2017). Inzwischen lässt sich ein erneutes ‚Abflauen‘ der ‚Forschungswelle‘ zum ehrenamtlichen Engagement für und mit Geflüchteten feststellen. Zunehmend ist auch eine Verlagerung des Forschungsinteresses von einer Beschreibung und Erfassung der Situation auf den zukünftigen Umgang mit Herausforderungen im Themengebiet Flucht festzustellen. So gibt es zahlreiche Untersuchungen zur kommunalen Praxis der Integration (u. a. Aumüller et al. 2015; Seethaler-Wari 2018) und zum Zusammenspiel unterschiedlicher an dem Themenfeld beteiligter Akteur_innen (u. a. Bogumil et al. 2018). In der letzten Zeit ist zudem eine Fokussierung auf einzelne Bereiche der Integration zu beobachten. Insbesondere das Thema „Arbeitsmarktintegration“ ist dabei ins Forschungsinteresse gerückt (u.  a. Brücker et al. 2019). Ehrenamtliches Engagement im Integrationsprozess wird als ein zentrales Element der gesellschaftlichen Vermittlung betont (u. a. Han-Broich 2012; Hamann et al. 2016; Karakayali 2018). Neben Studien, die die Motivlagen ehrenamtlich Engagierter in der Flüchtlingsarbeit betrachten (Dymarz 2018; Karakayali und Kleist 2015, 2016), werden zunehmend Forschungen veröffentlicht, die sich mit den Strukturen, Rahmenbedingungen und Herausforderungen des Engagements auseinandersetzen. Angesichts gesellschaftlicher Debatten und politischer Verschärfungen des Asylrechts zeigt sich ein Doppelverhältnis: „Während überall im Land in kürzester Zeit eine Welle der Unterstützung und beispielloses Engagement – professionell wie ehrenamtlich – auf die Beine gestellt wurde [sic!], […] nahm[en] [die öffentliche Debatte und die Politik] die Sorgen der nicht selten laut und aggressiv auftretenden ‚besorgten Bürger*innen‘ zumeist ernster als die der vielen Engagierten, die tagtäglich mit viel Energie und Zeit und manchmal bis an die Grenzen ihrer Kräfte die Lage langsam in den Griff bekamen.“ (Küpper et al. 2019, S. 195 f.). Ein weiteres, neues Forschungsfeld stellt die Teilhabe geflüchteter Menschen am Engagement „auf Augenhöhe“ dar. „Ihr Empowerment muss so weit gehen, dass sie ihre Interessen einfordern können und sie mit einer gleich starken Stimme sprechen können wie die Alteingesessen.“ (Hokema 2018, S. 84) Ehrenamtliche Initiativen bilden dabei einen wichtigen Pfeiler zur Einbindung Geflüchteter in das soziale Leben vor Ort (Speth 2018; Schiefer 2017) und die Möglichkeit, Selbstwirksamkeit und Integration in die Gesellschaft

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zu fördern (Speth 2018). Gleichzeitig gibt es viele Faktoren, die ein ehrenamtliches Engagement von Geflüchteten erschweren können, wie etwa eine prekäre aufenthaltsrechtliche Situation (Dahmen et al. 2017, S. 138), traumatisierende Ereignisse vor, während oder nach der Flucht sowie eine gesellschaftliche oder institutionelle Isolierung, die sich in der Unterbringung in Sammelunterkünften niederschlägt (Rudloff 2017, S. 200).

2 Der Wandel des Engagements in Vielfalt Anknüpfend an diese Erkenntnisse warf das Projekt „Engagiert in Vielfalt“ in den Jahren 2016 bis 2019 einen multiperspektivischen, vergleichenden Blick auf ehrenamtliches Engagement von, für und gemeinsam mit Geflüchteten. Möglichkeiten und Chancen standen dabei ebenso im Fokus der Betrachtung wie Hindernisse und Herausforderungen im Engagement. Das Projekt beinhaltete den Ansatz, drei verschiedene Perspektiven miteinander zu kombinieren. Da das Engagement in der Regel zunächst von der individuellen Motivationslage der Einzelnen ausgeht, wurde die Perspektive der einzelnen ehrenamtlich Engagierten eingenommen. Dazu wurde eine quantitative Online-Befragung ehrenamtlich Engagierter in Nordrhein-Westfalen im Herbst 2017 durchgeführt2. Darüber hinaus erfolgte die Betrachtung der Strukturen und Netzwerke, in denen sich ehrenamtlich Engagierte bewegen. Sieben Modellinitiativen in NRW gaben dazu Einblicke in ihre Arbeit vor Ort und wurden durch qualitative Interviews mit den Leitungen und mit vernetzten Akteur_innen erforscht3. Darüber hinaus wurde die Perspektive von Geflüchteten auf ehrenamtlich Engagierte aufgenommen. Dazu wurden qualitative, themenzentrierte Interviews mit drei Geflüchteten zu ihrer Lebenssituation und der Rolle ehrenamtlichen Engagements durchgeführt und ausgewertet.

2Insgesamt

1.677 Engagierte beteiligten sich an der Befragung, 415 füllten dabei den Fragebogen weitestgehend, 956 vollständig aus. Die Daten können nicht als repräsentativ gewertet werden, da keine genauen Kenntnisse über die Größe der Grundgesamtheit bestehen und ein Bias der Daten in Bezug auf Kirche und Diakonie zu erwarten ist. 3Das Verfahren zur Auswahl der Modellinitiativen verlief mehrstufig und beruhte auf der Methode des „selektiven Samplings“. Neben E ­ xpert_innen-Hearings von in dem Bereich tätigen Akteur_innen in NRW fanden Kriterien zur möglichst gleichmäßig verteilten räumlichen Lage sowie zur Diversität sozialräumlicher Daten Verwendung.

„Engagiert in Vielfalt“ – Ehrenamtliches Engagement …

405

Abb. 1   Altersverteilung der befragten Engagierten; N = 916. (Quelle: Dymarz et al. 2019)

2.1 Ehrenamtlich Engagierte in Nordrhein-Westfalen: Motive, Handlungsräume und Hindernisse im ehrenamtlichen Engagement Das ehrenamtliche Engagement in der Flüchtlingshilfe ist ein recht neues Phänomen, das insbesondere in den Jahren 2014 bis 2016 an Dynamik gewonnen hat. So haben 81 % der im Projekt befragten Ehrenamtlichen ihr Engagement zwischen 2014 und 2016 begonnen. Wie Abb. 1 zeigt, engagieren sich überwiegend Frauen in der Flüchtlingshilfe: 64 % aller Befragten sind weiblich, 36 % männlichen Geschlechts4. Das

4N  = 916.

406

M. Dymarz et al.

Engagement in der Flüchtlingshilfe in unserer Befragung ist durch die Nachkriegsgeneration (1945 bis 1955) und die Generation der sogenannten „Baby Boomer“ (1956 bis 1969) geprägt: Jüngere Jahrgänge sind hingegen vergleichsweise wenig vertreten5. Gleichzeitig wird deutlich, dass das einzelne Engagement weitestgehend vernetzt und in Anbindung an bestehende oder neu entstandene Organisationen stattfindet – nur etwa ein Fünftel der Befragten engagiert sich unabhängig von jeglichen Institutionen, Verbänden, Initiativen oder Kirchengemeinden6. Dabei spiegelt sich hierbei ein allgemeiner Trend im Engagement wider: Der „klassische“ Verein wird zunehmend durch andere Formen des Engagements, wie Netzwerke, informelle Treffen und Formen digitaler Plattformen in sozialen Netzwerken, ergänzt (Priemer et al. 2017). Studien belegen, dass Personen mit diversen politischen Ansichten, Weltanschauungen und Konfessionen ehrenamtlich tätig sind (Hamann et al. 2017). Dabei betonen die im Rahmen des Projekts befragten Engagierten ihre politische Rolle als Gegenpol zu „Hass, Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung“. Fast 60 % der Befragten möchte mit ihrem Engagement ein Zeichen gegen Rassismus setzen7. Häufiger Grund zur Aufnahme des Engagements ist darüber hinaus die Wahrnehmung der Not der Geflüchteten „vor der eigenen Haustür“. Mehr als jede_r dritte Befragte hat durch diesen Impuls ein häufig längerfristiges Engagement aufgenommen (vgl. Tab.  1). Die meisten befragten Engagierten (76 %) wollen die Lebenssituation der Geflüchteten verbessern und für eine gerechtere Gesellschaft eintreten (51 %). Auch die eigene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben spielt eine Rolle. Motive zur persönlichen Weiterentwicklung werden hingegen weniger benannt, wie beispielsweise die Anerkennung für die Arbeit oder der Nutzen für den beruflichen Werdegang. Der Wandel im Engagement zeigt sich vor allem in der Veränderung der Aufgabenfelder (siehe auch Abschn. 2.2). Wie Abb. 2 verdeutlicht, ist mehr als die Hälfte der Befragten in einer engmaschigen Begleitung im Alltag der Geflüchteten beschäftigt. Dabei stimmen fast drei Viertel der Befragten der These zu, dass Engagierte Aufgaben übernehmen, die eigentlich der Staat regeln müsste8. Die Versorgung entwickelt sich von größeren Gruppen hin zu einer individuellen

5N  = 908. 6p = 20,6 %; 7N = 1151. 873.8 %,

NF   = 1098.

N = 876.

„Engagiert in Vielfalt“ – Ehrenamtliches Engagement …

407

Tab. 1   Motive des Engagements Motiv

Häufigkeit der Gültige % Zustimmung; (an allen Nennungen) N = 1151

Ich möchte zur Verbesserung der Lebenssituation von Geflüchteten beitragen

883

76,7

Ich möchte ein Zeichen gegen Rassismus setzen

687

59,7

Ich möchte mich für eine gerechtere Gesellschaft einsetzen 586

50,9

Ich möchte anderen Menschen aus Nächstenliebe helfen

581

50,5

Ich möchte zur Umsetzung und zum Erhalt der Menschenrechte beitragen

561

48,7

Ich möchte etwas für das Gemeinwohl tun

512

44,5

Ich engagiere mich aus moralischer Überzeugung

474

41,2

Ich engagiere mich aus Spaß an der Tätigkeit

425

36,9

Ich möchte Dinge verändern, die mir nicht gefallen

422

36,7

Ich möchte Werte vermitteln

358

31,1

Ich möchte mit Leuten in Kontakt kommen und anderen Menschen helfen

355

30,8

Ich habe das Gefühl, gebraucht zu werden

343

29,8

Ich möchte Neues lernen

317

27,5

Ich engagiere mich aus religiöser Überzeugung

289

25,1

Ich engagiere mich aus Faszination für andere Kulturen

263

22,8

Ich möchte mit Menschen zusammenarbeiten, die mir sympathisch sind

205

17,8

Ich bekomme so Anerkennung und Wertschätzung für die Tätigkeiten

162

14,1

Ich engagiere mich wegen einer eigenen Fluchterfahrung oder einer Fluchterfahrung in der Familie

134

11,6

42

3,6

Ich engagiere mich, weil ich einen Nutzen für den beruflichen Werdegang sehe

Versorgung einzelner Geflüchteter oder Familien9. Durch den persönlichen und längerfristigen Kontakt entstünden nun Freundschaften und enge Bindungen. 963,4 %

der Befragten; N  = 962.

408

M. Dymarz et al. +LOIHQLP$OOWDJ



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Abb. 2   Aufgabenfelder ehrenamtlich Engagierter in der Flüchtlingshilfe. (Quelle: Dymarz et al. 2019)

Zuwanderung, Integration und Flüchtlinge sind ebenso wie Ehrenamt und Engagement als Querschnittsthemen mit Bezugspunkten vieler verschiedener Akteur_innen zu verstehen. Im Zuge der rasanten Entwicklung des freiwilligen Engagements haben sich kaum überblickbare Strukturen vor Ort entwickelt. Gefragt sind neue Formen der Zusammenarbeit sowohl mit öffentlichen Stellen als auch unter den Engagierten selbst. Über die Hälfte der Befragten brauchen zumindest gelegentlich mehr Unterstützung durch andere Engagierte, 59,8 % zumindest gelegentlich mehr Unterstützung durch Hauptamtliche10. Fast jede_r dritte Befragte hat schon einmal belastende Situationen im Umgang mit Ämtern erlebt11, jede_r Fünfte sieht darin die momentan größte Herausforderung in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe12. Zum einen erleben Engagierte die Kommunikation mit den Behörden und Ämtern als erschwert („Bürokratismus“), was zur Frustration bei Engagierten und Geflüchteten

10N = 1066. 11N = 979. 12N = 1603,

Mehrfachnennungen möglich.

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beiträgt. Die teilweise komplexen behördlichen Abläufe werden von den Engagierten als Hürden im Integrationsprozess oder sogar als „Behördenrassismus“ bezeichnet. Gleichzeitig gilt insbesondere die lokale Zusammenarbeit mit Behörden und Ämtern als ein Erfolgskriterium ehrenamtlicher Arbeit. Jede_r zweite befragte Engagierte hat einen häufigen oder engen Kontakt zur Kommunalverwaltung oder zu kommunalen Ämtern13.

2.2 Das Engagement in Nordrhein-Westfalens Kommunen: Die Organisation, Kommunikation und Vernetzung des ehrenamtlichen Engagements Ein Großteil des ehrenamtlichen Engagements in der Flüchtlingshilfe ist über lokale Initiativen organisiert. Auch diese Arbeit vor Ort unterliegt einem stetigen Wandel, insbesondere durch die Veränderungen der Rahmenbedingungen, wie die veränderte Zuweisungspraxis und die vermehrten Erfordernisse der langfristigen Begleitung im Integrationsprozess. Neue Aufgabenfelder wurden wahrgenommen, neue Strukturen gebildet oder angepasst. Veränderungen in der gesellschaftspolitischen Stimmungslage führten zu einer stärkeren Betonung des Engagements als Gegenpol zu  Rassismus und Ablehnung. Es konnten neue Engagierte für die Arbeit gewonnen werden, ebenso wie Engagierte Aufgaben abgeben oder von ihrem Engagement zurücktreten. Bemerkenswert ist in allen untersuchten Initiativen die hohe Selbstständigkeit der auf der operativen Ebene agierenden Engagierten. Obwohl Strukturen innerhalb der Initiativen bestehen, wird auf eine große Freiheit der Ehrenamtlichen geachtet. Gerade diese Eigenständigkeit wird von den Verantwortlichen als Qualitätsmerkmal erkannt, da sie eine Kultur der Wertschätzung und des Zulassens ermögliche. Insbesondere wird deutlich, dass die Lebenslage von Geflüchteten vor Ort Ausgangslage für das Engagement in der Flüchtlingshilfe ist. Diese Lebensbedingungen werden von den Engagierten häufig als erschwert wahrgenommen, beispielsweise durch einen eingeschränkten Zugang zu strukturellen Angeboten in den Bereichen Wohnen, Sprache, Arbeitsmarkt oder Bildung. Engagierte unterstützen Geflüchtete bei der Integration in diesen Feldern auf vielfältige Weise (etwa durch ergänzende Angebote oder die Vermittlung persönlicher Kontakte) und übernehmen dabei wichtige Mittler_innenfunktionen in die Gesellschaft. Sie sind in ihrer Arbeit auch mit Herausforderungen konfrontiert, wie Vorbehalten

1346,2 %,

N = 858.

