Historische und religiöse Erzählungen 9783110229752

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Historische und religiöse Erzählungen
 9783110229752

Table of contents :
Vorwort......Page 5
Einleitung......Page 11
A Geschichtsepik – Antikenromane......Page 31
1 Einleitung......Page 33
2.1 Einleitung......Page 45
2.2 Französische Alexanderromane des 12. und 13. Jahrhunderts......Page 49
2.3 Deutsche Alexanderromane: ‚Vorauer‘, ‚Straßburger‘ und ‚Basler Alexander‘......Page 51
2.4 ‚Alexandreis‘......Page 61
2.5 ‚Alexanders geesten‘......Page 69
2.6 ‚Alexander‘......Page 74
3.1 Die lateinischen Quellen......Page 89
3.2 Der altfranzösische ‚Roman d’Enéas‘......Page 91
3.3 Der mittelhochdeutsche ‚Eneasroman‘......Page 93
3.4 Gliederung des ‚Eneasroman‘ im Vergleich mit dem ‚Roman d’Enéas‘......Page 100
3.5 Das ‚neu und anders Erzählen‘ im ‚Eneasroman‘......Page 102
3.6 Ausblick......Page 118
4.1 Einleitung: Der altfranzösische Trojaroman......Page 127
4.2 Die mittelhochdeutschen Trojaromane......Page 137
4.3 Die mittelniederländischen Trojaromane......Page 161
B Geschichtsepik – Heldenepen/Chansons de geste......Page 185
1 Einleitung......Page 187
2.1 ‚Chanson de Roland‘/‚Rolandslied‘......Page 199
2.2 ‚Karel ende Elegast‘......Page 231
2.3 ‚Karlmeinet‘......Page 244
3.1 Einleitung......Page 257
3.2 Der ‚Willehalm‘......Page 260
3.3 Der ‚Rennewart‘......Page 278
3.4 Das Kitzinger Bruchstück ‚Der Strit van Alescans‘......Page 298
3.5 ‚Willem van Oringen‘......Page 302
4.1 Einleitung......Page 315
4.2 Der cycle rudimentaire......Page 316
4.3 Die épopées intermédiaires......Page 321
4.4 Die Fortsetzungen der ‚Conquête de Jérusalem‘......Page 327
4.5 Die mittelniederländischen Übersetzungen......Page 329
4.6 Die Rezeption der Kreuzzugsepik im germanischen Sprachraum......Page 333
5.1 Einleitung: Der Lothringer-Zyklus im Altfranzösischen und Mittelniederländischen......Page 339
5.2 ‚Garin le Lohérain‘ und ‚Gerbert de Metz‘......Page 340
5.3 ‚Roman der Lorreinen‘......Page 344
5.4 Die Rezeption der Lothringerepik im germanischen Sprachraum......Page 356
6.2 ‚Renaut de Montauban‘......Page 361
6.3 Die Rezeption der Empörerepik im germanischen Sprachraum......Page 366
6.4 ‚Renout van Montalbaen‘......Page 367
C Religiöse Erzählungen......Page 389
1 Einleitung......Page 391
2 ‚Grégoire‘/‚Gregorius‘......Page 395
3 ‚Eracle‘/‚Eraclius‘......Page 419
4 ‚Mai und Beaflor‘......Page 441
5 ‚Die gute Frau‘......Page 461
Abkürzungsverzeichnis......Page 475

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Germania Litteraria Mediaevalis Francigena (GLMF) Band IV

Germania Litteraria Mediaevalis Francigena (GLMF) Handbuch der deutschen und niederländischen mittelalterlichen literarischen Sprache, Formen, Motive, Stoffe und Werke französischer Herkunft (1100–1300)

Herausgegeben von

Geert H. M. Claassens, Fritz Peter Knapp und René Pérennec

De Gruyter

Historische und religiöse Erzählungen GLMF IV Herausgegeben von

Geert H. M. Claassens, Fritz Peter Knapp und Hartmut Kugler Redaktion Nils Borgmann

De Gruyter

Germania Litteraria Mediaevalis Francigena (GLMF) Gesamtplan Band I Die Rezeption lateinischer Wissenschaft, Spiritualität, Bildung und Dichtung aus Frankreich Band II Sprache und Verskunst Band III Lyrische Werke [2012] Band IV Historische und religiöse Erzählungen Band V Höfischer Roman in Vers und Prosa [2010] Band VI Kleinepik, Tierepik, Allegorie und Wissensliteratur [2012] Band VII Gesamtregister, Bibliographie, Addenda

ISBN 978-3-11-022975-2 e-ISBN 978-3-11-026185-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

V

Vorwort Der IV. Band der Reihe „Germania Litteraria Mediaevalis Francigena (GLMF)“ stand unter keinem guten Stern. Zuerst fiel noch im Laufe der Planung ein Herausgeber, Hartmut Kugler, durch einen schweren Unfall aus und mußte durch den unterzeichneten Reihenherausgeber ersetzt werden. Als Hartmut Kugler nach langer Zeit wieder halbwegs ins Geschehen eingreifen konnte, waren die Weichen notgedrungen teilweise schon anders gestellt worden und die meisten Artikel schon geschrieben, so daß grundlegende Korrekturen nicht mehr möglich waren. Wir haben seinen Namen aber selbstverständlich auf dem Titelblatt unter den Herausgebern beibehalten, da er Konzeption und Aufbau des Bandes wesentlich geprägt hat. Dann setzte aber dem zweiten Herausgeber, Geert Claassens, die Überlastung an seiner Universität immer mehr zu, bis seine Gesundheit Schaden litt. Die für den Band von ihm zu leistende Arbeit verzögerte sich immer mehr. Der Zeitplan war nicht mehr zu halten. Zudem mußte der Unterzeichnete da und dort Ersatz leisten, bis zur Überschreitung seiner fachlichen Kompetenzen. Das wirkt sich insbesondere in den Einleitungen aus. Auch unterblieben aus Zeitmangel Überarbeitungen früh entstandener und an sich veralteter Einzelartikel. Denn der immer noch fehlende Band GLMF I drängte nach. Darüber wird im Vorwort zu diesem Band Rechenschaft zu geben sein. Wien/Heidelberg, im März 2013

Fritz Peter Knapp

Benutzerhinweis Kreisverweise auf andere Einzelartikel des Handbuches werden durch einen Rechtspfeil (f) vor der Nennung des andernorts nochmals und ausführlicher behandelten Gegenstandes gegeben. Befindet sich der betreffende Artikel in einem anderen Band, wird die Bandnummer in römischen Ziffern vorangestellt, z.B. „f V Tristanromane“. Steht der Artikel im gleichen Band, wird der Verweis durch die Nennung des Unterkapitels in arabischen Ziffern und ggf. die Angabe des Bandteils präzisiert, z.B. „f Wilhelmsepen, Teil B, Kap. 2.3“.

VII

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Einleitung von Geert Claassens und Fritz Peter Knapp . . . . . . . . . . . . . . . .

1

A Geschichtsepik – Antikenromane 1 Einleitung von Geert Claassens und Fritz Peter Knapp . . . . . . . . . . . . . . 2 Alexanderromane von Danielle Buschinger und Fritz Peter Knapp . . . . . . . . . . 2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Französische Alexanderromane des 2.2 12. und 13. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Deutsche Alexanderromane: ‚Vorauer‘, ‚Straßburger‘ 2.3 und ‚Basler Alexander‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Walter von Châtillon: ‚Alexandreis‘ . . . . . . . . . . 2.5 Jacob van Maerlant: ‚Alexanders geesten‘ . . . . . . . 2.6 Ulrich von Etzenbach: ‚Alexander‘ . . . . . . . . . . 3 Aeneasromane von Joachim Hamm und Marie-Sophie Masse . . . . . . . . . . 3.1 Die lateinischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der altfranzösische ‚Roman d’Enéas‘ . . . . . . . . 3.3 Der mittelhochdeutsche ‚Eneasroman‘ . . . . . . . 3.4 Gliederung des ‚Eneasroman‘ im Vergleich mit dem 3.4 ‚Roman d’Enéas‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Das ‚neu und anders Erzählen‘ im ‚Eneasroman‘ . . 3.6 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VIII

Inhaltsverzeichnis

4 Trojaromane von Ricarda Bauschke und Geert Claassens . . . . . . . 4.1 Einleitung: Der altfranzösische Trojaroman 4.2 Die mittelhochdeutschen Trojaromane . . 4.3 Die mittelniederländischen Trojaromane .

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B Geschichtsepik – Heldenepen/Chansons de geste 1 Einleitung von Geert Claassens und Fritz Peter Knapp . . . . . . . . . . . . . . 177 2 Karlsepen von Bernd Bastert, Danielle Buschinger, Geert Claassens und Fritz Peter Knapp . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 ‚Chanson de Roland‘/‚Rolandslied‘ . . . . 2.2 ‚Karel ende Elegast‘ . . . . . . . . . . . . 2.3 ‚Karlmeinet‘ . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Wilhelmsepen von Thordis Hennings und Fritz Peter Knapp . . . . . . . . . . 3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach . . . . 3.3 Der ‚Rennewart‘ Ulrichs von Türheim . . . . . . . 3.4 Das Kitzinger Bruchstück ‚Der Strit van Alescans‘ 3.5 ‚Willem van Oringen‘ . . . . . . . . . . . . . . .

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4 Kreuzzugsepen von Geert Claassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Der cycle rudimentaire . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die épopées intermédiaires . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die Fortsetzungen der ‚Conquête de Jérusalem‘ . . 4.5 Die mittelniederländischen Übersetzungen . . . . . 4.6 Die Rezeption der Kreuzzugsepik im germanischen 4.6 Sprachraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . 323

5 Lothringerepen von Geert Claassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 5.1 Einleitung: Der Lothringer-Zyklus im Altfranzösischen 5.1 und Mittelniederländischen . . . . . . . . . . . . . . . . 329

Inhaltsverzeichnis

5.2 5.3 5.4 5.4

IX

‚Garin le Lohérain‘ und ‚Gerbert de Metz‘ . . . . . . . . 330 ‚Roman der Lorreinen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Die Rezeption der Lothringerepik im germanischen Sprachraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346

6 Empörerepen von Irene Spijker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Einleitung: Der Empörer-Zyklus . . . . . . . . . 6.2 ‚Renaut de Montauban‘ . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Rezeption der Empörerepik im germanischen 6.3 Sprachraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 ‚Renout van Montalbaen‘ . . . . . . . . . . . . .

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C Religiöse Erzählungen 1 Einleitung von Fritz Peter Knapp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 2 ‚Grégoire‘/‚Gregorius‘ von Fritz Peter Knapp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 3 ‚Eracle‘/‚Eraclius‘ von Edith Feistner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 4 ‚Mai und Beaflor‘ von Fritz Peter Knapp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 5 ‚Die gute Frau‘ von Fritz Peter Knapp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465

X

Inhaltsverzeichnis

Abgrenzung und Gliederung des Untersuchungsfeldes

1

Einleitung von Geert Claassens und Fritz Peter Knapp 0.1 Abgrenzung und Gliederung des Untersuchungsfeldes – 0.2 Zweifelsfälle und Randphänomene – 0.3 Allgemeine Beobachtungen zur Übernahme der Texte

0.1 Abgrenzung und Gliederung des Untersuchungsfeldes Unsere Kenntnis von der Geschichte des romanischen Einflusses auf die ‚theodiske‘, also niederländische und deutsche erzählende Literatur des Hochmittelalters – die Lyrik bleibt hier einmal außer Betracht (f GLMF III) – leidet stark unter den Defiziten der Überlieferung. Aller Wahrscheinlichkeit nach fanden die ersten massiveren Berührungen an der nördlichen Sprachgrenze des Französischen statt. Aber die Überlieferung der ältesten ‚francigenen‘ Denkmäler ist nur trümmerhaft und/oder spät oder hochdeutsch. Vieles dürfte ganz verloren sein. Im Deutschen hat die Beliebtheit der Werke der Klassiker Hartmann, Gottfried und Wolfram offenbar einiges aus dem Felde geschlagen und der Vergessenheit anheimfallen lassen. Im Niederländischen hat es solche überwölbende Gestalten nicht gegeben. Auch Jacob van Maerlant kann trotz seines gewaltigen Œuvre und seiner beträchtlichen Wirkung nicht im selben Maße als eine solche gelten. Allerdings sind seine Werke größtenteils vollständig (vielfach aber nicht in originaler flämischer Gestalt) auf uns gekommen, im Gegensatz zu dem bis jetzt nicht befriedigend erklärten fast durchgängig fragmentarischen Zustand der Überlieferung der mnl. weltlichen Ritterepik anderer Autoren. Ja, es sieht so aus, als sei der Westen, in erster Linie Flandern, in zweiter Linie Brabant, der französischen Kultur sogar so nahegestanden (vor allem die Hochadligen), daß die Notwendigkeit von Übertragungen vorerst gar nicht empfunden wurde – im Gegensatz zum maas- und moselländischen Raum. Dies nimmt auch Frits van Oostrom (LG) als einen wichtigen Grund dafür an, daß hier weit früher Übertragungen entstehen als im Westen. Es ist dann allerdings nicht recht verständlich, warum er zugleich die alte Hypothese von Pentti Tilvis (1959), die frühe klassische

2

Einleitung

mhd. höfische Epik gehe auf verlorene flämische Übersetzungen aus dem Französischen zurück, noch ernstlich erwägt (Van Oostrom, LG, S. 216–218). In späterer Zeit setzt allerdings eine recht intensive Ausstrahlung der mnl. Literatur nach Osten ein. Davon zeugen nicht nur Teile des ripuarischen ‚Karlmeinet‘, die rheinfränkischen Epen ‚Reinolt von Montelban‘, ‚Malagis‘ und ‚Ogier von Dänemark‘ (Bastert 2010), sondern auch mnd. und mhd. Umschriften von Werken Jakobs von Maerlant (Biesheuvel/Palmer 2004). Hat das etwas mit der kulturellen Anziehungs- und Ausstrahlungskraft der Höfe von Köln, Lüttich, Jülich, Kleve, Loon und Geldern im 14./15. Jh. zu tun? Ein Einfluß in die entgegengesetzte Richtung scheint bis auf die Adaptation des ‚Nibelungenliedes‘ und ‚Van den bere Wisselau‘ (f Einleitung, Teil B, Kap. 1) kaum nennenswert gewesen zu sein. Woher aber dann die zahlreichen Bearbeitungen afrz. Texte aus dem Westen des Mnl., wo sich doch die Zweisprachigkeit des flämischen und brabantischen Adels im 13. Jh. wenig reduziert haben dürfte? Van Oostrom (LG, S. 224–232) meint, im niederen Adel sei die Kenntnis des Französischen vermutlich nicht so verbreitet gewesen, desgleichen im reichen Stadtbürgertum, die beide gleichwohl an der höfischen Kultur Anteil haben wollten. Schließlich aber könnten etliche mnl. Werke für den Hof des Grafen von Holland bestimmt gewesen sein, der Frankreich ebenfalls ferner stand. Allerdings weisen die sprachlichen Merkmale der meisten Werke des 13. Jh. nicht auf Holland. Es müßten daher auch flämische Autoren für den Norden gearbeitet haben, wie wir es zumindest teilweise für Jacob van Maerlant nachweisen können. Für den Osten und Südosten konnten sie es dagegen nicht, sobald sich dort die oberdeutsch geprägte Literatursprache durchgesetzt hatte. Soweit die ungünstige Beleglage einen Schluß zuläßt, ist der älteste ‚francigene‘ Text der ‚Alexanderroman‘ des Pfaffen Lambrecht (f Alexanderromane, Teil A, Kap 2.3). Er dürfte etwa 1130/50 (Tervooren 2006, S. 90, u.a.) oder 1150/60 (Lienert 2001, S. 30, u.a.) entstanden sein. Die Reime weisen auf den moselfränkischen (Trierer) Raum. Erhalten ist der weitgehend (?) originalgetreue Text aber nur in der Vorauer Handschrift 276, die im ausgehenden 12. Jh. in dem steirischen Augustiner-Chorherrenstift Vorau südbairisch (um)geschrieben wurde. Eine höfische Bearbeitung aus dem frühen 13. Jh. (?) ist in rheinfränkisch-hessischer Schreibsprache (Straßburger Hs.) auf uns gekommen. Das sind eher zufällige Relikte eines offenbar ziemlich regen ‚innerdeutschen‘ Literaturaustauschs. Der ‚Vorauer Alexander‘ gilt noch als vorhöfisch. Er reiht sich ein in eine literarische

Abgrenzung und Gliederung des Untersuchungsfeldes

3

Landschaft, die im Bereich der weltlichen Epik markiert wird durch die Regensburger ‚Kaiserchronik‘ (vor 1150), ‚Brandans Meerfahrt‘ (um 1150), ‚Herzog Ernst A‘ (um 1160/70), ‚König Rother‘ (um 1160/70), und das ‚Rolandslied‘ (s.u.). ‚Herzog Ernst A‘ und ‚König Rother‘ scheinen in ihrer Sprache, ähnlich wie der ‚Alexanderroman‘, auf eine mittelfränkische Grundschicht, in inhaltlichen Bezügen aber auf Baiern zu verweisen. Alle drei Texte wollen den Eindruck von Tatsachenberichten erwecken. Die höfische Literaturtradition wird – zumindest was die Folgewirkung betrifft – begründet durch den ‚Eneasroman‘ Heinrichs von Veldeke (f Aeneasromane, Teil A, Kap 3.3). Durch den Epilog des Romans meinen wir davon unterrichtet zu sein, daß Heinrich seinen Roman im maasländischen Raum schon 1174 zum Großteil fertiggestellt hatte, als ihm die Handschrift abhanden kam, so daß er das Werk erst zehn Jahre später in Thüringen fertigstellen konnte. Von hier ging jedenfalls erst die schriftliche Tradition aus, soweit sie uns überliefert ist. Sie ist für einen so frühen Text erstaunlich breit. Das Werk hat nach dem Zeugnis Gottfrieds von Straßburg formal Schule gemacht. Vielleicht ist er aber selbst schon von einem benachbarten frühhöfischen Werk angeregt worden, dem ‚Trierer Floyris‘ (f V Florisromane), der um 1170 im Maasland entstanden sein könnte (älteste Hs.: Trier, Stadtbibl., Mappe X, Frgm. 13, vielleicht noch 12. Jh.; vgl. Kienhorst 1988, Bd. I, S. 57). Ungeklärt sind Veldekes Beziehungen zu Eilhart von Oberg, der vielleicht ebenfalls um 1175/80 (in Braunschweig? am Niederrhein?) mit der Bearbeitung einer afrz. Vorlage beschäftigt war (f V Tristanromane). Damit ist aber wohl der Bestand an einschlägigen Texten des 12. Jh. erschöpft oder, um es vorsichtig auszudrücken, an Texten, deren älteste schriftliche Gestalt einigermaßen sicher auf das 12. Jh. verweist. Die Zuversicht der älteren Mittelniederlandistik, mnl. Chanson-de-geste-Bearbeitungen auf das 12. Jh. datieren zu können (vgl. z.B. Van Mierlo 1946, S. 38–44; Knuvelder, LG I, S. 40–53; De Bruin 1971, S. 189f.), hat sich als kaum berechtigt erwiesen. Über die frühe Existenz einschlägiger mündlicher Texte sagt dies natürlich noch nichts aus. Vermutlich ist es kein Zufall, daß die ältesten schriftlichen Fragmente, die des ‚Aiol‘, von etwa 1220 (f Einleitung, Teil B, Kap. 1), wiederum aus dem maasländischen Raum (aus der Gegend von Venlo?) stammen, nicht aus dem Westen. Die übrigen sind alle jünger, überwiegend sogar beträchtlich jünger, wenige noch aus dem 13. Jh. Das einzige mnl. ‚heldenepische‘ Gedicht, das ganz erhalten ist, ‚Karel ende Elegast‘ (f Karlsepen, Teil B, Kap. 2.2), ist dies nur durch frühe Drucke, nicht durch die (relativ zahlreichen) handschriftlichen Bruchstücke.

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Einleitung

Am bemerkenswertesten ist die späte Aufnahme des Antikenromans im Westen erst in der Mitte des 13. Jh. (durch die brabantischen bzw. flämischen Autoren Segher Diengotgaf und Jacob van Maerlant; f Alexanderromane, Teil A, Kap. 2.5 u. f Trojaromane, Teil A, Kap. 4.3). Dies könnte, wie oben angedeutet, mit den verbreiteten Französischkenntnissen der Oberschicht in Flandern und Brabant zu tun haben. Weit rarer waren diese Kenntnisse auf jeden Fall im hochdeutschen Gebiet weiter östlich des Rheins, wohin der ‚Alexanderroman‘ und der ‚Eneasroman‘ verpflanzt wurden. In Thüringen, wo dieser wahrscheinlich vollendet wurde, schloß sich auch bald, wohl noch vor 1200, diesmal ohne Vermittlung der romanisch-germanischen Grenzregion, eine Verdeutschung des ‚Trojaromans‘ an (f Trojaromane, Teil A, Kap. 4.2.1). Veldeke hat hier also sogleich eine Nachfolge gefunden, anders als im Westen. Immerhin dürfte Maerlant etwas von Veldekes ‚Eneasroman‘ gewußt zu haben, denn er tut die Geschichte von Dido und Aeneas (nach Vergil!) relativ kurz ab, da sie schon auf ‚theodisk‘ (duytsch) erzählt worden sei (Van Oostrom, LG, S. 195). Die Vorreiterrolle muß sich der Antikenroman allerdings mit dem deutschen ‚Rolandslied‘ teilen, das in den 70er oder 80er Jahren des 12. Jh. am Regensburger oder/und am Braunschweiger Hof der Welfenherzöge vom Pfaffen Konrad geschrieben wurde (f Karlsepen, Teil B, Kap. 2.1.2). Auch bei der Chanson de geste geht also das Deutsche dem Niederländischen voraus. Selbst der ‚Aiol‘ dürfte, wie gesagt, kaum noch ins 12. Jh. hineinreichen. Daß ‚Renout van Montalbaen‘, ‚Geraert van Viane‘ und ‚Roelantslied‘ noch der ersten Hälfte des 13. Jh. angehören, ist zwar vermutet worden, läßt sich aber nicht sichern. Da dasselbe für die Artusromane ‚Perchevael‘ und ‚Wrake van Ragisel‘ gilt, hat die Gattung der Chanson de geste im Mnl. wahrscheinlich höchstens einen minimalen zeitlichen Vorsprung vor dem Höfischen Roman. Das unterschiedliche Alter und die anzunehmende völlig unterschiedliche Lebensweise der beiden afrz. Gattungen Chanson de geste und Roman courtois (f Einleitung, Teil B, Kap. 1) im 12. Jh. spiegeln sich in der ‚theodisken‘ produktiven Rezeption der beiden Gattungen also offenbar nicht wider. Für diese Rezeption ist die Verfügbarkeit von Abschriften entscheidend, gleichgültig ob diese unmittelbar nach der Produktion systematisch oder, wie bei den Chansons de geste, mehr oder minder zufällig und vereinzelt im Rahmen einer ansonsten zu Anfang überwiegend mündlichen Überlieferung angefertigt wurden. Wenn die Heldenepen in Frankreich spätestens seit dem 11. Jh. entstehen und so den Antikenromanen und den noch späteren Artusromanen beträchtlich vorangehen, so läßt sich im germanischen Bereich, wo alle aus dem Französischen übernom-

Abgrenzung und Gliederung des Untersuchungsfeldes

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menen und bearbeiteten Texte anfangs ohne Unterschied zum Vorlesen bestimmt gewesen sein dürften, diese literarhistorische Abfolge so nicht mehr erkennen. Die Vorreiterrolle hat der Antikenroman mit Lambrechts ‚Alexander‘; dann folgt vermutlich Konrads ‚Rolandslied‘ oder schon Veldekes ‚Eneasroman‘, dann um 1180 der erste Artusroman mit Hartmanns ‚Erec‘. In Flandern und Brabant dürften Chanson de geste und Artusroman, wie gesagt, etwa gleich alt sein (frühes 13. Jh.). Der Antikenroman wird hier erst später übernommen. Die regionale Streuung der deutschen Werke ist groß; die Abhängigkeiten untereinander sind meist schwer festzustellen. Der ‚Erec‘ scheint allerdings ohne die formale Vorgabe des ‚Eneasromans‘ kaum denkbar. Das literarhistorische Bild muß aber natürlich noch um epische Werke ergänzt werden, für die sich keine afrz. Vorbilder namhaft machen lassen, um die geistliche Epik und die einheimische Heldenepik (bei der wiederum die Mündlichkeit ins Spiel kommt). Die Herausgeber von GLMF IV standen hier wie überhaupt vor der Frage einer gattungstheoretisch einigermaßen vertretbaren Abgrenzung des Bandes nach außen und der Einteilung im Inneren. Die Diskussion um die Unterscheidung der Höfischen Epik von der Geschichtsepik ist schon in der Einführung zu Band V geführt worden. Sie hängt natürlich mit der kontroversen Fiktionalitätsdebatte zusammen. So etwas wie einen archimedischen Punkt kann man wohl in den berühmten gattungspoetischen Bemerkungen im ‚Sachsenlied‘ (‚Chanson de Saisnes‘,V. 1–3 u. 6–11), einem französischen Heldenepos von Jean Bodel (Ende 12. Jh.), sehen, wo wir lesen: Qui d’oyr et d’entendre a loisir et talant, Face pais, si escout bonne chançon vaillant Don’t li livre d’estoire sont testoing et garant! […] N’en sont que trois materes a nul home entendant: De France et de Bretaigne et de Rome le grant; Ne de ces trois materes n’i a nule samblant. Li conte de Bretaigne s’il sont vain et plaisant Et cil de Romme sage et de sens aprendant, Cil de France sont voir chascun jour aparant.

Wer Muße und Lust zu hören und zu lauschen hat, sei ruhig und höre ein gutes, wackeres Lied, wofür die Geschichtsbücher Zeugnis ablegen. Es gibt nur drei Stoffe für einen klugen Menschen: von Frankreich, Britannien und dem großen Rom. Etwas diesen drei Stoffen Vergleichbares gibt es nicht. Die Geschichten von Britannien sind nichtig und ergötzlich und die von Rom weise und wissensvermittelnd, die von Frankreich sind alle Zeit eindeutig wahr.

Freilich geht die Einteilung vom Stofflichen aus und läßt den Status der Werke mit antiken Stoffen in Bezug auf die Fiktionalität offen. Aber immerhin knüpft der Jongleur direkt an den alten Antagonismus von historia und fabula aus der lat. Poetik an (f I Poetik) und weist die Erzählungen mit bretonisch-britannischem Stoff als vain et plaisant, also als fabula aus, die mit

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Einleitung

französischem Stoff als voir chascun jour aparant, somit als historia. Die Antikenromane muß man dann ‚irgendwie‘ da oder dort unterbringen. Wenn wir hier einmal, ungeachtet gewisser Einsprüche, die ‚reine‘ Fiktionalität des chrétienschen Artusromans (‚Erec et Enide‘, ‚Lancelot‘, ‚Yvain‘) als gegeben und als Gegenpol die Chronistik, also etwa die ‚Kaiserchronik‘ im Deutschen oder Waces ‚Roman de Brut‘ – der nur romanz/ romant heißt, weil er romanisch, nicht lateinisch geschrieben ist – im Französischen, annehmen, so können wir versuchen, anhand erkennbarer Fiktionalitäts- bzw. Historizitätssignale volkssprachliche epische Texte einem der beiden Pole mehr oder minder anzunähern. Selbstverständlich dürfen wir dabei nur den mittelalterlichen Geschichtsbegriff anlegen, der mit dem der modernen Geschichtswissenschaft sehr wenig gemein hat. Dann sehen wir, daß sich im allgemeinen germanische wie romanische Heldenepik als Geschichtsüberlieferung geben (vgl. Knapp 1997 u. 2005). In unserem Zusammenhang geht es nur um die romanische Heldenepik, die Chanson de geste. Sie geht aus von bekannten historischen Gestalten des Frühmittelalters, Karl dem Großen, seinen Paladinen, seinen Vorgängern und Nachfolgern. Aber für die meisten geschilderten Ereignisse der Chansons de geste lassen sich historische Vorbilder nicht mehr eindeutig feststellen. Die lat. Chronistik verzeichnet solche in der Regel nicht. Dagegen stehen die Antikenromane in einer manifesten lateinischen Tradition, deren historiographischer Wert jedoch im Laufe der Neuzeit immer mehr bezweifelt worden ist. Das Mittelalter hatte solche Zweifel beim griech.-lat. ‚Alexanderroman‘, bei Vergils ‚Aeneis‘, bei den Machwerken des Dares und Diktys nur im Detail gehabt, bemerkenswerterweise am wenigsten bei den zuletzt aufgezählten Trojaromanen, am meisten bei der Mythologie des antiken Epos. Selbst Jacob van Maerlant vertraut den lat. Quellen nahezu bedingungslos, während er im Laufe seines Schaffens den volkssprachigen epischen Texten aller (!) Gattungen immer weniger historische Zuverlässigkeit zutraut (s. Kap. 0.3). Während die lat. Poetik des Mittelalters die Mythologie meist als fiktionales Element aufgefaßt hat (f I Poetik; f I Allegorie), neigt der afrz. Antikenroman eher zur euhemeristischen oder dämonologischen Deutung der antiken Götter. Einer Auffassung der Antikenromane als Geschichtsepik steht damit wenig entgegen. Kein Problem bereitet auch die Abgrenzung gegenüber der Epik mit Stoffen aus der französischen Geschichte. Nicht nur die Stoffe, sondern auch die Anbindung ans Lateinische und die religiöse Atmosphäre sind in den beiden Gattungen verschieden. Die Helden der Antikenromane beten allesamt heidnische Götter an. Hier schließen allerdings die Chansons de geste insofern an, als sie die muslimischen

Zweifelsfälle und Randphänomene

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Sarazenen rundweg zu Polytheisten im antiken Sinne, wenngleich mit zusätzlichen unantiken Göttern wie Tervigant, Cahu, Mahomet u.a., erklären. Ihre christlichen Gegner bewähren sich somit im heiligen Glaubenskrieg und erwerben im Falle des Todes die Märtyrerkrone. Dementsprechend wuchern in den Texten die legendären Elemente. Hier lassen sich zumindest am Rande andere religiöse Texte anschließen, die das Historische nicht stark herauskehren, gleichwohl jedenfalls der Fiktionalität des Artusromans sehr ferne stehen. Wieweit sie sich texttypisch zusammenfassen lassen, wird in der Einführung zu Teil C dieses Bandes besprochen werden. Mit der afrz. Heldenepik haben sie alle nichts zu tun, obwohl auch der christliche oströmische Kaiser Eraclius/Herakleios gegen ‚Heiden‘ kämpft (f Teil C, Kap. 3). Nach Zeit und Ort der Handlung ergibt sich auch eine Anbindung an die Antikenromane. Auch der römische Papst Gregorius (f Teil C, Kap. 2) läßt sich am ehesten in der Antike situieren. Selbst Mai und Beaflor (f Teil C, Kap. 4) sollen vielleicht (spät)antike Gestalten meinen. Nur ‚Die gute Frau‘ ist ganz mittelalterlich. Hier dürften zeitgeschichtliche Ereignisse dahinterstehen. Aber das romanhafte Element dominiert merklich (f Teil C, Kap. 5). Am anderen Ende der Skala steht, wie gesagt, die Chronistik. Hier hat aber offenbar niemand Anlaß gehabt, etwas aus der Romania in die Germania zu übernehmen. Geschichtsschreibung in Versen oder Prosa über Ereignisse der ‚neueren‘ Zeit ist hier wie dort entweder aus dem Lateinischen genommen oder originale Schöpfung. Die Nachschöpfungen französischer Werke lassen sich dagegen alle mehr oder minder problemlos den genannten Gruppen zuordnen.

0.2 Zweifelsfälle und Randphänomene Eine Ausnahme bildet der ‚Graf Rudolf‘. „Im ‚Graf Rudolf‘ trifft so vieles zusammen: Heroisches aus der Chanson-de-geste-Tradition, Kreuzfahrerwirklichkeit, Höfisches in Lebensform und Minne, Romanhaftes in Reiseabenteuern, in Trennung und Wiederfinden, Didaktisches“ (Ruh 1977, S. 69). Der Text ist wahrscheinlich vor 1187 irgendwo im mitteldeutschen Sprachraum entstanden, aber nur in Resten einer Handschrift (in Braunschweig u. Göttingen, Ende 12. Jh., ca. 1400 V.) erhalten. Anfang und Ende fehlen. Die Reihung der Fragmente und damit der Handlungsgang lassen sich nur vermutungsweise bestimmen. Ein Versuch ergibt etwa folgendes (Hennings 2008, S. 167):

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Der Held, Rudolf von Arras, Graf von Flandern, folgt dem Kreuzzugsaufruf des Papstes und zieht ins Heilige Land, wo er sich in den Kämpfen für den christlichen König von Jerusalem, Gilot, gegen die Heiden unter der Führung des Heidenkönigs Halap auszeichnet (Belagerung von Askalon). Dank der Intervention des heidnischen Ratgebers Girabobe schließen beide Parteien einen Waffenstillstand. Das nachfolgende Fragment (E, Eb) schildert (bemerkenswert frei) das Minneverhältnis zwischen Rudolf und der Tochter des Heidenkönigs Halap in dessen Palast. Daraus geht hervor, daß Graf Rudolf in der Zwischenzeit auf die Seite der Heiden übergewechselt ist. König Gilot bezichtigt ihn daher des Hochverrats und fordert seine Auslieferung, welche ihm der König Halap jedoch entrüstet verweigert. Das Fragment Fb berichtet von einem Kampf zwischen dem Grafen Rudolf und dem Heer des Königs Gilot. Rudolf kämpft hier mit vlacheme sverte (Fb, V. 53), um die Christen zu schonen. Gilot unterliegt und flieht. Nach einer großen Lücke erfahren wir, daß die Tochter des Heidenkönigs Halap inzwischen zum christlichen Glauben übergetreten ist und den Namen Irmengart angenommen hat (Gb). Aus dem Fragment H wird ersichtlich, daß Rudolf in der Zwischenzeit in (nicht näher identifizierbare) Gefangenschaft geraten ist. Schwerverwundet kann er sich aus dieser befreien und gelangt nach Konstantinopel, wo er seine Geliebte (in Begleitung von deren Zofe Beatrise und seines Neffen Bonifait) wiedertrifft. Alle vier fliehen gemeinsam in Richtung Flandern. Nachts werden sie von 12 Räubern überfallen. Bonifait verliert, da er den schlafenden Rudolf nicht wecken will, sein Leben im Kampf gegen die Räuber. Das Werk endet mit Rudolfs Totenklage um seinen toten Neffen (Kb, V. 41ff.).

Ein ‚Kreuzzugsroman‘ offenbar, mit Bezügen zur realen Gegenwart, aber als solcher als Typus sowohl in der Romania als auch in der Germania sonst unbekannt. Die afrz. Chansons des Kreuzzugszyklus (f Kreuzzugsepen, Teil B, Kap. 4.2) behandeln alle eine frühere Epoche. Die Kreuzzugsatmosphäre des deutschen ‚Rolandsliedes‘ steht der pragmatischen Offenheit des ‚Graf Rudolf‘ ideologisch schroff gegenüber. Aber es läßt sich auch keinerlei Abstoßungsaffekt zwischen beiden anhand von Textsignalen ausmachen. Der ‚Graf Rudolf‘ geht gewiß irgendwie auf einen afrz. Text zurück. Dafür sprechen die Herkunft des Helden, viele Personennamen und einige damals unübliche afrz. Fremdwörter. Ein afrz. ‚Raoul d’Arras‘ oder dergleichen hat sich allerdings nicht erhalten. Etliche Namen und Motive stimmen aber mit dem ‚Boeve de Hantone‘ (von 1215/25?) überein. Andere Motive finden sich in anderen Chansons de geste wieder (Fromm 1997; Hennings 2008, S. 170). Aber beweisbar ist nichts. „Schon der Erhaltungszustand [des ‚Graf Rudolf‘] läßt keine Entscheidung darüber zu, ob wir es hier mit einer freien Bearbeitung einer französischen Vorlage oder mit einem deutschen ‚Originalwerk‘, das Motive aus französischen Chansons de geste entlehnt hat, zu tun haben“ (ebd., S. 171). Ein eigener Artikel in unserem Handbuch wäre also nicht zu rechtfertigen gewesen. Noch viel weniger beim ‚Wilhelm von Wenden‘ Ulrichs von Etzenbach, der in seinen Werken überhaupt keinerlei Vertrautheit mit dem Fran-

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zösischen zu erkennen gibt. Sein ‚Alexander‘ beruht quellenmäßig auf der lat. ‚Alexandreis‘ (f Alexanderromane, Teil A, Kap. 2.6). Sprache und Erzähltechnik sind an Wolfram von Eschenbach geschult. Dem Meister Wolfram folgt Ulrich auch im ‚Wilhelm (Willehalm) von Wenden‘. Was allein den Verdacht einer französischen Vorlage wecken könnte und konnte, ist die thematische Verwandtschaft mit dem ‚Guillaume d’Angleterre‘ (f ‚Die gute Frau‘, Teil C, Kap. 5). In beiden Romanen gibt aus religiösen Gründen ein Königspaar Macht und Reichtum auf und geht in die Fremde. Die Königin gebiert in der Wildnis Zwillingssöhne. Die Familie wird bald darauf getrennt. Die Königin wird in Abwesenheit ihres Gatten Landesherrin in ihrem Gastland. Ebendort wird das Paar wieder vereint, auch mit den verloren geglaubten Söhnen. Im übrigen unterscheiden sich die beiden Erzählungen erheblich. Was eine Abhängigkeit Ulrichs vom ‚Guillaume d’Angleterre‘ besonders unwahrscheinlich macht, ist – außer dem völlig abweichenden, bei Ulrich ganz unfranzösischen Namenmaterial – die Existenz eines den beiden und auch noch weiteren Werken zugrundeliegenden europäischen Wandermotivs. Es bildet auch das Substrat der frommen Erzählung von der ‚Guten Frau‘, welche in Teil C quellengeschichtlich untersucht wird. Es zeichnet sich schon im hellenistischen Roman ab und tritt deutlich zum ersten Mal in der Placidas/EustachiusLegende (8. Jh.?) zutage. Gleichwohl gibt es ein markantes Motiv, das nur ‚Guillaume d’Angleterre‘ und ‚Wilhelm von Wenden‘ gemein haben: Nach der Geburt der beiden Söhne in der Einöde wickelt der König sie in seine Rockschöße, welche er mit dem Schwert von seinem Gewand abgeschnitten hat. An diesen Schößen, die von den Söhnen aufbewahrt werden, erkennt der Vater sie dann wieder (‚Guillaume d’Angleterre‘, V. 482f. u. 2947f.; ‚Wilhelm von Wenden‘, V. 2252 u. 6573f.). Da sich jedoch die Schicksale der Beteiligten im übrigen völlig anders gestalten, wird sich dieses markante Erkennungszeichen wahrscheinlich in einer weiteren, unbekannten Version des Stoffes befunden haben, vermutlich in einem lat. Predigtmärlein. Auf ein solches weist wohl die Erwähnung lat. Namen bei Ulrich, eines Kaisers Alexander (V. 8250 = Alexander Severus), eines Papstes Cornelius (V. 8249), eines Königs Honestus (V. 5495). Seltsam die Benennung vrouwe Bene, nicht etwa Bona für die weibliche Hauptperson als lat. Äquivalent für frouwe Guote. Dies war zugleich der Name der Königin von Böhmen, der Gattin König Wenzels II., Guta von Habsburg, Tochter König Rudolfs I. Hinter Wilhelm und Gute/Bene sollen deutlich Wenzel und Guta sichtbar werden, der Text ihnen huldigen und erzählerisch für die Legitimität ihrer Herrschaft argumentieren (Behr 1989, S. 175–206). Damit ist auch der Terminus

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ante quem 1297 für das Werk gesetzt, da in diesem Jahr Guta starb. Ulrichs ‚Alexander‘, der eine vergleichbare politische Intention verfolgt, entstand davor (f Alexanderromane, Teil A, Kap. 2.6). Gäbe es nicht die offensichtliche Anspielung auf Guta von Böhmen, so wären wir vielleicht geneigt, an ‚Die gute Frau‘ als Vorlage zu denken. Aber dagegen sprächen nicht nur die enormen inhaltlichen Differenzen, sondern auch die umständliche Erklärung der Bezeichnung Bene = Guote (‚Alexander‘, V. 4667–72), die nicht entfernt an la bon(n)e dame = diu guote vrouwe anklingt (f ‚Die gute Frau‘, Teil C, Kap. 5). Kaum zu bezweifeln ist eine afrz. Quelle bei ‚Wilhelm (Willehalm) von Orlens‘ (WvO), denn der Autor Rudolf von Ems beruft sich auf eine solche, und die Onomastik des Romans ist unzweifelhaft französisch. Der Vorarlberger Rudolf hat ihn zwischen 1235 und 1243 für den staufischschwäbischen Hofkreis, vielleicht als Fürstenlehre für den jungen König Konrad IV., geschrieben, im Auftrag eines Reichsministerialen unter Benutzung eines afrz. Buches, welches ihm ein anderer Reichsministeriale verschafft hat (WvO 15601–12): Von Francriche in thiusche lant / Wurden disiu mare gesant / Bi ainem hovischen werden man […] Von Ravensburg Johannes. / Diu getat des werden mannes / Wart im an walschen buochen kunt / Und brahte si do sa ze der stunt / Mit im her in thiusche lant, / Als er si geschriben vant („Von Frankreich in deutsche Lande wurde diese Geschichte gesandt durch einen höfischen Edelmann, Johannes von Ravensburg. Die Leistung des Edelmannes [WvO] wurde ihm aus romanischen Büchern bekannt, welche er sogleich damals herbrachte“). Etwa zur gleichen Zeit, zwischen 1230 und 1240 verfaßte Philippe de Remy, Sire de Beaumanoir, seine beiden Romane, ‚La Manekine‘ (f ‚Mai und Beaflor‘, Teil C, Kap. 4) und ‚Jehan et Blonde‘ (J&B). Dies weiß man erst, seitdem man erkannt hat, daß sich hinter demselben Namen Vater (ca. 1205/10–vor 1265) und Sohn (1252/ 54–1296) verbergen, von denen der ältere der Dichter ist (vgl. DLFMA, S. 1135–37). Früher kannte man nur den jüngeren, den Juristen, schrieb ihm auch die Romane zu und datierte daher JB erst weit später (vor 1275), so auch noch Edith Feistner, die 1988/89 einen bemerkenswerten Vergleich zwischen J&B, WvO und dem ‚Engelhard‘ Konrads von Würzburg († 1287) vorgelegt hat. Danach haben die drei Romane sechs Stationen der Handlung mehr oder minder gemeinsam (Feistner 1988/89, S. 330f.): (1) „Der Held verläßt seine Heimat.“ Wilhelm tut dies allerdings als reicher Fürst von Brabant nur zur Vervollkommnung seiner Rittertugenden, Jehan und Engelhard sind dagegen dazu durch drückende Not ohne ausreichendes Erbe gezwungen. (2) „Der Held etabliert sich am Hof des Dienstherrn.“ Der

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Held soll dessen Tochter als Knappe bedienen. (3) „Der Held verliebt sich in das vermeintlich unerreichbare Mädchen.“ Die eindrucksvolle Szene, die das erste Minnegespräch initiiert, bei Tisch, wo der Knappe der Dame das Fleisch vorschneiden soll, sich aber aus Gedankenverlorenheit ungeschickt zeigt, findet sich nur bei Philippe und Konrad. (4) „Lebensbedrohliche Minnekrankheit und Errettung durch das Mädchen.“ (5) „Äußere Trennung der Liebenden.“ Die Gründe für die Trennung sind verschieden. Jehan muß das Erbe des Vaters in der Heimat antreten. Bei Konrad und Rudolf verlangt die Geliebte eine weitere ritterliche Karriere von ihrem Geliebten. (6) „Verabredung im Baumgarten.“ Bei Konrad wird das Liebespaar beim Beischlaf überrascht. Dieser darf in J&B und WvO erst in der Ehe stattfinden. Dazu wird die Geliebte entführt, was aber nur bei Philippe gelingt. Wilhelm wird dagegen gefangen genommen und mit einer schweren Buße belegt. Hier trennen sich die drei Geschichten. Konrad schwenkt in die Bahn der weitverbreiteten Freundschaftssage von Amicus und Amelius ein (s.u.). Rudolf, der eine tristanähnliche Kindheitsgeschichte – Wilhelm verliert beide Eltern und wächst bei Jofrit von Brabant auf – vorangestellt hat, sieht eine Bußfahrt seines Helden vor, die dessen unmâze wieder gutmachen soll und mit zwei Tabus belegt wird: Er muß stumm bleiben, bis Amelie ihm wieder das Sprechen erlaubt, und die Lanzenspitze, die er als Zeichen seiner Untat im Leib trägt, kann nur eine Königstochter entfernen. Beide Motive finden sich, allerdings abgewandelt, in dem afrz. Legendenroman ‚Robert le Diable‘ vom Ende des 12. Jh. wieder, welchen schon Haug (1989, S. 643) beiläufig zum Vergleich herangezogen hatte. Aber die Vergleichsmomente sind rein punktuell. Beide Helden bewähren sich in selbstlosen kriegerischen Taten. Sonst haben sie nichts gemein. Robert ist ursprünglich dem Teufel versprochen, verhält sich dementsprechend satanisch, ehe er sich bekehrt und sein Leben als Eremit beendet. Wilhelm erhält die Fahrt als Strafe aufgetragen vom König, dem Vater seiner Geliebten Amelie, der den Helden ins unfreiwillige, nur von ihm, dem König, widerrufbare Exil schickt, am Ende aber dafür um Verzeihung bittet und die Ehe seiner Tochter im nachhinein billigt. Wilhelm tritt das Erbe seines Vaters, seines Ziehvaters und seines Schwiegervaters, an und wird zum mustergültigen Herrscher. Die Handlung des WvO spielt in Brabant, Nordfrankreich, England, Cornwall, Norwegen und einer Nordseeinsel, die von J&B in Nordfrankreich und England. Diese beiden Länder spielen also hier wie dort eine Rolle. Im einzelnen sind die Handlungsorte aber ganz verschieden. Bei Philippe sind es Dammartin (nordöstlich von Paris), woher Jehan kommt, Oxford und der durchaus realistisch vorgestellte Weg zwischen beiden

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Orten. Blonde ist keine Königstochter, sondern die Tochter des Grafen von Oxford, der Rivale Jehans nicht der König von Spanien (wie in WvO), sondern der Graf von Gloucester. Aber an afrz. Namen mangelt es in WvO nicht: Willehalm (< Guillaume), Jofrit (< Jofrei), Amelie (< Amelide?), Amelot, Pitipas (< petit pas), Nivel (< Nivelles), Komerzi (< Commercy), Orlens (< Orléans), Plois (< Blois), Scharters (< Chartres) u.a. (vgl. Flutre [1962]). Etliche Namen bleiben ungeklärt – so wie die ganze Quellenfrage. Man ist generell von einer gemeinsamen Quelle von J&B und WvO ausgegangen, bis Gicquel (1981) eine direkte Übernahme des damals, zu Rudolfs Schaffenszeit, ganz neuen afrz. Textes ins Deutsche postulierte. Feistner (1988/89, S. 337) geht zwar noch von der älteren Prämisse aus, will jedoch sowohl im WvO als auch im ‚Engelhard‘ eine „Strategie der Quellenkombination“ ausmachen. Daß sie Züge aus älteren mhd. Werken, v.a. dem ‚Tristan‘, entlehnt haben, steht außer Frage. Soll man Rudolf wirklich so verstehen, daß Johannes von Ravensburg ihm aus Frankreich mehrere welsche Bücher mitgebracht hat (s.o.)? Auch im 13. Jh. konnte gelegentlich der Plural diu buoch noch für den Singular stehen. Konrad beruft sich überhaupt nur auf eine lat. Quelle (‚Engelhard‘, V. 6492–95: von Wirzeburc ich Kuonrât / hân ez von latîne / ze tiuscher worte schîne / geleitet und gerihtet ). Bewußte Irreführung des Publikums? Schwerlich. Die Sachlage wird auch nicht weniger kompliziert durch Gicquels Nachweis, daß Rudolf auch noch eine kleine nebensächliche Partie im WvO, die Einquartierung zweier Turnierparteien, von Philippe übernommen zu haben scheint, jedoch nicht aus J&B, sondern aus ‚La Manekine‘, die er jedoch sonst offenbar nirgends als Quelle benutzt hat. Die Einquartierung erfolgt hier wie dort in Ressons und Gornay (‚La Manekine‘, V. 2627 u. ö. bzw. V. 2677 u. ö.), die bei Rudolf Reschun/Resun und Curnoy heißen (WvO 7971 u. ö.), kleine, in Deutschland gewiß unbekannte Orte just ganz in der Nähe von Philippes Familiensitz Remy. Da muß es irgendeine Verbindung geben. Doch warum sollte Rudolf just diese Namen und sonst nichts aus dem ganzen Werk herausgepickt haben, selbst wenn er es in einer Sammelhandschrift zusammen mit J&B gelesen hätte? Ortskenntnis verrät er keine. Den Ort des Turniers bezeichnet er mehrfach als ze dem Poy, „beim Hügel“ (afrz. poi = pui ) und reimt Poy auf verballhorntes Curnoy (statt Gornay). Vor allem aber: Warum weicht er nach der (mißlungenen) Entführung auch von J&B so stark ab, um erst am Ende teilweise wieder zu dieser Quelle zurückzukehren. Stutzig muß es überdies machen, daß die oben genannten Handlungsstationen bis vor der Entführung frappante Analogien auch noch in dem etwa gleichzeitig mit J&B, zwischen 1232 und 1242 verfaßten anglonormannischen pseudo-

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historischen Roman ‚Gui de Warwick‘ aufweisen (Lécuyer 1984, S. 24–26), was weder Gicquel (1981) noch Feistner (1988/89) vermerken. Im übrigen steht der ‚Gui‘ aber dem WvO auch um nichts näher. Was bleibt, ist die rein spekulative Entscheidung zwischen zwei gleich unbefriedigenden Möglichkeiten: Rudolf von Ems hat selbständig mehrere afrz. Vorlagen frei bearbeitet oder eine afrz. Vorlage, die bereits eine Kombination aus mehreren, sonst nur getrennt überlieferten Erzählungen hergestellt hat, benützt. Nur die erstgenannte Möglichkeit würde es uns erlauben, Rudolfs Eigenleistung, auch in einem eigenen Kapitel dieses Bandes, zu beschreiben. Wir bekennen statt dessen unsere Ratlosigkeit. Ein eigenes Kapitel verdient auf keinen Fall Konrads ‚Engelhard‘, denn von diesem Autor wissen wir aus seinen eigenen Angaben, daß er bis in sein Alter des Französischen gar nicht mächtig war (vgl. Brunner 1985, Sp. 277). In dem erst in der (mit den 1260er Jahren beginnenden) Basler Zeit verfaßten ‚Partonopier und Meliur‘ (f V Partonopeusromane) betont er (V. 212): franzeis ich niht vernemen kan. Er sei daher auf den sprachkundigen Heinrich Marschant angewiesen gewesen, sagt er. Erst sein letztes Werk, das er bis zu seinem Tode 1287 nicht mehr vollenden konnte, ‚Der Trojanerkrieg‘ (f Trojaromane, Teil B, Kap. 3.2.2), scheint ohne einen Dolmetscher von welsche und von latîne (V. 305) übertragen worden zu sein. Der ‚Engelhard‘ ist sicher kein Spätwerk Konrads, so daß die ausschließliche Berufung auf eine lat. Quelle (s.o.) wohl Vertrauen verdient. Diese wird also vermutlich die oben skizzierten Stationen der Liebesgeschichte schon enthalten haben, die bereits in den größeren Rahmen der weit verbreiteten Freundschaftssage vom Typ ‚Amicus et Amelius‘ eingepaßt waren. Feistner (1989) hat deren literarischen Ausprägungen eine Studie gewidmet, es aber vermieden, sich auf ein Abhängigkeitsverhältnis des ‚Engelhard‘ festzulegen. Auf Konrads eigene Quellenangabe geht sie nicht ein. Konrad erzählt im Anschluß an die oben skizzierten Handlungsstationen weiter, wie Engelhards heimliches Liebesverhältnis mit Engeltrud, der Tochter des dänischen Königs, von einem Ritter entdeckt und verraten wird. Engelhard entbietet sich, seine Unschuld durch einen Zweikampf zu beweisen, und bittet dafür seinen Freund Dietrich, der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht, an seiner Stelle zu kämpfen. Dietrich siegt, erhält Engeltrud zur Frau, gibt sie aber an Engelhard weiter, der nach dem Tod des Dänenkönigs dessen Nachfolger wird. Später erkrankt Dietrich am Aussatz, erhält aber im Traum die Offenbarung seiner Rettung. Er reist zu Engelhard. Als dieser ihm das Geheimnis entrissen hat, folgt er der göttlichen Weisung des Traums und bringt gegen den Willen des Freundes seine eige-

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nen Kinder um und läßt den Freund in deren Blut baden. Dieser wird gesund, und Gott erweckt auch die Kinder wieder zum Leben. Die ziemlich grausame Sage ist alt und hat sich europaweit verbreitet. Am Anfang der Tradition (?) könnten zwei antike römische Märtyrer stehen, die in Mortara bei Pavia gemeinsam verehrt wurden. Die Freundschaftssage, die sich mit diesen Namen verband, entstand jedoch offenkundig ganz unabhängig von der Art des (angeblichen) Märtyrertodes und auch nicht in Italien, sondern in Frankreich in der literarischen Form einer Chanson de geste aus der Karolingerzeit. Das mündliche und daher nicht erhaltene heldenepische Gedicht muß die Grundlage für eine lateinische Bearbeitung im zehnten poetischen Brief des Mönchs Radulfus Tortarius (Raoul Le Tourtier) von Fleury aus der Zeit von ca. 1090 (jedenfalls vor 1114) abgegeben haben, aber auch über Zwischenstufen für die erhaltene Chanson de geste ‚Ami(s) et Amile(s)‘ von ca. 1200. Ausgehend von dem mirakulösen zweiten Teil ist nicht lange nach Raouls Epistula auch eine kürzere, stärker legendarische, historisierende ‚Vita sanctorum Amici et Amelii‘ entstanden, die im Laufe des Mittelalters mehrere lateinische Bearbeitungen erfuhr, darunter in den divergierenden Versionen, wie sie nach einer nordfranz. Hs. von Kölbing (1884) abgedruckt oder wie sie im Innsbrucker Cod. lat. 310 (von 1342) der ‚Historia septem sapientum‘ oder im ‚Speculum Historiale‘ des Vinzenz von Beauvais († um 1264) erhalten sind. Die Fassung im Innsbrucker Codex steht – bei allen Differenzen – dem ‚Engelhard‘ am nächsten (vgl. Ausg. Reiffenstein, S. XV). Von den Gattungsmerkmalen der Chanson de geste ist aber schon in der lat. Legende, die mit dem Martyrium der beiden Freunde endet, so nichts mehr übrig geblieben, um so weniger dann bei Konrad, der das französische Lokalkolorit, das vielleicht auch noch in der ihm bekannten lat. Fassung zu erkennen war, getilgt hat. Aber auf Umwegen gehört der ‚Engelhard‘ doch irgendwie noch zu den Gegenständen des vorliegenden Bandes, denn zumindest indirekt liegt ihm ein afrz. Text zugrunde, der freilich bei der Übernahme die Gattung gewechselt hat. Am ehesten könnte man ihn unter Teil C „Religiöse Erzählungen“ verbuchen. Weit schwerer fällt die Zuordnung des WvO. Als einen „pseudohistorischen Minne- und Aventiureroman“ (Walliczek 1992, Sp. 335) hat ihn die Einleitung zu GLMF V dem vorliegenden Band IV zugeschlagen, und das wohl zu Recht, auch wenn die Einordnung des erzählten Geschehens in einen bekannten historischen Rahmen fragwürdig ausfällt. Rudolf macht den Titelhelden Wilhelm/Willehalm/Guillaume zum Vater der Herzöge der Normandie und von Brabant (und Hennegau, dann noch von Flandern), und den Herzog von Brabant, Jofrit, zum Vorfahren des gleichnami-

Allgemeine Beobachtungen zur Übernahme der Texte

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gen Eroberers von Jerusalem. Der reale Gottfried von Bouillon war in der Tat Herzog von Niederlothringen (zu dem auch Brabant zählte), ehe er 1096 das Kreuz nahm und das Herzogtum verkaufte. Aber die dynastische Verbindung mit England ist unhistorisch, eine Identifikation der Protagonisten des Romans mit realen Personen nicht möglich. Davon sticht die (für die Handlung irrelevante) Anspielung WvO 15575–81 auf den Anschluß der Normandie an Frankreich ab, der sich tatsächlich in der ersten Hälfte des 13. Jh. vollzog und 1259 abgeschlossen wurde. Der Erzähler markiert das Ereignis mit dem Präsens und einem nû ausdrücklich als gegenwärtig und bekundet damit sein Interesse an der zeitgenössischen westeuropäischen Politik. Es hat sich offenbar auch auf Kultur und Literatur erstreckt. Die Plazierung der Handlung in einem imaginären Frühmittelalter würde am besten zu einer Chanson de geste passen. Sonst weist in dem Roman aber rein gar nichts auf diese Gattung. Er bleibt somit ohne Anschluß an diese wie an die beiden anderen in diesem Band behandelten Gattungen, die religiösen Erzählungen und die Antikenromane. Diesen hätte man dagegen mit geringeren Schwierigkeiten den (fragmentarisch überlieferten) Roman ‚Athis und Prophilias‘ zuschlagen können, den jedoch die Einführung zu GLMF V mit nur geringem Zögern für diesen Bd. V vereinnahmt hat. Auch unter den mnl. Texten gibt es etliche, welche sich nicht mit ausreichender Sicherheit unserem Rahmen einfügen lassen. Da sind einmal die 1962 erhaltenen Verse eines fragmentarischen Ritterromans ‚Flandrijs‘, der vielleicht noch im 13. Jh. (De Graaf 1980, S. 149) von einem Flamen (Berteloot 1982, S. 275–278) verfaßt wurde. Die Handlung enthält zwar Motive, die auch in der Chanson de geste auftauchen, doch läßt sich keine Verbindung mit einem bestimmten afrz. Text nachweisen. Auch die Datierung ist äußerst fraglich (vgl. Janssens 1982). Vergleichbare Gründe – undeutliche Anbindung an die afrz. Epik, problematische Datierung oder zu geringe erhaltene Textmenge – rechtfertigen es oder zwingen sogar dazu, eine Reihe weiterer Texte aus unserer Darstellung auszuschließen: ‚Roman van Caesar‘, ‚Floovent‘, ‚Florent ende Durant‘, ‚Florigout‘, ‚Jourdain de Blaye‘ ‚Madelgijs‘ und einige unidentifizierte Fragmente.

0.3 Allgemeine Beobachtungen zur Übernahme der Texte Obwohl sich bei einem solchen mehrbändigen Handbuch Wiederholungen nie vermeiden lassen, ist doch nicht beabsichtigt, Grundsatzfragen wieder aufzurollen, die in der Einleitung zu GLMF V behandelt worden

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sind. Viele der dort mit mehr oder minder großen Sicherheit gegebenen Antworten lassen sich vom Höfischen Roman auf die in GLMF IV behandelten epischen Werke übertragen. Aus dem Rahmen fallen allerdings die Adaptationen afrz. Heldenepen, da diese in aller Regel in verschiedenen Fassungen überliefert sind, von denen kaum je ausgerechnet die der fremdsprachigen Übertragung zugrundeliegende erhalten geblieben ist, wodurch der Vergleich beträchtlich erschwert wird, weit mehr als dort, wo es nur um Varianten von Abschriften geht. Näheres wird in der Einleitung zu Teil B erörtert. Hochmittelalterliche volkssprachige epische Texte sind generell primär zur Aufnahme durch das Ohr bestimmt (was private Lektüre natürlich nicht ausschließt). Transposition in ein fremdes sprachliches Medium erfolgt aber offenbar selten auf oralem Wege. Am ehesten möglich scheint sie noch bei kurzepischen Texten (s. GLMF VI), also im Bereich der heroischen/historischen Epik eventuell bei ‚Karel ende Elegast‘. Spijker (f Empörerepen, Teil B, Kap. 6) meint allerdings die seltsame Quellenmischung und Umstellungen in der Handlung im mnl. ‚Renout van Montalbaen‘ auch am ehesten als ein Ergebnis einer Anfertigung nach dem Gedächtnis erklären zu können, muß es aber letztlich offen lassen, ob sich der mnl. Bearbeiter an Gehörtes oder Gelesenes erinnert hat. Die allermeisten fremdsprachigen Bearbeiter bevorzugen die schriftliche Quelle, gleichgültig, welcher Gattung sie angehört. Läßt sich diese Quelle halbwegs rekonstruieren, so kann der Vergleich etwa beim ‚Roelantslied‘ (f Karlsepen, Teil B, Kap. 2.1.4) oder beim ‚Strît van Aleschanz‘ (f Wilhelmsepen, Teil B, Kap. 3.4) durchaus ähnliche Ergebnisse wie beim ‚Perchevael‘ (f V Percevalromane) oder beim ‚Iwein‘ (f V Chrétiens ‚Yvain‘ und Hartmanns ‚Iwein‘) erbringen. Umgekehrt begegnen wir im Band IV ebenso wie in Band V auch freien Bearbeitungen und selbständigen Fortsetzungen. Gemeinsame Bearbeitungstendenzen lassen sich für alle drei in GLMF IV behandelten Gattungen auch kaum ausmachen, außer wo sie sich unmittelbar aus der schlichten Tatsache ergeben, daß es sich um abgeleitete Sekundärtexte und um Verstexte (fast immer in vierhebigen Reimpaarversen) handelt. Wo sich aber die Bearbeitung zudem aus welchem Grunde auch immer dem Höfischen Roman annähert, dort werden die in GLMF V genannten Merkmale, Idealisierung, Rationalisierung und Verundeutlichung, auch mehr oder minder erkennbar. Die deutschen vor- und frühhöfischen Texte fallen aber natürlich nicht darunter. In den deutschen epischen Werken des späteren 13. Jh., welche in GLMF IV häufiger als in GLMF V vertreten sind, tritt hingegen als elementares Kennzeichen die

Literaturverzeichnis

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Prägung durch die Klassiker zutage, die vielfach die Gattungsgrenzen überspringt, was seinerzeit sogar Anlaß gab, in der „Deutschen NationalLitteratur“ (Piper 1890) in Übertreibung dieses Kriteriums die nachklassischen Autoren einfach in die Gruppen der Nachahmer Hartmann, Wolframs und Gottfrieds einzuteilen. Im Niederländischen ist dergleichen im 13. Jh. nicht zu beobachten. Erst mit Jacob van Maerlant (1230/35–nach 1291?) tritt ein ‚Universaldichter‘ hervor, den Jan van Boendale im 14. Jh. vader der Dietsche dichteren algader nennen wird. Im überreichen Œuvre Maerlants läßt sich durchaus auch eine Abwendung von französischen Vorbildern beobachten. Der Grund dafür liegt aber keineswegs in einer Hinwendung zur früheren mnl. Dichtung, sondern in einer zu lateinischen Vorbildern. Maerlant verschreibt sich nämlich im Laufe seines Schaffens immer mehr dem Prinzip historischer Treue, die ihm allein durch lateinische Quellen, nicht aber in den französischen, gewährleistet erscheint (f Trojaromane, Teil A, Kap. 4.3). Nicht zuletzt durch die gemeinsame Dokumentation von mhd. und mnl. Bearbeitungen korrigiert der vorliegende Band die landläufige Auffassung, Frankreich habe zu allererst auf dem Gebiete des Höfischen Romans auf die Germania gewirkt, sind doch die in GLMF V besprochenen Werke an Zahl weit geringer als diejenigen, welche hier in GLMF IV erscheinen.

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Einleitung

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Literaturverzeichnis

A Geschichtsepik – Antikenromane 1. Einleitung 2. Alexanderromane 3. Aeneasromane 4. Trojaromane

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1 Einleitung von Geert Claassens und Fritz Peter Knapp Der Antikenroman in Frankreich: Abgrenzung und Textbestand – Die deutsche und niederländische Rezeption – Das Fremde und das Eigene

Der Antikenroman in Frankreich: Abgrenzung und Textbestand Chrétien de Troyes verwendet, um die Freigebigkeit des Königs Artus, des idealen monarchischen Mittelpunktes seiner höfischen Welt, als konkurrenzlos herauszuheben, gegen Ende seines ersten Artusromans ‚Erec et Enide‘ folgenden Vergleich (V. 6678–81): Alexandres, qui tant conquist Que soz lui tot le monde mist, Et tant fu larges et tant riches, Vers cestui fu povres et chiches. Cesar, l’anperere de Rome, Et tuit li roi que l’an vos nome An diz et an chançons de geste, Ne dona tant a une feste Come li rois Artus dona […]

„Alexander, der soviel eroberte, daß er sich die ganze Welt unterwarf, und so freigebig und reich war, war im Vergleich zu ihm arm und knausrig. Caesar, der Kaiser von Rom, und alle Könige, welche man euch in Erzählungen und Heldenliedern nennt, verschenkte nicht soviel an einem Fest, wie König Artus verschenkte […]“

Eine gattungskritische Stellungnahme gibt er damit schwerlich ab. Er faßt die großen Herrscher Alexander und Caesar nur als Freigebigkeitsexempel ins Auge, ohne Rücksicht auf die Art der Literatur, in welcher sie auftreten (anders Schöning 1991, S. 41). Die diz und die chansons sollen wohl die beiden Arten des Vortrags ohne und mit Gesang unterscheiden. Die Stelle setzt die Kenntnis Alexanders, Caesars, Karls des Großen und anderer Könige beim Publikum als selbstverständlich voraus. Mit seinen literarischen Konkurrenten setzt sich dagegen Jean Bodel in der oben in der f Einleitung (Kap. 0.1) zum gesamten Band zitierten Passage auseinander, um seine eigene Chanson de geste zu propagieren. Er unterscheidet dabei nach geographisch verorteten Stoffbereichen: Rom – Britannien – Frankreich. Die Erzähl- und Vortragsform tritt dagegen in

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den Hintergrund. Die Forschung hat seit jeher Rom als Etikette für die gesamte Antike gehalten, ohne zu übersehen, daß der ‚Alexanderroman‘ (RA) formal gar nicht zu der Trias ‚Thebenroman‘ (RTh), ‚Eneasroman‘ (RE), ‚Trojaroman‘ (RTr), dagegen durchaus zur Chanson de geste paßt. Der afrz. ‚Alexanderroman‘ ist in allen Versionen in Acht-, Zehn- oder Zwölfsilber-Laissen abgefaßt, die zumindest ursprünglich zum Vortrag mit Singstimme gedacht waren und natürlich einen ganz anderen Erzählstil als die höfische Reimpaare bedingten. Schöning (1991, S. 50) plädiert daher vehement dafür, den RA als „antike Chanson de geste“ von den Antikenromanen zu trennen. Daß im RA Rom nur am Rande vorkommt, verwendet er natürlich nicht als Argument, wohl aber die Überlieferung (ebd., S. 51f.): Während der RTh, der RE und der RTr einmal zusammen in einer Handschrift überliefert sind (Paris, B.N. ms. fr. 60), RTh und RTr zweimal (Paris, B.N. ms. fr. 375; Genf, Bibl. Bodmer 18 […]), RTr und RE zweimal (Paris, B.N. ms. fr. 1450; Montpellier, Bibl. Ecole de Médecine, n° 251), hat ein Teil des RA nur einmal Eingang in eine Sammelhandschrift gefunden, in der sich neben zahlreichen anderen Texten auch RTh und RTr finden (Paris, B.N. ms. fr. 375).

Die Zahl ist ein wenig zu klein, um als Basis für eine Statistik zu dienen. Aber in eine bestimmte Richtung weist sie schon. Man könnte dem Befund auch entnehmen, daß auch der ‚Thebenroman‘ ein bißchen abseits steht. Das kann wiederum inhaltliche Gründe haben. Die Geschichte des Aeneas entwickelt sich unmittelbar aus dem Untergang von Troja. Aeneas aber hat der britische Geschichtsfälscher Geoffrey of Monmouth in seiner ‚Historia regum Britanniae‘ zum Urgroßvater eines gewissen Brutus, des angeblichen Ahnherren der Briten, gemacht. Es nimmt daher nicht wunder, wenn die anglonormannische Versfassung der ‚Historia‘, Meister Waces ‚Brut‘, zweimal zusammen mit dem RE (Paris, B.N. ms. fr. 12603 u. 1416), zweimal zusammen mir RE und RTr (Paris, B.N. ms. fr. 1450; Montpellier, Bibl. Ecole de Médecine, n° 251 – s.o.) in Sammelhandschriften aufgenommen wurde (Schöning 1991, S. 51, Anm. 37). Wie stark der reine Stoffzwang wirkt, beweisen wohl am besten die beiden Pariser Hss., B.N. ms. fr. 1450 und B.N. ms. fr. 794 (beide wohl 1. Hälfte 13. Jh.), worin der ‚Brut‘ nicht nur mit RTr und RE bzw. mit RTr, sondern auch mit den Romanen Chrétiens de Troyes vereinigt wurden, vermutlich weil die Abenteuer von Erec, Yvain etc. in der zwölfjährigen Friedenszeit der Herrschaft des Königs Artus Platz finden. Für uns gibt es dagegen kaum einen größeren Gattungsgegensatz als den zwischen Waces Reimchronik und den fiktionalen Erzählungen Chrétiens. Daß wir dem Mittelalter nicht einfach die Ignoranz des Gegensatzes von historia und fabula unterstellen

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dürfen, beweist u.a. wiederum die genannte Stellungnahme bei Jean Bodel. Die Überlieferung darf daher immer nur als zusätzliches Argument in der Gattungsdiskussion verwendet werden. Dasselbe gilt für die Berufung auf den ‚Sitz im Leben‘. Werke verschiedener Gattungen können denselben Verfasser, Ursprungsort oder Auftraggeber haben und umgekehrt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß RTh – RE – RTr in dieser Reihenfolge in zeitlicher und räumlicher Nachbarschaft für den (ambulanten) Hof Heinrichs II. von England und Eleonores von Aquitanien in normannisch-potevinischem Französisch etwa 1150/1165 verfaßt wurden (GRLMA IV/2 [1984], s. nn.), der erste RA von Alberic de Pisançon/Briançon dagegen schon im ersten Drittel des 12. Jh. im frankoprovenzalischen Raum, die Vulgata-Fassung Alexandres de Paris dann im dritten Viertel des 12. Jh. in der Île de France. Auch darin scheint sich also dieselbe Trennung anzudeuten. Gleichwohl hat die französische Literaturgeschichtsschreibung die Antikenromane alle miteinander in aller Regel dem Versroman zugeteilt, wohl wissend, daß es sich dabei um „œuvres hybrides“ (Frappier, in: GRLMA IV/1 [1978], S. 145) handelt. Was Wunder, wenn sich unter diesen Werken des Übergangs auch noch welche befinden, die sich nach Herkunft und Erzählform nochmals absondern und der literarischen Vergangenheit noch stärker verhaftet sind. In allen Antikenromanen erinnern die Waffen- und Kampfbeschreibungen, die Rats- und Gesandtschaftsszenen, die Totenklagen, der kollektive Charakter der Kriege statt der individuellen Aventüre noch stark ans Heldenepos (vgl. ebd., S. 146). Die Bindung an die Historie ist ja ohnehin die gleiche. Aber alle Antikenromane, auch der RA, obwohl dieser deutlich eine Randstellung einnimmt (so auch Zink, LG, S. 131), gehen auf bekannte schriftliche Quellen zurück, speisen sich nicht aus mündlicher Sagenüberlieferung, ja, transportieren mit den antiken Quellen gelehrtes Wissen über Mythologie, Geschichte, Geographie etc. in die mittelalterliche Welt, darunter mit Vorliebe besonders viel Wunderbares, das Staunen erregen soll (dies noch nicht im ersten RA von Alberic!). Und ihre Autoren machen sich erkennbar viel mehr Gedanken über ihre Aufgabe als Dichter, die sie zuerst als eine erzieherische darstellen. Schließlich gehört zu der mitgeführten Gelehrsamkeit nicht zuletzt auch die eifrige Benutzung der antiken Rhetorik, wie sie dann auch in die nordfranzösischen lat. Artes poeticae aufgenommen wird (f I Poetik). Ja, selbst die gegenüber der Chanson de geste ebenfalls ganz neue ausführliche Schilderung der verschiedenen Formen zwischengeschlechtlicher Liebe trägt bis zu einem gewissen Grad lehrhafte Züge, vielfach geschuldet der ‚Ars amatoria‘ und anderen Werken Ovids. Wiederum bietet

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der RA hier nur eine Art Vorspiel. Es ist allerdings nur teilweise korrekt, wenn Schöning (1991, S. 39) das amouröse Element auf die nicht gerade besonders erotische Candacis-Episode beschränkt. Denn immerhin gibt es da, wenn auch gewiß noch nicht in der ersten Version, auch die berükkenden Blumenmädchen. Aber die keineswegs nur quantitative Steigerung der Liebesthematik im RTh und dann weiter im RE und RTr ist beträchtlich. Die sich hier allmählich entfaltende Liebespsychologie wird literarisch wegweisend. Aber sie bleibt der antiken Grundvorstellung von der Liebe als Krankheit verhaftet und nimmt nichts von der Frauenverehrung der Trobadorlyrik auf. Manifestiert sich in den Antikenromanen ein Bewußtsein von der Kontinuität Antike-Mittelalter, oder herrscht hier ein naiver Anachronismus? Nur zu offenkundig erscheint die Antike ‚mediävalisiert‘. Die Stoffe stammen aus weit vergangenen Jahrhunderten. „Erzählt wird indes fast wie von Rittern, Liebenden, Herrschern der eigenen höfisch-mittelalterlichen Zeit, deren Merkmale in die Antike zurückprojiziert sind“ (Lienert 2001, S. 9). Rüdiger Schnell (1981, S. 12) urteilt über die mittelalterliche Rezeption generell: „Da das Mittelalter nicht wußte, daß es mittelalterlich war, glaubte es auch an ein Weiterleben der antiken Kultur. Weil die Antike für das Mittelalter nicht tot ist, kann es nicht von einer Wiedergeburt sprechen“. Schöning (1991, S. 12) bezeichnet dieses Urteil als „skurril“, weil es angeblich auf dem Realismusbegriff der späteren Neuzeit basiert. Skurril ist es gewiß nicht, aber doch weniger ausgewogen als das Jean Frappiers. Einerseits leugnet Frappier (1978, S. 147f.) eine gewisse Ignoranz der mittelalterlichen Autoren gar nicht. Ihre Kenntnisse der antiken Kultur waren durchaus lückenhaft. Andererseits mangelt es damals keineswegs gänzlich an dem Gefühl für die historische Distanz zu den Zeiten Achills und Aeneas’. Schließlich und vor allem hatte aber nach Frappiers Ansicht für das Mittelalter das Allgemein-Menschliche grundsätzlich größeres Gewicht als das Zeitgebundene. So stand die gesamte Geschichte unterschiedslos als magistra vitae für Exempla richtigen und falschen Verhaltens zur Verfügung. Peter von Moos (1988) hat dies in ausführlicher Auseinandersetzung mit der Forschung im wesentlichen bestätigt, ebenso auch, daß die Renaissance erstmals die Antike als eigenständige, nur aus sich selbst verstehbare, abgeschlossene Epoche empfand. Zum Gesamtbild des afrz. Antikenromans, das hier nur angedeutet werden konnte, gehört auch noch die kurzepische, stofflich v.a. auf Ovid beruhende Variante, der die Erzählungen des 12. Jh., ‚Piramus et Tisbè‘, ‚Narcissus‘ und ‚Philomena‘ (von Chrétien de Troyes), zugehören. Als ganze sind sie vor 1300 offenbar in mhd.-mnl. Sprache nicht bearbeitet

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worden (f GLMF VI). Aber Hartmann von Aue hat ‚Piramus et Tisbé‘ mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für Enites Totenklage in seinem ‚Erec‘ benützt (Knapp 1976), nicht zufällig in einem rhetorischen Paradestück. Vermutlich größeren Umfang als die drei genannten Stücke hatte der fast ganz verlorene afrz. ‚Apollonius de Tyr‘ – mit dem der mhd. ‚Apollonius von Tyrland‘ Heinrichs von Neustadt vom Anfang des 14. Jh. nur die lat. Quelle(n) (teilweise) gemeinsam hat (vgl. Knapp, LG II/1, S. 280–292). Von dem afrz. ‚Apollonius‘ hat sich nur ein Fragment von ca. 50 Versen erhalten, das nicht viel mehr als die bloße Existenz dieses wohl 1150/60 entstandenen Textes bezeugt. Wieweit sich die vielen Anspielungen in der afrz. und aprov. Literatur auf diesen Text oder die alte, spätantike hellenistische lat. ‚Historia Apollonii‘ beziehen, ist schwer zu sagen. Im Erzähltypus steht diese jedenfalls dem griech.-lat. ‚Alexanderroman‘ näher als den großen lat. Epen ‚Aeneis‘ und ‚Thebais‘. Es hätte sehr lehrreich sein können, auch die afrz. Apollonius-Adaptation in den Gesamtvergleich einbeziehen zu können. Die deutsche und niederländische Rezeption Wichtig ist der Hinweis auf die zuletzt genannten romanischen Texte für den komparatistischen Befund, daß hier wie auch sonst die Übernahme ins Germanische, nach dem Erhaltenen zu urteilen, nur ausschnittweise erfolgt ist, ohne daß irgendeine wirklich befriedigende Begründung gerade für die gewählten Ausschnitte gegeben werden könnte. Die Textkenntnis wurde allem Anschein nach nur durch Einzelhandschriften vermittelt, wie sie für den RE etwa in der Florentiner Hs., Bibl. Laurent., Plut. XLI, cod. 44, für den RTr etwa in der Mailänder Hs., Bibl. Ambros. D 55, vorliegen, beide vielleicht noch vom Ausgang des 12. Jh., aber trotzdem zu spät geschrieben, um als direkte Quelle für die älteste fremdsprachige Bearbeitung in Frage zu kommen. Sammelhandschriften spielen aber offenbar für die Rezeption gar keine Rolle. Der RTh bildet einen ‚blinden Fleck‘. Die einzige ausführlichere Darstellung der Ödipus- und Theben-Sage in einem deutschen Werk findet sich im f ‚Alexander‘ Ulrichs von Etzenbach (Teil A, Kap. 2.6). Die diesbezüglichen Sagenkenntnisse entnahm Ulrich vornehmlich den lat. Glossen zu Walters ‚Alexandreis‘, überdies vielleicht mythographischen Schriften, kaum der ‚Thebais‘. Wenn Kern (LAGDTM, S. 245 u. 436) den RTh überhaupt als Quelle zweifelnd erwägt, läßt sich dieser Zweifel durch Ulrichs sonstige mangelnde Vertrautheit mit dem Französischen nur er-

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härten. Jacob van Maerlant, der beide Sprachen gleicherweise beherrscht und für seine ‚Alexanders geesten‘ von ca. 1260 die lat. ‚Alexandreis‘, für seine riesige ‚Historie van Troyen‘ (um 1264) aber den afrz. RTr von Benoît de Sainte Maure als Hauptgrundlage benützt, gibt nur in seiner ‚Alexander‘-Fassung einen Überblick über die Thebensage in 19 Versen: Ödipus tötet seinen Vater, heiratet seine Mutter und sticht sich, als er sich dieser Taten bewußt wird, die Augen aus; seine Söhne Polyneikes und Eteokles führen um Theben einen verheerenden Krieg miteinander, wovon es eine französische Darstellung gebe (‚Alexanders geesten‘ I, V. 950–968). Man mag darüber spekulieren, ob und warum die Ödipus- und die Theben-Sage viel weniger Interesse als die anderen antiken Stoffe geweckt haben, darf aber dabei auch die anderen ‚blinden Flecken‘ nicht ganz aus den Augen verlieren. Wurden die kleinepischen Ovidiana nicht übernommen, weil es die Gattung im Romanischen noch nicht gab? Das würde auf den Versroman kaum weniger zutreffen. Ist die schlechte Überlieferung des ‚Apollonius de Tyr‘ ein ausreichendes Indiz für die Unerreichbarkeit des Textes im außerfranzösischen Ausland? Der älteste afrz. RA ist kaum besser überliefert, und doch hat er schon früh einen Bearbeiter gefunden. Schon dem Schreiber der einzigen Handschrift des Originals, Florenz, Bibl. Laurenziana, Plut. LXIV, 35 (1. Viertel 12. Jh.), standen in seiner Vorlage nicht mehr als 105 Verse zur Verfügung, da er am Ende ein Vacat-Zeichen setzt. Der romanische Text ist offenbar bald nach seiner Entstehung in einen freigehaltenen Raum einer lat. Curtius-Rufus-Handschrift eingetragen worden und scheint als sachliche Ergänzung des lat. Alexanderlebens, wo die Kindheit fehlte, gedient zu haben (Mölk/Holtus 1999, S. 585f.). Die mhd. Bearbeitung ist dagegen wohl in größerem Abstand von ihrer Entstehung in die wichtigste Sammelhandschrift frühmhd. geistlicher Dichtungen (4. Viertel 12. Jh.) aufgenommen worden, die mit Alexander im übrigen nichts zu tun haben. Warum ausgerechnet dieser frankoprovenzalische Text aus dem Raum Lyon – Vienne – Romans (Mölk 2000, S. 22) schon vor der Mitte des 12. Jh. in den moselfränkischen (?) Raum gelangt und dort gleich aufgegriffen worden ist, obwohl doch eine ganze Reihe lat. Fassungen des Alexanderstoffes zur Verfügung gestanden hätte, gehört zu den ungelösten Rätseln der Literaturgeschichte. Auch die naheliegende Erklärung, Alberic hätte dem Makedonenkönig bereits ein passendes ritterlich-höfisches Gewand übergeworfen, verfängt nicht, da sowohl das erhaltene afrz. Fragment als auch die Vorauer Fassung (AV) der deutschen Bearbeitung kaum Spuren davon tragen, vielmehr ein durchaus klerikales Gepräge zeigen. Aber viel-

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leicht genügte diese mittelalterliche clergie schon, um die Geschichte im 12. Jh. schmackhafter zu machen. Mölk (2000) vertritt die Ansicht, Alberic habe mit seinem positiv gezeichneten Alexander dem Großen für ein Publikum aus Adel und Weltklerus im Königreich Burgund eine königliche Leitfigur dem französischen Idealkönig, Karl dem Großen, entgegenstellen wollen. Die sprachliche Sonderstellung – eine Kunstsprache aus afrz., aprov. und lat. Formen und Wendungen (Mölk/Holtus 1999, S. 593–602; Mölk 2000, S. 22) – habe der Verbreitung nicht im Wege gestanden. Daß sie das Werk aber für die mhd. Bearbeitung besonders empfohlen hätte, wird man auch nicht glauben wollen. Wenn dann die frühhöfische Neuformung des ersten deutschen ‚Alexander‘(AV), die Straßburger Fassung (AS), sich offenbar primär doch wieder an lat. Versionen orientiert, statt jüngere französische zu benützen, die trotz ihrer respektablen Verbreitung durch Handschriften auch später jenseits der Sprachgrenze anscheinend unbeachtet bleiben, könnte dies daran liegen, daß lateinische Quellen als historisch getreuer galten. Da scheint es freilich die Ausnahme der Blumenmädchen zu geben, die sich sowohl im AS als auch in der afrz. Vulgata-Fassung des RA von Alexandre de Paris, allerdings mit bemerkenswerten Unterschieden, finden (f Alexanderromane, Teil A, Kap. 2.3). Gleichgültig, ob die Szene schon von Lambert le Tort oder erst von Alexandre de Paris oder einem anderen Franzosen erfunden worden sein sollte, es bliebe höchst erklärungsbedürftig, warum der anonyme Verfasser des AS nichts als diese Szene aus dem ganzen RA ‚herausgepickt‘ haben sollte. Könnte da nicht doch ein verlorener Einschub in der lat. ‚Historia de preliis‘ dahinterstehen? Für den ritterlichhöfischen Anstrich, der sich ohnehin in Grenzen hält, brauchte der AS die Franzosen jedenfalls nicht mehr, sondern konnte sich schon an den mhd. ‚Eneasroman‘ und an den ‚Trierer Floyris‘, vielleicht auch schon Eilharts ‚Tristrant‘ halten. Spätestens an dieser Stelle muß man auch dem Umstand gerecht werden, daß es neben dem Antikenroman noch einen zweiten Romantypus gegeben hat, der dem Artusroman vorausging: der Minneroman. In unserem Handbuch ist er dem Höfischen Roman, also GLMF V, zugeteilt worden. Beim Tristanroman bringt das auch kaum Probleme mit sich, ob wir nun an die verlorene sog. ‚Estoire de Tristan‘ von ca. 1150 (?) oder an ihre mhd. Adaptation durch Eilhart denken. Aber schon beim Florisroman kann man ein wenig unsicher werden, denn er verdankt seine Übernahme aus dem Französischen in den germanischen Rhein-Maas-Raum vermutlich in erster Linie dem Umstand, daß hier „Floyris und Blancheflor die Großeltern Karls des Großen, der literarischen Leitfigur des Raumes also,

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sind“ (Tervooren, S. 96). Damit wird eine Nähe zur f Karlsepik (Teil B, Kap. 2) angedeutet. Für die Gattungszuordnung in GLMF V war die Dominanz des Liebesthemas entscheidend. Es spielt aber natürlich auch in den hier im vierten Band eingereihten Antikenromanen eine entscheidende Rolle. Aber die Einordnung in einen deutlich erkennbaren historischen Rahmen rückt sie doch eher an die afrz. Heldenepik heran, wenn es auch jeweils um die Geschichte einer anderen Zeit geht. Eine zusätzliche Bestätigung dafür könnte der intermediäre afrz. ‚Alexanderroman‘ liefern. Zwischen den Gattungen steht auch ein Werk wie ‚Athis und Prophilias‘. Dieses enthält zwar antike Namen und eine halb antike Atmosphäre, aber greifbare Anknüpfungspunkte an die antike Historie fehlen. Er wird also wohl zurecht in der Einleitung zu GLMF V besprochen. Das Fremde und das Eigene Wieweit hat der mittelalterliche Literat das zeitlich, räumlich und sprachlich Distanzierte als fremd empfunden? Gegenüber der Antike dominiert eindeutig die Vorstellung der Kontinuität. Als ein entscheidender Einschnitt gilt zwar die Christianisierung. Doch ist dies selbst ein antikes Ereignis, keines der mittelalterlichen Gegenwart. Als eigenständige historische Epoche wird die Antike erst in der Renaissance gesehen. Aus dieser neuen historisierenden Sicht, die in weiterer Verschärfung noch die unsere ist, muß die Aufpfropfung mittelalterlicher Vorstellungen wie der ritterlichen minne und âventiure auf antike Liebes- und Kriegshändel naiv und hybrid erscheinen. Innere Widersprüche in solcher dichterischen Darstellung sind unvermeidlich. Ob die damaligen Autoren sie überhaupt wahrnehmen und dann bewußt übertünchen oder herausstellen, hat die Forschung schon immer beschäftigt. Die Beurteilung hängt vom Zutrauen in die intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten der Epoche ab. Das Problem potenziert sich für die ‚theodisken‘ Bearbeiter französischer Antikenromane. Sie sind sich in aller Regel durchaus bewußt, daß hinter der französischen Zwischenstufe noch eine antike Quelle steht. Bei allem Willen, sich die westliche Ritterkultur und Literatur ganz zu eigen zu machen, wissen sie doch von deren Überlegenheit, so wie sich die großen Denker des 12. Jh. wie Zwerge auf den Schultern der Riesen aus der Antike empfinden. Wie leicht oder wie schwer es sein mag, in einer solchen nach- und untergeordneten Situation in ein freies literarisches Spiel mit den Vorlagen in der fremden und mit Konkurrenzunternehmen in der eigenen Sprache einzutreten, wird wohl Ansichtssache bleiben. Die ältere

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Forschung hat die so entstandenen Produkte mehrheitlich als eher mißglückt angesehen, während die jüngere dazu tendiert, Brüche in der Darstellung als raffinierte Distanzierungen zu verstehen. Ricarda Bauschke stellt Herborts ‚Liet von Troye‘ als einen solchen Versuch kritischer Auseinandersetzung vor, die faktisches brutales Kriegsgeschehen mit literarischer Inszenierung konfrontiert, diese zumindest partiell entlarvt und zerstört und so eine „grundsätzliche Verunsicherung über Normen und Wertmaßstäbe“ bekundet (f Trojaromane, Teil A, Kap. 4.2.1). Wenn damit schon um 1200 Literatur über Literatur entstanden sein sollte, so ist solches noch viel eher in nachklassischer Zeit zu erwarten. Die deutschen Autoren ziehen stets zu ihren afrz. Quellen noch lateinische hinzu. Extensiv verfährt hierin Konrad von Würzburg, der aber zugleich, um in Umkehrung von Herborts Verfahren das grausame Kriegsgeschehen zu ästhetisieren, massiv auf Stil und Erzähltechnik der mhd. Klassik, insbesondere Gottfried von Straßburg, zurückgreift. Auch mythologische Zutaten aus Ovids ‚Metamorphosen‘ oder der ‚Achilleis‘ des Statius sollen die Darstellung weit eher ästhetisch als faktisch bereichern. Anders Jacob van Maerlant, der sich primär als Historiograph fühlt. Er zieht die faktische Wahrheit rundweg der rhetorisch-stilistischen Ausschmückung vor, ja hält diese sogar für potentiell wahrheitsgefährdend. So spielt er lat. Quellen gegen seine afrz. Hauptquelle der ‚Historie van Troyen‘ aus und betreibt so etwas wie historische Quellenkritik, zieht daher mindestens so viele lat. Quellen heran wie Konrad von Würzburg, verzichtet aber auf eine weitere amplificatio, gar durch eigene Erfindungen, sondern strafft sogar die Handlung der vergilschen ‚Aeneis‘, die er als historische Ergänzung am Ende für unverzichtbar hält, erheblich. So kommt Maerlant zwar insgesamt auch auf rund 44000 Verse, jedoch für die ganze Geschichte von der Argonautenfahrt bis zur Gründung Roms, während Konrad mit seinen auch ca. 40000 Versen nur ca. 12000 der ca. 30000 Verse der afrz. Vorlage wiedergibt, also bei weiterhin gleicher Erzählzeit ca. 100000 Verse für das Ganze gebraucht hätte. Dieses radikale Aufschwellungsverfahren geht genau in die entgegengesetzte Richtung wie die Verkürzung bei Herbort von Fritzlar. Eine Möglichkeit bestand noch in der Wiedergabe von Exzerpten. Sie wählt der mnl. Autor Segher Diengotgaf, der aus dem ‚Roman de Troie‘ Partien auswählte, die ihm zur Gestaltung von Minnehandlungen geeignet erschienen. Er teilt daher folgerichtig auch nicht Benoîts, Herborts und Jacobs misogyne Tendenzen. Ein sicher zufälliger, jedoch epochentypischer Gleichklang läßt sich hingegen im Vergleich von Maerlants Werk und der

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anonymen Fortsetzung von Konrads ‚Trojanerkrieg‘ von ca. 1300 beobachten. Benoît de Sainte Maure will von seiner berühmten Frauenschelte (‚Roman de Troie‘, V. 13441–91) eine Dame ausschließen. Eine riche dame de riche rei, eine „mächtige Hausherrin eines mächtigen Königs“ (V. 13468 – vermutlich Eleonore von Aquitanien), der Inbegriff aller weiblichen Vorzüge, könne alle Fehler aller Frauen vergessen machen. Maerlant traut diese Fähigkeit nur der Gottesmutter Maria zu (‚Historie van Troyen‘, V. 16046–96) und nutzt die Gelegenheit zum Anschlagen religiöser Töne. Konrad kommt mit seiner Bearbeitung nicht so weit. Doch der anonyme Fortsetzer seines Werkes (der gar nicht auf Benoît zurückgreift) äußert im Schlußgebet einen ähnlichen Gedanken wie Maerlant und bittet daher Maria, ihm zu verzeihen, wenn er Schlechtes von Damen gesprochen habe (‚Trojanerkrieg‘, V. 49837–60). Heidnischer Stoff und christliche Einstellung der mittelalterlichen Bearbeiter konnten sich ja von vornherein nicht eben gut vertragen. Diese bevorzugten daher notwendigerweise antike Geschichtsdarstellungen, die ganz oder fast ohne mythologischen Apparat auskamen. Dares und Dictys waren also nicht nur deshalb so beliebt, weil sie sich als Augenzeugen des Trojanischen Krieges im Gegensatz zum ‚Lügner Homer‘ ausgaben. Aber man konnte und wollte auf Vergil, Ovid, Statius u.a. doch nicht verzichten und versuchte, die antiken Götter als vergöttlichte natürliche oder als allegorische Personen zu interpretieren, was aber nicht überall gelang, insbesondere wenn ihnen übernatürliche Macht eignen sollte. Man konnte diese nicht überall einfach unterdrücken, wie etwa Maerlant in bearbeiteten Ovid-Partien alle Metamorphosen in Tiere und Pflanzen tilgte. Global gesehen, scheinen die französischen Autoren damit geringere Probleme gehabt zu haben als die fremdsprachigen Bearbeiter ihrer Werke. Diese sahen sich offenbar weniger in der Lage, sich als Erzähler antiker Geschichten von ihrem ausdrücklichen christlichen Bekenntnis zu dispensieren. Aber auch bei ihnen überrascht immer wieder die unbekümmerte Selbstverständlichkeit, mit welcher unkommentiert heidnische Prophetien, Sühneopfer oder Götterbotschaften berichtet werden. Konsequenz ist da aber in keiner Richtung zu erwarten.

Literaturverzeichnis

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Literaturverzeichnis 1) Textausgaben Romanische Texte: Benoît de Sainte-Maure, Le roman de Troie, hg. v. Léopold Constans, 6 Bde. (SATF), Paris 1904–1912 [Nachdr. New York/London 1968]. [Chrétien] Kristian von Troyes, Erec und Enide, hg. v. Wendelin Foerster, Halle a. d. S. 31934. Germanische Texte: Jacob van Maerlant, Alexanders geesten, hg. v. Johannes Franck, Groningen 1882. [Jacob van Maerlant, ‚Historie van Troyen‘] Dit is die Istory van Troyen van Jacob van Maerlant, naar het vijftiende eeuwsche handschrift van Wessel van de Loe met al de middelnederlandsche fragmenten, hg. v. Napoleon de Pauw u. Edward Gaillard, 4 Bde., Gent 1889–1892. Konrad von Würzburg, Der trojanische Krieg, hg. v. Adalbert von Keller, Stuttgart 1858.