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in der Gesellschaft, einem Mangel an bezahlbarem Wohnraum, Anbindungen an öffentliche Verkehrsmittel und Erreichbarkeiten von Kursangeboten oder Arbeitsstellen, Problemen und Engpässen beim Sprachkursangebot oder der Anerkennung von schulischen und beruflichen Qualifikationen. Neben strukturellen Aspekten der Lebenswelt und Integration von Geflüchteten treten zum anderen zunehmend auch stärker soziale Aspekte in den Fokus. Engagierte ermöglichen dabei soziale Teilhabe von Geflüchteten durch den Kontakt zur Aufnahmegesellschaft. Begegnungen finden durch Angebote von Engagierten, bei denen Einheimische und Geflüchtete zusammenkommen, statt. Diese Begegnungsangebote können dabei als Ansätze für ein weitergreifendes integriertes Quartiersmanagement genutzt werden. Aber auch im Feld der sozialen Integration sind Ehrenamtliche in ihrem Engagement mit Herausforderungen konfrontiert, die die Teilhabe von Geflüchteten erschweren. Zum einen wirken sich Unsicherheiten über den Aufenthalt und den Nachzug der Familie erschwerend auf die soziale Teilhabe von Geflüchteten aus, zum anderen erweisen sich Isolationen in Sammelunterkünften sowie mangelnde Integrationsfortschritte im Wohnungs- und Arbeitsmarkt als hinderlich für Kontaktmöglichkeiten. Veränderungen in der Lebenswelt der Geflüchteten und deren Nachfrage ebenso wie sich wandelnde vorhandene Ressourcen der Initiativen führen zu Umstrukturierungen, Anpassungen und Weiterentwicklungen der ehrenamtlichen Angebote. „Die große Welle ist vorbei. Viele sind versorgt. Trotzdem, die, die gekommen sind, da ist die Integration lange noch nicht abgeschlossen.“ (Interview mit der Leitung einer Modellinitiative, 10. Januar 2019)

In vielen Angeboten sind inzwischen auch Geflüchtete ehrenamtlich aktiv. Sie unterstützen die Angebote und sind teilweise sogar in Leitungsebenen vertreten. Viele Initiativen streben einen noch stärkeren Einbezug von Geflüchteten in die Organisation und Durchführung der Angebote an, da sie als Betroffene einen besseren Einblick in die Bedarfe und Lebenssituationen der Geflüchteten hätten. Darüber hinaus zeichnet sich die Entwicklung dialogbasierter Angebote ab, die die gesamte Stadtgesellschaft einbeziehen und damit einen Beitrag für die Stadtgesellschaft leisten. „Ein Angebot, das gut für Flüchtlinge funktioniert und dann auch für Neuzugewanderte und für das sich dann noch die Einheimischen interessieren, ist ja keine schlechte Sache aus einer Integrationsperspektive gedacht.“ (Interview mit einem Mitarbeiter eines Kommunalen Integrationszentrums, 5. Februar 2019)

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Die lokale Zusammenarbeit von Akteur_innen stellt ein Erfolgskriterium der Arbeit der Initiativen dar. Dabei sind die Initiativen in weitreichenden und häufig unübersichtlichen Netzwerken mit zahlreichen Akteur_innen auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene vernetzt. Viele Kooperationen beruhen auf persönlichen Kontakten. In einigen Fällen besteht auch unter den unterschiedlichen ehrenamtlichen Initiativen vor Ort eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit. In anderen Fällen zeigen sich Konfliktlinien und Konkurrenzen um Finanzierungsmittel, Prestige oder Personal. Als enge Kooperationspartnerinnen benennen die Initiativen häufig die lokalen Kirchengemeinden, Vereine sowie Wohlfahrtsverbände. Sie fungieren als juristische Trägerinnen der Arbeit, organisieren Feste, stellen Räume und weitere organisatorische Unterstützungen etwa zur Spendenannahme oder Abwicklung von Fördergeldern zur Verfügung. In vielen Fällen haben sich daraus eigenständige Initiativen entwickelt, die heute autark neben den Kirchengemeinden und Wohlfahrtsverbänden bestehen. Diese können damit als „Antriebsfeder“ des Engagements verstanden werden. Darüber hinaus liegt insbesondere mit der Kommunalverwaltung vielfach eine enge Zusammenarbeit vor. Kommunale Verwaltungen haben die Gründung und Ausdifferenzierung des ehrenamtlichen Engagements häufig unterstützt. In zahlreichen Fällen bestehen gute Arbeitsabsprachen und Formate zur Informationsweitergabe und zum Bedarfsaustausch, sodass insgesamt „kurze Wege“ auf der Arbeitsebene zu finden sind. Zuständige Personen aus der Kommunalverwaltung nehmen an Treffen der Initiativen teil, bei denen über aktuelle Vorhaben der Gemeinde oder Stadt informiert wird sowie die Initiativen ihre Bedarfe der Verwaltung mitteilen können. In anderen Kommunen bestehen Runde Tische und Krisenstäbe unter Einbezug von Ämtern, Gewerbetreibenden, Glaubensgemeinschaften, Wohlfahrtsverbänden und Engagierten. Ein kommunales Verständnis des Ehrenamtes als gleichwertiger Akteur, das frühzeitig und zeitnah in Entscheidungsprozesse und Arbeitsabläufe eingebunden wird, zeigt sich als zielführend für beide Seiten. „Wir wollten von Anfang an eine aktive und lebendige Gemeinde haben. Auch zur Aufklärung der Bevölkerung und zum Verständnis für die Lage der Geflüchteten musste eine aktive Beteiligung stattfinden.“ (Interview mit einem Abteilungsleiter einer Kommune, 8. März 2017)

Neben den Kommunalverwaltungen sind in Nordrhein-Westfalen Kommunale Integrationszentren vor Ort im Arbeitsfeld Flucht und Migration aktiv und unterstützen die lokalen Initiativen vielfach in ihrer Arbeit. Neben vernetzenden und informativen Veranstaltungen besteht seit 2016 das Förderprogramm KOMM-AN

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NRW, das niedrigschwellig ehrenamtliche Projekte zur Teilhabe und Integration von Neu-Zugewanderten fördert. Dabei zeigt sich, dass die Kommunalen Integrationszentren, die auf Ebene der Kreise aktiv sind, insbesondere in eher ländlichen Flächenkreisen noch etabliert werden müssen. Dort, wo eine strukturelle Zusammenarbeit zwischen Kommunalem Integrationszentrum und ehrenamtlicher Initiative bereits besteht und eine gute Arbeitsebene herrscht, können Projekte, Förderprogramme und auch Maßnahmen zielgerichteter wirken. Angesichts der umfangreichen und gesellschaftlich bedeutenden Aufgaben, die das Ehrenamt übernimmt, und unter der Bedingung eines Verständnisses für die Langfristigkeit der Integrationsaufgabe ist die Verstetigung finanzieller Zuwendungen erforderlich. Die Beantragung der Fördergelder sowie die dafür geforderte Aufbringung von Nachweisen über die Verwendung sind oft sehr zeitund kenntnisintensiv. Längerfristige Laufzeiten der Anträge sowie eine Vereinfachung der Antragstellung und Nachweise können dazu beitragen, das Ehrenamt zu entlasten.

2.3 Geflüchtete und Engagement in NRW: Lebenslagen und die Rolle des ehrenamtlichen Engagements Teilhabeprozesse erfordern auch Handlungsfähigkeit und Gestaltungsmöglichkeiten von Geflüchteten selbst (Speth 2018; Sauer und Vey 2018). Im Forschungsprojekt wurden daher drei geflüchtete Menschen, die im Kontakt zu ehrenamtlich Engagierten stehen, zu ihrer Lebenssituation und der Rolle ehrenamtlichen Engagements darin interviewt (vgl. Tab. 2). In allen Lebenswelten der interviewten Geflüchteten nimmt ehrenamtliches Engagement eine bedeutende Größe ein, die sich vielfältig ausgestaltet – sei es als Unterstützung im Lebensalltag oder in der Ausübung eines eigenen Engagements als Teil der individuellen Lebensführung. Alle interviewten Geflüchteten betonen die Bedeutung der Begegnung auf Augenhöhe. Dabei sind die Umstände für einen solchen gleichwertigen Kontakt nicht leicht: Geflüchtete Menschen werden durch strukturelle Rahmungen ihrer Alltagswelt – wie den Aufenthaltsstatus, fehlende Sprachkenntnisse oder ein erst entstehendes Verständnis kultureller und gesellschaftlicher Entwicklungen – stark eingeschränkt. Darüber hinaus sind aus Sicht geflüchteter Menschen der Kontakt zur Zivilgesellschaft, die Begegnung mit „Einheimischen“ und die Gestaltung von Angeboten zum gegenseitigen Kennenlernen wichtige Größen im Teilhabeprozess.

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Tab. 2   Interviewte Geflüchtete im Projekt Interview I1

Interview I2

Interview I3

Herkunft

Syrien

Pakistan

Afghanistan

In Deutschland seit

2015

2013

2016

Familienstatus

Alleinreisend, Familie in Syrien und in Dubai

Mit Ehepartner in D, Familie in Pakistan

Alleinreisend, Familie in Afghanistan

Wohnort

Großstadt

Mittelstadt

Ländliche Gemeinde

Asylstatus

Aufenthaltserlaubnis, Subsidiärer Schutz

Aufenthaltserlaub- Aufenthaltsgestattung, Ablehnung, im Klagenis, Nationales Abschiebungsverbot verfahren mit aufschiebender Wirkung

Ehrenamtliche Initiativen können dafür die Plattform bieten und gleichzeitig als Brückenbauer_innen fungieren – insbesondere dann, wenn Geflüchtete selbst beteiligt sind. Motiviert zu einem eigenen ehrenamtlichen Engagement werden geflüchtete Menschen durch altruistische Motive, die sich in Form des Zurückgebens an die Gesellschaft äußern. Darüber hinaus spielt die Hilfe in der Not für andere eine wichtige Rolle und wurde das Engagement als Handlungsraum auch als Gestaltungsmöglichkeit für Geflüchtete auf dem Weg zu gleichberechtigter Teilhabe verstanden. „Ich kann nicht ohne das Ehrenamt bleiben. […] Ich bin sehr dankbar für die Hilfe, die ich bekommen habe. Das ist mein Zurückgeben. Wenn man hat oder kann, dann soll man das nicht verstecken, dann soll man zurückgeben. Ich will nicht geizig sein.“ (Interview I2, 13. Februar 2019)

In ihrer Alltagswelt sind geflüchtete Menschen durch zahlreiche Restriktionen beeinträchtigt – wie beispielsweise am Wohnungsmarkt oder im Arbeitsleben. Dabei haben ehrenamtlich Engagierte eine wichtige Brückenfunktion eingenommen. „Ein Kollege von mir, ein Deutscher, hat mir geholfen. Zunächst sollte ich einen Zettel von der Stadt holen. […] Damit bin ich zur [Wohnungsgesellschaft] gegangen und habe gefragt, ob die eine Wohnung für mich haben. Ich habe sofort einen Zettel und einen Besichtigungstermin bekommen.“ (Interview I1, 16. Januar 2019)

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Nicht zuletzt stellt die Teilhabe am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt einen wichtigen Zugang zur Gesellschaft dar und ist als integrativer Schritt in ein eigenständiges Leben zu verstehen. Alle interviewten Geflüchteten sind inzwischen in Deutschland berufstätig. Die Wahrnehmung der Tätigkeit wird als Schritt der eigenen Integration gewertet. Zudem stärkt es die Interviewten in ihrer Selbstwahrnehmung und ihrem Selbstbewusstsein. „Ich sage, wenn du noch keinen Job hast, bist du noch ein Flüchtling. Wenn du da raus willst, brauchst du einen Job.“ (Interview I3, 21. Februar 2019)

Die interviewten geflüchteten Menschen berichten von einer Reduktion ihrer Person und Identität auf den Status „Flüchtling“. Zunehmend wird der Wunsch geäußert, dass auch andere, identitätsstiftende Faktoren in den Vordergrund treten sollen. Gern möchten sie „nicht mehr auffallen“ und als ein Teil der Gesellschaft anerkannt werden. Dazu gehört ebenso eine gleichberechtigte Teilhabe am sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben. „Eigentlich würde ich mich jetzt ungerne als Flüchtling outen. Ich will, dass die Leute uns nicht nur in dieser Hinsicht ansehen: Flüchtling, Opfer, Krieg. Ich möchte als einfache Person gesehen werden, die auf der Straße läuft. Immer als Flüchtling betrachtet zu werden, finde ich doof. Ein bisschen Normalität ins Leben bringen, fände ich gut.“ (Interview I1, 12. April 2019)

Die Entscheidung über den Asylstatus und der Prozess der Asylbeantragung sind für alle interviewten Geflüchteten nicht nachvollziehbar. Die entstehende Unsicherheit wird von den Geflüchteten als äußerst belastend beschrieben – sowohl während des laufenden Asylverfahrens als auch nach der Entscheidung. „Ich habe kein Asyl bekommen, nur subsidiären Schutz. Ich weiß nicht warum. Das ist Glückssache.“ (Interview I1, 16. Januar 2019)

Keine_r der interviewten Geflüchteten hat einen über ein Jahr andauernden Aufenthaltstitel erhalten. Damit einher geht auch eine ständige Unsicherheit, die aus Sicht der Interviewten tief greifende Folgen für den Integrationsprozess hat. Die Sorgen bezüglich der unbestimmten Dauer des Aufenthalts bestimmen maßgeblich den Lebensalltag der Geflüchteten. Auch dies stellt sich als Aufgabenfeld für ehrenamtlich Engagierte dar, die hier stabilisierend und beruhigend bis aufklärend und erläuternd wirken – eben als Begleiter_innen in der Lebenswelt Geflüchteter.

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3 Fazit: Handlungsempfehlungen für eine nachhaltige Gestaltung des ehrenamtlichen Engagements in der Flüchtlingshilfe NRWs Ehrenamtlich Engagierte in der Flüchtlingshilfe arbeiten unermüdlich. Humanitäre Motive und das „Helfen in der Not“ haben sich zu einem dauerhaften Einsatz für die Belange geflüchteter Menschen entwickelt. Ehrenamtlich Engagierte sind Fürsprecher_innen für eine tolerante und offene Gesellschaft. Sie sind zu Expert_innen im Integrationsprozess geworden. Dabei begleiten sie Geflüchtete nicht mehr nur im Lebensalltag, sondern sind vielmals auch wichtige Bindeglieder in die Gesellschaft und Freund_innen geworden. In dieser Rolle müssen ehrenamtlich Engagierte gestärkt und als zentrale Akteur_innen wahrgenommen werden. Dazu gehört es auch, ehrenamtlich Engagierte in Entscheidungsprozesse einzubinden. Gleichzeitig ergeben sich weitreichende Veränderungsprozesse und Herausforderungen. Es zeigt sich: Es braucht weitere, aktivierende Maßnahmen und Projekte, die mehr Menschen dazu bewegen können, sich gesellschaftlich zu engagieren. Darüber hinaus müssen auch neue Formen der nachhaltigen Gestaltung des Engagements gefunden werden. Gefragt sind flexible Strukturen, die sich je nach Bedarfslage ausbauen oder einschränken lassen. Wichtig dazu ist eine Bündelung der Aktivitäten von Haupt- und Ehrenamtlichen im kommunalen Raum durch eine koordinierende Kraft. Auch eine notwendige finanzielle Ausstattung und Unterstützung des ehrenamtlichen Engagements in Sach- und Personalmitteln müssen sichergestellt werden, da insbesondere die Organisation des Engagements einen hohen Arbeitsaufwand umfasst. Nicht zuletzt beobachten Engagierte in der Flüchtlingshilfe die gegenwärtige politische Ausrichtung, die sie als zunehmend restriktiver wahrnehmen. Gerade vor diesem Hintergrund müssen neue Ausgestaltungen der Kommunikation und Wertschätzung zwischen ehrenamtlich Engagierten, politischen Vertreter_innen, Verwaltungen und auch Geflüchteten selbst gefunden werden. Die Rolle, die ehrenamtliches Engagement in den gesellschaftlichen, administrativen und politischen Zusammenhängen einnimmt, muss dabei nach wie vor ausgehandelt und diskutiert werden.

Literatur Aumüller, J., Daphi, P., & Biesenkamp, C. (2015). Die Aufnahme von Flüchtlingen in den Bundesländern und Kommunen. Behördliche Praxis und zivilgesellschaftliches Engagement. Stuttgart: Robert Bosch Stiftung.

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Karakayali, S., & Kleist, O. (2016). EFA-Studie 2: Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit in Deutschland, 2. Forschungsbericht: Ergebnisse einer explorativen Umfrage vom November/Dezember 2015. Berlin: BIM & ­Humboldt-Universität. Kleist, O. (2018). Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland: Akteure, Themen und Strukturen. Osnabrück: IMIS, & BICC. Küpper, B., Berghan, W., & Rees, J. (2019). Aufputschen von Rechts: Rechtspopulismus und seine Normalisierung in der Mitte. In A. Zick, B. Küpper, & W. Berghan (Hrsg.), Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19 (S. 171–202). Bonn: Dietz. Linnert, J. (2017). Neue Forschungsergebnisse zur Freiwilligenarbeit mit Geflüchteten. Perspektiven auf einen sich etablierenden Bereich zivilgesellschaftlichen Engagements. Berlin: Minor-Kontor. Priemer, J., Krimmer, H., & Labigne, A. (2017). ZiviZ-Survey 2017: Vielfalt verstehen Zusammenhalt stärken. Essen: ZiviZ. Rudloff, M. (2017). „If we don’t organise for ourselvses, who else will?“ Geflüchtetenselb storganisationen und ihre Herausforderungen. In W. Schiffauer, A. Eilert, & M. Rudloff (Hrsg.), So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Aufbruch. Bedingungen für die nachhaltige Projektarbeit mit Geflüchteten. Eine Bilanz (S. 199–235). Bielefeld: transkript. Sauer, M., & Vey, J. (2018). Herausforderungen in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit. Zum Verhältnis von Geflüchteten und Unterstützergruppen. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 3(2017), 67–76. Schiefer, D. (2017). Wie gelingt Integration? Asylsuchende über ihre Lebenslagen und Teilhabeperspektiven in Deutschland. Berlin: SVR. Seethaler-Wari, S. (2018). urban planning for the integration of refugees: The importance of local factors. Urban Planning, 3(4), 141–155. Speth, R. (2018). Engagiert in neuer Umgebung. Empowerment von geflüchteten Menschen zum Engagement. Berlin: Maecenata Institut.

Maike Dymarz, M.Sc. Geografie, Schwerpunkt Stadt- und Regionalentwicklungsmanagement, ist aktuell als Quartierkoordinatorin bei der Stadt Bottrop tätig. Zuvor hat sie im Projekt „Engagiert in Vielfalt“ des Instituts für Kirche und Gesellschaft der Ev. Kirche von Westfalen weitreichende Kenntnisse zum ehrenamtlichen Engagement in der Flüchtlingshilfe Nordrhein-Westfalens erarbeitet. Sie ist Sprecherin des Regionalforums Ruhrgebiet im Deutschen Verband für Angewandte Geografie e.V. und setzt sich beruflich und privat für eine sozialverträgliche Stadt- und Quartiersentwicklung ein. Hannah Klinkenborg,  M.A. ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Exzellenzcluster „Religion und Politik“. Charlotte Weber, M.A. ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Exzellenzcluster „Religion und Politik“.

Praxiseinblick: Sozialraum, zivilgesellschaftliche/ehrenamtliche Arbeit im Feld der Migration und Flucht Sahra Camal

Zusammenfassung

Die „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 ist die nach dem zweiten Weltkrieg größte Fluchtbewegung in Europa. Von September 2015 bis Februar 2016 sind ca. 1,2 Mio. Menschen als asylsuchende Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. In diesem Beitrag wird versucht, Wissenschaft und Praxis miteinander zu verknüpfen, um die Integration im Sozialraum und ihre Verbindung zum zivilgesellschaftlichen Engagement zu verdeutlicht. Dazu gehören Flüchtlingsarbeit im Stadtteil, Nachbarschaft bzw. Quartiere. In diesem Beitrag steht die Rolle von Ehrenamt im Sozialraum im Bereich Flüchtling- bzw. Integrationsarbeit im Fokus. Schlüsselwörter

Ehrenamt · Sozialraum · Flüchtlingsarbeit · Integration · Ehrenamtliches Engagement · Ehrenamtsarbeit · Flucht

1 Einleitung Der politische Diskurs in Deutschland hat sich seit August 2015 besonders intensiv mit der immer noch andauernden Fluchtmigration beschäftigt. In deren Rahmen sind rund 1,5 Millionen Geflüchtete nach Deutschland gekommen, rund S. Camal (*)  Welcome Point 03/Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_27

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308.000 Menschen – zumeist aus Syrien, Afghanistan, Iran, Irak und Eritrea – davon nach NRW (BAMF 2016). Einerseits überforderten die zahlreichen Asylsuchenden teilweise die Ämter, die für die Registrierung, Aufnahme, Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten zuständig sind, andrerseits brauchten die neuen Nachbar_ innen Unterstützung, um sich in die für sie neue gesellschaftliche Struktur zu integrieren (Karakayali & Kleist 2016, S. 5). In Düsseldorf haben mehr als 30 % der Bevölkerung einen Migrationshintergrund und mit ca. 8000 Neuzugewanderten – seit dem Jahr 2015 – ist der Anteil der Migrant_innen in Düsseldorf im Vergleich zu seinen Nachbarstädten hoch (Blazejewski 2015).

2 Ehrenamtliches Engagement und die Integration im Sozialraum Vor allem im Bereich der Flüchtlingsarbeit hat unsere fünfjährige Praxiserfahrung bestätigt, dass die Integration im Sozialraum eine wichtige, aber unbeschriebene Verbindung mit zivilgesellschaftlichem Engagement vorweist. Konkreter: Ohne zivilgesellschaftliches Engagement ist Flüchtlingsarbeit kaum zu leisten und nicht vorstellbar. Dass die Integration kaum gelingen kann ohne „ehrenamtliches Engagement“, das eine bewusste Entscheidung voraussetzt, zeigt sich seit der neuen Fluchtbewegung – beginnend im Jahr 2015. Ehrenamtliches Engagement ist also ein grundlegendes Merkmal des Sozialraums. Wenn es um Integration im Bereich der Flüchtlingsarbeit in Bezug auf die Sozialräume geht, ist vor allem das Zusammenleben der Menschen in der Nachbarschaft relevant und damit können die wichtigsten gesellschaftlichen Kontakte für Geflüchtete ermöglicht, initiiert und gepflegt werden. Gemeint ist das Miteinander von Geflüchteten als sogenannte neue Nachbar_innen, alte Nachbar_ innen (Migrant_innen und Einheimische), Vereinen, Institutionen im Bereich Integration und sozial aktiven Akteuren usw. Zivilgesellschaftliches Engagement im sozialen Bereich ist nicht neu. Grundsätzlich engagierten sich schon immer Menschen, die mehr Freizeit hatten, und besonders Rentner_innen und Studierende. Vor allem Frauen haben in Ehrenamtsarbeit immer wieder bestätigt, dass sie eine unersetzliche Rolle im sozialen Bereich spielen (Karakayali und Kleist 2016, S. 13 ff.). Mit der Fluchtbewegung im Jahr 2015 hat sich diese Struktur verändert und es steigen zunehmend Männer ehrenamtlich in die Flüchtlingsarbeit ein (ebd., S. 11).

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Ehrenamtliches Engagement für Geflüchtete in Düsseldorf Das Ehrenamt im Bereich Flüchtlinge und Integration spielt in Düsseldorf eine entscheidende Rolle und spiegelt sich in der gesamten Integrationsarbeit wider. Auf Basis unserer 5-jährigen Praxiserfahrungen können wir feststellen, dass das Engagement der Ehrenamtler-innen in der Flüchtlingsarbeit einen großen Teil sozialer Arbeit abdeckt. So werden vor allem die Begleitung von Geflüchteten bei privaten und amtlichen Terminen, Übersetzungshilfen und die Unterstützung beim Ausfüllen von Formularen von Ehrenamtlichen geleistet. Hinzu kommen Beratungen vor allem in Sozialräumen, wie es Stadtteile oder Quartiere sind. Das heißt, die Ehrenamtler_innen begleiten Geflüchtete tagtäglich und manchmal ganze Tage hindurch, wodurch sie die Probleme und Herausforderungen, mit denen sich Geflüchtete im Alltag auseinandersetzen müssen, kennen, und zwar besser als hauptamtlich Tätige. Ehrenamtliche erleben nahezu hautnah, was die Geflüchteten erleben. „Seit 2014 engagieren sich Ehrenamtler*innen im Verein ‚Flüchtlinge willkommen in Düsseldorf.“ (Report-D. 2019). Ihre Hilfsangebote haben sich von der Erstausstattung und Vermittlung von Kleiderspenden zu einer umfassenden Beratung zur Integration und Vernetzung in Düsseldorf entwickelt. Aus der ganzen Stadt nutzen Geflüchtete das Angebot, das der Verein in seinem Welcome Center/Welcome Point anbietet (ebd.). Ehrenamtler_innen haben in Düsseldorf eine wichtige Arbeit in der Willkommenskultur geleistet. Seit im Jahr 2015 mehr Geflüchtete nach Düsseldorf kamen, haben sich die Einwohner_innen in Düsseldorf mehr und mehr für diese Neuankömmlinge engagiert. Anfangs gab es eine große gesellschaftliche Solidarität und eine aktive Unterstützung, da die Fluchtbewegung weltweit schockierte. Sowohl Einheimische als auch Migrant_innen haben sich in unterschiedlichen Arten und Formen eingebracht. Sie haben Übersetzungshilfe geleistet und konkret geholfen, wo es spontan wichtig war. Aber sie spendeten auch Kleidung für alle Altersgruppen und andere notwendige Dinge. Ebenfalls Fahrräder zählten zu den gespendeten Gegenständen. Es war selbstverständlich, dass für die Grundbedürfnisse der Geflüchteten Überlebensnotwendiges gespendet wurde und Hilfen für die ersten Zeiten in Düsseldorf gegeben wurden. Als Nächstes ging es vor allem darum, ihnen die für sie neue Kultur, Sprache und Umgebung bekannt zu machen, mit dem Ziel, sich in Deutschland, konkret in Düsseldorf, wohl zu fühlen (ebd.). Mit anderen Worten: Geflüchtete wurden hier in Deutschland willkommen geheißen und das Engagement bezog sich darauf, ihr „Fremd-Sein“ zu reduzieren. So hat das Ehrenamt mit seinem großen Engagement, geleitet auch vom Mitgefühl und Menschenverständnis im Rahmen der Willkommenskultur, eine große Leistung vollbracht.

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Obwohl zu Beginn in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit überwiegend Frauen aktiv waren, stieg die Anzahl der Männer in Düsseldorf an, sodass man unter den Ehrenamtlichen 60 % Männer findet. Die Ehrenamtler_innen sind entweder über 60 oder zwischen 20 und 35 Jahre alt. Das heißt, entweder sind sie Personen, die sich im Ruhestand befinden und mehr Freizeit haben, oder es handelt sich um Studenten_innen, die auch mehr Zeit haben oder während des Studiums andere Prioritäten setzen und zugleich Praxis-Erfahrung sammeln (Karakayali und Kleist 2016, S. 3 f.). In letzter Zeit steigt die Zahl der Ehrenamtler_innen, die selbst Geflüchtete sind, in der Flüchtlingsarbeit. Sie sind als Übersetzer_innen tätig oder geben wichtige Informationen weiter, die sie als Geflüchtete selbst erworben haben. Bei der Arbeit im Verein werden mehr als 50 % der Vereinsarbeit in den Sozialräumen, also Stadtteilen und Quartieren, durch Geflüchtete übernommen, die noch im Ehrenamt aktiv sind. Deren Arbeit ist einerseits eine Bereicherung und Erleichterung für die Akteure in der gesamten Flüchtlingsarbeit, da ihnen Kultur und Sprache der Neuankömmlinge bekannt sind. Zugleich benötigt diese Gruppe von Ehrenamtler_innen mehr Unterstützung und Schulung, als es Einheimische brauchen, da sie sich im deutschen System nicht gut auskennen und somit in der Zusammenarbeit mit Behörden und deren Funktionen der Hilfe befürfen. Das Ehrenamt Geflüchteter ist ein wirksamer Baustein in der Integrationsarbeit. Zugleich ist es nicht nur nützlich für die Neuankömmlinge und deren Integration, sondern auch für die weitere Integration derer, die aktiv sind. Geflüchtete lernen durch ihre Arbeit, ihr Engagement, wie sie sich in der Gesellschaft integrieren. Integration definiert sich in diesem Verständnis nicht nur aus Sicht der Geflüchteten, sondern auch aus Sicht der Einheimischen. So können hier beide Seiten voneinander lernen und Integration läuft quasi durchs Tun („Learning by doing“). Integration ist hier als Beziehungsarbeit aufzufassen und auf zweiseitiges Tun angelegt.