2) Forschungsliteratur Frank/Hartmann 1997: Barbara Frank und Jörg Hartmann (Hgg.), Inventaire systématique des premiers documents des langues romanes, 5 Bde., Tübingen 1997; Bd. III: Partie documentaire. Littérature instructive et scientifique – poésie profane – historiographie – législation. Knapp 1976: Fritz Peter Knapp, Enites Totenklage und Selbstmordversuch in Hartmanns ‚Erec‘, in: GRM N. F. 26 (1976), S. 83–90. Lienert 2001: Elisabeth Lienert, Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001. Mölk 2000: Ulrich Mölk, Alberics Alexanderlied, in: Jan Cölln, Susanne Friede u. Hartmut Wulfram (Hgg.), Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen, Göttingen 2000, S. 21–36. Mölk/Holtus 1999: Ulrich Mölk u. Günter Holtus, Alberics Alexanderfragment. Neuausgabe und Kommentar, in: ZfrPh 115 (1999), S. 582–625. Moos 1988: Peter von Moos, Geschichte als Topik, Hildesheim u.a. 1988. Schnell 1981: Rüdiger Schnell, Rezeption der Antike, in: Henning Krauß (Hg.), Europäisches Hochmittelalter (NHL VII), Wiesbaden 1981, S. 217–241. Schöning 1991: Udo Schöning, Thebenroman – Eneasroman – Trojaroman. Studien zur Rezeption der Antike in der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts (Beihefte zur ZfrPh 235), Tübingen 1991.

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Einleitung

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2 Alexanderromane 2.1 Einleitung – 2.2 Französische Alexanderromane des 12. und 13. Jh. – 2.3 Deutsche Alexanderromane: ‚Vorauer‘, ‚Straßburger‘ und ‚Basler Alexander‘ – 2.4 Walter von Châtillon: ‚Alexandreis‘ – 2.5 Jacob van Maerlant: ‚Alexanders geesten‘ – 2.6 Ulrich von Etzenbach: ‚Alexander‘

2.1 Einleitung von Danielle Buschinger Alexander der Große ist eine herausragende Gestalt der Antike. Seine Lebensdaten sind genau bekannt. Im Jahr 356 v. Chr. wurde er als Sohn des Makedonierkönigs Philipp geboren; nur 33 Jahre später, im Jahr 323, starb er in Babylon. Die kurze Lebensdauer ist von großräumigen Sieges- und Eroberungszügen ausgefüllt. Alexanders Herrschaft umspannte über Makedonien und Griechenland hinaus die weiten Gebiete des eroberten Perserreiches, griff ostwärts über den Indus hinaus und hatte vorher bereits die nordafrikanischen Regionen, besonders Ägypten, unter Kontrolle gebracht. Seine Präsenz in allen drei Weltteilen – Europa, Asien, Afrika – sicherte Alexander einen Status als Weltherrscher, freilich mit menschentypischer Einschränkung: zwar auf der Erdoberfläche war er fast überall bis an die Grenzen der Welt vorgedrungen, aber in der Lebenszeit war ihm nur wenig Luft geblieben. Gleichwohl hat ihm die spätere Geschichtsschreibung eine epochenprägende Wirkung zugesprochen. Alexander wurde der Leitname für griechische Kulturprägungen, die sich in den indischen und transindischen Räumen bis hin nach China haben ausmachen lassen. Zeitlich sind diese Prägungen schwer zu fixieren, sie verteilten sich wohl über Jahrhunderte und hatten unterschiedliche Träger. Doch die Rückbindung an den einen großen Herrschernamen verlieh dem Ganzen einen systematischen Zusammenhang. Alexanders Gestalt, wiewohl auf ihre schmale Lebenszeit strikt beschränkt, erreichte mythische Gewalt. Im vierten vorchristlichen Jahrhundert war Roms Macht noch gering und errang erst später die weltumspannende Dimension des Imperium Romanum. Alexanders Leben und Taten waren vermutlich von Anfang an berühmt. Doch ihre früheste schriftliche Aufzeichnung, wahrscheinlich in Alexandria entstanden, ist erst aus dem späten 3. Jahrhundert n. Chr. erhalten.

Die älteste Alexanderdarstellung, die den Ausgangspunkt für alle späteren Versionen und Übersetzungen in viele Sprachen bildet, entstand wohl gegen Ende des 3. Jh. n. Chr. in Alexandria. Ihr unbekannter Autor, vermutlich ein Bürger Alexandrias, wird als „Kallisthenes“ bezeichnet, weil ein

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Teil der handschriftlichen Überlieferung das Werk irrtümlich dem Alexanderhistoriker Kallisthenes von Olynth zugeschrieben hat. Das aus drei Büchern bestehende Konvolut kommt mit dem Anspruch daher, eine historische Darstellung zu sein. Dem Werk lagen ältere, nicht erhaltene romanhafte Quellen, fiktive Briefe Alexanders und anderer handelnder Personen sowie kleinere Erzählungen zugrunde. Inhalt: Der Verfasser hat die Reihenfolge der Ereignisse eigenwillig gestaltet und viel Unhistorisches eingebracht. Das geschieht schon gleich zu Anfang. Er macht aus Alexander ein uneheliches Kind: Alexanders leiblicher Vater sei der aus Ägypten nach Makedonien geflohene König und Zauberer Nektanebos. Als Gott Ammon auftretend, habe er die Königin Olympias verführt und sie glauben lassen, er sei ihr Ehemann Philipp. Diese Täuschungsgeschichte ist frei erfunden, sie hält aber den alten Glauben fest, daß ein großer Held von einem Gott gezeugt sei. Als Alexander geboren wird, erschallt Donner, und Blitze zucken. Als er zum Mann geworden ist, hat er zwar eine menschliche Gestalt, doch die Mähne eines Löwen, das rechte Auge ist schwarz, das linke grau. Seine Zähne sind scharf wie die einer Schlange; seine Bewegungen stürmisch wie die eines Löwen. Mit fünfzehn Jahren zähmt er das menschenfressende Pferd Bukephalos. Später tötet er den Nektanebos, der ihm sterbend seine wahre Abstammung enthüllt. Im Alter von achtzehn Jahren übernimmt Alexander die Herrschaft seines ermordeten Vaters Philipp. Alexander wirft die in Griechenland entstandenen Aufstände nieder und besiegt die Thebaner: er erobert die Stadt und zerstört sie. Erschreckt wählen ihn die Griechen zu ihrem Führer und übergeben ihm die Herrschaft über Griechenland. Dann bereitet er den Feldzug nach Asien vor und beschließt, zunächst die Küstengebiete zu unterwerfen, dann auch im Westen Sizilien. Eine wesentliche Neuerung des Pseudo-Kallisthenes ist die Einführung des nichthistorischen Italienzugs, auf dem der Makedone nach Rom kommt. Rom unterstellt sich ihm ebenso wie alle anderen Reiche des Westens kampflos. Von dort fährt er nach Afrika hinüber und durchzieht Libyen, bis er zum Ammonheiligtum kommt: Er opfert Ammon, da er sich für seinen Sohn hält, eilt dann mit seinem Heer nach Ägypten und gründet u.a. die Stadt Alexandria. Die Ägypter ergeben sich ihm und zahlen ihm freudig viel Geld. Dann zieht er mit seinem Heer nach Syrien und kommt nach Tyros, das er erobert und dem Boden gleich macht. Voll Kampfbegier zieht er dann in den Krieg gegen Dareios: Schwer geschlagen wenden sich die Perser zur Flucht. Alexander nimmt Dareios’ Mutter, Frau und Töchter gefangen. Dareios selbst kann entkommen und will einen neuen Krieg gegen Alexander anfangen: er schreibt einen Brief an Poros, den König der Inder, um ihn um Hilfe zu bitten. Alexander gelangt mit seinen Truppen nach Persien und es kommt zur Schlacht. Abermals rettet sich Dareios durch Flucht und wird von seinen Satrapen, Bessos und Ariobarzanes, ermordet, denn sie nehmen an, daß Alexander ihnen viel Geld geben wird, weil sie seinen Feind getötet haben. Sterbend gibt der Perserkönig Dareios seine Tochter Roxane Alexander zur Frau. Der Makedone bestraft die Mörder (er läßt sie auf Dareios’ Grab kreuzigen) und stellt den Frieden im ganzen Land wieder her. Dann will der Held ans Ende der Welt ziehen. Das letzte der drei Bücher, das den Indienfeldzug und den Tod des Helden behandelt, ist besonders stark von Wundern und phantastischen Elementen geprägt. Es berichtet über Alexanders Kämpfe mit merkwürdigen Ungetümen, mit wilden Menschen und wilden Tieren, sechsfüßigen, drei-, fünf- und sechsäugigen Tieren, über seine Be-

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gegnungen mit kopflosen Menschen, mit Hundsköpfen, Stier- und Löwenmenschen, über seine Reise ins Land der ewigen Nacht, das Land der Seligen, wo er fast das Wasser des Lebens gefunden hätte, über seine Fahrt in einem gläsernen Faß, einer Art Taucherglocke, zum Meeresgrund, über seine Luftfahrt in einer Kuhhaut, die er wie einen Korb formt (nach der Luftfahrt nimmt er sich vor, nie mehr Unmögliches zu versuchen), über seinen Sieg im Zweikampf gegen den Inderkönig Poros, über sein Gespräch mit den indischen Weisen, den Gymnosophisten, über das Orakel der weissagenden Bäume, die ihm verraten, daß er in Bälde von der Hand seiner eigenen Leute sterben müsse, über seinen Briefwechsel mit den Amazonen, von denen er Tribut nimmt, über wunderbare Königspaläste in Indien und Persien. Der Brief schildert auch Alexanders angeblichen Besuch bei der Königin Kandake von Beroe, deren Gemächer von zwanzig Elefanten auf Rädern fortbewegt werden. Dabei tritt der König in Verkleidung auf, wird aber enttarnt (dieser Episode werden spätere Bearbeiter des Stoffs eine ursprünglich völlig fehlende erotische Komponente verleihen). Schließlich wird Alexander in Babylon vergiftet; bei seinem Tod erhebt sich ein Stern in den Himmel, ihm folgt ein Adler, und sobald der Stern im Himmel verschwindet, sinkt Alexander in den ewigen Schlaf. Er wird in Alexandria beigesetzt.

Diese gänzlich unhistorischen Partien führen in den Mythos hinüber: Alexander, bei dessen Zeugung Magie gewirkt hat, dessen Geburt und Tod von Wunderzeichen begleitet ist, dessen Äußeres auf dämonisch-magischen Einfluß weist, der große Eroberer und Weltherrscher, der Kosmokrator, ist übers Menschenmaß hinausgehoben – und muß dann doch rasch und ruhmlos sterben. Der griechische ‚Alexanderroman‘ (AR) wurde mehrmals ins Lateinische übersetzt. Julius Valerius Polemius fertigt gegen 330 eine freie lateinische Bearbeitung an, die ‚Res gestae Alexandri Macedonis‘: Geburt, Taten und Tod Alexanders bilden den Inhalt dieses am weitesten verbreiteten Romans. Dabei nimmt der Autor Hunderte von Erweiterungen, Änderungen und Auslassungen vor. Er beseitigt Ungereimtheiten und Formulierungen, die den Makedonenkönig in ein ungünstiges Licht rücken können, und fügt für Alexander vorteilhafte Details ein. Sein Alexander ist eine mit allen Herrschertugenden ausgestattete Idealgestalt; er begeht zwar Fehler, lernt aber daraus. Vor dem 9. Jahrhundert entsteht eine Kurzfassung dieser lateinischen Übersetzung, nach ihrem ersten Herausgeber ‚ZacherEpitome‘ genannt. Eine zweite lateinische Übersetzung wurde im 10. Jahrhundert von dem Archipresbyter Leo aus Neapel angefertigt. Sie trug ursprünglich wohl den Titel ‚Nativitas et victoria Alexandri Magni‘ und ist dann unter dem Titel ‚Historia de preliis Alexandri Magni‘ (HdP) bekannt geworden. Sie steht dem ursprünglichen Roman sehr nahe und hat im Abendland eine weit größere Wirkung ausgeübt als die Übersetzung des Julius Valerius. Leo ist der einzige Zeuge der älteren Überlieferung, der von Alexanders Meer- und Luftfahrt berichtet. Leos Text ist in drei zum

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Teil interpolierten Fassungen überliefert (J1 aus dem 11. Jh., J2 aus der zweiten Hälfte des 12. Jh., J3 vom Ende des 12. Jh. / Anfang des 13. Jh.). Neben dieser Tradition, die vom griechischen AR abgeleitet ist, bilden die ‚Historiae Alexandri Magni Macedonis‘ des lateinischen Historikers Quintus Curtius Rufus, deren zwei erste Bücher leider nicht überliefert sind, eine weitere wesentliche Grundlage für mittelalterliche lat. und volkssprachige Texte über Alexander. Curtius Rufus liefert in der Regel historische Fakten: Buch III (Jahr 333 v. Chr.): Krieg gegen Darius (erster Teil bis zur Schlacht bei Issos) Buch IV (Jahre 333–331): Folgen der Schlacht bei Issos; Alexander nimmt nach siebenmonatiger Belagerung die Phönizierstadt Tyros ein; ein Friedensangebot des Darius lehnt er ab; Belagerung der Stadt Gaza; Unterwerfung Syriens und Ägyptens; Gründung Alexandrias; Zug nach Mesopotamien; Alexander besiegt bei Gaugamela das Hauptheer des Darius. Buch V (Jahre 331–330): Danach kann er problemlos Babylon und Susa einnehmen; Plünderung und Brand von Persepolis als Rache für den Brand der Akropolis, und Zerstörung der Königsburg; Darius’ Ermordung durch Bessus. Buch VI (Jahr 330): Alexanders Ausschweifungen; die Wirkung auf die Mazedonier; Unterwerfung des Ost-Irans; Alexander bei den Amazonen; Meuterei in Alexanders Armee; Komplott gegen Alexander; Aufdeckung des Komplotts; die Aufrührer begehen Selbstmord oder werden gefoltert und hingerichtet. Buch VII (Jahre 330–328): Die Prozesse gegen die Aufrührer werden fortgesetzt; Durchquerung des Kaukasus; zähe Kämpfe um die Sogdiane und Baktrien; Alexander siegt gegen die feindlichen skythischen Nomadenstämme; Gründung von Städten; Bessus’ Tod. Buch VIII (Jahre 328–320): Betrunken erschlägt Alexander im Jähzorn seinen Jugendfreund Kleitos; Heirat Alexanders mit der baktrischen Prinzessin Roxane; Alexanders Verlangen nach göttlicher Verehrung (ein persisches Hofzeremoniell mit Fußfall) wird nicht erfüllt wegen des Widerstands des makedonisch-griechischen Gefolges unter Führung des Kallisthenes (er ist Aristoteles’ Neffe und Alexanders Historiker); nach der ‚Pagenverschwörung‘ Hinrichtung des Kallisthenes; Zug nach Indien; Beschreibung Indiens; Alexander besiegt am Hydaspes den indischen Fürsten Porus. Buch IX (Jahre 326–325): Alexander will weiterziehen; er gelangt bis zum Ozean und trifft die Ichthyophagen; Meuterei der Truppen und Rückkehr zum Indus; Rückzug westwärts unter gewaltigen Verlusten durch die gedrosische Wüste. Buch X (Jahre 325–323): Versuch einer Verschmelzung der Königreiche in Asien und in Europa; Tod von Alexanders Freund und makedonischem General Hephaistion; Alexanders Tod in Babylon; Teilung des Reiches: Ptolemäus, der Ägypten erhalten hat, läßt Alexanders Leichnam nach Memphis und einige Jahre später nach Alexandria bringen.

Es gibt noch weitere lat. Texte. Zu erwähnen wären v.a. das ‚Itinerarium Alexandri‘ (4. Jahrhundert), der ‚Iter ad Paradisum‘ (erste Hälfte des 12. Jh.) und der auch in lateinischer Fassung selbständig überlieferten Brief Alexanders an Aristoteles über die Wunder Indiens (die ältesten Handschriften stammen aus dem 9. Jahrhundert).

Französische Alexanderromane des 12. und 13. Jahrhunderts

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2.2 Französische Alexanderromane des 12. und 13. Jahrhunderts von Danielle Buschinger Die um 1100 entstandene Dichtung des Alberic von Bisinzo (Pisançon? Briançon? Besançon?) ist die älteste volkssprachige, nur bruchstückhaft erhaltene Alexanderdichtung; die wichtigsten Quellen Alberics waren Julius Valerius, die lat. Historiker Justinus und Orosius, vermutlich die J1-Rezension der HdP und vielleicht ein interpolierter Quintus Curtius (Cary 1956, S. 27). Alberic erzählt Alexanders Jugendgeschichte und seine Taten wahrscheinlich so weit wie sein mhd. Nachdichter (s. Kap. 1.3), d.h. bis zum Sieg Alexanders über Darius und Darius’ Tod (so zuletzt Mölk 2000, S. 24f.). Davon erhalten sind nur 105 Achtsilber vom Anfang des Werks in franko-provenzalischer Mundart. Auf Alberics Dichtung fußt der französische ‚Zehnsilber-Alexanderroman‘ (‚Alexandre décasyllabique‘ [ADéca] – etwa 1160–65), der in zwei Handschriften, A (Paris, Arsenal Ms. 3472, frühes 13. Jh.) und B (Venedig, Museo Civico Correr VI,665, erste Hälfte des 14. Jh.) überliefert ist. Beide geben nicht die Originalfassung wieder und sind nicht direkt voneinander abhängig (Minis 1957/58, S. 38). Der erhaltene Teil reicht nur bis zum Sieg des eben erst voll waffenfähigen Alexander über den König Nicolaus von Caesarea. Der ADéca geht auch auf Julius Valerius und die Rezension J1 der HdP zurück. Die Handschriften A und B schließen an die ca. 800 Verse des ADéca den Text des ‚Zwölfsilber-Alexanderroman‘ an (Ausg. HarfLancner, S. 20). Um 1170 entstehen drei Werke in Zwölfsilbern, einmal ‚Le fuerre de Gadres‘ von einem gewissen Eustache, eine Aufschwellung einer in der Rezension J3 der HdP kurz erwähnten Episode (Cary 1956, S. 30): Bei der Belagerung von Tyrus sei Alexander seinen Leuten zu Hilfe gekommen, die zur Beschaffung von Lebensmitteln (fuerre) ausgerückt und von Gegnern abgefangen worden waren. Weit umfangreicher ist der ‚Alexandre en Orient‘ des Lambert le Tort, der wahrscheinlich auf der Valerius-Epitome und dem Brief Alexanders an Aristoteles über die Wunder Indiens fußt und den Sieg über Darius und dessen Tod sowie die Fahrt Alexanders in den Orient und andere wunderbare Abenteuer erzählt (z.B. die Blumenmädchenepisode, den Jugendbrunnen, Gog und Magog und die Amazonen). Ein drittes, auch etwa gleichzeitiges Gedicht, ein anonymer ‚Mort d’Alexandre‘, berichtet die Vergiftung des Helden. Davon hat sich nur ein Bruchstück von acht Laissen in der Hs. A erhalten (GaullierBougassas 1998, S. 10, 12 u. 227f.). Die beiden anderen Texte kennen wir

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aus der afrz. Fassung des Alexanderromans, die zur Vulgata geworden ist, und somit beide nur in stark überarbeiteter und erweiterter Form. Diese Fassung schuf um 1180–1185 Alexandre de Paris, geboren in Bernay (Normandie), vermutlich selbst bereits fußend auf einer älteren Kompilation der genannten Zwölfsilberdichtungen. Er verwendete nicht nur die französischen Texte seiner Vorgänger als Rohmaterial, sondern fügte auch übersetzte Passagen aus lateinischen Texten ein. Dieser ebenfalls in Zwölfsilbern abgefaßte ‚Roman d’Alexandre‘ (AdP) ist sehr reich überliefert – die Herausgeber von 1937 sprechen von 17 Hss. (Haupthandschriften M, Paris, B.N. ms. fr. 24365, und G, Paris, B.N. ms. fr. 25517). Sein Zwölfsilber-Versmaß heißt seitdem ‚Alexandriner‘. Der Roman von ca. 16000 Versen erlebte noch zwei Fortsetzungen, die auf freier Erfindung beruhen und in denen erzählt wird, wie Alexander an seinen Mördern gerächt wird: die eine, ‚La venjance Alixandre‘, hat Jean le Nevelon (um 1180) geschrieben, die zweite, ‚Le vengement Alixandre‘, stammt von Gui de Cambrai (vor 1191). Parallel zu diesen Fassungen, ohne daß festzustellen wäre, ob er sie gekannt hat oder nicht, schreibt Thomas von Kent einen anglo-normannischen Alexanderroman, den er ‚Roman de toute chevalerie‘ betitelt (um 1175). Er bleibt hier außer Betracht, da er keine deutsche Bearbeitung erfahren hat. Der ‚Alexanderroman‘ Alexandres de Paris besteht aus vier Branches (Teilen). Branche 1: Geburt des Helden; Widerruf der Legende, nach der er der Sohn des Nectanebus sei; Alexanders Traum und Deutung durch die Magier; Erziehung; Alexander tötet Nectanebus; er zähmt das Pferd Bucéphale; diese Zähmung stellt vor der Schwertleite einen Initiatusritus dar, der die Aufnahme des Helden in das Mannesalter kennzeichnet; Schwertleite; Nikolaus-Krieg und Sieg Alexanders; Belagerung Athens; Alexander hindert seinen Vater daran, Olympias zu verstoßen. Darius verlangt Alexanders Unterwerfung; Alexanders beschließt, Darius zu bekriegen; das makedonische Heer setzt sich in Bewegung; der König zerstört eine feindliche Festung; erster Teil der Belagerung von Tyrus. Branche 2: Alexander sendet 700 Mann, um Lebensmittel zu beschaffen; diese werden von Feinden angegriffen; keiner will die Stätte verlassen, um Alexander zu benachrichtigen; der Kampf beginnt: die Lage der Makedonier wird schwierig; Alexander wird benachrichtigt, kommt seinen Mannen zu Hilfe; alle kehren nach Tyrus zurück; die Stadt wird erobert; in der Schlacht verwundet, ergreift Darius die Flucht; Alexander verfolgt ihn. Branche 3: Darius versucht frische Truppen aufzubieten, vergebens; er wird von seinen eigenen Leuten ermordet; Alexander läßt die Mörder hinrichten; er will nun die Meeresgründe erforschen; erste Schlacht gegen Porus; als sie das geheimnisvolle Indien betreten, werden die Makedonier mit einer gefährlichen Tierwelt konfrontiert; Alexander gewinnt die zweite Schlacht gegen Porus, der zu seinem Vasallen wird; Alexander verjagt die Völker Gog und Magog und sperrt sie hinter einer hohen Mauer ein; das

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Heer betritt die Wüste; Herkules’ Säulen; le Val périlleux (das gefährliche Tal, ohne Wiederkehr); das Heer begegnet neuen Gefahren; die Blumenmädchen; das Orakel der Sonne und des Mondes kündigt Alexanders Tod an; Porus rebelliert und wird getötet; Alexander trifft die Königin Candace und lernt die Liebe kennen; er hilft einem der Söhne der Königin; dann zieht er nach Babylon, wo er sich zum König krönen lassen will; er unterbricht die Reise, um eine Luftfahrt zu unternehmen; das Heer setzt seinen Marsch fort; Alexander tötet, nach schweren Kämpfen, den Emir von Babylon, der Widerstand leistete, und nimmt die Stadt ein. Bevor er gekrönt wird, will Alexander das Reich der Amazonen unterwerfen; die Königin der Amazonen erkennt ihn als Lehnsherrn an; Branche 4: Krönung Alexanders in Babylon; Vergiftung des Königs; der Leichnam wird nach Alexandria gebracht.

Der Form nach ist der AdP mit der Gattung der Chanson de geste verwandt, ist er doch in epischen Laissen abgefaßt (Versreihen unterschiedlicher Länge mit gleicher Assonanz). Alberic hatte die Achtsilber-Laisse verwandt; sein Gedicht wurde dann in die zehnsilbige und schließlich von Alexandre de Paris in die zwölfsilbige Form (Alexandriner) umgestaltet. So befindet sich das Werk des Alexandre de Paris an der Grenze zwischen Heldenepos und Roman, wie es der Untertitel von Catherine GaullierBougassas’ (1998) Buch besagt: „Les Romans d’Alexandre. Aux frontières de l’épique et du romanesque“. Wie es der Fall bei der Bearbeitung der altfranzösischen ‚Chanson de Roland‘ durch Konrad ist, verwenden die deutschen Bearbeiter den Reimpaarvers mit vier Hebungen; andererseits ist der Erzählstoff in Absätze gegliedert, die in der einzigen erhaltenen vollständigen Handschrift P (Heidelberg) durch eine Initiale gekennzeichnet sind und auf ein rîme samenen (Reimbindung) enden. Diese Form wird auch die des deutschen arthurischen Romans sein.

2.3 Deutsche Alexanderromane: ‚Vorauer‘, ‚Straßburger‘ und ‚Basler Alexander‘ von Danielle Buschinger Alberics Dichtung wurde nach 1150 von einem wohl aus Trier stammenden Kleriker namens Lamprecht in die deutsche Sprache übertragen. Diese Dichtung, die in einer älteren (originalnahen) Vorauer Fassung AV (um 1160, überliefert in Vorau, Cod. 276, 4. Viertel 12. Jh.) auf uns gekommen ist, bricht mit der zweiten Perserschlacht und dem Tode des persischen Königs Darius ab. Die zahlreichen Übereinstimmungen, die nach Inhalt und Reihenfolge zwischen AV auf der einen und ADéca und AdP auf der anderen Seite (z.B. in der Tyrus-Episode) bestehen, erlauben den

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Schluß, daß alle drei Dichtungen direkt oder indirekt auf dieselbe Vorlage zurückgehen, und zwar auf Alberics Text. Der deutsche ‚Alexanderroman‘ ist das erste Beispiel für den Einfluß der altfranzösischen Literatur auf die Herausbildung der deutschen Epik. Aus diesem Grunde kommt ihm eine große Bedeutung zu. Es ist davon auszugehen, daß AV kein Fragment ist, wie viele Forscher behaupten (so Urbanek 1970), sondern vollendet worden ist. Am Anfang seiner Kriegszüge ging es dem Helden nur darum, sich vom Zins zu befreien, der seinem Vater aufgezwungen worden ist, und er räumte, um zu seinem Ziel zu kommen, alle aus dem Wege, die Darius unterstützten. Das letzte, ebenfalls eliminierte Opfer ist Darius selbst. In der letzten Schlacht gegen Darius schreit Alexander dem persischen Herrscher ins Gesicht: ‚ir sulten zins hie infâhen, / dâ ir vil manegen tach habet nâch gesant, / den hân ich iu brâht in diz lant!‘ (AV 1521: „Ihr sollt hier den Tribut empfangen, nach dem ihr lange Zeit gesandt habt; den habe ich euch in dieses Land gebracht!“) und schlägt ihm das Haupt ab. Die Erzählstrategie des ‚Vorauer Alexander‘ ist nämlich ganz auf Darius’ Tod angelegt: dies ist augenscheinlich, wenn man die epische Vorausdeutung beachtet, in der, als zum ersten Mal in der Dichtung die Rede vom Zins ist, der Dichter Darius’ Tod ankündigt (AV 483f.): Darius wart umbe den selben zins erslagen, / daz ich iu sal wâre sagen („Darius wurde wegen ebendieses Tributs erschlagen, das werde ich Euch wahrheitsgemäß berichten“). Daraus darf man also schließen, daß die Vorauer Fassung nicht abgebrochen wurde, sondern mit Darius’ Tod enden sollte. Mit dem ‚Vorauer Alexander‘ beginnt eine überaus reiche Tradition deutschsprachiger Alexanderdichtungen des Mittelalters. Auf eine spätere Bearbeitung dieser Vorauer Fassung oder gar auf AV selbst (die Abfolge und das Verhältnis der mhd. Fassungen sind in der Forschung stark umstritten) gehen dann zwei Fassungen deutschsprachiger Alexanderdichtungen des Mittelalters zurück, die die Gesamtvita des Helden umfassen. Sie werden als ‚Straßburger Alexander‘ (AS) und als ‚Basler Alexander‘ (AB) bezeichnet. Die Basler Fassung, wohl in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des 13. Jahrhunderts verfaßt (Ehlert 1989, S. 84), ist in eine Weltchronik-Kompilation eingefügt und in einer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert überliefert (E VI 26 der öffentlichen Bibliothek der Universität Basel). Für den Anfang fußt B wohl auf der J2-Rezension der HdP, und am Schluß wurde wahrscheinlich eine ausgedehntere Fassung der Abenteuer Alexanders im Orient interpoliert, die große Ähnlichkeiten mit der Beschreibung dieser Abenteuer in der Weltchronik des Jans von Wien aufweist (Cary 1956,

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S. 29). Der AB-Redaktor erzählt von der legendären Geburt Alexanders (der nicht Philipps, sondern Nectanebus’ Sohn ist) und von seinen sagenhaften Abenteuern, die er der HdP entlehnt (Gog und Magog, Fahrt zum Meeresgrund und Luftfahrt – so wird der Welteroberer auch zum Eroberer des Meeres und des Himmels –, Selbstmord des vom Gift geschwächten Helden am Euphrat, Testament). Der Umstand, daß Alexander Nectanebus’ Sohn ist, gestattet dem AB-Redaktor nicht, sich auf christliche und aristokratische Normen zu beziehen und den Helden in die Heilsgeschichte einzubeziehen. Die profane Historiographie konnte am Ende des 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts das Leben Alexanders unabhängig von biblischen Bezügen darstellen. Wichtiger sind die wunderbaren oder exotischen Elemente (Ehlert 1989, S. 84ff.). Was die Straßburger Fassung anbelangt, setzt man sie gewöhnlich etwa 1170–1187 an, gemäß der auf 1187 fixierten Datierung der StraßburgMolsheimer Handschrift (ehemals Straßburg, Seminarbibliothek C V 16.6 4°, dann Stadtbibliothek, verbrannt 1870) (Schröder 1985, Sp. 497). Seit man aber nicht nur die neuzeitliche Abschrift der vernichteten Hs., sondern auch eine originale Schriftprobe kennt (Mackert 2001), steht aus paläographischen Gründen einer Datierung der Handschrift auf die Zeit um 1210–1220 nichts entgegen, so daß in dieser Handschrift überlieferte Texte später datiert werden können, als üblicherweise angenommen. Wir gehen im folgenden von dem methodischen Ansatz aus, daß alle Zeugen der handschriftlichen Überlieferung gleichwertige Versionen darstellen, die man als solche untersuchen soll, ohne einen Originaltext oder Zwischenstufen zu rekonstruieren (vgl. Bumke 1996), und wollen nur den Text untersuchen, wie ihn die Straßburg-Molsheimer Handschrift überliefert. Für den Teil, der über die Vorauer Fassung hinausreicht, geht die Erzählung wohl auf eine nicht interpolierte Fassung von Leos HdP zurück sowie auf das ‚Iter ad Paradisum‘ (Cary 1956, S. 28). Inhalt des AS (im Vergleich mit der lat. Quelle): Geburt des Helden als legitimer Sohn Philipps und Olympias (es ist keine Rede von Nectanebos). Erziehung. Zähmung des grausamsten Pferdes Griechenlands. NicolausKrieg, der ihm ersten Ruhm einbringt. Mit fünfzehn Jahren will Alexander sein Reich vergrößern (AS spricht nicht vom Italienzug). Er besiegt Nicolaus, König von Caesarea, und schenkt die eroberte Krone seinem Vater. Lysias, der Alexanders Vater zum Bruch der Ehe mit seiner geliebten Mutter überredet hat, schlägt er im Streit die Zähne aus. Belagerung von Tyrus. Nach erheblichen Verlusten erobert er die Stadt mit Hilfe von griechischem Feuer. Ein Flüchtling aus Tyrus berichtet Darius, dem König von Babylon, die Geschehnisse, worauf dieser Tribut von Alexander fordert. Alexander verweigert jedoch diesen Tribut. Darius erklärt ihm den Krieg. Es folgt eine große Schlacht. Darius versucht, frische Truppen aufzubieten. Aus allen Landen eilen 630000 Mann zu Hilfe.

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Zu diesem Zeitpunkt erfährt Alexander von der Krankheit seiner Mutter und begibt sich auf den Heimweg. Dort wird er wiederum in eine Schlacht verwickelt, die er gewinnt. Nach der Gesundung seiner Mutter stellt er in Griechenland ein neues Heer auf und begibt sich zurück nach Persien. Er hebt überall in Griechenland neue Truppen aus und stößt dabei teilweise auf erbitterten Widerstand. Dabei endet die Schlacht gegen die Lakedämonier vorerst unentschieden, und wiederum mit Hilfe des griechischen Feuers gewinnt er die Schlacht. Daraufhin kommt es zu einer ersten Schlacht mit den Truppen des Darius. Dabei nimmt Alexander dessen Familie gefangen. In einer zweiten Schlacht wird Darius besiegt, flüchtet und bittet Alexander um Milde. Alexander lehnt jedoch das Friedensangebot ab. Darius bittet dann König Porus von Indien um Hilfe. Dieser entsendet Truppen. Währenddessen wird Darius von zwei untergebenen Fürsten ermordet. Alexander versöhnt sich mit seinem sterbenden Gegner und rächt dessen Tod. Er heiratet dessen Tochter Roxane. Er erfährt, daß Porus, der König von Indien, mit einer großen Armee Darius zu Hilfe komme. Dies veranlaßt Alexander, Porus mit seinem Heer über eine unwirtliche Wüste in Richtung Indien entgegenzuziehen. (AS übernimmt weder die Fahrt zum Meeresgrunde noch die Luftfahrt) Die Makedonier werden mit einer gefährlichen Tierwelt konfrontiert. Die Armee meutert. Nachdem die Soldaten sich beruhigt haben, zieht Alexander weiter, trägt den Sieg über Porus davon und tötet ihn. Nun unterwerfen sich die Inder dem mazedonischen Herrscher. Der Weg ist frei für Alexander, um Indiens Wunder kennen zu lernen Alexander berichtet über diese Wunder, die am Ende der Welt anzutreffen sind, in einem an Aristoteles und an seine Mutter gerichteten Brief. Auf dem Weg jenseits der Kaspischen Tore bis ans Ende der Welt gibt es sowohl Ungeheuer als auch die tollsten Wunder, darunter die wie Blumen aufwachsenden Waldmädchen. Später folgt noch Alexanders Liebesepisode mit Candacis. Alexander beendet den Brief an seine Mutter, indem er von einer Reise durch viele Länder berichtet, in denen er viel Wundersames und Schlimmes erlebt habe. Nun ist er der Herr der Welt. Und doch reicht ihm das nicht. Er will das Paradies erobern und es zinspflichtig machen. Alexander wird vom AS-Redaktor zuerst streng verurteilt: Er wird des Hochmuts, der Unerfahrenheit und der Gier bezichtigt. Er gelangt bis ans Tor des Paradieses und scheitert. Er muß unverrichteter Dinge wieder abziehen, obwohl seine Krieger ihn drängen, das Paradies mit Gewalt zu erobern. Aber am Schluß zeigt ihn der AS-Redaktor in einem günstigen Licht; Alexander, der mit der Paradiesfahrt die von Gott dem Menschen zugewiesenen Grenzen überschreiten wollte, bekehrt sich. Er folgt genau der Belehrung eines weisen Juden, der ihm einen aus dem Paradies herausgereichten Stein deutet, und wird zum idealen Herrscher, der keine Kriege mehr führt und die Gerechtigkeit in seinem Reich wiederherstellt, zum rex iustus et pacificus, und dies zwölf Jahre lang, bis zu seinem Tod (die Paradies-Fahrt so wie die Wandlung des Helden in einen gerechten und friedensstiftenden König sind neu).

Wenn wir von der neuen Sinngebung am Schluß absehen, so sind gegenüber den lat. Vorlagen an wesentlichen Änderungen nur einige Auslassungen zu vermerken – bis auf den Zusatz der Blumenmädchenszene, welche Minis (1985) auf AdP zurückführen wollte. Die Blumenmädchen, die in den lateinischen Texten nicht auftreten, sind Wesen mit sowohl menschlichen als auch pflanzlichen Eigenschaften. Sie erscheinen bei Alexandre de Paris (Branche III, V. 3334–3387 u.

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3457–3550; 147 Verse), aber auch schon in den Hss. A und B des ADéca, mit teilweise beträchtlichen Abweichungen im Wortlaut, in der Beschreibung von Alexanders Reise in den Orient. Die Blumenmädchen sind Wesen mit einem zügellosen Sexualtrieb, ursprünglich wohl Erfindungen orientalischer Herkunft. Sie leben in einem Wald, der sich längs eines Flusses erstreckt (AdP 3286) und als Grenze zwischen der realen Welt und der Wunderwelt der Blumenmädchen dient. Bevor die Reisenden zu dem Ort gelangen, wo die Mädchen sich aufhalten, müssen sie über eine von zwei Automaten bewachte Drehbrücke gehen (3388ff.). Die Zauberei muß überwunden werden, bevor Alexander und seine Krieger zu den Blumenmädchen kommen. Diese sind sehr schön, haben kleine Brüste, leuchtende und lachende Augen und eine strahlende Gesichtsfarbe (3338f.), bei ihrem Anblick entbrennt man für sie heftiger in Liebe, als wenn man von einem Funken angezündet worden wäre (3340f.); sie lieben die Männer über alles in der Welt (3358), ziehen Alexanders Kriegern entgegen, und jede wählt den ihren aus. Sie geben sich die ganze Nacht und drei Tage lang nach Herzenslust der Liebe hin und führen ein fröhliches Leben (3460–62). Aber wenn sie den Schatten der Bäume verlassen, sterben sie auf der Stelle (3503f.). Am Anfang des Winters ziehen sich die Frauen in die Erde zurück, um sich vor der Kälte zu schützen, und bei Beginn des Sommers leben sie in der Gestalt von weißen Blumen wieder auf (3532ff.). Alexander ist der einzige, der keine Liebesbeziehung zu einem der Mädchen hat. Er verzichtet darauf, weil er keinem der Mädchen zumuten mag, den Zauberwald zu verlassen und mit ihm mitzugehen (3493–3495). Denn das Verlassen des Waldes würde den Tod des Mädchens herbeiführen, das mit seinen Gespielinnen nur im Schatten der Bäume leben kann. Der Held verläßt den Wald freiwillig am vierten Tag (3481) mit seinem Heer, und die Makedonier werden von den Mädchen bis an den Rand des Waldes begleitet (3545f.). Alexander verbietet seinen Kriegern, im Walde zu bleiben. Denn sie könnten dem Reiz der Mädchen erliegen und zu keinem weiteren Feldzug tauglich sein. Die Blumenmädchen sind zwielichtige Figuren. Einerseits bieten sie Alexanders Soldaten ihre Liebe an, aber gleichzeitig stellen sie eine Gefahr dar, da sie das makedonische Heer von seinem Feldzug mit Alexander abbringen könnten. Alexander hat sich also mit seinem Liebesverzicht völlig dem magischen Bann der Feenwelt entzogen. Bleiben wir einen Augenblick bei der Venedig-Fassung B. Sie steht AdP sehr nahe. Alexander entzieht sich ebenfalls der Versuchung, im Walde die Liebe zu genießen, und gibt auch die Absicht auf, eines der Mädchen mit sich zu nehmen (V. 6128–6131). Es gibt jedoch einige Abweichungen. So

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stehen die Laisses B 192 und 193 zwischen AdP 196 und 199. Aber es gibt etwas Wichtigeres: Auch in B ergreifen die Mädchen die Initiative (V. 6099–6101): Chascune prist lo suen sens nulle recelee ./ Que sa volonté volt (faire) anc ne lor fu vee, / Anceis lor fu per eles sovent amonestee („Jede nahm den Ihren, ohne sich zu verbergen. Weit davon entfernt, ihm zu verbieten, seinen Willen zu tun, sie ermunterte ihn vielmehr dazu“). Diese Verse entsprechen AdP 3460–3462. Doch die Verse AdP 3358f. mais plus aiment les homes que nule riens vivant, / Or ce q’en cuide avoir chascune son talant fehlen. Es wird daher in B nicht gesagt, daß sie die Männer über alles in der Welt lieben und daher jede meint, sich daran erfreuen zu können. Es fehlen gleichfalls die Verse AdP 3518–3520 Mais li rois Alixandres a sa teste juree / Que se nus i remaint demie arbalestee, / Q’il le fera ardoir en fornaise enbrasee („Aber der König Alexander hat bei seinem Haupt geschworen, er werde jeden, welcher auch nur eine halbe Schußweite dort bleiben sollte, in einem heißen Ofen verbrennen lassen“). Somit entfällt die Idee, daß die Blumenmädchen eine Gefahr für Alexanders Heer bedeuten. Susanne Friede (2003), die diese Episode in der Version des Alexandre de Paris eingehend untersucht hat, konnte zeigen, daß in der Episode der Blumenmädchen eine sehr originelle Bearbeitung des Motivs des Aufenthalts eines Sterblichen in dem Feenreich steckt, nämlich das Schema des morganischen Märchens (vgl. die Lais ‚Graelent‘, ‚Guingamor‘, ‚Lanval‘). Wie in diesen drei Lais ist die Welt Alexanders und seiner Krieger völlig verschieden von der der Blumenmädchen. Es besteht eine Grenze, über die der Held gehen soll, um in die Andere Welt einzudringen, er muß Hindernisse überwinden; schließlich ist der Fluß das entscheidende Element in der Beschreibung des Feenreiches. Friede denkt, daß ‚Guingamor‘ der AdP am nächsten stehende Lai ist. Aber AdP zerbricht das Schema des morganischen Märchens in dem Maße, wie Alexander sich als ein „epischer Held“ erweist, indem er der Verbindung mit einer Fee Widerstand leistet, um seine Rückkehr in die epische Welt der Kämpfe nicht zu gefährden (Friede 2003, S. 80). Die Straßburger Fassung enthält die Blumenmädchen-Episode ebenfalls (AS 5157–5358). Sie setzt Alexanders wunderbare Abenteuer, so die Blumenmädchen-Episode, bei der ich mich aufhalten werde, und die Candacis-Episode in einen im Mittelalter als real gedachten Raum, in die Geographie der Enzyklopädien. Die Episode ist im deutschen Text länger als im französischen (201 Verse) und reicher an Beschreibungen. Sie weist sowohl sehr große Ähnlichkeiten als auch nicht belanglose Unterschiede zum französischen Text auf. Es gibt weder das Überschreiten einer Grenze noch eine Brücke mit Automaten, noch einen Fluß, über den Alexander

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gehen soll. Dennoch gibt es eine Wasserfläche unfern des Waldes der Blumenmädchen, einen See (AS 5157: Dô wir fûren bî dem mere „als wir am Meer entlangzogen“). Nur der Zugang zu einem Wald, in dem die Menschen ihre Nahrung gewinnen, wird von zwei Riesen verwehrt, die Alexander durch die Schreie aller seiner Krieger in die Flucht schlagen läßt (5083–87); aber dieser Wald grenzt nicht an den der Blumenmädchen. In der S-Redaktion besteht die Episode aus einem Stück, im Gegensatz zu AdP, der die Erzählung vom Überqueren der Drehbrücke, die durch Zauberei den direkten Zugang zu den Mädchen verwehrt, unterbricht. Die Blumenmädchen werden zuerst von weitem gesehen, unter den Bäumen sitzend (Laissen 194–198). In AS gelangen Alexander und seine Krieger, die Wunder sehen wollen (5161), zu einem wunderschönen Wald, der so dicht ist, daß das Sonnenlicht den Boden nicht erreichen kann, der unweit einer schönen Wiese liegt und in dem es zahlreiche Quellen gibt. Sie hören süßen Lyren- und Harfenklang und liebliche Stimmen, und Alexander weiß nicht, woher die Musik kommt. Von diesen wundervollen Klängen angelockt, tritt er mit seinen Gefährten in den Wald hinein. Erst jetzt erblicken sie die Mädchen, die im grünen Klee spielen und deren Lieder wie Petitcrius Glöckchen im ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg (V. 15845–15873) all ihr Leid und Traurigkeit, all ihre Ängste, sogar die Angst vor dem Tod vergessen machen. Alexandre de Paris kennt dieses Motiv nicht. Die Blumenmädchen sind zahllos (AS 5214: hundirt tûsint unde mê ), und wie im französischen Text haben sie keine Königin. Der Redaktor erklärt daraufhin diese wunderliche Erscheinung. Am Anfang des Sommers, wenn die Natur wieder ergrünt, wachsen im Walde wunderschöne Blumen, rote und weiße, denen, wenn sie aufgehen, unvergleichlich schöne Mädchen entsteigen. Wie im französischen Text müssen sie im Schatten der Bäume bleiben, sonst sterben sie. Ihre Kleidung ist mit der Haut und dem Haar verwachsen, so daß sie wahrhaftig wie Blumen aussehen (5300–03); bei AdP war demgegenüber nur gesagt worden, die Blumen seien außen ihr Gewand (3536 Et la flors de dehors si est lor vesteüre). Wie die Sirenen locken die Blumenmädchen durch ihren süßen Gesang die Männer, so daß Alexander und seine Krieger unwiderstehlich von ihnen angezogen werden. Wie bei AdP gehen sie dem Helden und seinen Gefährten entgegen (AS 5306: dô wir si zuns sâgen gê „als wir sie auf uns zugehen sahen“), die nie so schöne Frauen gesehen haben: ihre sexuellen Reize erregen ihre Begierde (5307: zô zin spilete uns der lîb „bewegten wir uns ihnen froh entgegen“). Man sieht, daß die sexuelle Begierde der Makedonier in AS stärker betont wird als im französischen Text, in dem die Mädchen die Männer anfeuern, ihre Begier zu erfüllen (S-Redaktion, V. 3461f.). Der

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Held ist nur mit einem kleinen Trupp von dreitausend Kriegern in den Wald gekommen. Er läßt dann die ganze Armee nachrücken, damit all seine Soldaten die wunderschöne Musik hören und die wunderschönen Frauen sehen (AS 5310). Sie schlagen ihre Zelte im Wald auf, und nicht auf der Wiese, das wird deutlich gesagt, wohl weil die Wiese in der hellen Sonne liegt. Alle, auch Alexander, der in der ganzen Episode in den Vordergrund gestellt wird (ih, mir, ih, ih, ih mîn herz, mich; AS 5357: dô schiet ih trûrich dannen „da entfernte ich mich traurig von dort“) genießen die Liebe mit ihnen und machen aus ihnen ihre Frauen. Nie in ihrem Leben haben sie größere Liebesfreuden genossen, unterstreicht der Redaktor (5318–5325). Sie bleiben länger da als bei AdP, drei Monate und zwölf Tage. Die Blumenmädchen gehören zu den Wundern (AS 5828), die Alexander sehen wollte. Sie scheinen nur von Luft und Liebe zu leben, denn im Gegensatz zu AdP 3468–3478 werden keine köstlichen Mahlzeiten für 40000 zubereitet. Anders als in AdP müssen in der S-Redaktion Alexander und seine Mannen den Wald verlassen, weil im Herbst, wenn die Bäume ihr Laub verlieren und die Vögel aufhören zu singen, die Blumen verwelken und die Mädchen sterben (vgl. AS 5343–5347). Dieses Naturphänomen scheint zahlreiche Tage gedauert zu haben, denn Alexander muß tagelang dem Verwelken der Blumen beiwohnen und somit dem langsamen Sterben der Mädchen (5352–56), was ihn und seine Krieger mit Trauer erfüllt. Erst nachdem alles vorbei ist, verlassen sie den Wald mit traurigem Herzen. Während im französischen Text der Zyklus jedes Jahr von vorne anfängt, nach dem Beispiel der ewigen Wiederkehr der Jahreszeiten (Gaullier-Bougassas 1998, S. 451f.), ist die Situation im Straßburger Text einmalig und äußerst tragisch. Das Glück ist nicht nur vergänglich, sondern auch illusorisch, trügerisch. Es sind immer neue Blumen, die am Anfang des Sommers aufblühen und denen Mädchen entsteigen; im Herbst verwelken die Blumen und die Mädchen sterben; der Zyklus ist unterbrochen, bis neue Blumen im Frühling wieder aufblühen, und so immer weiter. Alexander und seine Krieger verlassen den Wald, sobald die Mädchen verwelken und sterben. Da die Mädchen sterben, laufen Alexander und seine Mannen nicht die Gefahr, von dem magischen Zauber gefangengehalten zu werden, den sie auf sie ausüben. Der Held darf also die Liebesfreuden genießen, die nicht von Dauer sind. Der Wald, in dem sie leben, ist eine Art Paradies, aber nur ein vorläufiges Paradies, denn die Mädchen kommen im nächsten Frühling nicht wieder zum Leben. Das Paradies ist vorübergehend wie in der Petitcriu-Episode (s.o.). Sobald Isolde die Kette abbricht, an der das Glöckchen hängt, ist es vorbei mit den Wonnen, die dieses

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spendet. Man könnte die Blumenmädchenepisode, wie sie der S-Redaktor erzählt, auch mit der Minnegrottenepisode in Gottfrieds ‚Tristan‘ vergleichen, wo das Glück, das die Liebenden kennen, auch vergänglich ist, und wo die Liebenden fortgehen um ihrer Ehre willen. Die Blumenmädchen-Episode ist nicht von Alexandre de Paris in den Roman eingefügt worden, sondern schon zuvor, vielleicht von Lambert le Tort (Gaullier-Bougassas 1998, S. 235; Friede 2003, S. 23), man weiß nicht, in welcher Form, vielleicht in der Form, die sie in AS hat. Wenn die S-Fassung und der französische Alexanderroman tatsächlich dieselbe Vorlage haben, wie es Friede (2003, S. 74) vermutet, hätte Alexandre de Paris die Blumenmädchenepisode nach dem Beispiel der Lais neu gestalten können, während AS, dem die den Lais nahstehenden Elemente fehlen, seiner Vorlage treu gefolgt wäre. In jedem Fall ist es wichtig, daß Alexander nicht bei den Feen bleiben durfte, sondern seinen Weg fortsetzte, denn sonst hätte der Roman hier aufgehört. Der Dichter mußte der Vollständigkeit halber Alexanders Lebensgeschichte bis zum Vergiftungs-Ende weiterführen. Heben wir zum Schluß folgendes hervor: Der AS-Redaktor hat sich Elemente aus seinen verschiedenen Vorlagen ausgesucht, meistens ist er linear verfahren und hat die Episoden angeordnet, wie sie in den Vorlagen waren, manchmal hat er Episoden verschoben, umgestellt und in einen anderen Zusammenhang gebracht. Wie der ‚Roman de toute chevalerie‘ des Thomas von Kent oder wie AdP (vgl. Gaullier-Bougassas 1998, S. 217–237), ist AS also gleichsam ein ‚Patchwork‘, wo Elemente aus verschiedenen Quellen, die der AS-Redaktor sich aus seinen Vorlagen ausgesucht und dann sowohl aus dem Französischen als auch aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt hat, zusammengesetzt werden, wie z.B. auch im ‚Lanzelet‘ Ulrichs von Zazikhoven oder im ‚Wigalois‘ Wirnts von Gravenberg, zwei Werke aus den zwei ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts (mit dem Unterschied jedoch, daß diese zwei Dichter sich – vgl. Buschinger 2003a, S. 12ff., u. 2004a, S. 13ff. – die Bausteine ihrer Werke aus deutschen klassischen Werken ausgesucht haben). Die Kompositionstechnik der S-Redaktion ist also sehr modern und liefert ein Argument für ihre Spätdatierung. Was ebenfalls auffällt, ist, daß am Schluß der AS-Redaktor die Alexander-Gestalt nicht nur in einem günstigen Licht darstellt, sondern sie auch christianisiert. Erinnern wir daran, daß sie in AV (467–478) durch den ausdrücklichen Bezug auf das erste Makkabäerbuch und auf das Buch Daniel mit der Ausgestaltung des Daniel-Traumes als ein Teil der Heilsgeschichte aufgefaßt wird (vgl. Cary 1956, S. 45; Ehlert 1989, S. 38ff.); nach der Theorie der translatio imperii sollte das persische Reich vom make-

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donischen Reich abgelöst werden (Dn 7). Alexander, der mit der Paradiesfahrt die von Gott dem Menschen zugewiesenen Grenzen überschreiten und in Gottes Machtbereich eingreifen wollte, bekehrt sich. Er folgt genau der Belehrung – einer Art memento mori – des weisen Juden, der ihm den aus dem Paradies herausgereichten Stein deutet, und wird zum idealen Herrscher (AV 7260–69), der keine Kriege mehr führt und die Gerechtigkeit in seinem Reich wiederherstellt; kurz, er wird ein rex iustus et pacificus, und dies zwölf Jahre lang. Denn im Gegensatz zu dem, was bei AdP erzählt wird, stirbt er nicht am Ende seiner Orientfahrt, was auch dazu beiträgt, diese Fahrt viel positiver zu deuten, als es bei AdP geschieht, wo die Indienfahrt wie ein verrücktes Umherirren auf der Suche nach der Unsterblichkeit aussah (Harf-Lancner 1994, S. 57). AdP stellt am Ende des Romans alles Positive im Leben des Helden wieder in Frage: Er prangert seine desmesure („Maßlosigkeit“) an, durch die er alles verliert: Cil qui se desmesure si puet molt tost chaïr (AdP IV 1642: „Maßlosigkeit bewirkt bald den Fall“); Qui trestout veut tenir tout pert a abandon; / Souvent i pert grant chose par malvaise achoison (IV 1673f.: „Wer alles halten will, verliert bald alles; oft verliert man viel durch die eigene Schuld“), was das vorangehende, dithyrambische Lob (IV 1635–41) zunichte macht und auf eine Verurteilung Alexanders hinauskommt. Dabei denkt man an die Deutung des Traums des jungen Alexander am Anfang des Werkes: Mais ja de riens qu’il vuelle ne porra esploitier, / Car tuit cil li faudront qui li devront aidier, / Et molt malvaisement l’estovra repairier, / Si com fist li serpens qui retorna arrier (I 305–308: „Aber keiner seiner Wünsche wird sich realisieren, denn diejenigen, die ihm dazu helfen sollten, werden ihm fehlen, und elendiglich wird er zurückgehen müssen, genau wie die Schlange, die umkehrt“; vgl. Harf-Lancner 1994, S. 50–53; Gaullier-Bougassas 1998, S. 511ff.). Der AS-Redaktor schließt zwar die Vita des Alexander mit diesen mahnenden Worten ab: niwit mêr er behîlt / allis des er ie beranc, / wene erden siben vôze lanc, / alse der armiste man, / der in die werlt ie bequam (AS 7274–78: „Nichts von dem alledem, was er errungen hatte, behielt er, außer sieben Fuß Erde, wie der allerärmste Mann, der jemals auf die Welt kam“) und beendet sein ganzes Werk mit einem neuen, an das Publikum gerichteten memento mori. Dennoch zeigen die ganze Orientfahrt sowie der Schluß mit der Bekehrung Alexanders, daß der AS-Redaktor die Alexander-Figur als positive Gestalt gewertet hat, was von ihrer Verurteilung durch den altfranzösischen ‚Roman d’Alexandre‘ deutlich absticht. [Manuskriptabschluß (Teil A, Kap. 2.1–2.3): März 2010]

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2.4 Walter von Châtillon: ‚Alexandreis‘ von Fritz Peter Knapp Autor, Abfassung und Überlieferung des Textes – Die klassizistische Dimension des Werks – Die christlich-klerikale Dimension des Werks – Die französische Dimension des Werks

Autor, Abfassung und Überlieferung des Textes Walter (Walt[h]erus, G[u]alt[h]erus, Gauthier) von Chatillon, geboren um 1135 bei Lille, war Schüler in Paris und Reims, Schulleiter in Laon, Kanoniker in Reims, ab 1166 kurzzeitig im Hofdienst in England, dann Lehrer in Châtillon-sur-Marne (daher sein Beiname), Student des kanonischen Rechts in Bologna, zum Notar berufen von Wilhelm von Champagne, Erzbischof von Reims seit 1176, dem Onkel und Berater Philipps II. August von Frankreich, zuletzt Kanoniker in Amiens, gestorben an der Lepra zu unbekanntem Zeitpunkt, vermutlich um 1200. Walter verfaßte einen Contra-Judaeos-Traktat, rhythmische Gedichte verschiedenen (erotischen, geistlichen, satirischen, zeitgeschichtlichen) Inhalts, vor allem aber das klassizistisch-historische Epos ‚Alexandreis‘ (WA), welches ihn berühmter als die meisten mittelalterlichen Dichter machte. Es ist in fünf Jahren zwischen 1176 und 1184 entstanden und Walters Mäzen Wilhelm gewidmet. Die außergewöhnlich breite handschriftliche Überlieferung setzt nahezu unmittelbar nach der Vollendung des Werks ein, blüht v.a. im 13. Jh. und reicht bis über das Mittelalter hinaus. Über 200 erhaltene Codices aus fast ganz Lateineuropa überliefern das Werk, die meisten aus Frankreich und Großbritannien, aber kaum weniger aus dem deutschsprachigen Raum. Keine andere mittelalterliche Bearbeitung des Alexanderstoffes kann auch nur annähernd damit konkurrieren. Ebenfalls schon vor 1200 hat man das Epos in den lat. Schulunterricht aufgenommen und dafür kommentiert. Der Text wird wohl in Frankreich mit einem ersten Kommentar (überwiegend in Form von Marginalglossen) versehen und v.a. in dieser Form in Europa verbreitet, aber allenthalben auch immer wieder mit anderen und neuen Scholien ausgestattet. Der Theologe Heinrich von Gent († 1293) behauptet, die ‚Alexandreis‘ sei im Grammatikunterricht beliebter gewesen als die antiken poetischen Texte. Wer einen solchen Unterricht genossen hatte, kannte also mit höchster Wahrscheinlichkeit diesen Text.

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Inhaltsskizze der 10 Bücher: I. Erziehung und Thronbesteigung; Sicherung der Herrschaft in Griechenland (Athen, Theben); Zug nach Asien; Besuch Trojas; Ausblick: Alexander in Jerusalem. II. Schlacht am Granikus; Gordischer Knoten; unheilvolles Bad im kilikischen Fluß; Truppenschau auf beiden Seiten; Schild des Darius mit Darstellung der Frühgeschichte des Orients. III. Schlacht von Issus; Gefangennahme der Familie des Perserkönigs; Eroberung von Tyrus und Gaza; Besuch des Ammontempels in Ägypten. IV. Tod der Perserkönigin Statira; Darius’ Friedensangebot; Grabmahl mit Bildern aus der jüdischen Geschichte. V. Schlacht von Arbela; Einzug in Babylon. VI. Eroberung von Susa, Uxia, Persepolis; Verschwörung des Bessus und Narbazanes gegen Darius. VII. Entführung und Ermordung des Perserkönigs; Sarkophag des Darius mit Darstellung der Weltgegenden. VIII. Begegnung mit den Amazonen (Thalestris); Verschwörung gegen Alexander; Bestrafung der Dariusmörder; Bezwingung der Skythen. IX. Zug nach Indien; Kampf mit Porus und mit den Sudrakern. X. Plan Naturas und Leviathans zur Beseitigung Alexanders; Rückmarsch nach Babylon und Annahme von Huldigungen der Europäer; Vergiftung und Tod Alexanders.

Die klassizistische Dimension des Werks Wenn Zwierlein (1987) recht hätte, wäre Walter in der WA so etwas wie ein pseudoantiker Dichter, der erfolgreich und geschickt ein klassizistisches Epos in der Sprache Vergils, Horaz’, Ovids, Lucans, Statius’, Claudians (und des Christen Prudenz, der aber seinerseits Vergil etc. nachahmt) kombinierend und variierend nachempfunden hätte. In stilistischer und erzähltechnischer Hinsicht hat sich tatsächlich kaum ein mittelalterlicher Epiker (außer dem Dichter des ‚Ligurinus‘) der goldenen und silbernen Latinität so angenähert. Schon im prosaischen Vorwort stellt er sich ziemlich unverblümt Vergil zur Seite. Zudem hat er fast ausschließlich antike Quellen für die erzählte Geschichte benutzt: in erster Linie die ‚Historiae Alexandri Magni Macedonis‘ des Q. Curtius Rufus (1. Jh. n. Chr.), nur zur Ergänzung der überlieferungsbedingten Lücken bei Curtius die ‚Historiae Philippicae‘ des Pompeius Trogus (im Auszug des Iustinus), nur für einzelne zusätzliche Motive diverse historische, geographische und andere gelehrte Schriften (Valerius Maximus etc.). Streckenweise kann die WA geradezu als Versifikation der Prosa des Curtius gelten (Ratkowitsch 1991, S. 131). Dergleichen hat schon den großen Komparatisten Auerbach (1958, S. 149) dazu verführt, in mittellateinischen Dichtungen wie der WA nicht mehr zu sehen als „technische Spitzenleistungen, die mit den großen

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geistigen Bewegungen der Zeit nichts zu tun [haben]“. Das ist gewiß zu einseitig, auch wenn es zurecht einen gewissen Formfetischismus apostrophiert. Aber es verkennt nicht nur die formgeschichtlichen Vorgaben der mittellateinischen Dichtung – nur mit rhythmischer Poesie konnte sie nicht das Auslangen finden –, sondern spricht ihr auch gleich moderne, der eigenen Zeit gemäße Inhalte ab. Gerade inhaltlich tritt aber der mittelalterliche lat. Dichter mit dem antiken in Konkurrenz, Walter zu allererst mit Lucan (Knapp 1975, S. 258–267; von Moos 1979 u. 2009). Eberhard der Deutsche (f I Poetik) behauptet daher mit Recht in der ersten Hälfte des 13. Jh.: Lucet Alexander Lucani luce (‚Laborintus‘, V. 637). Fragt sich nur, ob mittelalterliche Rezipienten Walter ebenso als ‚Sänger Alexanders‘ wie Lucan als ‚Sänger Caesars‘ mißverstanden haben (so von Moos 2009, S. 44). Lucan wollte im ‚Bellum civile‘ gewiß nichts weniger als Caesars Andenken verherrlichen. Dieses sollte daher indirekt auch durch die Schilderung von Caesars Besuch am Alexandergrab getroffen werden. Durch diese Gedenkstätte soll der „wahnwitzige Sproß Philipps“ (‚Bellum civile‘ X,20: proles vaesana Philippi ), das terrarum fatale malum, die „Schicksalsgeißel der Länder“, dem geknechteten Erdkreis als Exempel dafür erhalten bleiben, daß so viele Länder einem einzigen Manne unterstehen können, den Natur nur durch den Tod daran zu hindern vermocht habe, bis an die Grenzen der Welt vorzustoßen (‚Bellum civile‘ X,20–42). Walter überträgt dies – teilweise wörtlich – auf seinen Alexander. Natura, ergrimmt über dessen hybride Absicht, ihr ihre letzten Geheimnisse zu entreißen, steigt in die Hölle hinab – wohl in Anlehnung an die Beschwörung der Unterwelt im 6. Buch bei Lucan –, klagt vor Leviathan, dem Satan, über Alexanders Größenwahn und ruft ihn zur Rache auf (WA X,6–107). Was hier verurteilt wird, ist die letzte, frevlerische Übersteigerung eines grenzenlosen Ehrgeizes, nicht die vorausgehende Unterwerfung Persiens und Indiens, die der antike Republikaner Lucan hingegen gar nicht gutheißen konnte. Dessen Freiheitsidee ist Walter fremd, der somit auch nicht Lucans ironische Distanz gegen seinen Helden übernehmen muß (gegen von Moos 2009, S. 50). Wenn der römische Dichter erwartet, daß durch seine Verse Caesars Sieg bei Pharsalos in der Nachwelt lebendig bleiben wird so wie Trojas Fall durch Homer (‚Bellum civile‘ IX,983–986), so beabsichtigt er ja in Wirklichkeit eine damnatio memoriae Caesaris. Man muß Walter dagegen nicht (mit von Moos und anderen) unbeweisbare Ironie unterstellen, wenn er die Großtaten seines so jungen Helden weit über die von Lucan und Claudian besungenen aus der römischen Geschichte erhebt (WA V,491–520). Umgekehrt macht der Vergleich von Lucans Pompeius mit dem besiegten

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Darius (WA VII,344–347) diesen nicht zum rein positiven Helden. Darius ist ein miserabler Feldherr und ein Feigling, beides im krassen Gegensatz zu Alexander. Ob man dessen von Walter gezeichnete positive Seiten mit von Moos (2009, S. 53f.) auf den rein „professionellen Aspekt“ der Kriegskunst einschränken kann, dem eine rein negative moralische Gesinnung Alexanders gegenübersteht, scheint fraglich, dies schon im Vergleich mit den weit kritischeren, von Walter überwiegend getilgten oder abgeschwächten Tönen bei Curtius (vgl. u.a. Behr 1989, S. 144f.), insbesondere aber im Hinblick auf die Vergleiche mit der Gegenwart des 12. Jh. (s.u.). Nichtsdestoweniger sah Walter gewiß sein und Lucans Epos gleichermaßen als tragedia im Sinne des Mittelalters, nämlich als Darstellungen von „alten Taten und traurigen Untaten verbrecherischer Könige“ (Isidor von Sevilla, ‚Etymologiae‘ XVIII,xlv: antiqua gesta et facinora sceleratorum regum luctuosa), wie von Moos (1979) richtig gesehen hat. Der historische Inhalt, der hohe Rang der Akteure und der schlechte Ausgang sind die entscheidenden Bestimmungsstücke der tragedia. Verrat und Mord raffen Alexander auf dem Höhepunkt seiner Macht in Windeseile hinweg. Der christlich-klerikale Aspekt des Werks Die Ambivalenz dürfte kaum behebbar sein: „From the first book on, the narrator vacillates between admiration for and condemnation of his hero. His only consistent judgement is one of amazement“ (Lafferty 1998, S. 177). Das dürfte so ziemlich dem Empfinden aller gebildeten Zeitgenossen entsprochen haben, mochte auch bewunderndes Staunen überwogen haben. In seiner Neuheit, Unerwartetheit und Übernatürlichkeit scheint Alexander ein allegorischer Antitypus Christi zu sein, weshalb ihn auch der Leviathan mit dem Messias verwechselt. In Wahrheit kann Alexander jedoch weder im Denken noch im Tun die Grenzen des Irdischen und Fleischlichen überschreiten. Am deutlichsten manifestiert sich dies im Blick des Sterbenden auf seine angebliche Unsterblichkeit: „Hinfort bin ich zu Höherem berufen und werde den höchsten Olymp regieren, und mich ruft der hohe Äther, auf daß ich, auf Thron und Sitz des Königtums gelangt, unter den Sternen mit Jupiter die Geheimnisse der Welt ordne und der Menschen kurze Geschicke und die Geschäfte der Götter verhandle“ (WA X,405–409: summum deinceps recturus Olympum / Ad maiora uocor, et me uocat arduus ether / Vt solium regni et sedem sortitus in astris / Cum Iove disponam rerum secreta breuesque / Euentus hominum superumque negocia tractem). „Although his ambition is similar in kind to Leviathan’s, it is even more

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restricted by the limited understanding of the nature of the universe. Despite his ambition the only world beyond the orbis terrarum that Alexander will explore is Hell“ (Lafferty 1998, S. 182). So unmittelbar einsichtig dies für jeden zeitgenössischen Leser gewesen ist, so auffällig meidet es der Dichter, die sichere ewige Verdammnis des heidnischen Übermenschen direkt zu benennen. Der Versuch, den Helden doch so weit wie möglich in seiner paganen Welt zu belassen, ohne den eindeutigen christlichen Standpunkt des Autors und des angesprochenen Publikums völlig ausblenden zu können und zu wollen, erzeugt einen prekären Schwebezustand, den Cary (1956) und andere als pseudopagane Anerkennung des Götterfreundes Alexander, Kratz (1980) dagegen als Verspottung des heidnischen Standpunktes, Ratkowitsch (1991) immerhin als sukzessive christliche Überformung deuten. Sie weist u.a. auf die Worte des Erzählers WA X,351–355 hin: Sed si mortali contentus honore fuisset, Si se gessisset humilem inter prospera, si sic Dulcia fortunae uelut eius amara tulisset, Forsitan et gladium et gladio crudelius omni Vitasset fato sibi disponente uenenum.

„Wäre er aber mit dem Geschick eines Sterblichen zufrieden gewesen, hätte er sich demütig im Glück gezeigt und Fortunas süße Gaben so hingenommen wie die bitteren, so hätte er vielleicht das Schwert und, grausamer als jedes Schwert, das Gift, vom Fatum ihm bestimmt, vermieden.“

Selbst diesen Worten wird aber durch das „vielleicht“ die letzte Eindeutigkeit genommen. Das ändert natürlich nichts daran, daß der Autor Demut empfiehlt. Am Ende ruft er alle Menschen auf, stets das ewige Heil vor Augen zu haben, den Tod zu fürchten und sich vor den „eitlen Schwingen“ des „trügerischen Ruhmes der Welt“ zu hüten (X, 433–441). Die Weltsicht aller Menschen vor Christus ist notwendig heilsgeschichtlich begrenzt, selbst das der Juden, auch wenn sie nicht mehr wie die Heiden in einem polytheistischen Wahn befangen sind. Doch Gott sendet seinem auserwählten Volk Propheten, in deren Weissagungen schon ein Teil der ganzen Wahrheit hervorleuchtet. Auch Alexander hat seinen Platz in diesen Prophetien. Nach christlicher Exegese ist er der Bock, der den Widder, d.h. den Perserkönig, niederstößt, also der Repräsentant des dritten der vier Weltreiche, in der Vision Daniels (Dn 8,3–22 – WA V,7–10; VI,3f.; VII,423f.). Walter blendet aber geschickt die Geschichte des ganzen Alten Testaments, die schon Isidor von Sevilla und andere der griechisch-römischen Geschichte gegenübergestellt hatten, in die Tatenreihe Alexanders ein, der umgekehrt ja auch zu Anfang der Makkabäerbücher in der Bibel genannt wird. Der hebräische Maler Apelles stellt die Geschichte seines Volkes bildnerisch dar (WA IV,176–274). Alexander begegnet in

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Jerusalem dem Hohenpriester Jahwes mit Verehrung und schont die Stadt seines Tempels (I,499–554) – gemäß der Erzählung bei Flavius Josephus, ‚Jüdische Altertümer‘ XI,8. Der Welteroberer, der „Hammer des ganzen Erdkreises“ (WA VII,424: totius malleus orbis), ist also ein wichtiges Werkzeug der Heilsgeschichte, und der Christ weiß: „Alles verläuft nach dem Gesetz, welches jener Schöpfer der Welt von Ewigkeit festgelegt hat“ (VI,514f.: Omnia lege meant quam rerum conditor ille / Sanxit ab eterno). Diese Funktion konnte Alexander zwar nur mit gewaltigen militärischen und organisatorischen Taten, aber gleicherweise mit guten und bösen, erfüllen. Die ältere Forschung neigte eher zur Verehrung des Übermenschen, die neuere weit weniger. Entscheidend ist hier wohl die Einschätzung des Vergleichs mit der christlichen Gegenwart des Autors. Anläßlich des babylonischen Triumphzuges ruft der Erzähler aus (V,510–520): Si gemitu commota pio uotisque suorum Flebilibus diuina daret clementia talem Francorum regem, toto radiaret in orbe Haut mora uera fides, et nostris fracta sub armis Parthia baptismo renouari posceret ultro, Queque diu iacuit effusis menibus alta Ad nomen Christi Karthago resurgeret, et quas Sub Karolo meruit Hyspana soluere penas Exigerent uexilla crucis, gens omnis et omnis Lingua Ihesum caneret et non inuita subiret Sacrum sub sacro Remorum presule fontem.

„Wenn die göttliche Barmherzigkeit, bewegt durch frommes Seufzen und tränenreiche Gebete, einen solchen König der Franzosen gewährte, würde sogleich der wahre Glaube auf dem ganzen Erdkreis erstrahlen, und Parthien, gezwungen durch unsere Waffen, freiwillig verlangen, durch die Taufe erneuert zu werden, das hohe Karthago, wie lange es auch mit zerstörten Mauern darniederlag, im Namen Christi wiederauferstehen. Die Kreuzesbanner würden die Strafen eintreiben, welche Spanien schon zu Karls Zeiten zu leisten verdiente, jedes Volk und jede Sprache Jesus lobpreisen und gern vom heiligen Reimser Bischof die heilige Taufe empfangen.“

Der erhoffte Heilbringer der nahen Zukunft und Sieger im Kreuzzug wider die ‚Heiden‘ in ‚Parthien‘, Nordafrika und Spanien soll also ein zweiter Alexander sein. Wiener (2001) will Alexander als Typus sub lege, den frz. König als Antitypus sub gratia verstehen (was möglich, aber keineswegs zwingend ist, weil eine doch ungewöhnliche außerbiblische Typologie vorläge). Auf diese Weise wolle Walter die antiken Vorbilder nicht formal, sondern christlich-weltanschaulich überbieten. Eine typologische Sicht Alexanders kann in jedem Falle eine Rolle gespielt haben. Nach Wiener (2001, S. 65) dominiert sie aber die moralisierende Sicht völlig. „Insofern ist die Frage nach Alexanders Schuld und Hybris falsch gestellt. Sein Aufstieg und sein Fall waren vorherbestimmt und hätten sich mit und ohne

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das Zutun von Hybris ereignet“. So einfach, wie Wiener suggeriert, haben sich aber mittelalterliche Gelehrte das Zusammenspiel von Providenz, Fortuna und menschlichem Willen nicht vorgestellt. Gerade in der sog. Schule von Chartres, der auch Walter zumindest indirekt verbunden gewesen sein dürfte, wurde diese Frage eifrig diskutiert. Walter glaubte, wie bereits zitiert, uneingeschränkt an die göttliche Vorsehung, deshalb aber nicht notwendig an die Unfreiheit des menschlichen Willens und schon gar nicht an die unmittelbare Durchschaubarkeit des göttlichen Willens. Die unberechenbare Fortuna ist bei ihm durchaus im boethianischen Sinne präsent: proch quanta licentia fati, / Quam uaga que uersat humanos alea casus (WA VII,74f.: „Ach, welche großer Spielraum des Schicksals! Wie unbeständig der Würfel, welcher die Menschengeschicke wendet!“). So wenig der heimtückische Mord an Alexander, ein Werk des Teufels, einfach als göttliche Strafe gesehen werden kann, so wenig ist ein Typus im ganzen vorbildhaft für den Antitypus (also etwa der gefallene Adam für Jesus Christus). Die französische Dimension des Werks Die eben aus Buch V zitierte längere Partie hat zugleich ausschlaggebende Bedeutung für Datierung und Lokalisierung der WA. Sie bezieht sich zwar nicht notwendig, aber doch am ehesten auf die Krönung des vierzehnjährigen Philipp August 1179 zum Mitregenten seines todkranken Vaters, der im Jahr darauf auch wirklich starb. Die ersten Teile des Epos könnten noch die Situation des Kronprinzen im Auge haben (Wiener 2001, S. 98–109). Auf jeden Fall wird alles aus französischer Perspektive gesehen. Der in Aussicht genommene Kreuzzug steht in der Tradition der Sarazenenkämpfe Karls des Großen, welche in der französischen Heldenepik von Roland, Olivier, Guillaume, Rainouart etc. lebendig gehalten wurden, die allerdings nie namentlich im WA erwähnt werden (Kullmann 2000, S. 70). Ziel soll jedoch die gesamte islamische Welt von Spanien bis ‚Parthien‘ (ein geographischer Sammelbegriff, der gemäß den ‚Alexandreis‘-Scholien irgendwie auch Jerusalem einschloß) sein. Eine Anspielung auf die Kreuzfahrerstaaten der Gegenwart findet sich auch schon WA III,336–341. Auf das frz. Ambiente weisen die epischen Vergleiche (zu diesen allgemein Knapp 1975) mit den Alpen und mit der Rhône. Alexanders Entfernung von Babylon wird der zwischen St. Denis und der Seine gleichgesetzt (V,439f.). Alexander als Verfolger des Darius erscheint im Bilde eines frz. Wildschweinjägers (III,457: venator Gallicus). Dem toten Darius wird ein

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ruhmvolles Nachleben durch das literarische Werk in Francia versprochen (VII,344–347), desgleichen dem Griechenführer im persischen Heer, Patron, bei der frz. Nachwelt (VI,509: Gallica posteritas). Die Darstellung der Weltkarte auf dem Grabmal des Perserkönigs verkündet, worauf die west- und mitteleuropäischen Länder angeblich stolz sind (VII,411–414): Francia militibus, celebri Campania Bacho, Arthuro Britones, solito Normannia fastu. Anglia blanditur, Ligures amor urit habendi, Teutonicusque suum retinet de more furorem.

„Francia auf seine Ritter, die Champagne auf ihren berühmten Wein, die Bretonen auf Artus, die Normandie auf ihren gewohnten Hochmut. England schmeichelt, die Ligurer verzehrt die Habgier, und der Deutsche behält nach Gewohnheit sein Toben bei.“

Francia bezeichnet hier wohl nicht das ganze dem frz. König lehnspflichtige Frankreich, sondern nur die frz. Krondomäne oder gar nur Franzien, die Île de France, die dem benachbarten Champagne, dem engeren Lebensraum Walters und seines Gönners, gegenübersteht (Wulfram 2000, S. 266; Glock 2000, S. 290). Die anderen Länder mit ihren Stereotypen schließen sich dann im Kreise an. Das Bewußtsein militärischer Macht Frankreichs steckt wohl auch in dem „patriotischen Unglauben“ (Wulfram 2000, S. 267), Gallia habe wie die übrigen europäischen Länder Alexander in Babylon ihre freiwillige Unterwerfung angeboten (X,231f.). Auch zeitgeschichtliche Anspielungen auf Graf Karl von Flandern, Thomas Becket und Robert von Cambrai fügen sich in den lokalen Rahmen. Sie gehören natürlich zu der allgemeinen durch Gleichnisse und Exkurse beschworenen Autorperspektive. Das ptolemäische Weltbild ist ja Antike und Mittelalter grosso modo gemeinsam, das heilsgeschichtliche nur dem christlichen Zeitalter. Walters prononciert geistlichen Standpunkt tritt v.a. in seiner völligen Aussparung der Minne, aber auch in moralisch-satirischen Kommentaren wie VII,306–347 hervor. Unmittelbar in die Schilderung des epischen Vordergrunds dringt aber die anachronistische Sicht der Herrschaftsstruktur und der Kampftechnik ein. Jene trägt deutliche Züge des Lehenswesens (wohl noch öfter als Kullmann 2000, S. 56, andeutet), diese ist nicht durchgehend, aber vielfach vom ganz unantiken Tjostieren geprägt (Knapp 1975, S. 252), welches natürlich nicht erforderlich gewesen wäre, um dem Krieg „episch-heroisches Gepräge zu verleihen“ (Glock 2000, S. 290), wie ein Blick in die ‚Aeneis‘ zeigt. Nicht aus der Antike, sondern aus der frz. Chanson de geste des 11./12. Jh. stammen offenkundig auch der selbstleuchtende Karfunkelstein als Helmzier der Krieger und der Frühlingseingang als Neueinsatz des Kampfgeschehens (Kullmann 2000, S. 67f. bzw. S. 62–65). In die Feierlichkeiten beim Einzug

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in Babylon mischen sich mittelalterliche Musikklänge. Die Spielleute (mimi) verwenden V,486 auch die viella (afrz. viele). „So wird durch ein einziges Wort wie durch einen Schalter die ganze zeitlos orientalische Szenerie in eine abendländische Kulisse verwandelt“, behauptet Glock (2000, S. 292). Doch das Ergebnis bleibt zwiespältig auf halbem Wege zwischen klassischer Antike und 12. Jh. Im Rahmen dieses Handbuchs ist allerdings die Frage wichtiger, ob die ‚Alexandreis‘ trotz ihres lat. Gewandes als opus francigenum erkennbar sein sollte. Nach Glock hat Walter primär ein Werk gesamtabendländischer, lateineuropäischer Bildung produzieren wollen. Das trifft wohl zu. Aus dem antiken makedonischen Helden ist auch kein Franzose geworden und vielleicht nicht einmal ein richtiger Lateineuropäer. Dennoch wird „Alexanders Zug von Reims aus gesehen“ (Glock 2000, S. 286). Das reicht – abgesehen von anderen frz. ‚Zutaten‘ – wohl allein aus, die Alexandreis’ hier unter den frz. Mustern deutscher Rezeption zu verbuchen.

2.5 Jacob van Maerlant: ‚Alexanders geesten‘ von Fritz Peter Knapp Entstehung, Überlieferung und Vorlagen – ‚Alexanders geesten‘ als Fürstenspiegel – Vermittlung enzyklopädischen Wissens – Ritterliche Ethik

Entstehung, Überlieferung und Vorlagen Jacob (um 1260 – kurz nach 1291) stammte aus der Gegend von Brügge in Flandern (wo er auch starb), erhielt seine Bildung vermutlich in der dortigen Domschule und hatte wohl Zugang zu den Bibliotheken der nahegelegenen Zisterzienserabteien Ter Duinen und Ter Doest. Von 1257 bis nach 1266 lebte er auf der holländisch-seeländischen Insel Voorne in der Pfarrei Maerlant, von der er seinen Beinamen bekam. Er stand dort als Küster und Lehrer an der winzigen Peterskirche im Dienste der Herren von Voorne, die zu den vornehmsten Vertrauten des holländischen Grafen Floris V. gehörten. Dieser, der Sohn Graf Wilhelms II. (1234–1256; römischer Gegenkönig 1247–1256), war 1257 freilich erst drei Jahre alt und stand 1258 bis 1263 unter der Vormundschaft seiner Tante Aleide (Adelheid, Alix), Gattin des hennegauischen Grafen Johann von Avesnes. Da eine zeitgeschichtliche Anspielung in ‚Alexanders geesten‘ (AG) deren Entstehung auf 1257–1260 einzugrenzen scheint (s.u.), liegt es nahe, das

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Akrostichon GHEILEHIDA der Anfänge der zehn Bücher von AG als Kryptogramm für Aleide zu verstehen (Van Oostrom 1996, S. 113f.), der dann das erste Werk des produktivsten mnl. Dichters gewidmet wäre. Trotz dieser nordwestlichen Genese hat sich nur eine vollständige Handschrift vom östlichen Rand des mnl. Gebietes zwischen Jülich und Kleve erhalten (München, cgm 41, 14./15. Jh.). Nur Fragmente weisen weiter nach Westen (Kienhorst 1988, Bd. I, S. 8–13). Jacobs Hauptvorlage war die (glossierte) ‚Alexandreis‘ Walters von Châtillon. Nur zur Ergänzung zog er weitere Informationen heran. Was die Taten Alexanders selbst betrifft, hält er sich dafür insbesondere an Pseudo-Kallisthenes (qua Julius Valerius und Archipresbyter Leo). Für die kräftige Bereicherung der Exkurse in WA hat er im historiographischen Bereich in erster Linie die ‚Historia scholastica‘ von Petrus Comestor benützt, die später die Hauptquelle für seine ‚Rijmbijbel‘ sein wird. Die Weltbeschreibung geht größtenteils auf die ‚Imago mundi‘ von Honorius Augustodunensis zurück (Franck 1882, S. XIX–LII). Jacob will sich schon in seinem ersten Werk als Polyhistor erweisen. Die vom Herausgeber und Berendrecht (1996, S. 13–85) nachgewiesenen Quellen machen eine ganze Bibliothek aus (außer den genannten noch Solinus, Thomas Cantimpratensis, Orosius, Lucan, Ovid, Vergil etc.). Freilich muß man immer mit der Benützung von Florilegien rechnen. ‚Alexanders geesten‘ als Fürstenspiegel Die Bestimmung des Werks für die Vormundschaft des unmündigen Grafen Floris hat nach der Interpretation Van Oostroms (1996), der wir hier folgen, Auswahl und Bearbeitung des Alexanderstoffes durch Maerlant im wesentlichen gelenkt. Floris ist früh vaterlos geworden wie Alexander und sah wie dieser die Aufgabe vor sich, seinen Vater zu rächen. Deshalb könnte Maerlant die Sterbeszene Philipps eingefügt haben, der mit seinen letzten Worten auf diese Situation seines Sohnes hinweist (AG I, V. 755–759). Nicht ganz so gut paßt dazu freilich die Einführung der – angeblich von Aristoteles bezeugten – dämonischen Herkunft Alexanders nach der Version der ‚Historia de preliis‘ (s. Kap 2.2), die Maerlant, anders als Walter, immerhin neben der Vaterschaft Philipps erwägt und nur halb vom Tisch wischt mit der Bemerkung: „Jedenfalls war er ein Königskind“ (AG I,338). Darauf ist es dem Dichter wohl vor allem angekommen, der im ‚Spiegel historiael‘ Graf Floris als Sohn von König Wilhelm anspricht (Van Oostrom 1996, S. 116). Die Faszination der römischen

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Krone wird zusätzlich durch die Szene bezeugt, in welcher die Römer sich Alexander unterwerfen. Während Walter im 10. Buch nur berichtet, Alexander habe schließlich kurz vor seinem Tode die Kronen aller Reiche empfangen, läßt Maerlant schon bei der Unterwerfung ganz Griechenlands einen Boten auftreten, welcher dem König ausdrücklich die römische Krone anbietet (AG I,1041–48). Am deutlichsten rückt Maerlant seinen Helden und seinen Landesherrn durch ein Darstellungsmittel zusammen, welches mittelalterliche Dichter immer wieder zur Huldigung gegenüber ihren Gönnern verwenden. Er verleiht gegen die historische Wahrheit Alexander das Schildwappen der Grafen von Holland, einen steigenden, feuerroten Löwen auf goldenem Grund (Van Oostrom 1996, S. 117f.). Vermittlung enzyklopädischen Wissens Folgerichtig sollte höchstwahrscheinlich der kindliche Graf die ‚Alexanders geesten‘ als Fürstenspiegel lesen, und zwar nicht nur die Lebenslehren des Lehrers Aristoteles, in dessen Rolle sich wohl Maerlant hinein geträumt hat. Gleichwohl warnt Van Oostrom (1996) davor, das Anliegen des Dichters auf den politischen Aspekt einzuschränken. Vielmehr sei es insgesamt auf „Weisheit und Kurzweil“ (AG IV,1717: wijsheit end dachcortinghe) ausgerichtet gewesen, wobei zur Weisheitslehre umfassende anthropologische, biologische, geographische und historische Kenntnisse gehören, die Maerlant weit über die Vorlage (die er schon in einer glossierten Handschrift las!) hinausgehend ausbreitet. Die bildliche Darstellung der Welt auf der Kuppel des Grabmals des Darius in WA VII,397–420 wird auf eine detaillierte Erdbeschreibung von fast tausend Versen ausgeweitet (AG VII,837–1810). Der kurze Abriß jüdischer Geschichte, die auf dem Grabmal der Gattin des Darius abgebildet ist (WA IV,181–274), wird in AG IV,391–1078 in fast 700 Versen behandelt, die babylonischpersische Geschichte vom Turmbau von Babel bis zum Tod des Kyros (WA II,499–533) in AG II,1005–1247, die Taten Caesars und Octavians in AG V,1053–1169 (bloße Anspielung in WA V,493–96). Anlaß dieser Erwähnung der römischen Herrscher ist bei Walter (s. Kap. 2.4) die Überbietung der Triumphe nach den Schlachten bei Pharsalus und Actium durch den Einzug Alexanders in Babylon. Maerlant geht ebenfalls davon aus, doch der lange Geschichtsabriß löst sich davon völlig und macht sich selbständig. Obwohl Caesars Ermordung und Augustus’ Friedensherrschaft durchaus einen kontrastierenden Durchblick auf Alexander erlaubt hätten, bleibt es bei dem simplen Vergleich der Triumphe –

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ein deutlicher Hinweis auf den Eigenwert des vermittelten Wissens. Doch Walter benutzt das Vergleichspotential auch noch zur Überbietung der Epen Lucans und Claudians. Maerlant ersetzt das nicht ganz ungeschickt durch die Geschichten von Artur und Partonopeus. Doch was kann er mit der Bitte des Franzosen um Gottes Gunst für den französischen König, der zum siegreichen Kreuzzugsanführer werden soll (s. Kap. 2.4), anfangen? Hier wäre der ideale Platz gewesen, den eigenen Landesfürsten groß herauszubringen. Doch der Flame reproduziert in schlichten Worten auch hier bloß die Vorlage, daher auch den coninc te Parijs, obwohl er sonst Walters patriotische Anspielungen zu tilgen pflegt. Dann aber gleitet selbst er ins Lokalhistorische ab: „Wäre aber auch der Herzog von Brabant so ein berühmter Ritter, so würde es den Räubern von Rippelmonde [Rupelmonde an der Schelde, Ost-Flandern] als eine große Sünde erscheinen, mit Gewalt Zoll von den Scheldeschiffern zu nehmen“ (AG V,1229–34). In der Tat war in diesem flämisch-holländischen Zollstreit 1256 der Herzog von Brabant zum Schiedsrichter eingesetzt worden (Van Oostrom 1996, S. 113f.). An dem Vergleich ist so ziemlich alles schief. Hier, wo er wirklich einmal ganz eigenes hinzutut, verläßt ihn das Gefühl für Proportionen völlig. Maerlant ist trotz seiner weiten literarischen Ausflüge in alle Weltgegenden und Weltzeitalter in erster Linie seiner engsten Heimat, dem Gerichtsbezirk Brügge verbunden. In einem Exkurs spricht er seine Verwunderung aus, wieso durchwegs alle Leute ihr eigenes Land am meisten preisen, die Brabanter, die Franzosen, die Deutschen, die Briten, die Champagner. Doch auch er, Maerlant, habe seinerseits ein so gutes Land wie Brugsambocht noch nirgends gefunden, denn dort sei er geboren (AG I,1081–88). Dorthin ist er denn auch nach seiner seeländischen Zeit wieder zurückgekehrt. Aber in seinem Dichten überläßt er sich ganz den weitgestreuten fremden Themen. Wert legt er dabei nur auf die inhaltliche Seite. Er will historische bzw. realienkundliche Vollständigkeit und Zuverläßlichkeit. Da ergänzt und korrigiert er auch seine Hauptquelle, die ‚Alexandreis‘ (vgl. Berendrecht 1996, S. 81). Sprache und Vers sind ihm nur Kommunikationsmittel. Meist gibt er in seinen schlichten Reimpaarversen so getreu wie möglich wieder, was er in seinen zahlreichen Quellen liest, wie viel oder wie wenig er selbst damit anfangen kann. Ja, der Herausgeber, Johannes Franck (1882, S. XLV), meint keine große Mühe und Sorgfalt des Dichters bei ihrer Wiedergabe entdeckt zu haben, was angesichts von dessen Angabe, er habe weniger als ein halbes Jahr für die mehr als 14000 Verse gebraucht, auch nicht verwunderlich sei. Er habe gar kein selbständiger Dichter sein wol-

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len, wozu ihm wahrscheinlich auch die Anlage gefehlt habe. Claassens nennt den Dichter Maerlant mit Recht einen Schulmeister (f Trojaromane, Teil A, Kap. 4.3). Ritterliche Ethik Maerlant behält in aller Regel das pseudoantike Kolorit des mittellateinischen historischen Epos bei. Zeitgenössische Züge mischen sich eher unbeabsichtigt darunter. Aber es gibt auch bewußte ‚Modernisierungen‘. Skylla und Charybdis mutieren zu Leopard und Drachen (WA V,301 – AG V,549). AG VIII,1031–34 tritt Aventüre (mit dem Glücksrad!) an die Stelle der antiken (hier geflügelten) Fortuna (WA VIII,456), AG V,239–244 der personifizierte Tod an die Stelle der Parzen (WA V,142–145), die aber andernorts dann doch wieder auftauchen. Von Konsequenz ist da nicht viel zu spüren, woraus sogar echte Mißgriffe entstehen können. So wird etwa der Gott Mars zu einem heidnischen Propheten gemacht, der da plötzlich grundlos statt der mythologischen Kriegsallegorie in der Schlacht auftaucht und seine in diesem Ambiente noch unpassendere Schwester, die ursprünglich die Kriegsgöttin Bellona gewesen ist (WA V,205–240 – AG V,374–410), zu Alexander sendet. Was man in einem höfischen Roman unbedingt erwartet, ist die Minne. Ulrich von Etzenbach (s. Kap. 2.6) wird in dieser Hinsicht unsere Erwartungen voll befriedigen. Nicht so der Kleriker Maerlant. Insofern ist (laut Van Oostrom, LG, S. 518) sein Werk absolut nicht höfisch. Vielmehr zeichnet er in AG wie in seinen anderen Werken ein Ritterideal ohne jede Erotik. Dazu übernimmt er nicht nur getreulich Walters entsprechende reservierte Haltung, sondern er fügt sogar eine Episode (vermutlich aus dem pseudoaristotelischen ‚Secretum secretorum‘, das Maerlant später auch übersetzte) hinzu, worin Sexualität als buchstäblich tödlich erscheint. In feindlicher Absicht wird ein wunderhübsches Mädchen zu Alexander gesandt, der großes Gefallen an ihr findet. Gerade noch rechtzeitigt erkennt Aristoteles, daß sie zeit ihres Lebens mit Schlangen und Gift gefüttert worden war und so jede sexuelle Vereinigung mit ihr zum Tode führen muß. Doch diese Episode treibt nur auf die Spitze, was das ganze Werk, angefangen mit den Lehren des Aristoteles im ersten Buch, geradezu einhämmert: Wer sich einer Frau ausliefert, riskiert Tugend, Freiheit, Kraft, Gesundheit und Leben. Nur die Amazonen finden vor dem Dichter Gnade, denn sie paaren sich nur der Kinder wegen, enthalten sich aber sonst jeglicher Wollust, um ihre Kampfeskraft nicht zu beeinträchtigen

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(Van Oostrom 1996, S. 273–275). Hier benützt der Dichter sogar ausnahmsweise die Gelegenheit, seine rhetorische Schulung am Höfischen Roman zu demonstrieren. Er liefert (AG VIII,77–134) eine absolut vorschriftsmäßige Schönheitsbeschreibung der Amazonenkönigin Talrestis (= Thalestris WA VIII,8–23) samt ausführlicher Überbietung notorischer weiblicher Schönheit aus Bibel, Antiken- und Minneromanen (Thamar, Briseis, Isolde, Blancheflur etc.). Die Schönheit soll aber offenbar nur ihre dynastische Ebenbürtigkeit bekräftigen. Alexander hält die Bitte der Königin, mit ihm einen würdigen Erben (bzw. eine Erbin für ihr Reich) zu zeugen, für angemessen und erfüllt sie pflichtgemäß. Emotionen bleiben dabei gänzlich aus. Weitere Liebesgeschichten erlebt der Held auch keine. Alexander ist in AG vorerst der ideale Kriegsheld und Welteroberer, dessen unaufhaltsame Erfolge jedoch letztlich in verwerfliche Maßlosigkeit und Übermut münden. So wird das Heldenepos zugleich zur Lektion der Demut (Van Oostrom, LG, S. 517). Der Held selbst glaubt allerdings bei Walter (WA X,406f.) wie bei Maerlant (AG X,1391–94) als überzeugter Heide, nach seinem Tode im Olymp mit Jupiter den Himmel zu lenken, zeigt also keinen Hauch von Demut. Dem Helden verbleiben alle seine moralischen Ambivalenzen, die er schon in der Quelle besaß, wo sie aber auch meist unkommentiert bleiben. Nur das Publikum soll schon dort, aber mehr noch bei Maerlant Alexanders Schicksal auch als Mahnung verstehen. Viel Überzeugungskraft wendet der mnl. Dichter aber dafür nicht auf. Als engagierter Seelsorger tritt er uns nicht entgegen.