3 Kooperationen Für die Arbeit im Sozialraum ist eine Kooperation mit den Integrationsagenturen und Migrationsberatungsstellen der Verbände dringend notwendig. Gemeinsame Tagungen oder regelmäßige Fortbildungen bezüglich sozialer Themen können die Arbeit von Ehrenamtler_innen in Sozialräumen erleichtern und gleichzeitig qualifizieren. Das heißt, ein ehrenamtliches Engagement ist aktives Engagement, das nicht vom „Hauptamt“ getrennt denkbar und

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d­ urchführbar ist. Wie haupt- und ehrenamtliche miteinander umgehen (sollten), sollte thematisch einen wichtigen Stellenwert erhalten. Nur wenn der Umgang miteinander gut gelingt und man die unterschiedliche Fachlichkeit respektiert und gewinnbringend koordiniert, wird Integration in dieser Weise und in diesen Feldern gelingen. Im Welcome Center/Welcome Point 03 von „Flüchtlinge willkommen in Düsseldorf“ arbeiten und engagieren sich Hauptamt, Ehrenamt und Geflüchtete gemeinsam. Die Beratung, Vermittlung und Vernetzung stehen im Mittelpunkt der Arbeit. Dabei reicht das Angebot von Rechtsberatung im Asylrecht über Beratung für Schule, Beruf oder Selbstständigkeit, Hilfe bei der Wohnungssuche bis hin zu Sprachcafés und Frauengesprächskreisen. Dass hauptamtliche Sozialarbeiter_innen und Verwaltungsmitarbeiter_innen vom Ehrenamt lernen können, wo „den Flüchtlingen der Schuh drückt“ und wie man mit ihnen angemessen umgehen kann, ist anzuerkennen und anzunehmen. Dagegen kann das Ehrenamt lernen, wie professioneller Umfang mit Klienten_ innen aussehen kann, welche Regeln zu beachten sind und welche Rechte es gibt. Durch Arbeit mit Migrantenorganisationen können Akteure in Sozialräumen zum Themenbereich soziokulturelle Hintergründe von Geflüchteten lernen. Wichtig ist es aber auch, seine eigenen Grenzen wahrzunehmen und zu erkennen, wo die eigene Professionalität nicht mehr reicht und wo Aufgaben abzugeben sind.

4 Fazit Die Ehrenamtsarbeit ist eine vielfältige Arbeit, bei der die gute Information eine der größten Rollen spielt. Auf Basis unserer Praxisarbeit kann festgestellt werden, dass Beteiligte in diesem Feld massive Informationsdefizite aufweisen. Diese Lücke kann nur durch strukturierte Schulungen im Rahmen der Arbeit im Sozialraum geschlossen werden. Das Miteinander von Haupt- und Ehrenamtlichen hinsichtlich der Integration war/ist immer noch eine der wichtigsten Herausforderungen in diesem Bereich.

Literatur BAMF. (2016). Das Bundesamt in Zahlen. https://www.bamf.de/SharedDocs/ Anlagen/DE/Statistik/BundesamtinZahlen/bundesamt-in-zahlen-2016.pdf?__ blob=publicationFile&v=16. Zugegriffen: 2. Nov. 2019. Blazejewski, I. (2015). Migranten-Anteil ist in Düsseldorf höher als in Duisburg. Westdeutsche Allgemeine Zeitung. https://www.waz.de/staedte/duisburg/migranten-anteilist-in-duesseldorf-hoeher-als-in-duisburg-id11390643.html. Zugegriffen: 25. Feb. 2020.

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S. Camal

Karakayli, S., & Kleist, J. O. (2016). EFA-Studie 2. Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit (EFA) in Deutschland, 2. Forschungsbericht: Ergebnisse einer explorativen Umfrage vom November/Dezember 2015. Berlin: Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Humboldt- Universität zu Berlin 2016. Report-D (2019): Hilfe zur Integration durch den Verein „Flüchtlinge willkommen in Düsseldorf“. https://www.report-d.de/Duesseldorf/Aktuelles/Hilfe-zur-Integrationdurch-den-Verein-Fluechtlinge-willkommen-in-Duesseldorf-121145. Zugegriffen: 14. Feb. 2020.

Sahra Camal, M.A. ist Soziologin und zurzeit PhD Studentin an der Universität Duisburg- Essen. Sie ist Dozentin an der Universität bzw. Hochschule und Trainerin in der Erwachsenenbildung. Sie koordiniert seit 2019 den welcome Point 03 in Düsseldorf. Zurzeit verfasst sie ihre Dissertation mit Fokus auf Flucht, Bildungsintegration, Konstruktion des Wissens und Wirklichkeit von neuzugewanderten bzw. Geflüchteten. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wissenssoziologie, Fluchtforschung und Transnationalisierung.

Teil VII Sozialräumliche Integration: Ein handlungsfeldübergreifendes Modell

Ein sozialräumliches Integrationsmodell. Chancen und Herausforderungen aus den zentralen Perspektiven des Sozialraums und der Inanspruchnehmenden Lisa Scholten, Simone Rehrs, Katja Jepkens, Anne van Rießen und Ulrich Deinet Zusammenfassung

Soziale Integration erfolgt vor allem im Sozialraum, während auf Integration zielende Prozesse in Kommunen zentral gesteuert werden. Ein intermediärer Akteur im Sozialraum kann den komplexen Prozess der Integration optimieren, indem er auf Ebene des Stadtbezirks angesiedelt ist und für die Vernetzung vor Ort sowie die Anbindung an die Gesamtstadt sorgt. Diesen Lösungsansatz hat die Landeshauptstadt Düsseldorf verfolgt und mit den ‚Welcome Points‘ ein sozialräumliches Instrumentarium zur Steuerung und

L. Scholten (*) · S. Rehrs · K. Jepkens · A. van Rießen · U. Deinet  Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Rehrs E-Mail: [email protected] K. Jepkens E-Mail: [email protected] A. van Rießen E-Mail: [email protected] U. Deinet E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Jepkens et al. (Hrsg.), Integration im Sozialraum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8_28

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Koordination von Integrationsbestrebungen eingerichtet. Im Rahmen des Forschungsprojektes INTESO wurden die Potenziale dieser intermediären Akteure für den Integrationsprozess untersucht, indem der Wandel der lokalen Bearbeitung von Migration und Integration in Düsseldorf aus Sicht beteiligter Akteur_innen rekonstruiert und die verschiedenen Perspektiven darauf eingeordnet wurden. Das Ergebnis, die Modellierung eines sozialräumlichen Integrationsmodells mit Implikationen auch für den Einsatz in anderen Kommunen, steht in diesem Beitrag im Fokus. Schlüsselwörter

Integration · Sozialraum · Organisationsmodell · Intermediärer Akteur · Geflüchtete

1 Einleitung Im Zuge der Migrationsbewegung seit 2015 und der damit verbundenen Aufnahme von Geflüchteten stellt sich verstärkt die Frage, wie sich der gesamtgesellschaftliche Prozess der Integration im komplexen (politischen) Mehrebenensystem umsetzen lässt. Mit dem Ziel, Zuwanderung als Chance sichtbar zu machen, und mit einer Perspektive, welche vor allem die Beteiligten und ihre Alltags- und Lebenswelt berücksichtigt, wurde im Rahmen des Projektes ‚INTESO – Integration im Sozialraum‘ ein sozialräumliches Integrationsmodell entwickelt, das aufzeigt, wie – durch die Einführung eines intermediären Akteurs1 im Sozialraum – Integrationsprozesse nicht länger von oben herab geplant, sondern gemeinsam mit den Akteur_innen vor Ort gestaltet werden können. Bevor in diesem Beitrag das sozialräumliche Integrationsmodell erläutert wird, werden die zugrunde liegenden Perspektiven, Begrifflichkeiten und Prämissen des Modells sowie seine empirische Grundlage und die zugrunde liegenden Auswertungskriterien dargelegt. Der Beitrag schließt mit Empfehlungen und einem Fazit zur Übertragbarkeit des Modells.

1In

Anlehnung an die in Düsseldorf untersuchten ‚Welcome Points‘ wird der Begriff des intermediären Akteurs in diesem Beitrag ausschließlich in der männlichen Form verwendet.

Ein sozialräumliches Integrationsmodell …

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2 Grundlagen Im Fokus des vorliegenden Integrationsmodells steht der Integrationsprozess im Rahmen des vermehrten Zuzugs von Geflüchteten seit 2015. Der darin mehrperspektivisch verwendete Begriff der Integration versteht sich in Orientierung am Begriff der Sozialintegration nach Esser (2001), berücksichtigt aber auch – in Anlehnung an den Begriff der Inklusion – den Umstand, dass neben den individuellen Integrationsbestrebungen von Geflüchteten die Aufnahmegesellschaft gefordert ist, Zugänge zur Gesellschaft zu schaffen und systemische Barrieren abzubauen, die eine gleichberechtigte soziale, ökonomische, politische und kulturelle Teilhabe verhindern (vgl. Bommes 2011 oder auch Böhmer in diesem Band). Der Prozess der Integration wird somit im Weiteren als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden und ist aufgrund der Relevanz für alle Lebensbereiche nur als Querschnittsaufgabe möglich (vgl. Bundesregierung 2012, S. 102). Es erweist sich dabei als hilfreich, die Situationen in den Blick zu nehmen und somit Probleme nicht im Individuum zu verorten und zu behandeln, sondern zu reflektieren, dass solche Probleme auf gesellschaftliche und soziale Fragen verweisen (Verhältnis- statt Verhaltensproblematisierung). Die zugrunde liegende Analyse des komplexen Integrationsprozesses beleuchtet auch das Zusammenspiel von individuellen und kollektiven Aspekten. Gerade hierbei ist der Sozialraum2 relevant für die Integration, da er als „Lebensund Aktionsraum“ (Deinet 2007) der Einzelnen fungiert, was u. a. bedeutet, dass alltägliche Aufgaben primär vor Ort – also im Sozialraum – erledigt werden und dabei Begegnungen, Kommunikation und Interaktion stattfinden (Grundwald und Thiersch 2004). Gleichsam wird der Sozialraum als ein „Lern- und Sozialisationsraum“ angesehen, der eng mit sozialisationsrelevanten Effekten verbunden ist (Mardorf 2006). Darüber hinaus wird er auch als „Gestaltungsraum“ verstanden, der von Menschen geprägt und in weiten Bereichen aktiv beeinflussbar ist (Löw 2001). Hinzu kommt, dass ein relevanter Zusammenhang zwischen Sozial- bzw. Lebensräumen auf der einen Seite und subjektiven wie strukturellen sozialen Chancen und Risiken auf der anderen Seite besteht (vgl. Riege 2007).

2Der

Sozialraum – in Anlehnung an Kessl und Reutlinger (2010) – ist als „relationaler“ Raum zu verstehen und bezieht sich auf kleinräumige Ebenen, welche je nach Ausgangslage Quartiere, Stadteile oder auch Dörfer sein können.

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Neben der Bedeutung für die Bewohner_innen und Akteur_innen vor Ort nimmt die sozialräumliche Ebene aber ebenso für kommunale – etwa gesamtstädtisch agierende – Akteur_innen eine wichtige Rolle ein, vor allem bei komplexen Prozessen, die verschiedene Ebenen der Politik und Verwaltung betreffen. Hier lässt sich auch der Ausgangspunkt für das Potenzial von sozialräumlich verankerten kommunalen Integrationsmaßnahmen verorten, an dem das Integrationsmodell ansetzt: Während versucht wird auf Integration zielende Prozesse auf Ebene der Gesamtkommune zu steuern, findet (soziale) Integration vor allem im Sozialraum statt (Bundesregierung 2012, S. 18). Dabei besteht die Annahme, dass die notwendige Abstimmung und Kommunikation zwischen der Gesamtstadt und dem Sozialraum mit seinen jeweiligen Akteur_innen nicht zuverlässig gelingen, da auf kommunaler Ebene kein Überblick über die gesamte Landschaft integrationsrelevanter Bedarfe, Angebote und Akteur_innen „vor Ort“ besteht (vgl. Rucht 1993; Scharpf 2000, S. 286 ff.). Das sozialräumliche Integrationsmodell schlägt deshalb die Einbettung eines intermediären Akteurs im Sozialraum vor, der diese „strukturelle Lücke“ des Mehrebenensystems schließt und Integrationsprozesse im Sozialraum mit den Beteiligten vor Ort ausgestaltet. In Anlehnung an Rucht (1993, S. 256) wird im Folgenden ein intermediärer Akteur als Bindeglied zwischen verschiedenen Ebenen verstanden, welcher Interaktions- und Kommunikationsräume miteinander verbindet, indem er nicht nur vermittelnd wirkt, sondern auch selber die Kommunikation mit allen beteiligten Akteur_innen entwickelt. Die Verbindungen bestehen hierbei sowohl auf der horizontalen Ebene – d. h. zu den Personen und Institutionen innerhalb des Sozialraums – als auch auf der vertikalen Ebene entlang der verschiedenen politischen Handlungsebenen, wozu auch jene der kommunalen/städtischen Ebene gehören. Um alle individuellen und kollektiven Akteur_innen(-Gruppen) miteinander verbinden zu können, ist es von Relevanz, dass der intermediäre Akteur hierbei im Sinne einer Handlungs- und Kommunikationsplattform offen und zugänglich als auch flexibel und multifunktional ist (vgl. Jarren und Donges 2011, S. 120). Nachdem bis zu dieser Stelle die dem Modell zugrunde liegenden Perspektiven und Begrifflichkeiten dargestellt worden sind, folgt zunächst eine Beschreibung der Datengrundlage sowie der Auswertungsmethoden, auf denen die Ergebnisse des Modells basieren.