2.6 Ulrich von Etzenbach: ‚Alexander‘ von Fritz Peter Knapp Die ‚Alexandreis‘ in Deutschland – Entstehung, Überlieferung und Vorlagen des böhmischen ‚Alexander‘ – Die höfisch-mittelalterliche Dimension des Werkes – Die deutsche und böhmische Dimension des Werkes

Die ‚Alexandreis‘ in Deutschland Die ‚Alexandreis‘ wurde, wie gesagt, im germanischen Sprachraum nicht weniger eifrig gelesen als im romanischen. Eine eigene Sicht der Dinge brachten hier schon die reichen Kommentare ein. Der Topos vom Teutonicus furor (WA VII,414), der aus Lucan stammt (‚Bellum civile‘ I,255f.), dürfte auch im Munde Walters kein Lob gewesen sein. Ob es bei ihm posi-

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tiver gemeint ist, wenn die Deutschen ihr Toben ablegen, um sich Alexander auch zu unterwerfen (WA X,234f.)? Der Codex Kopenhagen AM 224 4° vermerkt jedenfalls dazu: Teutonicus populus optimus (Killermann 2000, S. 323). Der Text ist hier offensichtlich in der Germania angelangt. Der Kommentar in Wien, cod. 568 gibt sich insgesamt schon durch deutsche Glossen als aus dem deutschen Sprachraum stammend zu erkennen. Er artikuliert denn auch deutliche antifranzösische Ressentiments. So wirft er etwa den Franzosen vor, sie würden wie die alten Babylonier ihre eigenen Frauen und Kinder prostituieren (zu WA VI,23–25, Ausg. Colker, S. 440). Kaum ein deutscher Bearbeiter des Alexanderstoffes des 13. bis 15. Jh. wird Walters Werk nicht gekannt haben, auch wenn er im Prinzip eine andere Vorlage verwendete. Für Berthold von Herbolzheim und Biterolf können wir das nicht beurteilen, da ihre Werke verloren sind. Rudolf von Ems, der sie erwähnt, schuf seinen ‚Alexander‘ (RA) wohl als Fürstenspiegel für die Söhne Kaiser Friedrichs II., den ersten Teil (etwa 5000 Verse) ca. 1235 v.a. nach der lat. ‚Historia de preliis‘, den zweiten Teil (bis V. 21643) ca. 1240/1254 nach Curtius Rufus, der auch Walters Quelle war. Das Werk bricht vor der Eroberung Indiens ab. Rudolf dürfte fast den doppelten Umfang geplant haben. Er will volkssprachige Historiographie produzieren, betreibt dafür fast so etwas wie Quellenkritik, zieht daher auch weitere historische Quellen heran und zielt auf Vollständigkeit. Allerdings geht es ihm mindestens ebensosehr „um exemplarisch Gültiges“ (Lienert 2001, S. 53). Alexander wird, auch gegen die Quellen, auf Kosten alles Individuellen und Menschlichen zum makellosen Idealherrscher stilisiert. Für das Lehrhafte und Sentenziöse konnte Rudolf auch Walters Werk gut gebrauchen, weniger hingegen dessen bereits episch umgestaltete Handlung. Von den Anleihen, welcher er bei der WA machte, ist die Fürstenlehre des Aristoteles (WA I,82–183) nicht zufällig die bei weitem wichtigste. Sie empfiehlt, sich vor der Arglist der adeligen, insbesondere aber der nichtadeligen Gefolgsleute zu hüten, edle Gesinnung dem Reichtum vorzuziehen, gerecht und unbestechlich zu richten, den Unterworfenen milde, den Stolzen hart zu behandeln, im Krieg an der vordersten Front zu kämpfen und die Truppen dadurch mitzureißen, diese für den Sieg reich zu belohnen, ja überhaupt größte Freigebigkeit walten zu lassen, sich von Bacchus und Venus fernzuhalten, fromm zu sein, Untaten nicht im Zorn, sondern überlegt zu bestrafen und danach keinen Haß mehr zu hegen. Walter hat hier auswählend auf das pseudoaristotelische ‚Secretum secretorum‘ zurückgegriffen, Rudolf dagegen (RA 1423–1830) auf Walters epische Bearbeitung, da er teilweise auch die poetische Ausgestaltung mit überträgt, so den Vergleich des sich überhebenden Parvenüs mit

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einem anschwellenden Gießbach RA 1445–48 nach WA I,87f. Doch paßt Rudolf den Tugendkatalog den Normen und Begriffen der klassischen mhd. Dichtung (stæte, mâze, hôher muot etc.) an und schränkt die klerikale Warnung vor Venus auf die valsche minne ein. Im ganzen Werk macht sich vielerorts, wenn auch nicht durchgehend und gar systematisch, eine höfische Atmosphäre bemerkbar. Damit entfernt sich Rudolf natürlich noch stärker von den antiken Vorgaben als Walter, der zudem die negativen Seiten des Helden auch bei weitem nicht ganz übertüncht hatte. Entstehung, Überlieferung und Vorlagen des böhmischen-deutschen ‚Alexander‘ Ulrich von Etzenbach lebte und arbeitete in Böhmen. Seine Gönner sind König Pˇremysl Otakar II. (1253–1278) und nach dessen Tod König Wenzel II. (1278/1283–1305) gewesen. Seinen ‚Alexander‘ (UA) begann er (um 1270?) für Otakar, widmete ihn dann aber Wenzel, am ehesten um 1284. Sein zweites versepisches Werk, ‚Wilhelm von Wenden‘, vollendete er vor 1297, den allegorisierenden Anhang zur UA schrieb er wohl erst danach. (Dieser wird hier nicht weiter behandelt, da er ohne bekannte Vorlage geschaffen wurde.) Überliefert ist das Werk (28000 Verse in zehn Büchern) in 6 vollständigen Handschriften und 10 Fragmenten und damit weit besser als RA (3 Hss.). Überdies wurden Exzerpte in die Weltchronik Heinrichs von München aufgenommen (Medert 1989, S. 12–18). Der UA galt also uneingeschränkt als Geschichtswerk. Nach Sprache und Stil richtet sich Ulrich nach der klassischen mhd. Dichtung, in allererster Linie nach Wolfram von Eschenbach. Inhaltlich folgt er wie Rudolf nur lat. Quellen, jedoch vornehmlich Walter von Châtillon (von der heute seltsamerweise keine Hs. mehr in Böhmen zu liegen scheint), daneben der ‚Historia de preliis‘, Fassung J2, die ihm die spektakulären Informationen von Alexanders Zeugung (Buch I, Teil 1) und den Wundern der Welt in Indien und anderswo (Buch X) liefert. Er wollte gewiß auf besondere stoffliche Reize nicht verzichten und strebte zudem Vollständigkeit aller Taten Alexanders an. Vielleicht stand Ulrich aber auch der Schluß der ‚Alexandreis‘ am Ende seiner Arbeit nicht mehr zur Verfügung. Sie könnte eventuell eine Leihgabe gewesen sein. Die Ausdrucksweise gegen Ende des Werkes ist allerdings kryptisch. Der Erzbischof von Salzburg, Friedrich II. von Walchen, schreip mir dise rede her, sagt Ulrich (UA 27614), und habe ihm, obwohl mit ihm persönlich gar nicht bekannt,

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damit die Anregung zum Werk gegeben. Er habe zwei – namentlich genannte – Ritter nach Prag geschickt und ihn durch sie eingeladen, an den erzbischöflichen Hof zu kommen, er selbst, Ulrich, habe allerdings sein Geburtsland und König Wenzel nicht verlassen wollen. Das hat man in der Forschung als Aushändigung der lat. Handschrift der WA durch die zwei Ritter verstanden (Toischer 1881, S. 404; Behr 1989, S. 149; zweifelnd Finckh 2000, S. 368). Sollte dies zutreffen, so hätte hier der lat. Text nicht aus der Schule den Weg an den Hof gefunden. Aber als Schultext, als auctor gilt die WA auch bei Ulrich (UA 26666f.: als uns giht / Galthêrus in dem auctor), der ihn auch in einer für den Schulgebrauch glossierten Handschrift benützte (Toischer 1881, S. 342–347; Paul 1914, S. 70–94). Er nennt seinen Gewährsmann im übrigen mehrfach beim Namen (UA 155, 5880, 6290, 24979, 26605, 26667), ohne sonst noch viel von ihm zu verraten. Walter habe angeblich ein teil alder geschihte in einer griechischen Chronik gefunden und ins Lateinische übertragen (UA 155–158). Diese Behauptung könnte dazu dienen, „die Authentizität und damit die Glaubwürdigkeit der Quelle zu erhöhen“ (Medert 1989, S. 10). Mehr erfahren wir nicht. Die höfisch-mittelalterliche Dimension des Werkes Vergleicht man die Lehre des Aristoteles bei Rudolf und Ulrich (UA 1393–1632), so merkt man, daß dieser die ältere Bearbeitung offensichtlich nicht kannte, aber tendenziell ähnlich vorging. Höfisierung und Idealisierung nehmen sogar weiter zu. Ulrich will Alexander insgesamt zum perfekten Muster eines Herrschers machen. Hatte Walter den Welteroberer nicht von allem Makel reingewaschen, weil ein solcher seine heilsgeschichtliche Bestimmung nicht tangierte, und hatte Rudolf jeden solchen Makel einfach verschwiegen, geht Ulrich diesen Weg nicht, sondern sucht alles oder doch das meiste durch äußere oder innere Umstände ‚menschlich‘ zu entschuldigen. Am wenigsten gelingt dies wiederum bei Alexanders Hybris. Im Prinzip aber handelt Alexander machtbewußt, würdevoll, tapfer, strategisch klug, mit der jeweils angemessenen Härte oder Milde, freigebig, Treue übend und belohnend. Dabei hält er sich an die Normen des mittelalterlichen Lehnsrechts, die Walter nur angedeutet hatte. Nur zu Anfang verweigert er ohne Rechtsgrund die Vasallentreue gegenüber dem Perserkönig, der sich aber durch seinen Hochmut selbst diskreditiert. Vor seinem Tod macht Darius Alexander schließlich zu seinem rechtmäßigen Nachfolger, wodurch der letzte Zweifel an der Legitimität aus dem Weg geschafft ist. Alexander stellt die Reichsordnung wieder her, be-

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ruft einen ordentlichen Hoftag ein, vergibt Lehen und macht Knappen zu Rittern. Dem würde die Beendigung dieser Herrschaft am besten entsprechen, wenn sie tatsächlich „einzig und allein als Verbrechen“, angezettelt vom Teufel und ausgeführt von einem verräterischen Vasallen, gestaltet wäre (so Behr 1989, S. 160). Aber so einfach ist es nicht, wie Behr selbst andeutet, der mit Verlust oder Mißverständnis der Quelle rechnet (ebd., S. 148). Ulrich erzählt vieles in mehrfachen Ansätzen und Variationen. Alexanders Streben über den bekannten Erdkreis hinaus zu den Antipoden und bis zum Paradies (UA 20829–43) wird an weit späterer Stelle (UA 24833–39) ergänzt durch die Frage, warum sich ihm die Unterwelt noch nicht unterworfen habe. Man unterrichtet ihn, dort herrsche Leviathan; seine Pförtner seien diverse Laster (nach WA X,31–59), was ihn aber von seinen Eroberungsplänen nicht abbringt. Der Teufel bekommt Angst, bittet sogar Gott selbst (!), ihn abzuwehren, sonst werde er auch ins Paradies eindringen. Er hält Alexander wie bei Walter für den verheißenen Messias, der die Hölle besiegen werde, und wendet sich dann von sich aus in Umkehrung der Quelle an Natura, welche, nun wiederum dieser Quelle gemäß, verspricht, sein Leben zu beenden: ‚sît daz er wider mîn gebot / lebt, so lebt er wider got. / sît er mir bricht die mâze, / bevinden ich iuch daz lâze, / daz ich sîn leben ende / und schiere sîn hôchvart wende‘ (UA 24999–25004). Und der Erzähler bestätigt Alexanders maßlose Überhebung gleich selbst auch noch und fleht Gott an, ihn selbst und sein Publikum vor solcher Sünde zu bewahren. Die aus jener halb legendenhaften, halb allegorischen Szene folgende Vergiftung des Helden deutet er aber vorerst nur an und verschiebt sie um ca. 1500 Verse. Das wirkt alles recht inkonsequent, aber auch nicht mehr als vieles andere in dem Werk. Die anachronistische Einbettung der antiken Welt in eine höfisch-ritterliche Gegenwart war in den früheren afrz. und mhd. Antikenromanen des 12. Jh. eher eine naive Behauptung ungebrochener kultureller Identität gewesen. Jetzt am Ende des 13. Jh. mußte dergleichen schon problematisch erscheinen, insbesondere wenn man sich wie Ulrich auf eine Quelle bezog, die jene Naivität nicht besaß, und zudem noch aus den lat. Glossen zusätzliche historische und mythographische Informationen wie die über die Ödipussage bezog und auf Deutsch ausbreitete. Das hindert Ulrich aber nicht im geringsten, das Milieu des erzählten Geschehens ziemlich rücksichtslos à jour zu bringen. Beim Lehenswesen mochte er vielleicht die historische Differenz nicht recht bemerkt haben. Aber er gestaltet die gelegentlichen ritterlichen Lanzenzweikämpfe aus der WA zum Prinzip der Kriegsführung im ‚Alexander‘ aus, inszeniert Rituale ritterlichen Lebens-

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stils unter Beteiligung der Edeldamen, entfaltet höfischen Glanz und höfisches Zeremoniell zu voller Leuchtkraft (Ehlert 1989, S. 187–190, u.a.), am breitesten beim Einzug in Babylon. Da fällt eine einsame unantike viella unter lauter antiken Instrumenten (WA V,484f.: cythara, cimbala, sistrum, tympanum, psalterium) gar nicht mehr auf, denn hier gesellen sich außer fidelen auch rotten und tambûren dazu (UA 16639–66). Und zum Heer Alexanders gehören nicht nur aus den lat. Quellen bekannte griechische ‚Ritter‘, sondern auch Joran von Provenz, Gwigrimanz von Britani, der Anglois Hubert, die Franzoise Lois und Galoes und der Aliman Florian (UA 4725–70 u. ö.) als geste, „Fremde“, fahrende Ritter, die eine gesamteuropäische Perspektive beschwören. Ulrich wichtigste höfisierende Neuerung ist die Minnethematik. Wiederum muß sich hier der Titelheld als idealer Fürst und Ritter zuerst beweisen, daz im wæren werde wîp / liep alsô sîn selbes lîp (UA 14591f.: „daß ihm edle Frauen lieb wie sein eigenes Leben seien“). Seine legitime Verbindung mit Roxa (= Roxana) wird zur Minneehe stilisiert. Daneben gibt es aber noch außereheliche Minnebeziehungen. „Moral stellt, anders als bei Rudolf, kein Problem dar“ (Lienert 2001, S. 61), was sich um 1280 keineswegs von selbst versteht, aber offenbar unabdingbar zur höfischen Perfektion gehört: er wolt Candacis ritter sîn. / durch ir liebe gegen allen frouwen / moht man in in wirde schouwen (UA 14544–46: „Er wollte Candacis’ Ritter sein. Durch ihre Liebe konnte man erkennen, in welchem Ansehen er bei allen Damen stand“). In keinem Punkt widerspricht Ulrich seiner Quelle so prononciert wie in diesem. Die böhmisch-deutsche Dimension des Werkes Ulrich verfolgt mit seinem ‚Alexander‘ ohne Zweifel auch ein politisches Ziel. Der Böhmenkönig ist nicht nur Widmungsträger, sondern auch Spiegelbild des großen Eroberers, wie explizite Vergleiche und implizite Überblendungen zeigen. Alexander ist hier mit dem Löwenwappen und Reitersiegel des Böhmenkönigs ausgestattet (Toischer 1881; Behr 1989). Nicht ganz so sicher ist es, ob eine veritable Propaganda für den königlichen Machtanspruch vorliegt, wie Behr meint (zweifelnd Finckh 2000, S. 375), und welcher König, Otakar oder Wenzel, jeweils gemeint ist. Vieles weist auf den zumindest anfänglich militärisch und politisch sehr erfolgreichen Otakar, den zudem schon der Spruchdichter Sigeher ausdrücklich mit Alexander identifiziert hatte (Behr 1989, S. 87f.). Allerdings mußte Ulrich nach Otakars tödlicher Niederlage irgendwie die Übertragbarkeit auf sei-

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nen Sohn und Nachfolger offenhalten. Das könnte für das Verschweigen des Herrschernamens im Vergleich UA 14691–720 verantwortlich sein. Dieser Vergleich sagt auch eine Menge über das Verhältnis zu Walters Epos aus. Daraus wird zuerst die Überbietung der römischen Triumphe Octavians und Caesars durch Alexanders Empfang in Babylon übernommen. Walter hatte hier die negative Wertung Caesars aus seiner Quelle, Lucans ‚Bellum civile‘, übertüncht. Ulrich schwärzt Caesars Gegner dagegen gemäß mittelalterlichem Usus kräftig ein, was aber für den weiteren Zusammenhang bedeutungslos bleibt. Jede Bezugnahme auf Lucan fehlt. Statt dessen folgt die Frage, wo man noch so einen Fürsten finden könnte, der in so jungen Jahren solche Siege erfechten könnte. Der Erzähler nennt dann einen solchen, einen namenlosen süezen reinen (UA 14696), und preist seine wirdikeit, tugende und manheit – er Alexander, wâ er noch streit, / er Salomôn an wirdekeit, / an wîsheit, an reinem gemüete (UA 14711–13). Das markiert (nach Finckh 2000, S. 377) eine Einschränkung der Identifikation des Idealherrschers mit Alexander, dem die Weisheit Salomons eben ermangelt habe. Hierin geht der deutsche Bearbeiter wohl mit seiner lat. Vorlage konform. Und es folgt in WA ja auch noch Walters Hoffnung auf einen neuen, französischen Alexander, der die Muslime besiegen wird. Der Vergleich mit der Gegenwart war also vorbereitet. Den Franzosen konnte Ulrich freilich kaum gebrauchen. Aber den Kreuzzug? Er war noch immer aktuell, sogar nun durch einen neuen Schauplatz erweitert, den Kampf gegen die heidnischen Preußen, an dem Otakar schon einmal (1254/55) teilgenommen hatte und der fortgesetzt werden sollte. Auch mit Blick auf den gesamten UA hätte das Thema nicht ganz ferne gelegen. Behr entdeckt im Kampf der Griechen mit den Persern sogar „das Erzählschema […] der Kreuzzugsdichtung, doch es greift nur schlecht, weil sich zwar die Perser, nicht aber die Kontrahenten nach diesem Muster stilisieren lassen“ (Behr 1989, S. 162). Die Perser werden im wesentlichen wie die polytheistischen heiden im ‚Willehalm‘ und anderen klassischen Epen gezeichnet. Ja, sie heißen dementsprechend sogar Sarrazin (UA 5873 u. ö.), während den Europäern nicht nur dieses, sondern auch jenes Appellativ vorenthalten wird – abgesehen von einer Stelle, soweit ich sehe: Da treffen zwei Kundschafter, ein griechischer und ein persischer, aufeinander (nur angedeutet WA IV,275–281). Der Erzähler fragt: Wie sol ich den heiden / und den heiden gescheiden? (UA 11881f.). Diese Zurückhaltung paßt natürlich nicht zur polytheistischen Szenerie, die von Anfang an auch für das antike Griechenland aufgebaut wird. Alexander und sein Gefolge opfern auch den Göttern und beten zu ihnen, insbesondere zu Ammon/Jupiter, der dem König auch im Traum, also sogar helfend erscheint (UA 22996). Ulrich versucht gar nicht,

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im Sinne der gelehrten interpretatio christiana Ordnung in dieses Weltbild hineinzubringen. Behr (1989, S. 161) sieht das durchaus, meint aber: Die „Inkonzinnität geht indes nie soweit, daß die Glaubwürdigkeit der Erzählung auf dem Spiel steht“. Ob das damalige Hofpublikum die Sache so gesehen hat, scheint ungewiß. Doch wie hat dieses denn überhaupt ausgesehen? Als sicher kann man annehmen, daß am Königshof „ein tschechisch sprechendes Milieu die Dichtung in deutscher Sprache […] gefördert hat“ (Bok 1990, S. 294). Doch zum einen ist dies an einem Text wie der UA selbst nicht ablesbar (Stock 2000, S. 447), zum andern war dieser Anschluß des Landes an eine offenbar als überlegen anerkannte höfische Kultur damals alles andere als politisch unumstritten. Bekanntestes und aussagekräftigstes Zeugnis dafür ist die tschechische Dalimilchronik aus dem frühen 14. Jh., die diese deutsche Überfremdung, darunter das modische westliche Turnierwesen, offen bekämpft und die Verdrängung der alten, guten, autochthonen slavischen Sitten beklagt (Finckh 2000, S. 362f.). Zwar artikuliert sich diese Opposition primär von den Burgen des tschechischen Landadels aus, doch war dieser natürlich auch am Königshof präsent und sorgte hier für politische Spannung. Aber eine solche ging nicht allein vom Unterschied der Sprachen, sondern aller sozialen Gruppen (Landesherr und Landherren, Hof, Stadt und Land etc.) aus. Otakars Förderung des Deutschtums ist mit der Förderung der Städte und des Handels unmittelbar verbunden gewesen. Wenn von diesen politischen, rechtlichen und ökonomischen Vorgängen auch im UA deutliche Spuren erkennbar sind (Finckh 2000, S. 385–395), so mag dies zur königlichen Propaganda gepaßt haben. Aber Ulrich erhebt zuerst einmal einen innerliterarischen Anspruch. Er will perfekte höfische Epik in der Nachfolge der mhd. Klassiker bieten, sozusagen als zweiter Wolfram von Eschenbach. Ulrichs ‚Alexander‘ ist „der höfischste, romanhafteste“ des deutschen Mittelalters. Es geht hier aber „nicht mehr um höfische Lebensformen als Identifikationsangebote für eine sich ihrer selbst vergewissernde adlige Rezipientenschicht, sondern auf einer Metaebene um Repräsentation in und mit Literatur“ (Lienert 2001, S. 62). Die klassische deutsche Literatur hat im späten 13. Jh. für Böhmen dieselbe Vorbildfunktion bekommen wie die frz. Literatur für Deutschland im 12. Jh. Die aus dem Französischen übernommenen Elemente werden hier inzwischen als integrale Bestandteile empfunden. Ulrich wollte sie bei der Rezeption keineswegs aussondern oder markieren. Aber die WA war gar nicht deutsch und auch nicht höfisch. Der Eindruck, im UA geradezu eine enzyklopädische Summe des Alexanderstoffes vor sich zu haben (Stock 2000, S. 448), entsteht eben durch die Kreuzung und

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Verbindung der diversen sozialen und sprachlichen Bildungswelten, denen die literarischen Hauptmuster zugehören. Maß Ulrich der französischen Herkunft der WA überhaupt irgendeine Bedeutung zu? Wenn er (UA 14435–37) zum Vergleich wie Walter die Entfernung von St. Denis bis zur Seine heranzieht, so hat er schwerlich auf die Vertrautheit des böhmischen Hofes mit dieser geographischen Situation gerechnet – er setzt auch zur Erklärung noch ze Paris hinzu –, sondern er hält sich nur sklavisch an die Vorlage. Auch den Vergleich mit dem Grafen Burkhard übernimmt er ja getreulich. Den furor Teutonicus tilgt er allerdings und wundert sich nicht wie der Franzose über Frankreichs Unterwerfung (UA 26612). Gar kein Gespür kann er für Walters Anleihen bei der frz. Chanson de geste gehabt haben. Vielleicht käme man einer Antwort näher, wenn man die tschechische ‚Alexandreida‘ noch zum Vergleich heranzöge. Aber sehr wahrscheinlich ist das nicht, weil der Text (zur ersten Orientierung vgl. Schamschula 1990, S. 76–80) zwar als Hauptquelle auch Walters ‚Alexandreis‘ benützt, sich aber viel stärker von der Vorlage entfernt hat. Ob der tschechische Anonymus Ulrichs Werk kannte, ist nicht ganz sicher. Er paßt die historische Erzählung jedenfalls auf ebenso originelle wie naive Weise dem Weltbild seines tschechischen landadeligen Publikums an. Die antiken Elemente werden stark zurückgedrängt oder, wie die mythologischen, ganz ausgemerzt. Unter Alexanders Gefolge mischen sich tschechische Männer mit Namen Radvan, Mladota etc. Der König selbst wird zum christlichen Herrscher stilisiert. Er soll stark und mächtig sein, aber im Einklang mit seinen hohen Vasallen stehen, die offenbar mit dem Autor der ‚Alexandreida‘ und dem der Dalimilchronik die Abneigung gegen die deutsche Überfremdung teilen. Von den ursprünglich etwa 9000 Versen, unregelmäßigen gereimten Achtsilbern, hat sich etwa die Hälfte in neun Fragmenten erhalten. Aber auch sie genügen, um die hohe Wertschätzung des Werks sowohl beim mittelalterlichen Publikum wie in der Forschung zu rechtfertigen. Wenn somit Walter „Alexanders Zug von Reims aus gesehen“ (Glock 2000, S. 286) haben mag, so muß es offenbleiben, ob in der böhmischdeutschen Adaptation dieser französische Blickwinkel noch irgendwelche erkennbare Spuren hinterlassen hat. [Manuskriptabschluß (Teil A, Kap. 2.4–2.6): Juni 2011]

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Die lateinischen Quellen

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3 Aeneasromane von Joachim Hamm und Marie-Sophie Masse 3.1 Die lateinischen Quellen – 3.2 Der afrz. ‚Roman d’Enéas‘ – 3.3 Der mhd. ‚Eneasroman‘ – 3.4 Gliederung des ‚Eneasroman‘ im Vergleich mit dem ‚Roman d’Enéas‘ – 3.5 Das ‚neu und anders Erzählen‘ im ‚Eneasroman‘ – 3.6 Ausblick

3.1 Die lateinischen Quellen (von Joachim Hamm) Der ‚Eneasroman‘ (ER) Heinrichs von Veldeke, mit dem die Geschichte des höfischen Romans in deutscher Sprache recht eigentlich beginnt, ist eine Dichtung auf dritter Stufe: Es handelt sich um eine Bearbeitung des anonymen afrz. ‚Roman d’Enéas‘ (RdE), der seinerseits auf das lat. Epos ‚Aeneis‘ (Aen.) des Publius Vergilius Maro (70–19 v. Chr.) zurückgeht. Vergil besingt in den 12 Büchern seiner Aen. das Geschick des trojanischen Helden Aeneas, der auf Befehl der Götter aus seiner brennenden Heimatstadt flieht, nach jahrelangen Irrfahrten in Italien landet, hier in einem blutigen Krieg die Landesherrschaft erringt und so das Fundament für die künftige Herrschaft Roms legt. Die Aen., die schon in augusteischer Zeit als das römische Nationalepos gerühmt wurde (Suerbaum 1999; Holzberg 2006), ist in über 200 katalogisierten Hss. überliefert. Bereits im 1. Jh. fand sie Eingang in den schulischen Lektürekanon, wurde seit der Spätantike in Kommentaren erläutert und galt bis in die Renaissance als Ideal epischer Erzählkunst (Comparetti 1872/1997; Munk Olsen 1982; Courcelle 1984). Auch im 12. und 13. Jh. ist angesichts der breiten Überlieferung und der kontinuierlichen Präsenz im Schulkanon (Baswell 1995) davon auszugehen, daß die Aen. jedem litteratus zumindest in Grundzügen vertraut war – und damit auch jenen volkssprachigen Romandichtern, die eine klerikale Ausbildung erfahren hatten. Inwieweit man hierbei auch mit Kenntnissen der gelehrten Aen.-Exegese zu rechnen hat, ist in der Forschung umstritten, da lediglich der Aen.-Kommentar des Servius (um 400) breit überlie-

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Aeneasromane

fert ist. Gut möglich, daß dem Verfasser des RdE, der punktuell auf die Aen.-Exegese zurückgreift, eine jener Schulhandschriften der Aen. vorlag, die mit rhetorischen, mythographischen und allegorischen Glossen ausgestattet waren (Cormier 1990; Henkel 1995; Baswell 1995). Vor und neben der Aen. hatten sich in der Antike weitere Traditionen der Aeneassage ausgebildet, die sich teils mit Vergils Gestaltung vermengten, teils unabhängig von ihr ins Mittelalter getragen wurden (Ebenbauer 1984; Fromm 1992a). Die (spät-)antiken Berichte über den ‚historischen‘ Aeneas und die ‚historische‘ Dido (Binder 1997; Hillen 2003) haben auf die volkssprachige Geschichtsdichtung (u.a. ‚Annolied‘, ‚Kaiserchronik‘, ‚Sächsische Weltchronik‘) gewirkt, weisen zu den Aeneasromanen jedoch nur vereinzelte Parallelen auf, die nicht auf eine direkte Abhängigkeit schließen lassen. Auch die spätantike Trojaüberlieferung (‚Ilias Latina‘, Dares und Dictys), deren Bild von Aeneas als Verräter Trojas (Fromm 1992b) in den Trojadichtungen des Mittelalters fortlebte, hat auf die Aeneasromane allenfalls punktuell eingewirkt. Als Nebenquellen der Aeneasromane kommen weitere Aeneasdichtungen der Antike und des Mittelalters in Betracht (Fromm 1992a). Vor allem Ovids Einfluß wurde diskutiert (Faral 1913; Kistler 1993; Baswell 1995). Während die Kurz-Aen. in den ‚Metamorphosen‘ (XIII,623–XIV,608) keine eindeutigen Parallelen aufweist, gilt der direkte Einfluß des siebten Heroidenbriefs (‚Dido an Aeneas‘) als gesichert. Es ist jedoch auch mit einem indirekten Ovideinfluß zu rechnen, der über an Ovid geschulte Werke wie die spätantike ‚Epistula Didonis‘ vermittelt wurde. Weitere lateinische Aeneasberichte und -dichtungen des Mittelalters bezeugen punktuelle stoffgeschichtliche Parallelen zu den Aeneasromanen und gemeinsame Usancen des Erzählens (Fromm 1992a; Hamm 2007). Historiographischen Konventionen folgen etwa das ‚Compendium historiae Troianae-Romanae‘, eine Prosafassung des Aeneasstoffes aus dem 13. Jh. (Ausg. Simonsfeld), das wohl im schulischen Umfeld entstandene ‚Excidium Troie‘, dessen zweiter Teil die Aen. prosifiziert (4./6. Jh.; Ausgg. Atwood u. Bate), sowie das Kleinepos ‚Ylias‘ des Simon de Aurea Capra, das in Abgrenzung von Vergil dem stilistischen Primat der Kürze folgt (1150/1160; Ausg. Boutemy u. Parrot). Einen Vergleich mit den Romanen ermöglichen überdies die ‚Carmina Burana‘, die den Troja- und Eneasstoff thematisieren (CB 98–102). Vor dem Horizont dieses zeitgenössischen Erzählens von Eneas läßt sich die Adaptation der Aeneasromane erhellen (s. Kap. 3.5).

Der altfranzösische ‚Roman d’Enéas‘

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3.2 Der altfranzösische ‚Roman d’Enéas‘ (von Marie-Sophie Masse) Entstehung – Überlieferung – Editionen im Kontext der komparatistischen Arbeit

Entstehung Die afrz. Quelle des mhd. ER, der RdE, enthält keine Hinweise auf die Umstände seiner Entstehung. Es wird angenommen, daß der in anglonormannischer Sprache verfaßte Text am Hof Heinrichs II. Plantagenet und Eleonores von Aquitanien entstand (so zuerst Jean-Jacques Salverda de Grave [1925/29, Bd. I, S. XX]). Die thematische und stilistische Verwandtschaft des RdE mit dem ‚Roman de Thèbes‘ (f Einleitung, Teil A, Kap. 1) und dem ‚Roman de Troie‘ (f Trojaromane, Teil A, Kap. 4.1) legt eine Entstehung in demselben kulturellen Milieu nahe. Die Zugehörigkeit des RdE zu der Trias der Antikenromane bedingt zudem seine Datierung. Da in der Forschung mit wenigen Ausnahmen eine Entstehungszeit der drei Texte zwischen 1150 und 1170 und eine Reihenfolge ‚Thèbes‘ – ‚Enéas‘ – ‚Troie‘ vermutet werden, datiert man den RdE um 1160 (Mora-Lebrun 2008). Überlieferung Der afrz. RdE ist in 9 Hss. überliefert, welche von Jean-Jacques Salverda de Grave (1891 u. 1925/1929; vgl. Cormier 1974; Mora-Lebrun 2008) in drei Familien eingeteilt wurden. Die erste Familie umfaßt die Hss. A (Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. XLI, cod. 44; Ende 12. Jh. oder Anfang 13. Jh.) und B (London, British Library, Add. 14100, 14. Jh.), die eng verwandte Texte überliefern und zu denen sekundär die Hs. C (London, British Library, Add. 34114 ex-Spalding, Ende 14. Jh. oder Anfang 15. Jh.) mit ihrem hybriden Text tritt. Die zweite Familie läßt sich in zwei Gruppen gliedern: einerseits die Hss. H (Montpellier, Bibliothèque de l’Ecole de Médecine, n°251, 2. Hälfte 13. Jh.) und I (B.N. ms. fr. 784, 3. Drittel 13. Jh. [‚Roman de Thèbes‘] und Ende 14. Jh. oder Anfang 15. Jh. [‚Roman d’Enéas‘]), andererseits die Hss. F (B.N. ms. fr. 1416, 2. H. 13. Jh.) und E (B.N. fr. 12603, 14. Jh), denen weiterhin die Hs. G (B.N. ms. fr. 1450, 2. Viertel 13. Jh.) nahe steht. Schließlich bleibt die Hs. D (B.N. ms. fr. 60, 1. Hälfte 14. Jh.) in diesem Schema isoliert, auch wenn sie in manchen Punkten mit den Hss. EFG verwandt ist.

Die Überlieferung scheint verschiedene Rezeptionsformen des afrz. Textes widerzuspiegeln. In der Hs. A, dem ältesten Textzeugnis, und in der mit ihr eng verbundenen Hs. B ist der RdE einzeln überliefert. Dies könnte

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eine erste Rezeptionsstufe bezeugen, welche die Liebesthematik und somit eine auffällige Neuerung des afrz. Textes im Vergleich zu seiner lat. Quelle hervorhebt (Mora-Lebrun 2008). Von einem historischen Interesse für den antiken Stoff zeugt die gemeinsame Überlieferung mit dem ‚Roman de Thèbes‘ in den Hss. I und C. Letztere überliefert drei weitere Texte, unter anderem eine anonyme Chanson de geste zum ersten Kreuzzug, welche den zwei Antikenromanen vorangeht. Eine solche Zusammenstellung dürfte einer doppelten Logik entsprechen: einerseits einem historisch-politischen Interesse für die Thematik der Stadteroberung, andererseits einem poetischen Interesse für die Adaptation lat. Texte in romanischer Sprache, denn die mitüberlieferte Chanson de geste beruht zum großen Teil auf der ‚Historia Hierosolymitana‘ Baudris von Bourgueil (Mora-Lebrun 2008). Schließlich zeigen fünf handschriftliche Zeugnisse eine Tendenz zur Zyklusbildung. Erstens enthält die Hs. D – als einzige – die Trias der Antikenromane, und zwar in der Reihenfolge ‚Thèbes‘ – ‚Troie‘ – ‚Enéas‘, die der geschichtlichen Chronologie entspricht. In dieser prächtigen Hs., die unter den vier illuminierten Hss. des RdE die am reichsten illustrierte ist, wird die innere thematische Kohärenz durch die Rubriken und Miniaturen unterstrichen (Harf-Lancner 1992). Zweitens wird der RdE in drei weiteren Hss. mit dem volkssprachigen Artusroman des 12. Jh. in Verbindung gebracht. Die Hss. E und F schließen ihm den ‚Roman de Brut‘ an, und in der Hs. H, deren verlorengegangener Anfang vielleicht auch den ‚Roman de Thèbes‘ enthielt, wird er zwischen den ‚Roman de Troie‘ und Waces Roman gestellt. Mit letzterem Text, welcher mit einer Zusammenfassung der Eneashandlung und einer Aufzählung seiner Nachfolger beginnt, wird eine historische Kontinuität und somit eine enge Verbindung zwischen der Antike und Britanniens Vergangenheit hergestellt. Eine solche Logik ist schließlich in der Hs. G spürbar, die als ersten den ‚Roman de Troie‘, anschließend den RdE, dann die mitten in den ‚Roman de Brut‘ eingebetteten fünf Romane Chrétiens de Troyes zusammen mit der ersten ‚Perceval‘-Fortsetzung überliefert (Mora-Lebrun 2008). Editionen im Kontext der komparatistischen Arbeit Zwei Hss. des RdE haben die Aufmerksamkeit der Herausgeber auf sich gelenkt. Die älteste unter ihnen, die Hs. A, wurde von Jean-Jacques Salverda de Grave als Leithandschrift seiner zwei Editionen verwendet. Der Edition von 1891 liegt der Versuch zugrunde, den Originaltext zu rekonstruieren, womit sie auf einem nach den Erkenntnissen der neueren Philo-

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logie fragwürdigen Editionsprinzip beruht. Dennoch bleibt sie für die komparatistische Arbeit von Wert, und zwar wegen des Variantenverzeichnisses, welches in der zweiten Edition in reduzierter Form erscheint. Die Edition von 1925/1929 ist als eine getreuere Wiedergabe der Leithandschrift konzipiert. Aimé Petit seinerseits edierte im Jahre 1997 die spätere Hs. D, die eine eigenständige Version des Textes vertritt. Sie kennzeichnet sich einerseits durch eine größere Nähe zu Vergils Aen., andererseits durch eine Tendenz zur ästhetisch-höfisierenden Bearbeitung. Gegen die weit verbreitete Ansicht, die Hs. A stehe der originalen Textgestaltung am nächsten, behauptet Cola Minis (1959), die Hs. D vertrete eine „ursprünglichere“ Fassung als das älteste Zeugnis. Minis verficht die These, de Graves erste Edition sei der jüngeren vorzuziehen, und benutzt den ER als Hilfsmittel zur Wiederherstellung eines vermutlichen Originals des afrz. Textes. Er kommt zu dem Ergebnis, daß in den ersten 5000 Versen die Hs. D, im Weiteren die zweite Handschriftenfamilie und insbesondere die Hs. G dem mhd. Text am nächsten stehe. Seine Argumentation aber beruht auf problematischen methodologischen und interpretatorischen Ansätzen. Man bedenke z.B., daß eine Übereinstimmung zwischen dem ER und einer Hs. der afrz. Quelle nicht bedeutet, daß letztere „ursprünglicher“ ist und der Originalfassung zugeschrieben werden kann (De Smet 1961/62). Michel Huby (1968), der in seiner Habilitationsschrift in anderer Perspektive den ER im Überlieferungszusammenhang seiner afrz. Quelle untersucht, nimmt Minis’ Hypothese wieder auf und kommt zu dem Schluß, die Vorlage des mhd. Textes stehe der Hs. G am nächsten, während er eine Verwandtschaft mit den Hss. A und B ablehnt. Allerdings stützt er sich nicht auf die Hss. des afrz. Textes selbst, sondern auf de Graves erste Edition, so daß die Ergebnisse seiner Beweisführung nicht als gesichert gelten können.

Die Frage, welche Editionen dem Textvergleich zugrunde liegen sollen, läßt sich insofern nicht zufriedenstellend beantworten. Im folgenden wird die älteste Hs. bzw. de Graves zweite Edition zitiert. Größere Abweichungen zwischen dem afrz. und dem mhd. Roman werden zusätzlich an der Hs. D bzw. an Petits Edition überprüft.

3.3 Der mittelhochdeutsche ‚Eneasroman‘ (von Marie-Sophie Masse) Zur Werkgenese – Das ‚Veldeke-Problem‘ – Überlieferung – Editionen

Zur Werkgenese Ein in allen vollständigen Hss. mit Ausnahme der Heidelberger Hs. h überlieferter Epilog des mhd. ER liefert Indizien über Dichter, Gönner

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und Entstehungsumstände des Werkes. Zunächst wird daz buoch bzw. dessen Übertragung ins Deutsche einem maister namens uon Ueldiche Heinreich (ER, V. 13433) zugeschrieben: Unter diesem Namen sind uns neben dem ER eine Verslegende über den heiligen Bischof Servatius sowie ein Korpus von Minneliedern und liedhaften Einzelstrophen erhalten. Anschließend berichtet der Epilog von einer bewegten Entstehungsgeschichte. Als Heinrich seinen Text zum größten Teil verfaßt hatte, nämlich bis zu der Stelle, an der Eneas Lavinias Brief liest (also um den V. 10933), lieh er daz buchelin der Gräfin von Kleve aus, und: do sei der lantgraue nam, / da wart daz buoch ze Chleue uerstolen / einer frawen, der es waz beuolen; / dez wart div grauinne gram / dem grauen Heinrich, der es nam / vnd er es dannen sande / ze Durigen zuo seinem lande (ER 13454–13460). Das Buch blieb dann Heinrich von Veldeke neun Jahre lang unzugänglich, bis er nach Thüringen ging und von phalzgrauen Herman von der niwen burch bi der Vnstruot mit der Vollendung des Werkes beauftragt wurde. In der Forschung identifiziert man den Gönner der zweiten Entstehungsphase mit Hermann von Thüringen, Pfalzgraf von Sachsen (1182–1190), dem zukünftigen Landgrafen Hermann I. (1190–1217), einem der bedeutendsten Mäzene der Zeit, der u.a. Herbort von Fritzlar mit der Verfassung des ‚Liet von Troye‘ (f Trojaromane, Teil A, Kap. 4.2) beauftragte. Im übrigen wirft der Epilog eine Reihe ungelöster Fragen auf – unabhängig von der ebenfalls umstrittenen Frage, ob er von Veldeke selbst oder, was wahrscheinlicher ist, von einem späteren, mit der Werkgenese vertrauten Bearbeiter verfaßt wurde. Eine dieser Fragen ist die Datierung der dargestellten Ereignisse und somit der Entstehung des ER. Als Eckpunkt fungiert die im Epilog erwähnte Hochzeit der Gräfin, die gewöhnlich als Margarete von Kleve identifiziert wird (dagegen Weicker 2001), mit Ludwig III. von Thüringen, dem ältesten Bruder Hermanns und damals regierenden Landgrafen (1172–1190). Dabei wurde das Ereignis lange Zeit auf das Jahr 1174 datiert, obwohl dieses Datum nicht als gesichert gelten kann: Das Ereignis ist eher nach diesem Zeitpunkt, um 1175, anzusetzen, wobei auch eine Datierung auf 1172 nicht auszuschließen ist (Bastert 1994). Somit dürfte der größte Teil des Romans ab 1170 und vor 1175 entstanden sein. Für die Vollendung des Torsos am Thüringer Hof kommt dementsprechend eine Zeitspanne von 1181 bis 1190 – bevor der als Pfalzgraf bezeichnete Hermann zum Landgrafen wurde – in Frage. Darüber hinaus liefert die Erwähnung des Mainzer Hoffestes in der zweiten ‚Stauferpartie‘ (s.u.) einen weiteren Terminus post quem: Der in Thüringen verfaßte Teil des Romans entstand wahrscheinlich zwischen 1184 und 1190. Ob die im Epilog erwähnte Gräfin von Kleve die Gönne-

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rin der ersten Entstehungsphase war, bleibt ungewiß. Fest steht, daß zwischen der Entstehung des RdE und dem Beginn von Veldekes Bearbeitung höchstens fünfzehn Jahre liegen. Der kurze Abstand läßt auf ein lebhaftes Interesse der ursprünglichen Gönner, welche sie auch gewesen sein mögen, für den afrz. Roman schließen. Von einem großen Interesse für das dt. Buch, sei es als Text oder als Gegenstand, zeugt ebenfalls die im Epilog dargestellte Diebstahlepisode. Sie gibt Anlaß zu weiteren Unsicherheiten, angefangen mit der Frage nach der Identität des Manuskriptdiebes. In diesem Punkt ist die Überlieferung uneinheitlich. Einerseits nennen zwei Hss. lediglich einen Grafen Heinrich, der gewöhnlich mit Graf Heinrich Raspe III. (gest. 1180), einem Bruder Hermanns von Thüringen, identifiziert wird (zuletzt Hahn 2000). Drei weitere Hss. hingegen nennen ausdrücklich einen Grafen Heinrich von swartzburg, bei dem an Graf Heinrich I. von Schwarzburg (gest. 1184), einen Rivalen der Ludowinger, zu denken ist (Bastert 1994). Keine der beiden Hypothesen vermag indes die Motive des Diebes sowie die Art und Weise, wie er in den Besitz der Hs. kam, vollständig zu erhellen. Ungeklärt bleibt auch in jedem Fall, warum das gestohlene Buch neun Jahre lang verschollen blieb (eine Anspielung auf die Empfehlung des Horaz, ein fertiges Buch vor der Publikation neun Jahre zurückzuhalten, ist eher nicht zu vermuten, vgl. Horaz, ‚Ars poetica‘ 388ff.; Quintilian, ‚Institutio oratoria‘ I,1). Weniger umstritten ist der Gegenstand des Diebstahls: Die meisten Forscher sind sich darüber einig, daß Veldeke sein eigenes unfertiges Manuskript abhanden kam, während die von Theodor Frings und Gabriele Schieb vorgebrachte Hypothese, daz buchelin könnte die afrz. Vorlage bezeichnen, wenig Echo fand (Frings/Schieb 1949b). Offen bleibt allerdings, wie der Autor nach neun Jahren Unterbrechung sein Werk vollenden konnte: Hatte er seine afrz. Vorlage so lange aufbewahrt, konnte er sich auf sein Gedächtnis verlassen, oder wurde ihm von seinem neuen Gönner eine neue Vorlage beschafft (Bumke 1996)? Damit verbunden ist die Frage, ob der Adaptationsprozeß durch die Unterbrechung Änderungen erfuhr. Daß es so ist, wird durch ein Verspaar aus dem Epilog nahegelegt: da wart daz mære do gescriben / anders denne, ob es dem maister wer beliben (ER 13461f.). Aber welcher Art diese Änderungen waren, ob sie Inhalt oder Sprache betrafen, und inwieweit Veldeke darüber entscheiden konnte, bleibt strittig, zumal die Überlieferung an dieser Stelle ungewöhnlich starke Abweichungen aufweist. Schließlich wurde jüngst die Diebstahlgeschichte schlechthin in Frage gestellt und als literarische Fiktion gedeutet (Weicker 2001; vgl. Dimpel 2006). Sei sie real, erfunden, oder eine

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Mischung aus Historizität und Fiktionalität, so läßt sich die spektakuläre Diebstahlgeschichte als Inszenierung des Kunstwerks, seines Meisterdichters und seiner Gönner lesen (Schmitz 2007). Bei allen faktischen Unsicherheiten besitzen die im Epilog enthaltenen Angaben eine epideiktische Funktion, die die Wertschätzung profaner vulgärsprachlicher Literatur am Ende des 12. Jh. voraussetzt. Das ‚Veldeke-Problem‘ Zur historischen Person des Autors, welche übrigens durch kein außerliterarisches Zeugnis bestätigt wird, erfahren wir im Epilog des ER wenig. Der Beiname „von Veldeke“, der im Epilog des ‚Sente Servas‘ (V. 6176) ebenfalls erscheint, verweist auf eine Herkunft aus dem maasländischen Raum: Wahrscheinlich stammte Heinrich oder wenigstens sein Geschlecht aus einem Ort namens Veldeke in der Nähe von Hasselt, auf heute belgisch-limburgischem Boden. Er dürfte einem dort angesiedelten, im 13. Jh. bezeugten Ministerialengeschlecht angehört haben, das mit den Grafen von Loon (heute Looz bei Hasselt) durch Lehens- oder andere Abhängigskeitsverhältnisse verbunden war (Schieb 1965a). Die Verslegende ‚Sente Servas‘, die dem Patron des Domstifts zu Maastricht gewidmet ist, verfaßte Heinrich von Veldeke, nach Angaben des Epilogs, im Auftrag der Gräfin Agnes von Loon, die gewöhnlich als die Gattin Ludwigs I. von Loon (gest. 1171) identifiziert wird, und auf Betreiben des Maastrichter Küsters Hessel (Veldeke, ‚Sente Servas‘, V. 6181f. u. 6197–6199). Möglich wäre, daß Agnes von Loon ebenfalls die Gönnerin des ER in seiner ersten Entstehungsphase war, und daß Veldeke nach ihrem Tod (vor 1180) der Gräfin von Kleve sein Werk überließ, um sie als neue Gönnerin zu gewinnen (Weicker 2001). Festzuhalten bleibt, daß der größte Teil des ER aller Wahrscheinlichkeit nach im maasländisch-niederrheinischen Raum entstand, „den zur Zeit Veldekes eine allgemeine Faszination von französischer Epik kennzeichnet“ (Schmitz 2007, S. 26). Mit Veldekes Herkunft hängt die Frage zusammen, die als ‚Veldeke-Problem‘ bezeichnet wurde. Verknappt formuliert, lautet sie: Verfaßte der Autor seine Werke, und insbesondere den ER, in der maasländisch-westlimburgischen Sprache seiner Heimat oder in einer hochdt. Sprachform? Die Frage, die schon Jacob Grimm in seiner „Deutschen Grammatik“ aufwarf, gab Anlaß zu heftigen Debatten in der Forschung. Sie verführte auch dazu, in Verbindung mit einer anachronistischen Sehweise Veldeke einseitig für die niederländische oder für die dt. Literatur zu reklamieren. Daß sich die

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Frage ohnehin nicht als Alternative darstellt, zeigte insbesondere Thomas Klein (1985). Seine Untersuchung der Sprache bzw. der Reimtechnik des Autors führte zu dem Ergebnis, daß Veldeke sowohl das Maasländische als auch das Hochdeutsche bzw. das Mitteldeutsche in der Form einer überregionalen Literatursprache berücksichtigte: Er orientierte sich an der md., thüringisch-hessischen Literatursprache, und zwar zunächst, in der ersten Entstehungsphase des ER, an ihrer westlichen, der rheinfränkisch-hessischen Erscheinungsform, und dann, in der Schlußphase der Entstehung, an ihrer östlichen, der thüringischen Variante. Paradox ist, daß uns der Roman ausschließlich in hochdt. Gestalt überliefert ist. Überlieferung Die bisher bekannte Überlieferung des ER umfaßt 7 vollständige oder annähernd vollständige Hss. und 7 fragmentarische Hss. vom 12. bis ins 15. Jh. Es sind in chronologischer Reihenfolge (Datierung im folgenden nach dem Marburger Repertorium): die Hss. B (Berlin, mgf 282; ca. 1220–1230), M (München, cgm 57; 1. Viertel 14. Jh.), H (Heidelberg, cpg 368; 1333), E (Cologny-Genf, Bibliotheca Bodmeriana, Cod. Bodm. 83; 3. Drittel 14. Jh.), h (Heidelberg, cpg 403; 1419), w (Wien, cod. 2861; 1474) und G (Gotha, Forschungsbibliothek, Cod. chart. A 584; um 1470), sowie die Fragmente R (München, cgm 5249/19; um 1200), Wo (Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 404.9 [4] Novi; um 1200), Me (München, cgm 5199; Ende 1. Drittel 13. Jh.), Ham (Privatbesitz Schweiz, früher Privatbesitz Christopher de Hamel, London; 2. Viertel 13. Jh.), P (Krakau, Bibliotheka Jagiello´nska, Berol. mgq 1303 Nr. 3; nach 1250), Wa (Marburg/Lahn, Staatsarchiv, Bestand 147 [Waldeck, Nachlässe und Handschriften], Hr 1 Nr. 12; Anfang bzw. 1. Viertel 14. Jh. [seit 1975 verschollen]) und Gr (Berlin, Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz, Grimm-Nachlaß 132,14; Abschrift aus dem frühen 19 Jh. eines verschollenen Fragmentes, nach Klein [1988b] zwischen 1200 u. 1. Hälfte 14. Jh. datierbar). Dazu kommen die verlorenen Fragmente Oscar Schades Scha I und Scha II, die zu zwei weiteren Hss. gehörten und ins 13. Jh. datiert wurden, sowie die verlorene Hs. aus der Bibliothek der Grafen von Hoya Ho und die des Georg Fabricius Fa (Siglen von Schröter 2003). Die 7 vollständigen Hss. wurden von Otto Behaghel im Sinne klassischer Textkritik in zwei Überlieferungsgruppen eingeteilt: einerseits die Hss. BMw, die zusammen mit G auf die Vorstufe X zurückgehen, andererseits die Gruppe EH, die mit der Hs. h den Zweig Y bildet (so Behaghel [1882, S. XXXVI], mit Stemma). In sprachgeographischer Hinsicht verteilen sich die heute bekannten Zeugen auf den md. (H, E, G, Wa) und auf den obd. (B, M, h, w, R, Me, Ham, P) Raum, wobei in einigen obd. Hss. (B, M, R, Me, P, vielleicht auch in Wo, dessen Einordnung schwierig ist) eine md. Grundlage durchzuschimmern scheint (Klein 1988a). Nur die zwei indirekt erschließbaren Textzeugen Gr und Ho dürften auf eine Verbreitung des ER im nd. Sprachraum hinweisen (Klein 1988b und Kornrumpf 1988).

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Es lassen sich in sprachgeographischer Hinsicht hauptsächlich zwei Varianten unterscheiden: eine obd., welche durch die älteste nahezu vollständige Hs. B, die späteren Hs. M, h, w sowie die ältesten Fragmente bezeugt ist; und eine erst im 14. Jh. zu fassende md. Variante. Joachim Bumke (1991) vertritt die These, die obd. Variante sei bereits vor 1200 entstanden und der ER im 13. Jh. vor allem in dieser Fassung bekannt gewesen. Mit Veldekes Roman beginne, im Kontext der Überlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 13. Jh. „eine neue Phase der Überlieferung. Von nun an bietet sich überall, wo eine breitere Textbezeugung vorhanden ist, dasselbe Bild. Bereits die ältesten Hss. bezeugen das Vorhandensein von Parallelfassungen, die sich in Autornähe ausgebildet haben müssen“ (Bumke 1996, S. 81). Silvia Schmitz (2007) hingegen interpretiert die Koexistenz der früh einsetzenden obd. Tradition und der jüngeren md. ausgerichteten Überlieferung lediglich als ein Indiz der weiten geographischen Verbreitung des Werkes vom 12. bis ins 15. Jh. Auffällig ist, daß in der handschriftlichen Überlieferung des ER, im Unterschied zum RdE, keine Verbindung zur matiere de Bretaigne hergestellt ist (vgl. Mora-Lebrun 2008). In den Hss. B, h und E ist der ER einzeln tradiert. Zwei weitere Zeugen überliefern ihn im Kontext des Antikenromans: Die im Auftrag des Deutschordensritters Wilhelm von Kirrweiler 1333 verfaßte Hs. H läßt Veldekes Roman auf das ‚Liet von Troye‘ folgen, während die Fragmente Wa von einer gemeinsamen Überlieferung mit einer dt. Alexanderdichtung, dem sog. ‚Waldecker Alexander‘, zeugen. Zwei weitere Hss. überliefern ihn zusammen mit Texten verschiedener Gattungen, die dadurch verbunden sind, daß sie auf frz. Vorlagen beruhen und Ereignisse in fernen Ländern, sei es in Rom, Griechenland, Byzanz oder im wunderbaren Orient thematisieren. In der Hs. G wurde dem ER die im 14. Jh. von Otto von Diemeringen verfaßte dt. Adaptation des zugleich fabulös und enzyklopädisch gefärbten Reiseberichts Jeans de Mandeville (ca. 1356) von anderer, jüngerer Hand angeschlossen. In der Hs. M ist Veldekes Text zwischen zwei Romane eingebettet, in denen sich Liebes-, Abenteuer- und Legendenstoffe verbinden: Auf Veldekes Roman folgt Ottes ‚Eraclius‘ (Ende 12. Jh. oder 1. Drittel 13. Jh.; f Teil C, Kap. 3), die dt. Adaptation des ‚Eracle‘ von Gautier d’Arras (2. Hälfte 12. Jh.), und den beiden Texten wurde im 16. Jh. der anonyme Roman ‚Mai und Beaflor‘ (2. H. 13. Jh.; fTeil C, Kap. 4) vorgebunden, der sehr wahrscheinlich ebenfalls auf einer afrz. Vorlage beruht. Schließlich überliefert die Hs. w den ER zusammen mit der sog. ‚Weihenstephaner Chronik‘ (15. Jh.), einer anonymen volkssprachigen ChronikKompilation in Prosa, und verankert ihn somit in ein historisches Konti-

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nuum: Der ER wird als Vorgeschichte der auf ihn folgenden Chronik verwendet (Schröter 2003). In der Hs. w entspricht nicht nur die Zusammenstellung der Texte, sondern auch die Fassung des ER selbst der konzeptionellen Gesamtanlage der Hs.: Der 1474 von Jörg von Ellerbach geschriebene Text ist eine Kurzfassung, die rund 11000 statt 13500 Verse umfaßt, und in welcher die Technik der abbreviatio eine Grundtendenz erkennen läßt: Sie richtet das Augenmerk auf die summa facti und reduziert damit die rhetorische Dimension der Veldekschen Bearbeitung (Schröter 2003; Hamm 2004). Auch die Fassung der Hs. h, die der sog. ‚Elsässischen Werkstatt von 1418‘ zugeschrieben wird, kann in gewisser Hinsicht als Kurzfassung gelten. Der Text, der u.a. Veldekes einleitenden Rückblick auf den Trojanischen Krieg durch einen Prolog und einen Erzählbeginn medias in res ersetzt und der wie die Aen. mit dem Tod von Turnus endet und die restlichen mehr als 900 Verse in einem 28-zeiligen Anhang zusammenfaßt, verrät eine deutliche Anlehnung an Vergil: Der ER erscheint, cum grano salis, als eine Art „deutsche Aeneis“ (Fromm 1987; Hamm 2001). Die Hss. w und h bilden zusammen mit der Berliner Hs. B die drei erhaltenen illustrierten Zeugnisse des ER. Während letztere am Beginn einer Tradition der Illustration des Textes steht – und überhaupt eine der frühesten Illustrationen dt. höfischer Epik darstellt –, bezeugen die spät datierten Hss. w und h den Fortbestand dieser Tradition noch am Ende des mittelalterlichen Überlieferungszeitraumes (vgl. Schröter 2008). Editionen Von den drei illustrierten Hss. B, w und h liegen Faksimiles vor. Die Heidelberger und Wiener Hss. wurden jeweils 1987 von Hans Fromm und 2000 von Marcus Schröter in Farbmikrofiche-Editionen verfügbar gemacht. Erstere ist auch als Digitalisat auf den Internetseiten der Heidelberger UB zugänglich (ebenfalls die Heidelberger Hs. H; im Internet verfügbar ist weiterhin eine digitalisierte Form der Genfer Hs. E, und zwar in der virtuellen Handschriftenbibliothek der Schweiz „e-codices“). Die Berliner Hs. ihrerseits liegt in einer 1992 von Nikolaus Henkel und Andreas Fingernagel besorgten Farbfaksimile-Edition vor. Eine digitalisierte Reproduktion der Hs. ist als CD-ROM zusammen mit einer Transkription und Übersetzung nach der Textausgabe von Hans Fromm erhältlich.

Die Berliner Hs. hat schon früh die Aufmerksamkeit der Herausgeber auf sich gelenkt. Dabei ist die frühere Editionsgeschichte vor dem Hintergrund des ‚Veldeke-Problems‘ zu betrachten. Die erste, 1852 von Ludwig

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Ettmüller veröffentlichte kritische Ausgabe des Textes beruht zwar auf der Berliner Hs. – unter Hinzuziehung der Hss. M, H und G –, stellt aber den ersten Versuch dar, das ‚originale‘ Wort zu gewinnen: Der Herausgeber, der nach eigenen Aussagen wegen der Überlieferungslage auf die „Zurückführung der ‚Eneide‘ in niederrheinische Mundart“ verzichten mußte, wollte dafür „die Gestalt, die sie in Thüringen erhielt“, erreichen (Ettmüller 1852, S. X). Der von Ettmüller hergestellte Text wurde 1986 von Dieter Kartschoke – mit einem Verzeichnis abweichender Lesungen – neu gedruckt und einer Übersetzung ins Neuhochdeutsche zugrundegelegt. Dreißig Jahre nach Ettmüllers Ausgabe strebte Otto Behaghel auf der Grundlage aller ihm bekannten Hss. „die Herstellung der ursprünglichen Mundart“ des Dichters an, nämlich des „Maestrichter Dialekt[es]“ (Behaghel 1882, S. XXXVI u. VI). Noch in den sechziger Jahren des 20. Jh. orientierten sich Gabriele Schieb und Theodor Frings an der vermutlichen Sprache Veldekes bzw. seiner Heimat in einer monumentalen Ausgabe, die den diplomatischen Abdruck der md. Hs. G einem rekonstruierten Text in altlimburgischer Sprachgestalt gegenüberstellt. Von solchen Rekonstruktionen ist man heute abgekommen. Hans Fromm lieferte 1992 eine überlieferungsnahe Edition der Hs. B. Hierbei ist die Berliner Hs. ein bedeutender Textzeuge, zum einen als älteste dt. Epenhandschrift mit ganzseitigen Bildern und mit dreispaltiger Beschriftung, was aus ihr den Zeugen einer neuen Phase der Handschriftengestaltung macht (Bumke 1996), zum anderen als ältestes (nahezu) vollständiges Zeugnis des ER sowie als Beleg seiner frühen Rezeption im obd. Raum, in dem er seine Wirkung auf die nachfolgenden Dichter der ‚klassischen‘ Generation ausübte. Im vorliegenden Beitrag werden Fromms Edition sowie seine Übersetzung zugrunde gelegt.

3.4 Gliederung des ‚Eneasroman‘ im Vergleich mit dem ‚Roman d’Enéas‘ (von Marie-Sophie Masse) Für beide Aeneasromane werden in der Forschung sowohl eine Zwei- als auch eine Dreigliedrigkeit in Erwägung gezogen (zusammenfassend Schöning 1991 u. Masse 2004). Argumentiert wird für die Zweigliederung vor allem mit dem Verweis auf die Aen., für welche eine Gliederung in zwei Teile mit der Unterweltfahrt des sechsten Buchs als Wendepunkt schon früh angenommen wurde. In dieser Hinsicht konnte Vergil als Vorbild,

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seine mittelalterlichen Bearbeiter als Vermittler des für den mittelalterlichen Artusroman charakteristischen Zweiwegeschemas angesehen werden (Bezzola 1947). So beruft sich etwa Kurt Ruh (1977, S. 79) auf „die Grundstruktur der Chrétienschen Romane mit ihrem kleinen und großen Zyklus“, um eine von den Autoren des RdE und des ER intendierte Zweiteiligkeit mit einem Vorspiel und einem breit angelegten Hauptteil zu postulieren, während die Dreiteiligkeit beider Romane (Vorspiel / Kämpfe im Latium / Lavinia-Minne) nur „äußerlich“ sei. Auch wenn man von der problematischen Rückprojizierung des ebenfalls problematisch gewordenen Begriffs „doppelter Kursus“ auf den Antikenroman absieht, so muß man die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Handlungsschema des Artusromans und der Aeneasromane bedenken, auf die Hans Fromm (1969) aufmerksam gemacht hat. Fromm betont außerdem, daß die Komposition des vergilischen Epos mehrsinnig ist und eine Zwei- mit einer Dreigliedrigkeit kombiniert. Wenn sich nun die für die Aen. angenommene Dreigliedrigkeit (Buch I–IV, V–VIII u. IX–XII) von der des RdE unterscheidet, so verweist dies auf ein Hauptmerkmal der mittelalterlichen Bearbeitungen im Vergleich zum lat. Text. Stellvertretend sei das von Aimé Petit (1985 u. 1997) für den afrz. Roman vorgeschlagene Schema wiedergegeben: I. Die Suche nach dem gelobten Land (RdE 1–3104); II. Der Krieg (3105–7856); III. Das Liebesabenteuer und das Ende des Krieges (7857–10156). Daß der dritte Teil lediglich dem zwölften Buch der Aen. entspricht, hängt mit der von den mittelalterlichen Bearbeitern praktizierten amplificatio jenes letzten Buches bzw. der Darstellung der Liebe zwischen Eneas und Lavinia zusammen. Die so entstandene Struktur mit ihren ausgeglichenen Proportionen (1:2:1) ist, wie Petit (1985) zeigt, mit sinntragenden Spiegeleffekten, vor allem zwischen der Lavinia- und der Didohandlung, verbunden. Da Veldeke die Struktur seiner afrz. Quelle übernimmt, scheint uns die Hypothese einer Dreigliederung im Falle des ER genau so vertretbar: Die komparatistische Sicht erlaubt es, die Strukturstudien der Romanisten für den ER fruchtbar zu machen, auch wenn sie in germanistischen Arbeiten bis jetzt wenig Echo fanden.

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3.5 Das ‚neu und anders Erzählen‘ im ‚Eneasroman‘ (von Joachim Hamm) Äquivalenz, Reproduktion und die Poetik der Adaptation – Modifikationen des ordo narrandi: das Erzählen von Troja – Sprechen über die Liebe: die Soliloquia des ‚Eneasroman‘ – Beschreibungskunst und Kunstbeschreibung: die descriptio in den Aeneasromanen – Die große Innovation der Aeneasromane: die Lavinia-Episode – Zum ‚neu und anders Erzählen‘ der Unterweltfahrt

Heinrichs von Veldeke ER hat in der Forschung vor allem als „Dichtung auf dritter Stufe“ Interesse gefunden (Überblick bei Lienert 2001). Versuchten ältere Studien, die Eigenleistung des dt. Bearbeiters durch einen minutiösen Vorlagenvergleich zu bestimmen (stellvertretend Dittrich 1966), so rücken neuere Arbeiten die rhetorischen und narratologischen Aspekte der Vorlagenbearbeitung in den Vordergrund (Fromm 1996; Masse 2004; Henkel 2005; Schmitz 2007; Hamm 2007). Äquivalenz, Reproduktion und die Poetik der Adaptation Auskunft über die Modi der Adaptation gibt der zweite Teil des Romanepilogs (ER 13505–13528), der womöglich ursprünglich ein alternativer Vortragsschluß war (Fromm 1992 zur Stelle). Der dt. ER wird hier in eine Überlieferungstradition gestellt, die über eine frz. Zwischenstufe bis zu Vergils Epos zurückreicht. Die buchepische Schriftlichkeit der Aen., ihre ehrwürdige Latinität und ihr berühmter Autor Virgilius begründen eine Autorität und Glaubwürdigkeit, die im Zuge der Überlieferung auf die Aeneasromane übergeht. Denn diese präsentieren sich als getreue Wiedergabe dessen, was Vergil erzählt hatte: Der Autor des RdE sei, wie es heißt, der Aen. al nach der warheide gefolgt (13509), und Veldeke seinerseits habe die Überlieferung ins Deutsche verlängert, ohne den sin zu verfälschen. Inszeniert wird damit eine ungebrochene Tradition historischer Glaubwürdigkeit, deren Grundlage eine Übereinstimmung auf allen drei Stufen der Überlieferung ist: als ist es welsch vnd latein / ane missewende (13526f.: „ohne Abweichung“). Indes erweist schon eine oberflächliche Lektüre, wie tiefgreifend der frz. Anonymus und, ihm folgend, Veldeke das Aeneasepos umgestaltet haben: Von einer Übereinstimmung der Texte als Texte, von einer übersetzungsgemäßen Äquivalenz, kann keine Rede sein. Maßgeblich für die Bearbeiter war offenkundig nicht der Wortlaut ihrer Vorlage(n), sondern der historische Stoff (materia), der den literarischen Gestaltungen seit Vergil

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zugrunde lag, aber zeitlich vor und unabhängig von ihnen existierte. Dies entspricht einem zeitgenössischen Konzept literarischer Reproduktion, nach dem ein Bearbeiter eine gegebene materia unverfälscht zu bewahren und kraft eigener künstlerischer Fähigkeit (artificium) in eine neue literarische Form zu kleiden habe („Rewriting“, „Wiedererzählen“, „Retextualisierung“, vgl. Worstbrock 1999; Kelly 1999; Bumke/Peters [Hgg.] 2005). Ein solches stoffbezogenes Äquivalenzkonzept kann sich auf den dichtungstheoretischen Diskurs des Hochmittelalters berufen (zuletzt Schmitz 2007). Die schulische Lehre von der tractatio materiae („Bearbeitung eines Erzählstoffes“), die seit dem Ende des 12. Jahrhunderts in den lat. Poetiken kodifiziert wurde, vermittelte ein Instrumentarium, um einen noch unbearbeiteten oder literarisch bereits geformten Stoff (materia rudis bzw. iam pertractata) durch verschiedene Operationen umzuschreiben, zu erweitern oder zu kürzen (dilatatio bzw. abbreviatio materiae). Als Bestandteil des Schulunterrichts waren diese Verfahren auch jenen volkssprachigen Dichtern vertraut, die eine lat. Ausbildung erhalten hatten, und in der Tat finden sich in den Aeneasromanen die Instrumente der tractatio materiae (wie descriptio, digressio, apostrophatio usw.) wieder. Man hat in den Dichtungslehren daher den poetologischen Schlüssel zu den literarischen Adaptationen des Mittelalters gesehen und auch Veldekes ER als regelkonforme Umsetzung der rhetorischen Theorie interpretiert. Gleichwohl sind gegen eine solche r he to r i s ch e Fundierung der li t e r a r i s ch e n Adaptation Einwände vorgebracht worden. Schon die zu wahrende materia von dem unverbindlichen artificium zu scheiden, gestaltet sich als schwierig, da bereits Vergil alles Stoffliche in Sinn überführt und zu einem ästhetischen Ganzen verschmolzen hatte. Die Bearbeiter setzen an dieser materia iam pertractata an, die für sie weder uneingeschränkt maßgeblich (sie streichen z.B. die Irrfahrten des Aeneas fast vollständig) noch ein unverbindliches artificium (sie übernehmen z.B. die Unterweltfahrt, die doch im 12. Jh. als figmentum Vergilii galt) war. Die Dichotomie von materia und artificium hilft mit Blick auf die literarische Praxis kaum weiter. Hinzu kommt, daß die Poetiken nur ein recht basales Instrumentarium der Vorlagenbearbeitung lehren: Es handelt sich um Grundregeln, die zumeist nicht über die Wort- oder Satzebene hinausreichen und zunächst auf die lat. Sprache und Stilistik abzielen (Bezner 2005). Die Komplexität literarischer Aneignungsprozesse etwa in den Romanen Hartmanns oder Wolframs läßt sich allenfalls punktuell auf diese poetologischen Maßgaben zurückführen (Schmid 2008). Dies gilt zumal für die Aeneasromane, deren umfängliche Laviniaepisode kein Vorbild in der Aen. hat: Hier wird nicht wiedererzä hlt , sondern we i t e r g e d i ch t e t . Die Poetiken sind inso-

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fern allenfalls e i n Baustein für eine historische Poetik der literarischen Adaptation. Indes steht die rhetorische Theorie, welche die Poetiken kodifizieren, nur am Anfang einer schulischen Ausbildung, die im weiteren zur Lektüre und Auslegung der Schulautoren (interpretatio) und zur eigenen literarischen Übung (exercitatio) führen konnte (zum folgenden Hamm 2007). Ovidbearbeitungen aus dem Klassenzimmer zeigen, daß selbst Schuldichtungen nicht nur die Regeln der Poetiken exekutieren, sondern weite Freiräume des „Umschreibens“ beanspruchen. Schon in der Schule vollzog sich der Übergang von der rhetorischen Theorie zu einer wesentlich komplexeren literarischen Praxis, welche die Instrumente der tractatio einsetzt, sich von den auctores inspirieren läßt und eine Vorlage auch narrativ umzuformen weiß. Es zeichnet sich hier ein erweitertes Konzept literarischer Reproduktion ab, das historisch verortbar ist und als Modell für die Aeneasromane dienen kann: Die Lizenzen des „neu und anders Erzählens“ sind nicht durch die Poetiken begrenzt, sondern können weit über sie hinausführen, sofern dies mit der überlieferten, glaubwürdigen und zu bewahrenden Geschichte von Aeneas vereinbar ist. Die romanhafte Adaptation der Aen. geht in erster Linie auf den Verfasser des RdE zurück. Dem dt. Bearbeiter gestand man nur eine bescheidene Eigenständigkeit zu, die vor allem in der rhetorischen Überbietung und Vervollkommnung seiner Vorlage bestehe. Vor dem Horizont einer Poetik des ‚neu und anders Erzählens‘ erweist sich indes, daß Veldeke seine Vorlage bisweilen erheblich umschreibt, hierbei auf vorgängige Modelle zurückgreift und gerade bei der narrativen Neuformung eine Eigenständigkeit an den Tag legt, die immer wieder mit neuer Sinnzuweisung einhergeht. Dieses Umschreiben läßt sich ausgehend von einigen Grundtechniken der tractatio materiae skizzieren. Modifikationen des ordo narrandi: das Erzählen von Troja Vergils Erzählung beginnt mit dem Seesturm, der die trojanische Flotte an die libysche Küste verschlägt. Das zeitlich vorangehende Geschehen – die Zerstörung Trojas, die Flucht des Aeneas und seine Irrfahrten auf dem Meer – wird erst im Nachhinein berichtet, in einer rückblickenden Figurenrede des Helden beim Gastmahl der Dido, die sich über zwei epische Bücher erstreckt (Aen. II,1 – III,718). Vergils Invertierung der Erzählordnung galt der rhetorischen Lehre als Musterbeispiel eines ordo artificialis, einer „kunstgemäßen Erzählordnung“, deren Gegenstück das chronologi-

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sche Erzählen, der ordo naturalis ist (Fromm 1996). Die Modifikation der Erzählordnung zählt zu den Verfahren der tractatio materiae und findet sich auch in den Aeneasromanen. Diese verzichten auf Vergils a mediis incipere und beginnen mit einer Einleitung, die von der Zerstörung Trojas bis zum Seesturm in chronologischer Abfolge berichtet (RdE 1–276; ER 1–244). Bei Didos Gastmahl blickt Eneas nicht mehr auf die vergangenen s ie b e n Jahre zurück, sondern berichtet fast ausschließlich über Trojas Untergang (RdE 849–1196, ER 910–1230; die Irrfahrten entfallen fast völlig). Das zweite Aen.-Buch wird damit teilweise, das dritte gänzlich ausgespart. Das Ergebnis ist ein zweifaches Erzählen von Troja: Vergils ordo artificialis wird nicht zum ordo naturalis a u f g e l ös t (Singerman 1986; Opitz 1998), sondern vielmehr, unter Vermeidung von Redundanzen, mit ihm ko m b in i e r t (Fromm 1996). Eine solche Umformung des ordo narrandi samt weitgehender Aussparung der Irrfahrten begegnet auch in mehreren lat. Aen.-Bearbeitungen des Mittelalters (Hamm 2007): Die Adaptation der Erzählordnung in den Aeneasromanen ist insofern kein Au s n a hm e f a ll , sondern vielmehr die Re g e l . Sie dankt sich zum einen der geglaubten Historizität des Aeneasstoffes, die den ordo naturalis als die übliche „historiographische“ Erzählordnung nahelegte (Opitz 1998). Zum anderen wird der Aeneasstoff so mit seiner Vorgeschichte zu einer Historia Troiana-Romana verknüpft, wie sie in der Überlieferung immer wieder anzutreffen ist (‚Excidium Troie‘; Heideberger Hs. H des ER). Die Eigenleistung des dt. Bearbeiters erweist sich zunächst an den Modifikationen der Troja-Erzählung des Eneas. Im Unterschied zu Aen. und RdE spricht der dt. Romanheld nicht vor allen Gästen des Banketts, sondern richtet seine Worte ausschließlich an die Königin (Lieb/Müller [Hgg.] 2002): Die öffentliche Festrede wandelt sich zu einem Erzählen unter vier Augen, in der Intimität einer Kemenate (ER 905; vgl. die Illustration in Hs. B des ER, fol. 9v). Wenn sich die verliebte Dido im ER (1234–1241) nicht für die Erzählung von Troja, sondern nur für den Erzähler interessiert, so wird der Trojabericht damit in einen neuen Verständnisrahmen gestellt: Er un t erbri ch t nicht mehr die Minnehandlung, sondern ist recht eigentlich Tei l vo n ih r. Die Rolle des Eneas wird in anderer Hinsicht neugestaltet. Die autobiographische Dimension, die sein Trojabericht in der Aen. besaß, ist in den Aeneasromanen schon durch den Ausfall der Irrfahrten reduziert. Hinzu kommt die verstärkte Tendenz zum auktorialen Erzählen (Hübner 2003): Der Romanheld redet in erster Linie von Troja und erst in zweiter Linie von sich selbst. Nachdrücklicher als in der Aen. präsentiert er sich als Hi-

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storiograph im Gestus des auktorialen Erzählers. Seine exponierte Augenzeugenschaft (ER 918f.) verweist nicht auf au t obiographisches, sondern auf h i s t o rio graphisches Erzählen. Hinzu tritt eine weitere Modifikation. Im Unterschied zu Vergils Held, der im Kampf um Troja nur widerstrebend seinen furor der pietas unterordnete, vollbringt Veldekes Eneas keine Heldentaten: Er ist vielmehr an den Kämpfen in Troja g ä n z li ch u n b e teilig t und beobachtet sie lediglich aus räumlicher Distanz (Hamm 2007). An die Stelle des epischen Heros, der kämpfen will, aber nicht kämpfen darf, tritt der Romanheld, der die militärische Lage analysiert, ihre Aussichtslosigkeit erkennt und, dem Herrscherideal entsprechend, seine Getreuen zu einer Beratung über lebende hinnen chomen oder sterben mit eren (ER 90–93) zusammenruft (Kasten 1988; Schmitz 2007; dieses Szene erscheint nicht in der Aen., aber im ‚Excidium Troiae‘). Mit den Irrfahrten entfallen in den Romanen auch die epischen Vorausdeutungen, die Vergils Helden nach und nach sein künftiges Geschick bewußt werden lassen: Das „allmähliche Aufhellen des Fahrtziels“ (Büchner 1955) als das zentrale Strukturprinzip im ersten Teil der Aen. ist aufgegeben. Der Held des RdE erlangt zwar sukzessiv neue Kenntnisse über seine Mission, doch es bleibt unklar, woher. Im ER kennt Eneas bis zum Aufbruch von Karthago lediglich sein Fahrtziel und erlangt erst in der Unterwelt Gewißheit über seine Bestimmung. Er gelangt nicht allmählich, sondern über zwei „Wissensstufen“ ans Ziel (Dittrich 1966). Darüberhinaus verweist der Ausfall der Vorausdeutungen auf eine grundsätzliche Bearbeitungstendenz der Romandichter: Sämtliche Prophezeiungen, Orakel und Interpretationen von Omina und Orakeln in den ersten sechs Aen.-Büchern entfallen im ER und im RdE, ebenso die Mehrzahl der Prodigien und Augurien. Die verbleibenden Vorausdeutungen werden vom Erzähler berichtet oder sind menschlichen Sprechern in den Mund gelegt. Die Romandichter reduzieren den epischen Götterapparat, seine Mittlerfiguren und die paganen Riten und Gebräuche auf das Mindestmaß, das zur Wahrung der narrativen Konsistenz unentbehrlich schien. Die Gottheiten der Aen., die das irdische Geschehen kommentieren, motivieren und in vorgegebene Bahnen lenken, werden zu einem kaum mehr personal zu verstehenden Handlungsmovens degradiert – soweit sie nicht gänzlich in der Versenkung verschwinden (Dittrich 1966; Brandt 1969; Keilberth 1975). Die Konsequenzen sind gravierend: Die Figuren tragen nunmehr in höherem Maße Verantwortung für ihr Tun und sind gezwungen, ihr Handeln zu begründen und zu rechtfertigen (Kasten 1988). Dies gilt zumal für Eneas, der nicht mehr nur der von den Göttern

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geführte Held ist, sondern eine Figur voller Widersprüche, die ihre Widersprüchlichkeit empfindet und reflektiert. Sprechen über die Liebe: Die Soliloquia des ‚Eneasromans‘ Etwa zu einem Drittel besteht der ER aus Monologen, Dialogen und Reden (Emberson 1981) – ein mit Blick auf das vorangehende, vor- und frühhöfische Erzählen bemerkenswerter Befund. Vor allem in den beiden Liebeshandlungen häufen sich dialogische und monologische Partien. Schon der frz. Anonymus erweitert die Redepassagen in der Karthagoepisode erheblich und unterstellt die (von Vergil nicht ausgeführte) Laviniahandlung in weiten Teilen dem gesprochenen Wort. Veldeke folgt diesem Vorbild und weitet die Figurenreden noch aus. Es sind die großen Minnemonologe, die vor allem die Transformation der Aen. in einen mittelalterlichen Liebesroman ovidischer Prägung tragen. Die Erweiterung einer Vorlage um fingierte Figurenreden (sermocinatio, ethopoiia, soliloquium) gehört zu den Verfahren schulischer exercitatio (Priscian, ‚Praeexercitamina‘, cap. 1) und wurde unter anderem an der Didofigur eingeübt (‚Epistula Didonis‘, 3./4. Jh.). Die erwähnten lat. Schuldichtungen und auch die frz. Ovidadaptationen des 12. Jh. (‚Piramus et Thisbé‘, ‚Narcisus et Dané‘) nutzen die sermocinatio, um die emotionalen und psychischen Dispositionen einer Figur auszuleuchten. Gleiches gilt für die Aeneasromane (Petit 1985; Hübner 2003): Die Entwicklung des Liebesmonologes und der Techniken narrativer Bewußtseinsrepräsentation bedeutet für das romanhafte Erzählen eine bedeutsame Innovation, und die Antikendichtungen des 12. Jh. bereiten hierfür den Weg. Veldeke übernahm diese Erzähltechnik vom RdE und etablierte sie im deutschsprachigen Roman (ob der Isaldemonolog in Eilharts ‚Tristrant‘ vorausging, ist umstritten). Von den 22 Soliloquia des ER behandeln 15 das Thema Minne, die übrigen sind Totenklagen (Emberson 1981). Liebe und Tod prägen, stärker als im RdE, das autokommunikative Sprechen im ER. In ihrem ersten Soliloquium etwa (ER 1389–1408), das in den Vorlagen keine Entsprechung hat, beklagt Königin Dido ihre Minnekrankheit und blickt klarsichtig in die Zukunft: Entweder erbarme sich Venus, oder sie müsse den Tod erleiden (1405–1408). Obwohl von der Liebe verwirrt, analysiert sie sich selbst, diagnostiziert ihre Liebeskrankheit und wägt die Konsequenzen ab. Der Gestus der Selbstanalyse bringt ein rationales Moment ein, das auf vorgängige Modelle verweist (Hamm 2007): Unvermittelte Gedankenumbrüche, abrupte Perspektivwechsel und die distanzierte

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Reflexivität der Selbstbeobachtung kennzeichnen auch die inneren Monologe bei Ovid. Unglücklich und an der Liebe leidend, aber nüchtern reflektierend und in kühler Distanz zu sich selbst reden Ovids Heroinen (unter ihnen auch Dido) wie echte Psychologen über sich. Veldekes Soliloquium verweist wie auch die anderen Minnemonologe formal auf Ovid (Faral 1913; Kistler 1993; skeptisch Hübner 2003), und zugleich räumt der Erzähler seinem Publikum einen Wissensvorsprung ein: Dido selbst legt zu Beginn die Konfliktkonstellationen der folgenden Erzählung offen. Demgegenüber erschließen sich Gedanken und Gefühle des Eneas nur höchst unvollständig (Hübner 2003). Was während seines Aufenthalts in Karthago in ihm vorgeht, bleibt fast völlig im Dunkel: Die Innenwelt des Eneas ist verschlossen, während die der liebenden Frau bis ins Detail ausgeleuchtet wird. Dies ändert sich erst in der Laviniaepisode, als auch Eneas von der Minne überwältigt wird und nunmehr seinerseits, wie auch Lavinia, in einem ausführlichen Monolog darüber reflektiert. Den Unterschied zwischen einseitig-unglücklicher und gegenseitig-glücklicher Liebe bildet schon die Verteilung der Liebesmonologe und Innenwelteinsichten ab. Die Innenweltdarstellungen machen nicht nur die Gedanken und Gefühle der Protagonisten einsehbar, sondern geben auch dem Erzähler Gelegenheit, zu ihnen Stellung zu nehmen. Der Erzähler des RdE stilisiert sich in der Karthagoepisode als eine Deutungsinstanz, die Didos Innenwelt mit markierter Distanz kommentiert und didaktisch-moralisch beurteilt (Hübner 2003). Die Einblicke in das Figurenbewußtsein dienen als Instrumente einer Erzählerregie, die den Handlungsablauf kontrolliert, die Skala von narrativer Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit beherrscht und die Lektüre des Publikums in eine bestimmte Richtung lenken will. Dies erweist sich an der Didokritik, die im RdE stark hervortritt. Schon beim Empfang der Schiffbrüchigen bietet Dido dem landfremden Eneas eigenmächtig Liebe, Land und Herrschaft an. Diese weitreichenden Avancen (die im ER abgemildert werden) gehen über die Usancen des Gastrechts hinaus und lassen sich mit der vorbildlichen liberalitas einer Königin nicht befriedigend erklären (Schmitz 2007; Meincke 2007). Gleich zu Beginn der Karthagoepisode wird, jenseits linear-kausaler Kohärenzerwartungen, das leitthematische, höchst ambivalente Didobild eingeführt, das im RdE dominiert und in lat. Aen.-Adaptationen vorgeprägt ist (u.a. im ‚Excidium Troie‘). Im folgenden charakterisiert der frz. Erzähler Dido als eine Frau, die von ihrer maßlosen Minne überwältigt wird und sich von der idealen zur pflichtvergessenen Herrscherin wandelt (ER 1408–1432). Veldeke mildert die (Vor-)Verurteilung Didos ab. Von der straffen Erzählerregie und Publikumslenkung des RdE bleibt wenig übrig. Der dt.

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Erzähler nimmt sich vielmehr zurück, gibt den extradiegetischen Deutungsanspruch auf und entkräftet das Skandalon des Treuebruchs sowie die vermeintliche ‚Schuld‘ der Dido weitgehend (Kartschoke 1983; Syndikus 1992). Er verzichtet darauf, sein Wissensprivileg und seine Deutungshoheit auszuspielen: Die Widersprüche, Ambivalenzen und Aporien einer Liebe, die nicht sein darf, werden sichtbar gemacht, ohne daß sie ein autoritärer Erzähler vereindeutigt und auflöst (Hübner 2003). Didos Verhalten ist damit einer vereinfachend-moralisierenden Bewertung im Sinne von ‚Schuld‘ und ‚Unschuld‘ weitgehend entzogen. Sie steht damit jener unglücklich Liebenden nahe, die in der mlat. Lyrik begegnet und zum höfischen Exempel für die Ambivalenz der Minne avancierte (Mecklenburg 2001; Hamm 2008). Wie stark sich die Aeneasromane hierbei von Vergil entfernt haben, zeigen Didos Monologe vor ihrem Selbstmord (Kartschoke 1983; Syndikus 1992). Die geschichtsträchtige Fluchrede, in der Vergils Dido die ewige Feindschaft mit den Nachkommen des Aeneas (und damit die punischen Kriege) beschwört (Aen. IV,615–629), entfällt in den Romanen. Stattdessen treten die Liebesklagen in den Vordergrund: Weder sieht Dido ihr Unglück in ihrem Treuebruch an Sychaeus noch im Verhalten des Aeneas oder gar in jenem Götterbefehl begründet. Allein ihre eigene maßlose Liebe sei Ursache ihres Unglücks (ER 2362–2365), und so verflucht sie den untreuen Geliebten nicht, sondern verzeiht ihm. Beschreibungskunst und Kunstbeschreibung: die descriptio in den Aeneasromanen Als dritter Aspekt der Adaptation kann die Beschreibungskunst gelten. Wenn die Romandichter die descriptiones der Aen. (Suerbaum 1999) ausdehnen und vervielfachen, so verweist dies auf eine Mode des Deskriptiven, die spätestens im 12. Jh. auch die volkssprachigen Literaturen erfaßt hatte. Kaum eine mhd. oder afrz. Großdichtung, die nicht umfängliche Beschreibungen aufweist oder zumindest implizit-kritisch auf die Omnipräsenz des Deskriptiven reagiert. Die Allgegenwart der descriptio zählt zu den Epochensignaturen des Erzählens im Mittelalter (Ratkowitsch 1991; Masse 2004). Für die deutschsprachige Beschreibungskunst war Veldeke wegweisend: Seine rhetorisch ausgefeilten descriptiones von Menschen und sonstigen Lebewesen, Städten, Örtlichkeiten, Kunstwerken und Waffen machen den ER zu einem „rhetorischen Musterbuch“ (Bertau, LG, Bd. I, S. 548f.), aus dem nachfolgende Dichter lernen konnten. Die descriptiones fassen das

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Spektakuläre, Wunderbare und Unvorstellbare in Worte, generieren mit den Mitteln der Sprache eine neue, genuin literarische Wirklichkeit und arbeiten einer „Poetik des Visuellen“ zu (Wandhoff 2003), indem sie das optisch Wahrnehmbare in das textlich Gefaßte einbringen. Aufs engste sind die Beschreibungen hierbei mit der umgebenden narratio verknüpft: Sie stützen die narrative Sinnentfaltung und fungieren als ‚Deutungszentren‘ des neuen, romanhaften Erzählens (Masse 2004; Henkel 2005; Hamm 2007). Diese Kunst des Beschreibens folgt den Maßgaben der lat. Poetiken, welche die descriptio als Spielart der digressio, der Abschweifung, und als Instrument der dilatatio materiae vorstellen. Hochmittelalterliche Theoretiker wie Matthäus von Vendôme erläutern Grundfunktionen des Beschreibens, geben Musterbeispiele und empfehlen die descriptio, um die besondere Eigenart des Beschriebenen (proprietas) lobend oder tadelnd herauszustellen und so die Figurenzeichnung wahrscheinlicher und verständlicher zu machen (Worstbrock 1985; Kelly 1991; Schmitz 2007). Beschreibungen zielen insofern auf Veranschaulichung (perspicuitas, evidentia) und Plausibilisierung der narratio. Als rhetorische Zusätze berühren sie die vorgängige materia nicht, sondern lagern sich nur an sie an: Integrität und Glaubwürdigkeit des Stoffes werden durch sie nicht beeinträchtigt. Stellvertretend für die Beschreibungskunst kann die descriptio des Grabmals der amazonenhaften Königin Camilla stehen (RdE 7531–7724; ER 9385–9574), die in der Aen. kein Vorbild hat. Der frz. Dichter greift in dieser descriptio den (seit Homer gebräuchlichen) Typ der Architekturbeschreibung auf (Arnulf 2004). Die Beschreibung des Grabmals, das alle Weltwunder übertreffe, ist ein poetischer Konstruktionsplan, der auf einen Realitätseffekt abzielt, diesen jedoch ins Exorbitant-Unvorstellbare übersteigert. Die auf Überzeitlichkeit ausgerichtete Architektur erweist sich hierbei als ein memorialer Sonderraum (Vögel 1998), der die Erinnerung an Camilla konserviert. Die überaus kostbaren Baumaterialien sind resistent gegen zeitlichen Verfall. Camillas Grab ist für die Ewigkeit gebaut, ja in ihm herrscht Ewigkeit: Der Taube-Schütze-Automat ist ebenso ‚zeitlos‘ wie die ewig brennende Grablampe und die zeitüberdauernde Gedenkinschrift auf der Steintafel. Diese Inszenierung der memoria beschränkt sich auf die M a t e r i a l i t ä t des Bauwerks, sie ist, von der Gedenktafel abgesehen, nicht narrativer Natur. Im Unterschied zu Vergil verzichten die Romandichter darauf, die descriptio eines Kunstwerks mit der para-narrativen Nacherzählung ihres Bilderschmuckes zu verknüpfen. Das Erzählen historischer Ereignisse bleibt in den Romanen konsequent auf die beglaubigte narratio beschränkt

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und wird in beschreibenden Passagen extra materiam konsequent vermieden (Hamm 2007; anders Wandhoff 2003). Gegenüber seiner Vorlage zielt Veldeke stärker auf einen „Realitätseffekt“ ab, indem er die Zahl der Bauteile und die Höhe des Turmgrabs reduziert, die Maßangaben vervollständigt und das Konstrukt als realistisch, ja gar als realisierbar erscheinen läßt (Masse 2004). Darüber hinaus erweist der dt. Bearbeiter seine Eigenständigkeit in der n a r r a t ive n Neuformung. Der Erzähler des ER blickt auf die fertige Architektur und berichtet, über seine Vorlagen hinaus, ihre Errichtung unter Leitung des Geometras, den Camilla vor ihrem Ableben mit der Bauleitung beauftragt habe. Die Beschreibung der Faktur (eine schon homerische Technik) wird zudem mit dem Vorgang der Grablegung Camillas synchronisiert, so daß die descriptio dynamisiert und in erzählte Handlung überführt wird. Noch darüber hinaus weist die von Veldeke eingeführte Figur des Baumeisters Geometras, der als ein in die histoire eingespieltes, selbstreferenzielles Spiegelbild des poeta faber Veldeke interpretiert wurde (Hamm 2011). Als Gegenstück von Camillas Grab fungiert das Mausoleum des jungen italischen Prinzen Pallas, der im Kampf gegen Turnus fiel und in einem schmucklosen Grab bestattet wird, das für seinen Vater bestimmt war. Die descriptiones der Heroengräber sind in mannigfacher Hinsicht aufeinander bezogen (Schieb 1965b; Wandhoff 2003; Hamm 2004) und bilden ein asymmetrisches „Diptychon“ (Clemente 1992), das Tod und Leid der Kämpfe um Latium in das Bild zweier ungleicher gegnerischer Kämpfer faßt. Diese Gegenbildlichkeit wird im ER zusätzlich durch einen Exkurs akzentuiert. Während Camillas Grab für alle Ewigkeit verschlossen blieb, sei das Grab des Pallas – so Veldeke – aufgefunden worden, als Barbarossa zur Kaiserkrönung nach Italien reiste. Bei der Öffnung des Grabes habe die einströmende Luft das ewige Licht, das noch immer brannte, verlöscht. Diese sog. ‚Stauferpartie‘ (ER 8374–8408: ein okkasioneller Vortragszusatz?) verknüpft chronikale Berichte über die Auffindung des Pallasgrabes (William von Malmesbury) mit der Krönungsreise Friedrichs I. nach Rom im Jahr 1155. Die Entdeckung eines Heroengrabes ist ein Topos, der den Vorzeit-Heros über die Zeiten hinweg mit dem gegenwärtigen Herrscher verbindet und eine typologische Beziehung stiftet. Man hat daher über Veldekes Verbindungen zu staufischen Kreisen spekuliert und die ‚Stauferpartie‘ als Huldigung an Barbarossa verstehen wollen (Schieb 1965b; Dittrich 1966; Wenzelburger 1974). Der ER hebt jedoch mit keinem Wort auf staufische Panegyrik ab, und es ist auch keine Rede davon, daß Barbarossa selbst das Pallasgrab gefunden und geöffnet habe (Hamm 2007): Die Auffindung habe sich vielmehr z u d e r Z e i t (ER 876: in den stvnden)

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ereignet, a l s der Kaiser sich auf Italienreise befand und m a n das Grab entdeckte (8384: sint vant man den wigant ). Jenseits typologischer Interpretationen geht es in der ‚Stauferpartie‘ zuvörderst um das Wunder der Grablampe, die dank ihres Asbestdochtes me danne zwei tusent iar (8398), bis in die Erzählgegenwart des Dichters hinein, brennen konnte. Die große Innovation der Aeneasromane: die Lavinia-Episode Die umfänglichste und weitestreichende Neuerung der Romandichter ist die Einführung einer zweiten Minneepisode, die von der Liebe zwischen Eneas und der latinischen Prinzessin Lavinia erzählt (RdE 7857–10119; ER 9735–13286). Diese Episode hat in der Aen. (und auch in der sonstigen Aeneasüberlieferung) kein Vorbild. Vergil gibt Lavinia eine Rolle, läßt sie diese aber nicht spielen: Sie macht sich nur in Gesten bemerkbar, gibt keine individuellen Züge zu erkennen und zeigt weder Neigung zu Aeneas noch zu Turnus. Ihre Bedeutung liegt jenseits der erzählten Zeit des Epos: Lavinia ist die prädestinierte regia coniunx, die künftige Gemahlin des Aeneas und Herrscherin über Latium. Sie ist Protagonistin einer ‚epischen Zukunft‘, die in Vorausdeutungen beleuchtet und durch die Handlung der Aen. erst möglich gemacht wird. Auf ihre narrative Ausgestaltung konnte Vergil verzichten. Die entscheidende Innovation des frz. Dichters war es, über Vergil hinaus eine zweite Minneerzählung einzuführen, die sich (ohne als Zusatz markiert zu sein) über rund 2200 Verse erstreckt und im ER auf mehr als 3500 Verse ausgedehnt wird. Mit dieser ‚Erfindung‘ konfigurieren die Bearbeiter zum einen das zeitliche Gefüge des Erzählens neu: Lavinias Prädestination zur regia coniunx wird in ihrer Erfüllung dargestellt, die epische Prophezeiung wird im Roman zur erzählten Wirklichkeit. Zum anderen nutzen die Romandichter einen narrativen Freiraum, den Vergil nicht ausgestaltet hatte: Sie formen die nur schemenhaft konturierte, aber in der Aen. verbürgte Laviniafigur zur Protagonistin einer fiktiven, aber doch glaubhaften Minneerzählung, welche sich problemlos in die materia Aeneadis einfügt und deren Glaubwürdigkeit nicht beeinträchtigt. Als mögliches Vorbild für diese „Erfindung“ ließe sich eher nicht Ovids Scylla-Sage, sondern vielmehr das lat. Epyllion ‚Ciris‘ (1./4. Jh.) ansehen, das inhaltliche und erzähltechnische Parallelen zur Laviniahandlung der Aeneasromane aufweist und im Mittelalter als (Jugend-)Werk Vergils galt (Hamm 2007). In der Laviniaepisode wandelt sich der epische Heros der Aen. in einen Romanhelden, der Herrschaft u n d Minne erringt. Diese Doppelung der

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Minnehandlung wird durch zahlreiche Bezüge zwischen Dido- und Laviniaepisode akzentuiert. Was Entstehung, Intensität und Auswirkungen angeht, stimmen Didos und Lavinias Liebe überein. Die Königin wie die Prinzessin leiden unter denselben körperlichen Symptomen der Minnekrankheit und geraten in den Zwiespalt zwischen individueller Zuneigung und gesellschaftlicher Verpflichtung, der in Gesprächen mit Vertrauten diskutiert und in Minnemonologen reflektiert wird. Angesichts dieser Parallelen, die Veldeke noch stärker profiliert hat, hat man die These, Veldeke habe die „unrechte“ Minne der Dido der „rechten“ Minne Lavinias gegenüberstellen wollen (Maurer 1950), vehement abgelehnt: Beider Frauen Liebe sei grenzenlos und unbedingt, lediglich die Situation, in der sie lieben, und die Reaktion des Eneas seien unterschiedlich (Schröder 1957/58). In der Tat läßt sich eher von Didos unglücklicher, weil unerwiderter und von Lavinias glücklicher, weil erfüllter Liebe sprechen. Entscheidend jedoch ist, daß mit Blick auf die welthistorische Rommission Dido wirklich die falsche, Lavinia aber die richtige Frau für Eneas ist. Mit der Doppelung der Minnehandlung geht die Neukonfiguration heroischer Männlichkeit einher. Der Romanheld wird – im Unterschied zu seinem epischen Pendant – in der Laviniahandlung selbst von der Minne erfaßt, unterliegt ihrer Macht, reflektiert über seine Gefühle und vermag zu begreifen, warum Dido maßlos liebte. Die gegenseitige Liebe erlaubt es Eneas wie Lavinia, in ihren Liebesmonologen die Minne als positive Macht anzuerkennen. Mit der Verbindung von Liebe u n d Ritterschaft sind die Voraussetzungen für die ‚Geburt‘ eines neuen Helden geschaffen (Petit 1985). Mit der Ausgestaltung der Laviniahandlung führen die mittelalterlichen Dichter die Handlung zu einem neuen Abschluß. Die Aen. endet mit dem alles entscheidenden Sieg des Aeneas im Zweikampf gegen Turnus. Alles Weitere war in den großen historischen ‚Durchblicken‘ der Aen. angedeutet worden und dem Publikum Vergils als eigene, römische Vergangenheit wohlvertraut. Wenn die mittelalterlichen Bearbeiter über den Zweikampf hinaus ‚weitererzählen‘, so wollten sie nicht ein vermeintlich f e h le n d e s Ende der Aen. ergänzen. Sie wollten vielmehr ein a n d e r e s Ende, das die Erzählung im ordo naturalis zum Abschluß bringt und die Biographie des Helden vervollständigt. Über Eneas’ Sieg beim Zweikampf (RdE 9813f.; ER 12606) hinaus berichten die Romandichter in rund 340 (RdE) bzw. 820 (ER) Versen von der glanzvollen Hochzeit in Laurentum, von der Krönung und glücklichen Herrschaft, von der Gründung Alba Longas und von der Geburt des Silvius, mit der die trojanisch-latinische Herrscherlinie, die bis Caesar bzw.