Ein sozialräumliches Integrationsmodell …

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3 Daten und Auswertungsmethoden Das entwickelte sozialräumliche Integrationsmodell basiert auf den empirischen Daten, die im Rahmen des Forschungsprojektes INTESO3 erhoben wurden, sowie den forschungsbegleitenden Erkenntnissen der kontinuierlichen Rückkopplung und Diskussion der Ergebnisse mit Akteur_innen aus Wissenschaft und Praxis. Der multimethodische Forschungsansatz umfasst primär qualitative Methoden, bezieht jedoch auch quantitative Daten ein. Zu den qualitativen Methoden zählen Dokumentenanalysen, leitfadengestützte Expert_inneninterviews, Gruppendiskussionen, Workshops sowie sozialräumliche Analyse- und Beteiligungsmethoden (mit Funktionsträger_innen aus Verwaltung und Politik, Mitarbeitenden der ‚Welcome Points‘, pädagogischen Fachkräften aus der Sozialen Arbeit insbesondere aus dem Flucht- und Migrationsbereich, mit Ehrenamtlichen sowie Personen mit Fluchterfahrungen selber). Ergänzt wurden die qualitativen Erhebungen um eine stadtweite quantitative Online-Befragung mit haupt- und ehrenamtlichen Personen. Forschungsbegleitend wurden zudem die Ergebnisse kontinuierlich validiert und diskutiert, u. a. im Rahmen von Fachtagungen (mit Personen aus der Wissenschaft), Praxistagen (mit haupt- und ehrenamtlichen Praktiker_innen aus unterschiedlichen Kommunen und den untersuchten Sozialräumen) sowie einem Dialogforum (mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Fluchterfahrung). Durch die umfangreichen Methoden konnten vielschichtige, unterschiedliche Perspektiven einbezogen werden. Die Datengrundlage, erhoben im Projektzeitraum von 2016 bis 2019, wurde im Jahr 2019 für die Erstellung des sozialräumlichen Integrationsmodells erneut in der Zusammenschau betrachtet. Dabei standen folgende forschungsleitende Fragestellungen im Fokus: 1) Welche Aspekte hinsichtlich der Bedarfe im Sozialraum sowie im Hinblick auf die Umsetzung und Wirksamkeit von Integrationsbestrebungen und -angeboten werden thematisiert? Diese Aspekte ergeben, nach einer abschließenden Bewertung und thematischen Sortierung, die idealtypischen Bestandteile eines intermediären Akteurs im Sozialraum, welche unterschiedliche Ausprägungen annehmen können, da sich die Gegebenheiten in den jeweiligen Sozialräumen unterscheiden.

3Zu

den Ergebnissen im Einzelnen vgl. die Working Paper I bis V des INTESO Projektes.

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2) Unter welchen spezifischen Bedingungen und Gegebenheiten treten die jeweiligen Ausprägungen auf und welche Vor- und Nachteile weisen sie im Vergleich zu anderen Ausprägungen auf? Hier deutet sich bereits an, dass das sozialräumliche Integrationsmodell nicht eine einzige Best-Practise-Lösung bieten kann, sondern eine Sammlung von verschiedenen Gestaltungsformen für einen intermediären Akteur beinhaltet, die dazu inspiriert, stets die Bedingungen und Gegebenheiten des konkreten Sozialraums und der Inanspruchnehmenden zu fokussieren (im Sinne von aktiven Subjekten als Nutze_innen, vgl. auch van Rießen und Jepkens 2020; Schaarschuch und Oelerich 2020; Oelerich und Schaarschuch 2005). Somit orientiert sich das Integrationsmodell an den Ressourcen, Potenzialen, Herausforderungen sowie Akteur_innen des jeweiligen Sozialraums und den jeweiligen Inanspruchnehmenden sowie deren Zusammenhängen.

4 Das sozialräumliche Integrationsmodell Das Integrationsmodell ist als Organisationsmodell – im Sinne einer Anleitung und eines ‚Baukastens‘ – zur Einrichtung eines intermediären Akteurs im Sozialraum – zu verstehen. Folgend werden die empiriebasierten Bestandteile – mit ihren jeweils dazugehörigen Ausprägungen – anhand der drei Bereiche: 1) Rahmenbedingungen, 2) Konzept sowie 3) Vernetzung zusammengefasst dargestellt, wobei sich die Bereiche ‚Rahmenbedingungen‘ und ‚Konzept‘ auf die interne, und der Bereich ‚Vernetzung‘ auf die externe Ausgestaltung des intermediären Akteurs beziehen. Dementsprechend werden anstelle einer Best-Practice-Lösung Vor- und Nachteile der jeweiligen Ausrichtung und präferierten Teilaspekte sowie deren Zusammenhänge genannt. Ergänzend werden – exemplarisch – konkrete Praxisbeispiele aus den untersuchten Düsseldorfer Sozialräumen angeführt, um zu veranschaulichen, welche Kombinationen unter welchen Voraussetzungen möglich und sinnvoll oder auch eben nicht möglich oder nicht sinnvoll sind.

4.1 Rahmenbedingungen Zunächst sind unter dem Bereich ‚Rahmenbedingungen‘ jene Bestandteile des Modells zusammengefasst, welche für eine zielführende Umsetzung der Integration durch einen sozialräumlichen intermediären Akteur bedacht werden sollten.

Ein sozialräumliches Integrationsmodell …

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Bezüglich der institutionellen Anbindung kommen folgende drei Möglichkeiten in Betracht: a) Anbindung in freier Trägerschaft, b) Anbindung an die Kommune, c) Selbstverwaltung durch eine_n (sozialräumliche_n) Akteur_in. Als freie Träger kommen in erster Linie Wohlfahrtsverbände infrage. Sie können die Vorteile mit sich bringen, dass sie über Strukturen und Know-how bei der Rekrutierung, Einbindung und Organisation von Ehrenamt verfügen und den Geflüchteten Anschluss an ihre anderen Angebote – außerhalb der Arbeit mit Geflüchteten und darüber hinausgehend – bieten. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie schon als Akteur_in im jeweiligen Sozialraum tätig sind. Intermediäre Akteure in freier Trägerschaft sind jedoch zugleich immer auch den partikularen Interessen ihrer jeweiligen Träger verpflichtet. Diese Träger sind in der Regel abhängig von staatlichen Fördermitteln und können untereinander in Konkurrenz stehen, was die konstruktive Zusammenarbeit und Kommunikation untereinander hemmen, zu Doppelstrukturen bei den Angeboten führen sowie die Evaluierung und Steuerungsfähigkeit seitens Verwaltung und Politik einschränken kann. Ist der intermediäre Akteur an eine kommunale Stelle – wie z. B. an eine Bezirksverwaltungsstelle – angebunden, ist u. U. aus kommunaler Perspektive eine bessere Steuerungs- und Kommunikationsstruktur möglich, bei in freier Trägerschaft befindlichen oder ggf. selbstverwalteten intermediären Akteuren muss die Kommune festlegen – in Form von Aushandlungen –, wie die Erwartungen umgesetzt werden können. Die Standortfrage ist ein weiterer Punkt, der einen entscheidenden Einfluss auf die Integrationsarbeit nimmt. Relevant sind: a) ein zentraler Standort im Sozialraum, b) mehrere dezentrale Standorte im Sozialraum, c) die Anbindung an vorhandene Institutionen bzw. Angebote oder auch die Integration in solche vorhandenen Strukturen im Sozialraum. Die empirischen Analysen machen deutlich, dass es wichtig ist, dass sich der intermediäre Akteur vor Ort – also im Stadtbezirk selber – befindet; daher sind Standorte aus der Perspektive der Gesamtkommune dezentral zu wählen. Sozialräumlich gedacht, ist ein zentraler Standort des intermediären Akteurs – im Sinne von gut erreichbar innerhalb des Sozialraums – essenziell für die Inanspruchnahme der Nutzer_innen. Als Kriterium für einen zentralen Standort ist eine gute

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Anbindung an das System des öffentlichen Personennahverkehrs zu nennen, worunter Verkehrsknotenpunkte mit hohen Taktfrequenzen der Verkehrslinien fallen. Als immer erreichbare und barrierearme Ergänzung zum intermediären Akteur im Sozialraum kann ein virtueller Standort in Form einer Webseite oder App in Betracht kommen, die alle Integrationsangebote im Sozialraum auflistet. Ein Standort des intermediären Akteurs in räumlicher Nähe zu vorhandenen Institutionen oder sogar die Integration in diese bestehenden Angebote ermöglicht die Zusammenarbeit verschiedener Integrationsfelder und erleichtert die Vernetzung der Akteur_innen vor Ort bzw. ermöglicht bei der Integration in vorhandene Institutionen eine größere Bandbreite der Angebote. Dadurch können sich Vorteile beim Erreichen der Geflüchteten ergeben, falls sie die vorhandenen Institutionen bereits kennen und dadurch die weiteren Angebote des intermediären Akteurs kennen lernen. Darüber hinaus entstehen Möglichkeiten, dass Geflüchtete und Nicht-Geflüchtete zusammenkommen, die für die Integration und Akzeptanz förderlich sein können. Im negativen Fall kann es durch das Einbeziehen der Geflüchteten jedoch zu einer Verdrängung anderer Zielgruppen der Institutionen kommen. Ein weiterer Aspekt der institutionellen Rahmenbedingungen ist die personelle Ausstattung des intermediären Akteurs, wobei unterschieden werden kann in: a) hauptamtliche Mitarbeiter_innen, b) ehrenamtliche Mitarbeiter_innen. Es zeigt sich, dass die intermediären Akteure nicht immer ausreichend personelle Ressourcen zur Verfügung haben, um ihren Ansprüchen an Integration gerecht zu werden. Um Qualitätsstandards einzuhalten, bedarf es genügend Personal, etwa für Öffnungszeiten, die sich an den Bedürfnissen der Zielgruppe orientieren. Darüber hinaus ist es relevant, dass das Personal fachliche Kompetenzen und methodisches Wissen vorweisen kann, dazu zählen hier insbesondere interkulturelle Kompetenzen und das entsprechende Wissen über die jeweiligen Zielgruppen, Wissen über gesellschaftliche Rahmenbedingungen, wie etwa das System und Angebote in der Aufnahmegesellschaft, sowie Kenntnisse über die stadtweiten und vor allem sozialräumlichen Netzwerke und Akteur_innenkonstellationen. Zudem ist es vorteilhaft, wenn das Personal im Sozialraum bekannt ist, Transparenz über die Vorgänge des intermediären Akteurs im Sozialraum schafft und „kurze Wege“ ermöglicht. Mittel- oder langfristige Verträge schaffen Planungssicherheit für das Personal, was die Möglichkeiten zur Netzwerkarbeit und die Qualität der Vernetzung verbessern kann. Es empfiehlt sich dabei, jene Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren wollen, miteinzubeziehen. Diese sollten spezifische Aufgaben erfüllen, die insbesondere auf ihre

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sozialräumlichen Kenntnisse und auf Beziehungsarbeit ausgerichtet sind (bspw. Lots_innen, Pat_innen), und Möglichkeiten der Qualifizierung und Reflexion in Anspruch nehmen können. Neben der institutionellen Anbindung und dem Standort gehört auch die Bezeichnung des intermediären Akteurs zu den Stellschrauben, die auf institutioneller Ebene den Rahmen für seine Integrationsarbeit liefern, wobei folgende Varianten aus den empirischen Analysen hervorgehen: a) Anpassung an die jeweilige Zielgruppe, b) (zielgruppen-)offener Name, c) Bezug zum Sozialraum, d) einheitliche Bezeichnung. Die Bezeichnung des intermediären Akteurs im Sozialraum kann sich an der jeweiligen Zielgruppe orientieren und dies im Namen widerspiegeln oder aber zielgruppenoffen sein – wie z. B. der Name ‚Welcome Point‘. Daneben können entweder alle intermediären Akteure einen einheitlichen Namen tragen oder in ihrem Namen jeweils einen Bezug zum Sozialraum herstellen. Die Frage nach dem Namen eines intermediären Akteurs, der sich an die jeweilige Zielgruppe anpasst, ist verknüpft mit der Diskussion, welche Zielgruppen die Einrichtung anspricht. Hierbei kann es sich z. B. um die enger gefasste Gruppe der Geflüchteten handeln, darüber hinausgehend um alle Personen mit Migrationshintergrund oder sogar sämtliche Bewohner_innen des Sozialraums (s. u. ‚Zielgruppen‘). In dem Zusammenhang wird empfohlen, Integration und die Zielgruppe des intermediären Akteurs weiter zu fassen und nicht nur Geflüchtete in den Blick zu nehmen. Damit rückt eine zielgruppenoffene Bezeichnung des intermediären Akteurs in den Vordergrund. Die Vorteile eines zielgruppenoffenen Namens ergeben sich zum einen durch den erweiterten Adressat_innenkreis und die damit möglicherweise einhergehenden Synergieeffekte durch den Wegfall gleicher Angebote für unterschiedliche Zielgruppen; zum anderen entspricht ein zielgruppenoffener Name dem Wunsch der Geflüchteten, nicht nur als jene wahrgenommen zu werden, die „geflüchtet sind“, sondern Kontakte außerhalb der Gruppe der Geflüchteten aufzubauen. Sind die Angebote offen für alle, wirken sie somit integrationsfördernd und schließen keine Personen(-Gruppen) aus. Durch die Zielgruppenvielfalt kann zudem eine größere Bandbreite an Angeboten gemacht werden. Die Heterogenität der Zielgruppen kann sich dann aber wiederum als nachteilig erweisen, wenn die Angebote den unterschiedlichen Bedürfnissen der Zielgruppen nicht mehr gerecht werden. Aus diesem Grunde ist auf ein ausgewogenes Angebot

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zu achten, welches einerseits exklusive, speziell auf die Zielgruppen zugeschnittene Angebote als auch andererseits zielgruppenübergreifende Angebote umfasst.

4.2 Konzept Unter dem zweiten internen Bereich ‚Konzept‘ lassen sich weitere Bestandteile und Ausprägungen subsumieren, welche insgesamt in einem engen Zusammenhang stehen und sich an vielen Stellen gegenseitig bedingen. Zunächst ist abzuwägen, welche Organisationsform(en) der intermediäre Akteur haben soll. Hierbei sind die Ausprägungen: a) Verweisen, was bedeutet, dass Inanspruchnehmende informiert und, wenn möglich, beraten und an entsprechende Einrichtungen (je nach Anliegen, u. a. Hilfe-, Dienstleistungs-, Bildungs- oder Freizeiteinrichtungen) verwiesen werden, und b) Lotsen, was darüber hinaus noch, bei Bedarf, die jeweilige persönliche Begleitung des Prozesses (bzw. zu weiterführenden Einrichtungen) bedeutet, zu unterscheiden. In der gegenwärtigen Praxis wird vor allem das Lots_innensystem präferiert, bekannt auch als „Pat_innensystem“. Von Vorteil ist hierbei, dass eine enge und persönliche Betreuung stattfindet. Durch die Begleitung zu Angeboten und/oder Anlaufstellen wird zudem gewährleistet, dass Personen die weiteren Angebote vorläufig erreichen und somit der Zugang niederschwelliger wird. Des Weiteren sind Organisationsansätze zu unterscheiden, wobei die möglichen Ausprägungen folgende sind: a) der integrative Ansatz, was bedeutet, dass der intermediäre Akteur als eine Art „Plattform“ fungiert, auf der Angebote von externen Personen und/oder Institutionen stattfinden, bspw. würden Räumlichkeiten bereitgestellt, aber selber keine Angebote gemacht, b) eigene Angebote, worunter verstanden wird, dass der intermediäre Akteur selber Angebote organisiert und durchführt. In der Praxis bewähren sich beide Ansätze, wobei der zweite Ansatz dem intermediären Akteur einen größeren Handlungsspielraum ermöglicht. Um die Vorteile beider Ansätze zu nutzen (bspw. bei a) geringerer Einsatz von Ressourcen und bei b) Gestaltungsspielraum), wäre ihre Kombination förderlich.

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Für die konzeptionelle Ausgestaltung ist es gleichermaßen entscheidend, welche Ziele sowie Zielgruppen ausgewählt werden. Das Ziel des intermediären Akteurs ist die soziale Integration (Esser 2001), zu der verschiedene Aspekte zählen, die sich gegenseitig ergänzen: a) Kulturation, b) Platzierung, c) Interaktion, d) Identifikation. Primär hat der Akteur die Aufgabe, den gesamtgesellschaftlichen Prozess der sozialen Integration zu unterstützen. Dazu gehört einerseits, zu integrierende Personen in allen Bereichen zur Integration zu befähigen und sie somit in ihren individuellen Integrationsbestrebungen zu stärken. Zum anderen zählt auch dazu, die ansässige Bevölkerung auf die veränderten Bedingungen einer offenen, multikulturellen Gesellschaft vorzubereiten und sie in den Integrationsprozess einzubeziehen. Ansonsten kann Integration im Sinne eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses nicht gelingen. Zugleich sollte die Auswahl der Zielgruppen bedacht werden, wobei hier unterschieden werden kann zwischen: a) Personen im Sozialraum (bezieht alle Personen ein, welche im Sozialraum agieren), b) Bewohner_innen des Sozialraums, c) institutionellen Akteur_innen des Sozialraums (bspw. Einrichtungen, Institutionen, Organisationen), d) Menschen mit Migrationshintergrund, e) Menschen mit Fluchthintergrund, f) Menschen aus der gesamten Stadtgesellschaft. Deutlich wird, dass sowohl räumliche Merkmale eine Rolle spielen können – z. B. indem sich die Zielgruppe auf den Sozialraum beschränkt oder das gesamte Stadtgebiet mit einbezieht – als auch personen- und/oder migrationsspezifische Merkmale die Zielgruppe bestimmen können – etwa dahin gehend, ob es sich um einen Zuzug allgemein, um internationale Migration oder einen Zuzug mit Fluchthintergrund handelt. Bei der Frage nach der Zielgruppe empfiehlt es sich, die Perspektiven des Sozialraums und der (möglichen) Inanspruchnehmenden zu fokussieren. So sind Angebote u. a. nach den Interessen, Bedarfen, Nutzen und dem Gebrauchswert der Personen

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und institutionellen Akteur_innen vor Ort auszurichten. Für das vorliegende Modell stand die Zielgruppe der Personen mit Fluchthintergrund im Vordergrund. Generell ist zu beobachten, dass ein integrativer Ansatz (s. o.) und eine möglichst breit aufgestellte Zielgruppenausrichtung die Integration fördern, wobei auch vereinzelte ‚exklusive‘ Angebote für spezifische Zielgruppen positive Effekte haben. So können zusätzliche Angebote, die sich beispielsweise nur an Kinder oder Mädchen mit Fluchterfahrung richten, dieser Gruppe einen geschützten Raum für besondere Bedarfe bieten. Wichtig ist jedoch, dass spezifische Zielgruppenausrichtungen nicht defizitorientiert sind und sich auf das spezifische jeweilige Thema bzw. Interesse beziehen. Die empirischen Analysen zeigen auf, dass es sich in der Praxis als erfolgreich herausstellt, wenn möglichst zielgruppenoffen agiert wird und zudem zusätzlich spezielle Angebote für einzelne Zielgruppen angeboten werden. Ein weiterer Bestandteil des sozialräumlichen Integrationsmodells sind die Inhalte (siehe auch Abb. 1), welche sich für die untersuchte Personengruppe der Menschen mit Fluchthintergrund unterscheiden lassen in: a) Wohnen und Unterbringung (u. a. Eingliederung in das Wohnungssystem, bspw. Unterstützung bei der Wohnungssuche), b) Schule und (formelle und informelle) Bildung (u. a. Eingliederung in das Schulsystem, bspw. Hilfe beim Spracherwerb), c) Ausbildung, Arbeitsmarkt und Qualifizierung (u. a. Eingliederung in das Ausbildungs- und Arbeitsmarktsystem, bspw. Berufsberatung), d) Zivilgesellschaft (u. a. Förderung von sozialem Austausch und Kontakt, bspw. Freizeitgestaltung). Je nach Inhalt sind verschiedene Aufgaben zu erfüllen, welche unterteilt werden in: a) Integration, b) Begegnung und Austausch, c) Vernetzung, d) Organisation des Ehrenamtes. Generell ist zu überlegen, ob der intermediäre Akteur möglichst umfänglich (alltägliche) inhaltliche Themen und Aufgabenfelder abdecken oder ob er sich auf einzelne Inhalte und Aufgaben konzentrieren soll. Auch dies ist in Abhängigkeit zu den Ressourcen und Bedarfen des Sozialraums und der Inanspruchnehmenden auszuhandeln.

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Abb. 1   Themenbereiche (exemplarisch) und Vernetzung auf der sozialräumlichen und kommunalen/(über)regionalen Ebene (Eigene Darstellung)

Daneben gilt es, sich mit den Arbeitsprinzipien zu befassen, welche umgesetzt werden sollten. Als relevante Prinzipien wurden sichtbar: a) Partizipation4, im Sinne einer „echten Beteiligung“ von (potenziell) Inanspruchnehmenden,

4Unter

Partizipation wird hierbei verstanden, dass alle Akteur_innen umfangreich an der Ausgestaltung der Rahmenbedingungen, der Festlegung von Inhalten sowie deren Umsetzung zu beteiligen sind bzw. ihnen die Möglichkeit dieser Beteiligung gegeben werden sollte. Ausgeschlossen werden sollen hierbei Partizipationsbeschränkungen aufgrund von vorab als relevant bewerteten Inhalten und Themen sowie bestimmte Personengruppen, welche – aufgrund vermeintlicher Beteiligungsintensivität – als nicht ausreichend ‚partizipationsfähig‘ erklärt werden (vgl. van Rießen und Bleck 2020, S. 46 f.).

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b) Inklusion, im Sinne der Einbeziehung möglichst aller Personengruppen und des Abbaus von strukturellen institutionellen Begrenzungen und Barrieren der Inanspruchnahme. In der Praxis zeigt sich, dass beide Prinzipien relevant und auf alle Inanspruchnehmenden sowie den Sozialraum zu übertragen sind. So ist es wichtig, dass (potenzielle) Nutzer_innen in die Gestaltung von Angeboten einbezogen werden – sowohl bei der Planung als auch ggf. bei der Durchführung – und die Bedürfnisse kontinuierlich erfasst werden, denn diese sind nicht nur heterogen, sondern verändern sich auch im Laufe des Integrationsprozesses. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass der Gedanke der Inklusion dahin gehend mitgedacht wird, dass Diversität anerkannt und wertgeschätzt wird. Angebote gilt es demnach so zu gestalten, dass sie für alle Personengruppen zugänglich und im Weiteren (ge)brauchbar sein können. Im Rahmen der konzeptionellen Ausgestaltung ist die Frage einzubinden, wie in der Praxis methodisch gehandelt werden kann. Als angewandte, für ihren Zweck gleichwertig bewertete Methoden wurden aus der Praxis genannt: a) Einzelfallhilfe, b) Gruppenarbeit, c) Vernetzung, d) Sozialraumorientierung. Je nach Zielsetzung – entsprechend der Perspektive des Sozialraums und den Inanspruchnehmenden – sollten die Methodenauswahl vorgenommen und die jeweiligen Vorteile genutzt werden. So kann bspw. die Einzelfallhilfe sinnvoll sein, wenn es um komplexe und/oder sensible Beratungen geht, und ein Gruppenangebot dann angesetzt werden, wenn eine Peer-Beratung Erfolg versprechend scheint oder es um den Aufbau von Kontakten und Begegnung geht. Die Umsetzung sozialräumlicher Methoden sowie die Vernetzung als Methode werden insgesamt als zentral anerkannt und aufgrund ihrer Bedeutung im Folgenden unter dem Bereich ‚Vernetzung‘ noch einmal ausführlicher behandelt.

4.3 Vernetzung Eine gelingende Vernetzung wurde bereits als zentrale Aufgabe des sozialräumlichen intermediären Akteurs beschrieben, welcher der Koordination und dem Schnittstellenmanagement dient. Im Folgenden werden mögliche Zielsetzungen

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sowie Handlungsfelder der Vernetzung dargestellt. Dabei ist zwischen zwei Ebenen der Vernetzung zu unterscheiden: einer sozialräumlichen und einer stadtweiten bzw. (über)regionalen Ebene. Der sozialräumliche Akteur wird jeweils als Spezialist für das Thema Integration vor Ort gesehen, der zum einen vor Ort das Thema Integration in die Netzwerke des Sozialraums trägt und zum anderen stadtweit bzw. (über)regional in integrationsspezifischen Netzwerken die sozialräumliche Perspektive einbringt und stärkt. Mögliche Ziele der Vernetzung im Sozialraum umfassen a) Platzierung des Querschnittsthemas Integration in den Netzwerken, b) Verstetigung bestehender Netzwerke, c) Ausbau bestehender Netzwerke oder d) Aufbau neuer Netzwerke. Für die stärkere Bearbeitung und a) Platzierung des Themas ‚Migration/ Integration‘ als Querschnittsthema bot die Situation 2015/2016 einen konkreten Anlass, da viele zusätzliche Akteur_innen mit dem Thema stärker in Berührung kamen als zuvor (z. B. aus dem Bereich Bildung, Wohnen, Arbeit, Offene Kinder- und Jugendarbeit). Diese Zielsetzung änderte sich wiederum im Laufe der Zeit, sodass gegenwärtig ‚Sonderstrukturen‘ für Geflüchtete eher abgeschafft werden. Es bietet sich daher eine Auflösung solcher themenspezifischer Netzwerke zugunsten sozialräumlicher, themenübergreifender Netzwerke an. Wichtig ist, dass institutionelle Grenzen überschritten werden, der sozialräumliche intermediäre Akteur Kenntnisse über die Angebote im jeweiligen Sozialraum hat und so Parallelstrukturen und Lücken entdeckt bzw. verhindert/schließt. Die Situation ab dem Jahre 2015 bot ebenfalls einen konkreten Anlass, b) Netzwerke zu verstetigen und passive Netzwerke wiederzubeleben. Zusätzlich kann auch c) ein Ausbau der bestehenden Netzwerke sinnvoll sein. Die empirischen Analysen machen dabei deutlich, dass die Qualität der Netzwerke von primärer Bedeutung ist und eben nicht die Quantität: sowohl in der Anzahl der beteiligten Akteur_innen als auch in der Anzahl der Treffen. Beim bedarfsorientierten Ausbau ist es wichtig, zudem auf die Beteiligung verschiedener Arten von Akteur_innen und verschiedener Organisationen zu achten. So sind alle Akteur_innen einzuladen, die für das Thema relevant sind, und in ihren Zielsetzungen zu unterstützen: unabhängig von ihrer institutionellen Verortung, der Ausübung von Haupt- oder Ehrenamt oder spezifischen Konkurrenzen. Zumindest vorübergehend kann es notwendig sein, abhängig von der Situation in den jeweiligen Sozialräumen ggf. auch d) neue Netzwerke aufzubauen. Hierzu gilt es, Akteur_innen zusammenzubringen, die bislang keinen oder nur wenig

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Kontakt haben. Dabei kann es von Vorteil sein, zur Gewährleistung von Nachhaltigkeit und Transparenz bestehende persönliche Kontakte (informelle Netzwerke) in eine institutionalisierte Form der Vernetzung und Zusammenarbeit (formelle Netzwerke) zu bringen. Die Antwort auf die Frage, ob sozialräumliche Netzwerke verstetigt, ausgebaut oder aufgebaut werden sollen, ist dabei jeweils abhängig von der bestehenden Vernetzung in den jeweiligen Sozialräumen. Die Unterstützung und Weiterentwicklung bereits vorhandener Netzwerke sind zu favorisieren, möglicherweise kann aber auch ein Abbau oder eine Fokussierung vorhandener Netzwerkstrukturen zielführend sein, z. B. im Falle m ­ igrations-/integrationsspezifischer Netzwerke vor Ort. Als relevant erweist sich dabei – so zeigen die empirischen Analysen auf –, nicht Top-down zu agieren, sondern im Sinne eines Bottom-up-Prozesses stets die Ressourcen und Strukturen vor Ort zu nutzen und die jeweiligen Bedarfe der Inanspruchnehmenden einzubeziehen. In den Netzwerken ist es dabei zielführend und förderlich, wenn alle Akteur_innen gemeinsam an Themen arbeiten, oder zumindest, wenn Untergruppen gebildet werden, um den Informationsfluss zu gewährleisten. Dies kann mit Herausforderungen einhergehen, da insbesondere unterschiedliche institutionelle Logiken zu berücksichtigen sind. Integration wird so nicht als Spezialaufgabe verstanden, sondern als Querschnittsaufgabe, die sich an verschiedenen Institutionen, Handlungsfeldern etc. ausrichtet. Spezialisierte Institutionen wie die hier im Fokus stehende, können dabei helfen, das Thema zu etablieren und dafür zu sensibilisieren. Anders als die Zielsetzung bei der sozialräumlichen Vernetzung, umfassen die Ziele der Vernetzung auf stadtweiter und (über)regionaler Ebene: a) die Vernetzung mit relevanten Akteur_innen, die stadtweit sozialräumlich organisiert sind (z.  B. Integrationsagenturen, Migrationsberatungsstellen, Jugendmigrationsdienste, Familienbildungsträger), b) die Mitwirkung an Netzwerken zum Thema Integration/Migration und das Einbringen der Bedarfe und Perspektiven des Sozialraums. Beim Blick auf die Handlungsfelder der Vernetzung ist zu unterscheiden in: a) Erwerbsarbeit, b) Bildung, c) Wohnen, d) Integration.