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Augustus reicht, ihren Anfang nimmt. Dieses ‚Weitererzählen‘ entspricht, was seinen Umfang betrifft, den Usancen der lat. Aen.-Adaptationen (Hamm 2007). Wie das ‚Excidium Troie‘ verlagern die Romandichter Teile der epischen ‚Heldenschau‘ in ein ‚Geschlechterregister‘ am Romanende: Die prophetisch-proleptische Figurenrede in der Unterwelt wandelt sich in einen historisch-genealogischen Ausblick des extradiegetischen Erzählers. Das ‚Weitererzählen‘ der Romane verweist auf eine gängige Praxis. Die narratio der Aeneasromane mündet hierbei in das große Hoffest von Laurentum, das den Abschied von der kriegerischen Vergangenheit und die Öffnung hin zur künftigen trojanisch-latinischen Friedensherrschaft markiert. Veldekes Festbeschreibung, die mit über 500 Versen (ER 12745– 13252) weit über seine frz. Vorlage hinausgeht (RdE 10091–10130), ist (nach ‚Rolandslied‘ und ‚König Rother‘) die erste große Festschilderung der dt. höfischen Erzähldichtung, die für nachfolgende Romandichter vorbildlich wurde. Wenn er die Inszenierung höfischer vreude mit dem Mainzer Hoftag von 1184 vergleicht (‚zweite Stauferpartie‘, ER 13221– 13252), so hat man hierin wiederum staufische Panegyrik erkannt (Frings/ Schieb 1949a; Dittrich 1966; Wenzelburger 1974). Festzuhalten ist, daß Veldeke (als selbsterklärter Augenzeuge des Mainzer Hoffestes) an den Schluß seiner Erzählung ein Friedensfest stellt, das als Gründungsfest des römischen Reichs und zugleich als kulturelles Aition für die höfische Mode des Festes (und seiner literarischen Beschreibung!) im 12. Jh. angesehen werden kann. Zum ‚neu und anders Erzählen‘ der Unterweltfahrt Die bisherigen Beobachtungen lassen sich mit Blick auf eine Passage zusammenfassen, in der das ‚neu und anders Erzählen‘ der Aeneasromane besonders deutlich zutage tritt. Die Jenseitsfahrt des Eneas ist ein in sich geschlossener Erzählabschnitt (RdE 2261–3020; ER 2687–3740), der auf der sog. ‚Katabasis‘ im sechsten Buch der Aen. fußt (Dittrich 1966; Wenzelburger 1974; Fromm 1996; Masse 2006; Hamm 2007). Daß der Held die mythischen Räume des Hades durchwandert, findet außerhalb der Aen. keine Beglaubigung: Das epische Requisit der Katabasis galt dem Mittelalter weithin als figmentum poeticum, als poetische Erfindung Vergils, die mit der geglaubten Historizität des Aeneasstoffes unvereinbar schien und bisweilen als poetische Lüge abqualifiziert wurde. Um so bemerkenswerter, daß die Aeneasromane ausführlich von seiner Unterweltfahrt erzählen.

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Einerseits folgen die Romandichter hierbei weitgehend dem Handlungsverlauf der Aen., orientieren sich an der Topographie der antiken Unterwelt und übernehmen teilweise auch ihr mythologisches Inventar. Andererseits justieren sie das Sinngefüge einzelner Passagen neu (wie der Begegnung mit Dido oder der ‚Heldenschau‘), übergehen pagane Elemente (wie Opferszenen und rituelle Gebete) und Exkurse (wie die Seelenwanderungslehre, die Veldeke ausspart) und weiten andere Abschnitte (wie die Beschreibung der Straforte) signifikant aus. Es ist gerade die jenseits der historischen materia liegende Unterweltfahrt, die zum Gegenstand eines weitreichenden Um- und Neuformens wird. Dieses mit der älteren Forschung als interpretatio christiana zu beschreiben (Dittrich 1966), greift zu kurz. Zwar ergeben sich aufgrund der Omnipräsenz christlicher Jenseitsvorstellungen fast zwangsläufig Synkretismen, doch insgesamt besehen wandelt sich der mythologische Hades eben nicht zur christlichen Hölle (Fromm 1996; Masse 2006). Erzählt wird vielmehr von einer spektakulären Anderwelt, die zwischen paganen und christlichen Vorstellungen oszilliert und deren Durchqueren eine entscheidende Station auf dem Weg des Romanhelden darstellt. Eneas betritt einen jenseitigen Raum, der geradezu dazu geschaffen ist, von ihm sinnlich wahrgenommen zu werden, ihn in seinen Bann zu ziehen und sich seiner zu bemächtigen. Das Durchwandern der Unterweltareale gibt den Blick auf ihre merkwürdigen Bewohner frei, auf Geschöpfe einer unbekannten Welt, die nach Erläuterung verlangen. Eneas ist ein Fremdkörper in dieser Anderwelt, und er fühlt sich auch so. Mit der uralt-häßlichen Sibylle steht ihm indes eine kundige Führerin zur Seite, die ihn auf einer ihm unbekannten Route geleitet und seine Wahrnehmungen erläutert. Das narrative Grundmuster, über das sich die Unterwelt erschließt, lautet: Eneas nimmt wahr, Sibylle erklärt. In Aen. und RdE ist es zu Beginn der auktoriale Erzähler, der den jenseitigen Raum ausleuchtet und in gelehrten Kommentaren, mit gleichsam ethnographischem Interesse und mit deutlich markierter Distanz sein Interieur erläutert. Im weiteren Verlauf tritt dieser extradiegetische Erzähler in den Hintergrund. Mehr und mehr wird die Unterwelt aus der Wahrnehmungsperspektive des Helden vergegenwärtigt: Aen. und RdE lassen das auktoriale Erzählen in ein fokales Erzählen übergehen, dessen Schlußund Höhepunkt die ‚Heldenschau‘ im Elysium ist. Veldeke geht demgegenüber eigene Wege. Schon zu Beginn der Unterweltfahrt suspendiert er die Stimme des frz. Erzählers und erzählt aus der Figurenperspektive des Eneas. Auf der Ebene der erzählten Handlung wird damit die (von Veldeke besonders akzentuierte) Angst des Helden nachvollziehbar, die zu

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überwinden eine veritable Bewährungsprobe darstellt. Auf der Ebene des Erzählens entlastet der fokale Modus den extradiegetischen Erzähler bis zu einem gewissen Grad von der Verantwortung, über eine mythische Anderwelt jenseits historischer Glaubwürdigkeit zu berichten. Vor allem aber knüpft Veldeke an das christliche Erzählen vom Jenseits an, das im 12. Jh. eine Blüte erlebte (zum folgenden Hamm 2007). In der weitverbreiteten ‚Visio Tnugdali‘ (um 1150) etwa wandert die Seele des Ritters Tnugdals unter Führung eines Engels durch das Jenseits, wird beim Eintritt in neue jenseitige Areale von furchteinflößenden Sinneseindrükken überwältigt und wendet sich an den angelus interpres mit der Bitte um Erläuterung. Schon im ‚Sente Servas‘ (V. 5579–5841) hatte Veldeke den Bericht über die Höllenfahrt eines unbußfertigen Ritters deutlich solchen Jenseitsberichten angeglichen. Dies gilt zumal für den narrativen Modus: Das fok a l e E r z ä hl e n vom Jenseits, das den ‚Sente Servas‘ und auch den ER kennzeichnet, entspricht den christlichen Berichten, die per definitionem nichts anderes als die Sinneswahrnehmung des Jenseitsreisenden wiedergeben. Veldeke verfolgt insofern ein Erzählkonzept, das in Aen. und RdE partiell vorgebildet war und, da es seinem Publikum aus den zeitgenössischen Jenseitsberichten vertraut war, sich zur Vermittlung einer fremdartig-mythologischen materia anbot. Darüber hinaus macht das ‚neu und anders Erzählen‘ im ER die Semantik des jenseitigen Raums sichtbar. In der antiken und jüdisch-christlichen Tradition gliedert sich die Unterwelt in voneinander abgegrenzte Teilbereiche: Der jenseitige Raum ist nach einem verborgenen Bauplan in Areale aufgeteilt, die jeweils eine bestimmte ‚Straffunktion‘ erfüllen und denen die Seelen gemäß ihrer irdischen Vergehen zugewiesen sind. An den Nahtstellen dieses jenseitigen Flickenteppichs trifft man auf natürliche oder bauliche Hindernisse, die den Übergang in einen neuen Raumabschnitt verwehren. Diese stellen nicht nur topographische Grenzen, sondern vielmehr Schwellen dar, an denen die verborgenen Gesetzmäßigkeiten des anderweltlichen ‚Straf-Raums‘ sichtbar werden und die Legitimation der Jenseitsfahrer auf die Probe gestellt wird. Gerade diese Schwellen werden in literarischen und bildlichen Darstellungen durch descriptiones markiert. Die Romandichter nutzen das Mittel der descriptio, um den solchermaßen semantisierten ‚Bauplan‘ der Unterwelt sichtbar zu machen (Henkel 2005; Masse 2006). Schon der frz. Autor beschreibt ausführlicher als Vergil den furchteinflößenden Fährmann Charon, der den Zugang zum Totenreich bewacht, und das vielköpfige Untier Cerberus, das vor dem Eingang zur eigentlichen Hölle liegt. Veldeke übernimmt diese dilatationes materiae und markiert seinerseits eine dritte Schwelle: Am Eingang zur Unterwelt,

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an der helle invart (ER 2917) trifft der dt. Romanheld auf die Sibylle, deren anderweltliche Häßlichkeit (in Anlehnung an Ovid) in einer fokalisierten Beschreibung vergegenwärtigt wird (2717–2744). Veldeke hat die drei Schwellen-descriptiones so umgestaltet, daß sie die zunehmenden Schrecken der Unterweltfahrt als Klimax abbilden, von der überzeichneten, aber noch menschlichen Häßlichkeit der Sibylle über die kaum mehr anthropomorphe Gestalt Charons (3012: ein tiufel, niht ein man) bis zum Untier Cerberus (3221: des tivels galle). Konnte Eneas sich mit Sibylle noch verständigen, so ist eine Kommunikation mit Charon nur noch eingeschränkt, mit Cerberus schließlich gar nicht mehr möglich. Menschliche Sprache und menschlicher Intellekt versagen, je tiefer Eneas hinabsteigt. Übrig bleiben seine verängstigenden Wahrnehmungen, und damit ändert sich die Funktion des jenseitigen Raums: Aus dem ‚Straf-Raum‘ der Seelen wird der ‚Bewährungs-Raum‘ des Auserwählten. Nach seiner Rückkehr aus der Unterwelt ist Eneas ein anderer: Aus dem „Herzog ohne Land“ (Kasten 1988), der in eine ungewisse Zukunft aufbrach, ist der selbstgewisse künftige Landesherrscher und prädestinierte Stammvater der Römer geworden, der nunmehr in das verheißene Italien gelangt und seine Ansprüche auf die Herrschaft geltend macht. Die Unterwelt der Romane ist zudem ein ‚Zeit-Raum‘, der eigenen Gesetzen folgt. Das Erzählen von der Unterwelt in der Aen. und in den Aeneasromanen kennzeichnet sich durch Sprünge im Zeitkontinuum, die das lineare Erzählen durchbrechen, sich auf vorangegangene und nachfolgende Ereignisse beziehen und zugleich den Blick auf eine historische Zukunft jenseits der erzählten Zeit des Epos freigeben. Bei der Begegnung mit einstigen Weggefährten wird der Held mit seiner leidvollen Vergangenheit konfrontiert, von der er sich im weiteren Fortschreiten löst, bis er letztlich, im Elysium, seiner eigenen Zukunft begegnet. Die Unterweltfahrt ist schon bei Vergil eine Aen. in nuce, eine Zeitreise des Helden durch einen anderweltlichen Raum, in dem Vergangenheit und Zukunft aneinanderrücken. Die Eneasdichter übernehmen dies weitgehend, vermindern jedoch die Frequenz der epischen Pro- und Analepsen und schränken ihre Reichweite ein. Dies gilt zumal für die Heldenschau, den Höhepunkt der Unterweltfahrt. Die Heldenschau der Aen. ist ein „Panegyrikus auf die Hauptträger der römischen Geschichte, deren glänzende Ereignisse am Leser apokalyptisch vorüberziehen“ (Norden 1957). Vergil gibt hier den Blick auf die ‚epische Zukunft‘ frei, mit der Roms Geschichte beginnt, und etabliert so die teleologische, ‚nationalrömische‘ Geschichtsperspektive seiner Aen. Dieses zweistufige Erzählen von der Vergangenheit (Suerbaum 1999) wird

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in den mittelalterlichen Romanen aufgegeben. Die Romandichter sparen nahezu alle historischen Ausblicke auf die Anfänge und Blüte Roms aus. Dies gilt zumal für die Heldenschau: Im RdE (2933–2968) wird sie erheblich verkürzt und unter das Signum der Genealogie gestellt (2880 u. ö.: ligniee). Das Resultat ist die Skizze eines bedeutenden Herrscherhauses, das auf Eneas zurückgeht und bis Augustus reicht (Blask 1984). Die Herrschergenealogie wird am Romanende durch ein ‚zweites Geschlechterregister‘ (RdE 10131–10156) ergänzt, das vor allem die Städtegründung thematisiert: Troja steht am Anfang, Rom am Ende des RdE. Veldeke orientiert sich an seiner frz. Vorlage, baut jedoch nach eigenem Plan (Frings/Schieb 1949a; Dittrich 1966). Die Heldenschau reicht nurmehr bis Romulus (ER 3638–3690) und ist damit in ihrer Reichweite erheblich reduziert. Wird damit dem Anchises nur noch ein eingeschränktes Wissen um die Zukunft zugestanden, so vermag es der extradiegetische Erzähler, im ‚zweiten Geschlechterregister‘ (13307–13428) die Dynastie des Eneas bis Kaiser Augustus weiterzuführen, in dessen Regierungszeit sich die Geburt und Passion Christi ereignet habe. Wenn die UnterweltProphetie damit abschließend in ihrer historischen Erfüllung vergegenwärtigt wird und der Blick sich auf die Heilsgeschichte öffnet, so läßt sich hieraus keine heilsgeschichtliche Gesamtdeutung des ER ableiten (Dittrich 1966): Die abschließende Synchronisierung von Welt- und Heilsgeschichte entspricht vielmehr einem historiographischen Muster (Frings/Schieb 1949a; vgl. ‚Kaiserchronik‘, ‚Annolied‘), das auch in Bearbeitungen der Aen. wie dem ‚Excidium Troie‘ angewandt wurde (Hamm 2007). Veldekes Neugestaltung des Romanendes ist insofern nicht außergewöhnlich.

3.6 Ausblick (von Joachim Hamm und Marie-Sophie Masse) Bis ins ausgehende Mittelalter erfuhr der RdE im deutschsprachigen Gebiet keine weitere Adaptation. Veldekes Dichtung blieb bis zum Ende des Mittelalters der einzige Aeneasroman in dt. Sprache, dem erst 1515 die Aen.-Übersetzung des elsässischen Humanisten Thomas Murner nachfolgte. Gleichwohl trifft es nicht zu, daß der ER seinerseits „niemals neu bearbeitet oder durch eine neuere Version ersetzt“ worden sei (so Kartschoke 2002, S. 883). In der Heidelberger Hs. h ist Veldekes Roman auf den Handlungsrahmen von Vergils Epos verkürzt und somit, zumindest vom äußerlichen Umfang des Erzählens, eine Art dt. ‚Aeneis‘. Die

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Wiener Kurzfassung in der Hs. w macht bis zu einem gewissen Grade die romanhafte Adaptation Veldekes rückgängig, indem sie den Focus auf die historische summa facti richtet. Wenn auch eine originäre literarische Neuformung des Aeneasstoffes ausblieb, so gab es durchaus nicht nur den e i n e n Aeneasroman des dt. Mittelalters. [Manuskriptabschluß (Teil A, Kap. 3): April 2010]

Literaturverzeichnis 1) Textausgaben Lateinische Texte: [Aen. = Vergil, ‚Aeneis‘] Publius Vergilius Maro, Aeneis. Lateinisch-Deutsch, (in Zusammenarbeit mit Maria Götte) hg. u. übers. v. Johannes Götte (mit einem Nachwort v. Bernhard Kytzler), München/Zürich 71988. Compendium Historiae Troianae-Romanae, hg. v. Henry Simonsfeld, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 11 (1886), S. 241–251. [‚Excidium Troie‘] Excidium Troiae, hg. v. Elmar Bagby Atwood u. Virgil K. Whitaker, Cambridge, Mass. 1944. Excidium Troie, hg. v. Alan Keith Bate, Frankfurt a. M. 1986. [Simon, ‚Ylias‘] La Version Parisienne du Poême de Simon Chêvre d’Or sur la Guerre de Troie (Ms. Lat. 8430), hg. v. André Boutemy, in: Scriptorium 1 (1946), S. 268–288. The ‚Ylias‘ of Simon Aurea Capra, hg. v. Martha Parrot, (Diss. masch.) Toronto 1975. Romanische Texte: [RdE = ‚Roman d’Enéas‘] Enéas. Roman du XIIe siècle [Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. XLI, cod. 44], hg. v. Jean-Jacques Salverda de Grave, 2 Bde., Paris 1925/29; Bd. I: V. 1–5998 (CFMA 44) [Nachdr. Paris 1997]; Bd II: V. 5999–10156 (CFMA 62) [Nachdr. Paris 2000]. (Zit.) Enéas [Hs. Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. XLI, cod. 44], hg. v. Jacques Salverda de Grave, Halle a. d. S. 1891. Le Roman d’Enéas [Hs. B.N. ms. fr. 60], hg. u. übers. v. Aimé Petit (Lettres gothiques), Paris 1997. Le Roman d’Enéas, [nach der ersten Ausg. v. Jean-Jacques Salverda de Grave] übers. v. Monica Schöler-Beinhauer (KTRMA 9), München 1972. Le Roman d’Enéas, [nach der zweiten Ausg. v. Jean-Jacques Salverda de Grave] übers. v. Martine Thiry-Stassin (TCFMA 33), Paris 1985.

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Germanische Texte: [ER = Heinrich von Veldeke, ‚Eneasroman‘] Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift, hg., übers. u. komm. v. Hans Fromm, mit den Miniaturen der Handschrift u. einem Aufsatz v. Dorothea u. Peter Diemer (Bibliothek des Mittelalters 4), Frankfurt am Main 1992. (Zit.) Heinrich von Veldeke, [Eneasroman] hg. v. Ludwig Ettmüller, Leipzig 1852. Heinrichs von Veldeke Eneide, hg. v. Otto Behaghel, Heilbronn 1882 [Nachdr. Hildesheim 1970]. Henric van Veldeken, Eneide, 3 Bde., Berlin 1964–70; Bd. I (1964): Einleitung. Text (DTM 58), hg. v. Gabriele Schieb u. Theodor Frings; Bd. II (1965): Gabriele Schieb (unter Mitwirkung v. Theodor Frings), Untersuchungen (DTM 59); Bd. III (1970): Gabriele Schieb (mit Günter Kramer u. Elisabeth Mager), Wörterbuch (DTM 62). Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, (nach dem Text v. Ludwig Ettmüller) hg., übers. u. komm. v. Dieter Kartschoke (RUB 8303), Stuttgart 22002 [11986]. Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Farbmikrofiche-Edition der Hs. Heidelberg, UB, cpg 403, (mit einer Einführung) hg. v. Hans Fromm, München 1987. Heinrich von Veldeke, Eneas-Roman. Vollfaksimile des mgf 282 der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Einführung u. kodikologische Beschreibung v. Nikolaus Henkel, kunsthistorischer Kommentar v. Andreas Fingernagel, 2 Bde., Wiesbaden 1992. Heinrich von Veldeke, Eneas-Roman. Farbmikrofiche-Edition der Hs. Wien, ÖNB, Cod. 2861 – Einführung u. Beschreibung der Handschrift v. Marcus Schröter, München 2000. Heinrich von Veldeke, Eneasroman (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, mgf 282), Wiesbaden 2003 [CD-ROM]. Heinric van Veldeken, Sente Servas, hg. u. übers. v. Jan Goossens, Rita Schlusemann u. Norbert Voorwinden (BIMILI 3), Münster 2008.

2) Forschungsliteratur Arnulf 2004: Arwed Arnulf, Architektur- und Kunstbeschreibungen von der Antike bis zum 16. Jahrhundert, München u. Berlin 2004. Bastert 1994: Bernd Bastert, dô si der lantgrâve nam. Zur ‚Klever Hochzeit‘ und der Genese des ‚Eneas-Romans‘, in: ZfdA 123 (1994), S. 253–273. Baswell 1995: Christopher Baswell, Virgil in Medieval England. Figuring the ‚Aeneid‘ from the Twelfth Century to Chaucer, Cambridge 1995. Behaghel 1882: Heinrichs von Veldeke Eneide, hg. v. Otto Behaghel (s.o. unter Textausgaben). Bezner 2005: Frank Bezner, Zwischen ‚Sinnlosigkeit‘ und ‚Sinnhaftigkeit‘. Figurationen der Retextualisierung in der mittellateinischen Literatur, in: Bumke/Peters (Hgg.) 2005, S. 205–237. Bezzola 1947: Reto R. Bezzola, Le sens de l’aventure et de l’amour, Paris 1947.

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Einleitung: der altfranzösische Trojaroman

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4 Trojaromane 4.1 Einleitung: der afrz. Trojaroman – 4.2 Die mhd. Trojaromane – 4.3 Die mnl. Trojaromane

4.1 Einleitung: der altfranzösische Trojaroman von Ricarda Bauschke Der Trojastoff im Hochmittelalter – Benoît de Ste-Maure, ‚Roman de Troie‘: Benoît und die dynastische Gebrauchssituation seines Textes – Inhalt – Höfisierung und amplificatio

Der Trojastoff im Hochmittelalter Der Untergang Trojas spielt für das mittelalterliche Geschichtsbild eine zentrale Rolle, weil er sich in die Denkvorstellung der translatio imperii einpaßt. Definieren sich die deutschen Stämme und in ihrer Tradition die deutschen Könige und Kaiser als legitime Nachfahren des zerfallenen Römischen Reiches, so wird dessen Gründung durch den Stammvater Eneas nur möglich, weil dieser aus dem untergehenden Troja flieht und nach seiner Irrfahrt in Latium eine neue Herrschaft begründet (Worstbrock 1963). Diesen genealogischen Bogen schlägt in deutscher Sprache dezidiert Heinrich von Veldeke, der den Fall Ilions damit als Teil der deutschen Reichsgeschichte für ein höfisches Publikum aufbereitet. Die Vermittlung des Themas von der Spätantike bis in das Mittelalter hinein verantworten die beiden lateinischen Versionen zweier fiktiver Augenzeugenberichte: die ‚Ephemeris belli Troiani‘ des Dictys Cretensis, dessen progriechische Parteinahme sich in antitrojanischer Polemik äußert, nach Kriegsende aber ebenso in eine implizite Kritik an den Siegern umschlägt, wenn das desolate Schicksal der Griechen entfaltet wird, sowie die ‚Acta diurna belli Troiani‘ des Dares Phrygius, der angeblich tagsüber am Kriegsgeschehen teilnimmt und nachts seine Erlebnisse aufzeichnet bzw. niederschreiben läßt. Dares gehört der trojanischen Seite an, so daß seine positive Sicht auf die Phrygier nicht verwundern muß; allerdings stellt er auch die Griechen

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Trojaromane

freundlicher dar, mithin erscheinen in seiner Aufbereitung griechisches und trojanisches Heer als gleichberechtigte Gegner (Merkle 1990). Die ‚Acta diurna‘ fungieren für die beiden hochmittelalterlichen Bearbeitungen des Stoffes durch den Anglonormannen Benoît de Ste-Maure (s.u.) bzw. den Hessen Herbort von Fritzlar (s.u.) als Hauptquelle bzw. zentraler Bezugspunkt, lediglich für das sich nach der Einnahme Trojas vollziehende grausame Ende der griechischen Kämpfer folgen beide Dichter Dictys (bzw. Herbort folgt Benoît), weil Dares diese Ereignisse nicht berichtet – und als Phrygier auch gar nicht berichten kann, so daß die Leerstelle hier die Augenzeugenfiktion stützt. Die Kenntnis weiterer Trojatexte ist, insbesondere für Herbort (s.u.), nicht auszuschließen, so etwa in bezug auf die ‚Ilias latina‘ des Baebius Italicus oder die Kurzfassung des Trojanischen Krieges durch den späteren Kanoniker von St. Viktor, Simon Aurea Capra. Fabeln des Hyginus, in den ‚Metamorphosen‘ des Ovid benutzte Einzelmotive und die ‚Achilleis‘ des Statius kommen als Detailquellen für das ‚Liet von Troye‘ ebenfalls in Betracht (Worstbrock 1963). All dies zeigt die Präsenz des trojanischen Themas in der lateinisch-gelehrten Tradition, von wo aus es seinen Weg in die höfische Dichtung nimmt. Der Stoff garantiert durch seinen (im Sinne der translatio imperii ) ‚geschichtlichen‘ Kern historische Wahrheit und erleichtert damit seine Transposition in die Volkssprache, während auf der anderen Seite der chronologische Abstand ebenso einen dichterischen Spielraum eröffnet wie der Umstand, daß die Mitglieder der höfisch-laikalen Gesellschaft, die als Primärpublikum anvisiert sind, nicht überprüfen können, inwiefern tatsächlich der Quelle treu gefolgt wird. Gerade an dieser Schnittstelle von Historizität und romanhaftem Erzählen liegt das Potential für den ästhetischen Mehrwert von volkssprachigen Versionen des trojanischen Krieges (zu dem in der Rhetorik etablierten Erzählertyp des historicus et poeta; vgl. von Moos 1976; F. P. Knapp 1980/1997). Diesen Weg wird Konrad von Würzburg in den 1280er Jahren dann entschieden fortsetzen und dafür ganz neu mit Benoîts ‚Roman de Troie‘ und zahlreichen weiteren Quellen umgehen (s. Kap. 4.2). Benoît de Ste-Maure, ‚Roman de Troie‘: Benoît und die dynastische Gebrauchssituation seines Textes Benoît, ein hochgebildeter Kleriker, der aus dem 30 km südlich von Tours liegenden Sainte-Maure stammt, hat – vermutlich im Auftrag Heinrichs II. von Plantagenet und dessen Frau Eleanore von Aquitanien – um 1165 sei-

Einleitung: der altfranzösische Trojaroman

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nen ‚Roman de Troie‘ verfaßt und damit erstmals die Geschichte der Zerstörung Ilions aus dem gelehrt-lateinischen Idiom in das Französische übertragen. Mundartliche Besonderheiten in Benoîts Sprache verweisen einerseits auf den anglonormannischen Entstehungszusammenhang des Werkes, sichern aber zugleich die dialektale Zuordnung des Dichters zur Kirchenprovinz Tours. Vermutlich ist der Verfasser des ‚Roman de Troie‘ identisch mit einem Träger gleichen Namens, der um 1170 für den englischen Königshof eine (unvollendet bleibende) ‚Histoire des ducs de Normandie‘ herstellt: Maistre Beneeit; so jedenfalls apostrophiert ihn Wace im ‚Roman de Rou‘, V. 11482 (Beckmann 1965). Die Riche dame de riche rei („mächtige Herrin/Gemahlin eines mächtigen Königs“), die Benoît im ‚Roman de Troie‘ (V. 13468) exponiert, wird daher allgemein mit Eleanore als Gönnerin identifiziert. Ihre Person sowie ihre mutmaßlichen Kontakte zum Vermittler des Benoît-Textes nach Thüringen, dem Grafen von Leiningen (s.u.), stützen zusätzlich die These ihres Mäzenatentums (Meves 1991). Primärer Gebrauchszusammenhang und ästhetischer Anspruch des ‚Roman de Troie‘ passen in dieses Bild: Einerseits fügt sich der mit dem Trojathema verbundene historisierende Impetus in das dynastische Erzählprogramm König Heinrichs, zu dem etwa auch die Geschichte des Romflüchtlings Brutus gehört (‚Roman de Brut‘); andererseits bedient Benoît durch eine ausschmückende Erzählweise – sein Werk umfaßt über 30000 Verse – den höfischen Zeitgeschmack und führt eine umfassende Mediävalisierung durch; denn die ursprünglich antiken Figuren, Sachkultur, moralischen Handlungsmaximen sowie Minnekasuistik werden ganz an die Vorstellungswelten seiner Jetztzeit herangerückt. Damit nimmt Benoît bereits Verfahren der sog. adaptation courtoise (zum Begriff vgl. Huby 1968; Kritik durch Wolf 1977) vorweg, die in bezug auf die Artusromane zu einem großen Teil erst von den deutschen Quellenbearbeitern geleistet werden. Inhalt Die Inhaltsskizze stellt die wichtigsten Handlungselemente möglichst knapp zusammen und dient als Bezugspunkt für die späteren Referate der Bearbeitungen durch Herbort und Konrad. Bestimmte Aspekte, in denen die deutschen Aneignungen eigene Wege gehen, sind darum bereits hier profiliert, auch wenn sie im Gesamtkontext des ‚Roman de Troie‘ eine eher untergeordnete Rolle spielen:

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Trojaromane

Prolog (V. 1–140): Benoît stellt seinen ‚Roman de Troie‘ in eine lateinisch-gelehrte Tradition (Sallust, Cornelius, Dares; sieben freie Künste) und hebt durch die (zeitgenössisch geglaubte) Fiktion von Augenzeugenschaft und Kriegstagebuch die historische Dimension des Stoffes hervor. Sich selbst versteht er als Vermittler, der durch den Transfer der lateinischen Quelle in die französische Volkssprache für eine weitere Verbreitung der Trojageschichte sorgen kann; die Eigennennung erfolgt in der 3. Person (V. 132). Inhaltsangabe (V. 141–714): Der eigentlichen erzählerischen Ausgestaltung setzt Benoît ein umfangreiches Resümee der wichtigsten Handlungselemente in chronologischer Reihenfolge voran: Genealogie des Achill; Argonautenfahrt, Goldenes Vlies und Jason-Medea-Handlung; erste Zerstörung Trojas mit dem Tod Laomedons; Wiederaufbau Trojas durch Priamus; Raub der Helena durch Paris; griechisches Aufgebot und Verbündete; Achill beim Orakel in Delphi; Exponierung einzelner Zweikämpfe, Rolle Cassandras, Lob Hectors; Numerierung der Schlachten; Hector und Achill; Dreiecksgeschichte um Troilus, Briseida und Diomedes; Chambre de Beautés (s.u.); Traum der Andromache und Tod Hectors; Achill und Polixena, Klage des Troilus, Tod des Achill; Penthesilea; Palladium, Trojanisches Pferd; Exilierung des Eneas; Schicksal der besiegten Trojaner und siegreichen Griechen. Mehrere Quellenberufungen (V. 311f., 337), u.a. auf Dares (V. 538) und Dictys (V. 649), durchziehen die umfangreiche Vorschau und schließen sie ab (V. 710). Argonautenfahrt (V. 715–2078): Bei einem großen Fest überredet Peleüs (alias Pelias) Jason, das Goldene Vlies zu erwerben; mit der Entsendung in das mutmaßlich tödliche Abenteuer will er sich des Nachkommen entledigen. Jason und sein naher Verwandter Herkules stechen mit dem eigens für dieses Unternehmen von Argus erbauten Schiff in See und gelangen nach einem Zwischenhalt im trojanischen Hafen, wo Laomedon die Gastfreundschaft verweigert, nach Jaconites. Die vorbildliche Hofhaltung des Oetes (alias Aietes), die Freundlichkeit der Bewohner von Kolchis und die Schönheit der Medea beeindrucken die Argonauten. Jason und Medea entbrennen in Liebe zueinander; im Gegenzug für das Eheversprechen Jasons sagt Medea ihm ihre magische Hilfe für das anstehende Abenteuer zu. Tatsächlich gelingt es Jason aufgrund der Zauberkräfte Medeas, die vom Erzähler sehr deutlich hervorgehoben werden, das Goldene Vlies zu erwerben, was den Ärger des Oetes hervorruft. Nur mit List gelingt die Abreise. Der Erzähler mißbilligt ausdrücklich Medeas Verrat an ihren Verwandten und deutet das schreckliche Ende Jasons an. Erste Zerstörung und Wiederaufbau Trojas (V. 2079–3650): Auf Initiative des Herkules, der Castor und Pollux, Telamon, Peleus und Nestor rekrutiert, überfallen die Griechen Troja, um sich an Laomedon zu rächen. Herkules kann als Heerführer vom Überraschungseffekt profitieren, so daß im ersten Trojanischen Krieg zwar erbittert gekämpft wird, sich der Sieg der Griechen aber schnell entscheidet. Die Kampfhandlungen werden exemplarisch in Einzelkämpfen entfaltet und gipfeln in der Zerstörung der Stadt, dem Niedermetzeln der trauernden Trojaner einschließlich der Tötung Laomedons durch Herkules sowie der panischen Flucht von Frauen und Kindern. Im Zuge der Plünderung wird Hesione geraubt und verkebst, so daß der Grundstein für den zweiten, eigentlichen Trojanischen Krieg gelegt ist. Priamus, Sohn des Laomedon, übernimmt die Herrschaft und wird vorgestellt mit seiner Ehefrau Hecuba, den Söhnen Hector, Paris, Deiphobus, Helenus, Troilus, den Töchtern Andromache, Cassandra, Polixena sowie 30 Kebskindern. Nach Trauerzeit und Fasten beginnt die Rekonstruktion der Stadt Troja, die um so schöner neu entsteht, wobei der Erzähler ausführlich Befestigungsanlagen und Innenausstattung des fürstlichen Palastes schildert. Priamus sucht Vergeltung,

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ist allerdings zu einem Friedensschluß unter der Voraussetzung bereit, daß die Griechen Hesione wieder herausgeben. Der als Botschafter gesandte Antenor spricht in parallel gebauten Szenen bei Peleus, Telamon, Castor und Pollux sowie Nestor vor, muß aber, von den Griechen verhöhnt und geschmäht, unverrichteter Dinge nach Troja zurückkehren. Raub der Helena (V. 3651–5092): Zornig über Antenors Bericht berät sich Priamus mit Verwandten und Gefolgsleuten und beruft in einem zweiten Schritt den Kronrat ein. Hector warnt vor der Übermacht der Griechen und rät von einem Racheschlag ab, wogegen Paris für die Vergeltung plädiert und seine Siegesgewißheit mit der zugesagten Unterstützung der Venus begründet. Seine Argumentation fußt essentiell auf der Begegnung mit den Göttinnen und dem ‚Parisurteil‘, das er ausführlich referiert. Obwohl die mit Seherkräften ausgestatteten Nachkommen des Priamus, Helenus und Cassandra, Krieg und Untergang Trojas prophezeien und sich nachdrücklich gegen die Entsendung des Paris aussprechen, entschließt sich Priamus zum Racheschlag, was der Erzähler als Ignoranz bewertet; die Verantwortung am Untergang Trojas schreibt er gleichwohl Fortuna zu. In Begleitung von Eneas und Polidamas sowie aus Panonien rekrutierten Rittern sticht Paris in See. Im Venustempel auf Citherea kommt es zur Begegnung zwischen Paris und Helena, der Frau des Griechen Menelaus und Schwester von Castor und Pollux; beide verlieben sich ineinander. Paris plant und realisiert den Überfall des Tempels, raubt die Schätze und Helena, die kaum Widerstand leistet. Wegen einer Windstille kehren die Seefahrer in Tenedon ein und schicken einen Boten zu Priamus, der über den gelungenen Schlag hocherfreut ist und den Heimkehrern entgegenreitet. Der Trauer Helenas begegnet Paris mit Liebeserklärungen und Versprechungen, Priamus mit Tröstungsversuchen, bis sich Helena in ihr Schicksal ergibt. Paris und Helena heiraten, Helena wird von allen Trojanern geliebt und geehrt. Daran ändert auch Cassandras Fluch nichts, vielmehr wird die Seherin von Priamus dafür weggesperrt. Der Bericht vom Einzug Helenas in Troja ist durchsetzt von mehreren Perspektivwechseln, welche die gleichzeitigen Ereignisse auf griechischer Seite einblenden. Dort verbreitet sich die Nachricht von der Tempelplünderung und dem Raub Helenas; der traurige und zornige Menelaus sucht Hilfe bei seinem Bruder Agamemnon, der ihn tröstet und Unterstützung zusagt. Die griechischen Fürsten (Patroklus, Achill, Diomedes, Eurialus, Telepolus u.a.) verbünden sich und ernennen Agamemnon zum Heerführer. Castor und Pollux geraten auf der Suche nach ihrer Schwester in einen Meersturm und gelten seitdem als verschollen. Porträts der Protagonisten, Schilderung der Aufgebote, Vorbereitungen (V. 5093–6956): Die Vorstellung der Krieger beginnt bei den griechischen Helden, die in der Reihenfolge ihrer Bedeutung aufgelistet und dabei durchaus anhand individualisierender Merkmale unterschieden werden; so tritt etwa Achills Schönheit hervor (V. 5157ff.), Diomedes wird kritisiert, Nestor als zornig, Polidarius als fett und schwermütig beschrieben. Die launenhafte Briseida wird bereits hier der griechischen Seite zugerechnet. Auch die Trojaner werden in eine hierarchisierende Abfolge gebracht, wobei Hector als allen überlegener Kämpfer – auch im Vergleich zum Katalog der Griechen – erzählerisch am meisten Raum erhält. Weitere Figuren, die quantitiv und qualitativ exponiert werden, sind Eneas (klein und dick, redegewandt, klug, rothaarig) sowie Polixena in ihrer besonderen Schönheit. Es schließen sich die Aufzählungen der Schiffe und Mannschaften an, dann das Orakel in Delphi, wodurch die zehnjährige Dauer des Krieges und der griechische Sieg antizipiert werden, sowie der Verrat des Calchas. Nach der griechischen Einnahme des trojanischen Tenedons übermitteln die Boten Ulixes und

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Diomedes ein unannehmbares Friedensangebot, das für die Trojaner den Krieg unvermeidbar macht. Vor dem Beginn der ersten Schlacht stehen noch die Proviantierungsexpedition des Achill nach Mysien sowie die Aufzählung der Alliierten des Priamus. – Die sich anschließende umfangreiche Schilderung zahlreicher Schlachten bietet einen Wechsel von Kampfdarstellungen und Waffenstillständen mit einigen integrierten Liebesepisoden und Verratshandlungen (s.u.), kreist aber insgesamt um Krieg, Gemetzel, Tod in immer wieder neuen personalen Konstellationen, bis die prominenten Opfer fallen: 1. Schlacht = Landungsschlacht, 2. Schlacht, Patroklos (V. 6978–10560): Der zuerst erfolgreiche Kampf des Protesilaos endet in seinem Tod durch die Hand Hectors. Hectors Einsatz für die Trojaner entspricht die positive Wirkung von Achill für die Kampfkraft der Griechen. Für den Zeitraum der nächtlichen Waffenruhe entfaltet Benoît ein höfisches Ambiente, an dem insbesondere die Frauen ihren Anteil haben. Sie begleiten später wie bei einem Turnier die Kämpfe als Zuschauerinnen vom Pallas aus. Dem neuerlichen Beginn der Kampfhandlungen ist wieder eine Aufzählung der Helden vorgeschaltet, diesmal speziell der griechischen und trojanischen Anführer der Kohorten, wobei für die Griechen zusätzliche Informationen über Herkunft und/oder Herrschaftsgebiete geliefert werden. Die zweite Schlacht ist ganz um Hector als herausragenden Helden organisiert, der trotz vieler Wunden klaglos auf dem Schlachtfeld verbleibt. Auch Hauptkämpfer der späteren Schlachten werden hervorgehoben und so dem Publikum vertraut gemacht. Der Krieg selbst ist ein Massenereignis, vor allem wenn erstens ein Pulk von Kämpfern einzelne Helden unterstützt und weil zweitens zahlreiche Tote zu beklagen sind, er wird aber primär als Reihe von Zweikämpfen präsentiert, wobei Zorn und Rache für gefallene Gefährten unmittelbares Handlungsmovens sind (etwa bei Ulixes). Üblicherweise werden immer wieder neue Helden erzählerisch aufgebaut (z.B. Patroklos, Cassibilant, Merion), die dann nach erbittertem Kampf sterben. Durch solche ad hoc-Rollen zögert sich die Konfrontation der Hauptgegner hinaus. Die Monotonie der Schlachtdarstellung wird wenigstens z.T. aufgebrochen durch Anteile direkter Rede der Kämpfer. Das wechselnde Kampfglück schlägt sich am Ende des Tages auf Seiten der Trojaner, Hector allerdings verpaßt aufgrund seiner Begegnung mit Ajax die Chance zum Sieg und zieht seine Leute zurück. Ein Erzählerkommentar bedauert die falsche Entscheidung und verweist auf Wirken von Fortuna, Aventure usw. Während des Waffenstillstandes werden die Toten bestattet, wobei Achills Trauer um Patroklos (Motive der Freundschaft und des zu jung Verstorbenen) und die Errichtung eines Grabmales besondere Aufmerksamkeit erhalten. 3.–7. Schlacht, Gefangennahmen von Thoas und Antenor (V. 10561–13064): In der dritten Schlacht treffen erstmals Hector und Achill, dessen Zorn profiliert wird, aufeinander; ihren tödliche Kampf verhindern Diomedes und Troilus. Die Darstellung der Kampf- und Tötungshandlungen (Boëtus, Archilogus, Prothenor, Doroscalus u.a.) wechselt ab mit der Schilderung von Trauer und Wut, welche erneute Auseinandersetzungen provozieren. In der vierten Schlacht nehmen die Trojaner Thoas gefangen. Der über Menelaus siegreiche Paris wird von Eneas und Hector aus tödlicher Bedrängnis gerettet. Da parallel zum Kampfgeschehen der Erzähler immer wieder auf die zuschauenden Damen blendet, ist Paris sein Mißgeschick gerade gegenüber Helena, die alles ansieht, peinlich. Analog zu den Natureingängen, mit denen viele Schlachten ansetzen, endet die vierte Schlacht mit einem harmonisierenden Ausgang, wo die Damen die Krieger versorgen, ein gemeinsames Abendessen alle erquickt und der Beischlaf die Nachtruhe einleitet. Das höfische und amouröse Ambiente kontrastiert nicht nur die

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blutig entfalteten Kriegsgreuel (rotes Gras, abgetrennte Extremitäten usw.), sondern steht auch im Gegensatz zum Pech der Griechen, deren Zeltlager zu großen Teilen durch einen nächtlichen Sturm zerstört wird. Erzählerische Abwechslung bringt die fünfte Schlacht, denn ihr Beginn wird diesmal von griechischer Seite perspektiviert; die negative Sicht auf die Griechen offenbart deutlich die protrojanische Haltung der Erzählinstanz. Ein bogenschießender Kentaur tötet zahlreiche Griechen, denen aber dennoch die Gefangennahme Antenors gelingt. Auf die summarischen Abhandlungen der sechsten und siebten Schlacht folgt ein Waffenstillstand, um die Toten beizusetzen. Austausch der Gefangenen, Briseida, 8. Schlacht, Chambre de Beautés (V. 13065–15186): Im Zuge des Austausches der Gefangenen Thoas und Antenor fordert der zu den Griechen übergelaufene Calchas seine Tochter Briseida heraus, die von Priamus tatsächlich der Stadt verwiesen wird. Während Briseida und Troilus umeinander trauern, erklärt ihr im Lager der Griechen Diomedes sofort seine Liebe. Schönheit und Ausstattung (Kleidung, Schmuck) der Briseida werden entfaltet, zugleich aber mehrfach ihre Wankelmütigkeit genannt. In der achten Schlacht hebt Diomedes Troilus aus dem Sattel und wird selbst vom Pferd verletzt; Briseida ziert sich noch, ist dem Griechen aber schon gewogen. Der zornige Wortwechsel zwischen Hector und Achill während der Waffenruhe setzt sich tatkräftig in der Schlacht fort. Hector wird nahezu tödlich im Gesicht verletzt. In der sich anschließenden sechsmonatigen Waffenruhe pflegen ihn Helena und Polixena, in ihren Schönheiten als nahezu gleichrangig apostrophiert, in der Chambre de Beautés, dem auf über 300 Versen ausführlich beschriebenen Liebesgemach von Paris und Helena. Briseida ermutigt den liebeskranken Diomedes zum Minnedienst. 9. und 10. Schlacht, Tod des Hector (V. 15187–16858): Das Resumee der neunten Schlacht dient der Vorausdeutung auf das sich vollziehende tragische Schicksal der Trojaner, beginnend mit dem Tod Hectors. Aufgrund eines prophetischen Traums seiner Frau Andromache bleibt Hector der zehnten Schlacht zunächst fern, greift jedoch ein, als die Griechen sein Fernbleiben zu einem verheerenden Gegenschlag nutzen. Der durch Hectors Wüten mobilisierte Achill tötet ihn nach erbittertem Zweikampf; die Trojaner sind durch den Tod ihres Anführers entmutigt. Hectors Leichnam wird einbalsamiert und beweint; die Frauen erkennen die Wahrheit der Prophetien von Helenus und Cassandra. Das Grabmal Hectors wird ausführlich beschrieben. Agamemnon würdigt die Leistung Achills. 11.–13. Schlacht, Achill und Polixena (V. 16859–19954): Palamedes löst Agamemnon als Heerführer ab, was Achill verärgert. Priamus nimmt an der elften Schlacht selbst teil und verhindert damit massive trojanische Verluste. Die Griechen verstärken ihr Heer, befestigen ihr Lager, Agamemnon sichert die Proviantierung. Als die Trojaner den ersten Jahrestag von Hectors Tod feierlich begehen, erblickt Achill Polixena und verliebt sich unsterblich in sie; die Schilderung entspricht zeitgenössischer Minnekasuistik. Um die trojanische Königstochter zur Frau zu erhalten, verspricht Achill in einer Botschaft an Hecuba Frieden und Abzug der Griechen und bleibt, als die Gefährten sich nicht zum Kriegsabbruch überreden lassen, den folgenden Kämpfen fern. In der zwölften Schlacht kommt es auf beiden Seiten zu schweren Verlusten, Agamemnon wird nach dem Tod des Palamedes als Heerführer restituiert. Selbst nachdem die Trojaner die griechischen Schiffe in Brand setzen, verweigert Achill die Kampfhilfe. Die dreizehnte Schlacht findet unter erschwerten Wetterbedingungen (anhaltender Regen) statt. Eine griechische Delegation und einzelne Helden (Ulixes, Nestor, Diomedes u.a.) versuchen Achill umzustimmen und erwägen, als dies erfolglos bleibt, den Abzug, werden aber von Calchas abgehalten.

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14. und 15. Schlacht, Briseida (V. 19955–20264): In der vierzehnten Schlacht vollbringt Troilus große Heldentaten, indem er – als Rache für den Tod seiner Brüder – 1200 Gegner niedermetzelt; in der fünfzehnten Schlacht verwundet er Diomedes und Agamemnon. Aufgrund der schweren Verletzung des Diomedes wird sich Briseida seiner Liebe zu ihm bewußt. Der Erzähler kritisiert ihre Untreue gegenüber Troilus vernichtend; auch Briseida selbst klagt sich wegen ihrer Wankelmütigkeit an. 16.–19. Schlacht, Achills Wiedereintritt in den Kampf, Tod des Troilus (V. 20265–21837): Durch die besondere Leistung des Troilus werden in der sechzehnten Schlacht die Griechen besiegt. Achill, der weiterhin der Schlacht fernbleibt, sendet ersatzweise seine Mirmidonen, die aber fallen. Troilus wird in der Chambre de Beautés gepflegt. Da Amor noch immer Achill dominiert, kämpft der Pelide auch in der siebzehnten Schlacht nicht. Die Darstellung der besonders grausamen achtzehnten Schlacht ist voller blutiger Details. Achill greift auf Bitten seiner eigenen Leute wieder ein und metzelt mit den wenigen verbliebenen Mirmidonen unzählige Trojaner nieder, wird aber vom siegreichen Troilus verletzt. Hecuba und Priamus versagen Achill Polixena, weil er sich wortbrüchig doch in den Kampf begeben hat; beide Liebende sind unglücklich über den Verlauf. Achill tötet in der neunzehnten Schlacht Troilus, dessen Leichnam er schleift, was der Erzähler ausdrücklich als unmoralisch verurteilt. Memnon, der den Körper des Troilus befreit, wird ebenfalls von Achill getötet und zerstückelt. Hecuba und die anderen Damen trauern. Verrat und Ermordung Achills (V. 21838–22598): In nahezu tödlicher Trauer hetzt Hecuba Paris zum Verrat an Achill auf. Von der Aussicht, Polixena doch noch zur Frau zu bekommen, geblendet, gerät Achill im Apollo-Tempel in einen Hinterhalt und wird zusammen mit Antilogus von Paris zerstückelt. Die Griechen trauern um Achill und errichten ihm ein Grabmal. Das Leid von Achills Mutter wird ebenso geschildert wie Nestors Kummer, der seinen Sohn Antilogus in der Heimat bestattet. Da die Griechen wissen, daß Achill für den Sieg unerläßlich ist, entsenden sie eine Delegation zu Achills Sohn Pyrrhus, um ihn für den Krieg zu rekrutieren. 20.–23. Schlacht, Tod des Paris, Penthesilea, Pyrrhus (V. 22599–24396): Nach dem Tod seiner Brüder übernimmt Paris die Heerführung und wird in der zwanzigsten Schlacht von Ajax zerstückelt; seine Leute bauen ihm ein Grabmal. Die Trojaner sind grundsätzlich decouragiert, Helena übernimmt in Selbstanklage die moralische Verantwortung. Indem sich alle in der Stadt verbarrikadieren, wird Troja uneinnehmbar. Ein Orientexkurs leitet über zu generellen Informationen über das Volk der Amazonen, deren Herrscherin mit ihrem Frauenheer den Trojanern zu Hilfe eilt. Penthesilea fügt in der einundzwanzigsten Schlacht den Griechen große Verluste zu und profitiert dabei vor allem von deren Irritation, gegen weibliche Krieger antreten zu müssen. Die Ankunft von Achills Sohn Pyrrhus stärkt die Zuversicht der Griechen; unter seiner Führung erlangen die Mirmidonen in der zweiundzwanzigsten Schlacht neue Stärke. Die grausamen Details der Kriegsgreuel (abgeschlagene Gliedmaßen, herausquellende Organe, im Blut watende Pferde) werden immer deutlicher profiliert und gipfeln in der dreiundzwanzigsten Schlacht, wo Pyrrhus Penthesilea zerstückelt. Verrat des Eneas, Trojanisches Pferd, Untergang Trojas (V. 24397–26240): Der Erzähler verweist auf Dictys als (zweite) Quelle für den Schlußteil. Eine Gruppe von Verrätern um Antenor und Eneas rät Priamus zu Kapitulation und Auslieferung Helenas. Priamus’ Gegenverrat und Attentatsplan auf Eneas und Antenor mißlingen wegen ihrer großen Machtposition. Obwohl der resignierte Priamus Frieden anbietet und mit den Griechen Gespräche führt, bei denen Antenor als Bote fungiert, kommt es

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nicht zu einer Einigung. Die Griechen fordern Reparationszahlungen, die Trojaner wollen das Palladium behalten, welches Ulixes und Diomedes mit Unterstützung von Eneas und Antenor rauben. Die Griechen suggerieren ihre Abreise und hinterlassen ein großes Holzpferd, in dem Kämpfer versteckt sind; die Trojaner fallen auf die List herein, holen das ‚Trojanische Pferd‘ in die Stadt und ermöglichen damit das Eindringen der Griechen, die Troja plündern. In der Nacht setzt ein großes Morden an, von dem auch Frauen und Kinder nicht verschont bleiben. Pyrrhus tötet Priamus, die trojanischen Infantinnen werden zur Kriegsbeute. Menelaus führt Helena mit sich fort. Schicksal der Griechen (V. 26241–30300): Nach einem Dankgottesdienst teilen die Griechen die Frauen unter sich auf: der verliebte Agamemnon erhält Cassandra, Pyrrhus nimmt Andromache. Ein Seesturm verhindert die Abreise der Griechen, erst der Tod Polixenas auf Achills Grab besänftigt das Meer. Hecuba wird über den Tod ihrer Tochter wahnsinnig, läuft Amok und wird zu Tode gesteinigt. Im Streit um das Palladium treten insbesondere Diomedes und Ulixes als Anspruchsnehmer hervor, Ajax fällt in diesem Konflikt einem Meuchelmord zum Opfer, Diomedes gewinnt das Palladium. Antenor und Eneas gehen ins Exil. – In über 3000 Versen berichtet Benoît anschließend vom weiteren unseligen Schicksal der Griechen, denen der Sieg kein Glück bringt: Ajax erleidet Schiffbruch; Nauplus rächt den Tod seines Sohnes Palamedes an Diomedes und Ulixes; Diomedes kann sich erst nach einer Exilierung mit seiner eifersüchtigen Frau versöhnen, die ihm Briseida verübelt; Agamemnon wird von seiner Frau Clytemnestra und ihrem Geliebten Aegistus getötet; Orest rächt seinen Vater Agamemnon, indem er die Mutter und deren Liebhaber umbringt; Ulixes wird auf eine Irrfahrt mit zahlreichen Stationen geschickt, wobei er mit der Nymphe Circe unwissend einen Sohn zeugt; Pyrrhus gerät in familiäre Konflikte und wird später von Orest getötet, woraufhin Achills Mutter Thetis die schwangere Andromache rettet; Ulixes wird von seinem Sohn Telegonus getötet. Die einzig positive Perspektive ist, daß die beiden Söhne der Andromache, Laudamanta (von Hector) und Achillides (von Pyrrhus), friedlich zusammenleben und damit in der nächsten Generation eine griechisch-trojanische Versöhnung vollziehen. Epilog (V. 30301–30316): In vergleichsweise knapper Formulierung liefert der Epilog Anweisungen für die Verbreitung des Werkes und antizipiert dessen potentielle Wirkung.

Höfisierung und amplificatio Benoît folgt weitestgehend dem Ablauf der Handlung, wie Dares ihn schildert, und er ergänzt für den letzten Teil, der das Schicksal der Griechen skizziert, die durch Dictys gelieferten Informationen. Die Vorlagenkontamination bzw. deren Wechsel wird durch den Erzähler erwähnt und begründet. Gegenüber seinen lateinischen Quellen nimmt Benoît zahlreiche rhetorische Ausschmückungen und Erweiterungen vor; die obige summarische Zusammenfassung läßt Benoîts amplifizierende Bearbeitungstendenz, die sich durch zahlreiche extrapolationes auszeichnet, kaum erahnen. Dies betrifft zum einen die Figuren: Sie werden in ihrer äußeren Erschei-

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nung geschildert, in ihren politisch-dynastischen Verflechtungen situiert, in ihren ethischen Qualitäten und Defiziten beschrieben und dadurch auch voneinander unterscheidbar gemacht. Durch die Perspektivierung von Innenleben, ganz deutlich etwa in den Treuekonflikten der Helena und der Briseida oder in der Minnekrankheit des Achill, plausibilisiert sich ihr (nunmehr nachvollziehbares) Handeln. Benoît gestaltet eine Vielzahl zusätzlicher Figurenreden, als 1. Abfolge von Monologen, z.B. bei den Totenklagen der Hecuba, wo klimaktische Parallelen die mütterliche Verzweiflung über den Verlust fast aller Kinder profilieren, als 2. strukturierend gesetzte Reden der Heerführer, durch die der Beginn neuer Schlachten markiert wird, und 3. als Dialoge wie Kampfreden, Beratungen, Verrat, Liebesgeplänkel usw.; letzteres nimmt scheinbar die Erzähllast von der Berichtsinstanz und lockert die Gestaltung stilistisch auf. Zum anderen betrifft das Prinzip der dilatatio materiae die darstellerische Entfaltung höfischer Repräsentation (etwa das Fest des Peleüs oder die Hofhaltung auf Kolchis) sowie die descriptiones von Orten und Sachkultur (Städte, Schiff des Argus, Grabmäler); insbesondere das Liebesgemach, die Chambre de Beautés, gerät zum Paradestück rhetorischen Könnens, wo in die ausgefeilte Beschreibung kleinster Details metaphorische Bedeutungen eingewoben sind. Benoîts amplificationes gegenüber den ‚Acta diurna‘ des Dares korrespondieren mit den Verfahren höfisierender Aneignung französischer Erzähltexte, wie sie deutsche Autoren um 1200 praktizieren. An die Erzählweise des höfischen Romans rückt der ‚Roman de Troie‘ nicht allein durch die zahlreichen Beispiele für dilatatio materiae heran, sondern auch aufgrund motivischer und diskursiver Anklänge. Die antiken Helden werden mehrfach als „Ritter“ im Sinne eines ethischen Tugendprädikates bezeichnet (z.B. Benoît, ‚Roman de Troie‘, V. 968: chevalier), ihre Ausstattung und Kampftechniken entsprechen höfisch-literarisch etablierten Vorstellungen von Ritterschaft. Die Darstellung der Geschlechterbeziehungen erfolgt unter den Vorzeichen höfischer Minne (vgl. etwa das Motiv der Fernliebe in bezug auf Jason und Medea bzw. das der Liebeskrankheit bei Achill und Polixena), die Kleidung der Damen (z.B. Briseida) bedient die modischen Erwartungen der Zeit Benoîts. Auch die Angleichung von Herrschaftsformen (etwa die Einberufung eines consilium mit Verwandten und Freunden) bietet Identifikationspotential für die Zuhörer. All dies entspricht der im Mittelalter üblichen Mediävalisierung antiker Stoffe (Lienert 2001). – Hinzu kommen literarische Annäherungen, welche vermutlich auf Hörgewohnheiten der Rezipienten zielen. So wird in zahlreichen Bildern die Schönheit der Natur geschildert, wie dies in der

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zeitgenössischen Lyrik der Trobadors und Trouvères üblich ist; im Falle des ‚Roman de Troie‘ fungieren die Tableaus allerdings als Kontrastfolien für die Grausamkeiten des Kampfes. Auffällig ist die Disharmonie insbesondere dort, wo ein Natureingang oder das Alba-Motiv benutzt werden, um unmittelbar auf die Kriegshandlungen zu blenden. Das Pendant hierzu bilden die Fälle, wo auf die blutigen Kämpfe am Abend höfische Unterhaltung und Erfrischung durch die Gesellschaft der Damen folgen, wodurch zwar höfisches Ambiente geschaffen, zugleich aber der Krieg (ungewollt?) verharmlost wird. Zu solch einer partiellen Nivellierung der Kriegsgreuel kommt es auch dann, wenn die Damen auf exponierten Schauplätzen des Pallas’ dem Geschehen wie einem Turnier folgen und die Trojaner nicht in erster Linie ihre Stadt retten, sondern bei den Freundinnen Eindruck machen wollen. Anders als später bei Herbort bleibt diese Diskrepanz im ‚Roman de Troie‘ ohne ironische Brechung und zeigt wider Willen, wie die Verknüpfung von historischen Fakten mit einem höfisierenden Erzählanspruch an ihre Grenzen geraten kann.

4.2 Die mittelhochdeutschen Trojaromane von Ricarda Bauschke 4.2.1 Herbort von Fritzlar: ‚Liet von Troye‘ – 4.2.2 Konrad von Würzburg: ‚Trojanerkrieg‘

4.2.1 Herbort von Fritzlar: ‚Liet von Troye‘ Entstehung, Überlieferung und Quellenlage – Inhalt – Stoffliche und rhetorische brevitas – Darstellungstendenzen und Neuakzentuierungen

Entstehung, Überlieferung und Quellenlage Im Auftrag des Landgrafen Hermann von Thüringen überträgt der hessische Kleriker Herbort von Fritzlar (‚Liet von Troye‘, V. 18451: ein gelarter schulere) die über 30000 Verse von Benoîts ‚Roman de Troie‘ ins Deutsche. Die Bearbeitung der französischen Vorlage steht im Kontext des auch an anderer Stelle erkennbaren Interesses Hermanns an historischen und antiken Themen (Peters 1981); die einzige vollständige handschriftliche Überlieferung im Heidelberger Codex cpg 368 (datiert auf 1333 in Würz-

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burg) tradiert das ‚Liet von Troye‘ im Verbund mit Veldekes f ‚Eneasroman‘ (Teil A, Kap. 3.3) und weist es damit als dessen Vorgeschichte aus. Der Fund von Fragmenten, die weitere Handschriften repräsentieren und heute in Berlin, Schweden und Tschechien aufbewahrt werden, belegt die schon frühe Koexistenz zweier unterschiedlicher Fassungen des Werkes (Bumke 1990 u. 1991; Boková/Bok/Gärtner 1996) und spricht für ein zeitgenössisch nachhaltiges Rezeptionsinteresse (dagegen Lienert 2001). Neben seinem Gönner Hermann nennt Herbort an prominenter Stelle im Prolog den Grafen von Leiningen als Vermittler der altfranzösischen Quelle; Friedrich I. von Leiningen nimmt damit eine Schlüsselrolle zwischen Benoîts Gönnerin Eleanore, die er nach der Befreiung Richards Löwenherz nach England begleitet, und dem thüringischen Hof ein (Meves 1991). Die Fassung des ‚Roman de Troie‘, die Herbort als Vorlage gedient hat, entspricht mutmaßlich der Version des Werkes, die das Pariser Manuskript A2 (Bibliothèque de l’Arsenal, Hs. 3342) bereitstellt (Menhardt 1928/40). Anders als im Rahmen der von seinen Dichterkollegen praktizierten adaptation courtoise üblich, vermehrt Herbort jedoch seine Version des Trojanischen Krieges nicht, sondern kürzt das umfangreiche Werk auf 18458 Verse herunter. Ein entsprechendes brevitas-Programm, das sein Vorgehen rechtfertigen soll, entfaltet er bereits im Prolog. Als Entstehungszeitraum für das ‚Liet von Troye‘ kommt die lange Regierungsspanne von Landgraf Hermann I. (1190–1217) in Frage. Ältere Positionen plädieren im Sinne einer Aufwertungsstrategie des ‚Liet von Troye‘ für die Frühdatierung (vgl. z.B. Huschenbett 1990); das an Herborts literarischer Umsetzung zu erkennende Erzählkalkül, den zeitgenössischen höfischen Diskurs in seiner Begrenztheit zu entlarven (so zuerst Fromm 1993), setzt allerdings eine bereits erfolgte Habitualisierung höfischer Erzählverfahren sowie souveräne Umgangsmöglichkeiten mit ihnen voraus, und all dies läßt die jüngst favorisierte Spätdatierung des ‚Liet von Troye‘ plausibel erscheinen (Mertens 1992; Bauschke 2003 u. 2014). Inhalt Die Inhaltsskizze von Herborts ‚Liet von Troye‘ erfolgt im Vergleich zu der oben bereits ausführlich referierten Vorlage, dem ‚Roman de Troie‘ des Benoît, und beschränkt sich darum im wesentlichen auf die Unterschiede zur Quelle. Neben einigen inhaltlichen Abweichungen (s.u.) liegt der Hauptunterschied in der bereits erwähnten Verknappung:

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Prolog (V. 1–98): Herbort, der sich seine Selbstnennung für den Epilog aufspart, inszeniert eine klerikale Erzählerinstanz, die sich wie im ‚Roman de Troie‘ in eine gelehrthistorische Trojatradition stellt und auf die Augenzeugenschaft des Dares setzt. Die französische Vorlage wird explizit erwähnt. Herbort selbst benutzt in ironischer Überdrehung das Bild vom ‚fünften Rad am Wagen‘, um einerseits seine Abhängigkeit von verschiedenen stofflichen Vorgängern zu betonen und andererseits programmatisch einen Sonderweg anzukündigen, der ihm gewisse darstellerische Freiheiten zwischen höfisierenden Erzählkonventionen in der Volkssprache und einerseits historisierender bzw. andererseits rhetorisch-lateinischer Darstellungspraxis einräumt (Bauschke 2014). Haupttenor ist dabei die Ankündigung von brevitas. Die Verantwortung für seinen Sonderweg teilt er unter sich, dem Quellenvermittler und seinem Gönner auf. Das Kürzungsvorhaben setzt Herbort von Beginn an um: Auf Benoîts große Inhaltsangabe, die als Scharnier zwischen Prolog und eigentlicher Erzählung fungiert, verzichtet er ersatzlos. Argonautenfahrt (V. 99–1232): Anders als im ‚Roman de Troie‘, wo Peleüs seinen Neffen zur Argonautenfahrt überredet, erklären sich Jason und Herkules von selbst bereit, das Abenteuer des Goldenen Vlieses zu wagen. Die fehlende Gastfreundschaft des trojanischen Königs Laomedon bleibt weitestgehend unproblematisch, Herkules Racheschwur wirkt daher mutwillig. Mit Hilfe von Medeas’ Zauberkräften ist Jason auf Kolchis erfolgreich und löst sein Eheversprechen ein, indem er Medea mit nach Hause nimmt, wo er triumphal eintrifft. Da die Erzählung danach direkt auf Herkules blendet, wie dieser für seine Rache an Troja Helfer rekrutiert, tilgt Herbort den Ausblick auf das tragische Ende von Jason; die höfisch-vorbildliche Dimension, welche der Argonautenfahrt im ‚Liet von Troye‘ innewohnt, wird damit durchgehalten und in keiner Weise relativiert. Erste Zerstörung und Wiederaufbau Trojas (V. 1233–2163): Durch einen geschickten Zweifrontenkampf können Herkules und seine Krieger die Trojaner in einer Schlacht besiegen, Herkules tötet Laomedon im Zweikampf. Die Stadt wird bis auf die Grundmauern zerstört, Hesione geraubt. Die Griechen ziehen mit reicher Beute ab. Laomedons Sohn Priamus läßt Troja wieder aufbauen; anstelle von Andromache wird Creusa als weitere Tochter des Königs genannt. Den Wunsch nach Vergeltung und die mehrstufige Botenrolle des Antenor schildert auch Herbort, anders als bei Benoît warnt aber Hector nicht vor der griechischen Kampfkraft, sondern rät aktiv zur Aufrüstung. Raub der Helena (V. 2164–2888): Der Bericht des Paris über seine Begegnung mit den drei Göttinnen und über seinen Urteilsspruch führt zu seiner Entsendung nach Griechenland in Begleitung von Deiphobus, Polidamas, Antenor und Eneas, um Helena zu rauben, was auf Citherea gelingt. Die prophetischen Warnungen von Helenus, Panthus und Cassandra werden dabei ignoriert. Obwohl Helena und Paris schon beim ersten Anblick in Liebe zueinander entbrennen, reagiert Helena mit tiefer Trauer auf den Verlust der Verwandten und Freunde, ist aber (gerade im Vergleich zum ‚Roman de Troie‘) besonders schnell getröstet, was auch der Erzähler ironisch feststellt. Während die Trojaner Helena mit großer Freude aufnehmen, beruft Menelaus einen Rat ein und bewirkt eine Solidarisierung der Griechen und ihre Bereitschaft zum Krieg; sein Bruder Agamemnon wird Heerführer. Castor und Pollux gehen bei dem überstürzten Versuch, ihrer Schwester Helena schnell nach Troja zu folgen, mit ihren Schiffen unter. Portraits der Protagonisten, Schilderung der Aufgebote, Vorbereitungen (V. 2889–4174): Die den Kampfhandlungen vorangestellte Präsentation der Protagonisten bietet Herbort wie Benoît, wobei er die selben differenzierenden Merkmale der

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Helden erwähnt (Jähzorn des Nestor, Fettsucht und Melancholie des Polydarius usw.); bei Achill ergänzt er Schönheit und Kampfgrimm durch die Information, die Waffen seien von Vulcanus geschmiedet (s.u.). Auch Herbort rechnet Briseis zu den Griechen. Das Vorstellungsprinzip setzt sich für die Trojaner fort, wobei Creusa neu hinzukommt. Es folgen die Aufzählung der Heerführer und Schiffe, das für die Griechen positive Orakel von Delphi und der Verrat des Calchas, schließlich die Eroberung von Tenedon durch die Griechen, der Streit des Priamus mit den Boten Diomedes und Ulixes, wobei hier die Rückforderung der Hesione für die Griechen die Kriegsentscheidung festigt. Achills Raubzug zur Proviantierung und ein Katalog der Verbündeten des Priamus leiten zu den eigentlichen Schlachten des Trojanischen Krieges über. – Herbort folgt dem durch Benoît (und Dares) vorgegebenen Handlungsablauf mit Wechseln von Schlachten und Waffenstillständen, in welche die Verrats- und Liebeshandlungen eingeschoben sind; er verkürzt aber die Anzahl der Schlachten gegenüber Benoît von 23 auf 19. Wie der ‚Roman de Troie‘ bietet das ‚Liet von Troye‘ eine sich hochschaukelnde Schilderung von Gewalt und Leid, denen immer prominentere Helden zum Opfer fallen: 1. Schlacht = Landungsschlacht, 2. Schlacht, Patroclus (V. 4175–6226): Die erste Schlacht perspektiviert vor allem die griechischen Versuche, mit ihren Schiffen in Troja anzulanden, sowie die trojanische Gegenwehr. Obwohl das Kampfglück sich zugunsten der Phrygier wendet, als Hector in die Schlacht eintritt und Protiselaus tötet, können die Trojaner nicht verhindern, daß die Griechen am Strand von Ilion ihr Lager aufbauen. Der zweiten Schlacht ist eine ausführliche Schilderung vorangestellt, mit der die Bewaffnung der Trojaner und insbesondere Hector, seine Ausstattung und seine Kampfstrategie gewürdigt werden. Dies bereitet den Zweikampf Hectors mit Patroclus vor, dessen Leichnam von Hector auch noch geschleift wird. Bereits für die Landungsschlacht fällt der grausame und schonungslose Berichtstil Herborts auf; in der zweiten Schlacht, die aus Duellen und Massenkämpfen besteht, setzt sich die ‚realistische‘ Diktion fort und erhält ihr rhetorisch-strukturelles Pendant: Das Kriegsleid wird numerisch zählbar gemacht (z.B. ‚Liet von Troye‘, V. 5524f.: funffalt waz daz leit e / sehsvalt wart ez do) und gipfelt, weil dem Erzähler die Zahlen ausgehen, in der Mannigfaltigkeit (Diebel 1921; Fromm 1993; Schmid 1998). Die Situation gerät ins Absurde durch den Kontrast von Kriegsgreuel einerseits und Schaulust der trojanischen Frauen andererseits, die dem Kampfgeschehen von den Zinnen aus folgen und am Abend den nach Hector tapfersten Ritter küren wollen und darüber in Streit ausbrechen, während sie sich in höfischem Ambiente um die Wunden der Krieger kümmern. Anders als im ‚Roman de Troie‘ tritt im ‚Liet von Troye‘ hier deutlich ein ironischer und insbesondere kriegskritischer Tenor hervor (Bauschke 2014). Ein Waffenstillstand ermöglicht die Bestattung der Toten und exponiert auch die Trauer Achills um Patroclus. Den verpaßten trojanischen Sieg, den Benoît ins Spiel bringt, kennt Herbort nicht. 3.–6. Schlacht, Gefangennahmen von Thoas und Antenor (V. 6227–8132): Die dritte Schlacht bringt auch bei Herbort die erste Begegnung von Hector und Achill, deren Kampf beinahe tödlich ausgegangen wäre und in leichtem Vorteil für Hector endet. Auch Helenas Ehemänner, Menelaus und Paris, sowie die späteren Rivalen um Briseis, Troilus und Diomedes, liefern sich Zweikämpfe. Am Abend sitzen die Belagerer lachend und scherzend beim Essen und Trinken. In der vierten Schlacht kämpfen die prominenten Helden Hector, Eneas, Polidamas, Antenor, Troilus, Paris, Deiphobus, Memnon in variierenden Konstellationen gegen die berühmten Krieger Agamemnon, Menelaus, Ulixes, Ajax, Achill. Schwertkämpfe und Tjosten wechseln einander ab, bis die Trojaner Thoas gefangen nehmen. In dem dadurch neu erwachten Kampfeifer

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schlägt Menelaus Paris bewußtlos, während Helena von der Zinne aus zusieht. Dem angenehmen Tagesausklang mit einem höfischen Mahl bei den Trojanern steht auch im ‚Liet von Troye‘ die Zerstörung des griechischen Lagers durch einen nächtlichen Sturm gegenüber. In die fünfte Schlacht fügt Herbort einen Exkurs über die sieben freien Künste ein. Die Schilderung des Kampfgeschehens findet Abwechslung durch den Auftritt des Kentauren mit Pfeil und Bogen; die Griechen nehmen Antenor gefangen. Auf die summarische Schilderung der sechsten Schlacht folgt ein nur kurzer Waffenstillstand, weil Hector dem Ausbruch einer Hungersnot verbeugen will. Austausch der Gefangenen, Briseis, 7. Schlacht, Chambre de Beautés (V. 8133–9527): Die Gefangenen Thoas und Antenor werden ausgetauscht. Ein zorniger Wortwechsel zwischen Hector und Achill droht in den konkreten Kampf überzugehen; Priamus und Agamemnon verwarnen sie wegen Bruchs der Waffenruhe. Calchas fordert seine Tochter Briseis, die Troilus auf Geheiß des Priamus zu den Griechen schickt; sie trägt ein wunderbares Kleid und ist auch sonst von besonderer Schönheit. Den gegenseitigen Treueschwur von Troilus und Briseis kommentiert der Erzähler mit einem Exkurs über die Unstetigkeit der Frauen; das Liebesbekenntnis des Diomedes weist Briseis jedoch entschieden zurück. In der siebten Schlacht hält Briseis (anders als bei Benoît in der achten Schlacht) treu an Troilus fest und erfreut sich am kriegerischen Mißgeschick des unterlegenen Diomedes. Hectors schwere Verwundung wird in der Chambre de Beautés behandelt (vgl. Bauschke 2008); Herbort widmet der descriptio des ursprünglichen Liebesgemaches von Paris und Helena immerhin noch 170 Verse, damit aber trotzdem nur noch rund die Hälfte des Umfangs, den Benoît der Beschreibung einräumt. Briseis verweigert sich standhaft der Werbung des liebeskranken Diomedes, läßt aber zu, daß er als Zeichen seines Minnedienstes ihren Ärmel an den Schaft seiner Lanze heftet. 8. und 9. Schlacht, Tod des Hector (V. 9528–10830): Das Resumee der achten Schlacht liefert ein mechanisiertes Bild vom Krieg als tödlichem Tagewerk der Kämpfenden. Aufgrund der prophetischen Träume von Priamus und Andromache bleibt Hector sehr widerwillig zuerst der zehnten Schlacht fern; diesem Ergebnis gehen verbale Auseinandersetzungen von Andromache, Priamus und Hector in allen denkbaren Konstellationen voran. Als die Trojaner vor den übermächtigen Griechen fliehen, greift Hector doch in den Krieg ein und wird, nach einem Zweikampf „wie zwischen Löwe und Bär“, von Achill zu Boden geworfen und zu Tode geschlagen und getreten. Anstelle einer Siegesrede stimmt Achill dann allerdings zu einem großen Nachruf an, der die Einzigartigkeit des gefallenen Hector würdigt. Die Aufbahrung von Hectors Leichnam, Trauer und Klage seiner Angehörigen, Grabmal und feierliche Bestattung werden ausführlich geschildert. 10. und 11. Schlacht (V. 10831–12344): Achill ist verärgert, weil Palimedes Agamemnon als Heerführer ablöst. Priamus kämpft heldenhaft in der zehnten Schlacht und spornt seine Mitstreiter an, Hector zu rächen. Agamemnon proviantiert die Griechen. Immer mehr erzählerische Aufmerksamkeit gilt den Leichenbestattungen. Die Minnehandlung zwischen Achill und Polyxena folgt dem Entwurf von Benoît: Liebesbeginn im Rahmen der Trauerfeier zum ersten Todestag Hectors, Handel zwischen Achill und Hecuba mit Hilfe eines Boten, Forderung des Kriegsendes. Da sich die Griechen nicht zum Abzug bewegen lassen, sondern Achill der Feigheit bezichtigen, bleibt der Pelide, um Polyxena zu erlangen, der elften Schlacht fern. Dies führt zu massiven Verlusten; Paris gelingt es sogar, einige Schiffe in Brand zu setzen. Agamemnon übernimmt nach dem Tod des Palimedes erneut die Heerführung. Als die griechische Delegation Achill

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aufsucht, um ihn zur Rückkehr in den Kampf zu bewegen, vergleicht der Erzähler die Liebe zu Polyxena mit Zahnschmerzen, die Achills Verhalten beeinträchtigen. Den Abzug, zu dem sich die Griechen entschließen, weil Achill unerbittlich an seinem persönlichen Waffenstillstand festhält, verhindert allein Calchas, der an das Orakel von Delphi erinnert. 12. Schlacht, Briseis (V. 12345–12614): In der zwölften Schlacht verhindert nur der Einbruch der Dunkelheit den Sieg der Trojaner. Der Zweikampf zwischen Troilus und Diomedes, der am folgenden Kampftag stattfindet, ist als Minnestreit um Briseis inszeniert. Die schwere Verwundung des Griechen, die Troilus ihm beifügt, motiviert Briseis zu einem Liebesgeständnis; dies und Briseis’ Krankenpflege bewirken die schnelle Genesung des Diomedes. 13.–15. Schlacht, Achills Wiedereintritt in den Kampf, Tod des Troilus (V. 12615–13306): Wieder stehen die Trojaner kurz vor dem Sieg, weil Achill auch in der dreizehnten Schlacht nicht mitkämpft; lediglich Ajax verhindert den Untergang der Griechen. Der Großteil der von Achill ersatzweise geschickten Mirmidonen wird erschlagen. Die Trojaner versorgen die Wunden des Troilus. Als in der vierzehnten Schlacht die Trojaner die Griechen bis in deren Zeltlager zurückdrängen, gerät Achill in einen Zorn, der ihn Polyxena vergessen läßt; er tritt wieder in den Kampf ein und wird von Troilus stark verwundet. Polyxena ist betrübt, als sie davon erfährt, und übermittelt Achill eine Botschaft, in der er ihre Liebe erkennt. Dadurch entfaltet die minne in Achill eine positive Kraft und bewirkt seine schnelle Genesung. Ein distanzierender Erzählerkommentar formuliert Unverständnis darüber, wie jemand eine Frau lieben kann und gleichzeitig ihren Bruder erschlagen will. Die Tötung des Troilus gelingt Achill in der fünfzehnten Schlacht. Als Memnon eingreift, weil Achill den Leichnam des Troilus schleift, wird auch Memnon von Achill getötet. Laut Erzählerbemerkung liegen auf dem Schlachtfeld so viele Tote, daß die Kämpfer kaum noch reiten können. Verrat und Ermordung Achills (V. 13307–13872): Wie bei Benoît zettelt auch im ‚Liet von Troye‘ Hecuba den Verrat an Achill an, der in Erwartung, Polyxena zur Frau zu bekommen, nahezu unbewaffnet nachts im Grabmal Hectors mit seinem Begleiter Antilochus in eine tödliche Falle gerät. Paris, der die Untat nur widerwillig ausführt, wird entstellend im Gesicht verletzt. Der Erzähler kritisiert den Verrat an Achill als feigen Mord. Nach der Bestattung des zerstückelten Achill suchen die Griechen auf Geheiß der Götter nach Achills Sohn Pyrrhus, damit er in den Krieg eintritt. 16.–19. Schlacht, Tod des Paris, Penthesilea, Pyrrhus (13873–14982): Die Tötung des Paris durch Ajax in der sechzehnten Schlacht inszeniert Herbort antithetisch, und zwar als Tod eines Schönlings zur schönen Jahreszeit; Frühlingsmotivik und Kriegsgreuel werden kontrastiv gegeneinander montiert. Die Trojaner ziehen sich klagend in die Stadt zurück, welche die Griechen massiv belagern. Helenas Selbstanklage gipfelt in Todeswunsch und Ohnmacht. Im Pallastempel wird Paris beigesetzt. Den Orientexkurs, der zur Beschreibung des Amazonenvolkes überleitet und Penthesileas Eingreifen vorbereitet, beurteilt der Erzähler als überflüssig; daß er ihn doch aus dem ‚Roman de Troie‘ übernimmt, begründet er mit Quellentreue und dichterischem Verantwortungsbewußtsein in bezug auf Vollständigkeit. In der siebzehnten Schlacht erzielt Penthesilea mit ihrem Frauenheer große Erfolge: die Griechen müssen die Belagerung aufgeben und zu ihren Schiffen fliehen. Mit der Ankunft und Tatkraft des Pyrrhus kehrt in der achtzehnten Schlacht das Kriegsglück zu den Griechen zurück; der Erzähler berichtet von einem bis zum Hals stehenden Blutbad, in dem Hirn und Mark schwimmen. Als Pyrrhus Pen-

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thesilea in der neunzehnten Schlacht tötet, stürzt dies ihr Amazonenheer und die Trojaner in Verzweiflung; die Griechen nehmen die Belagerung der Stadt wieder auf. Der Erzähler begrüßt den Tod der Kriegerkönigin mit misogynen Argumenten; ihre Leiche wird in den Fluß geworfen, damit sie die Hunde fressen können. Verrat des Eneas, Palladium, Trojanisches Pferd, Untergang Trojas (V. 14983– 16307): Eneas und Antenor ziehen sich den Ärger des Priamus zu, weil sie die Auslieferung Helenas fordern. Der daraus entstehende Attentatsplan des Priamus scheitert, da Eneas rechtzeitig davon erfährt. Daß nunmehr Antenor und Eneas den Verrat der Trojaner an die Griechen betreiben, rechtfertigt der Erzähler damit, daß diese notwendig ihr eigenes Leben schützen müßten. Da Antenor als Unterhändler zu den Griechen geschickt wird, kann er den Verrat unmittelbar vollziehen: Er wartet nicht erst das griechische Friedensangebot ab, sondern übermittelt gleich seinen Plan; auch in den Folgeverhandlungen motiviert er die Griechen zu immensen Reparationsforderungen. Durch einen Betrug des Antenor gelingt es zudem, Ulixes das Palladium zu überbringen; das Standbild wertet der Erzähler ausdrücklich als Teufelswerk. Auch Herbort referiert die List vom Trojanischen Pferd: Scheinabreise der Griechen, Einholung des Pferdes in die Stadt, Eroberung und Plünderung Ilions durch die Rückkehrer. Pyrrhus erschlägt Priamus, Menelaus rettet in letzter Sekunde Helena und nimmt sie mit. Schicksal der Griechen (16308–18442): Die Griechen teilen die Frauen unter sich auf. Polyxena wird auf Achills Grab erschlagen, um den sich in einem Seesturm äußernden göttlichen Zorn zu besänftigen und die Abreise der Griechen zu ermöglichen. Die darüber wahnsinnige Hecuba wird gesteinigt. Der Streit um das Palladium führt zum Meuchelmord an Ajax; Ulixes überläßt das Standbild in heimlicher Flucht Diomedes. Antenor geht ins Exil. – Das Schicksal der Griechen berichtet Herbort ähnlich wie Benoît: Zahlreiche Schiffe der heimkehrenden Griechen werden durch eine List des Pamplus zerstört. Diomedes gerät mit seiner Frau in einen Ehestreit wegen Briseis. Agamemnon wird von Egistus, dem Geliebten seiner Frau Clytemnestra getötet; sobald Orest volljährig ist, rächt er seinen Vater. Die Irrfahrt des Ulixes ergänzt Herbort gegenüber dem ‚Roman de Troie‘ mit dem Abenteuer der Sirenen. Die zahlreichen Schwierigkeiten des Pyrrhus kennt auch das ‚Liet von Troye‘ bis hin zu dessen Tötung durch Orest; das versöhnliche Schicksal der Söhne Andromaches spart Herbort jedoch aus. Ulixes fällt durch die Hand seines Sohnes Telegonos. Der Bericht vom Schicksal der Griechen gliedert sich nicht in auf die einzelnen Figuren konzentrierte Abschnitte, sondern folgt der mutmaßlichen Chronologie, so daß die jeweiligen Viten ineinander verschränkt erzählt werden. Integriert ist in dieses dadurch recht unübersichtliche Referat auch die Abfahrt des Eneas nach Italien; von einem weiterreichenden Bericht dispensiert sich Herbort hier mit dem Hinweis auf die bereits durch Heinrich von Veldeke in seinem ‚Eneasroman‘ erbrachte Erzählleistung. Epilog (V. 18443–18458): Herbort signiert das Werk mit seinem Namen und erwähnt seine klerikale Bildung. Mit einem Bescheidenheitstopos beansprucht er einen Platz in der Dichterschar. An der erbrachten Information über den Trojanischen Krieg und seine Folgen hebt er vor allem die vielen Todesfälle hervor.

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Stoffliche und rhetorische brevitas Während Benoît in seiner Bearbeitung der Quellen von Dares bzw. Dictys eine höfisierende dilatatio materiae betreibt, wählt Herbort genau die andere Option, die bereits in der antiken Rhetorik als Form der aemulatio vorgeschlagen wird, nämlich die brevitas. Diese Entscheidung korrespondiert einerseits mit dem Horazischen aptum; denn in christlicher Perspektive verdient der stets problematisch bleibende, da genuin heidnische Gegenstand des Trojanischen Krieges nur eine knappe Darstellung. Auf der anderen Seite geht Herbort damit einen Sonderweg im Vergleich zu anderen deutschen Aneignungen französischer Erzählwerke, und mit dieser Entscheidung bezieht er zugleich Position in der zeitgenössischen literarischen Praxis. In der konkreten Umsetzung ergibt sich damit für das ‚Liet von Troye‘, daß Herbort sowohl dem ‚Roman de Troie‘ folgt und auch verschiedene Verfahren der sog. adaptation courtoise (wie Profilierung der Erzählerfigur, prägnante Segmentierungen, Plausibilisierung von Figurenverhalten usw.) übernimmt bzw. metatextuell auf die literarisch habitualisierten Aneignungskonventionen reagiert (Bauschke 2014), er jedoch andererseits rhetorische Mittel benutzt und sogar thematisch macht, die aus der gelehrt-lateinischen Tradition stammen (Fromm 1993) und die über einen historiographischen Impetus offenbar die ‚Wahrheit‘ des Erzählten profilieren sollen (Herberichs 2010). Dies betrifft insbesondere die numerische Durchstrukturierung der Schlachten (zuerst Diebel 1921), aber auch asyndetische Reihungen, Parallelkonstruktionen, rhetorische Fragetechniken u.a. (Fromm 1993); meist sind dies wiederum zugleich konstituierende Elemente einer abbreviatorischen Erzählpraxis (Schmid 1997). Der klerikale Hintergrund Herborts macht sich ebenso im Detail bemerkbar, etwa wenn Herbort grundsätzlich Eigennamen lateinisch flektiert (Worstbrock 1963), wie auch in bezug auf die weiteren Quellen, die er heranzieht. So kennt er nachweislich die verknappende lateinische ‚Ilias‘Redaktion des Simon Aurea Capra (Fromm 1993; Bauschke 2014), die ihm als Stilvorbild der brevitas dient und aus der er zugleich inhaltliche Anregungen übernimmt. Eine um 1150 entstandene lateinische Dares-Versifikation, die sog. ‚Anonymi Historia Troyana Daretis Frigii‘ (Stohlmann 1968), scheint Herbort zu einigen Gedanken seiner Prologargumentation angeregt zu haben (Bauschke 2014). Als weitere Nebenquellen kommen Ovid (‚Metamorphosen‘, ‚Ars amatoria‘), die ‚Achilleis‘ des Statius, Fabeln des Hyginus u.a. in Frage (Worstbrock 1963; Bauschke 2014), denn Herbort fügt trotz seiner straffenden Diktion durchaus Aspekte hinzu, die Benoît nicht bietet: die Erziehung Achills bei Chiron sowie die Herkunft sei-

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ner Rüstung von Vulcanus, das Sirenenabenteuer des Ulixes usw. Auffällig sind die Neuakzentuierungen vor allem dann, wenn Herbort das im Prolog dezidiert vertretene Kürzungsprogramm aushebelt und gegenüber dem ‚Roman de Troie‘ die Erzählung noch vermehrt. Dies geschieht z.T. in bezug auf die Frauenfiguren (Siebel-Achenbach 1997), insbesondere bei ihren Klagereden, wodurch das Kriegsleid exponiert werden soll, auffällig ist es in erster Linie aber bei Achill, den Herbort gegenüber Benoît aufwertet und ihm dadurch seine homerische Größe zurückgibt (Worstbrock 1963; G. Knapp 1974). Achills ira, die unter christlicher Perspektive seine Verdammnis befördert, rückt wieder an den antiken furor heran, dem als für den Krieg notwendige Qualität des Kämpfers eine positive Dimension innewohnt. Gerade die sinnstiftende Kombination gezielt gesetzter Kürzungen und Längungen zeigt Herborts erzählerische Eigenarten, die ihn von seinen Dichterkollegen abgrenzen, als bewußtes Kalkül, mit dessen Hilfe er eine bestimmte Aussage profilieren will. Fromm (1993) hat den Darstellungszweck mit Herborts vermeintlicher Intention einer nachhaltigen Kriegskritik identifiziert, Huschenbett (1990) macht auf die literarische Tradition aufmerksam, in welcher sich Herbort dezidiert verortet; Bauschke (2014) deutet dies wiederum als literaturkritische Positionierung, mit der sich das ‚Liet von Troye‘ einer Ästhetisierung von Mord und Leid verweigere. Hierzu paßt der Verzicht auf die tröstliche Komponente im Schicksal Andromaches ebenso wie die nachhaltige Perspektivierung der unseligen griechischen Sieger. Auf den neuen dichterischen Freiraum in der Verarbeitung historischer Stoffe macht auch Herberichs (2010) aufmerksam (vgl. dagegen Schmitz 2007). Die Aufwertungstendenzen der letzten zwanzig Jahre brechen mit einer ganz anderen Forschungstradition, nämlich der ästhetischen und auch moralischen Abwertung von Herborts Erzählleistung. Vorgeworfen wird ihm insbesondere die drastische Ausgestaltung der Tötungshandlungen und Kriegsgreuel, die auch Schilderungen von in Blut watenden Pferden, herausquellenden Organen und abgeschlagenen Gliedmaßen einschließt. Diese Negativsicht, die bereits auf Menhardt (1928 u. ö.) zurückgeht, verkennt, daß auch bei Benoît abstoßende Einzelheiten entfaltet werden. Sicher erweitert Herbort – trotz brevitas-Programm – ausgerechnet solche Beschreibungen, doch korrespondierte dies wiederum mit den Anforderungen einer dilatatio materiae. Für die philologische Auseinandersetzung mit dem ‚Liet von Troye‘ hat sich die Geringschätzung in jedem Fall nachteilig ausgewirkt. Dies spiegelt sich nicht zuletzt darin wieder, daß Herborts Trojaentwurf als einzigem erzählerischen Großwerk um 1200 eine ‚moderne‘ Edition bisher versagt geblieben ist (vgl. Bauschke 2005).

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Darstellungstendenzen und Neuakzentuierungen Eine umfangreiche, eher positivistische Zusammenstellung der quantitativen Abweichungen des ‚Liet von Troye‘ zum ‚Roman de Troie‘ bieten bereits die frühen Studien von Menhardt (1928/40), auf die hier grundsätzlich verwiesen sein soll. Um die maßgeblichen Eigenakzentuierungen Herborts zu profilieren, sollen einige ausgewählte Aspekte näher skizziert werden: 1) Höfische Dame und destruktive minne: Um die einzelnen Liebeskonstellationen, die sich frontenübergreifend ereignen, der sich gerade literarisch etablierenden höfischen Minnekasuistik anzupassen, zeichnet Benoît für die betroffenen Figuren Idealbilder des Ritters und der Dame (Adler 1960); die heidnischen Krieger werden zu chevaliers, die Frauen zu ausnahmehaften Schönheiten stilisiert (s.o.). Zugleich forciert er im ‚Roman de Troie‘ Typisierungen, welche den Fortgang der Handlung antizipieren: Helena erhält einen schmückenden Schönheitsfleck (‚Roman de Troie‘, V. 5133–36), der ihre Exzeptionalität symbolisiert (Siebel-Achenbach 1997), Briseida wird von Beginn an als wankelmütig identifiziert (Mertens 1992) usw. Solche einmal getroffenen Festlegungen relativieren sich auch nicht durch die spätere Entwicklung der Ereignisse, deutlich etwa darin, daß die Trojaner auch kurz vor der Niederlage die rechtlich-familiären Bande zu Helena weiter hochschätzen (‚Roman de Troie‘, V. 23079–82). Herbort geht hier deutlich andere Wege. Auch im ‚Liet von Troye‘ gestalten sich die Paarkonstellationen innerhalb minnekasuistischer Koordinaten, doch werden diese höfischen Darstellungsformen nicht – wie bei Benoît – schlicht aktualisiert, sondern bilden vielmehr das literarisch habitualisierte Referenzsystem, in dessen Rahmen Herbort relativierende Abgrenzungen vornimmt und sogar literaturkritische Akzente setzt. Deutlich wird dies insbesondere bei der Vorstellung Helenas: Herbort tilgt z.B. ihren Schönheitsfleck und steigert durch die vollkommene Makellosigkeit die Idealität ihrer äußeren Erscheinung. Im Gegenzug allerdings dispensiert er sich von dem ausführlichen Schönheits- und Tugendpreis, den Benoît entfaltet, mit dem Hinweis auf Helenas besondere Qualitäten: waz sol ich sprechen furbaz? / ander tugent si hete: / sie was getruwe unde stete (Herbort, ‚Liet von Troye‘, V. 2944ff.). Indem Herbort ausgerechnet die Treue der schnell getrösteten geraubten Braut hervorhebt, distanziert er sich ironisch nicht allein von dieser Figur, sondern zugleich von schablonisierten Erzählkonventionen insgesamt. Die Differenziertheit in der Figurenbewertung, die dabei zum Ausdruck kommt, realisiert sich auch an anderer Stelle. So rücken z.B. die Trojaner von der schönen Griechin ab, je mehr

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ihr Kriegsglück nachläßt; einmal getroffene Bewertungen können sich also durchaus ändern und werden den neuen Situationen angepaßt. Dieses plausiblere Figurenverhalten soll offensichtlich die Identifikation steigern. In gleicher Weise geht Herbort mit Briseis um: Ihre Neuorientierung weg von Troilus hin zu Diomedes ist nicht etwa von Beginn an als Fokus der Teilhandlung präsent gehalten, sondern vollzieht sich langsam und gegen die ursprüngliche Treueintention der Briseis. Dadurch macht der Rezipient gleichsam ihren inneren Wandel mit. Die Figur selbst wirkt dabei ‚realitatsnäher‘, und zugleich kann Herbort die destruktive Kraft der minne, die eine eigene, vom Willen des Einzelnen losgelöste Souveränität besitzt, vorführen. Ist bei Benoît der Ausgang von Anfang an festgelegt, so kann Herbort durch die Suggestion, ein anderes Ende sei möglich, sowohl die Individuation der Figuren befördern als auch die Gefahren der minne um so deutlicher akzentuieren. – Ganz in diesem Sinne ändert Herbort auch in der Achill-Polyxena-Handlung die Vorgaben des ‚Roman de Troie‘. Indem er zwischen der Chambre de Beautés und Hectors Grabmal einerseits sowie zwischen dem Pallas, wo Achills Bote auf die Trojanerin trifft, und dem Hectorgrab als Ort für Achills tödliche Falle andererseits architektonische und ausstattungsbezogene Parallelen herstellt (Bauschke 2008), gelingt ihm die unmittelbare Verknüpfung von minne und strît. Sicherlich konstituieren die beiden Pole ohnehin die gesamte Handlung, weil Helena Kriegsgrund ist, doch macht Herbort dieses Motiv als Untergangsmovens stärker als Benoît immer wieder und in mehreren Facetten thematisch. In der Art einer Ausgleichsstrategie demonstriert er zudem, und dies ist gegenüber dem ‚Roman de Troie‘ ganz neu, die positiven Wirkungsmöglichkeiten der minne, wenn Achill aus dem Sympathiebekenntnis von Polyxena neue Kraft für den Kampf zieht. Das konstruktive Potential der Liebe profiliert im Gegenzug indes um so stärker die Grausamkeit des anderen Pols, nämlich der destruktiven Kraft. Diese ambivalente Bewertung spiegelt eine grundsätzliche Verunsicherung über Normen und Wertmaßstäbe, auf die Herbort hier aufmerksam machen will. In diesen vielschichtig-differenzierten Tenor fügen sich die ironischen Kommentare über die verlorene Schönheit des Paris ebenso ein wie der Vergleich von Achills Liebeskrankheit mit Zahnschmerzen (s.o.); hier zeigt sich die Distanz Herborts in bezug auf die von ihm selbst aktualisierten Diskurse, deren Konventionalität er damit behauptet. 2) Problematisierung des ritterlichen Kampfes: Die zur höfischen Dame und zur minne gemachten Beobachtungen setzen sich für die männlichen Protagonisten und ihren Kampfeinsatz fort. Für sie alle spielt die Liebesproblematik im Untergang die entscheidende Rolle: Auf das un-

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rühmliche Ende Achills, der als Opfer einer minne-Intrige endet, wurde bereits hingewiesen; sein unheroischer Abgang tritt vor allem deshalb im ‚Liet von Troye‘ so deutlich hervor, weil Herbort den Peliden gegenüber Benoît erheblich aufwertet (s.o.; vgl. G. Knapp 1974). Paris ist komplett als Minnender inszeniert; bereits den Schiedsspruch im Streit der Göttinnen siedelt Herbort in einem locus amoenus an, so daß es nur konsequent ist, Paris an einem lieblichen Ort – und als Kontrast zu diesem – sterben zu lassen. Gerade in seiner Figur bricht der Konflikt von literarischer Inszenierung und Konfrontation mit als historisch-faktual begriffenen Kriegsereignissen auf; sein Minnerittertum bringt in der ‚echten‘ Welt den Tod und fällt zerstörerisch auf die Dichtkunst selbst zurück, wenn sein Blut den locus amoenus rot einfärbt. Der Streit von Troilus und Diomedes um Briseis sowie deren Verwechslung von Minneturnier und tödlichem Krieg dienen ebenfalls dazu, literarische Überformungen in die Grenzen zu verweisen. Auch Ulixes legt den Grundstein für sein eigenes Ende in einer minne-Episode, weil er mit Circe den Sohn Telegonus zeugt, der ihn später tötet (Mecklenburg 1996). Selbst bei Hector und Andromache spielt die Geschlechterliebe insofern eine Rolle, als hier ihre positive und lebensrettende Kraft ausgehebelt wird, weil der trojanische Heerführer über die Zuneigung zu Frau und Kindern seine politisch-militärische Verantwortung stellen muß (Bauschke 2014). Weder als lebensweltlich nützliche Handlungsmaxime noch als literarisch funktionierendes Verhaltensmuster läßt Herbort mithin die minne gelten; über Benoîts ‚Roman de Troie‘, der minne-bezogene Konstellationen eher konventionell einfach nur aktualisiert, geht das ‚Liet von Troye‘ mit seinem metaliterarischen Tenor daher deutlich hinaus. 3) Aufwertung der Argonautensage: Verständnishorizont für Herborts abbreviatorisch-ironisches Erzählverfahren, mit dem er grundsätzliche Konventionen höfischer Darstellungspraxis problematisiert, ist die Argonautensage. Für sie läßt er sich dezidiert auf den Zeitgeschmack ein, so daß die Episode als idealtypische Kontrastfolie für die später geschilderten grausamen Kriegsereignisse dienen kann (genau im Gegensatz dazu Lengenfelder 1975). Dies zeigt sich bereits rein quantitativ: Während Herbort insgesamt betrachtet die 30316 Verse von Benoîts ‚Roman de Troie‘ auf 18458 Verse für das ‚Liet von Troye‘ herunterbricht, trifft er mit 1134 Versen für die Argonautensage fast Benoîts Vorgabe von 1364 Versen. Seine im Prolog vorgebrachte Kürzungsabsicht löst Herbort in dem unmittelbar folgenden Abschnitt also erstmal nicht ein. Im szenischen Einzelfall betreibt er dann sogar amplificatio, etwa indem er die descriptio des Jason mehr als verdoppelt und dessen moralisch-ethische Tugenden ausführlich

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entfaltet, um ihn zum höfischen Ritter zu stilisieren, oder wenn Herbort die Schönheit Medeas im rot-weißen Farbenspiel der Haut extrapoliert (Schnell 1975) und ihre bei Benoît als dämonisch verdächtigten Zauberkünste zu heilkundlichen Fähigkeiten und Ausdruck besonderer Weisheit umdeutet. Die gesamte Liebesszene knüpft an den zeitgenössischen Minnediskurs, insbesondere in seiner durch Heinrich von Morungen vertretenen Spielart an (Schnell 1975) und läßt Jason und Medea als ein fast arturisches Paar erscheinen, das durch eine gemeinsam überstandene aventiure seine Bestimmung füreinander bestätigt (Bauschke 2014). Dazu gehört auch, daß Herbort den negativen Ausgang, den Benoît ausdrücklich benennt, wissentlich verschweigt (Kern 2003), indem er über den Inhalt seiner Quelle lügt: Hie ensaget nu niht me / daz wel[s]che Buch von J[aso]ne / noch von sinem wibe (Herbort, ‚Liet von Troye‘, V. 1177ff.). Die von Herbort gegenüber Benoît mithin ganz neu aufgebaute Argonautenfahrt entwirft, nicht zuletzt durch die Aktualisierung traditioneller Verfahren der adaptation courtoise (Bauschke 2014), ein utopisches Bild von minne und von durch aventiure (Goldenes Vlies) erzeugter Harmonie, wovon sich die gleich danach mit dem Trojanischen Krieg einbrechende historische Faktizität – gleichwohl in ihrer schonungslosen literarischen Aufbereitung – als desillusionierend abgrenzen kann. Die Konfrontation zweier Erzählmuster in Argonautenfahrt und Bericht vom Trojanischen Krieg weist Herborts ‚Liet von Troye‘ nachdrücklich als Literatur über Literatur aus (Bauschke 2003; 2004; 2008 u. 2014; Herberichs 2010). Wenngleich sich im Endergebnis die Aneignung des ‚Roman de Troie‘ im ‚Liet von Troye‘ grundlegend von den zeitgenössischen Adaptionen, wie Herborts Kollegen sie vorlegen, unterscheidet, fügt sich systemisch seine Art der Quellenorientierung durchaus in den um 1200 üblichen Rahmen ein. Herbort folgt einer französischen und damit volkssprachigen Hauptquelle, die er rhetorisch im Sinne der aemulatio kürzt, deren Diktion er mit der Absicht einer vorgeschobenen faktisch-historiographischen Wahrheit umgestaltet und deren Aussage er durch Ironie und Humor poetologisch in einen Metadiskurs überführt. All dies sind semantisch weitreichende Abwandlungen, die sich insbesondere in der Verweigerung von Höfisierung manifestieren, das Prinzip des dominierenden Prätextes jedoch, der als permanenter intertextueller Bezugspunkt für den deutschen Bearbeiter dient, bleibt auch bei Herbort grundlegendes Verfahren seines Dichtens. Er ist daher – im Gegensatz zu Konrad (s.u.) – in eine Reihe mit anderen Adapteuren um 1200 zu stellen.

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4.2.2 Konrad von Würzburg: ‚Trojanerkrieg‘ Inhalt – Darstellungstendenzen: Kompilierende Quellenverarbeitung, amplificatio und Sprachästhetik

Gegen Ende des 13. Jahrhunderts wird der ‚Roman de Troie‘ erneut ins Deutsche übertragen, und zwar von Konrad von Würzburg (ca. 1235– 1287), einem Berufsdichter, der für ein stadtadeliges Publikum tätig ist und seinen ‚Trojanerkrieg‘ nach 1281 für den Basler Domherrn Dietrich an dem Orte verfaßt (Lienert 1993). Anders als Herbort, der seine französische Vorlage stark kürzt (s.o.), treibt Konrad die von Benoît bereits geleistete mediävalisierende Höfisierung noch voran und amplifiziert zudem die Darstellung. Dafür benutzt er eine Reihe zusätzlicher Quellen, u.a. Werke Ovids, die ‚Achilleis‘ des Statius, Vergils ‚Aeneis‘ usw. (vgl. Lienert 1996). Da Konrad 1287 stirbt und den ‚Trojanerkrieg‘ nicht selbst vollenden kann, bricht seine Nacherzählung mit dem Beginn der vierten Schlacht ab; den bis dahin rund 12000 Versen Benoîts entsprechen bei Konrad bereits 40424 Verse. Der anonyme Fortsetzer des ‚Trojanerkrieges‘ braucht gerade mal 9412 Verse (also noch weniger als Herbort), um in knapper Diktion den bekannten Fortgang der Handlung bis zum Ende zu berichten; er orientiert sich dafür in erster Linie an Dares, Dictys und Vergil. Konrad hat vermutlich Herborts ‚Liet von Troye‘ gekannt, folgt für seinen Entwurf aber entschieden Benoît; sein Riesenwerk steht in einer Reihe mit anderen ausführlichen Wiederaufnahmen von Stoffen, die bereits im Hochmittelalter erzählt worden sind (f Alexanderromane, Teil A, Kap. 2), sprengt aber vom angelegten Umfang her sogar den zeitgenössischen Rahmen; der ‚Trojanerkrieg‘ wird im 14. und 15. Jahrhundert Bezugspunkt für die Troja-Einschübe in den Chroniken und für die Prosafassungen. Inhalt Die Inhaltsskizze des ‚Trojanerkrieges‘ konzentriert sich auf den Anfangsteil, den Konrad selbst hergestellt hat. Sein Fortsetzer folgt dem ambitionierten ästhetischen Programm, das Konrad im Prolog entfaltet, nicht; er bleibt inhaltlich dem durch Benoît und Herbort bekannten Verlauf treu. Ein detaillierter Vergleich zwischen Konrad und den von ihm benutzten Quellen findet sich bei Lienert (1996).

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Prolog (V. 1–324): Konrad setzt in seinem Prolog neue Maßstäbe. Einzigartigkeit und besonderer ästhetischer Wert machen seine Dichtung angeblich zu einem Ausnahmewerk; Verstand und sprachliche Kunstfertigkeit, gepaart mit von Gott gegebenem Talent, prädestinieren gerade ihn für diese anspruchsvolle Aufgabe. Ohne konkrete Nennung von Autoren (Ausnahme: Dares) verweist Konrad auf französische und lateinische Quellen, verschweigt den sich im ‚Liet von Troye‘ manifestierenden ersten deutschen Versuch und kündigt amplificatio als Erzählprinzip an (Konrad, ‚Trojanerkrieg‘, V. 303: daz ich ez welle breiten). Benoîts große Inhaltsangabe, die alle folgenden Handlungselemente antizipiert, übernimmt Konrad allerdings nicht; lediglich am Ende seines Prologes verweist er in den Versen 312–321 auf Helena als Ursache des Krieges, von dem nun zu berichten sein wird. Mit der Formel von der Frau als Stifterin des Unglücks (s.u.) leitet Konrad zur eigentlichen Erzählung über. Die Geschichte setzt dann noch weit vor der Argonautensage an, nämlich bei der Jugend des Paris und des Achill, so daß Konrad das trojanische Unheil, welches in Krieg und Zerstörung gipfelt, ganz vom Beginn an in den Blick nimmt. Vorgeschichte, Jugend des Paris, Jugend Achills (V. 325–6493): Aufgrund eines prophetischen Traumes der schwangeren Hecuba, der ihr ungeborenes Kind Paris für den kommenden Untergang Trojas verantwortlich macht, entschließt sich Priamus zur Tötung seines Sohnes. Die Mörder verschonen Paris jedoch und setzen das Kind im Wald aus, wo es zuerst von einer Hirschkuh gesäugt wird und dann bei Hirten aufwächst. Von der minne-Beziehung zwischen Paris und Oenone berichtet der Erzähler unter den Vorzeichen der späteren untriuwe des Paris, beteuert aber dennoch dessen ursprünglich ernste Absichten. Im Rahmen der Hochzeit von Thetis und Peleus, die Konrad als arturisches Fest inszeniert, kommt es zum Streit der eingeladenen Göttinnen über den Apfel der Discordia, den diese als Rache für ihre Ausgrenzung von der Feier in die Gesellschaft wirft. Der für seine Weisheit und Gerechtigkeit bekannte Paris fällt das Urteil zugunsten der Venus, die ihm Helena verspricht. Hector und Peleus fechten als Stellvertreter für Priamus und Jupiter einen Zweikampf aus; der Sieger Hector darf Paris mit nach Troja nehmen. An dieser Stelle eingeschoben ist die Prophezeiung des Proteus, der noch während Thetis’ Hochzeit die Zeugung Achills, seine Geburt, sein heldenhaftes Leben und seinen Tod voraussagt. Erst danach blendet die Handlung wieder auf Paris, dessen Identität in Troja zufällig offenbart wird, woraufhin Priamus den Sohn aufnimmt. Er ist sich dabei bewußt, gemäß dem Fackeltraum der Hecuba vermutlich sein eigenes Unheil heraufzubeschwören. Es folgt die Erzählung von Achills Jugend, die Konrad gegenüber der ‚Achilleis‘ des Statius weiter ausbaut: Thetis überläßt dem Kentauren Schyron (alias Chiron) die Erziehung des Kleinkindes, um ihn durch die militärische Ausbildung auf sein Heldentum vorzubereiten und dadurch seinen Tod zu verhindern. Der Säugling erhält die Milch einer Löwin und wird in zartestem Alter auf Furchtlosigkeit getrimmt. Aufgrund dieser und anderer Abhärtungen verbreitet sich Achills Ruhm unter den Griechen. Argonautenfahrt (V. 6494–11375): Die Motivation zur Argonautenfahrt bzw. zum anstiftenden Handeln des Peleüs (so die bei Benoît vorgegebene Namensform – s.o.), der sich Jasons mit dessen gefahrvoller Suche nach dem Goldenen Vlies entledigen will, ändert Konrad grundlegend und komplett neuartig gegenüber der Tradition. Er identifiziert Jasons Onkel Pelias mit Achills Vater Peleus; die manipulative Rede des PeliasPeleus gegenüber Jason, die den Neffen, bei dessen ritterlicher Ehre gepackt, zum Auszug bringt, resultiert daher aus dem Wunsch, den nahen Verwandten, der mit Peleus’ eigenem Sohn Achill konkurriert, aus dem Weg zu schaffen. Die Vorbereitungen und

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insbesondere den Schiffsbau behandelt Konrad kürzer als der ‚Roman de Troie‘; Hercules tritt erst mit dem Auszug in die Erzählung ein. Den Zwischenhalt im trojanischen Hafen, wo Laomedon Jason und Hercules die Gastfreundschaft verweigert, bewertet der Erzähler als Provokation, die Trojaner werden partiell entschuldigt. Nicht Herkules, sondern Jason kündigt Vergeltung an. Die kausale Kette von nichtigem Anlaß und aus Rache resultierendem größten Unheil bildet den motivischen Faden von Konrads Darstellung. In Kolchis gleicht die vorbildliche Hofhaltung des Oêtas (alias Aietes) den Gepflogenheiten in Griechenland und Troja; Oêtas wird dabei nicht als Widersacher und Hüter des Widderfells gezeichnet, sondern als Freund und Unterstützer der Argonauten. Im Vergleich zu Benoît weitet Konrad die Minnehandlung zwischen Medea, der Tochter des Oêtas, und Jason weit aus, wobei er die Liebe durchweg als gegenseitig schildert und einzelne Beschreibungselemente, etwa in bezug auf die magischen Fähigkeiten der Königstochter, an Herborts Entwurf erinnern sowie zahlreiche Aspekte bei Ovid entlehnt sind (Lienert 1996). Die magischen Hilfsmittel Medeas haben wesentlichen Anteil an Jasons Erfolg, dessen ritterliches Geschick im Drachenkampf aber ebenso hervortritt. Da Oêtas die Ehe seiner Tochter Medea mit Jason billigt und das Paar mit seiner Zustimmung offiziell abreist, ist das Geschehen vom Verratsmotiv befreit. Der Ruhm Medeas vermehrt sich, als ihr die Verjüngung von Jasons Vater Eson gelingt; die sich im Verjüngungszauber offenbarenden übernatürlichen Kräfte Medeas relativieren ihr positives Bild nicht. Den Verrat des Peleus an Jason rächt Medea, indem sie seine Töchter in dem Glauben, auch an Peleus einen Verjüngungszauber zu vollziehen, ihren eigenen Vater töten läßt. Die Rache an dem untreuen Jason und seiner neuen Frau wird nicht für eine Verurteilung Medeas benutzt (auch das Motiv des Kindsmordes entfällt), vielmehr motiviert der Tod Jasons im Sinne der Haupthandlung, warum nicht er, sondern Herkules die Rache an Troja vornimmt. Erste Zerstörung und Wiederaufbau Trojas, Achill und Deidamia (V. 11376– 18340): Gegenüber Benoît intensiviert Konrad die Rachepläne des Herkules; die Bundesgenossen bleiben gleich, bis auf daß im ‚Trojanerkrieg‘ Peleus getilgt wird, eine logische Konsequenz aus der Kontamination der Figuren Pelias und Peleüs. Im großen und ganzen wie in der Quelle beschreibt Konrad den Überfall der Griechen auf Troja als Racheakt, er bevorzugt in den Einzelszenen jedoch mehr noch als der ‚Roman de Troie‘ die Zweikampfsituationen, weil sich an ihnen ritterliche Einzelkonfrontationen zeigen lassen. Deutlich öfter erfolgt die Schilderung des Geschehens aus trojanischer Perspektive. Die Kampfhandlungen gipfeln in der Zerstörung der Stadt, der Tötung Laomedons, dem trojanischen Blutbad, der Schändung der Frauen und dem Raub der Hesione. Ein Erzählerkommentar profiliert das Leid und verwirft grundsätzlich Rache als Handlungsmovens. Die Vorstellung der trojanischen Königsfamilie ist gegenüber Benoît reduziert; Andromache bleibt fälschlich die Tochter des Priamus, wogegen Herbort diesen Fehler aus dem ‚Roman de Troie‘ im ‚Liet von Troye‘ korrigiert hatte. Hectors exponierte Stellung fehlt. Der Wiederaufbau Trojas wird in eine Planungsphase und die tatsächliche Durchführung unterteilt. Dazwischen steht ein ausführlicher Bericht von Achills minne zu Deidamia: Thetis nimmt den Wiederaufbau Trojas zum Anlaß, Achill von Schyron abzuholen, um ihn unter dem Namen Jocundille als Mädchen verkleidet unter den Töchtern des ahnungslosen Lycomedes zu verstecken. Achill und Thetis sind bei Konrad neuartig zu Antipoden stilisiert (Lienert 1996). Die Wildheit des Peliden wird gebändigt und umgeleitet durch seine große Liebe zu Deidamia, Tochter des Lycomedes, die ihn bereits beim ersten Anblick völlig für sich einnimmt. Beim Bacchusfest gelingt Achill die Verführung, wobei Konrad seine Quelle, die ‚Achilleis‘ des Statius, hier

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euphemistisch überformt, wenn er die beiden Minnepartner als konsensuell und gleichberechtigt präsentiert (Schnell 1975). Obwohl Deidamia bereits ihre Sorge über Ehrverlust und Schwangerschaft formuliert, bleibt dieser Erzählstrang vorerst in der Schwebe, weil Konrad zum Wiederaufbau Trojas überblendet. Für die Schilderung des rekonstruierten Ilion vermehrt Konrad die Benoît-Vorlage und macht über Visualisierungseffekte die Stadt und ihre Pracht anschaulich; in der Anordnung der Beschreibungselemente orientiert er sich indes an der konsequenteren Struktur Herborts. Priamus sucht nachhaltig Vergeltung und ist für den Fall, daß die Griechen die Herausgabe Hesiones verweigern, zum Krieg bereit. Die vier parallel gebauten Szenen, in denen Antenor in den Erzählungen Benoîts und Herborts als Bote bei den Griechen vorspricht, faßt Konrad in eins; der Trojaner findet seine griechischen Gesprächspartner in einer Versammlung bei Telamon; auch Antenors Rückkehr berichtet der ‚Trojanerkrieg‘ in gestraffter Form. Raub der Helena (V. 18341–23392): Antenors Bericht führt zum Kriegsentschluß der Trojaner. Neben die Siegesgewißheit des Priamus tritt zugleich seine Sorge. Hector wird zum Heerführer ernannt. Da Konrad das Parisurteil bereits an der chronologisch passenden Stelle in der Vorgeschichte abgehandelt hat, genügt nun ein Hinweis auf den Schiedsspruch und seine Implikationen, wobei die Schuld am Raub der Helena, zu dem Paris entsandt wird, indirekt auf die Göttin Venus zurückfällt. Mit seiner Warnung zieht Helenus sich böse Vorwürfe zu, die Prophezeiungen von Panthus und Cassandra bleiben ohne Wirkung. Konrad wiederholt die von Benoît ins Spiel gebrachte Rolle Fortunas. Deiphobus, Eneas und Polidamas begleiten Paris nach Citherea, wo ein großartiges Fest der Venus stattfindet. Die ausführliche und hyperbolische Schilderung amplifiziert Konrad deutlich gegenüber dem ‚Roman de Troie‘. Da – bei Konrad neuartig und in Anlehnung an Ovid – Menelaus auf Sparta anwesend ist, erhält die erste Begegnung von Paris und Helena offiziell-repräsentativen Charakter und ist als opulentes Schaubild in Szene gesetzt. Paris mißbraucht unter dem falschen Namen Alexander die Gastfreundschaft des Menelaus; während seines Aufenthaltes bahnt sich die minne zwischen ihm und Helena an. Dabei macht Konrad aus dem frechen Verführer Ovids einen Minnekranken, dessen Liebesgeständnis Helena erst provozieren muß. Möglicherweise misogyne Nuancen, die negativ auf die Frau des Menelaus zurückfallen könnten, werden getilgt. Da Helena dem Liebeswerben des Paris nicht bis zur physischen Vereinigung nachkommt, sondern ihn abweist, greift der Trojaner zur List, indem er Helena zum Schiff lockt und sie entführt. Konrad entscheidet sich damit sowohl gegen die Fluchtversion der freiwilligen Ehebrecherin (Ovid, Vergil, Dictys) als auch gegen den kriegerischen Raub (Dares, Benoît, Herbort) und geht einen dritten Weg ganz ohne Vorlage (Lienert 1996). Nach ihrer Entführung läßt die klagende Helena sich trösten; in Tenedon kommt es zur Minnevereinigung. Es folgt die Hochzeit, Helena wird von allen Trojanern geliebt und geehrt, ihre Schönheit gepriesen. Auf Cassandras Fluch reagiert Priamus mit Wegsperrung seiner Tochter. Kriegsvorbereitungen (V. 23393–25108): Wie Herbort positioniert auch Konrad den Blick auf die griechischen Ereignisse, die zeitgleich zu Helenas Einzug in Ilion geschehen, nicht inmitten der auf Troja bezogenen Handlung, sondern schließt sie an diese an, um einen organischen Zusammenhang von unmittelbarer emotionaler Reaktion auf den Raub Helenas und den dann folgenden weitreichenden Kriegsvorbereitungen herzustellen: Der traurige und zornige Menelaus sucht Hilfe bei seinem Bruder Agamemnon, der ihn tröstet und Unterstützung zusagt. Es folgt eine gesamtgriechische Mobilmachung. Das bei Benoît und Herbort vorhandene Motiv von Castor und Pollux, die auf der Suche nach ihrer Schwester in einem Meersturm verloren gehen, streicht

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Konrad; bei ihm nehmen die Brüder am Krieg teil. Auch die auflistenden Kataloge der griechischen und trojanischen Helden tilgt Konrad, wobei er einzelne individualisierende Merkmale z.T. an späterer Stelle in die Figurenbeschreibungen einbaut. Anstelle der rein additiven Auflistung der aufgebotenen Schiffe und rekrutierten Mannschaften bietet der ‚Trojanerkrieg‘ ein bewegtes Bild im Hafen, das den Vorgang der Abfahrt szenisch dokumentiert. Neu bei Konrad ist, daß er den Trojanischen Krieg zum Weltkrieg stilisiert, wo Europa und Afrika gegen Asien antreten; dazu paßt die Berücksichtigung auch nichtgriechischer Teilnehmer, etwa spanischer, französischer und sogar deutscher Ritter. Das Orakel in Delphi gestaltet Konrad in Anlehnung an Ovid; die Rolle des Calchas, der die Verkündung ausdeutet, bleibt neutraler als bei Benoît und Herbort. Sowohl das Opfer und die Rettung Iphigenies durch Diana als auch die liumet/Fama-Episode erzählt Konrad breit aus. Unmittelbar folgen im ‚Trojanerkrieg‘ dann die Mobilmachung der Trojaner und die Beschreibung ihrer Alliierten, wiederum nicht als Katalog, sondern in der Aktion ihres Eintreffens. Indem Konrad diese Informationen im Vergleich zu Benoît vorzieht, stärkt er die Parallelisierung der beiden Heere. Als Verbündete Ilions treten die zeitgenössisch bekannten Reiche des Orients auf, was den Weltkriegstenor vorantreibt. Die Vorbereitungen gehen schnell in den eigentlichen Krieg über: Die Griechen nehmen auf dem Weg nach Troja Tenedon ein und fahren sofort weiter nach Ilion selbst, wo sogleich die Landungsschlacht beginnt. Achills Proviantierung in Mysien fällt weg. Die Botenszene, in der die griechischen Gesandten die Rückgabe Helenas fordern, verortet Konrad nach der Landungsschlacht, so daß Unrechtstat und Gewaltreaktion in einen engeren Konnex von Ursache und Wirkung gebracht werden. 1. Schlacht = Landungsschlacht, Gesandtschaft der Griechen, Achill (V. 25109–29629): Für die Landungsschlacht, mit welcher der Trojanische Krieg richtig beginnt, folgt Konrad weitestgehend dem ‚Roman de Troie‘. Da er allerdings die Gesandtschaftsszene, die ursprünglich zwischen der Eroberung Tenedons und dem Anlanden der Griechen in Ilion steht (s.o.), chronologisch nach hinten versetzt und damit die beiden Kriegshandlungen aneinander montiert, steigert sich der Eindruck von militärischer Bedrängnis. Das Hin und Her der griechischen Landungsversuche und -erfolge einerseits und der trojanischen Gegenwehr, Vertreibung und dann doch Rückzug andererseits läuft – abgesehen von kleinteiligen Umstellungen in einzelnen Handlungsfolgen und personalen Besetzungen (vgl. Lienert 1996) – in weiten Teilen ab wie in der Quelle bis etwa zum Tod des Protesilaus, der durch die Hand des superlativisch überhöhten Hector fällt. Dann jedoch ändert Konrad: Hector muß sich aus dem Kampf zurückziehen, weil er sein Pferd verliert; das im ‚Roman de Troie‘ an dieser Stelle unbekannte Motiv demonstriert im ‚Trojanerkrieg‘ Willkür und Eigendynamik des Krieges. Da Achill erst später in den Kampf eintritt, fehlt den Griechen noch das Gegengewicht zu Hector. Insgesamt extrapoliert Konrad die Zweikampfsituationen, der Krieg wird ästhetisiert, das Handeln der Helden ist affektiv aufgeladen. Die sich am nächsten Tag anschließenden Verhandlungen extrapoliert Konrad aus den im ‚Roman de Troie‘ nach Tenedon angesiedelten Botengesprächen, wobei er die Rolle des Ulixes deutlich verstärkt. Seine gesteigerte Bedeutung manifestiert sich auch in der Einholung Achills, die Konrad in Anlehnung an die ‚Achilleis‘ des Statius berichtet, aber an späterer Stelle als dort positioniert, nämlich nicht schon nach Aulis, sondern erst nach Kriegsausbruch. Die Entsendung von Ulixes und Diomedes, die List des Ulixes, um Achill bei Lycomedes zu enttarnen, Achills heldischer Kampfwille und das Liebesleid der Deidamia breitet Konrad ausführlich aus, wobei er Elemente des Hoflebens auf Scyros mittelalterlichen Erwartungen anpaßt. Seine Selbständigkeit gegenüber Statius zeigt Konrad u.a. auch

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darin, daß er die Situation Deidamias wie die minne-Handlung überhaupt längt und ausfächert. 2. Schlacht, Patroclus (V. 29630–39135): Die zweite Schlacht legt Konrad überdimensional an, sie ist im Vergleich zum ‚Roman de Troie‘ im ‚Trojanerkrieg‘ mehr als dreifach so lang. Zentrale Elemente wie die Heeresaufstellungen, die herausragende Leistung Hectors, die Tötung des Patroclus u.a. übernimmt Konrad von Benoît, er geht jedoch über weite Strecken auch ganz eigene Wege, wofür er die altfranzösische Quelle als Steinbruch benutzt, einzelne Sequenzen herausbricht und neu kombiniert. Die Hauptunterschiede liegen in einer organisierten Struktur aller Kampfabläufe und der Konzentration auf wichtige Truppen- und Zweikämpfe, die dem tendenziellen Durcheinander der Benoîtschen Darstellung eine wohlfeile Ordnung entgegensetzen. Dafür reduziert er auch Namenlisten und ausdifferenzierende Merkmale der einzelnen Krieger. Die trojanischen und griechischen Scharen treffen symmetrisch aufeinander und personifizieren sich exemplarisch in prominenten Helden, so daß etwa der Zweikampf von Hector und Patroclus erzählerisch eine Detailblende in der Massenschlacht ist. Den von Benoît geschilderten versuchten Rüstungsraub streitet ein Erzählerkommentar entschieden ab. Konrad ergänzt gegenüber dem ‚Roman de Troie‘ mehrere Kämpfe zwischen Hector und Achill, die bei Benoît erst in der dritten Schlacht aufeinander treffen, sowie einen Zweikampf zwischen Paris und Menelaus, den die Quelle erst in der vierten Schlacht vorsieht; insgesamt wird die Leistungskraft des Paris im ‚Trojanerkrieg‘ deutlich gesteigert. Während die bekannten Helden wie Troilus und Deiphobus mehr Gewicht erhalten, erfindet Konrad auch zusätzliche Namen, um das Kriegsgeschehen trotz des Massenaufgebotes stärker zu personalisieren. Zwischen dem überdimensional erzählten Schlachtbeginn, der den Eintritt der zahlreichen Scharen in genauer Abfolge schildert und numeriert, und der eigentlichen Massenschlacht, die in dieser Form ein Novum Konrads ist, findet sich im ‚Trojanerkrieg‘ eine Mauerschau der Trojanerinnen, die Benoît – und auch Herbort – an anderer Stelle kennen. Bei Konrad wirkt nicht allein der Krieg auf die Frauen, sondern auch ihre Anwesenheit, insbesondere diejenige Helenas, schlägt auf die Kämpfer zurück, und zwar vor allem positiv auf die Griechen. Auch bei Konrad stehen die Trojaner am Abend kurz vor dem Sieg, doch dies erst, nachdem die Griechen lange im Vorteil gekämpft haben, bis sich schließlich das Schlachtglück allein durch den im Rachewunsch rasenden Hector wendet, der die Griechen zu ihren Schiffen zurücktreibt bzw. die Flotte in Brand setzen will. Daß dann die Gelegenheit zum Sieg tragisch verschenkt wird, kostet Konrad doppelt aus: zum einen erweitert er die Begegnung Hectors mit dem als Verwandten erkannten Ajax erheblich, zum anderen betont die Erzählerfigur mehrfach das mißgünstige Schicksal (unsaelde, ungelücke, geschiht). Dabei wird Hector zwar z.T. von seiner Verantwortung entlastet, die verfrühte Siegesfreude der verblendeten Trojaner aber deutlich kritisiert. Noch vor die Schilderung der Bestattungsereignisse schaltet Konrad als Zusatz gegenüber dem ‚Roman de Troie‘ hier die eingeschobene Erzählung vom Schicksal des Herkules: Philoctet ist bei Konrad Teilnehmer des Trojanischen Krieges und berichtet während der Waffenruhe, wo die Griechen in Gesprächen über Heldentaten beisammen sitzen, vom unrühmlichen Untergang des Halbgottes. Konrad entfaltet ausführlich die Deianira-Handlung mit Nessus-Hemd und Selbstverbrennung des Herkules und folgt dafür, mit einigen Umstellungen, den ‚Metamorphosen‘ des Ovid. Anders als dort stilisiert er indes den Tod als Strafe für das Minnevergehen gegenüber Deianira sowie als Sühne für die Schuld am Untergang Trojas, und Herkules selbst nimmt die Strafe mit beiden Begründungen aktiv an. Erst danach folgen im ‚Trojanerkrieg‘ Achills Trauer und die Bestattung des Patroclus,

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die Benoît unmittelbar und organisch sinnvoll nach der zweiten Schlacht positioniert. Konrad steigert die emotionale Anteilnahme des Peliden, erklärlich aus der gemeinsamen Zeit bei Schyron, und hebt das Freundschaftsmotiv hervor (Kraß 1999). 3. Schlacht, Beginn der 4. Schlacht (V. 39136–40424): Für die dritte Schlacht orientiert sich Konrad deutlicher an Benoît, nimmt aber Umstellungen vor. So beginnt bei ihm die Massenschlacht gleich nach der Schilderung der Aufstellungen, erst danach läßt Konrad die Mauerschau der Damen folgen. Daran schließt sich der Zweikampf zwischen Hector und Achill an, der bei Benoît die erste Konfrontation der Helden beschreibt, bei Konrad aber bereits die dritte ist. Gegenüber dem ‚Roman de Troie‘ fokussiert er, die Massenschlacht partiell in den Hintergrund drängend, stärker das Duell, er emotionalisiert und polarisiert die Kämpfenden, vereindeutigt Motivationen (etwa die descriptio von Achills Pferd) und steigert die Tendenz, Hector als Achill leicht überlegenen Streiter zu zeigen. Wie im ‚Roman de Troie‘ greifen auch im ‚Trojanerkrieg‘ Diomedes und Troilus in den Hector-Achill-Kampf ein, bei Konrad allerdings entsteht daraus die Schilderung eines eigenen Duells, womit er Troilus und Diomedes bereits zu einem frühen Zeitpunkt als künftige Kontrahenten, die sie ja auch in ihrer beider minne zu Briseida werden, aufbaut. Für Paris und Menelaus, die in den Kampf eintreten, verzichtet Konrad (wie schon Benoît) auf diese Option. Es folgen in Anlehnung an die Quelle weitere Kampf- und Tötungshandlungen (Poestes, Archilogus, Dolostalus, Prothenor), deren blutige Auswirkungen Konrad durchaus grausam veranschaulicht (s.u.). In den Erzählerkommentaren und den Wahrnehmungsschilderungen der Figuren stechen durchweg Hector und Achill als aufeinander bezogene Hauptakteure hervor. Von der vierten Schlacht gestaltet Konrad gerade noch den Beginn, bis sein Text plötzlich abbricht. Im Vergleich zum ‚Roman de Troie‘ wird dabei dennoch deutlich, daß er erneut – und ohne Entsprechung bei Benoît – das Geschehen um Hector und dessen Heldentaten organisiert. Schluß (V. 40425–49813): Ausgesprochen knapp und sogar kürzer als Herbort schließt der Fortsetzer den Torso ab. Er folgt dem üblichen Geschehensverlauf und verzichtet auf weitere Seitenstränge vom Typ der Zusätze Konrads, welche dieser in seinem universellen Erzählanspruch extrapoliert und ergänzt hatte.

Darstellungstendenzen: Kompilierende Quellenverarbeitung, amplificatio und Sprachästhetik In einem umfangreichen Prolog formuliert Konrad den Anspruch, ein Ausnahmewerk zu schaffen (‚Trojanerkrieg‘, V. 234f.: ich wil ein mære tihten, / daz allen mæren ist ein her), für das er sich einerseits in die Tradition des Wiedererzählens stellt (V. 274: erniuwen), andererseits aber einen neuen ästhetischen Anspruch formuliert, der Fehler und Scharten älterer Versionen auswetzen soll (V. 276: ich büeze im sîner brüche schranz) und das Werk durch seinen frischen Glanz (V. 275: mit worten lûter unde glanz) auch an die geschmacklichen Anforderungen seiner Jetztzeit heranrückt (V. 270f.: schôn als ein vrischie gloye / sol ez hie wider blüejen). Obwohl (oder auch gerade weil) er selbst einräumt, daß die wahre Dichtkunst aktuell wenig Wert-

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schätzung erfährt, hält Konrad an seinem exzeptionellen Vorhaben fest, zumal er göttliche Eingebung für den Dichter reklamieren kann (V. 98–101: wan daz im unser trehtîn / sinn unde mundes günne, / dâ mite er schône künne / gedenken unde reden wol). – Sein vollmundig formuliertes Programm löst Konrad im Erzählprozeß tatsächlich ein, wenn er den Trojanischen Krieg in bisher nie dagewesenem Ausmaß referiert und dabei Vorgeschichten und Seitenstränge der antiken Mythologie integriert, um ein universelles Panorama der Ereignisse zu entfalten. Bereits im Prolog deutet Konrad an, daß sein Umgang mit der französischen Quelle sich anders gestaltet als bei den Adapteuren, die um 1200 auf der Basis romanischer Werke dichten. Erwähnt er zuerst nur den sprachlichen und metrischen Transfer vom Französischen ins Deutsche (‚Trojanerkrieg‘, V. 267–269: von welsche in tiutsch getihte / mit rîmen gerne rihte / daz alte buoch von Troye), so führt er relativ bald aus, daß er auch lateinische Vorlagen benutzt (V. 305–307: von welsche und von latîne: / von tiuscher worte schîne / wirt ez von mir verwandelt). Dies hatte Herbort ähnlich behauptet, allerdings nicht auf das Material selbst bezogen, sondern vielmehr auf die Diktion und deren sinnkonstituierende Implikationen (s.o.). Anders als Herbort konkretisiert Konrad als griechisch-lateinischen Gewährsmann lediglich Dares, der mittelbar bereits im ‚Roman de Troie‘ repräsentiert ist; vermutlich erwähnt er ihn im ‚Trojanerkrieg‘ in erster Linie wegen seiner Augenzeugenschaft, also als Authentizitätsgarant (V. 297: der selbe vil vor Troye streit). Auf einer weiteren Ebene fungiert für Konrad die Nennung des Dares dann aber wohl auch als Sigle für antikes Material schlechthin, das im ‚Trojanerkrieg‘ verarbeitet wird, insbesondere die ‚Achilleis‘ des Statius, Werke Ovids, die ‚Ilias latina‘, die ‚Ilias‘Redaktion des Simon Aurea Capra u.a. (Lienert 1996). Hierin nämlich liegt Konrads zentrale Differenz im Umgang mit seinen Vorlagen: Sicher bleibt Benoît Leitquelle, doch völlig souverän nimmt Konrad Umstellungen und Änderungen vor, und er greift auf Nebenquellen zurück, wenn ihm die Integration von Erzählelementen wichtig scheint, welche der ‚Roman de Troie‘ gar nicht bietet, ja nicht einmal andeutet. Sammlung, Kompilation, umfassender Informationsanspruch sind die Charakteristika von Konrads Rückgriff auf eben mehrere Vorlagen, und indem er zahlreiche Anknüpfungspunkte nutzt, um die Geschichten einzelner Helden auszuerzählen, vermehrt er nicht nur seinen Prätext (‚Trojanerkrieg‘, V. 303: daz ich ez welle breiten), sondern er erweitert grundlegend für das christlich-mittelalterliche Publikum den Trojastoff um mythologische Details, die bis dahin nur den lateinisch Gebildeten zugänglich gewesen sind. Die Verarbeitung eines konkreten französischen Bezugswerkes ist,

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anders als bei seinen Vorgängern aus der Zeit um 1200, nur ein Teil seiner dichterischen Leistung. Die Vermehrung der Quellen an sich sowie der neuartige, ganz selbständige Umgang mit dem vorgefundenen Material manifestiert sich inhaltlich und strukturell, in der Gesamtanlage sowie in Einzelelementen. So werden z.B. die Jugendgeschichten von Paris und Achill ausführlich referiert, das Unglück also vom Keim an nachvollzogen bzw. Fama und Unausweichlichkeit des Schicksals demonstriert. Indem die beiden Handlungsstränge zusätzlich ineinander verwoben sind, bezieht Konrad die ursprünglich voneinander unabhängigen Heldenleben aufeinander; er erzählt damit durchweg vom Ende, ihrer beider Tode im Trojanischen Krieg, her. Doch nicht nur in der Montage mehrerer Vorlagen zeigt sich Konrad umsichtig, sondern auch in der ‚Korrektur‘ der Einzelquellen. Indem er etwa die Rolle Schyrons aus der Figurenrede in den Erzählbericht überführt und die Schilderung von Achills Kindheit handlungschronologisch an die richtige Position setzt, geht er konstruktiv mit dem vorgefundenen Material um (Lienert 1996), verbessert es im Sinne seines Prologprogramms (s.o.). Zu dieser Gestaltungstendenz gehört auch die enge Verknüpfung und zugleich Polarisierung von Hector und Achill. Die Hauptakteure sind Dreh- und Angelpunkte der trojanischen bzw. griechischen Kampfkraft, weswegen Achill bei Konrad auch früher gegen Hector antritt; sie sind zudem von Beginn an als Antagonisten stilisiert, da Achill überhaupt nur rekrutiert wird, um der Übermacht Hectors ein Gegengewicht zu bieten (G. Knapp 1974). Ebenso fügt sich in diesen Rahmen die leitmotivische Rolle Helenas, die als thematisches Zentrum (Lienert 1988/89) und Fokus der Kampfhandlungen den einzelnen Aktionen ein Ziel bzw. dem überbordenden Erzählmaterial einen roten Faden gibt. Konrad scheint solch strukturierende Rezeptionshilfen bewußt zu gestalten, damit in der stofflichen Fülle nicht der Überblick verloren geht. Im kleinteiligeren Bereich gehören dazu auch die zahlreichen Vorausdeutungen auf das unselige Ende, das Konrad gleichwohl selbst nicht mehr ausführen kann. Genau das entgegengesetzte Verfahren praktiziert Konrad dann allerdings immer wieder dort, wo Benoît statistische Kataloge liefert, um Aufgebote und Mannschaften in ihrem überwältigenden Umfang zu demonstrieren. Konrad überführt die statischen Listen in Dynamik und Bewegung; er schildert z.B. den Aufbruch der Griechen in Aktion, als hektisches Treiben, und nennt in diesem Kontext auch die im ‚Roman de Troie‘ angeführten Informationen. Einer größeren Übersichtlichkeit dient dies sicher nicht, wohl aber entsteht im ‚Trojanerkrieg‘ ein anschauliches Bild, mit dem Konrad zugleich Möglichkeiten des Erzählens vorführt.

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Auffällig sind damit an Konrads Entwurf nicht allein die inhaltlichen Eigenwege, mit denen er sich über die Vorgaben der französischen Quelle hinwegsetzt, sondern auch und insbesondere die ganz eigene Ästhetik des ‚Trojanerkrieges‘ (dazu grundlegend Lienert 1996). Die umfangreichen descriptiones (z.B. des Apfels im Parisurteil – Konrad, ‚Trojanerkrieg‘, V. 1391–1481 u. 1521–1529) gehen weit über die im Rahmen der adaptation courtoise üblichen dilatatio materiae hinaus und passen sich vielmehr in sprachkünstlerische Verfahren ein, die an Gottfried von Straßburg geschult sind, seinen ästhetischen Entwurf, wie er ihn im ‚Tristan‘ praktiziert, extrapolieren und mit Rudolf von Ems sowie eben Konrad von Würzburg selbst eine ganz eigene, auf das Spätmittelalter verweisende Tradition begründen (Coxon 2001). Die für Konrad typischen Stilmuster lassen sich damit nur bedingt vor dem Horizont der aus ‚klassischer Zeit‘ bekannten Aneignungsmuster französischer Vorlagen verorten, denn sie aktualisieren über den Quellenbezug hinaus auch die Fortentwicklung deutschsprachiger narrativer Verfahren in der Tradition Hartmanns und vor allem Gottfrieds. Lienert (1996) weist an zahlreichen Stellen nach, wie Konrad für einzelne Szenen (Zweikampf, Minneabschied), Figurenkonstellationen, Begründungszusammenhänge usw. prominente höfische Vorbilder von Veldeke über Hartmann bis hin zu immer wieder Gottfried benutzt – als Erzählmodelle, aber auch um sich konstruktiv davon abzusetzen. Damit befindet sich Konrads ‚Trojanerkrieg‘ in doppelter Hinsicht auf einer anderen Stufe: Zum einen beschränkt er sich wie gezeigt nicht mehr auf die Aneignung einer einzelnen romanischen Quelle, zum anderen baut sein Erzählen auf den Erzählpraktiken anderer Adapteure auf; diese Vorläufer haben ein narratives Potential eröffnet, das Konrad nutzen und seinerseits vorantreiben kann. Die Abhandlungen von Schnell (1975) und Lienert (1996) führen vor, wie Konrad dies für die minne-Handlungen umsetzt, wobei die technische Perfektion wiederum auf die Sinnstiftung zurückfällt. Indem Konrad eine ausgefeilte Minnekasuistik im erneuten Rückgriff auf Ovid nochmal argumentativ überdreht, konstruiert er den Trojanischen Krieg auch als Schicksalsereignis unglücklicher Minnepaare und Resultat von Minnevergehen (Kellner 2010). Letztlich sind über diesen Angelpunkt auch einzelne Nebenerzählungen wie die Herkules-Deianira-Handlung mit dem Gesamtimpetus vernetzt, wobei hier minne-Schuld und politisches Vergehen, nämlich der erste Überfall auf Troja, in der gemeinsamen Strafe dezidiert zusammengeführt werden. Die besonderen Stilmerkmale Konrads fallen deutlich vor allem in den Kriegsdarstellungen auf, weil an diesen Stellen Aspekte ästhetisch aufbereitet und kostbar gemacht werden, die in ihrer rein faktischen Bedeutung

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eigentlich problematisch und abstoßend sind. Schon Benoît schildert die Kriegsgreuel detailreich, Herbort verschärft die Passagen drastisch, indem er schonungslos Einzelheiten vermehrt, auskostet und neue Beschreibungen hinzufügt (s.o.). Konrad läßt dagegen die naturalistischen Details wie herausquellende Organe u.a. weg, ästhetisiert aber die physischen Folgen des Kampfes. So münzt er z.B. die Erwähnung der Blutströme, die aus den Wunden der Gefallenen fließen, oder die descriptio des Gestades, das durch die vielen Leichen blutrot wird, um in ein Schauspiel schillernder Farben und kostbarer Vergleiche (dazu Lienert 1996). Konrad benutzt Metaphorik von Licht und Glanz, er verwendet Visualisierungsstrategien, die vor dem inneren Auge ein prächtiges Bild entstehen lassen, er erzeugt neben den optischen auch akustische Eindrücke und verleiht durch ausgefallene Parallelen dem Ereignis selbst (und seiner eigenen dichterischen Ausdrucksfähigkeit) einen preziösen Charakter. Die seltene, nahezu manieristische Engführung von Blut und lösche (Konrad, ‚Trojanerkrieg‘, V. 25414f.), „feinste[m], rote[m] Saffianleder, ein[em] Luxusartikel“ (Lienert 1996, S. 127, Anm. 360), erfüllt z.B. ambivalente, einander z.T. widersprechende Funktionen: Die derart überformte Schilderung der Leid implizierenden Ereignisse bzw. ihrer optischen Manifestation, zeigt die Exzeptionalität und Ungeheuerlichkeit der berichteten Geschehnisse, rückt diese aber zugleich in gewisser Weise vom Rezipienten ab, denn die mit solch einer Erzählweise provozierte Abstraktion schafft im selben Atemzug Distanz. Auf der anderen Seite erhöhen die kostbaren Vergleiche die Aufmerksamkeit in bezug auf den Berichtsinhalt und den ästhetischen Mehrwert, für den Konrad allein verantwortlich ist. Auch die Dimension des Weltkrieges, die Konrad dem Trojanischen Krieg als erster und ganz neuartig einschreibt (Lienert 1996), entfaltet universelle und ausgrenzende Wirkung: Indem alle damals bekannten Weltreiche in den Kampf involviert sind, formuliert Konrad einen globalen Geltungsanspruch seiner Erzählung; die Extrapolation des historischen Faktums, nämlich des Untergangs Ilions, hin auf ein allumfassendes Ereignisses aber verstärkt den utopischen Charakter der geschilderten Konfrontation und wirkt einer Identifikation deutlich entgegen. Sie wird allein möglich im Rahmen von Sprachästhetik und Erzählkunst. Obwohl Konrad sich in die Tradition seiner Vorlagen stellt, grenzt er sich mit dem ästhetischen Neuanspruch entschieden von ihnen ab, weil allein er dem Stoff die besondere Form geben kann, so wie er es im Prolog ankündigt. Damit unterscheidet er sich grundlegend von den älteren Aneignungswerken französischer Vorlagen. [Manuskriptabschluß (Teil A, Kap. 4.1–4.2): Oktober 2012]

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4.3 Die mittelniederländischen Trojaromane von Geert Claassens 4.3.1 Segher Diengotgaf: ‚Trojeroman‘ Einführung und Inhaltsangabe – Abfassung und Überlieferung des Textes – Bearbeitung und Neuschöpfung

Einführung und Inhaltsangabe Der ‚Trojeroman‘ von Segher Diengotgaf stellt uns vor ein literarhistorisches Problem: Die handschriftliche Überlieferung bietet uns kein klares Bild von dem Textzusammenhang, denn es ist keine einzige Hs. erhalten geblieben, welche den Text als eine selbständige Einheit überliefert. Aber daß es sich um eine Trilogie von drei separaten Trojatexten handeln könnte und nicht um einen kohärenten Trojaroman, ist ein Mißverständnis, welche durch den Schreiber der Hulthemer Hs. (s.u.) ins Leben gerufen wurde: Er schrieb den Text in drei Teilen ab und gab jedem Teil einen eigenen Titel (‚Dits tprieel van Troyen‘, ‚Dits tpaerlement van Troyen‘ und ‚Dits vanden groten strijt daer hem her Hector ende Achilles in onder spraken‘). Außerdem versah er die drei Teile jeweils mit selbst eingefügten Einleitungs- und Schlußformeln (Jongen 1996). Daß Seghers ‚Trojeroman‘ zum Teil eine Bearbeitung des ‚Roman de Troie‘ von Benoît de Sainte-Maure (s. Kap. 4.1), doch zu einem beträchtlichen Teil eine Neuschöpfung ist, hat diese Verwirrung nur größer gemacht. Die heutige communis opinio ist jedoch die, daß sein ‚Trojeroman‘ ein zusammenhängender Text von fast 2300 Versen gewesen sein muß, worin eine kurze Episode aus dem zehnjährigen Trojanischen Krieg beschrieben wurde (Janssens 1986 u. 1995). Von dem Text gibt es verschiedene (Teil-)Editionen. Wir verwenden den Text von Janssens/Jongen 2001. Sie geben ihn nach der Wissener Hs. heraus, die einen stark östlich gefärbten mnl. Text bietet (s.u.). Obwohl die Benennungen der verschiedenen Episoden also keinen Hinweis auf die Dreiteiligkeit des ‚Trojeromans‘ geben, gebrauche ich sie hier weiterhin, da sie sich in der Forschung eingebürgert haben, aber auch weil sie die grobe Struktur des Textes angeben und die Verbindung mit der afrz. Quelle einfach nachvollziehbar machen. ‚Tprieel van Troyen‘ (‚Der Lustgarten von Troja‘), V. 1–916: Der Text wird mit einem kurzen Prolog eröffnet (V. 1–11), danach werden die Personen eingeführt und der Handlungsrahmen abgesteckt: ein Waffenstillstand von vierzig Tagen im dritten Jahr

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des Trojanischen Krieges (12–127). Die Trojaner versorgen ihre Verwundeten und ihre Pferde, begraben ihre Toten, beraten sich aber auch über das bevorstehende Ende des Waffenstillstandes (128–170). König Prian spricht zu den trojanischen Kriegern und ruft zur Tapferkeit in der kommenden Fortsetzung des Krieges auf (171–242). Hector antwortet auf die Ansprache und lädt alle Anwesenden zum Essen (243–296). Die Damen ergötzen sich in einem Gärtchen, welches als ein klassischer Locus amoenus beschrieben wird (297–319). Hier finden die drei Liebesdialoge statt, deren Protagonisten nochmals vorgestellt werden. – Der erste Dialog ist der zwischen Polidamas und Helena, der Gattin des Paris. Polidamas möchte vermittels eines metaphorischen Gnadengesuchs seine Gefühle für Helena zum Ausdruck bringen. Als Helena durchschaut, worauf Polidamas aus ist, meistert sie die Situation, indem sie sich weigert, das Gnadengesuch anders als wörtlich zu verstehen. Als Polidamas zudringlich bleibt, beendet Helena das Gespräch derart, daß keiner von ihnen das Gesicht verliert (339–443). Der zweite Dialog ist der zwischen Mennoen und Polixena, der Schwester Hectors. Mennoen legt Polixena seine Liebesnot als eine hypothetische Quästio vor: Muß er seine Liebe seiner Angebeteten gestehen oder nicht? Polixena kommt zur Schlußfolgerung, daß er es seiner Angebeteten sagen muß, worauf Mennoen deutlich macht, daß Polixena selbst die Angebetete ist. Polixena schämt sich, entschuldigt sich bei Mennoen und beendet das Gespräch (444–586). Der dritte Dialog ist der zwischen Menfloers und Andronika, der Gattin Hectors. Menfloers ist zu direkt gegenüber seiner Gesprächspartnerin und bekennt ohne Umschweife seine Liebe zu ihr. Andronika weist ihn zurecht, beteuert jedoch gleichzeitig ihre Hochachtung für ihn (587–646). – Königin Ecuba setzt der Gartenszene ein Ende (647–669). Beim Auseinandergehen der Gesellschaft spricht ein anonymer abgewiesener Liebender eine allgemeine Klage aus, worin die Liebe der Hartherzigkeit geziehen wird: Aen u en is gheen ghewinne (684: „Bei euch ist nichts zu holen“). Die Klage schließt mit einem Gnadengesuch an die Minne: Beende meine Liebe und bring mir den Tod (680–782). – Dann kommen die trojanischen Helden wieder zu einer Fortsetzung der Beratung zusammen. Es wird über die Verhandlungen (parlement) mit den Griechen gesprochen, die am folgenden Tag stattfinden sollen (783–916). ‚Tpaerlement van Troyen‘ (‚Die Verhandlungen von Troja‘), V. 917–1278: In dieser Episode stehen vor allem der Trojaner Hector und der Grieche Achilles einander im Wortstreit gegenüber. Achilles will den Waffenstillstand beenden und die Feindlichkeiten wiederaufnehmen, denn das Ende des Waffenstillstands soll ihm die Möglichkeit geben, sich an Hector zu rächen, der seinen Freund und Waffenbruder Patroclus getötet hat. Hector strebt einen Zweikampf an (mit Troja als Einsatz), und Achilles will die Herausforderung annehmen. Agamemnon rät davon ab, denn er will nicht, daß Achilles eigenmächtig und impulsiv handelt. Achilles stimmt widerwillig zu. Das parlement wird aufgehoben. Jeder kehrt in sein eigenes Quartier zurück. ‚Den groten strijt‘ (‚Der große Kampf‘), V. 1279–2292: In dieser Episode steht der leibhaftige Kampf im Mittelpunkt. Der Krieg bricht erneut aus. Das trojanische und das griechische Lager werden beschrieben. Auf beiden Seiten kämpfen zahllose Helden tapfer und hingebungsvoll. Der Text verfolgt die individuellen Taten verschiedener Helden – u.a. Dyomedes, Fenix und Menelaos – und beschreibt ausführlich das Blutbad, welches sie anrichten: Ritter purzeln von ihren Pferden, Gliedmaßen und Köpfe werden abgehauen, Leiber durchbohrt. Dreißig Tage lang fechten sie täglich, allerdings nur bei Tageslicht, weil in der Finsternis die Mitglieder der eigenen Partei nicht identifiziert werden könnten.

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Abfassung und Überlieferung des Textes Über Segher Diengotgaf (Diengotgaf – mnl. Äquivalent von lat. Deodatus) ist so gut wie nichts bekannt. Wir kennen seinen Namen nur, weil Jacob van Maerlant ihn im V. 12–16 des Prologs zu seiner ‚Historie van Troyen‘ (s. Kap. 4.3.2) nennt, in welche Seghers Text eingefügt ist: Segher den Got gaf Heft daeraf ghedicht een deel, Dat is van Troyen dat Proyeel – Dit is ghedicht oeck langhen tyt, – Ende aent Proyeel die vij stryt. (Jacob van Maerlant, ‚Historie van Troyen‘, Ausg. De Pauw/Gaillard 1889–92, Bd. I, S. 1)

Die Erwähnung Seghers bei Jacob van Maerlant bietet einen ziemlich eindeutigen Terminus ante quem für Seghers ‚Trojeroman‘, da Maerlants ‚Historie van Troyen‘ auf ca. 1264 datiert wird. Allerdings behauptet Maerlant, daß Segher langhen tyt vor ihm geschrieben habe, eine relative Angabe, sie sich nicht in exakte Jahreszahlen übersetzen läßt. Man nimmt durchgehend an, Segher sei in der ersten Hälfte des 13. Jh. tätig gewesen. Van Anrooij (1998) hat dargelegt, daß Segher vielleicht im Auftrag des Herzogshofes von Brabant schrieb. Das Interesse für den Trojastoff in Brabant ist bekannt, zudem wird der Schild Hectors im ‚Trojeroman‘ mit einem Wappen versehen, das stark dem der brabantischen Herzöge ähnelt (einem steigenden goldenen Löwen im schwarzen Feld). Van Anrooij favorisiert Herzog Heinrich II. († 1248) als potentiellen Auftraggeber, hält aber seinen Sohn, Heinrich III. († 1261) als Adressaten für wahrscheinlich. Diese Verbindung mit dem Herzogshaus wird übrigens nicht von jedermann angenommen (vgl. z. B. Sleiderink 2003, S. 54). Kürzlich hat Kestemont (2010) eine Lanze für einen anderen Auftraggeber aus der Umgebung des brabantischen Herzogs gebrochen, für Gottfried von Leuven-Gaasbeek († 1235), einen jüngeren Bruder Heinrichs II. Seine Hypothese ist zwar reizvoll, kann aber vorläufig auch nicht bewiesen werden. Um für Seghers ‚Trojeroman‘ den Sitz im Leben zu bestimmen, ist der Umstand von Bedeutung, daß am brabantischen Hof erst unter Herzog Jan I. († 1294) eine eindeutige Wendung zum Mnl. als Kultur- und Literatursprache stattfindet. Noch unter Heinrich III. ist dieser Hof stark auf die französische Literatur ausgerichtet. Dieser Herzog förderte Dichter wie Adenet le Roi oder Perrin d’Angicourt, und von des Herzogs eigener Hand sind etliche afrz. Gedichte erhalten geblieben (Henry 1948). Während die brabantische Herkunft des ‚Troje-

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romans‘ eigentlich nicht mehr in Zweifel gezogen wird, bleibt die Frage nach dem Förderer und dem konkreten intendierten Publikum vorläufig noch offen. Von Seghers ‚Trojeroman‘ sind inzwischen vier, vielleicht sogar sechs Hss. bekannt (Janssens 1987; Kienhorst 1998, Bd. II, S. 194–198), aber nur in zwei Hss. ist der Text mehr oder minder vollständig überliefert. Der wichtigste Textzeuge ist Brüssel, Kgl. Bibl. IV 927, der nach seiner Herkunft aus dem Wasserschloß Wissen (südlich nahe Weeze im Kreis Kleve) als Wissener Hs. bekannt ist. Die Hs. gehörte Wessel van den Loe († 1509), in dessen Auftrag sie wahrscheinlich angefertigt wurde. Diese Hs. von ca. 1480 ist in einem östlich gefärbten Mnl. geschrieben und umfaßt Maerlants ‚Historie van Troyen‘, worin Seghers Text in zwei Blöcken eingefügt ist (fol. 102vb-112ra sowie 116rb-123va). Eine zweite Abschrift ist enthalten in Brüssel, Kgl. Bibl. 15589–623, der berühmten Hulthemer Hs. – so benannt nach dem Bibliophilen Karel van Hulthem, der sie zwischen 1811 und 1832 im Besitz hatte. In dieser Hs. aus dem frühen 15. Jh. wird der ‚Trojeroman‘ nicht als ein Ganzes, sondern als drei separate Texte präsentiert (fol. 118rb-130vb), und von ‚Den groten strijt‘ fehlen am Ende ca. fünfzig Verse. Die drei Episoden gehören zu einem begrenzten, jedoch zusammenhängenden Florileg aus Maerlants ‚Historie van Troyen‘ (Jongen 1996). Zusätzlich gibt es noch Fragmente von zwei, vielleicht vier anderen Handschriften. In der Hs. ’s-Gravenhage, Kgl. Bibl. 131 G 37, fol. 28ra-30vb, finden wir den dritten Zeugen von Seghers Werk, ein Bruchstück von 321 Versen aus ‚Tpaerlement van Troyen‘. Die Hs. ist mehr oder minder gleichzeitig mit der Hulthemer Hs. entstanden, und die Abschriften zeigen, ohne identisch zu sein, große Übereinstimmungen in den entsprechenden Teilen. Der Text der Haager Hs. ist aber beträchtlich kürzer, obschon er auch Partien, die in der Hulthemer Hs. nicht vorhanden sind, bringt. Von einer direkten Abhängigkeit kann keine Rede sein (VerbijSchillings 1999, S. 15f.). Lange Zeit dachte man, die Haager Hs. sei eine Teilabschrift von Seghers Original; inzwischen hat es sich herausgestellt, daß sie auch ein Florileg aus Maerlants ‚Historie van Troyen‘ ist. Der vierte Textzeuge ist das sogenannte Ackersdijk-Fragment (Utrecht, UB 1330), das 441 Verse aus ‚Den groten strijt‘ enthält. Es handelt sich um ein Überbleibsel einer Hs. von Maerlants ‚Historie van Troyen‘. Janssens und Jongen (2001, S. 82, Anm. 2) nennen noch zwei weitere mögliche Textzeugen (Leiden, UB BPL 2387 u. Fragmente der UB von Yale). Genauere Informationen fehlen derzeit.

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Bearbeitung und Neuschöpfung Seghers Werk ist zu einem Gutteil eine Bearbeitung des ‚Roman de Troie‘ (RdT) von Benoît de Sainte-Maure, aber teilweise auch ein veritables Originalwerk (Janssens/Jongen 2001, S. 11–14). De facto nimmt Segher einen Teil des RdT zum Ausgangspunkt, die huitième bataille und die Vorbereitungen dazu (RdT 13065–14600). Teile davon übersetzte er ziemlich genau, Teile bearbeitet er und fügt eine substantielle Episode aus eigener Erfindung an. Grosso modo ist ‚Tpaerlement van Troyen‘ eine Umarbeitung von RdT 13065–260. ‚Den groten strijt‘ stimmt überein mit RdT 13867–14600. Zugleich fällt auf, daß Segher die Episode mit der Liebesgeschichte Briseidas, der Tochter des Calchas, nicht aufgenommen hat. Jedenfalls stellte es schon Maerlant fest und fügte in seiner ‚Historie van Troyen‘ eine eigene getreue Wiedergabe dieser Geschichte (RdT 13261– 866) zwischen die zwei Teile von Seghers Text, die er vollständig übernahm, ein. Es ist durchaus denkbar, daß Segher die Geschichte von Briseida aus Benoîts Text nicht übernahm, weil sie, veranlaßt durch die Liebesgeschichte von Troilus und Briseida, eine Anzahl misogyner Äußerungen zum Besten gibt (z.B. RdT 13455f.). Wenn wir Seghers Text als ganzen überblicken, dann scheint er gerade einen eher frauenfreundlichen Standpunkt einzunehmen. Die Liebe ist für Segher viel wichtiger als für Benoît. Das geht auch aus kleineren Eingriffen hervor, welche Segher in ‚Tpaerlement van Troyen‘ und ‚Den groten strijt‘ vornimmt. Ein kleines Beispiel mag genügen. Auf griechischer Seite kämpft ein König Phelis mit (der schließlich von Hector getötet werden wird). Bei seinem Erscheinen auf dem Schlachtfeld werden sein Pferd und seine Rüstung beschrieben. Benoît sagt, daß er unter seinem Helm eine Art Kappe trägt: E en son heaume un chaperon / Plus blanc que neif, d’un amiton, / Dont les langues batent a val […] (RdT 13995–997: „Und unter seinem Helm ein Käppchen, weißer als der Schnee, aus Aumitonstoff, von dem die Zipfeln herunterbaumeln“). Segher spricht auch von dem Helm, gibt der Äußerung aber eine eigene Wendung: Een joffrouwe, die hy had ghemint / ende die hem weder had lief, / gaf hem op mynnen een koverkief, / dat was op synen helm ghebonden (‚Trojeroman‘, V. 1470–1474: „Ein Edelfräulein, die er liebte und die ihn wiederum lieb hatte, gab ihm aus Liebe eine Haube, welche er auf seinen Helm gebunden hatte“). Aus diesem kleinen Eingriff wird deutlich, daß für Segher der Kampf ganz eng mit der Liebe verbunden ist: Der König betritt das Schlachtfeld ausgestattet mit einem Minnekennzeichen und ficht unter dem Panier der Liebe. Auch die von Segher aus der Quelle übernommenen Passagen bekommen insgesamt einen veränderten Charakter. Die

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düstere Atmosphäre, die Benoîts Text kennzeichnet, wird bei Segher gemildert und aufgehellt. Wenn bei Benoît die huitième bataille auf sehr tragische Weise endet, läßt Segher sie unentschieden ausgehen. Segher ändert das Material seiner Quelle, um die Wechselwirkung von Kampf und Liebe zu betonen und die positive Kraft der höfischen Liebe mehr in den Vordergrund zu stellen. Daß der ‚Trojeroman‘ eher als höfischer Liebesroman denn als ‚historischer Roman‘ über den Trojanischen Krieg konzipiert ist, erhellt sonnenklar aus dem originellen Teil, den Segher zum übernommenen Teil hinzugefügt hat. Für ‚Tprieel van Troyen‘ kann kein Pendant in RdT namhaft gemacht werden (ebensowenig bisher in einem anderen afrz. Text). Beim Rahmen dieses Teils, der Ratsversammlung, mit welcher ‚Tprieel‘ sowohl eröffnet als auch geschlossen wird, hat sich Segher wahrscheinlich von Elementen aus RdT anregen lassen, doch die Minnedialoge und die Minneklage sind gänzlich seine eigene Erfindung. Daß er sich seiner Neuerung bewußt war, erhellt aus den verschiedenen Stellen, wo er sich auf Dares Phrygius als Quelle beruft. Da er nicht einfach auf Benoît zurückgreifen kann, beschloß er, sich auf eine andere Autorität zu berufen, auch wenn diese Quellenberufungen falsch sind, weil Dares hier gar nicht herangezogen wird. Gerade dieser Eingangsteil gibt den Ton für den ganzen Roman an. Die Handlung mag dann eine kurze Episode aus dem Trojanischen Krieg darstellen, einen Kampf, der mit Worten (‚Tpaerlement van Troyen‘) und mit Waffen (‚Den groten strijt‘) ausgefochten wird; doch im Mittelpunkt steht die höfische Liebe. 4.3.2 Jacob van Maerlant: ‚Historie van Troyen‘ von Geert Claassens Abfassung, Überlieferung und Inhalt des Textes – Bearbeitung der Quellen – Maerlant und die französische Literatur: zwischen Roman und Geschichtsschreibung

Abfassung und Überlieferung des Textes Innerhalb des umfangreichen Œuvre des flämischen Dichters Jacob van Maerlant (f Alexanderromane, Teil A, Kap. 2.5) läßt sich die ‚Historie van Troyen‘ auf ca. 1264 datieren, also nach ‚Alexanders geesten‘, ‚Historie van den Grale‘, ‚Merlijns boek‘ und ‚Torec‘. Außerdem gehen aber noch andere Werke auf sein Konto, wie der Autor im Prolog seines Trojaromans angibt:

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Hier toe voren dichten hy Merlyn Ende Allexander uytten Latyn, Toerecke ende die Sompniarys Ende den cortten Lapydarys. (Jacob van Maerlant, ‚Historie van Troyen‘, V. 57–60, Ausg. De Pauw/Gaillard [1889– 1892], Bd. I, S. 2)

Der ‚Sompniarys‘, zweifellos ein Buch von den Träumen, und der ‚Lapydarys‘, ein Buch von den Steinen und ihren Eigenschaften, sind jedoch verloren, so daß der Trojaroman als sein fünftes erhaltenes Werk gelten kann. Es ist nach dem ‚Spiegel historiael‘ sein umfangreichster Text: In der einzigen (fast vollständigen) Handschrift zählt er 40881 Verse. Diese, die sogenannte Wissener Handschrift (s. Kap. 4.3.1) nimmt natürlich in der Gesamtüberlieferung (vgl. Jongen 1988, S. 205–209; Kienhorst 1988, Bd. I, S. 196–210) die wichtigste Position ein. Sie wurde ca. 1480 in einem östlich gefärbten Mnl. vermutlich im Auftrag von Wessel van de Loe (gest. 1509), dem sie jedenfalls gehörte, geschrieben. Da Maerlant den ganzen ‚Trojeroman‘ von Segher Diengotgaf (s. Kap. 4.3.1) in sein eigenes Werk aufnahm, ist diese Hs. selbstverständlich auch von entscheidender Bedeutung für die Überlieferung dieses Textes. Außer der Wissener Hs. – die dementsprechend notwendigerweise der einzigen verfügbaren Gesamtedition (De Pauw/Gaillard 1889–92) zugrunde liegt – sind noch Fragmente von mindestens zehn anderen Hss. bekannt, die hier mit den Nummern von Kienhorsts Repertorium aufgelistet seien: H106 – Utrecht, Universitätsbibliothek, 1330: wahrscheinlich noch 13. Jh.; westmittelniederländisch, brabantisch gefärbt. H107 – Leiden, Universitätsbibliothek, Ltk. 181; Berlin, Staatsbibliothek-Preußischer Kulturbesitz, Fragment 18; Gent, Universitätsbibliothek, 2749,5: 1. Hälfte 14. Jh.; Westflandern. H108 – Gent, Archief van het Bisschoppelijk Seminarie, ohne Sign.; Rotterdam, Gemeentebibliotheek, 96 B 6: 3: 1. Hälfte 14. Jh.; Westflandern. H109 – Antwerpen, Onze-Lieve-Vrouwecollege, 88.C.6: Mitte 14. Jh.; Westflandern. H110 – ’s-Gravenhage, Koninklijke Bibliotheek, 131 D 4: 2. Hälfte 14. Jh.; westmittelniederländisch/flämisch. H111 – Gent, Koninklijke Academie voor Nederlandse Taal- en Letterkunde, 1: 2. Hälfte 14. Jh.; Westflandern. H112 – Paris, Bibliothèque Nationale, ms. néerl. 126; Gent, Universitätsbibliothek, 691; Leuven, Collectie-J.M. de Smet, ohne Sign.: Mitte / 2. Hälfte 14. Jh.; Brabant. H113 – Gent, Universitätsbibliothek, 1594: 2. Hälfte 14. Jh., Brabant. H114 – Gent, Koninklijke Academie voor Nederlandse Taal- en Letterkunde, 7 bis a: Mitte 14. Jh.; wahrscheinlich Holland. H115 – Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, IV 209, 5: 1. Hälfte 14. Jh.; nicht lokalisiert.

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Die handschriftliche Überlieferung bezeugt die große Beliebtheit beim Publikum. Die Bedeutung des Werkes wird noch durch die Existenz von etlichen Exzerpten unterstrichen, darunter welchen in der berühmten Hulthemer Handschrift in Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, 15589–623. Ein Teil des Werks ist sogar in die ‚Historie van Troyen‘ aufgenommen worden, die 1479 durch Gheraert Leeu in Gouda gedruckt wurde. Dieser Wiegendruck folgt zwar der ‚Historia destructionis Troiae‘ von Guido de Columnis (um 1287), doch die hinzugefügte mnl. Bearbeitung der ‚Aeneis‘ geht – nach Gerritsen (1987) – auf Maerlants ‚Historie van Troyen‘ zurück. Überdies fällt auf, daß nur ein Codex eine deutliche holländische Dialektfärbung aufweist, obwohl das Werk zweifellos zur Zeit von Maerlants Aufenthalt auf der holländischen Insel Voorne verfaßt wurde (Te Winkel 1892, S. 49; Van Oostrom 1996, S. 102) und für die Nachkommen des römischen Königs Wilhelm II. bestimmt war (Van Oostrom 1996, S. 322). Aber dafür ist vielleicht an erster Stelle eher die flämische Dominanz in der hoch- und spätmittelalterlichen Handschriftenproduktion als ein Mangel an holländischem Interesse für den Text verantwortlich. Ein konkreter Auftragsgeber für die ‚Historie van Troyen‘ ist nicht bekannt. Aber Maerlant bezeichnet im Prolog sein Werk als einen swaren thyns, welchen er schuldig sei: Myn hert ende myn syn ende myn ghepeyns „Mein Herz, mein Sinnen und Trachten Is sculdich enen swaren thyns, sind einen hohen Tribut schuldig, Dien ic ommer gelden moet: den ich irgendwie entrichten muß: Dat is, een historie goet das heißt eine gute Historie Te dichtene int Duytsche woert, in theodisken Worten zu dichten, Die men int Walsche heft gehoert. welche man im Romanischen vernommen hat.“ (Jacob van Maerlant, ‚Historie van Troyen‘, V. 1–6, Ausg. De Pauw/Gaillard, Bd. I, S. 1)

Diese Formulierung läßt zumindest die Möglichkeit offen, daß es sich um ein Auftragswerk handelt. Das Wort thyns (lies: cijns) verweist ja auf den Tribut, den man seinem Herrn schuldet (Van Oostrom 1996, S. 125). Mehr noch, es ist auch nicht undenkbar, daß Maerlant den Auftrag von jemand bekam, der den französischen Text kennengelernt hatte, jedoch gerne davon eine mnl. Bearbeitung besitzen wollte. Für den Inhalt des Textes muß auf die Inhaltsangaben des ‚Roman de Troie‘ (s. Kap. 4.1) und des ‚Roman d’Eneas‘ (f Aeneasromane, Teil A, Kap. 3.4) verwiesen werden, auch wenn Maerlant Benoîts Roman noch durch weitere Quellen erweitert, die Aeneasgeschichte dagegen nicht nach dem afrz. Roman, sondern nach Vergils ‚Aeneis‘, und auch dies stark verkürzend, erzählt hat. Wie im afrz. Trojaroman besteht auch bei Maerlant mehr als die Hälfte des Textes aus Schlachtschilderungen (V. 8439–30340),

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unterbrochen nur durch Liebeshandlungen (z.B. von Briseida, Troilus und Diomedes in den V. 15859–16334, 17062–17201, 17965–18134, 18195–18308, 23299–23382 u. 23419–23546), Todesklagen (z.B. über Hectors Tod in den V. 19497–19542 u. 19639–19884), Beratungen und Verhandlungen (z.B. das von Segher Diengotgaf entlehnte ‚Paerlement van Troyen‘ in den V. 15502–15858) und Beschreibungen (z.B. die Weltbeschreibung in den V. 28336–29344). Bearbeitung der Quellen In seinem späteren ‚Spiegel historiael‘ charakterisiert Maerlant seine eigene Arbeitsweise in der ‚Historie van Troyen‘, wie folgt: Dat rapede ic wilen harentare „Das habe ich damals da und dort zusammengerafft, Van Benoite ende van Virgiliuse, aus Benoît und Vergil, Van Statiuse ende van Ovidiuse. aus Statius und Ovid.“ (Jacob van Maerlant, ‚Spiegel historiael‘, I,2,14, V. 42–44, Ausg. De Vries/Verwijs [1863–79], Bd. I, S. 65)

Der Rückgriff auf Vergil, Statius und Ovid verbindet die ‚Historie van Troyen‘ zwar keineswegs mit dem französischen Kulturraum, aber seine Hauptquelle tut dies durchaus. Das Rückgrat bildet allemal der anglonormannische ‚Roman de Troie‘ von Benoît de Sainte-Maure von ca. 1160. Doch Maerlant beschränkt sich nicht darauf, diesen Text getreulich wiederzugeben. Ebenso wie auch in anderen Werken, z.B. den ‚Alexanders geesten‘ (f Alexanderromane, Teil A, Kap. 2.5), zieht er neben seiner Hauptquelle auch zusätzliche Quellen heran, um die Erzählung zu vervollständigen. Maerlant nennt die meisten seiner Quellen im Prolog (vgl. auch Jongen 1988, S. 16–21 u. 24–26): In die stat van Troyen was Een duer clerck, die veel las Ende gherne in boecken oec studeerden. Die wyle dat men die stat verweerde, – Daeres leest men dat hy hiet – Tot dien dat men die stat verriet. Van den yersten dat al begonde Screef hy totter lester stonde. Al was hy van der stat gheboren, Doer dat en brocht hy niet te voren Anders dan hy hoerde ende sach. Syn boeck was wel menighen dach Verlaeren, mer daernae wast vonden

„In der Stadt Troja lebte ein trefflicher Gelehrter, der viel las und gerne auch in Büchern studierte, als man die Stadt verteidigte – Dares hieß er, wie man liest –, bis man die Stadt verriet. Vom Augenblick, da alles begann, schrieb er bis zum letzten. Obwohl er aus der Stadt stammte, brachte er doch nichts vor, als was er hörte oder sah. Sein Buch war sehr viele Tage verschollen, dann aber wurde es gefunden

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Tot Athenen tenen stonden. eines Tages in Athen. Cornelius mit groter pynen Cornelius (Nepos) übersetzte es mit großer Mühe Dichtent van Griexen in Latynen. aus dem Griechischen ins Lateinische. Homerus ende Ovidius Homer und Ovid Ende van Romen Stachius und Statius aus Rom Die screef daeraf een stuck. schrieben (auch) einiges darüber.“ (Jacob van Maerlant, ‚Historie van Troyen‘, V. 28–45, Ausg. De Pauw/Gaillard, Bd. I, S. 2)

Freilich hat Maerlant Dares nur via Benoît gebraucht. Homer kannte er natürlich auch nicht in griechischer Form, sondern ausschließlich durch die ‚Ilias latina‘ (‚Homerus latinus‘), ein im Mittelalter weit verbreitetes Schulbuch (heute einem Baebius Italicus zugeschrieben). Nach Jongen (1988, S. 18f.) wurde Maerlant von der ‚Ilias latina‘ direkt beeinflußt, zitierte sie aber entweder aus dem Gedächtnis oder stütze sich auf OvidGlossen oder Ovid-Kommentare. Aus Ovids ‚Metamorphosen‘ entlehnte Maerlant sieben Erzählungen, darunter die Opferung Iphigenies in Aulis (Met. 12,24–38), den Streit zwischen Achill und Cycnus (Met. 12,439–480) und die Erscheinung von Achills Geist (Met. 13,439–480). Auffälligerweise folgt Maerlant Ovid sehr getreu – und nennt auch in fünf von den sieben Fällen seine Quelle –, läßt aber alle Verwandlungen weg. Die vollständige ‚Achilleis‘ konnte Maerlant natürlich nicht benützen, da Statius sie bei seinem Tode unvollendet hinterließ. Aber was davon vollendet war, wurde verbreitet und gehörte auch zu den gängigen Schulbüchern des Mittelalters. Maerlant nahm eine vollständige Bearbeitung als Verse 4779–6506 in seine ‚Historie van Troyen‘ (untersucht von Jongen 1988) auf. Am Beginn des Prologs nennt Maerlant das Werk seines ‚Vorgängers‘ Segher Diengotgaf (s. Kap. 4.3.1), dessen ‚Trojeroman‘ er auch vollständig in sein Werk integrierte. Doch wo er es genau ins Gewebe seines Textes einfügte, das vermeldet er nur in der ausführlichen taffell (Inhaltsangabe) der ‚Historie van Troyen‘ (V. 64–646, hier V. 57, 371 u. 374; Ausg. De Pauw/ Gaillard, Bd. I, S. 3–21), wobei er selbst anmerkt, daß Segher die Geschichte von Troilus, Briseida und Diomedes vergessen hat (V. 366). An den Orten, wo er Seghers ‚Trojeroman‘ tatsächlich einfügt, gibt er das übrigens deutlich an. Nicht im Prolog, sondern nur in der taffell kündigt Maerlant an, daß er auch Vergils ‚Aeneis‘ herangezogen hat. In den V. 595–602 sagt er, daraus habe er die List mit dem hölzernen Pferd entlehnt. Aber Maerlant beschränkt sich nicht darauf, sondern verflicht faktisch eine komplette Bearbeitung der ‚Aeneis‘ in seine ‚Historie van Troyen‘, wobei er die Chronologie der Handlung der ‚Aeneis‘ der Chronologie des eigenen Werkes anpaßt. Zwei Zusatzquellen werden nur dort genannt, wo sie verwendet werden. In V. 13769–13826 treffen wir eine kurze Epi-

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sode aus dem Leben von Antonius Eremita, welche Maerlant aus den ‚Vitaspatrum‘ bezieht (die er fälschlich Hieronymus zuschreibt), und in V. 28336–29346 fügt er die Weltbeschreibung aus seinen eigenen ‚Alexanders geesten‘ (Ausg. Franck [1882], VII,837–1776; f I Einleitung) ein und ersetzt dadurch Benoîts Weltbeschreibung. Die Begründung für den Einschub sagt eine Menge über sein Verhältnis zum Text von Benoît aus. Nach der Feststellung, daß Benoît hier seine Trojaerzählung unterbricht, fährt er so fort: Mer, omdat ic heb dit ghedicht Doch weil ich das im ‚Alexander‘ gedichtet In Alexander ende bet verlicht, und besser erklärt habe Ende oec meer daeraf gheseecht und auch mehr davon gesagt, Dan in Benoyts ryeme leecht, als in Benoîts Reimen vorliegt, Wil ickes ontberen te deser stede will ich jetzt darauf verzichten, es hier zu tun, Te maken, want ic hebt lede denn ich bin dessen überdrüssig Ende ghedicht in Alexandre. und habe es im ‚Alexander‘ gedichtet. Daerom en wil ic gheen andre Darum will ich keine andere Reden maecken noch oec dichten, Rede verfertigen noch auch dichten, Mer ic wil u saen berichten sondern will euch sogleich vortragen Dat selve ghedicht, die selve woerde. dasselbe Gedicht, dieselben Worte. (Jacob van Maerlant, Historie van Troyen’, V. 28322–28332, Ausg. De Pauw/Gaillard, Bd. III, S. 5)

Maerlant findet seine Weltbeschreibung, wie er sie in seinen ‚Alexander‘ aufgenommen hat, einfach besser und ausführlicher als die von Benoît. Seine ambivalente Haltung gegenüber Benoîts Text geht meines Erachtens auch aus der Art und Weise hervor, wie Maerlant seine Hauptquelle im Prolog vorstellt (s.o.). Zuerst kündigt er seine Zusatzquellen an – mit dem Vermerk, er werde im Text jeweils kenntlich machen, wo er von welcher Quelle Gebrauch mache. Dann folgt die Nennung Benoîts mit einer nahezu verdächtigen Beiläufigkeit, als ob die Quelle von sehr beschränkter Bedeutung sei, eben eine quantité négligeable: Mer, binnen den yersten, so sal ick Doch zu allererst werde ich U doen weten ende verstaen Euch zu wissen und verstehen geben, Waer haer werken aengaen, wo ihre Werke beginnen, Nae dien dat ic bescreven hore. so wie ich es beschrieben finde. Een, hiet Bonoot van Suette More, Einer mit Namen Benoît de Sainte-Maure Dichtet in Latyn van Romans, dichtete nach dem Romanischen in Latein Mit ryemen scoen ende gans. schön und ganz in Reimen. (Jacob van Maerlant, Historie van Troyen’, V. 46–52, Ausg. De Pauw & Gaillard, Bd. I, S. 2)

Die Behauptung, Benoît Dichtet in Latyn van Romans ist rätselhaft. Es dürfte ein Schreiberversehen in der Wissener Hs. sein. Benoît schrieb ja in Fran-

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zösisch, nicht in Latein (auch Te Winkel [1892, S. 49] nimmt das klarerweise an). Daher müßten wir also diesen Vers vielleicht lesen: Dichtet van Latyn in Romans („schrieb nach dem Lateinischen in Romanisch“). Aber es könnte auch ein auffallendes Versehen von Maerlant selbst vorliegen, wodurch der ‚Roman de Troie‘ unrichtig vorgestellt wird. Ich bin zwar geneigt, an einen Schreiberfehler zu glauben; doch das ändert nichts daran, daß Maerlant in diesen Versen einen zweideutigen Versuch unternimmt, Benoîts Text aufzuwerten („es ist zwar in Französisch geschrieben; doch es liegt in jedem Fall ein lateinischer Text zugrunde“). Naturgemäß sagt es etwas über dieselbe Absicht Maerlants aus, wenn er Benoîts Bericht v.a. mit Material aus lateinischen Quellen auffüllen zu müssen glaubt. Doch ist es auch bezeichnend für seine Auffassung vom historischen Wert seiner afrz. Hauptquelle. Im Verlaufe der ‚Historie van Trojen‘ lassen sich mehrere Stellen aufweisen, aus welchen hervorgeht, daß Maerlant keine hohe Meinung vom historischen Gehalt des ‚Roman de Troie‘ hatte. Ein Beispiel dafür mag genügen. Bei Benoît ist Aeneas gemeinsam mit Antenor für den Fall Trojas am Ende verantwortlich. Das weigert sich Maerlant zu akzeptieren, denn der Mann, der an der Wiege des großen Rom stand, kann kein Verräter sein: Dit schynt boerde in alre wys; / Hoert, ons scryft dus Virgilius (Jacob van Maerlant, ‚Historie van Troyen‘, V. 31583f., Ausg. De Pauw/Gaillard, Bd. III, S. 99: „Das scheint ganz und gar eine Lüge. Hört, so schreibt uns Vergil“). Maerlant nimmt offensichtlich an, daß Vergil im Recht ist, und desavouiert Benoîts Bericht in diesem Punkt als Erfindung. Maerlant betreibt auch auf seine eigen Weise Quellenkritik, wobei der Gebrauch des Lateinischen gegenüber dem Französischen für ihn ein schwerwiegendes Kriterium ist, aber auch die Anzahl von Texten, welche übereinstimmend eine Version einer Ansicht stützt. Wenn er den ‚Diebstahl‘ des Palladiums durch Calcas und Ulixes beschreibt, ist Maerlant mit der Vorstellung Benoîts vom Sachverhalt deutlich unzufrieden, weil andere Quellen nicht damit übereinstimmen: Dese dinc die wy bescryven, „Was wir beschreiben, sei, Scryft Benoyt, – des heft hy lachter, – schreibt Benoît – das gereicht ihm zur Schande –, Dat langhe ghescieden daerachter, lange danach geschehen, Sodat Achilles was verscleghen. so daß Achill (bereits) erschlagen war. Mer so veel buecke segghen derteghen, Aber so viele Bücher sprechen dagegen, Dat ickes hem niet en volghe alleen, daß ich nicht ihm allein folge Teghen allen danderen ghemeen. entgegen allen anderen zusammen.“ (Jacob van Maerlant, Historie van Troyen’, V. 23700–23706, Ausg. De Pauw/Gaillard, Bd. II, S. 266)

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Am Beginn dieser Episode hat er Benoît schon gerüffelt und getadelt, daß er sich besser ausgerüstet haben sollte mit buecken die men leest in scolen – lateinischen Büchern wohlgemerkt! –, Soe en had hy niet moghen dolen („so hätte er nicht irren können“). Der kritische Umgang mit dem ‚Roman de Troie‘ paßt übrigens bestens mit Maerlants Übertragungsmethode überein, die durchgehend ganz getreu, ja beinahe sklavisch zu nennen ist, wie aus folgendem Beispiel erhellen kann: Dedenz les triuës seûraines, Jut danz Hector bien treis semaines: Toz fu respassez e guariz, Ainz que li meis fust acompliz. Sovent alot chacier Paris En la forest de Beletis; E cil qui aler i voleient Sauvagine moût i preneient, Quar tote en ert la forest pleine. Sovent en aveit dame Heleine Longes, lardez o les daintiez, Cimiers e hanches e forchiez. Moût en aportent veneison, Moût en prenent a grant foison. One de dis anz que li oz tint, N’i chaça Greus ne n’i avint, N’onques dedenz li chevalier Por eus n’i laissent a chacier. (Benoît de Sainte-Maure, ‚Roman de Troie‘, V. 14959–14976, Ausg. Constans [1904–12], Bd. III, S. 1f.)