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Zu jedem der Handlungsfelder ist dabei zu differenzieren, welche Akteur_innen einzubeziehen sind und auf welcher räumlichen Ebene die Vernetzung schwerpunktmäßig anzusiedeln ist (bspw. Sozialraum/Stadtbezirk/Kommune). Von großer Relevanz ist dabei, dass diese vier empirisch analysierten Handlungsfelder Themen benennen, die zwar auf anderen Ebenen als der sozialräumlichen bearbeitet werden müssen (bspw. Ebene des Landes oder des Bundes), und gerade dort systemische Barrieren abzubauen sind, sie aber dennoch besonders im Sozialraum ‚sichtbar werden‘ und relevant sind. Vor allem der Zugang zum Arbeitsmarkt entscheidet sich weniger anhand sozialräumlicher Kriterien und es werden Entscheidungen u. a. auf bundesweiter Ebene getroffen (bspw.: Anerkennung von Qualifikationen, Arbeitserlaubnis) oder sind von allgemeinen Strukturen abhängig (bspw.: vorhandene Arbeitsplätze). Dennoch können auf dieser Ebene Unterstützungsleistungen erfolgen. So wird aufgrund der komplexen Bestimmungen und Zuständigkeiten im Handlungsfeld a) Erwerbsarbeit die Einbindung von Fachleuten im Sozialraum empfohlen. Dies kann z. B. durch Sprechstunden, Beratungen oder Fortbildungen in Einrichtungen des Sozialraums geschehen, in denen Ehrenamtliche und/oder die Zielgruppe anzutreffen sind. In der Vernetzung spielen neben den Wohlfahrtsverbänden und Jugendberufshilfeträgern die Integration Points und andere Einrichtungen von Jobcenter bzw. Arbeitsagentur sowie Arbeitgeber_innen, Kammern und Innungen, aber auch kommunale Stellen (Koordinierungsstellen, Netzwerke) eine Rolle. Im Sozialraum scheint es vor allem wichtig, Arbeitgeber_innen, Institutionen und Arbeitsuchende zusammenzubringen. So gilt es, einerseits Netzwerke einzurichten, aber andererseits auch dafür zu sensibilisieren, dass erstens die rein marktwirtschaftliche Steuerung des Zugangs zur Erwerbsarbeit den uneingeschränkten Zugang „für alle“ verhindert und zweitens bestimmte rechtliche Regelungen (vgl. Gundlach in diesem Band) insbesondere den Zugang für Geflüchtete erschweren. Im Handlungsfeld b) Bildung werden vor allem Akteur_innen auf kommunaler Ebene (bspw. Bildungsträger) und auf Landesebene (Initiativen und Programme) für die Vernetzung des sozialräumlichen Akteurs als relevant beschrieben. Dort sind viele Programme und Initiativen angesiedelt, die Integration zum Schwerpunkt bzw. Migrant_innen/Geflüchtete zur Zielgruppe haben. Im Sozialraum sind u. a. Schulsozialarbeit, Kitas und Jugendfreizeiteinrichtungen wichtige Netzwerkpartner_innen – hier ist abhängig von der sozialräumlichen Situation die Teilnahme des sozialräumlichen Akteurs an bestehenden Netzwerken bzw. der Aufbau neuer Netzwerke wichtig. Das Handlungsfeld c) Wohnen wird als sozialräumliches Thema bezeichnet. So machen die empirischen Analysen deutlich, dass sich für die Unterstützung

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beim Zugang zum Wohnungsmarkt der Einbezug vorhandener Netzwerke sowie Wissen und Kenntnis über den Zugang beispielsweise zu Wohnungsgenossenschaften oder gefördertem Wohnraum als relevant erweisen. Im Sozialraum sind die Quartiersmanager_innen wichtige Netzwerkpartner_innen, aber auch die Wohnungsgesellschaften, damit mögliche Missverständnisse direkt geklärt werden können (z. B. Änderungen des Bleiberechts o. Ä.). Gleichsam gilt es auch hier zu beachten, dass der Zugang zum Wohnungsmarkt nicht (nur) sozialräumlich entschieden wird, sondern anderen Kriterien folgt (bspw. genügend vorhandenem Wohnraum, rechtlichen Auflagen zur Veränderung des Wohnorts). Für das Kernthema des sozialräumlichen intermediären Akteurs, d) Integration, werden alle Personen im Sozialraum als relevant betrachtet. Das beinhaltet auch Multiplikator_innen aus den spezifischen migrantischen Communitys, wie z. B. Stadtteilmütter5. Integration gilt es dabei gesamtgesellschaftlich zu denken – im Sinne von auf die Verhältnisse und nicht das Verhalten bezogen – und somit als Thema, das alle Bevölkerungsgruppen betrifft.

5 Exemplarische Anwendung des sozialräumlichen Integrationsmodells anhand der zwei Untersuchungsgebiete Um die praktische Anwendung des vorangestellten theoretischen sozialräumlichen Integrationsmodells (Abschn. 4) zu verdeutlichen, werden im Folgenden einschlägige Ausprägungen aus den Bereichen ‚Rahmenbedingungen‘, ‚Konzept‘ und ‚Vernetzung‘ vorgestellt. Die praktischen Beispiele beziehen sich auf die beiden im Forschungsprojekt INTESO untersuchten Düsseldorfer Stadtbezirke und die dort ansässigen ‚Welcome Points‘. Die sehr differenten Stadtbezirke unterscheiden sich u. a. hinsichtlich ihrer räumlichen Struktur, ihrer Bevölkerungs- und Sozialstrukturen sowie der Akteur_innen oder jeweiligen (räumlichen) Anbindung an die Gesamtstadt.

5Stadtteilmütter

sind Multiplikatorinnen aus migrantischen Communitys, die ausgebildet werden, um Zugang zu schwer erreichbaren Familien aus der jeweiligen Community zu bekommen und diesen bei Hausbesuchen Wissensvermittlung zu den Themen Erziehung, Bildung und Gesundheit anzubieten.

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5.1 Sozialräumliche Integration im Stadtbezirk 5 – Kriterien und Empfehlungen Der Stadtbezirk 5 im äußersten Düsseldorfer Norden umfasst die Stadtteile Stockum, Lohausen, Kaiserswerth, Wittlaer, Kalkum und Angermund und ist der mit Abstand größte Bezirk im Düsseldorfer Stadtgebiet (Fläche 50,75 km2). Die einzelnen Stadtteile sind räumlich fragmentiert und weisen jeweils eine vergleichsweise kleinstädtische Struktur auf. Geprägt ist der Stadtbezirk u. a. von der – mehrheitlich – gehobenen Wohnqualität, wie hochpreisigen Eigenheimen oder gehobenen Mehr- und Einfamilienhäusern (vgl. Landeshauptstadt Düsseldorf 2017, S. 90 f.). Mit 34.584 Einwohner_innen kommt der Bezirk auf eine geringe Einwohner_innendichte (681 je km2) und weist relativ gute Sozialdaten auf: Die Beschäftigungsquote liegt bei knapp 49 %, der Arbeitslosenanteil bei ca. 5 % und der Anteil öffentlich geförderter Wohnungen ist unterdurchschnittlich im Vergleich zum städtischen Durchschnitt (vgl. ebd.). Der Anteil der ausländischen Personen liegt bei 17 %, der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund bei knapp 31 % und der Anteil der Geflüchteten6 bei etwa 2 %. In dem Stadtbezirk sind 2019 drei Gemeinschaftsunterkünfte, mit insgesamt 540 Plätzen, für Geflüchtete angesiedelt. Unter anderem führen die räumliche Fragmentierung als auch die Sozialstruktur (sozial gehobenes Milieu) dazu, dass scheinbar soziale Dienstleistungen in dem Stadtbezirk geringer und nicht flächendeckend vorhanden sind. Ebenso sind im Sozialraum wenige formelle Netzwerkaktivitäten zu erkennen. Sichtbar ist jedoch ein starkes und ausgeprägtes informelles ehrenamtliches Engagement, welches im Zuge der gestiegenen Anzahl an Geflüchteten seit dem Jahr 2015 entstand. Der ‚Welcome Point‘ im Stadtbezirk 5 ist an die dort ansässige Jugendberufshilfe angebunden. Bezieht man das sozialräumliche Integrationsmodell auf den Stadtbezirk 5 bzw. den verorteten ‚Welcome Point‘, lassen sich seine jeweiligen Vor- und Nachteile verdeutlichen. Für den Bereich ‚Rahmenbedingungen‘ etwa zeigt sich, dass die Anbindung des intermediären Akteurs (‚Welcome Point‘) an eine bereits

6Der

Anteil der Geflüchteten an der Bevölkerung der Stadtbezirke bezieht sich auf die Geflüchteten, die in Unterkünften für Geflüchtete leben. Hinzu kommen in Bezirk 6 die Geflüchteten, die in einer der vier Unterkünfte für Obdachlose leben (in Bezirk 5 gibt es keine solche Unterkunft). Die Quote bzw. Zahl der Obdachlosen wird vor diesem Hintergrund zunehmend wichtiger, da dort viele Geflüchtete erfasst sind.

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bestehende Einrichtung, hier die Jugendberufshilfe GmbH, hilfreich sein kann, um Erfahrungen der Mitarbeitenden sowie bestehende Kontakte zu nutzen. Je nach thematischer Ausrichtung der Institution – hier Berufshilfe für Jugendliche – wird jedoch auch sichtbar, dass bestimmte Themenschwerpunkte stärker als andere bearbeitet werden. So kann der ‚Welcome Point‘ zwar von der Expertise im Bereich Jugendberufshilfe profitieren (bspw. durch Kenntnisse und Kontakte zu Anbietenden von Praktika und Stellen), hat aber bei anderen Themen, wie bspw. dem Angebot von Freizeitaktivitäten, keine angesiedelte Vielfalt. Darüber hinaus ist der Standort nicht zentral im Sozialraum verortet, sodass die Erreichbarkeit der Zielgruppen eingeschränkt ist. Für den Bereich ‚Konzept‘ ist zu erkennen, dass die Organisationsformen ‚Verweisen‘ sowie ‚Lotsen‘ eher erschwert bzw. weniger Erfolg versprechend umzusetzen sind, da vor Ort im Sozialraum wenige Angebote (bspw. im Bereich Freizeit, Beratung und Unterstützung) verankert und diese durch relativ weitläufige Wege nicht gut zu erreichen oder sogar unbekannt sind. So gibt es in einigen Stadtteilen Angebote der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, die jedoch für Kinder und Jugendliche aus anderen Stadteilen nur über weitere Strecken aufsuchbar wären. Ebenso sind spezielle Angebote für Menschen mit Migrationshintergrund lediglich vereinzelt und nicht immer für alle Personen erreichbar, was u. a. auch daran liegen könnte, dass die Gruppe der Migrant_innen einen geringen Bevölkerungsanteil ausmacht. Gleichsam lassen sich aber die vorhandenen informellen Ressourcen der engagierten Ehrenamtlichen nutzen, indem diese stärker miteinbezogen werden und das ‚Lotsen‘ und ‚Verweisen‘ übernehmen, insbesondere da sie über spezifische Sozialraumkenntnisse der jeweiligen Stadtteile verfügen. Folglich ist die Anvisierung der Zielgruppe des ‚Welcome Points‘ – der Menschen mit Fluchthintergrund – förderlich, um u. a. Angebotsstrukturen aufzubauen. Dennoch sollte die Zielgruppe des ansässigen ‚Welcome Points‘ weit gefasst sein – mit speziellen Ausrichtungen auf Migrant_innen und Geflüchtete –, um auch Austausch- und Begegnungsmöglichkeiten vor Ort für alle Anwohner_ innengruppen zu schaffen. Hierdurch würde das Ziel der gesellschaftlichen Integration und der Vergesellschaftung – speziell in Hinblick auf die Dimensionen der sozialen Integration (Esser 2001), d. h. die Interaktion – vorangebracht. Ebenso könnte der ‚Welcome Point‘ dazu beitragen, verschiedene Angebote (Beratungs-, Hilfe-, Dienstleistungs- und/oder Freizeitangebote) im Sozialraum zu etablieren, indem er eigene Angebote organisiert oder – im Sinne des integrativen Ansatzes – andere Akteur_innen bei der Umsetzung von Angeboten vor Ort, bspw. durch die Bereitstellung von Räumlichkeiten, unterstützt.

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Für den Bereich ‚Vernetzung‘ weist der suburbane Charakter des Stadtbezirks 5 besondere Gegebenheiten auf. Es zeigt sich, dass vor Ort wenige formelle Netzwerkstrukturen vorhanden sind. Sichtbar wird jedoch, dass sich in den einzelnen Stadtteilen informelle Netzwerke von ehrenamtlichen Engagierten gründeten, gut funktionierten und z. T. bis heute aktiv sind. Der ‚Welcome Point‘ könnte so als Vernetzungsplattform für die Akteur_innen vor Ort fungieren, indem er formelle Netzwerke fördert und aufbaut, die sowohl personen- als auch institutionenübergreifend fungieren sowie konsequent und kontinuierlich die informellen ehrenamtlichen Vernetzungen miteinbeziehen. Hierdurch können sich die Akteur_innen vor Ort kennenlernen und Kooperationen schließen. Dies würde dann im Weiteren eine verweisende und/ oder lotsende Organisationsform fördern. Bei der Vernetzung ist es wichtig, dass diese zum einen auf der sozialräumlichen Ebene stattfindet und die engagierten ehrenamtlichen Akteur_innen einbezieht. Zum anderen sind Vernetzungen auf der stadtweiten Ebene auf- und auszubauen, um u. a. Abhilfe gegen noch nicht ausreichende Angebotsstrukturen vor Ort zu leisten. Eine der wichtigsten Aufgaben der ‚Welcome Points‘ besteht darin, in den Netzwerken vor Ort Integration als Querschnittthema zu etablieren.