In die camer daer wy af spreken Lach Hector te meisteren IIJ weken, Ende was bynnen der maent ghenesen, Alsoe wel als man mocht wesen. Ducke voer jaghen Parys Int foreest, des ben ic wys, Ende alle dieghene die wouden jaghen, Vonden ghenoech, want in dien daghen Der was wilts ghenoech in dien foreest. Helena voer mede mit groter feest, Ende bracht venisoens ghenoech, Want der was meer dan int ghevoech. Bynnen X jaeren datter voer laghen Die Griecken, en voeren sy nye jaghen, Noch die van bynnen en lieten noyt, Om hem, haer jaghen, seghet Bonoyt. (Jacob van Maerlant, ‚Historie van Troyen‘, V. 17921–17936, Ausg. De Pauw/Gaillard 1889, Bd. II, S. 100f.)

„Während des streng beachteten Waffen- “In der Kammer, von der wir sprechen, stillstandes lag Hector gut drei Wochen. lag Hector den größten Teil der drei Wochen Ganz war er geheilt und wiederhergestellt, und war innerhalb des Monats genesen, ehe der Monat vorüber war. so gut wie man es nur sein kann. Paris ritt oft jagen Oft ritt Paris jagen in den großen Wäldern von Beleitis, in den Wald, das weiß ich, und alle, welche hinreiten wollten, und alle diejenigen, welche jagen wollten, erlegten viel Wild, fanden genug, denn in jener Zeit da davon der ganze Wald voll war. gab es genug Wild in dem Wald. Oft sandte man der Herrin Helena die Leckerbissen, Lendenstücke, Filets, Helena ritt mit großer Festlichkeit mit Rücken, Schenkel, Schlegel. und brachte genug Wildbret, Sie brachten und erbeuteten dort denn davon gab es mehr als nötig. viel Wildbret in großer Menge.

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Während der zehn Jahre, die der Krieg dauerte, jagte dort nie ein Grieche und kam nie hin, noch unterließen die Ritter drinnen ihretwegen zu jagen.“

Innerhalb von zehn Jahren, da die Griechen die Belagerung aufrechterhielten, ritten sie nie zur Jagd, noch unterließen die von drinnen ihretwegen ihre Jagd, sagt Benoît.“

Die Unterschiede zwischen dem afrz. Text und Maerlants Bearbeitung sind minimal; gerade einmal zwei (unterstrichene) Verse von Benoît haben keine Entsprechung bei Maerlant. Die (ebenfalls unterstrichenen) Zusätze von Maerlant fallen so gut wie alle in die Kategorie der Versfüllungen, damit die Reimpaare komplettiert werden. Man kann sich wohl fragen, warum er nicht statt des bin ic wys auf die Phrase van Beletys kommen konnte. Obwohl Maerlant seine Quelle nicht überall korrekt verstanden hat (vgl. Te Winkel 1892, S. 334), ist es natürlich denkbar, daß Art und Zustand seiner konkreten Vorlage ihm hier einen Streich gespielt haben. Er ist vielleich nicht der stilistisch begabteste Erzähler, aber Achtung vor dem Inhalt seiner Quellen, wenigstens wenn der Inhalt historisch richtig ist, hat er durchaus gehabt. Maerlant und die französische Literatur: zwischen Roman und Geschichtsschreibung Was aus der Entstehung der ‚Historie van Troyen‘ deutlich ins Auge springt, ist Maerlants Voreingenommenheit zugunsten ‚wahrer Geschichtsschreibung‘. Damit ist sein Umgang mit den Quellentexten aufs engste verbunden. Im Entwicklungsgang seiner schriftstellerischen Tätigkeit nimmt sein Mißtrauen gegenüber der französischen Literatur sichtlich zu, und er formuliert dieses Mißtrauen auch immer unverblümter (vgl. auch Te Winkel 1892, S. 395–402). Am Beginn seiner Autorenlaufbahn hat Maerlant bereits Texte aus dem Französischen übertragen. Ich denke da an die Artusromane ‚Torec‘, ‚Historie van den Grale‘ und ‚Merlijns boek‘. In der ‚Historie van den Grale‘ läßt Maerlant seine Probleme mit dem Wahrheitsgehalt seines Quellentextes, der ‚Estoire del Saint Graal‘ Roberts de Boron, deutlich erkennen, wenn er sagt: Jck wille dat gij des zeker zijt „Ich möchte Euch dessen versichern, Dat ick de historie vele valsch daß ich die Historie im Romanischen Gevonden hebbe in dat Walsch, in vieler Hinsicht als unwahr befunden habe, Dar ze van gode onsen heren sprak […]. wo sie von Gott, unserem Herrn, sprach.“ (Jabob van Maerlant, ‚Historie van den Grale‘, V. 20–23, Ausg. Sodmann [1980], S. 115)

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Maerlant korrigiert seine Quelle nach den Evangelien und den Schriften des Flavius Josephus, z.B. um die Identität Josephs von Arimathea korrekt festzustellen (‚Historie van den Grale‘, V. 152–167, Ausg. Sodmann, S. 119). Im Prolog von ‚Der naturen bloeme‘ bespricht er den Auftrag, den er erhalten hat, um einen bestiarijs zu dichten, und fügt hinzu, sehr gut zu wissen, daß so ein Buch im Mnl. schon verfügbar sei. Doch er weist es mit der Begründung zurück, daß es unzuverlässig sei: nochtan wetic wel dat waer is „Zudem weiß ich wohl und wahrhaftig, dat dar willem huten houe daß Willem Utenhoven, een priester van goeden loue eine Priester von gutem Rufe, van erdenborch: enen heuet ghemaket von Aardenbrug, einen verfaßt hat. mar hi waser in ontraket Doch er wurde dabei in die Irre geführt, want hine huten walsche dichte denn er dichtete ihn nach dem Romanischen, dies wart hi ontledet lichte wodurch er leicht irregeleitet wurde ende heuet dat ware begheuen und die Wahrheit verloren hat. mar daric dit hute ebbe bescreuen Aber wonach ich das vorliegende verfaßt habe, ebbic van broeder albrechte das ist von Bruder Albert van colne diemen wel met rechte von Köln, den man mit Recht hetet bloeme van der clergien die Blüte der Gelehrsamkeit nennt.“ (Jacob van Maerlant, ‚Der naturen bloeme‘, Prolog, V. 104–115, Ausg. Gysseling [1981], S. 18)

Maerlants Kritik richtet sich hier nicht gegen die Person seines Vorgängers, Priester Willem Utenhoven von Aardenburg (dem er eine gute Reputation zuschreibt), sondern gegen die französische Quelle, die dieser verwendete. Maerlants eigener Text ist besser, weil er das Werk von Albertus Magnus als Quelle benützt. Dabei ist ihm freilich nicht klar, daß der von ihm bearbeitete lateinische Text gar nicht von Albert stammt, sondern von Thomas von Cantimpré. Der Höhepunkt von Maerlants Ressentiment gegenüber der französischen Literatur findet sich im ‚Spiegel historiael‘, dort wo er die Quellen für die Geschichte Karls des Großen bespricht. Da äußert er sich wiederum sehr kritisch zur französischen Literatur: Die scone Walsche valsche poeten, „Die schönen welschen falschen Dichter, Die meer rimen dan si weten, die mehr in Reime setzen, als sie wissen, Beliegen groten Karle vele, lügen viel über Karl den Großen In sconen worden, in bispele, […]. in schönen Worten, in Exempeln […].“ (Jacob van Maerlant, ‚Spiegel historiael‘, IV,1,29, V. 27–30, Ausg. De Vries/Verwijs, Bd. III, S. 204)

Für Maerlant sind welsche (französische) Bücher lügnerische Bücher geworden, und dafür scheint seine Auffassung, daß eine schöne Darstellung zu Unwahrheit führt, ganz wichtig zu sein. Wenn er von Benoîts Werk sagt, dieser habe Mit ryemen scoen ende gans (s.o.) geschrieben, dann ist das

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schwerlich als Kompliment aufzufassen, ganz im Gegenteil. So bekommt man den Eindruck, er habe den ‚Roman de Troie‘ nur faute de mieux herangezogen, weil er offenbar keinen direkten Zugang zu Benoîts Quellen, ‚De excidio Troiae historia‘ (‚Acta diurna belli Troiani‘) von Dares Phrygius und ‚Ephemeris belli Troiani‘ von Dictys Cretensis, hatte, obwohl er sie durchaus kennt und mehrmals in der ‚Historie van Troyen‘ als auctoritates anführt (Jongen 1988, S. 17). Jan te Winkel, ein großer Kenner von Maerlants Oeuvre, schrieb noch 1892, daß Maerlant „in zijne ‚Historie van Troyen‘ zijn laatsten roman heeft geleverd“ (Te Winkel 1892, S. 31), und von einem modernen und daher ananchronistischen Standpunkt aus können wir dem zustimmen und behaupten, daß die ‚Historie van Troyen‘ romanhafte Züge aufweist. Aber mit Sicherheit spiegelt diese Auffassung Maerlants Intention in keiner Weise wieder. Alles weist darauf hin, daß er in allererster Linie ein historiographisches Ziel verfolgte. Wir greifen noch einmal auf den Prolog zur ‚Historie van Troyen‘ zurück, wo Maerlant seine Absicht so zum Ausdruck bringt: Dat is, een historie goet „Das heißt eine gute Historie Te dichtene int Duytsche woert, in theodisken Worten zu dichten, Die men int Walsche heft gehoert. die man im Romanischen gehört hat. Oeck is ghedicht in Duyts een deel, Zwar ist ein Teil in Theodisk verfaßt worden. Mer ic wil se al gheheel Aber ich will sie ganz vollständig Van beghyn ten eynde maken, von Anfang bis Ende verfertigen, Gan my Got al sulker saken wenn Gott mir vergönnt, Dat my myn syn niet en is te laf! daß mir mein Verstand nicht zu schwach ist.“ (Jacob van Maerlant, ‚Historie van Troyen‘, V. 4–11, Ausg. De Pauw/Gaillard, Bd. I, S. 1)

Er will die Geschichte des Trojanischen Krieges selbst bieten, nicht so sehr eine Erzählung davon, und er will die Geschichte vollständig präsentieren, nicht bloß einen Teil davon. Jacob van Maerlant sah sich selbst eher als Historiographen denn als Romancier (vgl. Te Winkel 1892, S. 361–426), und was er dem Pergament anvertraute, mußt zuerst und vor allem wahr sein, auch wenn das auf Kosten der Schönheit des geschriebenen Wortes ging. Wie schön Benoît es auch sagen konnte, […] Jacop en dicht niet daernaer „Jacob dichtet im weiteren nichts, Anders dan hy hout voer waer. außer dem, was er für wahr hält.“ (Jacob van Maerlant, ,Historie van Troyen‘, V. 1927f., Ausg. De Pauw/Gaillard, Bd. I, S. 59) [Übersetzung (Teil A, Kap. 4.3): Fritz Peter Knapp] [Manuskriptabschluß (Teil A, Kap. 4.3): Januar 2013]

Literaturverzeichnis

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B Geschichtsepik – Heldenepen/Chansons de geste 1. Einleitung 2. Karlsepen 3. Wilhelmsepen 4. Kreuzzugsepen 5. Lothringerepen 6. Empörerepen

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1 Einleitung von Geert Claassens und Fritz Peter Knapp Heldenepik in Deutschland und in den Niederlanden – Französische Heldenepik in kontinentalgermanischer Bearbeitung

Heldenepik in Deutschland und in den Niederlanden Unter den Differenzen zwischen den epischen Zeugnissen des Mhd. und des Mnl. stechen besonders die Stellung und Ausprägung der heldenepischen Gattung(en) hervor. Während im Mhd. vor allem die germanische Heldensage weiterlebt, so im Mnl. die romanische. Das bedarf gerade in einem Handbuch wie dem unseren ausführlicher Überlegungen, ist es doch durch die verhängsnisvolle gegenseitige Abschottung von Altgermanistik und Medioniederlandistik bisher noch nie im Fokus der Forschung gestanden. An sich wäre der Raum am unteren Rhein, an der Maas und an der Schelde geradezu prädestiniert gewesen, zum Kreuzungspunkt fränkischer und nordseegermanischer Sagen zu werden. Wie ein Ergebnis davon ausgesehen haben könnte, läßt sich schattenhaft aus der – freilich bis ins 13. Jh. in unbekannter Weise umgeformten – ‚Kudrun‘ erahnen (vgl. die Sagenentwicklungsgeschichte in der alten Manier bei Schneider 1928/34, Bd. I, S. 381–384, und das Schweigen darüber bei Millet 2008, S. 242–246). Unbekannt waren Nibelungen- und Dietrichsage in diesem Raum auch nicht. Zwei Blätter einer Londoner Handschrift aus der 2. Hälfte des 13. Jh. bezeugen uns eine flämische Bearbeitung des ‚Nibelungenliedes‘ (Kienhorst 1988, Bd. I; S. 146f.). Das flämische Tierepos ‚Van den vos Reynaerde‘ benützt für die Lügenrede des Fuchses die sprichwörtliche Bekanntheit des Schatzes des Ostgotenkönigs Ermanarich (f VI Die deutsche und niederländische Tierepik). Dazu kommt ab und an noch diese oder jene andere Anspielung. Vielleicht hat auch das rätselhafte Fragment eines Gedichtes ‚Van den bere Wisselau‘ (720 teils beschädigte westbrabantische Verse; 13. Jh.) etwas mit germanischer Heldensage zu tun. Jedenfalls weist der vielleicht am Niederrhein entstandene Text inhaltliche

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Parallelen zu ‚König Rother‘, ‚Nibelungenlied‘ und ‚Thidrekssaga‘ auf. Aber gegen die Fülle deutscher Heldenpik nimmt sich das mehr als bescheiden aus, insbesondere wenn man das mnl. ‚Nevelingenlied‘ als sekundäre Übernahme aus dem Hochdeutschen einschätzt (so Voorwinden 1982), also als eines der ganz raren Zeugnisse eines Ost-West-Transfers (wie ‚Van den bere Wisselau‘?). Einer dem Gedanken der volkstümlichen Originalität verpflichteten älteren Niederlandistik hat das den Stoßseufzer entlockt: „Die niederl. Literatur ist nicht auf spontane Weise entstanden aus dem Drang des Volkes, die Vorstellungen seiner Einbildungskraft […] auszusprechen […]. Die Niederlande sind sagenarm […]. Die ältesten niederländischen Dichter haben bloss geschrieben, um das von den Franzosen gegebene Vorbild nachzuahmen, und diese Nachahmung bestand anfangs nur noch in Übersetzung“ (Te Winkel 1909, S. 420–423). Schuld daran sei der überwältigende Einfluß des Französischen in Flandern und Brabant im 12./13. Jh. Van Oostrom (LG) bezeichnet es dagegen mit einigem Recht als unwahrscheinlich, daß es in den Niederen Landen keine Heldenepik gegeben habe. Er erwägt stattdessen entweder einen radikalen Kulturbruch zwischen Früh- und Hochmittelalter oder – eher – ein kontinuierlicheres Fortleben der mündlichen Dichtung, die jedoch der Schrift ganz entraten konnte (ebd., S. 78). Doch selbst dann muß das Schicksal der germanischen Heldensage in der mittelniederländischen Literatur als das vielleicht wichtigste Unterscheidungsmerkmal gegenüber der mittelhochdeutschen Literatur gelten. Im Umkehrschluß zu den niederländischen Verhältnissen müßte man dann den vergleichsweise recht schwachen Einfluß der Romania dafür verantwortlich machen, wenn sich die vor ca. 1300 angefertigten mhd. Bearbeitungen altfranzösischer Chansons de geste auf zwei Zyklen beschränken, den Karls- und den Wilhelmszyklus: ‚Rolandslied‘ (und dessen Neufassung ‚Karl der Große‘), ‚Willehalm‘, ‚Rennewart‘, ‚Strit van Alescans‘ (Fragment), ‚Karl und Galie‘, ‚Morant und Galie‘. Die Zahl der mnl. Bearbeitungen ist zwar auch nicht sehr viel größer, erfaßt aber ein viel breiteres Spektrum: aus der Karlsepik ‚Karl ende Elegast‘ und ‚Roelantslied‘, aus der Wilhelmsepik ‚Willem van Oringen‘, aus der Kreuzzugsepik ‚Godevaerts Kintshede‘ und ‚Roman van Antiochië‘ (als Rest des gesamten Zyklus?), aus der Lothringerepik der ‚Roman der Lorreinen‘, aus den Empörerepik ‚Renout van Montalbaen‘ und ‚Geraert van Viane‘, schließlich außerhalb der Zyklen noch ‚Aiol‘ und ‚Boeve van Hamtone‘. ‚Aiol et Mirabel‘ (pikardisch, um 1170) ist sogar zweimal übertragen worden. Die ältere Version – von Tervooren (S. 90) seltsamerweise als „eine der wenigen Adaptationen einer chanson de geste im germanischen

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Sprachraum“ bezeichnet – gehört noch der älteren maasländischen Produktion an, ob noch dem 12. Jh. (ebd., S. 93), scheint fraglich. Die 808 erhaltenen Verse dieses sogenannten ‚Limburgischen Aiol‘ (Kienhorst 1988, Bd. I, S. 1–5) sind um 1220 in der Gegend von Venlo aufgezeichnet worden. Die Übertragung in vierhebigen Reimpaarversen erfolgte offenbar recht getreu, so daß der Umfang etwa dem Original entsprochen haben wird. Die jüngere (ost)flämische Bearbeitung, wovon 1200 Verse bewahrt geblieben sind (Kienhorst 1988, I, S. 6f.: Anfang 13. Jh.), verfährt mit der Vorlage wesentlich freier, kürzt, erweitert und ändert in durchaus ungewöhnlicher Weise (Finet-Van der Schaaf 1987a u. 1987b). Will man nicht mit Finet-Van der Schaaf einen durchaus eigenwilligen Adaptationmodus annehmen, könnte man, da die Motive der hinzugefügten Episode von 240 Versen keineswegs originell sind, erwägen, ob die Vorlage eine verlorene afrz. Version des ‚Aiol‘ gewesen ist. Der ‚Boeve van Hamtone‘ (Kienhorst 1988, Bd. I, S. 22f.: 2. Hälfte 13. Jh.) entzieht sich mit seinen ganz wenigen, nämlich nur 118 erhaltenen Versen einer näheren Beurteilung. In seiner bloßen Existenz ist es jedoch von einiger Bedeutung, bezeugt es doch einerseits die Rezeption dieses im übrigen sehr weit (bis Rußland) nachwirkenden umfangreichen afrz. Textes (‚Beuve de Hantone‘, ca. 1220, pikardisch, mehr als 16000 Verse) im ‚theodisken‘ Sprachraum, andererseits – zusammen mit dem ‚Nevelingenlied‘ und ‚Van den bere Wisselau‘ – den frühen Anteil Brabants an der mnl. Literatur (vgl. Goossens 1995, aber auch Beckers 1970, S. 96–98). Die Datierungsunsicherheit ist für die Entstehung der mnl. Denkmäler noch größer als für die deutschen. Vor allem aber haben wir auch hier mit der auch sonst zu beobachtenden Phasenverschiebung zu rechnen. Erst im 14. Jh. steigert sich die mnl. Handschriftenproduktion erheblich. Andererseits haben wir im Deutschen eine Nachblüte der Chanson-de-gesteBearbeitungen im 15. Jh. zu verzeichnen. Dazwischen steht im Aachener Raum (?) die große ‚Karlmeinet‘-Kompilation des 14. Jh. In der Mitte des 14. Jh. oder wenig später ist auch die wichtigste (fragmentarisch erhaltene, aus Brabant stammende) Handschrift der ‚Lorreinen II‘ geschrieben, worin sich Reste einer Foliierung finden, darunter die Zahlen CCC, CCC.X und CCC.XC. Falls dem zu trauen ist, ließe sich der Umfang des Werkes auf ca. 150000 Verse hochrechnen. Keine andere mittelalterliche versepische Dichtung könnte da mithalten. Zudem soll ‚Lorreinen II‘ nach Van der Have (1990) vor dem ‚Roman van Heinric ende Margriete van Limborch‘ (begonnen 1291) verfaßt sein. Erhalten haben sich davon freilich nur etwas über 10000 Verse. Ob die Datierung für das ganze Riesenwerk gelten kann, scheint freilich nicht ausgemacht. Es könn-

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ten auch spätere Interpolationen den gewaltigen Umfang erzeugt haben. Wie dem auch sei, ‚Lorreinen II‘ kommt ein großes literarhistorisches Gewicht zu, denn es ist allem Anschein nach in Brabant nach den Vorgaben in ‚Lorreinen I‘, das zwei afrz. Lothringerepen bearbeitet, unter eifriger Zuhilfenahme lateinischer Weltchroniken selbständig weitergesponnen worden, entfernt vergleichbar der großen deutschen Weltchronik des Heinrich von München im 14. Jh., die auch pseudohistorische Stücke aller Art, darunter auch, jedoch spärlich, heldenepische, dankbar aufnimmt. Jedoch bleibt die Geschichte in ‚Lorreinen II‘ trotz ihrer Ausweitung bis Afrika und Asien letztlich doch auf Frankreich zentriert, eben auf die Auseinandersetzung zwischen den Herzögen von Lothringen und den Grafen von Bordeaux. Da sich für diese über mehrere Generationen reichende, immer wieder aufflammende ungemein grausame und blutige Fehde kein historisches Vorbild in der Karolingerzeit hat finden lassen, hat die Romanistik darin nur eine erfundene historische Verkleidung für feudale Konflikte im Frankreich des 12. Jh. gesehen. Ist schon dies nicht sehr befriedigend, so bedarf das große Interesse daran in Brabant im 13. Jh. erst recht einer Erklärung, die leider auch Van Oostrom (LG, S. 318) schuldig bleibt. Van der Have (1990) verweist auf den Anspruch der Herzöge von Brabant auf den Titel eines dux Lotharingiae und die Herleitung ihrer Dynastie von den Karolingern. Ein reines Preisgedicht auf die Lothringer ist das mnl. Ritterepos freilich nicht, auch wenn viel mehr Schatten auf die Bordelesen fällt. Der König kommt erst recht nicht besonders gut weg. Ob auf diese Weise die Schwäche der Zentralmacht beklagt werden soll, steht schon für die französischen textlichen Vorbilder in Frage, erst recht für ein Werk aus dem Herzogtum Brabant, das nicht in Lehensabhängigkeit von der französischen Krone, sondern vom Römischen König stand. Sollte dieser hier ein entsprechendes Objekt der Klage darstellen? Oder sollte sich hier der Anspruch auf eine selbständige Rolle der – einst angeblich weltweit berühmten, von den Karolingern abstammenden – Lothringer Herzöge zwischen den großen europäischen Mächten des 13. Jh. artikulieren? Sollte diesem Ziel vielleicht die Wahl der mittelniederländischen Sprache dienen – gerade mit Blick auf adelige und patrizische Kreise außerhalb des brabantischen Hofes? An mündliche Verbreitung kann man bei einem so riesigen Text wie den ‚Lorreinen‘ natürlich nicht denken, anders als bei einem Werk wie ‚Karel ende Elegast‘ mit seinen nicht einmal eineinhalbtausend Versen. Auch wird hier Karl der Große fast wie ein ‚Einheimischer‘ der Nideren Lande behandelt. In der Regel gilt die Chanson de geste jedoch als Überlieferung auswärtiger Geschichte, die man gegebenenfalls ins mnl. Schrifttum über-

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nimmt, während – wenn die oben zitierte Annahme das Richtige treffen sollte – die einheimische germanische Heldensage weiterhin im mündlichen Bereich bleibt. Das hindert aber nicht, mündliche Verbreitung der französischen Heldenepen auch in den südlichen Niederen Landen in Betracht zu ziehen. Der noch vor wenigen Jahrzehnten ungebrochene Widerstand der Forschung gegen die Vorstellung, die Heldenepik, die germanische wie die romanische, sei auch noch im Hochmittelalter überwiegend ohne Stütze eines Manuskripts vor Publikum gesungen worden, ist in letzter Zeit etwas schwächer geworden. Wenn sie zutreffen sollte, so darf man mit einer deutlich geringeren Zahl von umlaufenden Manuskripten rechnen. Die Reichweite der Textkenntnis des Publikums stimmte dann vielfach mit dem Aktionsradius der Sänger überein, der wiederum von ihrem Repertoire, ihren Fähigkeiten, insbesondere den sprachlichen, ebenso aber auch von der Art und Zusammensetzung des Publikums abhing. Dieser Forschungstendenz (repräsentiert etwa durch Harald Haferland auf germanistischer und Joseph J. Duggan auf romanistischer Seite) stellt sich allerdings jetzt massiv Bastert (2010) entgegen. Das in jeder Hinsicht gewichtige und erkenntnisreiche Buch polemisiert mit Recht gegen eine Vernachlässigung der Rezeption und Adaptation der Chanson de geste im spätmittelalterlichen Deutschland, damit jedoch zugleich gegen jede Bevorzugung der Anfänge und Leitbilder der französischen Gattung, die zudem ja noch etwas mit der von Bastert geradezu exorzierten Oralität zu tun haben könnten. Für die Austreibung dieses angeblichen Hirngespinsts müssen u.a. das vor ca. 20 Jahren kreierte Dogma von der skriptoral fingierten Mündlichkeit (Bastert 2010, S. 20; dazu Knapp 2008), angebliche ‚Kopfschreibvarianten‘ von Abschreibern (Bastert 2010, S. 21f.; dazu Knapp 2011) oder die Berufung der Sänger auf schriftliche chronikalische Quellen (Bastert 2010, S. 22) dienen. Das letzte Argument zieht nur, wenn man jene Berufung von vornherein nicht als prätendierten Wahrheitsbeweis gerade für ein überwiegend illiterates Publikum gelten läßt, sondern darin eine „gezielte Desinformation des Publikums“ sehen will. Diese Absicht unterstellt Bastert (2010, S. 54) ebenso auch den änigmatischen Vorund Rückverweisen in den Chansons de geste, die sich natürlich dann auch nicht auf verlorene mündliche Texte beziehen dürfen. Dabei fällt denn auch nicht zufällig das Wort vom vergleichbaren „‚unreliable narrator‘ der kontemporären Romane“ (ebd.). Angesichts solch anachronistischer Assoziationen scheinen (notwendig unbeweisbare) Spekulationen über die semiorale Lebensweise der älteren Chansons de geste geradezu gefordert. Natürlich haben wir von den schriftlich überlieferten Fassungen auszugehen und wird es unter den späteren Werken ab ca. 1250 die von Bastert

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überall georteten rein skriptoralen Artefakte auch in diesem Genre gegeben haben. Aber warum wirken die Chansons de geste des 12. Jh. um soviel archaischer und holzschnittartiger als die gleichzeitigen afrz. (und mhd.) Romane? Warum sollen diese von den Schreibern so pfleglich und getreulich, die Chansons dagegen so willkürlich behandelt worden sein, daß in ihnen so viele Varianten, Zusätzen und Auslassungen von Wörtern, Zeilen, Laissen, ja ganzen Partien von hunderten Versen auftreten? Ist es daher nicht die bei weitem wahrscheinlichste Hypothese, daß die Gattung aus der Mündlichkeit (nicht der oral formulaic poetry!) kommt und mindestens noch bis ca. 1200 überwiegend, später immerhin teilweise mündlich tradiert und daher ‚zersungen‘ wurde? Ohne hier weiter auf diese Grundsatzfrage eingehen zu können, fragen wir, wie weit sich geographisch der mündliche Vortrag französischer Jongleurs erstreckt haben könnte, und unterstellen ohne großes Risiko, daß dies im Norden bis Flandern und Brabant der Fall gewesen sein könnte, da dort der Adel ohne Zweifel zweisprachig war – und wohl auch vereinzelt weiter östlich, in Lüttich, Loon, Aachen, Geldern etc. Für Schwaben, Baiern oder Thüringen kann man gleiches nicht voraussetzen. Wolfram von Eschenbach preist im Prolog seines ‚Willehalm‘, der mhd. Version des afrz. Heldenepos ‚Aliscans‘, seine Geschichte an. Wer sein Ansehen unter seinen Standesgenossen mehren wolle, der lat dise âventiure / in sînem hûse ze viure. / diu vert hie mit den gesten (‚Willehalm‘ 5,5–7: „der lädt diese Geschichte in sein Haus ans Feuer ein. Sie reist hier mit den Fremden“). Unter den Franzosen ist sie zu Hause. Jetzt soll sie auch hier Gehör finden. Daß dies auch in der Originalsprache möglich wäre, kann Wolfram von einem deutschen Hörerkreis kaum erwarten, wohl jedoch, daß diesem das ‚Nibelungenlied‘ und die Dietrichepik zu Ohren kamen, was diverse Anspielungen verständlich macht. Umgekehrt mochte es in Flandern und Brabant ein germanischer Sänger gegen die überlegene romanische Ritterkultur schwer haben. Ein konträrer Fall liegt jedoch vor, wenn, wie sich wahrscheinlich machen läßt, Heinrich I. von Brabant (1190–1235) der Mäzen des ‚Chevalier au Cygne‘ und vier weiterer französischer Kreuzzugsepen gewesen ist (Claassens 2007). Der französische Schwanenritter galt dann in Brabant sozusagen als Einheimischer. Das hat sein Gegenstück in dem großen Interesse der Niederlande an Erzählungen von Karl dem Großen in französischer Gestalt. Zwischen 1202 und 1230 finden sich hier nicht weniger als sechs Auftraggeber für afrz. Übersetzungen der ‚Vita Karoli Magni‘ des sog. Pseudo-Turpin (Van Oostrom, LG, S. 242). So werden auch die Epen von Karl, Wilhelm und den anderen vorerst im Original ihr Publikum ge-

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funden haben. Der Bedarf an Übertragungen war im Westen demnach gering, zumindest vorerst (f Einführung, Kap. 0.1). Gleichwohl haben im Laufe des Mittelalters immer mehr Literaturinteressierte, die des Französischen nicht genügend mächtig waren, Erzähler von Karl dem Großen und seinen Vasallen ‚zu sich ans Feuer geladen‘. „Bildete doch der RheinMaas-Raum vom 9./10. Jahrhundert an – zusammen mit dem angrenzenden niederfränkischen sowie dem unter Karls Herrschaft für das Christentum gewonnenen westfälischen und (nieder)sächsischen Raum – eine geschlossene Region der Karlserinnerung, wie sie im gesamten deutschsprachigen Bereich, ja selbst in Europa nicht ihresgleichen hatte“ (Bastert 2006, S. 103). Nur der Schluß der Aussage ist übertrieben, da trotz allem Frankreich hier die führende Rolle behielt. Französische Heldenepik in kontinentalgermanischer Bearbeitung Die ‚theodisken‘ Versionen altfranzösischer Chansons de geste scheinen in aller Regel nach schriftlichen Vorlagen bearbeitet worden, zum Vorlesen oder zur privaten Lektüre bestimmt gewesen zu sein und den freien Vortragscharakter ihrer Vorlagen verloren zu haben. Vor allem werden sie nicht mehr gesungen. Die ungleich langen Acht-, Zehn- oder Zwölfsilber-Abschnitte (Laissen) mit gleicher Assonanz weichen den fortlaufenden vierhebigen Reimpaarversen. Mit der äußeren Form geht ein Wechsel in der Erzähltechnik einher. Das Erzählen in Blöcken mit Rückgriffen, wiederholenden Neueinsätzen und Diskontinuitäten wird aufgegeben. Zum Höfischen Roman ist in dieser Hinsicht kein Unterschied erkennbar. Ein solcher besteht nur auf der Ebene von Inhalt und Gehalt und ist schon vom zeitgenössischen Publikum nicht einheitlich eingeschätzt worden. Daß es – zumindest vor 1300 – eine Chanson de geste als eigene Gattung außerhalb des Französischen gegeben hat, ist von Hennings (2008b) rundweg geleugnet worden. Aber einen Anschluß an die deutsche Heldenepik – die es im Niederländischen in schriftlicher Form ohnehin faktisch nicht gibt – suchen diese ‚theodisken‘ Texte auch nicht. Es sind historische Romane, „verfraaide historie“ (Van Oostrom, LG, S. 234), historia ornata. Das hat sie nicht vor Kritik vonseiten der Historiographen bewahrt, ebensowenig wie die deutsche Heldenepik, die zumindest bis zum Hochmittelalter als Geschichtsschreibung galt, wenn auch als eine sehr schlechte aus Sicht der Gelehrten. Niemand kam auf den Gedanken, dahinter freie, wahrheitsindifferente Fiktion zu wittern, wenn man den Vorwurf der Lü-

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genhaftigkeit erhob. Wieweit man da einen Unterschied zum Artusroman machte, der zumindest zu Anfang eine ganz andere Haltung gegenüber der Historie einnahm, ist schwer zu sagen. Im Spätmittelalter geschieht dies jedenfalls kaum noch. Schon das mnl. ‚Sente Franciscus leven‘ Jacobs van Maerlant von ca. 1275 bezeichnet Tristan, Perceval, Lancelot und Galehot als erfundene Gestalten (V. 31–40; Ausg. Maximilianus, Bd. I, S. 36): Cume es hi van mi bekent, Die nu leeft ende waerheit mint; Maer Tristram ende Lanceloot, Perchevael ende Galehoot, Ghevensde nemen ende ongeboren, Hier of willen de lieden horen; Truffe van minne ende van stride Leestmen dor de werelt wide; Die ewangelie es ons te zwaer, Om dat soe recht seit ende waer.

„Kaum kenne ich einen, der jetzt lebt und die Wahrheit liebt. Aber Tristan und Lancelot, Perceval und Galehot, erfundene Namen und ungeboren, davon wollen die Leute hören. Mären von Liebe und Kampf liest man in der ganzen Welt. Das Evangelium ist uns zu schwer, weil es das Rechte und Wahre erzählt.“

Jacob van Maerlant verurteilt später im Prolog zum ersten Teil seines ‚Spiegel historiael‘ (nach Vinzenz von Beauvais) die loghene van Perchevale (V. 56f.), und am Ende seines Schaffens ca. 1288 (Claassens 2000; Van Oostrom, LG, S. 523), im vierten Teil dieses Werkes, greift er die französischen Jongleurs scharf an, die mit schönen Reimen und schöner Erzählung die wahre Historie ermorden, ja zur Geschichte Karls des Großen sogar neue Helden wie Fierebras oder die Haimonskinder hinzuerfinden oder auf Kosten des in Wahrheit alles überragenden Kaisers einen Willem von Oringen groß machen, so wie sie den Ruhm des Königs Artur (den Vinzenz bezeugt) durch den des fabelhaften Lancelot verdunkeln (Jacob van Maerlant, ‚Spiegel historiael‘, IV. Teil, 1. Buch, Kap. 29). Seltsamerweise schilt Maerlant nur die scone Walsche valsche poeten (IV,1,29, V. 27). Nur bei Willem van Oringen erwähnt er, die Erzählung der lügnerischen welschen Bücher über ihn seien von einem gewissen Clays van Haerlem ins duutsche übertragen worden (f Wilhelmsepen, Teil B, Kap. 3.5). Von mnl. Lothringer- und Kreuzzugsepen scheint er nichts zu wissen, obwohl er die „Lüge“ von der angeblichen Abstammung Gottfrieds von Bouillon vom Schwanenritter rügt (Maerlant, ‚Spiegel historiael‘, IV,3,6, V. 6–11). Das ist freilich eine Extremposition, welche auch der Maerlantbewunderer Jan van Boendale zu Anfang des 14. Jh. teilt. Wenn Maerlant die Schwanrittersage als Ursprungsgeschichte der brabantischen Herzöge als freie Erfindung abtut, so wehrt er damit als Flame einen politischen ‚Mythos‘ des benachbarten Brabant ab, der als pseudohistorische Grundlage für die brabantischen f Kreuzzugsepen (Teil B, Kap. 4) notwendig war.

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Auch auf deutscher Seite näherte schon die gleiche äußere Form der viertaktigen Reimpaarverse die Gattungen einander an, wie sehr, hängt von der Perspektive ab. Danielle Buschinger spricht beim Vergleich des mhd. ‚Rolandsliedes‘ mit der afrz. Vorlage von einer „religiösen conjointure“ (f Karlsepen, Teil B, Kap. 2.1.2) und wertet auch die reflektierende auktoriale Erzählhaltung und die ideologische Sinngebung als typisch romanhaft. Ein Vergleich mit dem mhd. ‚Eneasroman‘, der vielleicht nicht später entstand, läßt dagegen das vergleichsweise Grobschlächtige des mhd. ‚Rolandsliedes‘ deutlich erkennen, ebenso den noch sehr schwachen höfischen Anstrich, ohne jede Verfeinerung, v.a. aber ohne höfische Minne. Gleichwohl steht Konrads kräftige Umformung der ‚Chanson de Roland‘ weit ab von der starken Anlehnung des mnl. ‚Roelantslieds‘ an die Vorlage, die wir allerdings im Wortlaut nicht haben und also rekonstruieren müssen. Sollten die im Kap. 2.1.4 vorgelegten Beobachtungen das Richtige treffen, so wären die inhaltlichen Unterschiede geringfügig, die stilistischen indes nicht weniger beträchtlich als bei Konrad. In der Nachfolge Konrads entfernen sich dann der Stricker, Wolfram von Eschenbach und Ulrich von Türheim noch stärker von ihren afrz. Vorlagen. Voraussetzungen und Verfahrensweisen der deutschen drei Autoren unterscheiden sich allerdings erheblich. Der Stricker bearbeitet in erster Linie den deutschen Text Konrads. Seine Ergänzungen weisen zwar auf die afrz. Tradition, die betreffenden afrz. Texte sind aber nicht erhalten, und der Weg, auf denen der Stricker zu ihnen gelangte, bleibt unklar. Sogar seine Französischkenntnisse scheinen nicht über allen Zweifel erhaben (Kap. 2.1.3). Wolframs handschriftliche Quelle ist auch nicht auf uns gekommen und muß rekonstruiert werden. Auf jeden Fall hat der deutsche Dichter der erzählten Geschichte bewußt einen neuen Sinngehalt verliehen (f Wilhelmsepen, Teil B, Kap. 3.2). Ulrich schwankt in seiner ausufernden Fortsetzung des Wolframschen ‚Willehalm‘ zwischen engem Anschluß, freier Bearbeitung und eigenständiger Ergänzung ganzer Werkteile (Kap. 3.3). Ein vergleichbares Verfahren beobachten wir im mnl. ‚Roman der Lorreinen‘ (f Lothringerepen, Teil B, Kap. 5.3). Die erhaltenen Teile der mnl. Bearbeitung aus dem Bereich der Wilhelmepik (f Wilhelmsepen, Teil B, Kap. 3.5) ähneln dagegen in ihrer Machart eher dem ‚Roelantslied‘, so daß man den Eindruck gewinnt, daß die mnl. Bearbeiter der afrz. Chansons de geste generell eher zu einer engeren Anlehnung an die Vorbilder neigen als die mhd. Bearbeiter. Doch gibt es hier eine gewichtige Ausnahme: das Kitzinger Bruchstück ‚Der Strit van Alescans‘ (f Wilhelmsepen, Teil B, Kap. 3.4). Hier handelt es sich um eine wörtliche Übersetzung des fremdsprachigen Originals auf

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Kosten der Form. Während sonst die Angleichung an die Form des mnl. bzw. mhd. paarweise gereimten Vierhebers zumindest den Zusatz unzähliger halber und ganzer Füllverse erfordert, erscheint der ‚Strit van Alescans‘ in nachlässiger Reimprosa. Die Verse sind ganz ungleich lang und oft nur mit Assonanzen versehen, vereinzelt sogar reimlos, so daß der Text „wahrscheinlich als eine Art Rohentwurf oder Übersetzungsübung anzusehen ist“ (Hennings 2008a, S. 539). So gering der künstlerische Wert des Fragments auch sein mag, so bemerkenswert wäre der literarhistorische Stellenwert, wenn sich Karin Schneiders paläographischer Befund sichern ließe. Heinz Schanze (1978) hat noch der uralten Vermutung zugestimmt, die seltsame Mischsprache des Fragments sei durch einen oberdeutschen Abschreiber eines im niederfränkischen Rhein-Maas-Raum entstandenen Werks zu erklären. Nach Schneider (1987, S. 270) „bediente er [der Schreiber der Hs.] sich aber des niederrheinischen Schrifttyps und verwendete die gleiche kleine, leicht linksgeneigte, vereinfachte Textualis wie der Schreiber des Tristanfragments, auch die Entstehungszeiten dürften ungefähr übereinstimmen“. Die in Wien, cod. 3968 überlieferten niederfränkischen Tristanfragmente sind in der Einleitung zu GLMF V besprochen worden. Sie sind dem Raum Kleve/Geldern zuzuordnen. Schneider hält sich mit ihrem paläographischen Vergleichsurteil sehr zurück und spricht nur von „einem gewissen Zusammenhang mit dem Tristanbruchstück“ (ebd.). Aber eine Abschrift im bairischen Raum scheint gleichwohl äußerst unwahrscheinlich. Dann müssen jedoch die eindeutig bairischen Merkmale (ou für û, ai für ei, der- für er-) der Vorlage angehört haben, und erst die Überformung trüge niederfränkische Züge. Wir hätten mit einem Transfer vom Süden nach Norden zu rechnen, statt vom Westen nach Osten wie beim ‚Karlmeinet‘. Doch die eher stümperhafte Arbeit hätte auch so gar nicht zu den mnl. Chanson-Bearbeitungen gepaßt. Sie stellt einen eigenen, alleinstehenden Typus dar. In diesem Typus gibt es natürlich keinerlei inhaltlichen, schon gar keine gehaltlichen Neuerungen. Am andern Ende der Skala aller Chanson-Bearbeitungen steht Wolframs ‚Willehalm‘, eines der großen Meisterwerke der Weltliteratur, gedankenschwer, geradezu grüblerisch, das sich kritisch mit dem sonst weithin selbstverständlichen christlichen Kreuzzugsgedanken auseinandersetzt. Der Fortsetzer des unvollendeten ‚Willehalm‘, Ulrich von Türheim, folgt Wolfram einerseits getreulich, fällt andererseits aber auch zwischendurch wieder in die alte – der afrz. Chanson de geste ebenso wie ihren mnl. Bearbeitungen eigene – Ideologie von ‚Bekehrung oder Vernichtung‘ zurück, so daß ein durchaus zwiespältiges Bild entsteht. An der bitteren Notwendigkeit des Krieges gegen die ‚Heiden‘ läßt aber nicht

Literaturhinweise

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einmal Wolfram einen Zweifel. Sie steht ebenso allgemein fest wie der aggressive und wahrheitswidrige Charakter der fremden Religion, die man rundweg und durchgehend als Polytheismus im antiken Sinne versteht. In diesem Punkt rücken die Chansons de geste auch an die Seite der Antikenromane, was als weiteres Argument für die Behandlung der beiden Gattungen in einem Band gelten darf.

Literaturhinweise 1) Textausgaben Germanische Texte: Jacob van Maerlant, Sinte Franciscus leven, hg. v. P. Maximilianus OFM, 2 Bde., Zwolle 1954. Jacob van Maerlant, Spieghel historiael, hg. v. Matthias de Vries u. Eelco Verwijs, 4 Bde., 1863–1879.

2) Forschungsliteratur Bastert 2006: Bernd Bastert, Karlmeinet-Kompilation, in: Tervooren, S. 101–104. Bastert 2010: Bernd Bastert, Helden als Heilige. Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum, Tübingen/Basel 2010. Beckers 1970: Hartmut Beckers, ‚Boeue van Hamtone‘. Ein neuentdecktes Düsseldorfer Bruchstück einer bisher unbekannten mittelniederländischen Versbearbeitung des altfranzösischen ‚Bueve de Hantone‘, in: Fs. 200 Jahre Landes- und Stadtbibliothek Düsseldorf, Düsseldorf 1970, S. 75–98. Claassens 2000: Geert H. M. Claassens, Introduction, in: G. H. M. Claassens u. David F. Johnson (Hgg.), King Arthur in the Medieval Low Countries, Löwen 2000, S. 1–34. Claassens 2007: Geert H. M. Claassens, Von Rencesvals nach Nimwegen. Über den ,Sitz im Leben‘ der altfranzösischen épopées intermédiaires, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Chanson de geste im europäischen Kontext, Göttingen 2008, S. 15–25. Finet-Van der Schaaf 1987a: Baukje Finet-Van der Schaaf, Etude comparée d’‚Aiol‘, chanson de geste du XIIe siècle et des fragments d’‚Aiol‘ en moyen-néerlandais, (Diss.) Paris o.J. [1987]. Finet-Van der Schaaf 1987b: Baukje Finet-Van der Schaaf, Iets over het Franse voorbeeld van de Vlaamse ‚Aiol‘, in: Saskia Buitink u.a. (Hgg.), Rapiarijs. Fs. Hans van Dijk, Utrecht 1987, S. 39–41. Goossens 1995: Jan Goossens, Op zoek naar lijnen in de ontluikende Middelnederlandse letterkunde, in: Frits Pieter van Oostrom et al., Grote lijnen. Syntheses over Middelnederlandse letterkunde. Amsterdam 1995, S. 27–46 und 176–179. Van der Have 1990: Ben van der Have, ‚Roman der Lorreinen‘: de fragmenten en het geheel, Schiedam 1990.

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Hennings 2008a: Thordis Hennings, Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum. Die Rezeption der Chansons de Geste im 12. und 13. Jahrhundert. Überblick und Fallstudien, Heidelberg 2008. Hennings 2008b: Thordis Hennings, Die französischen Vorlagen der germanischen Chanson-de-geste-Bearbeitungen vor 1300. Versuch eines typologischen Überblicks, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Chanson de geste im europäischen Kontext, Göttingen 2008, S. 5–14. Kienhorst 1988: Hans Kienhorst, De handschriften van de Middelnederlandse ridderepiek, 2 Bde., Deventer 1988. Knapp 2008: Fritz Peter Knapp, Das Dogma von der fingierten Mündlichkeit und die Unfestigkeit heldenepischer Texte, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Chansons de geste im europäischen Kontext, Göttingen 2008, S. 73–88. Knapp 2011: Fritz Peter Knapp, Stimme und Schrift. Vokalität als Grundlage und Fortsetzung des Schreibens, in: WSt 22 (2012), S. 23–39. Millet 2008: Victor Millet, Germanische Heldendichtung im Mittelalter. Eine Einführung, Berlin/New York 2008. Schanze 1978: Heinz Schanze, ‚Alischanz‘, in: VL I (1978), Sp. 240. Schneider 1928/34: Hermann Schneider, Germanische Heldensage, 2 Bände, Berlin und Leipzig 1928–34. Schneider 1987: Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache, 2 Bde., Wiesbaden 1987; Bd. I: Vom späten 12. Jahrhundert bis zum 1300. Voorwinden 1982: Norbert Voorwinden, Die niederländischen Nibelungenfragmente (Hs. T), in: ABäG 17 (1982), S. 177–188. Te Winkel 1909: Jan te Winkel, Niederländische Literatur, in: Hermann Paul (Hg.), Grundriß der germanischen Philologie, Bd. II,1: Literaturgeschichte, Straßburg 21909, S. 419–520.

‚Chanson de Roland‘/‚Rolandslied‘

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2 Karlsepen 2.1 ‚Chanson de Roland‘/‚Rolandslied‘ – 2.2 ‚Karel ende Elegast‘ – 2.3 ‚Karlmeinet‘

2.1 ‚Chanson de Roland‘/‚Rolandslied‘ 2.1.1 ‚Chanson de Roland‘ – 2.1.2 Das ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad – 2.1.3 ‚Karl der Große‘ von dem Stricker – 2.1.4 Das mittelniederländische ‚Roelantslied‘

2.1.1 ‚Chanson de Roland‘ von Danielle Buschinger Die ‚Chanson de Roland‘ beruht auf einer historischen Grundlage. Nach der ‚Vita Caroli Magni‘ des Einhard, Karls des Großen Biographen, befehligte ein Hruodlandus, Markgraf der bretonischen Mark, die fränkische Nachhut und fiel in einem Gefecht, das zwischen den sich aus Spanien zurückziehenden Franken und baskischen Bergbewohnern am 15. August 778 stattfand. Den Ort des Kampfes erwähnte Einhard nicht. 1065/70 entsteht dann die ‚Nota Emilianense‘, die bezeugt, dass bereits die sagenhafte Fassung des Rolandstoffes damals bekannt war. Die ‚Chanson de Roland‘ entsteht um 1100 (zwischen 1087 und 1095). Die älteste erhaltene Handschrift ist die in anglonormannischem Dialekt geschriebene Handschrift O, die heute in der Bodleian Library (Digby 23) aufbewahrt und in die Jahre 1170–1180 datiert wird (Keller 1991, S. 79). Inhalt der Fassung O (nach Hennings 2008, S. 22f.): A. Im Verlauf des bereits sieben Jahre währenden Heidenkampfes haben die Christen unter Karl dem Großen nahezu ganz Spanien mit Ausnahme Saragossas erobert. Auf den Rat seines Vasallen Blancandrin beschließt der König von Saragossa, Marsilie, die Christen durch ein scheinbares Friedensangebot zum Abzug zu bewegen. Als Beweis für seine vorgetäuschte friedliche Absicht schickt er Blancandrin mit wertvollen Geschenken sowie 10 edlen Geiseln zu Karl und gibt vor, die Taufe empfangen und Karls Vasall werden zu wollen, sofern das fränkische Heer aus Spanien abziehe. Karl berät sich daraufhin mit seinen Baronen und schickt auf Rolands Rat hin dessen Stiefvater, Ganelon, zu Marsilie. Ganelon, der glaubt, Roland wolle ihn böswillig ins Verderben schicken,

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kündigt ihm und den anderen Pairs Fehde an. Bereits auf dem Weg nach Saragossa plant er mit Blancandrin Rolands Ermordung und rät später Marsilie, die Nachhut unter Rolands Führung anzugreifen. Ins Lager der Christen zurückgekehrt, übergibt Ganelon die Schätze und die Geiseln und berichtet von dem Erfolg der Verhandlungen, woraufhin die Franken den Rückzug aus Spanien vorbereiten. Ganelons Plan, Roland die Führung der Nachhut zu übertragen, geht auf (Laisse 1–67). B. Bei Roncevaux überfallen die Heiden mit 400000 Kämpfern die nur 20000 Mann starke fränkische Nachhut. Trotz der eindeutigen zahlenmäßigen Überlegenheit der heidnischen Angreifer lehnt Roland aus Stolz die Aufforderung Olivers, sein Horn Olifant zu blasen, um so Karl und seine Truppen zurückzurufen, ab. In der Schlacht erleiden die heldenhaft kämpfenden Christen immense Verluste und resignieren schließlich vor der heidnischen Übermacht. Erst jetzt, wo von seinen Rittern nur noch 60 am Leben sind, bläst Roland mit solcher Kraft in sein Olifant, daß ihm das Blut aus dem Mund spritzt. Karl hört das Signal, erkennt in Ganelon den Verräter und übergibt ihn den Köchen. Mit lautem Trompetenschall kündigen die Franken mehrfach die nahende Hilfe an. Aber als sie endlich am Schlachtfeld ankommen, ist die gesamte Nachhut tot, und die Heiden haben die Flucht ergriffen. Auf den Befehl eines Engels nehmen die Christen umgehend die Verfolgung auf. Gott wirkt auf Karls Bitte hin ein Wunder, indem er die Sonne nicht untergehen läßt. Ein Teil der fliehenden Heiden wird auf der Flucht erschlagen, die restlichen ertrinken im Wasser der Sebre (= Ebro). Doch Marsilie entkommt, stark verwundet, nach Saragossa (Laisse 68–188). C. Dort trifft wenig später ein riesiges heidnisches Hilfsheer unter der Baligant, dem Emir von Babylon und Oberhaupt der Heiden, ein, den Marsilie bereits sieben Jahre zuvor um Unterstützung im Kampf gegen die Christen gebeten hatte. Baligant und sein Heer greifen Karls Truppen in Roncevaux an. Nach einer heftigen Schlacht entscheidet schließlich Karl durch einen Zweikampf gegen Baligant den Kampf zugunsten des fränkischen Heeres. Die Christen verfolgen die fliehenden Heiden bis Saragossa und nehmen die Stadt ein. Auf Karls Befehl werden alle Götzenbilder zerstört und über 100000 Heiden zur Taufe gezwungen. Voller Trauer über den Tod seines Neffen legt Karl in Bordeaux Rolands Olifant nieder und läßt Roland, Olivier und Turpin in Blaye beigesetzen. Anschließend reitet er zu Alde (Rolands Verlobte und Olivers Schwester). Als sie von dem Tod des Geliebten erfährt, stirbt sie vor lauter Schmerz. In Aachen beruft Karl einen Gerichtstag ein, um Ganelon seiner gerechten Strafe zuzuführen. Nach langen Verhandlungen wird durch den Sieg Tierris von Anjou im gerichtlichen Zweikampf über Pinabel von Sorence Genelons Schuld öffentlich bezeugt und dieser daraufhin gevierteilt. Bramimunde, Marsilies’ Witwe, empfängt die Taufe und erhält den Namen Juliane. Die Chanson endet mit dem Aufruf des Erzengels Gabriel an Karl, den im Orient bedrängten Christen zu Hilfe zu eilen (Laisse 189–291).

O repräsentiert bereits eine Bearbeitung  der (verlorenen) ursprünglichen Fassung. Im ausgehenden 12. Jh. wurden dann weitere, nunmehr nicht mit Assonanzen, sondern in Reimen angefertigt. Sie gehen auf eine andere Redaktion  zurück und sind in fünf vollständigen Hss. und einigen Fragmenten überliefert. Zu einem großen Teil die Assonanzen der älteren Version bewahrt hat dagegen die Hs. V4 (Venedig, Bibl. Marciana 225). So jedenfalls stellt es das Stemma der Versionen von Cesare Segre 2003 dar.

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Die von Joseph J. Duggan geleitete große neue Gesamtausgabe aller Versionen 2005 verzichtet auf ein Stemma, da sie von der primären Mündlichkeit der ‚Chanson de Roland‘ und der Eigenständigkeit jeder Version ausgeht. Aber an der Qualität der Fassung O als derjenigen, welche der ältesten Gestalt des Textes am nächsten steht, wird auch hier nicht gezweifelt (Ausg. Short [Hs. O] in Bd. I). 2.1.2 Das ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad von Danielle Buschinger Entstehung, Quelle und Überlieferung – Äußere Form der Bearbeitung – Bearbeitung des Stoffes – Die neue Sinngebung – Nachwirkung

Entstehung, Quelle und Überlieferung Wir sind durch den Epilog zu Konrads ‚Rolandslied‘ (RL) über die Entstehung an sich besser informiert als bei vielen anderen mhd. Werke. Aber es hat sich in entscheidenden Punkten bisher keine Einigkeit in der Forschung über das richtige Verständnis dieses Epilogs ergeben. Die aufgrund der formalen Archaik des Werks vorgenommene Frühdatierung auf die erste Hälfte des 12. Jh. scheint zwar abgetan. Man hat sich meist für eine Entstehungszeit um 1170 entschieden. „Einen wesentlich späteren Termin“, wie ihn z.B. Keller (1978, S. 79) vertrat, konnte nach Nellmann (1985) „als ausgeschlossen gelten.“ Trotzdem tritt Bernd Bastert (2002) wieder vehement dafür ein. Der im Epilog genannte Herzog Heinrich kann wohl niemand anderes als Heinrich der Löwe sein. Seine Gattin wird zwar nicht mit Namen, aber als Tochter eines mächtigen Königs genannt (RL 9024f.). Das wird Mathilde sein, die Tochter Eleonores von Aquitanien und König Heinrichs II. von England, die Herzog Heinrich 1168 in Braunschweig heiratete. Üblicherweise nimmt man an, Heinrich der Löwe habe bald danach auf Wunsch der Herzogin (RL 9024: des gerte di edele herzoginne) die französische ‚Chanson de Roland‘ von einem Dichter, der sich selbst phaffe Chunrat nennt (RL 9080), ins Deutsche übertragen lassen, da die Gattin selbst eine Handschrift der ‚Chanson de Roland‘ mitgebracht habe, offenbar in einer uns unbekannten Fassung, die eher der Fassung , wie sie u.a. von der franko-venezianischen Handschrift V4 (erste Hälfte des 14. Jahrhunderts) und von der gleichfalls franko-venezianischen Handschrift von Château-

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roux (C) (um 1300) repräsentiert wird, als der Fassung  nahestand. Für die Zeit um 1170 könnte auch sprechen, daß Konrad den Herzog in seinem überschwenglichen Lob dem Kaiser gleichzustellen (Bertau 1968) und den Papst auszuklammern scheint, denn dies könnte damit in Verbindung gesetzt werden, dass ein Schisma von 1159 bis 1177 die römische Kirche spaltete; Friedrich Barbarossa und einige seiner Vasallen, so Heinrich der Löwe, Konrads Auftraggeber, traten für den Anti-Papst Viktor IV. ein, gegen Alexander III., der am 24. März 1160 den Kaiser und alle, die das Schisma begünstigten, exkommunizierte. Bastert (2002) deutet dagegen den typologieähnlichen Vergleich Heinrichs mit König David weniger als Hinweis auf den Kaiser als auf den Büßer und sieht in Heinrichs Entmachtung 1181 und seinem Exil im angevinischen Reich den entscheidenden Anlaß für die exemplarische Bußhaltung, die Konrad an dem Herzog preist. Damit wäre der gefeierte herzogliche Hof (RL 9058f.) nicht in Regensburg, sondern in Braunschweig zu suchen, wie schon Keller (1978) annahm. Und dies würde auch viel besser der lebendigen niederdeutschen Tradition vom „Apostel der Sachsen“ entsprechen, der einst die heidnischen Sachsen mit Feuer und Schwert bekehrte wie nun Heinrich die heidnischen Wenden 1147. Der Herzog habe so auch das französische Buch selbst aus dem Westen mitbringen können, um den Auftrag dann nach 1185 an Konrad zu vergeben. Auch die Überlieferung scheint eher nach Norden zu weisen. Leider versagt die Reimuntersuchung bei der Feststellung der Schreibsprache des Originals, da Konrad das Prinzip des reinen Reims noch nicht kennt. Aber allein die zahlreichen sprachlichen und motivlichen Übereinstimmungen mit der Regensburger ‚Kaiserchronik‘ sprechen für den Süden. Auch die wichtige Stellung Baierns in dem Text und einige darin verstreute bairische Namen passen nicht eben gut zu Basterts Hypothese. Die Frage muß wohl offenbleiben. Das mhd. ‚Rolandslied‘ ist vollständig in nur einer Handschrift sowie in Bruchstücken von fünf weiteren Handschriften überliefert. Die vollständige Handschrift ist der in der Heidelberger Universitätsbibliothek aufbewahrte Cpg 112 (Hs. P) aus dem Ende des 12. Jahrhunderts. Im Folgenden werde ich einerseits den Text Konrads und andererseits die ‚Chanson de Roland‘-Handschriften O(xford), V4 und C einer gründlichen Prüfung unterziehen, um die Stoffbehandlung des französischen Werkes durch den deutschen Dichter zu untersuchen.

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Äußere Form der Bearbeitung Die französische Chanson verwendet wie die anderen französischen Chansons de geste Strophen (Laisses) und Assonanzen. Sie gehört zur heldenepischen Gattung. Im Gegensatz dazu benutzt Konrad die Form des Höfischen Romans, das ist der höfische Reimpaarvers mit vier Hebungen; andererseits ist der Erzählstoff in Absätze gegliedert, die in der einzigen erhaltenen vollständigen Handschrift P (Heidelberg) durch Initialen gekennzeichnet sind und auf eine Reimbindung (mhd. rîme samenen) enden. Wir werden sehen, daß Konrad außerdem gewisse Episoden in Grundeinheiten, Blöcke, die aus vier Absätzen bestehen, gegliedert hat (Fourquet 1979). Was den Stil der ‚Chanson de Roland‘ anbetrifft, so kann dieser mit einem Wort bezeichnet werden, der Parataxe. Wir haben es mit einer Aufeinanderfolge und einem Nebeneinander von Szenen ohne Überleitung zur nächsten Szene zu tun. Jedes Moment der Handlung stellt, um den Ausdruck von Gaston Paris zu gebrauchen, ein Bild für sich dar. Ein Beispiel: Der französische Epiker stellt die Szene, in der Roland über den zu Tode verwundeten Olivier wehklagt (Laisse 148) und die Szene, in der Olivier auf Roland, den er nicht erkennt, einschlägt (Laisse 149), nebeneinander, ohne den logischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Szenen aufzuzeigen. Es wird nicht gesagt, dass die zwei Gesellen sich trennen, noch warum sie einander wieder begegnen können, noch warum Olivier Roland auf den Helm schlagen kann. Dies wird nur behauptet: Sun cumpaignun, cum il l’at encuntrét / Sil fiert amunt sur l’elme a or gemét (O 1994f.: „Seinem Gefährten schlägt er, da er ihm begegnet ist, oben auf den goldverzierten Helm“). Die einzige Verbindung zwischen den beiden ist die Wiederaufnahme zu Beginn der Laisse 149: As vus Rollant sur sun cheval pasmét (O 1989: „Siehe, Roland ohnmächtig auf seinem Pferd“) des Themas, das die Laisse 148 abschloß: A icest mot sur sun cheval se pasmet (O 1988: „Bei diesen Worten wird Roland auf seinem Pferd ohnmächtig“). Konrad aber erläutert, was in der ‚Chanson‘ ungesagt geblieben ist, läßt die erste und die zweite Szene ineiandergreifen (RL 6442–70) und ersetzt die parataktische Struktur des französischen Textes durch einen logischen Gedankengang, durch eine hypotaktische Struktur, wäre man geneigt, zu sagen. Der Parataxe entspricht, wie Eugène Vinaver (1970, S. 65; 1971, S. 7) es aufgezeigt hat, ein Gegenstück, d.i. die Verwendung der variierten Wiederholung. Es ist das Prinzip der Parallelstrophen, dank deren der französische Epiker mehrere Darstellungen derselben Begebenheit, desselben Augenblickes liefert, um die Diskontinuität zu mildern. Seinerseits erläutert

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Konrad, was in der ‚Chanson‘ ungesagt geblieben ist, ersetzt die parataktische Struktur der Vorlage durch einen logischen Gedankengang, durch eine hypotaktische Struktur. Er läßt ebenfalls die Wiederholungen und die Parallelstrophen der ‚Chanson‘ weg und versucht auf diese Weise, ein durchgegliedertes Werk zu schaffen. Ein Beispiel zur Untermauerung: Konrad streicht die sechs Parallelstrophen, in denen Karl Roland beweint, gliedert die Wehklage des Kaisers in drei Teile (RL 7511–21; 7534–45; 7547–57). Er behält die meisten der in der ‚Chanson‘ vorhandenen Themen bei, läßt jedoch die zahlreichen lyrischen Variationen weg und erweitert Karls Gebet für das Seelenheil seines Neffen; das religiöse Element wird so hervorgehoben. Konrad streicht gleichfalls die epischen Wiederholungen, die die ‚Chanson‘ skandieren und so wahrscheinlich die Vortragseinheiten abgrenzen, so O 1f. (V4 8f.; C 1f.): Carles li reis, nostre emperere magnes, / Set anz tuz pleins ad estét en Espaigne („König Karl, unser großer Kaiser, ist sieben ganze Jahre in Spanien gewesen“). Dem entsprechen – ohne die Zeitangabe – RL 361f. Alsô wonete dô dâ / der keiser in Yspaniâ sowie O 703f. (V4 632f.; C 1024f.) Carles li magnes ad Espaigne guastede, / Les castels pris, les citez vïolees („Karl der Große hat Spanien verheert, die Burgen genommen, die Städte erstürmt“). Diese Verse leiten die Rückkehr Karls nach Frankreich ein; O 2609f. (V4 2799f.; C 4515f.) Li emperere par sa grant poëstét / Set anz tuz pleins ad en Espaigne estét („Der Kaiser ist dank seiner großen Macht sieben ganze Jahre in Spanien gewesen“) führen die BaligantEpisode ein. Auf formaler Ebene weicht Konrad also sehr stark von der Vorlage ab, indem er die charakteristischen Verfahrensweisen des epischen Stils streicht. Diese Veränderungen gliedern sich aber in den breiteren Rahmen der deutschen Bearbeitungen von französischen Werken ein. Bearbeitung des Stoffes Die Episoden folgen einander in derselben Reihenfolge wie in der Vorlage. Konrad hat in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen eine gewisse Anzahl von Versen wortgetreu übersetzt, in diesen großmaschigen Aufriss flicht er dann seine eigenen Ausführungen, Änderungen, Zusätze ein. Er ‚höfischt‘ den Text auf (so beschwört Olivier Roland um Aldes willen, ins Horn zu blasen), tilgt die Widersprüchlichkeiten oder Unwahrscheinlichkeiten. Ein Beispiel: In der ‚Chanson‘ (O 284f.; C 391–395) ist Ganelon ein schöner Mann und trotzdem ein Verräter; nach der mittel-

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alterlichen Auffassung, die auf das klassische Altertum zurückgeht, kann aber nur ein guter Mensch schön sein. Konrad merzt diesen Widerspruch aus, indem er im Augenblick des Verrats eine Erläuterung hinzufügt: Genelun wird mit einem äußerlich grün aussehenden Baum verglichen, der innen vermodert und wurmzerfressen ist (K 1958ff.). Konrad überbietet auch seine Vorlage. So macht er aus der Szene, in der Blanscandrin Genelun zum Verrat treibt, einen Theaterauftritt, indem er die Effekte, die er aus dieser Situation ziehen kann, um die Spannung zu erhöhen, hervorhebt, um dem Dialog ein Höchstmaß an dramatischer Intensität zu verleihen. Nicht zuletzt idealisiert Konrad seine Gestalten, die er vollkommen umwandelt, vornehmlich die Hauptgestalten, Roland und Olivier. Als in der ‚Chanson‘ Olivier Roland darum bittet, den Olifant zu blasen, versagt ihm Roland seine Bitte. Er würde sein Ansehen verlieren, seine ganze Sippe würde seinetwegen entehrt und getadelt, und Frankreich verschmäht. Er sieht nur sein eigenes Interesse, das Interesse seiner Sippe und nicht das Frankreichs. Die Ruhmbegierde und die Überheblichkeit bestimmen Roland dazu, Oliviers Rat nicht zu folgen; dadurch macht er sich schuldig und verantwortlich für die Katastrophe; er ist ein Mensch wie alle anderen auch, und er kann sich irren und schuldig machen. Im Gegensatz zu ihm vertritt Olivier die mit Umsicht und Besonnenheit gepaarte Tapferkeit. In der „Chanson“ erscheint Roland als proz („kühn“), während Olivier als sage („klug“) bezeichnet wird. Es geht also um das Verhältnis von mesure und demesure („Maßhalten“ und „Maßlosigkeit“), von fortitudo („Kühnheit“) und sapientia („Weisheit“). Im ‚Rolandslied‘ weigert sich Roland aus folgendem Grund, ins Horn zu blasen: Das Schicksal der Christen liegt in Gottes Hand, und wenn es Gottes Wille ist, wird Roland mit Freuden den Märtyrertod sterben; außerdem werden die Christen geläutert aus dem Blutbad herauskommen, das eine zweite Taufe ist (RL 3872ff.). Nachdem unzählige Christen in der Schlacht gefallen sind, will Roland in der ‚Chanson‘ den Olifant blasen. Olivier erwidert, es wäre eine große Schande für seine Sippe, tadelt Roland heftig und beschuldigt ihn der Torheit (O 1724; V4 1822: folie), der Tollkühnheit (O 1725; V4 1823; C 3006: estultie), die dem „rechten Maß“ (O 1725: mesure) entgegengestellt ist, des Leichtsinns (O 1726; V4 1824; C 3007: legerie), der den Tod aller Franzosen herbeigeführt hat; und er verdammt sogar die Tapferkeit Rolands, die alles Unheil gestiftet hat. Daraufhin verzichtet Roland auf jede Überheblichkeit und jedes Unmaß. Konrad mildert den Streit zwischen den Freunden: Olivier zürnt Roland nicht, er wirft ihm nur vor, nicht zur rechten Zeit (RL 6009: enzît ) das Horn geblasen zu haben, was das Leben der Krieger verschont hätte. Nun da es keine Rettung mehr gibt, ist es an der Zeit zu sterben.

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Roland sieht ein, daß er im Unrecht war, als er das Horn nicht geblasen hat, als es noch Zeit war. Der deutsche Roland, der in der ersten Hornszene eine solche Verachtung für das irdische Leben und eine solche Freude am Märtyrertod zeigte, daß er zum Übermenschen geworden war, weint nun bitterlich über die Franken und zeigt dabei, daß er menschliche Gefühle empfinden kann. Man versteht, warum Olivier ihm keine Vorwürfe machen kann. Indem er vor Gram weint, verzichtet Roland auf jedes übermenschliche, ja unmenschliche Übermaß und wird ganz einfach zum Menschen. Roland hat keine Schuld auf sich geladen, und so hat er auch nichts zu bereuen. Konrad ersetzt den Gegensatz zwischen Roland dem Kühnen und Olivier dem Weisen, zwischen fortitudo und sapientia (vgl. O 1093; V4 1038; C 1465) durch die Gegenüberstellung Rolands als Übermenschen und Oliviers als Menschen wie alle anderen auch. Und während Roland in der ‚Chanson de Roland‘ seinem Hochmut abschwört und zum Heiligen wird, wird Konrads Held einfach zum Menschen. Konrad baut sein Werk straff auf. Er hebt in der Vorlage angedeutete Parallelismen oder Kontraste hervor; er teilt die Schlacht von Roncevaux in drei verschiedene Schlachten auf: Er gliedert die erste neu, die er übrigens in 68 Absätzen erzählt (17 Blöcke mit je 4 Absätzen – RL 3241–5190). Sowohl die Heiden als auch Roland ersinnen eine Strategie. Die deutschen Bearbeiter verspüren das Bedürfnis, alles von vornherein vorzubereiten und alles zu gliedern, sogar die Schlachten. Wir sehen uns veranlaßt, Konrad mit Eilhart von Oberg zu vergleichen, in dessen ‚Tristrant‘ (V. 6077ff.) der Held eine wohldurchdachte Strategie ausarbeitet, um die Feinde Havelins zu besiegen. Vielleicht können wir hierin eine Huldigung sehen, die Konrad seinem Gönner, Heinrich dem Löwen, einem großen Feldherrn, der aller Wahrscheinlichkeit nach auch der Gönner Eilharts war, darbringt. Außerdem könnte es möglich sein, daß Konrad Roland hier mit den Zügen Heinrichs des Löwen ausgestattet hat. Konrad zieht eine scharfe Grenze sowohl zwischen der zweiten (RL 5191–5630) und der ersten Schlacht (3241–5190) als auch zwischen der dritten (5631–5968) und der zweiten; außerdem laufen die zweite und die dritte Schlacht parallel und entgegengesetzt. So verwendet er in der Abfassung der zweiten und der dritten Schlacht, um eben einen Parallelismus einerseits zwischen den beiden Schlachten und andererseits zwischen den verschiedenen Phasen dieser zwei Schlachten herzustellen, gewisse Elemente zweimal, eine Tatsache, die die parallelen Motive erklärt; und er verteilt die Verse seiner Vorlage auf die zweite und die dritte Schlacht, und dabei variiert er schon in der ersten Schlacht angeschnittene Themen. Was die Reihenfolge der Schlachten in den zwei Phasen der zweiten Schlacht

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und in der ersten Phase der dritten betrifft (letztere unterteilt sich in zwölf Abschnitte, nämlich drei Blöcke von je vier Absätzen), so verwendet er am Ende der zweiten Schlacht Kämpfe der ersten Schlacht, so wie sie der französische Dichter erzählt, und im ersten Teil der dritten Schlacht am Anfang der zweiten Schlacht stattfindende Kämpfe. Bei der Neuordnung seines Textes mangelt es Konrad jedoch an Folgerichtigkeit. So läßt er z.B. vorher getötete Recken wieder auferstehen! Der deutsche Dichter gliedert die Szene, in der Roland beschließt, ins Horn zu stoßen und die, in der Karl sein Hornsignal vernimmt (RL 5969– 6167 – O 1702–1850; V4 1800–1940; C 2977–3216). Er streicht nicht nur die Parallelstrophen, die in allen untersuchten französischen Handschriften vorliegen und dem Text einen lyrischen Klang verleihen, sondern er trennt auch umsichtig den Augenblick, wo Roland ins Horn stößt, von dem, als Karl ihn hört, und formt aus den zwei Szenen zwei aus vier Absätzen bestehende Einheiten. Die erste Einheit hat das Ereignis selbst zum Gegenstand (RL 5969–6068); die zweite Einheit behandelt die Reaktion an Karls Hof (6069–6167). Im Vers 6168 wird wieder von Roland gesprochen. Konrad gliedert schließlich den zweiten Teil der dritten Schlacht, die mit dem Tod der Helden endet, in sechzehn Abschnitte (vier Blöcke mit je vier Abschnitten). Die von Konrad vorgenommenen Umgliederungen machen den Text zwar verständlicher, aber zugleich verliert der Text dadurch an dramatischer und psychologischer Intensität. Während der französische Text packend und erschütternd ist, ist der deutsche Text kalt und seelenlos. Die Ereignisse werden nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar miterlebt, und ständig spürt man die Präsenz des Redaktors. Die neue Sinngebung Folglich erzählt Konrad, wie sein Dichterkollege Hartmann von Aue zum Beispiel, dieselbe Geschichte wie seine Vorlage, aber auf seine Façon, auf seine eigene Art und Weise. In einem wesentlichen Punkt jedoch unterscheidet sich Konrad von den anderen Bearbeitern französischer Vorlagen, nämlich indem er eines der Hauptthemen seiner Vorlage besonders stark hervorhebt, das des Kreuzzuges. Dieses Thema ist natürlich auch in der ‚Chanson de Roland‘ stark präsent: Man denke z.B. an die Wertantonymie, die durch den Vers Paien unt tort e chrestïens unt dreit (O 1015; V4 950: „Die Heiden haben Unrecht, und die Christen haben Recht“) ausgedrückt wird. In der ‚Chanson‘ fällt aber der Kampf für den rechten Glauben, der Kreuzzug, zusammen mit dem Kampf für Frankreich, für die dulce France:

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Glaubensstreit und Nationalbewusstsein sind in der ‚Chanson‘ vereint. Konrad macht also das Thema des Kreuzzugs, des Heiligen Krieges, das in der ‚Chanson de Roland‘ nur ein Thema unter anderen (Lehenstreue, Treue dem Lehnsherrn gegenüber, Treue zum Kaiser, Familienbande, ‚Patriotismus‘ etc.) ist, zum Hauptthema, zum Leitmotiv, das sein Werk durchzieht. Konrad trifft eine Auslese. Alle Hinweise auf la dulce France als Motivation für den Kampf gegen die Heiden fehlen; aber vor allem ordnet er dem ausgewählten Thema den ganzen Stoff seines Werkes unter. Es ist der Kreuzzug, der dem ‚Rolandslied‘ seinen ganzen Sinn verleiht. So wird die dulce France durch das himmlische erbelant ersetzt. Außerdem misst der französische Autor, wie es Eugène Vinaver (1971) gezeigt hat, der Handlung mehr Bedeutung bei, geht nicht über die Geschichte hinaus und „legt den Sinn der Handlung nicht aus […], weil ihm das Fortschreiten der Ereignisse interessanter ist als deren kohärente Motivation“ (ebd., S. 11); „die Endkatastrophe entsteht mit verstärkter Intensität aus einer Reihe von Ereignissen und Situationen ohne jeglichen logischen Zusammenhang […]. Für den Dichter besteht keinerlei Bedürfnis zu erläutern“ (ebd., S. 13). Im Gegensatz dazu gewinnt der deutsche Dichter den nötigen Abstand, um den Sinn der von ihm erzählten Geschichte herauszustellen und seiner Zuhörerschaft zugänglich zu machen. Er erläutert und drückt klar und deutlich aus, was in seiner Vorlage nur unterschwellig mitspielt. Während die ‚Chanson‘ in medias res beginnt (V. 1f.: Karl befindet sich seit sieben Jahren im von ihm außer Saragossa eroberten Spanien), erlaubt Konrad den Ereignissen nicht, den Hörer mitzureißen. Er will derjenige sein, der sie ihm vorstellt. So erläutert er durch einen Dialog zwischen Karl und Gott, warum der Kaiser in Spanien eingedrungen ist. Er zeigt ihn betend, und ein Engel beauftragt ihn im Namen Gottes, seines himmlischen Lehnsherrn, mit der Sendung, sich nach Spanien zu begeben, um die Heiden zu bekehren. Dann schildert der deutsche Dichter, wie Karl seine Armee einberuft und sich nach Spanien begibt, wo er das Heidentum ausrottet (erst ab Vers 361 stimmt der deutsche Text mit dem französischen überein). Schon zu Beginn arbeitet Konrad aufs deutlichste das Thema seines Werkes heraus. Man könnte dies als eine Art Programm bezeichnen. Im Ablauf des weiteren Geschehens unterbricht er dann den Faden der Schilderung durch Kommentare oder durch von den Helden gehaltene Reden, um den Sinn seines Werkes zu verdeutlichen. So fasst er in einem einzigen Vers der kaiser kêrte ze lande (RL 3241) drei Laissen seiner Vorlage zusammen (O 814–43; V4 765–797; C 1197–1225) und streicht z.B. die großartige Beschreibung der Pyrenäen, die er als Bayer nicht kannte. Er distanziert sich dann von seinem Gegenstand mittels eines Kommentars,

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wo er im Sinne des heiligen Bernhard von Clairvaux die religiöse Begeisterung der Streiter Gottes, ihre Lust am Märtyrertum, ihre völlige Verachtung irdischer Güter hervorhebt. Die gleiche Vorgangsweise finden wir in der Vorwegnahme der kommenden Ereignisse: Alle sind für ihren Erlöser gestorben, und ihr Tod war ruhmreich (RL 3274–78). Am Anfang dieses Abschnittes, in dem Roland und all die seinen den Tod finden werden, läßt Konrad das Kreuzzugsmotiv mit besonderer Stärke erklingen und hebt den religiösen Inhalt seines Werkes klar heraus. Ein anderes Beispiel: Da, wo in O 983 (V4 924; C 1359) Dïent alquanz que dïables i meignent („Einige sagen, daß Teufel dort wohnen“) steht, schreibt Konrad: di tiuvele bûwent dar in werde (RL 3769: „Die Teufel wohnen herrlich darin“). Der deutsche Dichter zweifelt die Behauptung nicht an, er befürwortet sie und verleiht ihr so mehr Ausdruckskraft. Dieses Beispiel veranschaulicht sehr deutlich Konrads Arbeitsweise: Er geht von seiner Vorlage aus, streicht ein Wort und fügt einen Kommentar hinzu (RL 3770–72): ez ist diu verfluochet erde. / die got selbe verfluochet hât, / des liutes en wirt niemer rât („Es ist einverfluchtes Land, das Gott selbst verflucht hat. Für die Einwohner gibt es keine Rettung“). Was im französischen Text nicht zum Ausdruck gebracht wird und nur unterschwellig mitklingt, das benutzt Konrad, um das Hauptthema seines Werkes zu variieren. Er drückt auf diese Weise die Bedeutung deutlich aus. Es kann in der Tat immer aufs neue festgestellt werden, daß Konrad wie die modernen Exegeten der ‚Chanson de Roland‘ vorgeht. Im Zusammenhang mit den zahlreichen Schlachten der ‚Chanson‘ schreibt z.B. Pierre Le Gentil (1967, S. 160 – Übersetzung D.B.): Der Autor hat sich nach Belieben die unglaublichsten Heldentaten ausgedacht. Wir sollen aber nur das glauben, was er von uns verlangt, zu glauben. Steigert er die Muskelkraft bis zu ihrem Paroxysmus, so sicherlich aus Bewunderung heraus. Aber er bewundert sie sicherlich nur deshalb, weil dadurch der unbezähmbare Heldenmut einer Seele, die streitende Lebenskraft eines Glaubens, die siegreiche Heiligkeit einer Sache geoffenbart werden. Wer immer diese moralischen Kräfte verkörpert, die in Gott selbst auf ihrem Anfang und ihrem Endzweck verankert sind, dem kann nichts, dem soll nichts unmöglich sein.

Pierre le Gentil hat sicherlich recht, aber nirgendwo drückt dies der Verfasser der ‚Chanson‘ aus, dies klingt in seinem Werk unterschwellig mit an. So liest man in O 1922 Ço dist Rollant: „Ci recevrums martyrie“ („Da sagte Roland: ‚Hier werden wir das Maryrium empfangen‘“; vgl. V4 2045; C 3304). Erst im ‚Rolandslied‘ wird dieser Gedanke durch Kommentare deutlich, die Konrad der Beschreibung der verschiedenen Kämpfe hinzufügt. z.B. mit dem heiligen gelouben stuonten si ûf gerecket (RL 5024: „Sie standen im heiligen Glauben hoch aufgerichtet“). Die mannigfachen Einzelkämpfe geben

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Konrad Gelegenheit, das Thema des Heiligen Krieges, des gerechten Krieges, des bellum iustum, des Krieges zwischen zwei Religionen, zwischen der civitas dei und der civitas diaboli in der augustinischen Tradition zu veranschaulichen. Die Ideologie des Heiligen Krieges, die in der ‚Chanson‘ nur leise anklingt, durchdringt bei Konrad die verschiedenen Kämpfe; der Dichter ordnet methodisch alle diese Zweikämpfe dieser Grundidee unter, was das Aneinanderreihen ersetzt und der Schilderung ihre interne Einheit verleiht. Die Abwandlung dieses Themas löst den Parallelismus ab. Unter Umständen könnte man sogar sagen, daß der Morgentau oder die erfrischende Brise, die Gott den Christen sendet, auch die Erklärung für die Grundidee des Werkes abgeben. Sie sind ein Symbol für die Gnade, die Gott den Christen zuteilwerden läßt, was bestätigt, daß der von ihnen geführte Krieg ein gerechter Krieg ist, um so mehr, als Konrad in einem Kommentar direkt darauf anspielt (RL 4452 u. 5625): dô wolt der himelische hêrre / die sîne wol gefristen („Da wollte der Herr des Himmels die Seinen am Leben erhalten“); wol trôste got sîniu kint („Gut tröstete Gott seine Kinder“). Führen wir ebenfalls die Predigt Turpins zu Beginn der ersten Schlacht an (RL 3905–35 – O 1127–35; V4 1059–64; C 1498–1506). In der ‚Chanson‘ ermahnt Turpin die Christen zuerst für ihren König zu sterben, dann für die Christenheit. Konrad streicht jede Anspielung auf Karl und legt weit mehr Nachdruck als der französische Autor auf das Thema der himmlischen Belohnung, die den Christen für ihr bevorstehendes Martyrium versprochen wird. Er greift in einem Zusatz das Thema des heiligen Krieges auf, indem er den Krieg zwischen Christen und Heiden als Krieg zwischen Gott und Teufel bezeichnet. Die Heiden sind die Streiter des Teufels, während die Christen die Streiter Gottes sind (RL 3902–12). Wichtig ist für ihn einzig und allein, im Dienst Gottes zu sterben und so seine Seele zu retten, sowie das Christentum in der Welt auszubreiten. Diese Themen werden variiert. So bezeichnen Olivier und Turpin die christlichen Kämpfer als wâre gotes helede (980), die mit dem himmlischen Reich belohnt werden (987). In einem Kommentar des Autors werden die in Roncevaux gefallenen Christen ausdrücklich als Heilige bezeichnet (7598: die hailigen hêrren), bei deren Bestattung Wunderzeichen geschehen, was besagt, daß sie als heilige Märtyrer in den Himmel aufgenommen worden sind, und ihnen wird sogar die Funktion der Fürbitte bei Gott zugesprochen (3948–60; 7599f.). Hier greift Konrad erläuternd in den Text ein. Auch wenn dies nicht expressis verbis gesagt wird, betrachtet Konrad Karl, dessen Rolle im deutschen Werk besonders ausgeweitet und verstärkt worden ist, als einen Heiligen. Er wird als gotes dienestman (31), der aller sælegeste hêrre (2249), gesegenter kaiser (8689) bezeichnet. Es kann auch auf den Prolog

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hingewiesen werden: nû hât in got gehalten / in sîneme rîche, / dâ wont er iemer êwichlîche (28–30). Was das Wunder der in ihrem Lauf innehaltenden Sonne betrifft, so stimmen die Auslegung Konrads und die Pierre Le Gentils (1967) überein: Der deutsche Dichter zieht nämlich ausdrücklich eine Parallele zum Alten Testament (RL 7021: daz liset man in der alten ê „das liest man im Alten Testament“) und hebt in einem Kommentar hervor, daß Gott für Karl dasselbe Wunder wie für Josue bewirkt und ihm wie Josue ermöglicht, seine Feinde zu verfolgen (7017–27). Konrad setzt hierdurch ausdrücklich Karl mit den größten Helden der Bibel gleich (vgl. Ios 10,12–14). In diesem Zusammenhang soll Rolands Tod gesehen werden. Roland will bei Konrad nicht wie in der ‚Chanson‘ (O 2363) als Eroberer sterben, er ist nicht bestrebt, eitlen irdischen Ruhm zu erlangen; einzig und allein ist der himmlische Lohn für ihn von Belang, d.h. das ewige Heil. Es sind nicht die Eroberungen dieser Welt, die ihn interessieren, sondern nur der Wunsch, der Wille, die Christenheit zu retten. Aus diesem Grund denkt er im Sterben nicht, wie der französische Roland (O 2377–2380), an die eroberten Länder, noch an das holde Frankreich, noch an seine Sippe, noch an Karl den Großen, seinen Herrn, sondern er bittet Gott darum, Karl zu erlauben, den Sieg über die Ungläubigen davonzutragen und alle in der Schlacht gefallenen Christen ins Paradies aufzunehmen (RL 6903ff.). Außerdem macht Konrad aus Roland, der wie ein Mönch mit ausgebreiteten Armen zur Erde fällt (6895), explizit Gottes Vasallen. In V4 2475 wird gesagt, daß Gott selbst Karl ein Schwert durch einen Engel überreichen läßt. Karl steht es jedoch frei, das Schwert nach seinem Gutdünken weiterzugeben, und er selbst bestimmt es für Roland, seinen Lehnsmann. Konrad geht von seiner wahrscheinlich V4 nahestehenden Vorlage aus, er geht aber in einem dem Monolog Rolands hinzugefügten Passus darüber hinaus: Roland ist von Gott selbst auserkoren worden, Durndart zu tragen. Das Schwert ist die materielle Bezeigung der Bande, die den Vasallen mit dem Lehnsherrn verbinden, die Roland mit Gott verbinden. Das Schwert ist das Lehen, das Gott über den Engel Roland verliehen hat und das Roland in der Stunde seines Todes Gott, seinem himmlischen Lehnsherrn, nach dem feudalen Ritus zurückgeben will: in sîne gnâde will ich ergeben, / swaz ich sîn von im hân, / want ich sîn niemen sô wol gan“ (RL 6886–6888: „In seine gnädige Verfügung will ich alles zurückgeben, was ich von ihm habe, denn niemand gönne ich es so sehr“). Außerdem hat ihm Gott den Feldzug befohlen (6884). Hiermit zeigt Konrad, daß Roland mehr als der Lehnsmann Karls ist: Er ist der unmittelbare Lehensmann Gottes. So bringt der deutsche Dichter deutlich zum Ausdruck, was in der Vorlage in

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der Szene, in der Roland Gott seinen rechten Handschuh entgegenhält (und die Konrad auch übernimmt), nur mitschwingt und was erst von den modernen Exegeten aufgedeckt worden ist. Schließlich ereignen sich im Augenblick seines Todes Wunder, die denen ähnlich sind, die in der Bibel Christi Tod begleiten (in der ‚Chanson de Roland‘ finden sich die Anspielungen auf die Umwälzungen und Wunder, welche an die erinnern, die bei Christi Tod sich ereigneten, am Anfang des Schlachtgetümmels, in dem alle Christen den Tod finden – O 1423–37; V4 1337–46; C 2432–45). Daß Konrad diese Wunder kurz nach Rolands Tod erzählt, lädt dazu ein, den Tod seines Helden mit Christi Passion und Tod in Verbindung zu bringen, da beide das Jüngste Gericht ankündigen. Man könnte sogar Roland mit Christus vergleichen, denn durch seinen Opfertod bringt Roland, der als heiliger Märtyrer stirbt, wie Christus der Menschheit das Heil. Somit macht Konrad ausdrücklich aus Roland eine Christusfigur. Roland opfert sich genau wie Christus für die Menschheit. In Anlehnung an einen Gedanken des französischen Dichters (O 2391: Desur sun bras teneit le chef enclin „er hielt sein Haupt auf seinen Arm geneigt“; vgl. V4 2552) beschreibt Konrad den Tod des Helden wie den Christi (RL 6916–19: daz houbet er nider naicte, / die hende er ûf spraite. / dem altwaltigen hêrren, / dem bevalch er sîne sêle „sein Haupt neigte er, die Hände breitete er aus, dem allmächtigen Herrn befahl er seine Seele“) – vgl. Io 19,30 „und neigte das Haupt und verschied“ oder auch Lc 23,46 „und Jesus rief laut und sprach: ‚Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände‘“. So veranschaulicht der Autor durch seine Schilderung den Sinn, den er in der Episode von Rolands Tod entdeckt hat und den er stark unterstreichen will. Die Bedeutung der Baligant-Episode liegt ebenfalls auf der Hand. In der ‚Chanson‘ will der Heidenkönig Karl in France dulce (O 2661; V4 2852) herausfordern, bis Aachen vordringen, wo Karl soelt plaider (O 2667: „Gericht zu halten pflegt“), und ihm die Krone vom Haupt nehmen, wenn er nicht der Religion der Christen abschwört (O 2683f.; V4 2873f.; C 4632–4). Im ‚Rolandslied‘ rät Paligans Sohn seinem Vater, den Konrad ausdrücklich in einem Kommentar als das Oberhaupt aller heidnischen Könige bezeichnet und dessen Residenz die Hauptstadt der Heiden ist, Paris zu zerstören, sich nach Aachen zu begeben, um Karl seiner Krone verlustig zu erklären, und er fügt hinzu: dar nâch twinc du Rôme, / dâ er ân dîn urloup ist an gesezzen (RL 7232f.: „Danach erobere Rom, wo er ohne deine Erlaubnis seinen Herrschaftssitz hat“). Karl erscheint in jeder Beziehung als geistliches und weltliches Oberhaupt seines Reiches. Übrigens wird der Papst genau wie bei Walther von der Vogelweide vollkommen ausgeklammert, während in O 2998 und V4 3183 auf den Apostel von Rom ange-

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spielt wird. Bei Konrad will Paligan, das Oberhaupt der Heiden, Rom, den Mittelpunkt der Christenheit, erobern, Karl aus der Heiligen Stadt verjagen, seinen Platz einnehmen, mit anderen Worten, das Heidentum über das Christentum obsiegen lassen. Auf diese Weise verdeutlicht Konrad das, was in der ‚Chanson‘ nur anklingt und von den modernen Exegeten wie Pierre Le Gentil (1967, S. 117f.) ans Licht gebracht worden ist. Im Kampf zwischen Paligan und Karl enthüllt Konrad mit Hilfe eines Dialoges, was in der ‚Chanson‘ mitschwingt (O 3597ff.; V4 3761ff.): Paligan ist Tervigants (einer der Götzen der Heiden) Kämpe und Karl derjenige Christi (RL 8485ff.). Schließlich legt Konrad Karl Worte in den Mund, die verdeutlichen, daß Genelun die gesamte Christenheit verraten hat, als er Roland und die Seinen den Heiden auslieferte (RL 8750f.: daz er die cristen hât gegeben / in die gewalt der haiden; 8782: diu christenhait ist harte geschendet ), was O 3872 entspricht: Deus set asez cument la fins en ert! („Gott weiß sehr wohl, wie das enden wird“), dessen Sinn Pierre Le Gentil (1967, S. 119) genau wie Konrad erläutert hat: „Gott gibt so zu verstehen, daß über den Neffen und Lehensmann hinaus die Freveltat Ganelons nicht nur den Onkel und Lehensherrn betrifft, sondern auch über den Märtyrer und Heiligen hinaus das Haupt der Christenheit, diese Christenheit und Gott selbst“ (Übersetzung D.B.). Die Figur Tirrich bringt das noch deutlicher zum Audruck (RL 8829ff.): unt hât ungetriuwelîchen / gerâten an daz rîche / unt wolt dâ entêren / die crône mînes hêrren / unt zestoeren die hailigen cristenhait („und [Genelun] hat verräterischen Rat zum Nachteil des Reichs gegeben und wollte die Krone meines Herren entehren und die heilige Christenheit zerstören“), viel deutlicher als O 3829f.: Guenes est fels d’iço qu’il le traït, / Vers vos s’en est parjurez e malmis („Ganelon ist ein Schurke deshalb, weil er ihn verriet. Euch gegenüber ist er meineidig und eidbrüchig geworden“). Es ist also das Thema des Heiligen Krieges, „diese autonome, allein dastehende, einfache Grundidee“ (Vinaver 1970, S. 73), die, das gesamte ‚Rolandslied‘ lenkend, von Anfang an die Handlungen der Personen bestimmt, sei es nun Roland, Olivier, Turpin, andere Helden, oder auch Karl und Tirrich. Dieser schon ab den ersten Zeilen des Werkes vom deutschen Dichter entwickelte Gedanke, der in seinem Werk den Ton angibt, ist die ideologische Grundlage, welche Konrad, der, ähnlich Chrétien de Troyes, seine „Bearbeitungsarbeit als Erläuterungsarbeit“ (ebd., S. 109) auffaßt, durch seine Kommentare, die Reden seiner Helden oder die Erzählung selbst hervorhebt. Diese Idee ermöglichte ihm, die verschiedenen Episoden, miteinander zu verbinden – die Episode des Paligan, die des Verrats und der Bestrafung Geneluns genau wie die verschiedenen Phasen der Schlacht von Roncevaux –, und sie verleiht dem Werk interne Einheit und

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logischen Zusammenhang. Kurz gesagt, diese Hauptidee und dieses ideologische Schema, die das ganze Werk durchziehen, können mit dem verglichen werden, was Eugène Vinaver die „conjointure“ nennt, nämlich das, was seiner Definition nach verschiedene oder sogar andersgeartete Elemente gliedert, oder anders ausgedrückt, was sie „in eine organisierte Ganzheit umgestaltet“ (ebd., S. 107 – Übersetzung D.B.). Ebenso wie man bei den höfischen Romanen mit Eugène Vinaver von einer höfischen conjointure sprechen kann, so kann man beim ‚Rolandslied‘ von einer religiösen conjointure sprechen. Konrad hätte sich auf diese Weise sogar stärker von seiner Vorlage entfernt als Hartmann, Wolfram oder Gottfried, deren Vorlagen schon mit einer conjointure ausgestattet waren. Er wäre eher mit Eilhart von Oberg zu vergleichen (Buschinger 1975). Die Einführung einer conjointure und das Deutlichmachen des Sinnes des Textes, dazu noch die durchdachte Auslassung der typischen Kennzeichen des heldenepischen Stils markieren, wie es Eugène Vinaver (1970 u. 1971) gezeigt hat, den Übergang vom Heldenepos zum Roman. Während der Autor der ‚Chanson de Roland‘ nicht auslegend in seine Erzählung eingreift und um des Erzählens willen erzählt – erst die modernen Exegeten werden den im Werk unterschwellig gebliebenen Sinn klar verdeutlichen –, distanziert sich Konrad wie jeder Romandichter von seinem Thema, um das Warum der Geschehnisse zu ergründen; er geht über die Geschichte hinaus, deckt den Sinn der erzählten Ereignisse für sein Publikum auf und gestaltet seine Erzählung nach diesem Sinn, in Einklang mit diesem Sinn, diesem sen oder senefiance. Anders ausgedrückt: Konrad hat den Text seines Werkes als den Ausdruck einer Idee, die es durch seine eigene Erzählung deutlich zu machen, zu veranschaulichen gilt, verstanden, auch wenn er seine eigenen Gedanken hinzufügen soll. Kurz, Konrad nimmt an dem teil, was Vinaver „the discovery of meaning“ nennt, und das ‚Rolandslied‘ ist ein Roman. Doch sollte man die von Konrad herausgearbeitete Kreuzzugsthematik nicht so sehr mit einem Kreuzzug im Heiligen Land in Verbindung setzen (der 2. Kreuzzug, der ein Fiasko war, liegt schon sehr weit zurück) als mit den Wendenzügen Heinrichs des Löwen, die einen wahren Kreuzzugsfanatismus ausgelöst haben. Heinrich hat versucht, sein Herrschaftsgebiet nach Osten über die Elbe hinaus auszuweiten und zu diesem Zwecke mehrere Eroberungszüge unternommen, die als Kreuzzüge deklariert wurden. Heinrich der Löwe war ja Konrads Auftraggeber, wie im Epilog des Werkes gesagt wird. Das ‚Rolandslied‘ wäre dann entstanden, um Heinrichs ‚Kreuzzüge‘ bzw. Eroberungen in slawischen Gebieten ideologisch zu legitimieren. Im Epilog betrachtet Konrad außerdem Heinrich

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den Löwen, dem Gott zum Sieg verholfen habe (RL 9049: got tet in ie sigehaft „Gott schenkte ihm stets den Sieg“), als einen ebensogroßen Heidenbekehrer wie Karl den Großen, dessen Erbe er geradezu ist (9047: daz erbet in von rechte an „das erbt er zu Recht“), beteiligte er sich doch an den Vorbereitungen zu Karls Heiligsprechung durch Friedrich I. Barbarossa im Jahre 1165. Man kann wohl vermuten, daß sich in diesem Werk welfisches Selbstbewußtsein artikulierte, übte doch Heinrich der Löwe, der sich als Nachfahre Karls des Großen betrachtete, welcher im ‚Rolandslied‘ ja als Haupt der Christenheit dargestellt wird (974f.: jâ nîgent dîner crône / alle cristen künige „es verneigen sich alle christlichen Könige vor deiner Krone“), und beim Ausbau seiner Braunschweiger Residenz dem Repräsentationsvorbild Karls des Großen in Aachen nacheiferte, in seinem Herrschaftsgebiet nachgerade königliche Gewalt aus. Nachwirkung Das ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad erfuhr seine erste Bearbeitung durch den Stricker. Der Stricker läßt (im ersten Viertel des 13. Jh.) den Handlungsgang des alten Werkes weitgehend unangetastet, modernisiert den Stil im höfischen Sinne, berichtigt Ungenauigkeiten und Fehler des ‚Rolandsliedes‘ und erweitert das ältere Werk vornehmlich durch die der Mainet-Tradition entlehnte Vorgeschichte, die von der Jugend Karls des Großen erzählt, verlegt den Fokus aber von Roland auf den zum Heiligen stilisierten Kaiser. Mit diesem tritt zugleich die Reichsidee, das roemesch rîche hervor (der Stricker, ‚Karl‘, V. 4603 u. ö.). Diese Umarbeitung ist in fast fünfzig vollständigen oder fragmentarischen Handschriften überliefert und somit im Mittelalter weit besser bekannt als Konrads Werk (s. Kap. 2.1.3). Vermutlich im frühen 14. Jh. wird das ‚Rolandslied‘ im ripuarischen Raum von einem Unbekannten (einem Geistlichen) in bearbeiteter Form in eine große zyklische Kompilation aufgenommen, die nun eine komplette sagenhafte Lebensbeschreibung Karls des Großen abgibt, eine Art deutsches Gegenstück zur französischen legendären Karlsbiographie von Girart d’Amiens (um 1300). Dieser sogenannte ‚Karlmeinet‘ (Meinet < afrz. Mainet < Magnitus, Verkleinerungsform zu Magne) gehört als ganzer nicht mehr in den zeitlichen Rahmen unseres Handbuchs, sondern nur die darin aufgenommenen ursprünglich selbständigen Stücke, die noch aus dem 13. Jh. stammen bzw. stammen könnten (s. Kap. 2.3). Wieweit dies auf die Bearbeitung von Konrads ‚Rolandslied‘, welche vor dem Schluß-

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abschnitte der Kompilation steht, zutrifft, läßt sich nicht entscheiden. Die Bedeutung des Helden Roland wird hier jedenfalls herabgestuft. Dem unbesonnenen Draufgänger wird der kühl überlegende Kaiser entgegengesetzt. Auch die Ideologie des Heiligen Krieges tritt zurück. Kurz, Roland ist aller Züge beraubt worden, die aus ihm eine außergewöhnliche epische Heldenfigur machten. Wir wohnen im ‚Karlmeinet‘ der puren Destruktion, der einfachen Zerstörung der epischen Heldenfigur bei, die Roland in der Tradition war; aber weil der Autor oder Kompilator kein literarisches Genie war, sehen wir keinen Romanhelden vor uns entstehen. Der ‚Karlmeinet‘ ist aber nicht nur Unterhaltungsliteratur, sondern auch politische Dichtung: Das Ausschlaggebende liegt unseres Erachtens in der Gestalt Karls, der zuerst zum König von Frankreich gekrönt wird und in Paris bzw. St. Denis residiert und dann zum deutschen Kaiser wird, der sich in Ingelheim niederläßt und in Aachen Hof hält, der unangefochtener Herrscher in Deutschland, im ‚Rolandslied‘-Teil gar geistliches und weltliches Oberhaupt seines Reiches ist und in seinem ‚politischen Testament‘ (‚Karlmeinet‘ 535,21–33) den Kaiserthron den deutschen Fürsten vorbehält. Schließlich zieht der Papst von Rom nach Aachen zu den Feiern anlässlich der Einbalsamierung Karls. 2.1.3 ‚Karl der Große‘ von dem Stricker von Bernd Bastert Zur Werkgenese – Inhaltliche Variationen und Erweiterungen – Konzeptioneller Bearbeitungsmodus

Zur Werkgenese ‚Karl der Große‘ (KdG) ist eine um 1220 entstandene Überarbeitung des deutschen ‚Rolandslieds‘. Wie der Autor, der sich selbst der Stricker nennt, im Prolog des Werkes erklärt, hat er daz alte maere, gemeint ist das ‚Rolandslied‘, erniuwet (KdG 115f.), was sowohl auf formale wie auf inhaltliche Aspekte bezogen werden kann. Formal wurden Wortgebrauch und Reimtechnik den zwischen 1170 und 1220 weiterentwickelten Standards angepaßt. Inhaltlich sind, ohne den aus dem ‚Rolandslied‘ bekannten Handlungskern in seiner Grundsubstanz zu verändern, Ergänzungen, Umstellungen und der Erzähllogik dienende Verbesserungen am älteren Werk vorge-

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nommen worden. Für den ‚Karl‘ fehlt jeglicher Hinweis auf einen möglichen Auftraggeber. Den einzigen Anhaltspunkt bilden die auf den Protagonisten gemünzten, eher unspezifischen Prologzeilen, in denen versichert wird, daß man vom heiligen Karl bereits viel Gewinn gehabt habe, der damit verbundene Nutzen aber eigentlich erst beginnen werde (KdG 101–103: des man vil genozzen hât / und nû alrêrst ane gât, / daz man sîn geniezen sol). Trotz ihrer Unschärfe werden jene Verse meist auf die 1165 erfolgte Kanonisation des ersten Frankenkaisers bzw. auf die Auswirkungen der Heiligsprechung Karls bezogen. Mehrfach sind sehr konkrete Entstehungsdaten vorgeschlagen worden, die jeweils mit einem bestimmten Auftraggeber korrelieren sollen. Eine erste These geht davon aus, daß die erwähnten Verse im Zusammenhang mit den Aachener Krönungsfeierlichkeiten im Sommer 1215 stünden, als der junge Stauferkönig Friedrich II. ein Kreuzzugsgelübde leistete und am 27. Juli eigenhändig den neu geschaffenen goldenen Schrein des im Jahr 1165, während der Regierungszeit und unter der Beteiligung seines Großvaters, heilig gesprochenen Karl verschloß. Teilweise wollte man sogar in des Strickers Karlsdarstellung eine Präfiguration Friedrichs II. erkennen. Der ‚Karl‘ wäre demnach um 1215 im staufischen Auftrag entstanden (Singer 1971; von der Burg 1974). Eine Modifikation jener Annahme zielt darauf ab, daß des Strickers Bearbeitung des ‚Rolandslieds‘ zwar im staufischen Auftrag, aber erst gegen 1220 verfaßt worden sei, um den von Friedrich II. gelobten Kreuzzug propagandistisch zu unterstützen (Schnell 1974; Weber 2010). Die Entstehung des ‚Karl‘ im Auftrag Friedrichs II. ist allerdings schon deshalb wenig wahrscheinlich, weil der Staufer ansonsten nie an den Karlsmythos anknüpft, sich vielmehr stets an anderen, antiken Vorbildern orientiert. Die zweite gängige These zur Entstehung der Strickerschen Überarbeitung des ‚Rolandslieds‘ rekurriert auf die für 1233 nachweisbare Überführung von Karlsreliquien nach Zürich und bringt die Genese von Strickers ‚Karl‘ in einen engen Nexus zu dem ab jenem Zeitpunkt nachweisbaren Zürcher Karlskult (Geith 1977). Eine Verknüpfung mit Zürich und dem dortigen Großmünster, neben Aachen bis zur Reformation ein wichtiges Zentrum der Karlsverehrung, ist nicht von vornherein auszuschließen, zumal ein Zürcher Interesse am ‚Karl‘ mehrfach deutlich wird. So ist z.B. die aufwendig illustrierte ‚Karl‘-Handschrift Ms 302 Vad. mit einiger Sicherheit um 1300 in Zürich geschrieben worden. Das Jahr 1233 als Terminus post quem bleibt jedoch kritisch angesichts des ältesten bekannten, auf 1220/1240 datierten ‚Karl‘-Fragments, das eine Entstehung dieser oberdeutschen ‚Rolandslied‘-Bearbeitung noch im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts wahrscheinlich macht. Ort und Datum der ‚Karl‘-Genese

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bleiben damit letztlich im Dunkeln. Mit Blick auf die wenig glücklichen Versuche einer exakten Datierung und Lokalisierung des ‚Karl‘ und in Anbetracht der vage klingenden Prologzeilen über den Nutzen, den man vom heiligen Karl bislang schon gehabt habe und der sich in Zukunft noch steigern werde, wird mittlerweile eher der Gedanke einer bewußt unbestimmten Formulierung favorisiert, die einen variablen Gebrauch des Textes zulasse (Brandt 1981, Klein 1998). Mit dieser Annahme harmoniert hervorragend das Faktum einer augenscheinlich recht weiten Verbreitung und intensiven Rezeption des ‚Karl‘ bis weit ins 15. Jahrhundert (Bastert 2003). Inhaltliche Variationen und Erweiterungen In der (modernen Editionskriterien nicht mehr genügenden) Ausgabe von Bartsch – vgl. jetzt aber Ausg. Weber [2010] – umfaßt der Text ca. 12200 Verse gegenüber den rund 9000 Versen des ‚Rolandslieds‘ in der Fassung des Pfaffen Konrad. Bereits früh bemerkt und beschrieben wurde das erzähltechnische Verfahren des ‚Rolandslied‘-Bearbeiters, Ungenauigkeiten und offensichtliche Fehler des älteren Werks zu berichtigen (Ammann 1901). So vervollständigt der Stricker beispielsweise den im ‚Rolandslied‘ lediglich neun Namen umfassenden Katalog der uzerwelten zwelfe (RL 130) auf ein volles Dutzend ritter hêrlich (KdG 480). Und während im ‚Rolandslied‘ zwei jener Paladine Karls, Egeries und Berenger, ebenso wie der Heide Grandon erneut in den Kampf eingreifen (RL 5915, 5922, 5832), obwohl kurz zuvor noch ihr Tod beschreiben worden war (RL 5334, 5337, 5355), sterben beim Stricker alle drei erst im Verlauf der Runzevâl-Schlacht (KdG 6423, 6425, 6435). Deutliche Amplifikationen im Vergleich zum ‚Rolandslied‘ weisen insbesondere Anfang und Ende des ‚Karl‘ auf. Während die ältere Forschung, beginnend mit Wilhelm Grimm, annahm, daß diese Erweiterungen sich schon in einer verlorenen zweiten, längeren Fassung des deutschen ‚Rolandslieds‘ gefunden hätten, nach der der Stricker gearbeitet habe, besteht mittlerweile Konsens darüber, daß zumindest die Erweiterungen des Schlußteils im wesentlichen auf jüngeren Fassungen der französischen ‚Chanson de Roland‘ basieren (von der Burg 1976; Hennings 2008, S. 111–125). Beschrieben werden darin u.a. die Taufe Brechmundas, der Witwe Marsilies, auf den Namen Juliane (KdG 10371–10427), die wundersame Trennung der in der Roncevalschlacht getöteten Heiden und Christen (10770–10866), die Stiftung eines Spitals und einer Kirche auf dem

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Schlachtfeld von Ronceval (10930–10965), die Herbeiholung von Rolands Braut Alite und deren Tod aus Schmerz über den Verlust (10977–11286) sowie ein gerade noch vereitelter Fluchtversuch Ganeluns vor seinem Prozeß (11287–11662). Alle Amplifikationen lassen sich in der Oxforder Fassung (O) oder in jüngeren Fassungen der ‚Chanson de Roland‘ finden; die größten Übereinstimmungen ergeben sich dabei zur Fassung Châteauroux/Venedig 7 (C/V7). Zwar kann, allein schon aus Gründen der Chronologie, keine dieser beiden Handschriften die direkte Vorlage gewesen sein, an einer C/V7 nahestehenden Redaktion dürfte sich der Stricker bei seiner Bearbeitung des ‚Rolandslieds‘ jedoch orientiert haben. „Aus Wortlaut und Struktur dieser Szenen geht hervor, daß hier die entsprechenden Abschnitte der jüngeren Fassungen der ChdR übertragen werden – eine Beobachtung, die beweist, daß der Stricker das Altfranzösische verstand“ (Geith 1977, S. 182). Ganz exakt läßt sich die Vorlage jedoch nicht ermitteln, weil der Stricker zwar offensichtlich Passagen und wichtige Details der französischen Quelle in seine Überarbeitung integriert hat, dabei jedoch durchgehend kürzt, umstellt oder sonstige Modifikationen vornimmt. So wird beispielsweise die Episode von Geneluns Flucht vom Stricker erst nach dem Tod und der Bestattung Alites eingeschaltet, während sie sich in den ‚Chanson de Roland‘-Fassungen früher ereignet. Auch das Trennungswunder, durch das die gefallenen Christen von den Heiden unterschieden werden können, stellt der Stricker etwas anders dar als die jüngeren französischen ‚Chanson de Roland‘-Fassungen. Während in den französischen Texten auf Gottes Geheiß der Heilige Martin (Weiß-)Dornsträucher durch die Leichen getöteten Heiden dringen läßt, ist es im ‚Karl‘ Gott selbst, der dafür sorgt, daß Dornen durch die heidnischen Leichname wachsen, wohingegen weiße Blumen neben den getöteten Christen erblühen. Für einige andere Erweiterungen lassen sich in den erhaltenen Fassungen der ‚Chanson de Roland‘ indes keine Parallelen anführen. Dazu zählt etwa der Bericht, daß allein Karl dem getöteten Roland das Schwert aus der Hand zu entwinden vermag (KdG 8357–8366). Gleichwohl dürfte diese Passage auf ein romanisches Modell, möglicherweise eine verlorene ‚Chanson de Roland‘-Fassung, zurück gehen, denn exakt die gleiche Episode kennen ebenfalls die altnordische ‚Karlamagnús saga‘ und das okzitanische ‚Ronsavals‘-Epos (Hennings 2008). Für einzelne Details des Schlußteils könnte der Stricker vielleicht auch lateinische Quellen benutzt haben. Die im ‚Karl‘ geschilderte Stiftung eines Spitals auf dem Schlachtfeld von Ronceval und die Errichtung einer Kirche über dem Stein, auf dem Roland starb (KdG 10930–10965), begegnet in den bekannten französischen Fassungen der ‚Chanson de Roland‘ nicht exakt

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in dieser Form (vgl. aber Hennings 2008, S. 120f.), doch im lateinischen Pilgerführer nach Santiago de Compostela, dem ‚Liber Sancti Jacobi‘, liest man Vergleichbares (Geith 1977). Bei aller Nähe zu seinen deutschen, französischen und lateinischen Quellen geht der Stricker insgesamt recht souverän mit den Vorlagen um, greift sich heraus, was er zur Komplettierung seiner ‚Rolandslied‘-Bearbeitung für geeignet hält und paßt dies dann seinem Text an. Noch sehr viel radikaler setzt der Stricker jenes kompilatorische Verfahren im Anfangsteil des ‚Karl‘ um. Bevor der Text auf das aus dem ‚Rolandslied‘ bekannte Geschehen einschwenkt, werden in einem rund 600 Verse umfassenden Zusatz in höchst abbreviatorischer Form Kindheit, Jugend und erste Taten Karls beschrieben. Die Quellen dafür stammen wahrscheinlich aus der Romania. Die merkwürdigen Umstände von Karls Geburt werden beispielsweise in ‚Berthe aux grands pieds‘ thematisiert, von der Jugend des späteren Kaisers berichtet ‚Mainet‘. Die in den französischen Chansons geschilderte Handlung ist im Anfangsteil des ‚Karl‘ jedoch nicht nur radikal auf ihren Kern verkürzt, sie weicht in einigen Punkten auch so weit von den französischen Texten ab, daß in der Forschung diskutiert wurde, ob die uns bekannten romanischen Fassungen überhaupt als Vorlage gedient haben könnten oder ob der Stricker sie vielleicht mündlich vermittelt bekommen und nicht ganz korrekt erinnert habe (Horrent 1979; Hennings 2008; Weber 2010). Der einen brevitas-Topos (KdG 132f.) enthaltende Bericht über die merkwürdigen Umstände von Karls Zeugung und Geburt setzt ein mit einem knappen Verweis auf Karls Eltern, Pippin und Berhte, und deren zunächst durch eine falsche Braut verhinderte Eheschließung, die aber endlich doch zur Geburt Karls und seiner Schwester Gerdrut führt, die ebenfalls in ‚König Rother‘ als Karls Schwester genannt wird (KdG 124–142). Aus Pippins Verbindung mit der falschen Braut entstammen laut Stricker drei weitere Söhne: Leo (hier variiert Stricker das aus der ‚Kaiserchronik‘ stammende Motiv der Bruderschaft von Karl und dem späteren Papst Leo) sowie Wineman und Rapote – beider Namen sind aus dem ‚Rolandslied‘ entlehnt, stimmen allerdings absolut nicht zur romanischen Tradition, in der die mit der ‚falschen‘ Berta gezeugten Halbbrüder Karls Heudri und Hainfroi bzw. Rainfroi heißen (Horrent 1979). Nahtlos geht diese Schilderung in die vom Stricker wiederum stark gekürzte und in einigen wichtigen Punkten variierte Mainet-Erzählung über. Winemann und Rapote trachten dem jungen Karl nach dem Leben (143–172). Der flieht daraufhin nach Spanien und findet Asyl bei König Marsilie, seinem späteren Feind. Als die attraktive Schwester des spanischen Heidenkönigs

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sich in den mittlerweile zum strahlenden Helden herangewachsenen Karl verliebt und ihn zur Konversion bewegen will, geht Karl zurück nach Frankreich, wo er alsbald die Herrschaft von seinen usurpatorischen Halbbrüdern erringen kann, sie allerdings begnadigt (173–274). Auch das ist in der Tradition ansonsten völlig unbekannt (Horrent 1979). Die ungewöhnliche Schonung verdankt sich mit einiger Sicherheit jedoch der späteren Rolle Winemanns und Rapotes als Nachfolger Rolands, die – wie im ‚Rolandslied‘ so auch im ‚Karl‘ – nach dessen Märtyrertod sein Horn bzw. sein Schwert erhalten. Was in den älteren Fassungen überraschend und beinahe unverständlich wirken mußte, da beide Figuren zuvor niemals erwähnt worden waren, folgt in Strickers Bearbeitung recht konsequent aus ihrer engen Verwandtschaft zu Karl. Der zentralen Bedeutung für den weiteren Erzählverlauf ist wohl auch die besondere Hervorhebung König Marsilies im Anfangsteil geschuldet. In den romanischen Texten heißt der asylgewährende Heidenkönig stets Galafer oder ähnlich, seine Tochter Galie. In den französischen ‚Mainet‘-Fragmenten hat König Galafer zwei Söhne namens Marsilie und Baligant. In seiner extrem verkürzten Adaptation der ‚Mainet‘-Geschichte fokussiert der Stricker hingegen ganz auf die Generation der Kinder Galafers, weil nur diese für die weitere Handlung bedeutsam sind, Galafer erwähnt er überhaupt nicht. Marsilie, der wichtige Gegner Karls, wird beim Stricker zu jenem Heidenkönig, zu dem der junge Karl ins Exil geht. Folgerichtig verliebt sich der junge Frankenkönig auch nicht, wie in der romanischen Tradition üblich, in die Tochter, sondern in die Schwester des Königs Marsilie; im ‚Karl‘ bleibt sie allerdings namenlos. Denn dort kommt es, wiederum gegen die Tradition, erst gar nicht zu einer Liebesbeziehung des jungen Frankenkönigs mit der Heidin (s.o.). Die beiden in der Anfangspartie des ‚Karl‘ verwendeten, auf romanisches Material rekurrierenden Erzählstoffe behandelt der Stricker mithin auf die gleiche Weise: Die Quelle wird jeweils nur punktuell genutzt und der Erzählintention entsprechend umgeformt. Dieser Bearbeitungsmodus differiert graduell, aber nicht prinzipiell von den Umformungen, die der Stricker gegen Ende des ‚Karl‘ vornimmt. Da für die Erweiterungen und Variationen des Schlußteils aber französische Chansons als Quellen nachweisbar sind, kann man wohl auch für den Anfangsteil des ‚Karl‘ französische Epen als Vorlagen vermuten. Im Unterschied zu den Amplifikationen des Schlußteils können hier jedoch, aufgrund außerordentlich starker Kürzungen und gravierender Modifikationen, eingehendere Vergleiche mit romanischen Quellen nicht angestellt werden.

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Konzeptioneller Bearbeitungsmodus Bei seiner erweiternden Überarbeitung des ‚Rolandslieds‘ hat der Stricker auf unterschiedliche deutsche, französische und eventuell lateinische Quellen zurückgegriffen, um das ältere Werk zu erniuwen. In und um den Kern des Konradschen Textes fügt er verschiedene Ergänzungen und Zusatzinformationen ein, die er zudem auf ein übergreifendes narratives Konzept bezieht. Dieses Konzept zielt auf Vollständigkeit, eine Vollständigkeit, die dem Stricker augenscheinlich wichtiger war als gewisse Unschärfen im Erzählaufbau (Haacke 1959), die sich etwa daraus ergeben, daß Marsilie während des Krieges gegen die spanischen Sarazenen als deren König und Gegner Karls eingeführt wird, ohne später auch nur mit einer Silbe an die Vorgeschichte zu erinnern, in der der junge Karl bei eben jenem Marsilie Exil suchte und fand. Der Stricker verfolgt mithin eine Erzählkonzeption, die nicht etwa einem (modernen) poetologischen Verständnis gehorcht, das auf Widerspruchsfreiheit des Erzählten zielen würde. Statt dessen versteht er sich primär als Kompilator (was in etwa auch die deutsche Bezeichnung der Stricker ausdrückt), der möglichst viele Aspekte der literarischen Karlsdarstellungen zusammenträgt und zu einem umfassenden Panorama vereinigt. Die im ‚Rolandslied‘ geschilderte zentrale Episode aus Karls heiligmäßigem Leben, der Einsatz des Lebens gegen die spanischen Heiden, steht bei dem Stricker zwar nach wie vor im Mittelpunkt, wird jedoch, gängigen hagiographischen Erzählschemata entsprechend, einer Heiligenvita angenähert, die Karls gesamtes Leben – angefangen bei der Elternvorgeschichte, über Kindheit, Jugend und Reife bis zum Tod, oder besser: bis zum Sieg über den Tod – umfaßt. In des Strickers Bearbeitung lassen sich dann auch typische hagiographische Schreibmuster ausmachen. Auf Karl bezogen sind dies, neben dem vorherrschenden Bild des zum Martyrium bereiten Glaubensstreiters und confessors, unter anderem das bekannte Modell des einer (erotischen) Versuchung widerstehenden Heiligen. Gleichwohl erschöpfen sich die im ‚Karl‘ verarbeiteten Diskurse nicht darin (Wolf 2003), der hagiographische Diskurs überschneidet sich z.B. mit historiographischen und mit heilsgeschichtlichen Mustern (Hammer 2012). Mit seinem Konzept einer Kompilierung verschiedener Texte bzw. Textsegmente der deutschen, romanischen und eventuell auch lateinischen Karl-Literatur zu einer Vita, die das heiligmäßige Leben des Frankenkaisers von der Geburt bis zum Tod schildert, geht der Stricker über das auf nur eine, wenn auch wichtige, Episode aus dem Leben Karls des Großen orientierte Erzählprogramm des ‚Rolandslieds‘ hinaus und schafft etwas qualita-

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tiv Neues. Insofern ist der ‚Karl‘ seiner Intention nach mehr als nur eine modernisierende Überarbeitung des ‚Rolandslieds‘. Da der ‚Karl‘ mit einem Ausblick auf die nächste Generation von Kämpfern endet, die das unendliche Ringen zwischen Christen und Heiden, den ewigen Streit zwischen Gut und Böse, fortsetzen wird, stellvertretend genannt sind Ludewîc und Terramêr (KdG 12198), öffnet er sein Werk auf die seinerzeit wohl bekannteste deutsche Chanson de geste-Bearbeitung hin – Wolframs ‚Willehalm‘. Strikkers ‚Karl‘ geriert sich damit als ätiologische Vorgeschichte des ‚Willehalm‘ und kreiert zugleich einen rudimentären deutschen Zyklus aus dem Erzählstoff der französischen Heldenepik. Einige Handschriften haben den von Stricker avisierten Konnex zwischen ‚Karl‘ und ‚Willehalm‘ realisiert und beide Texte hintereinander geschaltet (Bastert 2003). Von Stil und Wirkungsabsicht der französischen Chansons de geste, die teilweise ebenfalls zu voluminösen Zyklen zusammengestellt wurden, hat sich der Stricker jedoch weit entfernt. Denn der ‚Karl‘ ist, darin noch konsequenter als das deutsche ‚Rolandslied‘, keine Heldenepik mehr, sondern nähert sich deutlich legendarischen Literaturmodellen an. Den heroischen Text der ‚Chanson de Roland‘ formt der Stricker zu einem hagiographischen Werk um (Klein 1998). Die letzten Zeilen des ‚Karl‘ laufen dann auch konsequenterweise auf eine Apotheose des heiligen Karl hinaus: mit alsô kreftiger nôt / was Karl, unz im der lîp erstarp: / dâ mit er volleclîche erwarp / den stuol der êwigen jugent. / nu helfe uns got durch sîne tugent, / daz wir êweclîche müezen sehen, / wie sante Karle sî geschehen (KdG 12200–206). Diese hagiographischen Valenzen schlagen sich ebenfalls in Teilen der Überlieferung des Werks nieder, die nahelegt, daß Strickers Karl-Vita von mittelalterlichen Rezipienten als Teil der Heilsgeschichte aufgefaßt wurde. Darauf deutet etwa die zweimalige Überlieferungssymbiose von ‚Karl‘ und der dezidiert heilsgeschichtlich ausgerichteten ‚Weltchronik‘ des Rudolf von Ems. Daß Rudolfs ‚Weltchronik‘ und des Strickers ‚Karl‘ in beiden Handschriften kostbare Buchmalereien auf einem Niveau zieren, wie sie in Deutschland ansonsten nur lateinische Codices, insbesondere solche mit geistlich-hagiographischer Thematik aufzuweisen haben, dürfte wohl ebenfalls auf das hagiographische Potential der Texte zurückzuführen sein. In anderen Codices wird des Strickers ‚Karl‘, im Unterschied zu französischen Epen um Karl den Großen (und der französischen Heldenepik überhaupt), die, sofern sie nicht als Einzeltexte überliefert sind, meist im kontextuellen Verbund mit weiteren Epen oder aber mit sonstiger profaner Literatur wie Artus- und/oder Antikenromanen erscheinen, auffallend häufig mit geistlich-hagiographische Literatur kontextualisiert (Bastert 2010). Auch die Integration von ‚Karl‘-Exzerpten in die Heinrich von

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München zugeschriebene ‚Weltchronik‘ (Shaw 1983) dürfte auf die heilsgeschichtlichen Potentiale des Stoffes zurückzuführen sein. Die sich nicht zuletzt in der Überlieferung manifestierende konzeptionelle Umkodierung geht einher mit Änderungen im poetischen Bearbeitungsmodus, der sich von dem der französischen Heldenepik, die dem Stricker gut bekannt gewesen sein dürfte, signifikant unterscheidet. Für die französische Heldenepik charakteristische poetische Techniken wie die stark formelhafte, partiell auch hoch redundante Narrativik, das Erzählen in Strophenform (für die Chanson de geste: laisses) oder auch Rekurse auf ein zugrunde liegendes episches Substrat sowie die Anonymität des Erzählten, die allesamt auf (fingierte) Mündlichkeit verweisen, finden sich in des Strickers, zumindest teilweise auf französische Epen zurückgreifender Adaptation des zentralen Erzählstoffes um Karl den Großen nicht. Wie schon der Pfaffe Konrad vor ihm ersetzt er die heldenepische Poetik konsequent durch eine Schreibweise, die den Regeln der in der Schriftkultur verankerten lateinischen Rhetorik verpflichtet ist. Dazu gehört der durch den biblischen Vergleich mit Balaams Eselin auf den legendenähnlichen Charakter des nachfolgenden Werks verweisende Prolog samt der mit einer topischen Bescheidenheitsformel einhergehenden Autornennung ebenso wie der offenbar sehr bewußte Verzicht auf die für Heldenepik typische Strophenform, die sich theoretisch, etwa in Form der Nibelungenstrophe, auch im Deutschen hätte nachahmen lassen. Auch die Zurückdrängung des ‚nationalen‘ Pathos der dulce France, die sich in der ‚Chanson de Roland‘ beobachten läßt, kann wohl dazu gerechnet werden. Die schon vom Pfaffen Konrad begonnene Umformung der heldenepischen ‚Chanson de Roland‘ zu einem hagiographischen Werk setzt der Stricker konsequent fort. Die Helden werden zu Heiligen, der Fokus liegt beim Stricker dabei ganz eindeutig auf dem 1165/66 kanonisierten Frankenkaiser. 2.1.4 Das mittelniederländische ‚Roelantslied‘ von Fritz Peter Knapp Einleitung – Überlieferung, Entstehung, Quelle – Die Bearbeitung der Vorlage

Einleitung Die ‚Chanson de Roland‘ (ChdR), das ‚Flaggschiff‘ der afrz. Heldenepik, nationalistisch verklärt und mißbraucht wie das ‚Nibelungenlied‘ auf deut-

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scher Seite, unzählige Male ediert, kommentiert, nach allen Regeln der Kunst analysiert, aber auch malträtiert, war in der literarischen Tradition nicht nur Frankreichs, sondern Lateineuropas im Mittelalter ziemlich omnipräsent. Es ist italienisch, spanisch, portugiesisch, lateinisch, walisisch, altnordisch, deutsch und niederländisch bearbeitet worden. Die Protagonisten Roland, Olivier und Karl der Große sind allenthalben Bezugspersonen für christliches Heldentum und die Kreuzzugsidee gewesen. Vorgeschichte, Entstehung, Urgestalt und Textentwicklung des afrz. ‚Rolandsliedes‘ sind heftig umstritten. Was wir haben, ist eine ältere Fassung mit Assonanzen (ca. 4000 Verse), welche ganz in der Oxforder Hs. O (Bodleian Library, Digby 23, Mitte 12. Jh.?) und teilweise in der venezianischen Hs. V4 (Bibl. Marciana ms. 225) überliefert ist, sowie eine oder mehrere gereimte Fassungen aus der Zeit zwischen 1165 und 1200 in acht Hss. Nach dem Herausgeber Segre (11971/22003) gehören diese alle demselben Überlieferungszweig  an, nur O ganz dem anderen Zweig . Das Original könnte noch dem 11. Jh. angehören. Ob der am Schluß von O genannte Turoldus der Autor ist, darf man bezweifeln. Mündliche Vorstufen sind wahrscheinlich. Wie sie aussahen, ob sie möglicherweise den letzten Teil mit der Schlacht zwischen Charlemagne und Baligant noch nicht enthielten, wissen wir nicht. Ein Resümee des Inhalts der älteren afrz. Fassung findet sich oben in Kap. 2.1.1. Überlieferung, Entstehung, Quelle 1981 hat Hans van Dijk eine Dissertation vorgelegt, die einen diplomatischen Abdruck der Texte des mnl. ‚Roelantslied‘ und eine ausführliche und exakte Untersuchung dazu enthält. Daraus schöpfen die folgenden Ausführungen ausgiebig, denn weitere Forschungen zu dem Gegenstand gibt es kaum. Von dem mnl. ‚Roelantslied‘ haben sich fünf Fragmente in Amsterdam (L), Brüssel (B), Den Haag (H), Lille/Rijsel (R), Rotterdam (Ro) und zwei Drucke eines Volksbuches (Antwerpen ca. 1520 [VbA] u. 1576 [VbB]), in welches Verse aus dem ‚Roelantslied‘ übernommen, andere in Prosa aufgelöst wurden, erhalten. L stammt erst aus der Zeit um 1500, die anderen Fragmente können ins 14. Jh. oder in die Zeit um 1400 datiert werden und weisen überwiegend ins Westmittelniederländische (Van Dijk 1981, S. 156–176; Kienhorst 1988, Bd. I, S. 180–185). Bei der Datierung des Originals hält sich die ndl. Forschung in der Regel bedeckt. Meist plädiert man für das späte 12. oder frühe 13. Jh. (Van Dijk 1981, Anm. 60).

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Insgesamt sind uns auf diese Weise nicht ganz 2000 mnl. Verse bewahrt worden, und zwar seltsamerweise nur solche aus dem Mittelstück (B im obenstehenden Resümee), das die Schlacht von Roncevaux schildert. Das Volksbuch, das freilich auch auf anderen Quellen, insbesondere einer mnl. Prosachronik, beruht, beginnt seine Erzählung mit der Vorbereitung der Schlacht in Laisse LXVIII der ChdR in Hs. O und endet mit Rolands Tod in Laisse CLXXVI. Nur Fragment L berichtet noch von der Rückkehr Karls bis Laisse CLXXXVIII. Auf diese Weise hätten 1768 afrz. Verse eine Entsprechung in 1995 mnl. Versen. Doch die Rechnung wäre irreführend, denn (1) sind die Verse, die nur in der Prosaauflösung erhalten sind, nicht mitgezählt, (2) die Verse von Hs. O keine ausreichende Vergleichsbasis, da sowohl einzelne Laissen von O in der mnl. Bearbeitung ausgelassen, dafür andere aus anderen Fassungen übertragen wurden (z.B. V4, Laisse 151 zwischen O, Laisse CXXXIX u. CXL). Vor allem aber dürfen wir nicht einfach von einer einzigen mnl. Bearbeitung – wir wollen sie gemäß der romanistischen Forschung mit der Sigle h bezeichnen – ausgehen. Die akribische Zusammenstellung aller Fragmente bei Van Dijk (1981) macht es zwar sehr wahrscheinlich, daß am Anfang eine einzige Bearbeitung stand, von der alle weiteren ausgingen. Doch zumindest die Redaktoren von L und des Volksbuchs haben stark in den Text eingegriffen. Trotz dieser Einsicht zieht Van Dijk immer wieder das Volksbuch als Zeugen des alten ‚Roelantsliedes‘ heran, auch wo es durch kein altes Fragment gestützt wird. Das scheint mir nicht zulässig. Das gilt auch für die Beantwortung der Frage, ob das alte ‚Roelantslied‘ mehr als Teil B (Roncevaux) enthielt. Überdies könnten Anspielungen auf den Rest des afrz. Textes (vgl. Horrent 1946), die aus der Vorlage entnommen sind, nur dann eine ursprüngliche vollständige Gesamtübersetzung beweisen, wenn der Bearbeiter über ausreichende Unabhängigkeit von der Vorlage verfügte, was erst zu beweisen wäre. Van Dijk (1981) rechnet mit einer verlorenen schriftlichen afrz. Vorlage von h, die nicht stark von den erhaltenen afrz. Hss. abwich. In der Tat sind die wörtlichen Übereinstimmungen der erhaltenen mnl. und afrz. Texte sehr zahlreich. Wo essentielle Abweichungen auftauchen, sind sie oft auf Korruptelen in der Überlieferung oder auf Fehler des Bearbeiters zurückzuführen. So hat dieser z.B. O 1546 (1589) ambure „beide“ als Eigennamen mißverstanden (h 808 = VbA 708 Ambrone). Aber es gibt auch gravierendere Differenzen, die sich so nicht erklären lassen. Hier tauchen allerdings von vornherein methodische Schwierigkeiten infolge der Lückenhaftigkeit von h und der Fassungsvielfalt der ChdR auf. Da zudem die Beantwortung der Quellenfrage mit der nach der Bearbeitungstechnik des Niederländers eng verbunden ist, werden wir sie besser gemeinsam behandeln.

‚Chanson de Roland‘/‚Rolandslied‘

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Die Bearbeitung der Vorlage Eine wörtliche Übersetzung war von vornherein durch die Wahl des mnl. Reimpaarverses verwehrt. Der Reimzwang konnte nur durch Aufnahme von Füllwörtern befriedigt werden. Im afrz. Text gab die Assonanztechnik größere Freiheit. Der mnl. Text hätte daher auf jeden Fall länger werden müssen als der afrz. Das ist aber nicht der Fall, wenn wir berücksichtigen, daß der afrz. Zehnsilber an sich länger ist als der mnl. Vierheber. Es liegt also insgesamt eine kürzende Bearbeitung vor, die aber dennoch eine Menge Zusätze im Detail enthält. Van Dijk (1981) wählt als Vergleichsbeispiel O, Laisse CL (~ h 1472–94): 2010 Olivier sent que la mort mult l’angoisset;

„Olivier spürt, daß der Tod ihn hart bedrängt: Er verdreht die Augen im Kopf. Ansdous les oilz en la teste li turnent, Er kann nichts mehr hören und nichts Loie pert e la veüe tute. mehr sehen. Er läßt sich vom Pferd herab und legt sich Descent a piét, a la tere se culchet, auf die Erde. Immer wieder bekennt er D’ures en altres si recleimet sa culpe, 2015 Cuntre le ciel ambesdous ses mains juintes, seine Sünden, indem er die gefalteten Hände zum Himmel emporstreckt. Er bittet Gott, er möge ihm das Paradies Si priet Deu que pareis li dunget schenken, und er möge Karl und das Et beneist Karlun e France dulce, Sun cumpaignun Rollant desur tuz humes. liebliche Frankreich segnen so wie seinen Gefährten Roland vor allen anderen. Sein Herz hört auf zu schlagen, der Helm Falt li le coer, le helme li embrunchet, fällt ihm vornüber, hingestreckt liegt der 2020 Trestut le cors a la tere li justet: Körper auf der Erde. Morz est li quens, que plus ne se demuret. Der Graf ist tot, es ist mit ihm zu Ende. Der edle R. beweint und betrauert ihn. Rollant li ber le pluret, si’l duluset; Nie auf Erden werdet ihr einen leidJamais en tere n’orrez plus dolent hume. volleren Menschen hören.“ H 225 Want hem porde die doot, Die hem dede pine groot. R 308 Hem quam groet vernoye voren: R 309 Hine mochte sien, no horen. H 227 Hi viel neder op die erde Ende bat Gode werde: ‚Here, vergeeft mijn mesdaet H 230 Ende hebt mijnen zielen raet. Wilt hare verlenen hemelrike, Want ic u getrouwelijke Gedient heb al mijn leven; Noyt en woudic u begeven.‘ H 235 Doen benedidi Karel, den here,

„Denn ihn bedrängte der Tod, der ihm große Pein verursachte. Großes Leid überkam ihn: Er konnte weder sehen noch hören. Er fiel nieder auf die Erde und bat Gott mit Ehrerbietung: ‘Herr, vergebt meine Schuld und erbarmt euch meiner Seele. Wollet ihr das Himmelreich schenken, denn ich habe euch getreulich gedient all mein Leben lang. Niemals wollte ich euch verleugnen.‘ Da segnete er Karl, den Herrn,

218 Ende dankte hem alder ere, Die hi ie van hem gewan. Ende Roelant boven alle man. Sijn handen hi ten hemel stac. H 240 Daer na hi nemmer en sprac. Dus bleef Olivier doot. Rolant hads rouwe groot.

Karlsepen und dankte ihm für alle Ehren, die er je von ihm bekommen hatte. Und Roland vor allen Menschen. Seine Hände hob er gegen Himmel. Danach sprach er niemals mehr. So lag Olivier tot. Roland hatte davon großen Schmerz.“

Die unterstrichenen Wörter hat Van Dijk in der jeweils anderen Version vermißt, größtenteils mit Recht. Er vermutet, der Bearbeiter habe Verständnisschwierigkeiten gehabt und Wiederholungen vermieden. Zumindest das zweite ist nachweisbar, z.B. am Ende der zitierten Laisse. Die typische variierende Ausdrucksweise der Chanson de geste geht auf diese Weise verloren. Man erhält den Eindruck, als würde in einem mnl. Vers ‚das Wesentliche‘ eines afrz. Verses aufgegriffen und dann das Reimpaar irgendwie aufgefüllt, sei es in Anlehnung an die Vorlage, sei es durch einen Gedanken, der aus dieser herausgesponnen, v.a. aber durch ein Reimwort angeregt ist. Auf diese Weise entfällt etwa zu Anfang der zitierten Laisse die Vorstellung des brechenden Blicks des Sterbenden (ChdR 2011); dafür erfahren wir, daß der Tod großen Schmerz verursacht, weil groot auf doot reimt. Selbst der neue Gedanke der Gottesdienerschaft des Kreuzritters (H 232–234) scheint aus der Notwendigkeit der sinnvollen Ergänzung von H 231 geboren, nachdem zwar das Reimwort getrouwelijke, damit aber noch kein Satzschluß gefunden war. Das ist nicht ungeschickt gemacht, greift aber nicht in die Substanz ein. Kein Handlungselement der Vorlage ist so verlorengegangen, ein großes Kunstwerk dabei aber nicht entstanden. Auch die in der Forschung vermutete Tendenz des mnl. Dichters, seinerseits Strophen zu bilden, kann nicht überzeugen. Schon gar nicht konnte es gelingen, „den heroisch-epischen Ton der frz. Chanson de Roland zu erreichen“ (De Bruin 1971, S. 190), weil es wohl nie beabsichtigt war. Formal wird der Text in das allgemein gültige Schema aller mnl. epischen Gattungen eingepaßt. Das kriegerische Geschehen aber wird ohne Abstriche vermittelt. Je geringer man den eigenen Gestaltungswillen des mnl. Bearbeiters veranschlagt, um so größer wird der Wert der Bearbeitung für die Rekonstruktion der ursprünglichen Gestalt des afrz. Rolandsliedes. In der Ausgabe von Cesare Segre (1971), welche nunmehr in der frz. Neuauflage (2003, übers. v. Madeleine Tyssens) sozusagen kanonische Geltung erhalten zu haben scheint, figuriert die mnl. Fassung h zusammen mit der walisischen, mhd. und altnordischen in einer eigenen Gruppe des Überlieferungszweiges , welcher , dem Zweig der Oxforder Hs. O, gegenüber-

‚Chanson de Roland‘/‚Rolandslied‘

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steht. Allerdings ist die unsichere Zugehörigkeit von h durch eine strichlierte Linie im Stemma angedeutet (Segre 2003, S. 16). Nun haben eine ganze Reihe von Versen von h eindeutig in O keine Parallele, wohl jedoch in V4 und meist noch anderen Hss. des Zweiges . Van Dijk (1981, S. 214–218) kann allerdings, offenbar unbemerkt von Segre, zeigen, daß es daneben auch Übereinstimmungen von O mit h gegen  gibt. So bricht in O 1205 Roland einem Heiden im Kampf den Hals, was in H 466 vorkommt, nicht jedoch in den -Hss. Und der heilige Aegidius heißt L 184 Die goede grave Jelis, in den -Hss. dagegen li ber sainz Gilie. Nur in O fehlt sainz. Nach Van Dijk liegt hier in h ein Übersetzungsfehler vor, der sich aber aus der Lesart in O viel leichter erklärt. Wirklich schlagend kann man diesen Beleg nicht nennen, da ber korrekt mnl. goet entspricht und grave ein Zusatz sein kann, der nicht aus einem mißverstandenen ber „Baron“ abgeleitet sein muß. Aber auszuschließen ist es nicht. Wäre also h wie O aus  abgeleitet, könnte es, sofern es mit  zusammengeht, gegen O für den Archetyp in Anspruch genommen werden. Damit käme h eine weit höhere überlieferungsgeschichtliche Bedeutung zu, O jedoch der besondere künstlerische Status, welchen die ältere romanistische Forschung dem Archetypus bzw. dem Original der ‚Chanson de Roland‘ zugesprochen hat. Van Dijk (1981) möchte dies ernstlich erwägen, stellt aber gleichzeitig die Anwendung der Lachmannschen Methode insgesamt in Frage, soweit sie den ursprünglichen Text selbstverständlich als den qualitativ besten voraussetzt. Es gibt aber noch einen anderen Grund, diese Methode auf die Chansons de geste nicht oder nur mit Einschränkungen anzuwenden: Es ist alles andere als sicher, daß diese Gattung ausschließlich oder überwiegend schriftlich tradiert wurde (vgl. Haferland 2004, S. 169–172; Knapp 2008). Allerdings kann in dieser Hinsicht ausgerechnet die ChdR nicht als typisch gelten. Sie dürfte, aus welchen Gründen immer, vergleichsweise früh und intensiv verschriftlicht worden sein. Gleichwohl schließt das das Fortleben der mündlichen Transmission neben der schriftlichen nicht aus, so daß sich beide gegenseitig beeinflußt haben könnten. Ein neuerlicher Vergleich der gesamten Überlieferung der ChdR (Ausg. Duggan) unter dieser geänderten Prämisse steht noch aus. Er müßte auch bei h zu neuen Erkenntnissen führen, falls wir damit rechnen, daß die vermutlich schriftliche Vorlage von h eine Fassung gewesen ist, die auch aus der mündlichen Überlieferung geschöpft hat. Neben den kleineren Abweichungen von dem überlieferten afrz. Text, die sich in der oben dargestellten Weise erklären lassen, gibt es auch gravierendere, bei denen das nicht gelingen kann. Da ist z.B. der gemeinsame

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Zusatz aller niederländischen Überlieferungsträger gegenüber allen bekannten Zeugnissen der ‚Chanson de Roland‘ in H 103–114 = h 425–436. Die Sarazenen haben Karls Nachhut eingeholt. Roland ruft zum Kampf auf (Laisse XCI). Olivier schließt sich ihm an, obwohl oder gerade weil er Roland nicht überreden konnte, das Horn zu blasen. Die Franzosen stoßen ihren Schlachtruf aus (Laisse XCII). Die Schlachtreihen treffen aufeinander. Statt der Laisse XCII von O steht nun in h 425–436 die Aufforderung eines maurischen Boten, die Christen mögen 12 Vorkämpfer gegen 12 heidnische aufstellen, was Roland freudig annimmt. Obwohl keine andere Hs. der ChdR etwas dergleichen bietet, ist diese Variante durchaus sinnvoll, denn es folgen tatsächlich zwölf Zweikämpfe als Schlachteröffnung. Ein solcher substantieller Eingriff, wäre der mnl. Bearbeiter dafür verantwortlich, widerspräche radikal seiner sonstigen Vorlagentreue. Daß just eine ganze afrz. Laisse ersetzt wurde, paßt dagegen genau zu dem üblichen Vorgehen der Chanson-de-geste-Sänger. Alles spricht also dafür, daß ein solcher der Urheber der Veränderung gewesen ist. Gleiches dürfen wir dann für die Partie h 1085–1140 = R 120–175 vermuten. Sie entspricht O 1785–1829 (Laissen CXXXV–CXXXVII). Roland hat endlich dreimal das Horn geblasen. Karl hört es. Herzog Naimes identifiziert es und rät zum raschen Aufbruch (CXXXV). Die Franzosen wappnen sich und reiten so schnell sie können (CXXXVI). Die Waffen blitzen in der Nachmittagssonne. Karl und die Seinen sind voll Grimm. Der Verräter Ganelon wird in Eisen gelegt (CXXXVII). In V4 ist diese Laisse in zwei zerlegt, 148 und 149, wovon 149 der Gefangennahme vorbehalten ist. CXXXVIII und CXXXIX sind typische Variationslaissen mit minimalem Handlungsfortschritt. In h sind sie weggelassen, in V4 nur CXXXVIII. Dafür wird hier eine neue Laisse 151 zusätzlich eingeschoben, die auch in h eine Entsprechung hat, nicht jedoch V4, Laisse 148. In h sind aber vor allem 147 (= CXXXVI) und 149 (= CXXXVIIb) vertauscht, also die Gefangennahme (149) vorgezogen. O, V4 und h repräsentieren also drei typische Erzählvarianten einer Chanson de geste. Die Annahme, h sei an dieser und anderen vergleichbaren Stellen das Produkt eines eigenen Gestaltungswillens des mnl. Bearbeiters, ist also – entgegen der Meinung von Van Dijk (1981) – nicht ebenso, sondern weit weniger plausibel als die Annahme einer Übernahme aus dem Französischen. Dergestalt müßte der gesamte Text nochmals durchgemustert werden. Aber auch dann wäre die literarhistorische Stellung des ‚Roelantsliedes‘ in der mnl. Literatur des frühen 13. Jh. (?) noch bei weitem nicht geklärt. Es soll ja eine der ältesten mnl. Chanson-de-geste-Bearbeitungen sein. Wir kennen aber Ort, Zeit, Funktion und Gönner nicht und tappen so ziem-

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lich im Dunkel. Falls ‚Karel ende Elegast‘ aus derselben Zeit stammen sollte, wäre der Abstand beträchtlich. Viel mehr als den afrz. Text in anderer Sprache und anderem Stil zu präsentieren, scheint nicht die Absicht gewesen zu sein. Dadurch unterscheidet es sich auch elementar vom mhd. ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad (s. Kap. 2.1.2). Immerhin stellt Frits van Oostrom (LG, S. 246–249) fest, die mnl. Version habe den ‚nationalen‘ Stolz und die heldenhafte Königstreue getilgt oder verwässert. In den Worten des sterbenden Olivier fehlt nämlich la dulce France, und in einer Rede schildert Roland seine Kriegerpflichten nicht gegenüber König Karl, sondern gegenüber dem König des Himmels. Wenn Van Oostrom darin den Versuch vermutet, eine speziell französische Ideologie durch einen allgemein christlichen Kontext zu ersetzen, wird man zumindest von ferne an Konrads Tendenzen gemahnt. Allerdings bleibt beim ‚Roelantslied‘ immer der Vorbehalt zu machen, daß wir nur Reste des Textes kennen. Wenn Van Oostrom schließlich die genannten Änderungen zugleich als poetischen Verlust verbucht, wird man Konrad die seinen auch nicht gerade als großen Gewinn anrechnen dürfen.

2.2 ‚Karel ende Elegast‘ von Geert Claassens Einführung – Zusammenfassung des Inhalts – Entstehung und Überlieferung – Verhältnis zur afrz. Epik – Form, Struktur und Bedeutung

Einführung Die Karlsepik in se ist sehr umfangreich und hat ihren Ursprung in der französischen Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Der mittelniederländische ‚Karel ende Elegast‘ sowie der ripuarische ‚Karlmeinet‘ bilden hierin jedoch insofern eine Ausnahme, als davon auszugehen ist, daß der initiale Ursprung dieser beiden Werke zwar in diesem Kulturkreis vermutet werden darf (sowohl in mündlicher wie auch in schriftlicher Form), ihr eigentlicherer francigener Ursprung sich aber nur sehr mühsam und auch nur zum Teil belegen läßt. ‚Karel ende Elegast‘ fällt im Korpus der Karlsepik durch seinen geringen Umfang von kaum 1400 Versen (Claassens 2002; Bastert/Besamusca/ Dauven-Van Knippenberg 2005), seine problematische Überlieferung (aus der handschriftlichen Periode sind nur einige Fragmente erhalten; der

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Text ist lediglich in gedruckter Form mehr oder weniger vollständig erhalten) und das undurchsichtige Verhältnis zur vorhergehenden altfranzösischen Tradition auf. Dem gegenüber steht, daß man hier mit Recht von einem Kleinod der Erzählkunst sprechen darf, das nicht nur in seiner ursprünglichen Form den Aufschwung der Druckpresse ‚überlebte‘, sondern auch außerhalb der Grenzen des mittelniederländischen Sprachgebietes für Furore gesorgt hat. ‚Karel ende Elegast‘ zeichnet sich durch eine wohlüberlegte Kombination von räumlicher Struktur und Figurenkonstellation aus, mithilfe derer eine einfache (feodovasallitische) Botschaft vermittelt wird: „Lehnsherr sei weise, Lehnsmann sei treu“. Zusammenfassung des Inhalts König Karel liegt nachts schlafend in seinem Schloß in Ingelheim, als er durch einen Engel einen Befehl von Gott erhält: „Zieh zum Stehlen hinaus oder du verlierst dein Leben“. Da er an der Herkunft des Befehls zweifelt, will er ihn erst nicht befolgen, als der Engel jedoch dreimal erschienen ist, zieht er trotzdem hinaus. – Während er immer tiefer in den dunklen Wald hinein reitet, grübelt er über das Schicksal von Elegast, einem durch ihn verbannten Vasallen. Er fragt sich, ob sein Urteil nicht zu hart war, und wünscht sich auf seiner Reise einen Begleiter wie Elegast. Dann begegnet er einem schwarz gekleideten Reiter, und die beiden geraten in einen Kampf. Der schwarze Ritter wird besiegt und stellt sich – zu Karels Erleichterung – als Elegast vor, der durch widrige Umstände zum Dieb geworden ist. Karel sieht nun eine Möglichkeit, seine Mission zu einem guten Ende zu führen. Er stellt sich selbst als Adelbrecht, ebenfalls Dieb von Beruf, vor und schlägt vor, König Karel – also sich selbst – zu bestehlen. Empört lehnt Elegast diesen Vorschlag ab und schlägt selbst vor, Eggeric, den bösartigen Schwager Karels, zu berauben. – Auf dem Weg nach Eggermonde, Eggerics Schloß, macht sich Karel/Adelbrecht an einer Pflugschar zu schaffen. Als er auf Nachfrage von Elegast erklärt, daß er mit Hilfe der Pflugschar in das Schloß einbrechen will, muß dieser lachen: Was will man mit einer Pflugschar gegen eine Festungsmauer verrichten? Elegast vermutet, daß Adelbrecht nicht der professionelle Dieb ist, der er vorgibt zu sein. – Als sie Eggermonde erreicht haben, schleicht sich Elegast als erster hinein. Drinnen wird er jedoch durch einen Hahn – dessen Sprache er mit Hilfe magischer Kräuter verstehen kann – davor gewarnt, daß König Karel in der Nähe sei. Er kehrt zurück nach draußen und will die Operation abbrechen, worauf Karel/Adelbrecht ihn dazu drängt, trotzdem weiter zu machen. Mithilfe eines Zauberspruchs legt Elegast alle Bewohner von Eggermonde in einen tiefen Schlaf und öffnet alle Schlösser. Als die Diebe eine große Beute bis vor die Festungsmauern hinaus geschleppt haben, will Karel/Adelbrecht nach Hause gehen. Elegast will allerdings noch einen sehr kostbaren Sattel aus Eggerics Schlafgemach stehlen und geht wieder hinein. Durch das Geklingel der Glöckchen am Sattel schreckt Eggeric aus seinem Schlaf hoch. Seine Frau, Karels Schwester, versichert ihm, daß niemand im Zimmer sei und weiß ihn mit weiblicher Überredungskunst dazu zu bringen, ihr zu erzählen, was ihn beschäftigt: Er hat den Plan gefaßt, Karel umzubringen. Als sie daraufhin wütend reagiert, gibt Eggeric ihr eine brutale Ohrfeige, die ihre

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Nase zum bluten bringt. Elegast – der unter dem Bett liegend das ganze Gespräch mitverfolgt hat – fängt ihr Blut in seinem Handschuh auf. – Wieder draußen, droht Elegast damit, Eggeric sofort töten zu wollen, und als Karel fragt, warum er derart verstimmt ist, erzählt ihm Elegast von der Verschwörung. Nun begreift Karel, warum er von Gott zum Stehlen hinausgesandt wurde. Er bittet Elegast, König Karel zu warnen, aber Elegast weigert sich aus Angst vor dem Zorn des Königs (der ihn ja verbannt hat). Karel bietet an, selbst den König zu warnen, und kehrt zurück zu seinem Schloß. – Dort soll am nächsten Tag Hof gehalten werden und Karel bereitet den Verrätern einen warmen Empfang. Er beschuldigt die Verschwörer – Eggeric vor allen anderen –, die natürlich alles leugnen. Der König befiehlt dann Elegast zu sich, der mit dem blutgetränkten Handschuh beweist, daß Eggeric schuldig ist. Ein gerichtlicher Zweikampf führt schließlich zu einer Entscheidung: Der verräterische Schwager wird durch den verbannten, aber treuen Vasallen getötet. Karel stellt Elegasts Ehre wieder her und gewährt ihm die Hand seiner Schwester, Eggerics Witwe.

Abfassung und Überlieferung ‚Karel ende Elegast‘ gehört zu der großen Zahl der anonymen mittelalterlichen Texte: Die Geschichte selbst verrät nichts, das eine Identifikation des Autors möglich machen würde, einstweilen fehlt aber auch jeglicher textexterne Hinweis, der zur Lösung dieses Rätsels beitragen könnte. Diese Tatsache verhindert nicht, daß die Frage nach dem Profil des Autors gestellt werden darf. Auch hierüber läßt sich allerdings relativ wenig sagen. Aufgrund seines Sprachgebrauchs (so wie er vor allem in den Reimwörtern erhalten ist) darf man annehmen, daß der Autor ein Flame war (Van den Berg 1986, S. 314, u. 1987, S. 13–15). Hiermit wurde nur der sprachliche Hintergrund des Autors bestimmt, aber nur deshalb ist sicher nicht anzunehmen, daß sein primäres Publikum nur in den flämischen Gegenden gelebt haben wird. Heinrich von Veldeke (f Aeneasromane, Teil A, Kap. 3.3) und Jacob van Maerlant (f Einleitung u. f Alexanderromane, Teil A, Kap. 2.5) sind treffende Beispiele für die Mobilität der mittelalterlichen Dichter: Ihre Werke fanden ein Mäzenat und ein primäres Publikum fernab ihrer Geburtsorte. Eine eventuelle, aber genau genommen unbeweisbare, soziokulturelle Lokalisation von ‚Karel ende Elegast‘ im Herzogtum Brabant kann aus der (allerdings relativ jungen) handschriftlichen Überlieferung abgeleitet werden. Einen anderen wichtigen Hinweis hierfür finden wir in ‚Der leken spiegel‘ von Jan van Boendale (1330). In dieses umfangreiche Lehrgedicht ist in Buch III, Kapitel 15 unter dem Titel Hoe dichters dichten sullen ende wat sie hantieren sullen („Wie Dichter dichten sollen und was sie können sollen“) der älteste niederländische poetologische Text aufgenommen worden.

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Boendale schenkt der Bedeutung der literarischen Tradition viel Aufmerksamkeit, betont aber auch sehr stark die Verwerflichkeit der Lüge in historischen und hagiographischen Werken. In diesem Kontext polemisiert er gegen die lügenhaften Geschichten, die über Karl den Großen (und die Karolinger) im Umlauf sind. Eine seiner Beobachtungen kann sich schwerlich auf einen anderen Text als ‚Karel ende Elegast‘ beziehen: Men leest dat Karle voer stelen: Ic segdu, al sonder helen, dat Karle noyt en stal („Man liest, daß Karl zum Stehlen ausgeritten sei: Aber ich sage dir ungeschminkt, daß Karl nie gestohlen hat“; Ausg. De Vries, Bd. III, Kap. 15, V. 139–141). Es mag klar sein, daß Boendale der Geschichte keinen Glauben schenkt, aber diese Abwertung stützt trotzdem die Vermutung, daß die Geschichte in brabantischen Kreisen bekannt war. Boendale widmete seinen ‚Der leken spiegel‘ schließlich Rogier van Leefdale, Burggraf von Brüssel und Vertrauter des Brabantischen Herzogs Jan III. († 1355). Darüber hinaus gibt es zwei Handschriften von ‚Der leken spiegel‘ (Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, 15658, fol. 142rb u. ’s-Gravenhage, Koninklijke Bibliotheek, KNAW XXIII, fol. 159r-159v), in denen der Text diesem Herzog gewidmet wird. Über den kulturellen Kontext, in den ‚Karel ende Elegast‘ einzuordnen ist, sind aber noch einige andere Vermutungen angestellt worden. So liest etwa Van Dijk (1987, S. 1105) den Text als Propaganda, als eine Unterstützung des Anspruchs der brabantischen Herzöge auf die direkte Abstammung von Karl dem Großen. Van den Berg (1998, S. 248f.) dagegen vermutet einen Auftraggeber aus flämischen Adelskreisen, für die der Text als Vorbild gesellschaftlicher Ordnung gegolten haben könnte. Wie anziehend diese – einander gegenseitig ausschließenden! – Hypothesen auch sein mögen, in Ermangelung überzeugender Beweise bleiben sie Spekulationen. Nicht nur für die Lokalisation ist die obgenannte Aussage Boendales von Bedeutung, auch für die Datierung von ‚Karel ende Elegast‘ fällt sie ins Gewicht: Wenn man annimmt, daß Boendale hier tatsächlich über diesen Text spricht (und warum sollte man das nicht tun dürfen?), dann impliziert dies, daß ‚Karel ende Elegast‘ vor 1330 geschrieben worden sein muß. Dieser Terminus ante quem wird mehr oder weniger bestätigt durch die ripuarische Bearbeitung von ‚Karel ende Elegast‘ in der ‚KarlmeinetKompilation‘: Die zugehörige Handschrift wird zwar auf 1470–1480 datiert, die Kompilation selbst wird jedoch, wie man vermutet, in den Jahren 1320–1350 entstanden sein (Klein 1995). Andererseits könnte man die Entstehungsperiode vermutlich aber auf Basis einer Angabe in den ‚Chronica‘ von Albericus Triumfontium von ca. 1240 (Duinhoven 1975/81,

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Bd. I, S. 22f.; Varvaro 1995, S. 263f.) abgrenzen. Der Historiograph spricht in diesem Werk über eine cantilena, die er in einem Satz zusammenfaßt: In ihr geht es um König Karl, der auf Befehl eines Engels nachts hinauszieht und so eine Verschwörung gegen sein Leben entdeckt. Unklar bleibt allerdings, ob der in Hoei (Huy im französischsprachigen Teil des heutigen Belgiens) wohnhafte Albericus mit seiner Aussage auf ein mittelniederländisches Lied oder doch eher auf eine altfranzösische Chanson de geste verweist. Wenn er an einen mnl. Text denkt, dann könnte man hieraus vorsichtig ableiten, daß die Wurzeln von ‚Karel ende Elegast‘ im frühen 13. oder späten 12. Jahrhundert liegen. Wenn Albericus jedoch einen altfranzösischen Text meint, dann könnte dieser Verweis möglicherweise Bezug haben auf eine nicht überlieferte altfranzösische ‚Chanson de Basin‘, die eine mit ‚Karel ende Elegast‘ vergleichbare Intrige zum Inhalt gehabt haben könnte und übrigens öfter als mögliche Quelle für den mittelniederländischen Text (s.u.) genannt wird. Aber hier kann selbst die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, daß Albericus sich auf einen lateinischen Text bezieht (der weiterhin unbekannt bleiben muß). Die communis opinio zur Datierung von ‚Karel ende Elegast‘ besagt, daß der Text in das 13. Jahrhundert gehört. Vielleicht darf man aus verstechnischen Gründen annehmen, daß er noch aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts stammt: Van den Berg (1998, S. 247f.) hat dargelegt, daß die Korrelation zwischen Satz- und Versgrenze (relativ kurze Sätze, die durchgängig nicht länger als zwei Verszeilen sind, mit Zusammenfall von Satz- und Versgrenze) ein Indiz dafür ist, daß das Werk noch vor ca. 1250 geschrieben wurde. Von ‚Karel ende Elegast‘ ist noch eine relativ große Anzahl an Textzeugnissen – Handschriften und Drucke – vorhanden (Besamusca 1983, S. 37–44; Kienhorst 1988, Bd. I, S. 80–87; Klein 1989). Aus der handschriftlichen Zeit sind allerdings nur Fragmente überliefert, die im ganzen sechs verschiedene mittelalterliche Manuskripte repräsentieren, alle aus dem späten 14. und dem 15. Jahrhundert: M, Arras, Bibliothèque Municipale, Ms. 227–383 (ca. 1350–1400); Ge, Gent, Universiteitsbibliotheek, 896-a (ca. 1350–1400); H, ’s-Gravenhage, Koninklijke Bibliotheek, 131 D 5 (ca. 1375–1400); N, Namur, Bibliothèque de la Société archéologique, Ms. 196 B 19 (ca. 1375–1400); G, München, cgm 5249, Nr. 69 (ca. 1375–1425) und Br, Brüssel, Stadsarchief, Oud Archief, hs. 1645 (ca. 1375–1425). Leider handelt es sich vor allem um kleinere Fragmente, lose Blätter und Doppelblätter, mit nicht mehr als 100 bis 250 Verszeilen des Textes. Der rezenteste Fund, die sogenannten Genter Fragmente (Ge), ist in dieser Hinsicht illustrativ: Die Fragmente enthalten noch etwa 600 Zeilen des

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Textes, aber dann oft nicht mehr als einzelne Buchstaben eines Verses. Wenn der gesamte Text erfasst werden soll, dann wird man sich den Inkunabeln und anderen frühen Drucken oder der rheinländischen ‚Übersetzung‘, die in die sogenannte ‚Karlmeinet-Kompilation‘ aufgenommen wurde, zuwenden müssen. Im folgenden werde ich mich auf eine Übersicht der niederländischen Drucke beschränken, die für unsere Kenntnis von ‚Karel ende Elegast‘ interessant sind (die ‚Karlmeinet-Kompilation‘ enthält immerhin keinen mnl. Text). ‚Karel ende Elegast‘ ist relativ früh in den Druck gelangt, in den Jahren 1484–1488. Von diesem Druck durch Gerard Leempt zu ’s-Hertogenbosch ist aber nur ein Blatt erhalten (Cambridge, University Library, Inc. 6 E 12.1, Sigle F). Der älteste bekannte Druck, der mehr oder weniger vollständig überliefert ist – in der Forschungsliteratur Inkunabel A genannt –, ist zeitlich nicht weit vom Druck von Gerard Leempt entfernt und auf die Jahre 1486–1488 datiert. Dieser Wiegendruck – ein schlichtes Büchlein mit 26 Blättern, in Quartoformat – wurde in Delft gedruckt durch Jacob Jacobsz van der Meer oder durch Christian Snellaert. (Wer von beiden sich um das Druckwerk kümmerte, ist unbekannt: Die Drucktype, mit der die Inkunabel gesetzt wurde, war in den Jahren 1486–1488 bei beiden Drukkern in Gebrauch.) Das einzige erhaltene Exemplar dieses Druckes liegt in der Koninklijke Bibliotheek in ’s-Gravenhage unter der Signatur 169 G 63. Aus der Zeit vor 1500 sind noch einige weitere Drucke bekannt. Der Antwerpener Drucker Govaert Bac betreute in den neunziger Jahren des 15. Jh. zwei Drucke, beide in nur einem Exemplar überliefert. Ein Druck kam zustande zwischen 1493–1500 (Berlin, Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz, Inc. 8° 4812, Sigle B), der andere zwischen 1496–1499 (Washington, Library of Congress, Collection Lessing J. Rosenwald, Inc. X. K. 33, Sigle C). Die anderen bekannten Drucke von ‚Karel ende Elegast‘ stammen aus dem 16. Jahrhundert. Um 1530 erschien ein Antwerpener Druck durch Adrian van Berghen, Jan van Doesborch oder Jan Berntsz. (Brüssel, Koninklijke Biblitheek, II 54948 A L.P., Sigle D), und der jüngste Druck, dessen Verleger Jan Ghelen war, erschien ebenfalls in Antwerpen in der Zeit von 1550–1608 (Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, II 47686 A L.P.). Die Drucke sind zwar jünger als die Handschriften, die alle aus dem späten 14. und frühen 15. Jahrhundert stammen, aber in den Drucken ist bemerkenswerterweise der Paarreim des ursprünglichen Textes erhalten geblieben, obwohl die meisten der gereimten Texte aus der handschriftlichen Zeit beim Druck in Prosa umgestellt wurden. Diese Tatsache, gekoppelt an einen Vergleich mit den erhaltenen Fragmenten, rechtfertigt

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die Vermutung, daß zwischen den gedruckten Versionen und dem ursprünglichen Text des anonymen Dichters kein himmelweiter Unterschied besteht. Ebendiese Art der Textüberlieferung mit vollständigen, aber (viel) jüngeren gedruckten Versionen und fragmentarischen, aber älteren Handschriften hat wahrscheinlich die Frage nach dem ‚Urtext‘ stark stimuliert, dies um so mehr, als a l l e Textzeugen bedeutend jünger sind als der Text selbst. In welchem Maße stimmt der Text, wie man ihn aus den Fragmenten und den Drucken kennt, also noch überein mit dem Text, den der Dichter so viel früher – vor 1325 (s.o.) – auf Pergament schrieb? Um diese Frage ist eine ausführliche Diskussion entstanden – konkretisiert in Versuchen, den Urtext zu rekonstruieren. Duinhoven hat 1969 alle damals bekannten Textzeugnisse (inklusive der Version aus der ‚Karlmeinet-Kompilation‘) in einer diplomatischen Ausgabe nebeneinander gestellt und verwendete dies als Ausgangspunkt für seine Rekonstruktion des Urtextes von ‚Karel ende Elegast‘ (Duinhoven 1975/81 u. 1981). Diese Rekonstruktion hat eine heftige Diskussion ausgelöst (siehe z.B. Rombauts 1979–81). Es würde zu weit führen, diesen Disput hier detailliert wiederzugeben, die eben genannte Textrekonstruktion hat ihre Freunde und ihre Gegner. Die Parteien in diesem Streit können sich durch die Entdeckung der Genter Fragmente sowohl gestützt als auch enttäuscht fühlen (Klein 1989 u. 1997). Die Fragmente zeigen immerhin, daß nicht alle vorgeschlagenen Rekonstruktionen als unnütz zur Seite gewischt werden dürfen, aber auch, daß sie längst nicht alle ohne weiteres akzeptabel sind. In der modernen Editionspraxis wird durchgängig Inkunabel A als Basis verwendet. Dieses Textzeugnis ist ebenfalls nicht ganz vollständig (die unterste Hälfte des letzten Blattes fehlt; vgl. Ausg. Duinhoven [1977 – Faksimile]) oder fehlerfrei, es läßt sich aber aufgrund der anderen Textzeugnisse auf elegante und überzeugende Weise vervollständigen (so z.B. in den Ausgg. Van Dijk/Finet-van der Schaaf; Claassens; Bastert/Besamusca/Dauven-Van Knippenberg – zitiert wird nach der letztgenannten Edition, die auch eine Übersetzung ins Neuhochdeutsche enthält). Verhältnis zur altfranzösischen Epik Alle mittelniederländische Karlsepik hat ihre Wurzeln in der altfranzösischen Karlsepik, da hier altfranzösische Karlstexte übersetzt, bearbeitet oder nacherzählt werden. Die einzige Ausnahme hierbei könnte ‚Karel ende Elegast‘ sein – eine direkte altfranzösische Quelle ist jedenfalls nicht

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erhalten. Es wirkt verführerisch, deswegen ‚Karel ende Elegast‘ als mittelniederländisches Original zu betrachten (so z.B. Duinhoven 1975/81 u. 1981), aber übereinstimmender Gebrauch von Motiven etwa im ‚Renaut de Montauban‘ (ca. 1200), ‚Elie de St. Gilles‘ (12. Jh.) und ‚Restor du Paon‘ (Anfang 14. Jh.) macht deutlich, daß ‚Karel ende Elegast‘ nicht in einem literarischen Vakuum entstanden sein kann (Varvaro 1995, S. 262–265). Eine wichtige Spur zu den Hintergründen seiner Entstehung läuft via Skandinavien. In der altnordischen ‚Karlamagnús saga‘ (Mitte 13. Jh.) sind verschiedene altfranzösische Chansons de geste in Prosaform verarbeitet worden. In der ersten Branche liest man, wie der noch junge Karl kurz nach dem Tod seines Vaters Pipin von einem Engel den Auftrag erhält, mit einem Dieb zum Stehlen hinauszuziehen. Auf diese Weise deckt er ein Komplott gegen sein Leben auf: Er soll während der bevorstehenden Krönungszeremonie ermordet werden (Ausg. Hieatt, Bd. I, S. 54–102; Kramarz-Bein 2004). Obwohl die Übereinstimmungen mit der Handlung von ‚Karel ende Elegast‘ ins Auge fallen, gibt es sehr wohl auch Unterschiede: Hier ist es zum Beispiel Karl selbst, der das nächtliche Gespräch zwischen Renfrei (Eggeric im mnl. Text) und seiner Frau belauscht und die Blutstropfen auffängt, nachdem Renfrei seiner Frau ins Gesicht geschlagen hat. Der Dieb hört in der ‚Karlamagnús saga‘ auf den Namen Basin, was zur Vermutung führte, daß es eine altfranzösische Chanson de geste gegeben haben muß, die den Behelfsnamen *‚Chanson de Basin‘ erhalten hat – eine Chanson de geste, die die Quelle gewesen sein soll sowohl für die Version in der ‚Karlamagnús saga‘ als auch für die des mittelniederländischen ‚Karel ende Elegast‘. Ein Vergleich von ‚Karel ende Elegast‘ mit dem entsprechendem Teil in der ‚Karlamagnús saga‘ stützt tatsächlich die Hypothese (aber es bleibt eine Hypothese!), daß der Autor von ‚Karel ende Elegast‘ seinen Quellentext gründlich überarbeitet hat (vgl. Janssens 1988, S. 1–88). Nicht nur haben wichtige Personen andere Namen erhalten und ist die Verteilung der Rollen in der Intrige geändert worden, sondern die Geschichte ist auch in einem anderen Lebensabschnitt Karls des Großen situiert: Das Komplott ist nicht gegen den jungen Karl gerichtet, der kurz davor steht, die Krone zu übernehmen, sondern gegen den erwachsenen Karl, der auf dem Höhepunkt seiner Macht steht: Dlant was alle gader sijn. Hi was keyser ende coninc mede. (‚Karel ende Elegast‘, V. 6f.: „Das ganze Land gehörte ihm. Er war sowohl Kaiser als auch König“; vgl. auch V. 55–74). Mögliche Einflüsse von und Verbindungen zur oralen Tradition können hier nur kurz angeschnitten werden. Motive wie das Auftreten eines Meisterdiebs, ein König, der maskiert zum Stehlen hinauszieht und so eine

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Verschwörung gegen sich entdeckt, der Gebrauch magischer Kräuter (um die Sprache der Tiere verstehen zu können) und Sprüche (um Menschen in Schlaf zu versetzen oder Schlösser zu öffnen) sind immerhin hinlänglich bekannt aus vielen Märchen. Auf diese Übereinstimmungen ist ausführlich hingewiesen worden (Ramondt 1917; Kroes 1952), es bleibt aber ungewiß, ob der Dichter sich durch diese Märchen hat inspirieren lassen oder ob diese Märchen umgekehrt durch Texte wie die ‚Chanson de Basin‘ oder ‚Karel ende Elegast‘ beeinflußt worden sind. Form, Struktur und Bedeutung Die klare Erzählstruktur, die erkennbar zusammenhängt mit der Bedeutung der Geschichte, und die meisterhafte Anwendung literarischer Techniken, mit denen der Dichter seiner Geschichte Form gab, machen den Charme von ‚Karel ende Elegast‘ aus. Der Chronotopos, in dem die Geschichte sich abspielt, ist der Zeitraum von ungefähr einem Tag und drei räumlichen Punkten: Karels Schloß in Ingelheim, der Wald in dessen Umgebung und Schloß Eggermonde (die Heimstätte von Verräter Eggeric). Vor allem die ausgesprochen klar ersichtliche räumliche Struktur war für den Dichter von Bedeutung. Die Erzählung beginnt in Ingelheim, danach findet im Wald die Begegnung mit Elegast statt und sie ziehen dann beide nach Eggermonde, um bei Eggeric einzubrechen. Die Erzählung endet mit einer Auflösung in Ingelheim. Daß dieser Rundweg mit Absicht gezeichnet wird, ist überzeugend abzuleiten aus der Spiegelung der Sequenz in Exposition und Schluß: In der Exposition sieht man Karel, wie er von seinem Schlafzimmer in den Stall geht, um durch das Tor das Schloß zu verlassen. Bei seiner Wiederkehr legt er den gleichen Weg zurück, in umgekehrter Reihenfolge. Dieser Kreislauf im wahrsten Sinne des Wortes durch den Raum der Geschichte korrespondiert auch mit signifikanten Änderungen der Personenkonstellation, gekoppelt an einen ebenso signifikanten Zusammenhang mit dem Handlungsraum der Erzählung. In der Exposition ist Karel in seinem Schlafzimmer im Schloß, einem Raum, in dem er sich eigentlich sicher wähnen sollte. Aber gerade in seinem Alleinsein in diesem ‚sicheren Raum‘ wird Karel mit der Botschaft des Engels, die ihn darauf hinweist, daß er sich in Lebensgefahr befindet, konfrontiert. Der Dichter verwendet viel Mühe auf die Unterstreichung der Tatsache, daß Karel in dieser Phase der Erzählung den Dingen alleine gegenüber steht. Als er alleine das Schloß verläßt und in den Wald zieht, verläßt er die (vermeintliche) Sicher-

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heit der zivilisierten Welt und betritt die unkultivierte und bedrohliche Natur. Aber genau wie die Sicherheit, in der er sich in seinem Schloß wähnte, so wird seine Angst vor dem Wald sich ebenfalls als unbegründet herausstellen: Hier begegnet er seinem Mitstreiter Elegast (ein Zusammentreffen, das durch die anfängliche Angst Karels, sich bei der Begegnung in einer ausweglosen Situation zu befinden, meisterhaft durch den Dichter dargestellt wird – s.u.). Als beide gemeinsam nach Eggermonde reisen, gehen sie wiederum zu einem Platz, der mit Kultur, Ordnung und Recht konnotiert ist, der sich aber wiederum nicht als das erweist, das man erwartet hätte, weil er den Verräter Eggeric beherbergt, dem zu Unrecht Vertrauen geschenkt wurde. In der letzten Phase der Auflösung sieht man Karel wieder zurück in Ingelheim, aber hier nicht mehr in einer Konfrontation mit einem lebensbedrohenden Komplott – in der Auflösung stehen ihm seine Gefolgsleute zur Seite, und Karel erscheint wieder als der strahlende Fürst inmitten seiner Entourage. Die Kombination räumlicher Struktur mit wechselnder Personenkonstellation weist beinahe von selbst auf die Wichtigkeit der Beziehungen zwischen diesen Personen hin und dies führt zu einem klaren Verständnis der Bedeutung dieser Erzählung. In der Botschaft des Engels an Karel, der alleine ist, zeigt man dem Publikum eine Konfrontation von Karel mit seinem Lehnsherren: Gott als höchster Lehnsherr gibt seinem Lehnsmann einen demütigenden Auftrag. Karel ist sich seines Status als König bewußt und fragt sich: Wat node soude mi sijn dan te stelen ellendich man? (‚Karel ende Elegast‘, V. 75f.: „Was für Notwendigkeit gäbe es für mich also, zu stehlen wie ein verfluchter Mensch?“). Aber er beschließt, Gottes Gebot Folge zu leisten, auch wenn dies impliziert, daß er möglicherweise am Ende am Galgen hängen wird (V. 99–102). Vor allem im Gebet, das Karel beim Verlassen Ingelheims spricht, kommt diese Unterwerfung, dieses Sich-Anvertrauen an Gott, sehr nachdrücklich zum Ausdruck (V. 168–191). In diesem Gebet wird Gott dargestellt als letzte Instanz, die eine Veränderung zum Guten bewerkstelligen kann, und es ist dieser Gott, dem Karel sich ausliefert. Hierin verhält er sich wie ein guter Lehnsmann in Bezug auf seinen Lehnsherrn. Und eben gerade deshalb gelangt er zu der Einsicht, daß er selbst als Lehnsherr nicht richtig gehandelt hat. Der Gang durch den Wald lehrt ihn, daß er Elegast zu Unrecht zu schwer gestraft hat, und der Einbruch in Eggermonde verdeutlicht ihm, daß er Eggeric (seinem Schwager!) zu Unrecht vertraut hat. Dadurch, daß er sich dem in erster Instanz seltsamen Gebot Gottes unterwirft, lernt Karel – und mit ihm das Publikum –, daß ein Lehnsherr weise sein muß und ein Lehnsmann treu.

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Die Anziehungskraft von ‚Karel ende Elegast‘ beruht nicht nur auf der bedeutungstragenden Struktur (konstruiert um Raum und Figuren). Der Dichter hat verschiedene literarische Techniken angewandt, um die Geschichte spannend und lebendig zu halten, gespickt mit humoristischen Stellen. Er macht funktionalen Gebrauch von Wiederholungen, spielt mit dem Unterschied der Kenntnis von der Intrige, welcher zwischen Figuren, Publikum und Erzähler besteht, er läßt das Publikum auf subtile Art teilhaben an den Gedanken der Figuren, er gebraucht eine Erzählweise, die – in einigermaßen anachronistischer Hinsicht – als eine ‚Technik der doppelten Linse‘ beschrieben werden könnte, und er spielt mit den unterschiedlichen Erzähltempi (vgl. Vekeman 1970/71 u. Kerckhoffs 1973). Der Gebrauch von Wiederholungen ist natürlich mittelalterlichen Erzählungen nicht fremd, allein schon weil diese vielfach auditiv rezipiert wurden. Die vielen kleineren Wiederholungen in den ersten rund hundert Versen von ‚Karel ende Elegast‘ werden vor allem das Ziel gehabt haben, dem Publikum zu verdeutlichen, welches die grundlegenden Informationen waren, die man brauchte, um der Handlung folgen zu können. Indem durch diese Wiederholungen gleichsam auf die Basiselemente der Geschichte gepocht wird – nämlich: es ist eine wahre Geschichte, die in Ingelheim beginnt, wo ein Engel den schlafenden Karel dazu mahnt, sich hastig anzukleiden und hinauszuziehen zum Stehlen, und der Engel bringt diese Botschaft im Namen Gottes –, fungieren diese Verse als eine Art Prolog (der eigentliche Prolog ist sehr kurz: V. 1–2). Daß in diesen exordialen Wiederholungen jedoch angemerkt wird, daß es lebenswichtig ist, daß Karel nachts stehlen soll, aber nicht genau gesagt wird weshalb, erhöht die Spannung enorm. Aber auch nachdem die Geschichte mit dem Aufbruch Karels aus Ingelheim tatsächlich begonnen hat, sind immer noch Wiederholungen anzutreffen. Zum Beispiel die Verse 217–271 mit den Versen 500–530 im Vergleich: In der erstgenannten Passage gewährt der Dichter Einblick in die Gedanken Karels, der hier seine Meinung über Elegast kundtut. Als in der zweiten Passage Elegast über sich selbst spricht, gebraucht er darin mehr als einmal genau dieselben Worte, die auch Karel in seinen Gedanken formulierte. Der Gebrauch dieser Wiederholungen (in denen selbstverständlich kleine Variationen vorkommen) ist keine Bequemlichkeit des Dichters, sondern ist eben dafür bestimmt, dem Publikum Gelegenheit dazu zu geben, die Personen selbst moralisch zu beurteilen. Dadurch, daß Karels Auffassungen über Elegast durch Elegast selbst bestätigt werden, erscheinen beide Figuren als zuverlässig: Karel, weil er imstande ist, sich ein richtiges Urteil zu bilden über einen anderen, Elegast, weil er auf diese Art als ein Dieb mit Prinzipien (eine Art Robin Hood) erscheint.

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Karels Gedanken über Elegast können aufgefasst werden als innerer Monolog (monologue intérieur): Die Gedanken der Figur werden wiedergegeben, als ob sie ausgesprochen würden, in direkter Rede. Beispielsweise in den Versen 99–129 erwägt Karel in Gedanken den Auftrag, den er von Gott erhalten hat. Indem diese Gedanken eben in direkter Rede wiedergegeben werden, gewährt der Dichter dem Publikum einen Blick in Karels Innerstes und läßt es teilhaben an seinen Zweifeln und Ängsten, aber auch an seinen guten Absichten und seinem Wunsch, Gott gehorsam zu sein. Anhand der Technik des inneren Monologs gewinnen die Personen beachtlich an psychologischer Tiefe und Überzeugungskraft. Die ‚Erzähltechnik der doppelten Linse‘ könnte auch aufgefaßt werden als eine Form der Wiederholung, wenn auch die Wiederholung nicht in Worten erfolgt. An einigen Stellen ist zu sehen, daß eine bestimmte Gegebenheit der Geschichte mehrere Male, aber auf verschiedene Weisen dargestellt wird. Oft ist es der allwissende Erzähler, der zuerst auf eine beinahe nüchterne, scheinbar objektive Art und Weise eine Begebenheit in der Geschichte präsentiert, wonach anschließend dieselbe Begebenheit durch die Augen einer Figur zu sehen ist, nun allerdings auf deutlich subjektive, emotional aufgeladene Weise. In den Versen 272–287 beschreibt der Erzähler zum Beispiel, wie der vollkommen in schwarz gekleidete Elegast im Wald auf Karel zureitet. Der betonte Umstand, daß alles an diesem Reiter schwarz ist, kann vielleicht als bedrohlich empfunden werden, aber die Formulierungen der Erzählinstanz bleiben stark beschreibend. Erst in den Versen 285–302, in denen das Annähern des schwarzen Reiters nochmals gezeigt wird, diesmal durch Karels Augen (z.T. in der Form eines monlogue intérieur!), wird die Bedrohung manifest. Karels Wahrnehmung ist durchzogen von Angst und Unsicherheit – er denkt, daß der leibhaftige Teufel auf ihn zu reitet –, denn im Gegensatz zu der Erzählerinstanz beschreibt Karel nicht nur, er interpretiert auch die schwarze Erscheinung. Der Gebrauch dieser Technik der ‚doppelten Linse‘ verleiht der Erzählung eine stark visualisierende Kraft und zwingt das Publikum regelrecht zu einer persönlichen Verbundenheit mit den Figuren. Visualisierung und Belebung ist auch das Ziel der durchgeführten Tempowechsel. Dadurch, daß die Erzählzeit länger dauert als die erzählte Zeit, verlangsamt sich das Tempo der Geschichte. Dieses wird aber regelmäßig kontrastiert mit Passagen, in denen die Erzählzeit kürzer ist als die erzählte Zeit. Ein schönes Beispiel hierfür sind die Verse 306–352, in denen Elegast in einem inneren Monolog das Herannahen des Königs kommentiert. Die Szene erscheint in ihrer ganzen Trägheit vor den Augen des Lesers. Hier übersteigt die Erzählzeit die erzählte Zeit. Dieses Verhältnis ändert sich in

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den Versen 353–379, in denen Karel und Elegast ein Gespräch beginnen: Bei der Annäherung ist die Erzählzeit gleich der erzählten Zeit. In den Versen 380–415 aber – dem heftigen Gefecht Karels mit Elegast – steigt das Erzähltempo stark an: Die Erzählzeit ist kürzer als die erzählte Zeit. Mit dieser Art von Tempowechseln wird die Erzählung stark belebt und die Aufmerksamkeit und die Einbindung des Publikums aufrechterhalten. Ein letztes Mittel der Erzähltechnik, auf das hingewiesen werden soll, ist in der Sekundärliteratur bekannt unter dem Stichwort „dramatische Ironie“. Diese besteht darin, daß die Erzählinstanz – hier ein allwissender Erzähler, der sich nur sehr selten als „ich“ in der Erzählung manifestiert – dafür sorgt, daß das Publikum mehr weiß als die Figuren. Als Elegast und Karel nach ihrem Gefecht ein Gespräch führen und Karel sich vorstellt als Adelbrecht, Dieb von Beruf, kennt das Publikum bereits die wahre Identität von Adelbrecht, Elegast jedoch nicht. Als Adelbrecht dann im Anschluß vorschlägt, beim König – also bei sich selbst – einzubrechen, reagiert Elegast empört: Er würde nie und nimmer seine Hand gegen den König erheben, so ungerecht dieser ihn auch behandelt haben möge. Der moralische ‚Gehalt‘ von Elegast ist in diesem Moment für das Publikum greifbar: Weil das Publikum weiß, daß Elegast nicht weiß, daß er zu Karel selbst spricht, wird die Empörung Elegasts als aufrichtig erfahren. Er erscheint hier tatsächlich als ein glaubwürdiger ‚anständiger Dieb‘. Der Erzähler spielt nicht nur mit dem Unterschied in den Kenntnissen von Figuren und Publikum: Er sorgt dafür, daß das Publikum mehr weiß als die Figuren, aber auch, daß das Publikum weniger weiß als er selbst. Nur die Erzählinstanz weiß schließlich, wie die Geschichte im ganzen endet, und bietet die Begebenheiten der Erzählung dem Publikum wohldosiert an. Das lange Hinauszögern des Clous der Geschichte – warum muß Karel auf Gottes Befehl stehlen? – ist hierfür natürlich das beste Beispiel. In ihrer literarischen Formgebung scheint die Geschichte deutlich von der Erzählkunst des jüngeren höfischen Romans beeinflußt zu sein (zum Beispiel durch den Gebrauch von Mono- und Dialog, um den Figuren psychologische Tiefe zu verleihen), aber in der ideologischen Tendenz schließt die Erzählung ohne weiteres an die Tradition der Chanson de geste an, wie an der untergeordneten Rolle der Frau und den herausgearbeiteten feudalen Werten zu erkennen ist. Diese Kombination von älteren und jüngeren ‚Charakterzügen‘ widerspricht nicht einer Datierung in das dreizehnte Jahrhundert, sie könnte aber ein Argument gegen eine Datierung vor dieser Zeit sein. [Übersetzung (Teil B, Kap. 2.2): Erna Kornelis]

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2.3 ‚Karlmeinet‘ von Bernd Bastert Entstehung und Struktur – ‚Karl und Galie‘ – ‚Morant und Galie‘ – ‚Ospinel‘ – ‚Rolandslied‘

Entstehung und Struktur Das als ‚Karlmeinet‘ bezeichnete Werk vereinigt mehrere bereits existierende Texte, in denen Karl der Große eine herausragende Rolle spielt, zu einer umfassenden, biographisch organisierten Lebensbeschreibung Karls – einer vita poetica Karoli Magni, wie die Kompilation von Hartmut Beckers (1994) zutreffend genannt wurde: (1) ‚Karl und Galie‘, (2) ‚Morant und Galie‘, (3) eine aus unterschiedlichen lateinischen und deutschen Quellen historiographischen Charakters zusammengesetzte Beschreibung kriegerischer und politischer Kämpfe und Erfolge des Kaisers sowie dessen privaten Geschicks, (4) ‚Karel ende Elegast‘, (5) der Spanienfeldzug Karls, der auf dem Konradschen ‚Rolandslied‘ basiert – in die ‚Rolandslied‘-Branche integriert ist die ‚Ospinel‘-Erzählung –, (6) Karls letzte Jahre und sein Tod nach lateinischen und niederländischen chronikalischen Quellen. Vollständig ist die rund 36000 Verse umfassende ‚Karlmeinet‘Kompilation nur in einer einzigen Handschrift (Darmstadt, LB u. HB, Hs. 2290) erhalten, die vermutlich um 1470/80, wahrscheinlich im Kölner Raum, geschrieben wurde. Aus sprachhistorischen Gründen sowie aufgrund einiger Anspielungen auf Lokaltraditionen gilt als wahrscheinlicher Entstehungsort Aachen (Beckers 1994). Noch genauere Spezifikationen, etwa eine zuweilen vermutete Entstehung in nächster Nähe, vielleicht sogar im Auftrag des Aachener Marienstifts müssen spekulativ bleiben. Wann und aus welchen Gründen die Summe genau entstand, ist nicht geklärt. Meist geht man von der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts aus (Bartsch 1861), doch gesicherte Anhaltspunkte dafür existieren nicht. In jedem Fall umfaßt die ‚Karlmeinet‘-Kompilation auch Texte, die noch aus dem 13. Jahrhundert stammen und für die man annimmt, daß sie direkt oder indirekt auf französische Quellen basieren. Nur diese Texte werden im Folgenden behandelt.