5.2 Sozialräumliche Integration im Stadtbezirk 6 – Kriterien und Empfehlungen Der Stadtbezirk 6, mit einer Fläche von 19,63 km2, im Nordosten von Düsseldorf umfasst die Stadtteile Lichtenbroich, Unterrath, Rath und Mörsenbroich und lässt sich – trotz heterogener Bebauungs- und Sozialstruktur – als dicht besiedeltes innerstädtisches Gebiet mit industrieller Vergangenheit und Prägung beschreiben. Weite Teile des Bezirks sind geprägt durch mehrgeschossige, geförderte Mietwohnsiedlungen (vgl. Landeshauptstadt Düsseldorf 2017, S. 119 f.). Der Anteil öffentlich geförderter Wohnungen liegt insgesamt über dem stadtweiten Durchschnitt (vgl. ebd.). Neben mehreren Stadtteilen und Wohnbereichen, welche einen (sehr) hohen sozialen Handlungsbedarf haben, finden sich auch gehobene Wohnviertel (ebd., S. 198 f. und S. 97). Die Einwohner_innenzahl im Stadtbezirk 6 liegt bei 66.595 (Ausländer_innenanteil ca. 24 % und Personen mit Migrationshintergrund knapp 50 %) und es ergibt sich eine Einwohner_innendichte von 3.392 je km2. In dem dichtbesiedelten Bezirk gibt es 2019 noch fünf Unterkünfte für Geflüchtete (mit 1.259 Plätzen), eine kommunale Erstaufnahmeeinrichtung sowie sieben Unterkünfte für Obdachlose mit 492 Plätzen, von denen vier ehemalige Unterkünfte für

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Geflüchtete sind, die zu großen Anteilen noch Geflüchtete beherbergen. Der Anteil der Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften liegt im Stadtbezirk bei etwa 2 %. Der Arbeitslosenanteil beträgt ca. 14 % und ist im stadtweiten Vergleich überdurchschnittlich hoch (vgl. Landeshauptstadt Düsseldorf 2017, S. 119f.). Vor Ort im Sozialraum findet sich ein ausdifferenziertes Portfolio sozialer Dienstleistungen, das den Anliegen einer stark migrantisch geprägten Bewohner_innenschaft bereits langjährig Rechnung zu tragen sucht. Des Weiteren sind vermehrt gewachsene Netzwerkstrukturen vor Ort zu erkennen (bspw. Runde Tische), in denen sich ein Großteil der angesiedelten institutionellen Akteur_innen engagiert und das Thema Migration und Integration verankert ist. Das ehrenamtliche Engagement spielt in den Netzwerken eine eher untergeordnete Rolle, da viele Aufgaben durch professionelle Institutionen abgedeckt sind. Der ‚Welcome Point‘ im Stadtbezirk 6 ist an das Rather Familienzentrum angeschlossen, in dem auch die Integrationsagentur angesiedelt ist. Durch den zentralen Standort des ‚Welcome Point‘ mit der Anbindung an das Rather Familienzentrum, welches ein kooperativer Zusammenschluss von den vier Trägern Caritasverband Düsseldorf e. V., SKFM Düsseldorf e. V., ASG Bildungsforum und der katholischen Kirchengemeinde St. F ­ ranziskus-Xaverius ist, zeigen sich Vor- und Nachteile in Bezug auf die Bereiche ‚Rahmenbedingungen‘, ‚Konzept‘ sowie ‚Vernetzung‘. Zunächst ist für den Bereich der Rahmenbedingungen zu erkennen, dass durch die Anbindung an das Rather Familienzentrum einerseits vorhandene Expertise der Mitarbeitenden sowie Netzwerke und ehrenamtliches Potenzial genutzt werden können. Andererseits ist nicht auszuschließen, dass diese Verortung für einige (neue) Zielgruppen wenig zugänglich ist, bspw. für Personen anderer Glaubensgemeinschaften oder für einzelne Jugendliche. Ebenso kann der Blick auf die bisherigen Zielgruppen zur Ausgestaltung von Angeboten einschränkend wirken, sodass Bedarfe neuer Personengruppen weniger Berücksichtigung finden und Ressourcen genutzt werden, um bestehende Angebote auszubauen, statt neue Angebote zu konzipieren. Für den Bereich ‚Konzept‘ zeigt sich, dass die Organisationsformen ‚Verweisen‘ und ‚Lotsen‘ vor Ort auf geeignete Voraussetzungen treffen, da es viele Angebote in dem Sozialraum gibt, welche durch die gute Vernetzung der Akteur_ innen bekannt und durch kurze Wege leicht erreichbar sind. Die Anbindung und Vernetzung führen weiter dazu, dass ein integrativer Ansatz umgesetzt werden kann, indem vor Ort Veranstaltungen externer Akteur_innen durchgeführt werden, aber auch eigene Angebote vom ‚Welcome Point‘ stattfinden. Wichtig ist, bei diesen Angeboten darauf zu achten, welche Ziele und/oder Zielgruppen

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erreicht werden sollen, um in den dichten Angebotsstrukturen im Sozialraum keine Doppelstrukturen bzw. konkurrierenden Angebote zu organisieren, sondern gezielt nach Lücken zu suchen, diese zu schließen und noch stärker mit neuen Akteur_innengruppen zu arbeiten und ihnen eine Plattform zu geben, auch um eigene Angebote verstärkt auszurichten. Für den Bereich der Vernetzung wird die Hauptaufgabe des ‚Welcome Point‘ im Stadtbezirk 6 darin gesehen, vorhandene Netzwerke zu unterstützen, das Thema Integration weiterhin zu stützen und neue Akteur_innengruppen einzubeziehen. Anders als im Stadtbezirk 5, wo fehlende Netzwerkstrukturen aufzubauen sind, wäre für den Stadtbezirk 6 zu überlegen, Strukturen zu verdichten und Personengruppen wie Ehrenamtliche oder migrantische Selbstorganisationen stärker einzubeziehen. Zusammenfassend zeigt sich, wie sich sozialräumliche Strukturen und Bevölkerungsstrukturen sowie die Angebots- und Akteur_innenlandschaft auf die Gestaltung des intermediären Akteurs auswirken, und dass die Perspektiven des Sozialraums und der Inanspruchnehmenden jeweils im Zentrum stehen sollten.

6 Fazit Das hier vorliegende Modell ist als erste Orientierungshilfe zu der Frage zu verstehen, wie anhand eines intermediären sozialräumlichen Akteurs Integration im Sozialraum gefördert werden kann. Im Folgenden fassen wir zusammen, welche Empfehlungen sich zu seiner Ausgestaltung aussprechen lassen und welche Fragen das Modell noch offenlässt.

6.1 Empfehlungen zur Ausgestaltung des sozialräumlichen intermediären Akteurs Um seiner Bezeichnung gerecht zu werden, ist es zwingend erforderlich, dass der sozialräumliche intermediäre Akteur sowohl dem jeweiligen Sozialraum mit seinen Spezifika Rechnung trägt als auch in den Grenzen der Strukturen tätig wird, in die er z. B. auf kommunaler Ebene eingelassen bzw. an die er angebunden ist. Denn auch, wenn aus unserer Sicht festzuhalten ist, dass sich sozialräumliche Integration nicht von zentraler Stelle steuern lässt und dementsprechend für gelingende Lösungen ein großer Handlungsspielraum für sozialräumliche Akteur_innen vonnöten ist, so geben die Strukturen kommunaler Steuerung doch die Rahmenbedingungen und damit auch Grenzen dessen vor, was ein solcher intermediärer Akteur zu leisten vermag.

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Aus den Erkenntnissen der Projektlaufzeit lässt sich im Kern herausarbeiten, dass sozialräumliche Integrationsbemühungen und -aktivitäten stets konsequent a) aus der Perspektive des Sozialraums sowie b) aus der Perspektive der Inanspruchnehmenden gedacht und umgesetzt werden müssen, und zwar c) unter Beteiligung aller relevanten Akteur_innen im Sozialraum. Hinsichtlich des jeweiligen Sozialraums sind dessen räumliche, sozialstrukturelle und infrastrukturelle Spezifika zu berücksichtigen. Die Perspektive der Inanspruchnehmenden sollte möglichst frühzeitig und umfassend einbezogen werden, um eine ebenfalls frühzeitige und umfassende Partizipation und bedarfsorientierte Gestaltung zu ermöglichen. Beim Blick auf die Akteur_innen im Sozialraum ist die Frage der Relevanz einzelner Akteur_innen immer abhängig von der konzeptionellen Ausrichtung des intermediären Akteurs und seiner Zielgruppendefinition. Grundsätzlich gilt aber, dass auch ehrenamtliche Akteur_innen sowie Bewohner_innenvertretungen allgemein sowie Vertretungen der Zielgruppe insbesondere einzubeziehen sind, um dem Anspruch der Nutzer_innenorientierung zu genügen. Darüber hinausgehende Empfehlungen zur konkreten Ausgestaltung des intermediären Akteurs im Sozialraum können demzufolge immer nur für den konkreten Einzelfall getroffen werden. Dies zeigen auch die in Abschn. 5 skizzierten Fallbeispiele deutlich. Deshalb lassen sich hier lediglich zwei zentrale Aspekte benennen, die unter Berücksichtigung der Grundgedanken der Sozialraum- und Nutzer_innenorientierung generalisierbar sind: Aus diesen Perspektiven betrachtet empfiehlt es sich, bei der räumlichen Ausgestaltung auf gute Erreichbarkeit des Standorts sowie weitgehende (soziale wie bauliche) Barrierefreiheit der Einrichtung zu achten. Bezüglich der inhaltlichen Ausgestaltung gilt es, bei der Planung und Umsetzung frühzeitig die Akteur_innen im Sozialraum einzubeziehen sowie die Bedürfnisse der (potenziellen) Inanspruchnehmenden zu berücksichtigen und dabei nicht außer Acht zu lassen, dass diese sich im Zeitverlauf ändern können, hier also kontinuierliche Rückkopplungen und ggf. Anpassungen vonnöten sind. Weiter sollte der Fokus darauf liegen, ggf. vorhandene Angebote zu vernetzen und über diese zu informieren sowie diese ggf. so zu ergänzen, dass die zuvor partizipativ ermittelten Bedarfe der Zielgruppe(n) besser gedeckt werden.

6.2 Offene Fragen und Diskussionspunkte Im Rahmen des vorgestellten Modells wurde ein sozialräumlich intermediärer Akteur unter Berücksichtigung seiner Rahmenbedingungen, seines Konzepts und

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seiner Vernetzung entwickelt. Dabei wurden jedoch jene Rahmenbedingungen außer Acht gelassen, die sich durch die Einbettung in kommunale Steuerungsstrukturen für die Entwicklung eines solchen Modells bzw. eines solchen Akteurs ergeben können. Wenn wie bei den Düsseldorfer ‚Welcome Points‘ seitens einer Kommune die Einrichtung solcher Akteure flächendeckend stattfinden soll, stellen sich die Frage der Finanzierung und die Frage notwendigerweise gemeinsamer Qualitätsmerkmale des einzurichtenden Akteurs. Diese Frage lässt sich auf die Entscheidung engführen, welche der in Abschn. 4 dargestellten Ausgestaltungen flexibel und entsprechend den o. g. Empfehlungen sozialraumabhängig und nutzer_innenorientiert für einzelne dieser Intermediären festgelegt werden können und welche dieser Ausprägungen im Gegensatz dazu zentral für alle diese Intermediäre vorgegeben und somit standardisiert werden können oder müssen. Denkbar ist beispielsweise, dass alle intermediären Akteure ein gemeinsames Grundkonzept haben, aber die Rahmenbedingungen und die Vernetzung sozialraumabhängig gestaltet und umgesetzt werden. Hier liegt es letztlich bei der finanzierenden Stelle zu entscheiden, was gemeinsame Mindeststandards sein sollen. Dazu gibt das Modell keine Empfehlungen, auch wenn sich bei einigen Bestandteilen (Standort, Anbindung, Vernetzung) möglicherweise direktere Bezüge zum jeweiligen Sozialraum mit seinen Spezifika zeigen als bei anderen (Zielgruppe, Arbeitsprinzipen, methodisches Handeln). Auch die Beurteilung, ob und wann ein sozialräumlich intermediärer Akteur wie im Beispiel von INTESO mit den ‚Welcome Points‘ eine ‚gute‘ oder ‚gelingende‘ Arbeit leistet, bleibt noch ungeklärt. Die hier vorgestellten Ausgestaltungen, Kriterien und Empfehlungen lassen bisher keine Aussage darüber zu, wann konkret dies der Fall ist oder in welchem Ausmaß dies gelungen ist. Somit ist anhand des hier vorgestellten Modells z. B. keine Evaluation der bestehenden ‚Welcome Points‘ anvisiert oder möglich. Vielmehr sollen die Ausarbeitungen dazu dienen, Reflexions- und Planungsprozesse auf kommunaler und sozialräumlicher Ebene anzuleiten, unter anderem bei der Einrichtung oder Qualitätsentwicklung von intermediären Akteuren im Sozialraum. Abschließend ist zu beachten, dass der Sozialraum, seine Akteur_innen und Bewohner_innen nicht überfordert werden dürfen: Menschen und Institutionen vor Ort können zwar zu einer Verbesserung der Lebenslagen aller im Sozialraum beitragen, darüber darf aber nicht der Blick auf die Strukturen verloren gehen, in denen sie leben und handeln. Im Hinblick auf die Akteurin ‚Soziale Arbeit‘ hieße dies zum Beispiel, dass „ihre Möglichkeiten und Grenzen“ sowie die „Reichweite ihrer politischen Zuständigkeit und moralischen Verantwortung“ (vgl.

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Scheer 2018, S. 38) erkannt und für den jeweiligen Handlungsrahmen und die angemessenen Handlungsmöglichkeiten stets einbezogen werden müssen. Um sozialräumliche Integration zu ermöglichen, müssen daher auch und zuvorderst auf anderen Ebenen die Voraussetzungen geschaffen werden, derer es bedarf, um Integration vor Ort gestalten zu können. Hierzu trifft das Modell keine Aussagen, und auch in den Kriterien des sozialräumlichen intermediären Akteurs finden sich dafür keine Lösungsansätze. Auch wenn für das Modell dieser Anspruch anhand seiner Zielsetzung nicht formuliert wurde, gilt es doch, diese Einschränkung und Einbettung bei der Anwendung und möglichen Weiterentwicklung zu bedenken.

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Lisa Scholten,  Soziologin M.A., Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, B.A.  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung an der Hochschule Düsseldorf. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Flucht- und Migrationsforschung, Engagementforschung sowie Kinder- und Jugendarbeit. Simone Rehrs, M.Sc., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung an der Hochschule Düsseldorf in den Bereichen Methoden empirischer Sozialforschung, Flucht- und Migrationsforschung, Bildungsforschung und Kinder- und Jugendarbeit. Katja Jepkens,  Diplom-Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Düsseldorf. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Perspektive der Nutzer_innen und Maßnahmen für junge Menschen am Übergang Schule-Beruf.

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Dr. Anne van Rießen ist Professorin für Methoden Sozialer Arbeit am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf. Sie leitet – zusammen mit Prof. Dr. Ulrich Deinet – die Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung und ist stellvertretende Leiterin des interdisziplinären Institutes für lebenswerte und umweltgerechte Stadtentwicklung; ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Partizipation und Demokratisierung Sozialer Arbeit, Nutzer*innenforschung, Sozialraumbezogene Soziale Arbeit und interdisziplinäre Stadtentwicklung. Dr. Ulrich Deinet ist Professor für Didaktik/Methodik und Verwaltung/Organisation an der Hochschule Düsseldorf und Leiter der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung (FSPE) sowie Mitherausgeber des Onlinejournals Sozialraum.de. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kinder- und Jugendarbeit, Sozialraum und Methoden der Sozialen Arbeit.