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‚Karl und Galie‘ Erzählt wird in dieser, mit ca. 13500 Versen längsten Branche der Kompilation die Geschichte des jungen Karl, der vor den geplanten Anschlägen zweier Thronprätendenten namens Hoderich und Haenffrait, die sich aufgrund ihres Reichtums das Vertrauen von Karls Vater Pippin erschlichen hatten und nach dessen Tod als Reichsverweser eingesetzt worden waren, mit nur wenigen Getreuen nach Spanien fliehen muß. Dort findet der junge Karl freundliche Aufnahme beim Heidenkönig Galafer, den er entscheidend in seinem Kampf gegen nordafrikanische Feinde unterstützt und dessen Hauptfeind, den riesenhaften Bremunt, in einem, wie Beckers (1989b) gezeigt hat, nach dem Muster des David-Goliath-Kampfes gezeichneten Zweikampf besiegt. Galafers Tochter Galie entbrennt in Liebe zu dem jungen Christenhelden, die von diesem erwidert wird. Vor seiner Rückkehr nach Frankreich, wo er mit Galafers Hilfe den Thron zurückgewinnen kann und die Verräter Hoderich und Haenffrait zum Tod verurteilt, verspricht Karl Galie, sie später heimlich zu sich zu holen. Als Pilger verkleidet kehrt er mit zwei Gefolgsleuten nach Spanien zurück und entführt Galie mit deren Einwilligung aus dem Palast ihres Vaters. Die Liebenden erkennen sich durch den Gesang zweier Minnestrophen, die sie als Wechsel vortragen (Sievert 2000). Auf dem Rückweg hat das Paar, das von Galies Hofdame Florette und Karls Getreuen begleitet wird, verschiedene Gefahren zu bestehen – so will z.B. ein abenteuersuchender Ritter (beinahe eine Präfiguration Don Quixotes), der die Situation mißversteht, Galie partout aus den Händen ihres vermeintlichen Entführers befreien; später kann eine Vergewaltigung Galies durch ihren Onkel Orias, bei dem sie unerkannt einkehren, gerade noch vereitelt werden – schließlich erreicht die kleine Gruppe aber doch glücklich Frankreich, wo Galie in St. Denis getauft wird, und sie und Karl heiraten.

Die ältesten bekannten Fragmente des nur im Kontext der ‚Karlmeinet‘Kompilation vollständig überlieferten Textes stammen von einer um 1260/80 geschriebenen Handschrift (Stralsund, Archivbibl., Hs. 142); das Werk dürfte demnach in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts verfaßt sein. Die Schreibsprache deutet auf eine Entstehung im ripuarischen Raum, vielleicht in der Gegend von Aachen (Beckers 1989a). Obwohl ‚Karl und Galie‘ sich im – lediglich in der ‚Karlmeinet‘-Kompilation überlieferten – Prolog auf eine französische Quelle beruft (‚Karlmeinet‘-Kompilation 1,9f.: Dye dat boich hat gedicht / Van vrantzois in duytz geschricht ), ist bislang nicht abschließend geklärt, ob dem Werk eine verlorene mittelniederländische oder eine französische Fassung zugrunde liegt. Die Forschung präferiert inzwischen mehrheitlich jedoch die zweite Möglichkeit; dies nicht zuletzt deshalb, weil die Erzählung vom jungen Karl, der von verräterischen Thronräubern aus seiner Heimat vertrieben wird, in Spanien Exil findet und schließlich mit einer spanischen Prinzessin in die Heimat zurückkehrt und sie heiratet, in den romanischen Literaturen mehrfach überliefert wird (Horrent 1979, Beckers 1989a; Hennings 2008, S. 126–136). Neben französischen Versionen (‚Mainet‘, entstanden ver-

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mutlich in der zweiten Hälfte des 12. Jh., überliefert nur in einer fragmentarischen Handschrift des 13. Jh.; ‚Charlemagne‘ des Girart d’Amiens, vor 1308) existieren ebenfalls italienische und spanische Redaktionen. Allerdings stimmt ‚Karl und Galie‘ mit keiner dieser Fassungen in allen Teilen überein (Horrent 1979). Besonders groß sind die die Differenzen zu einzelnen Passagen der französischen Fassungen, die vor allem der ‚Charlemagne‘ repräsentieren muß, weil der nur fragmentarisch überlieferte ‚Mainet‘ keine gesicherten Aussagen zuläßt. Im ‚Charlemagne‘ werden Karls Eltern beispielsweise ermordet, während sie in ‚Karl und Galie‘ eines natürlichen Todes sterben; der Heidenkönig Galafer hat dort zwei Söhne, während er in ‚Karl und Galie‘ nur eine Tochter hat; Karls Inkognito bleibt im Unterschied zur deutschen Bearbeitung länger gewahrt; nicht Karl selbst, sondern sein getreuer Gehilfe Morant bringt Galie nach Frankreich etc. Die meisten dieser Unterschiede sind ebenfalls im Vergleich mit italienischen Redaktionen zu beobachten, während die spanischen insgesamt näher zur deutschen Bearbeitung stehen, was auf eine gemeinsame, aber nicht erhaltene, Quelle deuten könnte. Doch keine andere Fassung enthält z.B. die lediglich aus der deutschen Bearbeitung bekannte Episode um Galies Onkel Orias. Mit letzter Sicherheit kann nicht entschieden werden, ob die Abweichungen von den romanischen Fassungen vom deutschen Bearbeiter stammen oder bereits in einer verlorenen Vorlage enthalten waren. ‚Morant und Galie‘ ‚Morant und Galie‘ bezieht sich in einigen Passagen direkt auf ‚Karl und Galie‘ und berichtet vom weiteren Schicksal des mittlerweile seit einigen Jahren zusammenlebenden Paares. Einige Verleumder, denen Karl leichtfertig Glauben schenkt, bezichtigen vor dem König Galie des Ehebruchs mit dem Karl treu ergebenen Morant von Rivere. Rohart, der bösartige Anführer dieser Intriganten, will durch die Behauptung eines ehebrecherischen Verhältnisses der Königin Karls Herrschaft erschüttern und selbst die Macht an sich reißen. Morant, der sich mit Karls Erlaubnis vom Hof entfernt hatte, wird unter einem Vorwand zurückgeholt. Trotz böser Vorahnung folgt er der Aufforderung des Königs, am Hof werden er und Galie daraufhin fest gesetzt. Karl ordnet auf Anraten seiner Fürsten einen Gerichtskampf an, in dem sich die Wahrheit der Anschuldigungen erweisen soll. Rohart versucht zunächst, sich dem Kampf zu entziehen, indem er flieht, sich verkleidet und unter dem Schutz jener neuen anderen Identität weitere belastende Vorwürfe gegen Morant und die Königin erhebt. Roharts Maskerade ist dabei eine ganz besondere Art der ‚Verkleidung‘, denn er tötet und häutet einen arglosen Pilger und

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schlüpft im Wortsinn in dessen Haut. Auch in dieser Identität kann er dem Ordal jedoch nicht entgegen, denn nun muss der vermeintliche Pilger gegen Morant antreten. Morant besteht den Gerichtskampf gegen den ‚Pilger‘ glänzend und kann im Verlauf des Kampfes dessen falsche Identität aufdecken. Zudem stellt sich heraus, daß Rohart auf Einflüsterung des Teufels handelte. Karl läßt die Verräter töten, bittet Galie um Verzeihung und verheiratet während eines großen Hoffestes die einst mit ihr aus Spanien geflohene, ebenfalls zum Christentum konvertierte Florette mit Morant.

Ähnlich ungeklärt wie die genauen Entstehungshintergründe von ‚Karl und Galie‘ sind diejenigen von ‚Morant und Galie‘ (Krolla 2012). Die bereits in Fragment M (Krakau, Bibl. Jagiellonska, Hs. Berlin, mgq 666), der ältesten, noch nicht in den Kontext der ‚Karlmeinet‘-Kompilation eingefügten Redaktion nachweisbaren Bezüge auf die Erzählhandlung von ‚Karl und Galie‘ sprechen in jedem Fall aber für eine Entstehung nach jenem Text, auf den sie so deutlich anspielen. Fragment M datiert aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts, als wahrscheinliches Entstehungsdatum des Werkes gilt das erste Drittel des 13. Jahrhunderts (Beckers 1983). Sicher ist ein so früher Entstehungszeitpunkt jedoch nicht; auch eine Entstehung in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wäre möglich. Aus der Sprache von Fragment M wurde ebenfalls der exakte Entstehungsort von ‚Morant und Galie‘ zu erschließen versucht. Favorisiert wird eine Region, die östlicher als die vermutete Aachener Ursprungsregion von ‚Karl und Galie‘ anzusiedeln ist und mithin in der Gegend von Köln läge (Beckers 1983). Eine Erzählhandlung, die der von ‚Morant und Galie‘ exakt entsprechen würde, existiert in anderen europäischen Literaturen ansonsten nicht. Der zuweilen als Vergleichsbasis herangezogene Stoff von der unschuldig verleumdeten Königin Sibille, den Alberich de Trois-Fontaines in seiner lateinischen Chronik aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erwähnt und der in der Volkssprache zuerst in einer fragmentarisch erhaltenen französischen Chanson des 13. Jahrhunderts greifbar ist (‚Chanson de Sebile‘), die später Bearbeiter in Italien, Spanien, Deutschland und den Niederlanden fand, differiert zu stark, um eine genetische Verwandtschaft begründen zu können. Der Name Morant de Reviers, der an den Namen des Protagonisten in ‚Morant und Galie‘ erinnert, der ausdrücklich als Morant de Ryvere (‚Karlmeinet‘-Kompilation 293,7) bezeichnet wird, um ihn von einem anderen Morant zu unterscheiden, der in ‚Karl und Galie‘ in einer Nebenrolle agiert und dort schließlich ums Leben kommt, begegnet in französischen Chansons zwar mehrfach, so etwa im ‚Renaut de Montauban‘ oder in der ‚Chevalerie Ogier‘ (Hennings 2008, S. 135f.), doch ist das allein kaum hinreichend, um eine verlorene Chanson von Morant und Galie postulieren zu können. Ob es ein solches französisches Werk gab, das

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dem deutschen Bearbeiter dann, eventuell vermittelt über eine niederländische Adaptation (Peperkamp 1991), als Vorlage gedient haben könnte, muß daher offen bleiben. ‚Ospinel‘ Erhalten hat sich von dieser deutschen Fassung eines Epos mit typischen Chanson de geste-Motiven außerhalb der ‚Karlmeinet‘-Kompilation ein Fragment des 14. Jahrhunderts in ripuarischer Schreibsprache (Darmstadt, LB und HB, Hs. 3307), das insgesamt 153 Verse überliefert, die aus zwei Textpartien stammen (Beckers 1983). In der ersten fordert Ospinel, ein sarazenischer Krieger, Roland, Oliver oder Oigir zum Zweikampf heraus, doch ist es dann Turpin, der gegen ihn antritt; die zweite Textpartie schildert einen erbitterten Kampf zwischen Ospinel und Oliver, den letzterer gewinnt. Wie diese Ausschnitte in die Gesamthandlung einzuordnen sind, kann man aus dem rund 1100 Verse enthaltenden ‚Ospinel‘-Abschnitt erschließen, der in die ‚Karlmeinet‘-Kompilation integriert wurde. Demnach fällt die literarische Handlung des ‚Ospinel‘ in die Zeit von Karls Kämpfen gegen die spanischen Sarazenen, wie sie im ‚Rolandslied‘ dargestellt werden: Karl hat beinahe ganz Spanien erobert und bedrängt König Marselis schwer. In dieser Situation kommt Marselis Ospinel, der König von Babilonien, zu Hilfe. Um Marselis Tochter Magdalie heiraten zu können, will er in Karls Lager ziehen und alle zwölf Pairs besiegen. Dort fordert er Roland, Oliver oder Oiger zum Zweikampf, kämpft zunächst aber gegen Turpin (= 1. Teilfragment), hebt diesen mit umgedrehter Lanze schließlich aus dem Sattel und schickt ihn zurück zu Karl mit dem Auftrag, ihm Roland, Oliver oder Oiger zu senden. Karl will den Bezwinger Turpins kennen lernen und sichert ihm freies Geleit zu. Bei Karl angekommen und von ihm freundlich aufgenommen, fordert Ospinel den Frankenkönig nach kurzer Unterhaltung barsch zur Unterwerfung auf und entfernt sich wieder. Roland und Oliver streiten um die Ehre, nun gegen den Heiden antreten zu dürfen; auf Intervention Karls verzichtet Roland endlich und stattet Oliver mit seinem unfehlbaren Schwert Durendart aus. Im anschließenden Zweikampf schlägt Oliver Ospinel den rechten Arm ab, der ergibt sich daraufhin und will Christ werden (= 2. Teilfragment), nach der Taufe erliegt er allerdings seinen schweren Verletzungen. Magdalie klagt um ihn und verspricht demjenigen ihre Liebe, der Ospinel räche. Marsalat erklärt sich dazu bereit. Zusammen mit drei anderen Königen und Magdalie bricht er auf und trifft auf Roland, der drei Heiden tötet, der vierte kann fliehen. Magdalie bleibt allein zurück und begibt sich in Rolands Schutz. Der verliebt sich auf der Stelle in sie, Magdalie erklärt sich bereit, Christin zu werden. Zusammen machen sich beide auf den Rückweg. Während er Magdalie in den Sattel hebt, vergißt Roland allerdings Durndart. Beim anschließenden Zusammentreffen mit Marselis und dessen Heer kann er sich deshalb nicht wehren und muß fliehen. Als die zurückgelassene Magdalie von einem anderen Heidenkönig bedrängt wird, bittet Roland Karl und Oliver, ihm bei der Suche nach

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Durndart zu helfen. In einer großen Schlacht werden die Heiden in die Flucht geschlagen. Roland befreit dabei Magdalie, entdeckt am Boden zufällig Durndart und kehrt mit beiden zurück. Es kommt zum Streit zwischen Oliver und Roland, weil Roland die ihm versprochene Alde, Olivers Schwester, wegen Magdalie verlassen will. Zwei Bischöfe können schließlich vermitteln. Sie erreichen, daß Magdalie Oliver versprochen und zu Alde geschickt wird, wo sie mit dieser zusammen auf Rolands und Olivers glückliche Heimkehr warten soll.

Der lediglich fragmentarisch erhaltene ‚Ospinel‘ bietet eine Redaktion, die von derjenigen der ‚Karlmeinet‘-Kompilation in einigen Formulierungen abweicht und in den erhaltenen Passagen rund ein Viertel länger ist als diese. Somit spricht wenig dagegen, die fragmentarisch überlieferte Version für eine ältere, vielleicht noch im 13. Jahrhundert entstandene und ursprünglich wohl selbständige Fassung zu halten (Haas 1923). Ob der ‚Ospinel‘, in dem die namengebende Figur nur zu Beginn als Akteur auftritt (als eigentliche Protagonistin kann man vielmehr Magdalie bezeichnen), auf eine französische oder auch niederländische Quelle zurückgeht oder als eigenständiger deutscher Text konzipiert wurde, ist nicht leicht zu entscheiden. Keinesfalls basiert er auf der rund 2100 Verse umfassenden französischen ‚Chanson d’Otinel‘, die ebenfalls aus altnordischen und englischen Adaptationen bekannt ist (Aebischer 1960). Sie teilt zwar einige Züge (barsche Aufforderung zur Herrschaftsaufgabe Karls durch einen Heiden, dessen anschließende Konversion während eines Zweikampfs) mit dem ‚Ospinel‘, unterscheidet sich insgesamt aber doch, angefangen bei den Akteuren, deutlich vom deutschen Text. Dessen Motivinventar wirkt seinerseits durchaus geläufig. Daß ein sarazenischer Krieger während Karls Spanienkampagne als Herausforderer gegen einen der Pairs antritt, unterliegt und dann Christ wird, kennt man aus anderen Chansons ebenso wie die Figur der attraktiven Heidin, die nach ihrer Konversion zur Ehefrau eines christlichen Helden wird. Aber in der gleichen Kombination wie im ‚Ospinel‘ begegnen all diese Figuren und Motive sonst nicht. Es wäre also durchaus möglich, daß ein niederdeutscher oder niederländischer Bearbeiter sie neu zusammengestellt hat, doch auch eine verlorene französische Vorlage bleibt denkbar.

‚Rolandslied‘ Das als fünfte Branche in die ‚Karlmeinet‘-Kompilation integrierte ‚Rolandslied‘ basiert in wesentlichen Teilen auf der Fassung des Pfaffen Konrad (Zagolla 1988). Die im ‚Rolandslied‘ und dessen französischer Vorlage

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über tausende von Versen sich erstreckenden Kämpfe der heidnischen Sarazenen und der christlichen Nachhut unter der Führung Rolands (RL 2017–7070) werden allerdings stark gerafft, da Karl an ihnen keinen Anteil hat, der Erzählfokus in der ‚Karlmeinet‘-Kompilation jedoch stets auf Karl gerichtet ist (Feistner 1989). Geringfügig formal und inhaltlich überarbeitet wurden die Partien, die V. 31–566, 585–2017 und 7070–8658 im ‚Rolandslied‘ entsprechen; in der ‚Karlmeinet‘-Kompilation sind dies die Verse 394,50–408,59, 426,3–449,3 und 460,2–488,67. Zwischen der ersten (394,50–408,59) und der zweiten (426,3–449,3) Partie wurde die ‚Ospinel‘-Erzählung (s.o.) eingeschoben. Ähnlich wie Strickers ‚Karl‘ bietet auch die ‚Rolandslied‘-Version der ‚Karlmeinet‘-Kompilation einen Schluß, der von Konrads Fassung abweicht und dabei eine jüngere Version der ‚Chanson de Roland‘ in einer C/V7 nahestehenden Redaktion benutzt. Des Strickers ‚Karl‘ kann dabei allerdings nicht die direkte Quelle gewesen sein, dafür sind die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen zu groß, wie von der Burg (1975) gezeigt hat. Ob der von einer französischen Vorlage beeinflußte Schluß bereits in der ‚Rolandslied‘-Handschrift existierte, die der Kompilator benutzte, oder von ihm aufgrund einer unvollständigen Vorlage erst hinzugefügt wurde, ist beim bisherigen Stand unserer Kenntnisse kaum zu entscheiden. [Manuskriptabschluß (Teil B, Kap. 2): Dezember 2011]

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Einleitung

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3 Wilhelmsepen 3.1 Einleitung – 3.2 Der ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach – 3.3 Der ‚Rennewart‘ Ulrichs von Türheim – 3.4 Das Kitzinger Bruchstück ‚Der Strit van Alescans‘ – 3.5 ‚Willem van Oringen‘

3.1 Einleitung von Fritz Peter Knapp Wilhelm als historische Person und Epenheld – Der kleinere Wilhelmszyklus – Die Rezeption in den germanischen Sprachen

Wilhelm als historische Person und Epenheld Wie in den meisten Haupthelden der Chanson de geste verbergen sich auch in Wilhelm (Wilhelmus, Guilelmus, Guillaume) mehrere historische Personen. Die Forschung hat nicht weniger als sechzehn auszumachen geglaubt. Erster Ausgangspunkt ist zweifellos Wilhelm von Toulouse, Herzog (Graf ?) von Aquitanien, geb. 752 als Sohn einer Tochter Karl Martells (?), Verteidiger Südfrankreichs gegen spanische Araber und Erzieher des 13jährigen Ludwig, des späteren Kaisers. Er hält die Muslime trotz verlorener Schlacht 793 am Fluß Orbieu (?) auf. 795 kann Karl der Große die spanische Mark errichten, von wo aus Wilhelm 801–803 mehrere Feldzüge in Spanien führt. 804 stirbt Wilhelms Frau Witburgis, worauf er in das Kloster Aniane eintritt, dann ein eigenes Kloster Gellone gründet und dort beim Kloster als Einsiedler 812 stirbt. Er wird 1066 kanonisiert (‚Vita Sancti Willelmi‘ von ca. 1130?) und sein Kloster später in Saint-Guilhemle-Désert umbenannt. Markgraf Wilhelm von Orange, Titelheld der ‚Chanson de Guillaume‘, des ältesten Wilhelmsepos, eine Gestalt geringer historischer Prominenz, wird erst sekundär mit Wilhelm von Toulouse identifiziert. Auch die Kirche bemächtigt sich des Helden und propagiert einen Pilgerweg über seine Gedenkstätten nach Santiago de Compostela. Daß sie aber die Wilhelmssage im 12. Jh. erst initiiert habe, wie Joseph Bédier behauptet hat, ist auszuschließen.

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Der Kern der Sage, wie ihn die (gewiß auf mündliche Vorstufen des 11. Jh. zurückgehende, wohl aus zwei Epen bestehende, nur in einer Handschrift von ca. 1225, London, British Museum Add. 38663, überlieferte) ‚Chanson de Guillaume‘ (ChG) von ca. 1140 zeichnet, besteht in der mehrteiligen Abwehrschlacht gegen den Heidenkönig Desramé in Südfrankreich. Der Neffe Guillaumes d’Orange, Vivien, der geschworen hat, nie vor den Heiden zu fliehen, erleidet den Heldentod. Guillaume kommt zu spät zu Hilfe, verliert alle seine Leute und muß fliehen. Seine Frau Guiborc hat mittlerweile selbständig ein neues Heer aufgeboten. Mit Gottes Hilfe erringen die Christen nun den Sieg, töten oder vertreiben die Heiden. Das Verhältnis der ChG zu den späteren Wilhelmsepen, die in den zyklischen Sammelhandschriften erscheinen, ist unklar. Das Schlachtfeld Larchamp = l’Archamp liegt wohl ganz im Westen Südfrankreichs an der Gironde, wird aber in späteren Epen in die Nähe von Arles gerückt (Elysii Campi > Alyscamps/Alischans/Aliscans). Der kleinere Wilhelmszyklus Im ausgehenden 12. Jh. wird der Kern der Sage in einem anderen Epos, ‚Aliscans‘ (Al), aufs neue gestaltet, das uns aber fast nie allein, sondern stets umgeben von einem Kranz weiterer, älterer und jüngerer Epen in den Handschriften überliefert ist, z.B. in A4 (olim T) = Mailand, Trivulziano 1025 (Mitte oder 2. H. 13. Jh.). A4 enthält: ‚Enfances Guillaume‘ (EG) – ‚Couronnement Louis‘ (CL) – ‚Charroi de Nîmes‘ (ChN) – ‚Prise d’Orange‘ (PO) – ‚Enfances Vivien‘ (EV) – ‚Chevalerie Vivien‘ (ChV) – ‚Aliscans‘ (Al) – ‚Bataille Loquifer‘ (BL) – ‚Moniage Rainouart‘ (MR) – ‚Moniage Guillaume‘ (MG II). Dieser kürzere Zyklus weitet sich dann im 13. Jh. zum großen Zyklus aus, wie er sich z.B. in B1 (olim L) = London, British Museum, Royal 20 D XI (1. H. 14. Jh.) präsentiert: ‚Garin de Monglane‘, ‚Girart de Vienne‘, ‚Aymeri de Narbonne‘, ‚Les Narbonnais‘, ‚Enfances Guillaume‘, ‚Couronnement Louis‘, ‚Charroi de Nîmes‘, ‚Prise d’Orange‘, ‚Enfances Vivien‘, ‚Chevalerie Vivien‘, ‚Aliscans‘, ‚Bataille Loquifer‘, ‚Moniage Rainouart‘, ‚Moniage Guillaume II‘, ‚Siège de Barbastre‘, ‚Guibert d’Andrenas‘, ‚Mort Aymeri‘, ‚Foucon de Candie‘. Zahl und Wortlaut der Epen wechseln von Handschrift zu Handschrift. Insgesamt gibt es 23 Epen.

Im kleineren Zyklus werden die erfolgreiche Werbung Wilhelms aus der Ferne um die Heidin Orable und der Entsatz des belagerten Narbonne erzählt (EG), hierauf die Krönung Ludwigs mit Hilfe Wilhelms, Italienfeldzüge, der Kampf gegen den Riesen Corsolt (CL), die mangelnde Dankbar-

Einleitung

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keit Ludwigs, die Eroberung des heidnischen Nîmes mit ‚trojanischer‘ List (ChN), der heimliche Aufenthalt des verkleideten Wilhelm im heidnischen Orange, Entdeckung und Gefangennahme, Befreiung mit Hilfe Orables, Sieg über die Heiden und Hochzeit mit der auf den Namen Guiborc getauften Orable (PO), Vivien als Geisel und Sklave bei den Heiden (EV), Viviens Ritterweihe, Schwur, erste Heidenkämpfe, Herausforderung der Rache Desramés, Invasion und Beginn der Schlacht von Aliscans (ChV), Tod Viviens, Niederlage Wilhelms auf Aliscans, Ritt an den Königshof, Entsatz Oranges, Sieg über die Heiden mit Hilfe des Heiden Rainouart (Al), Entführung von Rainouarts Sohn, siegreicher Kampf Rainouarts gegen den Riesen Loquifer von Loquiferne (BL), Eintritt Rainouarts ins Kloster Brioude, neue Heidenkämpfe, Tod im Kloster (MR), Eintritt Wilhelms ins Kloster Aniane, Streit mit den Mönchen, Rückzug nach Gellone, neue Heidenkämpfe, Tod in der Klause (MG II). Als zentraler Ausgangspunkt der Handlung muß die Eroberung von Orange (PO) gelten, um die sich die übrigen Ereignisse (zuerst die von CL, ChN und Al) gruppiert haben. Die Rezeption in den germanischen Sprachen Aus dem riesigen Wilhelmszyklus wird nur ein Bruchteil in den germanischen Sprachen bearbeitet. Wie und warum gerade diese wenigen Epen ins Ausland gelangten und Interesse erweckten, wissen wir nicht. Der Zufall dürfte dabei eine große Rolle gespielt haben. In keinem Fall besitzen wir die unmittelbare französische Vorlage, sondern nur verwandte schriftliche Fassungen. Besonders weit entfernt sich die neunte Branche der norwegischen ‚Karlamagnús saga‘ (Mitte 13. Jh.) von den beiden uns bekannten Epen vom Mönchsleben Wilhelms (‚Moniage Guillaume‘ I und II), das auch der mnl. ‚Willem van Oringen‘ (Kap. 3.5) zum Gegenstand hat. Die deutschen Bruchstücke des ‚Strit van Alescans‘ (3.4) erlauben hingegen, da es sich um eine wörtliche Übersetzung handelt, geradezu die Rekonstruktion einer verlorenen Fassung von ‚Aliscans‘. Es handelt sich hier um ein seltsames Parallelunternehmen aus der Mitte des 13. Jh. zum dreiteiligen deutschen Wilhelmszyklus, dem gewichtigsten poetischen Zeugnis der deutschen Rezeption. Die Art der Entstehung ist der des französischen Zyklus nicht ganz unähnlich. An den Ausgangspunkt, den ‚Willehalm‘ von Wolfram von Eschenbach (3.2), schließen sich Erweiterungen nach vorne und hinten an. Allerdings ist Wolframs Werk tatsächlich Fragment geblieben und hat auf diese Weise fast selbstverständlich eine Fortsetzung gefor-

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dert. Der ‚Rennewart‘ Ulrichs von Türheim (3.3) greift dazu auch wirklich auf frz. Epen zurück, füllt aber auch selbständig größere Lücken. Ulrich von dem Türlin spinnt dann (zwischen 1261–1269 in Böhmen) die Vorgeschichte von ‚Arabel‘ allein aus Andeutungen Wolframs im ‚Willehalm‘ heraus. Diese poetisch ziemlich belanglose Wucherung am epischen Stamm des ‚Willehalm‘ gehört also nicht in unser Handbuch. Das Werk könnte aber trotz seiner weltlich-höfischen Machart seine Entstehung nicht nur der Prominenz des ‚Willehalm‘, sondern auch schon dem sich ausbreitenden Heiligenkult um Wilhelm von Toulouse, der fälschlich mit Wilhelm von Malavalle (gest. 1157) gleichgesetzt wurde (Kleinschmidt 1974), verdanken. Hier würde sich also mutatis mutandis im Reich im 13. Jh. ein Vorgang aus dem französischen 12. Jh. wiederholen.

3.2 Der ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach von Fritz Peter Knapp Wolframs ‚Willehalm‘ im Inhaltsvergleich mit ‚Aliscans‘ – Die Gestalt der Vorlage Wolframs – Historie und Erzählung – Epische Objektivität und romanhafte Subjektivität – Gesellschaftsstruktur und Politik, Macht und Gewalt – Glaubenskrieg und Schonungsgebot – Glaubenszweifel und Theodizee

Wolframs ‚Willehalm‘ im Inhaltsvergleich mit ‚Aliscans‘ Der folgende knappe Inhaltsvergleich des ‚Willehalm‘ (Wh) mit der Vorlage ‚Aliscans‘ (Al) erzählt bewußt die Vorlage nach und beschränkt sich bei der Bearbeitung im wesentlichen auf die Abweichungen: Al setzt die Vorgeschichte nach der ‚Chevalerie Vivien‘ voraus: Gemäß seinem Eid, niemals vor den Heiden zu fliehen, fordert Vivien brutal und tollkühn den Heidenfürsten Desramé von Cordoue heraus, weigert sich dann trotz der gewaltigen Übermacht der ins Land eingefallenen rachebegierigen Heiden, die Hilfe Guillaumes anzufordern, muß dies dann doch angesichts immenser Verluste seines Heeres tun. Mit Guibourcs Unterstützung bietet Guillaume ein Heer von 20000 Mann auf und eilt herbei. Wh weiß davon nichts. Terramers Invasion gilt vielmehr der Rache für den Raub der zuvor vom Heiden Tibalt besetzten Provence und der Gattin Tibalts und Tochter Terramers, Arabel, sowie der Eroberung des Römischen Reichs, das Terramer als altes Erbe beansprucht. Nicht ganz deutliche Anspielungen deuten auf Willehalms Gefangenschaft im Heidenland, die dort entflammte Liebe zu Arabel, Befreiung und Flucht (vgl. PO), die Eroberung von Nîmes (entsprechend CN). Ähnlich wie in ‚Guibert d’Andernas / Les Narbonnais‘ enterbt Heimrich seine Söhne um eines vaterlosen Patenkindes willen und zwingt damit die Söhne, aus eigener Kraft ihr Glück zu suchen (5,15–15,30 u. spätere Nachträge). Al: Die Erzählung tritt medias in res ein. Vivien kämpft, schwer verwundet, heldenhaft, sein nahes Ende bereits ahnend. Guillaume verbindet ihm den Leib, aus dem die

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Gedärme quellen. Beim Anblick der monströsen Truppen Gorhants wendet Vivien einen Augenblick lang sein Pferd, erinnert sich dann aber seines Eides und stellt sich dem Angriff. Bei dem Kampf gegen die Truppen unter der Führung Haucebiers geraten Bertran, Guischart, Gerart, Guielin, Huon de Melant, Gaudin le brun und Gautier de Termes in heidnische Gefangenschaft, und Vivien erhält von Haucebier eine tödliche Wunde. Er begibt sich, geleitet durch einen Engel, zu einer Quelle, wo er sein Ende erwartet. Guillaume erleidet eine totale Niederlage, kämpft zuletzt allein gegen die heidnische Übermacht, gibt den aussichtslosen Kampf auf und flieht (Hs. M, Laisse I–XX). Wh schildert im wesentlichen denselben Schlachtablauf, aber auch die Vorgeschichte und den Beginn der Schlacht, diese selbst dann insgesamt breiter, außer bei Vivien, dessen Kämpfe stark gekürzt, teilweise umgestellt werden. Es ist nicht mehr alles auf ihn zentriert. Er flieht auch niemals. Trotz vieler Einzelkämpfe erhält man schon einen ersten Eindruck der ebenso heroischen wie grausigen Massenschlacht mit wechselnden Perspektiven und realistischen Zügen (10,20; 162,14: mort). Am Ende sind von 20000 Christen nur 8 Gefangene übrig und Willehalm mit 14 Gefährten, die auch noch fallen. Willehalm schlägt sich in die Berge durch (16,1–57,28 = Ende von Buch I in Lachmanns Ausgabe). Al: Guillaume findet auf seiner Flucht vor den Heiden seinen sterbenden Neffen Vivien – gerade noch rechtzeitig, um ihm die Beichte abzunehmen und ihm, der fürchtet, einen kurzen Moment gegen seinen Eid verstoßen zu haben, die Kommunion zu geben. Vivien stirbt den Märtyrertod. Sein Oheim Guillaume hält die Totenwache, muß dann den Leichnam notgedrungen auf dem Schlachtfeld zurücklassen, um auf dem Rückweg nach Orange weitere Angriffe der Heiden zu bestehen, bis er sich der Rüstung, des Pferdes und der Waffen des Heidenkönigs Aerofle bemächtigt, den er zuvor in einem harten und grausamen Kampf getötet hat. Die Tarnung als Heide gelingt, dann verrät ihn aber sein eigenes Pferd, das er noch mitführt. Mit knapper Not kann er seinen Verfolgern entkommen, wird dann aber, vor dem von Heiden belagerten Orange angekommen, selbst von Guibourc für einen Heiden gehalten und erst durch einen Angriff auf eine Gruppe von 300 Heiden und nach Öffnung seines Visiers an seiner verstümmelten Nase als Guillaume au cort nez erkannt. Obwohl die heidnischen Invasoren Orange weiterhin belagern, beschließt Guillaume mit Guibourcs Zustimmung (Askesegelübde), heimlich in heidnischer Rüstung den französischen König Louis in Laon (in manchen Fassungen: Saint-Denis) aufzusuchen und ihn um ein Ersatzheer zu bitten. Guibourc bleibt unterdessen mit 700 Damen in dem belagerten Orange zurück und verteidigt die Burg eigenhändig gegen nachfolgende heidnische Angriffe (XXI–LV,2285). Wh: Das geradezu feierliche Martyrium findet im Unterholz am Fluß Larkant an einer Quelle unterm Lindenbaum, also an einem richtigen locus amoenus statt. Willehalm preist und beklagt den Neffen überschwenglich. Das Schuldgefühl Viviens hat hier gar keine Berechtigung. Der in Al nur negativ gezeichnete Heide Desrée wird im Wh zu einer höfischen Figur (Tesereiz), die als eine Art Minneheiliger stirbt. Als Verlust für die Minne erscheint sogar die Tötung von Giburgs Onkel Arofel, zugleich aber auch als legitimer Racheakt für Vivianz’ Tod, denn Willehalm hat als Mutterbruder eine besondere Verantwortung für den Neffen. Ganz frei gestaltet ist die Eheszene der Hauptpersonen mit einer Liebesvereinigung und dem Gebet Giburgs, während der verwundete Willehalm schläft (58,1–105,30 = Ende Buch II). Al: Die Verkleidung ermöglicht wieder den Ritt durch die feindlichen Linien. Auf seinem weiteren Ritt nach Norden macht Guillaume schlechte Erfahrungen mit den Bürgern von Orléans und schlägt sie zusammen. Der zu Hilfe gerufene Hernaut von Gi-

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ronde unterliegt dem unerkannten Bruder Guillaume. Dieser erfährt von ihm, daß sich der König in Laon aufhält, wo er anläßlich der Krönung der Königin zu einem großen Hoffest geladen hat. Als Guillaume schließlich am franz. Königshof eintrifft, bleibt er angesichts seiner unhöfischen Kleidung und der sichtbaren Kampfspuren zunächst unerkannt und muß eine schmachvolle Behandlung erdulden. Als er über die Kriegsverluste klagt, erkennt ihn König Louis und weist ihn ab. Freundliche Bewirtung erhält er nur im Hause eines Bürgers (Guimar). Louis verweigert abermals die Hilfe nach der Intervention der Königin, der Schwester Guillaumes, der ihr dafür beinahe den Kopf abgeschlagen hätte, wenn die Mutter nicht eingegriffen hätte. Ihre Tochter Aelis bittet für sie (LV,2286-LXIX). Wh: Wie so oft blendet der Bearbeiter hier zuerst zur Gegenpartei über. Die Heiden klagen über große Verluste und ihr Anführer, Terramer, über die Macht des Christengottes. Vater und Tochter führen über die Mauern von Orange ein Religionsgespräch und versuchen vergeblich, einander zu bekehren. Giburg läßt als Kriegslist Tote auf den Zinnen aufstellen. Breit ausgestaltet sind die Orlensepisode (unberechtigte Zollforderung des königlichen Stadtrichters) und der Zweikampf mit dem Bruder. In Munleun tritt König Lois zwar reserviert und wenig tatkräftig auf; die Schuld für die Hilfeverweigerung liegt aber v.a. bei der Königin. Sie erkennt den Bruder zuerst und plädiert für die Abweisung. Der Kaufmann Wimar ist hier sozial erhöht, die Begegnung mit den Verwandten vorgezogen, die Bedeutung der Sippenhandlung gesteigert, ebenso die des höfischen Auftritts Alizes. Mit diesem Tableau endet Buch III (106,1–161,30). Al: Obwohl Guillaume Louis nachdrücklich an seine Rolle als Königsmacher erinnert, kann er nur mit Hilfe seiner anwesenden vier Brüder, seines Vaters Aimeri und seiner Mutter Hermengart den König dazu bewegen, ihm das Reichsheer (mit 100000 Kriegern) zur Verfügung zu stellen. Am Königshof trifft Guillaume auf den heidnischen Riesen Rainouart, Desramés Sohn, der, einst entführt und von Sklavenhändlern an den franz. König verkauft, seitdem Dienst in der königlichen Küche verrichtet, da seine Abkunft unerkannt und ihm die ersehnte Taufe verwehrt bleibt. Rainouart bittet Guillaume, mit seiner Stange (tinel, einem Tragbaum zum Eimerschleppen), auf franz. Seite am Kampf teilnehmen zu dürfen. Auch des Küchendienstes enthoben, bleibt er, ungehobelt, unmäßig und vergeßlich, wie er ist, Gegenstand des Spottes der Dienerschaft und nimmt dafür stets blutig Rache, insbesondere wenn man ihm die Stange entwendet. Rückkehr nach Orange. König Louis begleitet das Heer bis Orléans. Aelis zeigt erst jetzt ihre Liebe zu Rainouart und bittet ihn beim Abschied um Verzeihung (wofür?) (LXX–LXXIX). Wh: König Lois erinnert sich hier doch auch seiner Pflicht des Lehnsherrn zum Schutz des Lehnsmannes, will aber unbedingt den gebührenden Respekt vor dem König gewahrt wissen. Der franz. Reichsgedanke ist durch die Reichsidee des Imperium Romanum ersetzt. Eingeschoben wird eine zehntägige Heerschau. Rennewart ist wie Parzival gegen seine Abstammung erzogen worden, verharrt aber bewußt in seiner Religion, will trotzdem für Willehalm gegen seine Verwandten kämpfen, weil er sich von ihnen im Stich gelassen wähnt und sie daher haßt. Alize bittet beim König für Rennewart, dem sie in Liebe seit der Kindheit verbunden ist. Willehalm tritt gleichsam im Heer an Ludwigs Statt die Nachfolge Karls des Großen an. Rennewart wird geradezu Alizes Minneritter (162,1–214,30 = Ende Buch IV). Al: Ankunft in Orange, das teilweise in Flammen steht. Freudiges Wiedersehen der Ehegatten. Errichtung des Lagers. Gastmahl. Rennewarts Trunkenheit (LXXX– LXXXVII).

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Wh: Vor dem Eintreffen des Entsatzheeres setzt sich das Religionsgespräch Terramer-Giburg fort. Das Hoffest wird beträchtlich erweitert, die Rolle der höfischen Damen gesteigert (215,1–268,30 = Buch V). Al: Fortsetzung des Gastmahls. Küchenszene. Guiborc vermutet in Rainouart ihren Bruder, gibt ihm ritterliche Waffen. Ein Pferd lehnt er aber ab (LXXXVIII–XCI). Wh: Fortsetzung des Gastmahls. Zweite große Eheszene Willehalm-Giburg. Giburg klagt über den Tod ihrer heidnischen Verwandten. Rennewarts Vorgeschichte ist hier schon zuvor enthüllt worden. Kochszene verkürzt. Giburgs Rede vor dem Fürstenrat mit dem Schonungsgebot (269,1–313,30 = Buch VI). Al: Rainouart vergißt mehrfach seine Stange. Die Feiglinge des Heeres, die sich zurückziehen, prügelt er in die Schlacht zurück. Die Heeresaufgebote werden beschrieben (XCII–CII). Wh: Die Vorbereitungen zur Schlacht werden ausgebreitet, die Hofkritik in der Szene mit den Feiglingen verstärkt. Nicht Rennewart führt das erste Treffen der Christen, sondern Willehalm. Das Schwergewicht der Schilderung liegt auf den gewaltigen heidnischen Truppen. Terramer formuliert seinen imperialen Herrschaftsanspruch (314,1–361,30 = Buch VII). Al: Rainouart wird wegen seiner unbändigen Kraft zum zentralen Helden. Durch Rainouart werden die Gefangenen befreit, die Heiden mit seinem tinel zu Tausenden, darunter mehrere seiner Blutsverwandten, erschlagen und sein Vater Desramé verwundet. So endet der Kampf mit dem Sieg der Christen. Desramé gelingt die Flucht, aber mit der Tötung Haucebiers rächt Rainouart den Tod Viviens. Er kämpft, nachdem sein tinel zerbrochen ist, mit dem Schwert, das ihm Guibourc umgehängt hat, weiter (CIII–CXX). Wh: Buch VIII wird von Wolfram fast frei gestaltet. Es entsteht das Bild einer Massenschlacht mit realistischen Zügen, der Zeichnung der Truppenbewegungen, dem Fachjargon der Taktik, den epischen Mitteln der Waffenbeschreibung und Vergleiche. Das Buch endet mit dem ‚Wolkenbruch‘ der 11. heidnischen Schar, der die Niederlage der Christen unvermeidbar erscheinen läßt. In Buch IX Einzelkämpfe wie in Al mit zeitlichen Verschiebungen im Detail. Halzebier wird von den Gefangenen getötet. Willehalm kämpft gegen Ende anstelle Rennewarts gegen Terramer. Rennewart tötet seinen Halbbruder und verschwindet spurlos aus der Schlacht (362,1–445,30). Al: Nach diesem schwer erkämpften Sieg kehren die Franzosen nach Orange zurück. Nachdem Guillaume Rainouart versehentlich nicht zu dem anläßlich des Sieges stattfindenden Festessen eingeladen hat, droht der zornige Riese damit, auf die Seite der Heiden überzuwechseln. Schließlich gelingt es aber Guibourc, Rainouart, in dem sie ihren verlorenen Bruder erkannt hat, mit Guillaume zu versöhnen. Rainouart erhält die Taufe (CXXI–CXLVIII) und – das Folgende fehlt in Handschrift M! – die Hand von Aelis. Anläßlich der Hochzeit belehnt Guillaume Rainouart mit Tortelose und Portpaillart. In der Hochzeitsnacht wird Maillefer gezeugt, dessen Geburt der Mutter das Leben kostet und auch Rainouart vor Kummer nur sieben Jahre zu leben übrigläßt. Zuvor wird er aber noch König Loquifer besiegen, was in einem weiteren Epos erzählt werden wird (letzte Laisse in den Hss. der Redaktion A: CXCII). Wh: Nach dem Ende der Schlacht geht Wolfram eigene Wege. In die Siegesfeier mengt sich große Trauer. Begräbnis bzw. Abtransport der Toten, Versorgung der Verwundeten. Willehalms große Klage um Rennewart. Der Heerführer entläßt einige heidnische Gefangenen, die die toten Heidenkönige zu Terramer bringen sollen, damit sie dort nach heidnischem Ritus bestattet werden können (446,1–467,8 oder 23).

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Wie zuletzt angedeutet, weichen einzelne Handschriften von Al nicht unerheblich voneinander ab. Hier ist – bis auf den Schluß – nur der grobe gemeinsame Handlungsablauf registriert. Die Gestalt der Vorlage Wolframs Thordis Hennings (2008, S. 142–160) hat in ihrer Habiliationsschrift als erste nach den Forschern des frühen 20. Jh. (Nassau Noordewier 1901; Bacon 1910) wieder mit dem gebotenen Nachdruck darauf beharrt, daß wir Wolframs Quelle nur indirekt erschließen können, da diesem keine der uns erhaltenen Handschriften vorlag und es überhaupt keinen kanonischen Text von ‚Aliscans‘ gegeben hat, sondern nur mehr oder minder zufällige Aufzeichnungen von Aufführungsvarianten bzw. Nachschriften dieser Aufzeichnungen. Es ist daher nur von beschränktem Nutzen, den ‚Willehalm‘ mit der verunglückten ‚kritischen‘ Al-Ausgabe von Wienbekke/Hartnacke/Rasch (so Marly 1982) oder dem Abdruck der Arsenalhandschrift ars (olim a) von Guessard/Montaiglon (so Wiesmann-Wiedemann 1976) zu vergleichen. Von den erhaltenen insgesamt 12 vollständigen zyklischen Handschriften, einer Einzelhandschrift und einigen Fragmenten von Al käme zeitlich nur die Hs. ars als Vorlage des ‚Willehalm‘ in Betracht, steht diesem jedoch gerade besonders fern. Den höchsten Übereinstimmungsgrad weist der ‚Willehalm‘ mit dem Text von M (Venedig, Biblioteca Marciana fr. VIII [= 252]), der einzigen nicht-zyklischen Al-Hs., auf, die aber ca. ein Jahrhundert später entstanden ist als der Wh. Daneben besteht ein relativ hoher Übereinstimmungsgrad mit den Handschriften B1 (olim L, London, B. M. Royal 20 D XI) und B2 (olim V, Paris, B. N. fr. 24369–24370), beide aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Bacon (1910, S. 136–166) führt allerdings 22 (mitunter fragliche) Textstellen an, wo der Wh von M (zusammen mit anderen Al-Handschriften) abweicht. Der wohl markanteste Unterschied gegenüber M betrifft die Heirat von Rainouart mit Ermentrude trotz seiner Liebe zu Aelis (M, V. 3873ff.; vgl. auch ChG, V. 3500). Im folgenden sollen aus der Arbeit von Hennings (2008, S. 145–157) die allerwichtigsten Ergebnisse der Rekonstruktion von W*, der hypothetischen Vorlage Wolframs, soweit diese von Al abgewichen sein könnte, aufgelistet werden. Den wichtigsten Einwand gegen diese Rekonstruktion hat sie natürlich bedacht: Wolfram könnte zusätzliche Informationen aus anderen Epen des Wilhelmszyklus bezogen haben, sowohl aus mündlichen als auch aus schriftlichen Quellen, von denen die erstgenannten viel eher

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in Frage kommen. Sie werden z.B. am ehesten das Motiv des durch die Enterbung aufgenötigten Auszuges der Söhne Heimrichs in ritterfähigem Alter mit dem Ziel, selbständig ein Lehen zu erwerben, geliefert haben, ein Motiv, das so oder so in mehreren Epen des Zyklus vorkommt (Bacon 1910; Schmid 1978). Auch die in der Vorgeschichte des Wh erwähnte Entführung Arabels sowie die Eroberung Oranges weichen so stark von den in der ‚Prise d’Orange‘ geschilderten Ereignissen ab, daß deren unmittelbare Kenntnis bei Wolfram nicht vorausgesetzt werden kann. Von der ‚Chevalerie Vivien‘ weiß Wolfram offenkundig gar nichts – das deutlichste Indiz, daß Wolfram keine zyklische Handschrift benützt hat. Ob Wolframs abweichende Ausgestaltung der Orléansepisode auf W* beruhen könnte, da es gewisse Übereinstimmungen mit den spätmittelalterlichen Ableitungen des franz. Zyklus, dem Prosaroman ‚Guillaume d’Orange‘ (15. Jh.) und den ‚Storie Nerbonesi‘, einer um 1400 entstandenen italienischen Prosakompilation des Wilhelmszyklus von Andrea da Barberino, gibt (Bacon 1910, S. 97–106), läßt sich nicht sichern. Schwerlich aus W* kann Wolfram die Kenntnis der real existierenden Steinsärge auf Les Alyscamps (= Elysii campi ), eines spätantiken Gräberfeldes südlich von Arles (vgl. Wh 259,9ff., 357,16f.; 386,4; 394,20 und 437,20), erhalten haben, da sie in keiner der erhaltenen Al-Fassungen noch in anderen Branchen des Zyklus auch nur in Ansätzen auftauchen. Ob er aus eigener Anschauung, aus der lokalen Legendentradition, aus zeitgenössischen historiographischen Quellen oder aus dem Pilgerführer des hl. Jakob geschöpft hat, ist umstritten.

Die Anregung für den Anspruch Terramers auf die römische Kaiserkrone könnte in W* zumindest vorgeprägt worden sein. In Al droht zwar nur der wütende Rainouart gegen Ende, sich an Ludwigs Statt in Aachen können zu lassen (M, V. 7142f.). Aber im ‚Couronnement Louis‘ (V. 462–466) erklärt der Heidenkönig Galafré in Rom gegenüber dem Papst, er komme hier in sein rechtmäßiges Erbe, welches sein Vorfahr und Romulus und Caesar aufgebaut hätten. Ähnliches könnte in W* Desramé behauptet haben. Die angebliche Abstammung von Pompeius, der von Caesar der Herrschaft über Rom beraubt wurde, ist jedoch Wolframs Eigentum (vgl. Knapp 1974b). Schwierig ist die Frage zu beantworten (Bacon 1910, S. 98–100), ob in W* in irgendeiner Form die Aussage der ‚Storie Nerbonesi‘, Bd. II, S. 526, enthalten war: tutti i fratelli di Rinovardo furono soppelliti secondo il modo barbaro, messi in ricche sepolture, per suo onore. „Von einer Darstellung dieses Typs könnten Anregungen zu Willehalms Botschaft an Terramer, daß man die gefallenen Heidenkönige schône nâch ir ê bestate (Wh 465,19f.), gekommen sein“ (Bumke 2004, S. 387), falls sie sich in W* fand. Ist die Übereinstim-

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mung aber Zufall, so wäre Wolframs christliche ‚Toleranz‘ sozusagen schon auf dem Stand von 1400 angelangt. Am interessantesten sind Hennings’ Überlegungen zur Zyklusfrage. Während Lofmark (1972, Bacon 1910 folgend) dazu neigt, W* für eine nichtzyklische Handschrift zu halten, meint Bumke (2004, S. 386 u. 389) Wolfram habe (vor allem am Anfang und am Ende des Wh) alle expliziten Vor- und Rückverweise auf andere Epen des Zyklus getilgt, während selbst die durch M repräsentierte Fassung M* aus einer zyklischen Handschrift stammen müsse, da sie eben solche Verweise enthalte. Hennings (2008, S. 158f.) hält diese dagegen nicht für Signale der handschriftlichen Zyklizität, sondern des mündlichen Vortrages, nach dem die Handschriften ursprünglich und so auch M* angefertigt wurden. So erinnert der Jongleur denn auch im Text von M an seine Entlohnung: Cum vos orez, si n’i faylent diner, / De Renoard qi ocist Loqefer (V. 3220f.: „Wie ihr hören werdet, wenn es dabei nicht an der Bezahlung mangelt, von Rainouart, der Loquifer erschlug“). Ob eine Epenhandschrift zyklisch ist, ergibt sich also nur aus der Überlieferung selbst. M* haben wir natürlich nicht. Aber es gibt kein Indiz dafür, daß es sich bei M nur um eine fragmentarische Handschrift handeln könnte. Alles in allem hält Hennings es für wesentlich wahrscheinlicher, daß Wolfram aus seiner Vorlage W* nur Al kennengelernt hat. Historie und Erzählung Im Prolog sagt Wolfram, daß der Landgraf Hermann von Thüringen († 1217) ihn „mit der Geschichte von Willehalm bekannt gemacht“ habe (Wh 3,8f.). Wie dies geschehen sei, sagt er nicht. Er weist die Geschichte aber eindeutig als französisch aus. Wie auch immer der Landgraf an den Text gekommen sein mag, wird er wahrscheinlich den Auftrag für die deutsche Bearbeitung gegeben haben, die im zweiten Jahrzehnt des 13. Jh. erfolgt sein dürfte. In Buch IX rühmt Wolfram die Freigebigkeit, die Landgraf Hermann „sein ganzes Leben lang“ gezeigt habe (417,22–26). Das konnte er nur nach Hermanns Tod 1217 sagen. Ob ihn dieser oder sein eigener Tod oder sonst ein Umstand daran gehindert hat, das Werk nach 13988 Versen fortzusetzen, wissen wir nicht. Zwar läßt sich nicht erkennen, wie die von Wolfram gegenüber der Vorlage vorgenommenen Änderungen in der Sinngebung des Textes eine wirklich befriedigende Lösung ohne Änderung der als grundsätzlich historisch verbindlich vorgegebenen Handlung noch ermöglicht hätten. Doch das erzwingt nicht notwendig die

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Annahme, Wolfram hätte das Werk auf keinen Fall irgendwie abschließen können, wenn nichts Äußeres dazwischengekommen wäre. Selten wird jedoch die Abhängigkeit von der Quelle von der Forschung wirklich ausreichend in Rechnung gestellt. Gewiß gibt es kaum eine entscheidende Handlungsmotivation, die im deutschen Text nicht gegenüber der Vorlage verschoben wäre. Doch was den Handlungsgang selbst betrifft, so sind die Abweichungen denkbar gering, denn das erzählte Geschehen im ganzen war schon deshalb sakrosankt, weil die „Zuordnung des ‚Willehalm‘ zur geschichtlichen Dichtung“ (Bumke 2004, S. 362) zweifellos das Richtige trifft. An der geglaubten Historie muß sich der deutsche Dichter hart abarbeiten, so daß schon daraus notwendig Brüche entstehen, nicht nur aus einer wie immer gearteten neuen originellen Poetik. Der Dichter preist im Prolog (Wh 4,30–5,15) die wahre, aber mirakulöse Geschichte von Willehalm als unübertrefflich süeze (Heinzle: „heilig“) an, was die Franzosen auch erkannt hätten. Unverfälscht soll sie nun auch im deutschen Sprachraum ein Zuhause finden. Der poetischen Metaphorik entkleidet, heißt das: Die – zumindest teilweise legendenhafte (Ohly 1961/62) – Historie trägt fürs erste ihren Wert schon in sich (Knapp 1997), soll als fremde, auswärtige erkannt, verstanden und respektiert werden (Pérennec 1994) und hier in der Fremde sich literarisch entfalten, zuerst einmal durch mündlichen Vortrag bei Hofe. Gleichgültig, ob Wolfram die französische Vorlage ganz oder teilweise selbst gelesen oder vorgelesen bekommen haben mag (Knapp 1974a), mit Buchgelehrsamkeit will der Dichter jedenfalls nichts zu tun haben (2,19f.) und seinem Publikum auch nichts Geschriebenes vorlegen (‚Parzival‘ 115,25–116,4; f V Percevalromane) – so wenig wie es die Jongleurs in Frankreich wollten (Rychner 1955). Ob Textkohärenz über weite Strecken da überhaupt das oberste ästhetische Prinzip gewesen sein kann? In der Vorlage, dem französischen Heldenepos ‚Aliscans‘ herrscht es jedenfalls noch nicht. Nach Alois Wolfs Feststellung „kommt das Aliscansepos über quantitatives Amplifizieren auf der Ebene der Vorstufen kaum hinaus, akkumuliert, statt neu und anspruchsvoll zu strukturieren, wenn auch einzelne Szenen und Erzählphasen großepisches Format erreichen“ (Wolf 1995, S. 215). Die holzschnittartige, wuchtige, expressive, teils brutal-heroische, teils brutal-burleske Erzählweise in ‚Aliscans‘ korrespondiert mit weltanschaulicher Eindimensionalität. Der Krieg gegen die Andersgläubigen erscheint als fraglos legitim. Daß die Welt in Kinder Gottes und Kinder des Satans zerfällt, gibt keinen Anlaß zum Zweifel an Gottes Gerechtigkeit. Wer sich nicht zu Christus bekennt, verdammt sich durch selbstverschuldete Blindheit gleichsam selbst, mag er nun Ketzer, Jude,

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Muslim oder Polytheist sein. So macht es auch keinen großen Unterschied, daß in den französischen Heldenepen und so auch in ihren deutschen Bearbeitungen den Muslimen fälschlich Vielgötterei zugeschrieben wird. Wir bezeichnen daher im folgenden wie die mittelalterlichen Texte die Muslime als Heiden. Wer im Kampf gegen die Andersgläubigen fällt, geht in den Wilhelmsepen (wie im ‚Willehalm‘) als Märtyrer ins christliche Himmelsparadies ein. Davon war man allgemein spätestens seit der Ausbildung der Kreuzzugsideologie und deren praktischer Erprobung im ersten Kreuzzug von 1098/99 überzeugt. Aber im Grunde war dies auch schon die ideologische Basis der Abwehr der muslimischen Einfälle in Frankreich, Italien und Spanien im Frühmittelalter sowie der Reconquista, als deren Ausgangspunkt man im literarischen Bereich die berühmte Niederlage von Roncesvalles annahm, die im Zentrum des französischen und des deutschen f ‚Rolandsliedes‘ (Teil B, Kap. 2.1) steht. Kaiser Karls – auf den Fall Rolands und seiner Gefährten folgender – Rachefeldzug zieht eine Kette heidnischer Invasionen in Frankreich nach sich, ‚mythische‘ Überhöhungen realer sarazenischer Piratenzüge in den französischen Heldenepen. Wolfram hat zwar vermutlich nur das zentrale Epos ‚Aliscans‘ aus dem Wilhelmszyklus gekannt (s.o.), den großen historischen Zusammenhang jedoch durch den Anschluß an das deutsche ‚Rolandslied‘ gesichert, auf welches er geradezu als chronikalen Tatsachenbericht rekurriert (Ashcroft 2002). Epische Objektivität und romanhafte Subjektivität Wie Walter Haug, der vehement auf der puren Fiktionalität des ‚Parzival‘ beharrt (dagegen Knapp 2005, S. 61–84), treffend feststellt, gibt Wolfram im Wh „die Ebene des Fiktiven auf, um sich wieder der Faktizität des Geschichtlichen zuzuwenden. Der ‚Willehalm‘ ist ein historisch-legendarischer Roman“ (Haug 1992, S. 180). Wohlgemerkt: ein Roman, denn die historischen Ereignisse werden nicht in epischer Objektivität präsentiert, sondern in ausgesprochen auktorialer, reflexiver, multiperspektivischer, eben romanhafter Subjektivität. Auf mannigfache Weise tritt der Erzähler allenthalben in eigener Person aus den Kulissen seines grausamen Kriegstheaters hervor, bewundernd, verachtend, lobend, verdammend, witzelnd, wehklagend, räsonierend, resignierend, kommentierend usw., so daß man durchaus den Eindruck erhält, als sei er selbst einer der Protagonisten. Die auktoriale Haltung bedeutet hier jedoch keine freie Verfügung über den Erzählstoff, sondern nur über die Deutung des Geschehens, welche aber

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auch und gerade in ihrer Begrenztheit manifest wird. Da hier ohne Zweifel eine gewisse Spannung zwischen historischem Stoff und romanhafter Darstellung herrscht, kann man den Wh durchaus „eine Hybride“ nennen (Johnson 1999, S. 358). Man kann Wolframs fulminanten, alle Normen sprengenden Stil nur bestaunen, der wirklich alle Register vom Erhabenen bis zum Grotesken, vom Naiven bis zum Gelehrten, vom Einfachen bis zum Ausgeklügelten zieht. Schon die Zeitgenossen haben die Dunkelheit vieler Ausdrücke bewundert und nachgeahmt. Uns verblüffen wohl am meisten die gewundenen Gedankengänge der epischen Vergleiche, welche das brutale Schlachtgemetzel veranschaulichen sollen, jedoch das geschilderte grauenhafte Geschehen für den heutigen Leser nur ästhetisch, nicht menschlich erträglicher machen. Doch dies alles ist nicht ‚franzigen‘, so daß es bei diesen Andeutungen bleiben muß. Die französische Herkunft von Stoff und Sprache des Werkes betont dagegen der Bearbeiter andauernd, angefangen von der Vorstellung des Helden als kuns Gwillâms de Orangis (Wh 3,11). Immer wieder verwendet er frz. Fremdwörter und bringt mehrere regelrechte Wortgleichungen, so 237,3 ‚herbergen‘ ist ‚loischiern‘ genant, wo er einen witzig-hintersinnigen Kommentar zu seinem ‚hybriden‘ Stil und zu seinen Französischkenntnissen sowie denen der Hörer/Leser anschließt (Wyss 2000) und wohl auch zur sprachlichen Alterität und Interferenz (Pérennec 1994, S. 177f.). Die Nennung fremd klingender (französischer und orientalischer) Namen macht ihm sichtlich Vergnügen. Mitunter greift er aber auch bewußt in den Lautstand ein, um sie für Kenner ‚volksetymologisch‘ durchschaubar zu machen, so z.B. bei Terramêr (terra + mer – also wohl „der über Erde und Meer Herrschende“) < frz. Desramé(s) (Knapp 1974a, S. 210), was seinerseits ‚volksetymologisch‘ („der Entästete, Zerstückelte“) aus arab. Abdarrahman umgeformt sein könnte. Die vielleicht erstaunlichste poetische Leistung Wolframs besteht in der für das Mittelalter absolut einmaligen Darstellung einer wogenden Massenschlacht mit ihren ineinandergreifenden synchronen Heeresbewegungen, die sich erst am Ende in die üblicherweise präsentierten Einzelkämpfe auflöst. Hier wird aber auch das übernatürliche Eingreifen Gottes, als dessen Werkzeug offenkundig der heidnische Riese Rennewart fungiert, manifest. Eine bequeme Lektüre ist das alles nicht, weder auf sprachlicher noch auf emotionaler Ebene. Nochmals ist aber darauf zu beharren, daß diese Erzählweise den ‚Willehalm‘ nicht zu einem epischen Text, der sich dem Publikum offen als fiktional präsentieren würde, umprägt. Da sie aber im großen und ganzen

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genau dieselbe wie im ‚Parzival‘ ist, fällt sie auch für diesen als eindeutiges Gattungsmerkmal aus. Vielmehr suggeriert der Erzähler ein Geschehenskontinuum vom ‚Parzival‘ zum ‚Willehalm‘ (Knapp 1996, S. 366), ja scheint sogar seine beiden Vorlagen demselben Autor zuzuschreiben, da er als diesen einen gewissen Kristjâns (Wh 125,20), also wohl Chrétien de Troyes, nennt. Der ‚Parzival‘ bildet so zusammen mit dem ‚Rolandslied‘ und dem ‚Eneasroman‘ den ‚historischen‘ Hintergrund des Wh (Volfing 2002, S. 47). Die Welt des Orients ist auch schon im ‚Parzival‘ (anders als in dessen Quelle) präsent. Belakane und Feirefiz scheinen fast zwei spiegelverkehrte Vorläufer Giburgs und Rennewarts (der allerdings noch mehr mit Parzival selbst gemein hat) zu sein. Es fragt sich nur, ob es eher auf Kontrast oder Kontinuität der beiden Werke deutet, wenn Wolfram das rücksichtslose Blutvergießen auf Alischanz mit dem vergleicht, was er früher (wo anders als im ‚Parzival‘?) von glimpflicher beendeten Kämpfen erzählt habe (Wh 10,22–26). Zur auktorialen Souveränität, und zwar nicht nur eines Romanautors, sondern sogar des Geschichtsschreibers, gehört die Disposition des vorgegebenen Stoffes. Wolfram hat gegenüber der Quelle die Handlung gestrafft, Willehalm entschiedener in den Mittelpunkt gerückt und auch Giburg stärker hervorgehoben. Am Anfang und am Ende des (unvollendeten) Werkes stehen die beiden Schlachten (Buch I–II und Buch VII–IX), die zusammen mehr als die Hälfte der Dichtung ausmachen und kunstvoll aufeinander bezogen sind. Auch der Mittelteil weist eine gewisse Symmetrie auf. Er besteht aus den beiden Reisen zwischen der Residenz des Markgrafen und des Königs und den beiden großen Hofszenen in Munleun/(Mont) Laon (Buch III–IV) und in Oransche/Orange (Buch V–VI). Am ersten Schauplatz wird wie im französischen Epos ein Lehenskonflikt zwischen dem Monarchen und einem Vasallen ausgetragen, am zweiten stehen die zwiespältigen Empfindungen der Protagonisten im Mittelpunkt. Entscheidend verändert erscheint die Disposition der zweiten Schlacht. Gesellschaftsstruktur und Politik, Macht und Gewalt Auf den Adelsdynastien beruht die Feudalstruktur des Karolingerreiches und seiner Nachfolgestaaten. Eine der Dynastien des Landes stellt jeweils den König, der mit dem Ausbau seiner monarchischen Macht aber in natürlichem Gegensatz zu den übrigen steht. Im französischen Wilhelmszyklus bildet die Sippe Aimeris von Narbonne (mit dem Spitzenahn Garin de Monglane) sozusagen das Rückgrat (Kullmann 1992; Peters 1999,

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S. 279–292). Wolfram hat sich hier angeschlossen, aber entscheidende Neuerungen durchgeführt (Peters 1999, S. 309–320; Przybilski 2000 u.a.). Insbesondere hat erst er auf der nichtchristlichen Seite als Gegenüber zur vergleichsweise wenig untergliederten Aimeri(Heimrich)-Sippe eine komplex strukturierte Großfamilie auftreten lassen, die mit Rennewarts und Arabels Großvater Kanabeus bis in die Zeitebene des ‚Rolandsliedes‘ zurückreicht (Peters 1999, S. 313). Man hat ca. 100 Personen gezählt, die auf beiden Seiten irgendwie miteinander verwandt sind, was als Chiffre für die Verwandtschaft aller Nachkommen Adams aufgefaßt werden könnte. Fragt sich nur, ob damit eher der faktische Widerspruch zwischen dieser Gemeinsamkeit aller Menschen und ihrer Spaltung im Glauben oder die potentielle Überwindbarkeit dieses Widerspruchs signalisiert werden soll. Wolfram scheint vordergründig durch die Änderung der Vorgeschichte die Kriegsursache eingeengt zu haben. Heimrich, der seine Söhne zugunsten eines Patensohns enterbt, treibt den Erstgeborenen, Willehalm, dazu, sich selbst ein Land zu erwerben. Dieser raubt Tybalt zugleich das Land, die Provence, und die Gattin, Arabel/Gyburg (vgl. Wh 11,8f.). Die ganze heidnische Sippe Tybalts eilt zur Rache herbei. Aber die entscheidenden Gründe liegen natürlich auch für Wolfram tiefer. Das wird allerdings erst allmählich im Verlauf des Werkes klar, nicht zuletzt durch die Anbindung an das ‚Rolandslied‘ (s.o.). Aber wenn, wie der Erzähler schon zu Anfang sagt, das große Leid der Welt seinen Anfang nahm, sît Jêsus in den Jordân / durch toufe wart gestôzen (Wh 4,28f.), so liegt für Wolfram die Schuld natürlich nicht beim Messias, sondern nur bei denjenigen, die ihn nicht anerkannt haben. Für ihn steht auch das Recht der Nachfolger Karls des Großen auf dessen gesamtes Reich nicht zur Debatte. Die Sarazenen hatten nicht den geringsten legitimen Anspruch auf die Provence, schon gar nicht auf die römische Krone, welchen Terramer geltend macht. Die christliche Eroberung des Landes hätte freilich nicht den Raub Giburgs erfordert. Doch auch deren Glaubenswechsel kann nicht sündhaft sein, auch wenn er grauenhafte Folgen hat: Unschuldic was diu künegîn (31,4). Wenn der Erzähler unmittelbar zuvor sagt (30,25): dîn minne den touf versnîdet, so beschreibt das nur die objektive Tatsache, daß die Verbindung mit Willehalm den Tod vieler Christen verursacht. Wenn Giburg sich selbst die Schuld an dem Leid gibt (310,17), so wertet das sie menschlich bloß auf. Schon in Al kann selbstverständlich die bekehrte Heidenprinzessin ihre positive Rolle an der Seite des Markgrafen nur spielen, weil sie ihm, abgesehen von ihrem Glauben, schon zuvor ebenbürtig war. Insofern ist Wolframs Neuerung in diesem Punkt so radikal wiederum nicht, aber sie macht einiges explizit, was in Al eher vorausgesetzt wird: „Die im eigenen Le-

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bensbereich praktizierte höfische Kultur zeigt sich in der epischen Welt Wolframs als ein universalistisch gültiges Prinzip der kollektiven ritterlichen Lebensführung. Die Erfahrung weitreichender Übereinstimmungen tritt an die Stelle der Distanzerfahrung“ (Kleppel 1996, S. 239). Alle tapferen Ritter auf beiden Seiten kämpfen für ihre Anführer, ihre Länder, ihre Familie, ihre Religion und die Minne. Ja, es scheint, daß auf heidnischer Seite die Frauenverehrung sogar eine größere Rolle spielt. Da in den Kriegern beider Seiten sich alle menschlichen Vorzüge (tugende) des Edelmutes, Anstandes, Frauendienstes, der Tapferkeit, Treue, Freigebigkeit usw. vereinigen, ist schon aus diesem Grunde der Tod nicht nur eines christlichen, sondern auch eines heidnischen Kämpfers so beklagenswert. Jedesmal, wenn wieder einer der prächtigen Minneritter fällt, beschwört der Erzähler den Schmerz, der dadurch bei allen Damen ausgelöst wird. Der in Munleun ausgetragene Lehenskonflikt zwischen dem Monarchen und seinem Vasallen ist ein typisches Zentralmotiv der Chansons de geste. Wie meist bleibt auch in ‚Aliscans‘ der Vasall letztlich nicht nur Sieger, sondern hat auch alle Sympathien auf seiner Seite. All seine brutalen Übergriffe erscheinen gerechtfertigt angesichts eines derart schwachen und herrschaftsunfähigen Königs und seiner bösartigen Gattin. Wolfram hat sie etwas aufgewertet, weit mehr aber noch den König Loys, den er nicht seiner ganzen herrschaftlichen Würde berauben will. Gleichwohl wird der Hof insgesamt als verweichlicht, dem Wohlleben huldigend, somit unwillig und unfähig, das Land zu verteidigen, dargestellt und Willehalms Zorn so entschuldigt (Haug 1989). Besonders gravierend ist der ‚Verrat‘ der Königin an ihrer Sippe, die nun hier gesammelt beim Hoftag auftritt und dann auch die Wende bringt. Dennoch merkt man hier, wie der Bearbeiter mit dem widerständigen Material, d.h. dem vorgegebenen Handlungsverlauf, ringt. Wenn Willehalm plötzlich behauptet, er habe Arabel aus Rache für Tybalts angeblichen Ehebruch mit der Königin entführt, so ist das „gänzlich abwegig“ (Bumke 2004, S. 328). Es fängt jedoch halbwegs die derbe Beschimpfung der Schwester als Hure aus Al auf und kann noch dazu eine notdürftige subjektive Rechtfertigung für den Schwestermord liefern, der, auch wenn er in letzter Minute verhindert wird, mit Wolframs Sippendenken wohl kaum vereinbar war. Den französischen Patriotismus (Stichwort: la douce France) hat Wolfram durch den Reichsgedanken ersetzt, die Idealvorstellung vom fortlebenden Imperium Romanum, das durch Karl den Großen erneuert worden ist und nun seine Reichszentren in Aachen und Rom hat (Bumke 1959). René Pérennec hat darüber hinaus gezeigt, daß Wolfram dem rîche keine speziell deutsche, rechtsrheinische Schlagseite verleiht, sondern eine ‚lotharingi-

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sche‘, indem er die Flamen, Lothringer und insbesondere die Provenzalen den verweichlichten Franziern (aus der Île de France) und Burgundern gegenüberstellt. Die Provence ist auch im Hochmittelalter noch integraler Teil des rîches, welches andererseits bei Wolfram teilweise die Konturen des alten fränkischen Reiches zurückgewinnt (Pérennec 1994; 2005, S. 162–169; ähnlich, aber auch wieder in Frage stellend Schmid 1995). Daß Wolfram die Provence aus eigener Anschauung kannte, hat schon Mohr (1979, S. 298*-307*) wahrscheinlich gemacht. Glaubenskrieg und Schonungsgebot Im ‚Willehalm‘ geht ein religiöser Riß durch die Welt und so auch mitten durch die Protagonisten Giburg und Rennewart. Willehalm vermag erst nach der zweiten gewonnenen Schlacht, von der schwersten äußeren Bedrohung befreit, sich der Sicht seiner Gattin anzunähern und ihren besiegten heidnischen Verwandten ein wenig entgegenzukommen. In der Realität des Kreuzzuges im Heiligen Land zu Anfang des 13. Jahrhunderts war eine solche (temporär und lokal begrenzte) Haltung nicht mehr so einmalig (Schnell 1993). Doch Wolfram zielte auf eine viel frühere Zeit und Situation. Die christlichen Ritter kämpfen zwar auch hier in und mit dem Zeichen des Kreuzes, aber sie ziehen nicht auf Geheiß des Papstes und der Kirche zur Eroberung oder Verteidigung des Heiligen Landes übers Meer. Der Glaubensgegensatz war damals im 9. Jh. freilich derselbe gewesen. Terramer versucht als Vater, aber auch als weltliches Oberhaupt der ‚Heidenschaft‘, deren Geistlichkeit Bestrafung des Verrats fordert, seine Tochter zur Rückkehr zu überreden, droht aber zugleich für den Fall der Ablehnung mit der Hinrichtung. Gegen Giburgs Versuche seiner Bekehrung stellt er sich taub. Die beiden tauschen die damals schon traditionellen kontroverstheologischen Argumente aus (vgl. zuletzt Wells 2002). Giburg ist aus Überzeugung zum anderen Glauben übergetreten, ihre Liebe zu Willehalm hat den Schritt allerdings wesentlich befördert. Doch sie fühlt sich schuldig an dem endlosen Blutvergießen und leidet daran deshalb grenzenlos, weil hier ihre Verwandten einander gegenüberstehen, ihr erster ihrem zweiten Mann, ihre eigenen Brüder den Brüdern des zweiten Mannes. Von all dem weiß Al so gut wie nichts. Vor der zweiten Schlacht gibt Giburg ihrer verzweifelten Lage beredten Ausdruck. Diese entscheidende Neuerung gegenüber der Vorlage hat in der älteren Forschung den irreführenden Namen „Toleranzrede“ erhalten. Doch nicht einmal ‚Friedensrede‘ würde die Sache treffen. Giburg stellt

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mit keinem Wort Gerechtigkeit und Notwendigkeit dieses Krieges von christlicher Seite in Frage, aber sie bittet um Schonung der Feinde im Falle eines Sieges. Denn sie alle seien Gottes eigenhändige Schöpfung (Wh 306,28: gotes hantgetât ). Sie erinnert daran, daß Menschen des Alten Testaments wie Enoch, Noe oder Hiob sowie die Weisen aus dem Morgenland Heiden waren und doch gerettet wurden. Ja, Gott hat die Menschen, die ihn doch mit der Erbsünde verraten haben, erlöst und selbst seinen Mördern am Kreuz verziehen. So sollen auch die siegreichen Christen Erbarmen zeigen. die heiden hin zer vlust sint alle niht benennet (307,14f.: „Nicht alle Heiden sind zur Verdammnis bestimmt“) ist der Kernsatz. Sie können also – und mehr ist damit nicht gesagt – gerettet werden, wenn nicht der leibliche Tod ihnen dafür Zeit und Möglichkeit raubt. Wenn Giburg in den Versen 307,25–30 möglicherweise sogar Gott als Vater aller Menschen apostrophiert, so nur in einem weiteren Sinne, in Gleichsetzung von Schöpfer und Vater, wie sie von den Theologen gelegentlich vorgenommen wurde (Backes 1967). Die absolute Heilsnotwendigkeit der Bekehrung wird damit nicht angezweifelt. Gerade weil der Tod des Unbekehrten zugleich die Verdammnis bedeutet, fleht Giburg um Schonung der Besiegten. Gewiß offenbart der ‚Willehalm‘ wie der ‚Parzival‘ eine für jene Zeit bemerkenswert tolerante Gesinnung – Toleranz in der Bedeutung von Dulden des fremden, abweichenden Verhaltens, ohne daß dieses deshalb anerkannt oder gar gebilligt würde (Sabel 2003). „Daß der Erzähler beachtet, was ze bêder sît geschieht, unterscheidet die deutsche Dichtung vom Erzählstil der französischen Vorlage, wo das ganze Geschen nur von der christlichen Seite geschildert wird“ (Bumke 2004, S. 370). Unglaube erscheint ja, ganz anders als in Al oder dem französischen und deutschen ‚Rolandslied‘, nicht als Ergebnis eines moralischen Defektes, sondern eines fatalen Irrtums. Aus der in Al fehlenden Schlußszene des deutschen Fragments hat man eine besondere Achtung vor der fremden Überzeugung herausgehört. Doch erklärt sich Willehalms Geste zuerst einmal aus Rücksicht auf Giburgs Blutsbande mit den heidnischen Gefangenen und Toten. Sie kann auch einfach gelebter Nächstenliebe entspringen, wie sie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lc 10,30–37) auch gegenüber Andersgläubigen befahl. Schließlich kann, wie wir gesehen haben, eine Anregung durch W* nicht ausgeschlossen werden. Wenn für die meisten Forscher Willehalms Schlußgeste nicht mehr fraglos als „menschliche Tat ohnegleichen“ (Greenfield/Miklautsch 1998, S. 193) gelten kann, so erscheint auch die seit jeher umstrittene Frage der ‚Entwicklung‘ des Helden von der Tötung des wehrlosen Arofel bis zur

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Schonung des gefangenen Matribleiz nicht mehr gar so drängend. Sofern diese als ‚humane‘ Abweichung von der Vorlage eingestuft werden kann, so geht diese Abweichung gleichwohl eben nur so weit, daß sie eine harmonische Gesamtlösung in keiner Weise erzwingt. Die brutale Tötung Arofels und der dadurch mögliche (und handlungsnotwendige!) Raub seiner Rüstung standen dagegen in der Quelle. Hier ändert sich, wie so oft bei Wolfram, nur die Handlungsmotivation. Willehalm übt hier Sippenrache für Vivianz. Glaubenszweifel und Theodizee Der zwischen den Religionen stehende Heide Rennewart ist vielleicht die erstaunlichste inhaltliche Neuerung Wolframs gegenüber seiner Quelle. Während in Al König Louis dem jungen Heiden die Taufe verweigert, lehnt in der deutschen Bearbeitung Rennewart sie (vorläufig) selbst ab, obwohl er sich damit zu niedrigen Diensten und zur Ferne von der Königstochter Alize verdammt, der er seit frühen Tagen herzlich zugetan ist, nachdem er im Heidenland geraubt und als Sklave an den christlichen König verkauft worden war. Zu seinen heidnischen Verwandten versperrt ihm dagegen sein Haß den Weg, der auf dem Irrtum beruht, sie hätten ihn verraten und absichtlich in der Fremde ‚vergessen‘. Er zieht daher nicht aus Glaubensüberzeugung, aber gleichwohl freiwillig mit Willehalm in den Krieg gegen die Heiden, mithin gegen seine eigenen Verwandten. Damit verstößt er gegen das von allen Protagonisten hochgehaltene Prinzip der Sippenbindung und tötet sogar – unwissend – seinen Halbbruder. In seiner Verweigerung der Taufe manifestiert sich aber gerade eine Bindung an die Religion der Väter, die sich ebensowenig wie das Band der Sippe so einfach abstreifen läßt. Das würde ein echtes Bekehrungserlebnis voraussetzen, wie es Giburg erfahren hat, und dieses wiederum die helfende Gnade Gottes, deren Rennewart aber in seinem Verwandtenhaß (noch) gar nicht würdig ist. Hierin liegt die – von Wolfram völlig eigenständig und auch noch nicht völlig explizit dargestellte – persönliche Tragik dieser Gestalt (Knapp 1983). In Al sind die Hindernisse auf dem Weg zu Rainouarts Glück und Heil der üble taufverweigernde König, die daher anfangs mangelnde kämpferische Bewährung und die innerlichen Defizite Rainouarts, seine Einfalt, Vergeßlichkeit und unbeherrschte Emotionalität. Mit dieser Gestalt seiner Vorlage hatte Wolfram offensichtlich besonders große Schwierigkeit, glaubte er doch, in ihr eine Art zweiten tumben Parzival zu erkennen, wäh-

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rend sich das französische Publikum gerade an diesem riesenhaften Tollpatsch und Schlagetot ergötzen sollte. Die Gewalttaten seiner Lieblingsfigur vor dem Eingreifen in das Kriegsgeschehen kann Wolfram nur ein wenig abmildern und unzureichend ‚psychologisch‘ erklären. Wenn Young (2000, S. 64–81) wiederum Rennewarts Wut, Rachsucht und Egoismus stärker betont, so kehrt er damit unbeabsichtigt die Abhängigkeit von der Vorlage hervor. Im Vergleich zu dieser wirkt Rennewart freilich doch um einiges zivilisierter (Pérennec 2005, S. 155–161). Der Handlungsverlauf vor Rennewarts Verschwinden im Kampfgewühl deutet vorläufig auf keinerlei Lösung des Konflikts, im Gegenteil. Denn der Sieg der Christen, der ohne die gewaltigen Taten des Riesen Rennewart nicht möglich wäre, fällt ja mit der Tötung des Halbbruders zusammen. Wenn Wolfram geplant haben sollte, Rennewart, der nach eigenen Aussagen schon ein wenig dem Christentum zuneigt, nach dem Sieg zur Bekehrung zu führen und ihn mit Alize zu verbinden, so läßt sich dies nach den Änderungen der Motivation gegenüber Al mit der dort erzählten Geschichte kaum noch vereinbaren. Hier scheint Willehalms grenzenlose Trauer um den vermißten heidnischen Riesen, der die Christen vor seinen eigenen Verwandten und Glaubensbrüdern gerettet hat, doch weit besser am Platze zu sein. „Nachdem der Sieg der guten Sache erfochten ist, senkt sich eine Verdüsterung über die Dichtung, in der wohl ihre tiefste Wahrheit liegt“ (Mohr 1979, S. 328*). Denn in dieser Welt bekehren sich die Heiden in ihrer großen Masse doch nicht, sie werden die Christen weiter tödlich bedrohen oder von diesen, wenn Gott das Blatt einmal wendet wie in dieser Schlacht, niedergemetzelt werden wie das liebe Vieh (Wh 450,18–20). Giburg hat also ganz vergeblich ‚gepredigt‘, und der Erzähler verurteilt die Tötung der Fliehenden scharf. Und Willehalms Andeutung einer möglichen ‚friedlichen Koexistenz‘ bleibt mehr als vage. Die neuere und neueste Forschung hat vielfach „widersprüchliche Denkmuster und Wertorientierungen“ (Wachinger 1996, S. 59) im ‚Willehalm‘ konstatiert. Was das ‚Psychogramm‘ der drei Hauptgestalten betrifft, so stoßen sich in der Tat im seelischen Raum ältere, aus Al stammende Intentionen mit jüngeren der Bearbeitung. Daß aber Wolfram gleichzeitig für den Heidenkrieg und das Schonungsgebot plädiert, die Standpunkte im Text aber nicht vermittelt habe, wie dies zuletzt Bumke, viele Stimmen zusammenfassend, feststellt (Bumke 2004, S. 372f.), hat weder mit einer gescheiterten (Fuchs 1997) noch mit einer besonders originell-innovativen (Young 2000) Erzählstrategie zu tun, sondern entspringt einer existentiellen Sinnkrise.

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Aus dem Meer des Hasses tauchen im Laufe der Erzählung nur wenige Momente der Liebe auf, der Liebe zwischen Blutsverwandten und der Liebe zwischen Mann und Frau. Zu den wichtigsten Neuerungen Wolframs gehören die innigen Eheszenen von Giburg und Willehalm, worin ein neues, zukunftsweisendes Liebes- und Eheideal (Schumacher 1967) zum Vorschein kommt, welches sich der Gottesliebe nicht entgegenstellt, sondern einfügt. Doch selbst an einen der liebeserfüllten Momente des Eheglücks schließt der Erzähler eine vielsagende Klage über die Erde als Jammertal an (Wh 280,12–20). Es ist ein Glaube des Trotzdem, der hier noch übrig bleibt. Aus dem schrecklichen Geschehen ist er nicht zu schöpfen, allein aus den Zeichen göttlicher Liebe, die sich „durch Gottes herrliches Wirken in der Natur“ (Haug 1992, S. 196) – der Prolog des Dichters und Giburgs Rede beschwören es –, in menschlicher Liebe und in der Verheißung himmlischer Seligkeit ausdrückt. Für den Christen gehören zu den Heilsvermittlern auch Gottes Heilige, und als solche erscheinen im Wh auch Giburg (403,1) und Willehalm (4,13), welcher die Nöte eines Ritters aus eigener Erfahrung kenne und daher jeden Ritter, der sich an ihn wende, als Anwalt bei Gott vertreten werde. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die literarische Gattung der Legende. In einer solchen müßte man aber unbedingt die Erzählung des seligen Hinscheidens im Geruch der Heiligkeit erwarten. Sie fehlt jedoch – anders als bei Vivianz – sowohl bei Giburg als auch bei Willehalm, dessen menschliche Schwächen uns zudem der Erzähler gar nicht vorenthält. Wolfram scheint also vorauszusetzen, daß sein primäres Publikum von dem frommen Ende der beiden Protagonisten im Kloster weiß. Das fragmentarisch hinterlassene Werk schweigt davon. Im Gegensatz zur älteren Forschung (Mergell 1936 u.a.) glaubt heute niemand mehr, das Werk sei in der vorliegenden Gestalt vollendet. Ebensowenig hält man aber auch eine (bis zum Abbruch des Werks) geplante erfolgreiche Bekehrung der Heiden (Wolff 1934, S. 536) oder auch nur eine Lösung ganz im Sinne von Al (Lofmark 1972) für möglich. Wenn vermutlich äußere Umstände für die Unabgeschlossenheit verantwortlich sind, so könnten sie in einer Arbeitspause eingetreten sein, die durch Ratlosigkeit des Dichters selbst bedingt war. Die französische Vorlage, welche dem deutschen Dichter die Grundzüge der Handlung ‚diktiert‘ hat, wäre dann an allem ‚schuld‘, an der Inspiration zu diesem vielleicht berührendsten epischen Werk des deutschen Mittelalters, aber auch am Abbruch des Werkes.

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3.3 Der ‚Rennewart‘ Ulrichs von Türheim von Thordis Hennings Überlieferung und Gliederung des ‚Rennewart‘ – Die französischen Vorlagen des ‚Rennewart‘ – Inhaltsvergleich von ‚Rennewart I‘ und ‚Aliscans‘ (Laisse CLVII–CIC) – Inhaltsvergleich von ‚Moniage Rennewart‘ und ‚Moniage Rainouart‘ (Laisse I–CCVII) – Inhaltsübersicht über den Malefer-Teil – Inhaltsvergleich von ‚Moniage Willehalm‘ und ‚Moniage Guillaume II‘ – Zusammenfassung der Ergebnisse

Überlieferung und Gliederung des ‚Rennewart‘ Um 1250 (möglicherweise aber auch beträchtlich später; Strohschneider 1996, Sp. 35f.) hat Ulrich von Türheim, vermutlich ein ostschwäbischer Ministeriale, sich des unvollendeten ‚Willehalm‘ angenommen und diesen fortgesetzt (siehe dazu V. 156ff.). Sein riesiges, insgesamt 36518 Verse umfassendes Werk setzt gegen Ende der zweiten Alischanzschlacht, mit den letzten Kämpfen des Riesen Rennewart, ein und schildert u.a. dessen weiteres Leben bis zum Tod. Dementsprechend wird es von der Forschung gemeinhin als ‚Rennewart‘ bezeichnet. Erst nach einem Abriß des Lebens von Rennewarts Sohn Malefer schildert Ulrich in einem letzten Teil das weitere Schicksal des Haupthelden aus dem ‚Willehalm‘, des Markgrafen Willehalm von Orange. Bis ins 15. Jahrhundert hinein ist der ‚Rennewart‘ stark rezipiert worden. Von seiner großen Beliebtheit zeugen über 40 erhaltene Handschriften und Fragmente (Klein 1998, S. 451–493), die Illuminationszyklen und die Prosaauflösung im sog. ‚Zürcher Buch vom heiligen Karl‘. Acht Handschriften überliefern den gesamten Willehalm-Zyklus, der über 60000 Verse umfaßt. Der Schwerpunkt der handschriftlichen Überlieferung liegt im schwäbisch-bairischen Raum und fällt in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts. Der Inhalt des ‚Rennewart‘ läßt sich in vier große Handlungsblöcke untergliedern: 1.) ‚Rennewart I‘ (V. 1–9297) 2.) ‚Moniage Rennewart‘ (V. 9298–26046) 3.) Malefer-Teil (V. 26047–33162) 4.) ‚Moniage Willehalm‘ (V. 33163–36518)

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Die französischen Vorlagen des ‚Rennewart‘ Mit Ausnahme des Malefer-Teils basiert das Werk auf französischen Chansons de geste aus dem cycle de Guillaume d’Orange. In V. 10277ff. nennt Ulrich sogar explizit den Vermittler der französischen Quelle(n), den Augsburger Bürger Otto den Bogner. Der erste Teil, also ‚Rennewart I‘, folgt einer nicht erhaltenen (Kurz-) Version der ‚Bataille d’Aliscans‘ (Al). Der ‚Moniage Rennewart‘ liegt die ‚Moniage Rainouart‘ (MR) und der ‚Moniage Willehalm‘ eine verlorengegangene (Kurz-)Redaktion der ‚Moniage Guillaume‘ (MG) zugrunde. Entgegen der selbst noch in der jüngsten Forschung vertretenen Auffassung (Strohschneider 1996, Sp. 36; Bastert 2002; Sabel 2003) zählt die ‚Bataille Loquifer‘ nicht zu Ulrichs Vorlagen (Hennings 2008, S. 378f.). Das Verhältnis des ‚Rennewart‘ zu seinen frz. Vorlagen ist in der Forschung bislang auf nur sehr geringes Interesse gestoßen. Die letzte ausführlichere quellenkritische Untersuchung stammt aus dem Jahr 1896 (Becker 1896, S. 79–86) und beschränkt sich zudem nahezu ausschließlich auf die ‚Moniage Willehalm‘ und deren Verhältnis zur ‚Moniage Guillaume‘. Das Desinteresse der Forschung ist sicherlich zu einem großen Teil auf die negativen Werturteile zurückzuführen, die bereits die älteste Forschung über Ulrichs Werk gefällt hatte. So bezeichnete schon Jakob Grimm (1882, S. 24) das Werk als ein „trockenes, geschwätziges Gedicht, das keinen Abdruck verdient“. Während die romanistischen Forscher insbesondere die Abweichungen gegenüber den französischen Vergleichstexten verurteilen und sie als „geistlose und unverantwortliche Entstellungen“ (Becker 1896, S. 85) ansehen, wird der ‚Rennewart‘ von den Germanisten oftmals viel zu streng an der Qualität von Wolframs ‚Willehalm‘ gemessen. Daher wird im weiteren auch Ulrichs Umgang mit dem fortgesetzten Werk (in aller hier gebotenen Kürze) näher beleuchtet. Um aber zunächst Ulrichs Verhältnis zu seinen frz. Vorlagen analysieren und fundierte Aussagen über seine Qualitäten als Bearbeiter machen zu können, erfolgt im weiteren (mit Ausnahme des Malefer-Teils) zu jedem Handlungsteil des ‚Rennewart‘ ein Überblick über die grobe Handlungsstruktur inklusive (in eckigen Klammern) der Angabe der entsprechenden Laissen in den frz. Vergleichstexten. Die wichtigsten Abweichungen werden ebenfalls vermerkt. Für einen detaillierteren Inhaltsüberblick über die vier Teile des ‚Rennewart‘ sowie einen ausführlichen text- und quellenkritischen Vergleich mit der jeweiligen frz. Vorlage sei auf meine Habilitationsschrift verwiesen (Hennings 2008, S. 264–501).

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Inhaltsvergleich von ‚Rennewart I‘ und ‚Aliscans‘ (Laisse CLVII–CIC) Die Angabe der entsprechenden Laissen in ‚Aliscans‘ basiert auf dem Text der sog. kritischen Ausgabe von Wienbeck/Hartnacke/Rasch 1903 (WHR). V. 1–168: Prolog. [Keine Entsprechung in Al.] V. 169–531: Rennewart und Terramer versuchen vergeblich, einander zu bekehren. Das Gespräch endet in einem Zweikampf. [Siehe Al, Laisse CLVII–CLIX. In den Laissen CLIX–CLXV folgen ein Angriff der Heiden auf Rainouart, dessen Zweikampf mit Tenebré, eine anschließende Massenschlacht sowie die Rachepläne der Heiden für den Tod Haucebiers. Der Inhalt dieser Laissen fehlt in ‚Rennewart I‘.] V. 532–619: Rennewart erschlägt mehrere fliehende Heidenkönige, Terramer flieht nach Kordes. [Siehe Al, Laisse CLXVI–CLXVII.] V. 620–929: 10000 in Alischanz zurückgelassene Heiden verwüsten ein Bohnenfeld. Rennewart erschlägt 1500 Heiden, gewährt dann aber einem Schonung. [Siehe Al, Laisse CLXVII u. CLXXVIII–CLXXIX; die Tötung der 1500 und die Schonung des einen haben jedoch keine Entsprechung in Al.] V. 930–1693: Rennewart siegt im Zweikampf über den heidnischen Riesen Baldewin. Dieser gibt sein Taufversprechen und kehrt nach Falfunde zurück. Rennewart tötet die 10000 Heiden, die das Bohnenfeld verwüstet haben. [Siehe Al, Laisse CLXVI–CLXXIX.] V. 1694–2128: Willehalm vergißt Rennewart und kehrt nach Orange zurück. Rennewart schwört Rache und erschlägt mit seinem tinel zwei von Willehalms Boten. Dank des Eingreifens von Kyburg versöhnen sich Rennewart und Willehalm aber wieder. [Siehe Al, Laisse CLXXX–CLXXXIV.] V. 2129–2831: Kyburg erkennt, daß Rennewart ihr verschollener Bruder ist. Rennewart empfängt die Taufe und verkündet seine Heiratspläne. Nach seiner Schwertleite bewährt er sich in einem Probelanzenritt. [Siehe Al, Laisse CLXXXIVbde u. CLXXXVIII–CLXXXIX.] V. 2832–3429: Taufe von Baldewin und 20000 Heiden aus seinem Gefolge. Willehalm entsendet Brautwerber zu König Loys, um im Namen Rennewarts um Alyzes Hand zu bitten. [Siehe Al, Laisse CLXXXIX–CXC.] V. 3430–3861: Rennewart leidet unter heftigen Minnequalen und reitet gemeinsam mit Willehalm an den frz. Königshof nach Munleun (= Laon). [Keine Entsprechung in Al.] V. 3862–4385: Ankunft der Brautwerber am frz. Königshof. Unter Androhung von Gewalt stimmt Loys den Hochzeitsplänen zu. [Siehe Al, Laisse CXCI–CXCIV.] V. 4386–5004: Alyze gesteht ihre Minne zu Rennewart. Es folgen die Hochzeitsvorbereitungen. [Keine Entsprechung in Al.] V. 5005–5667: Hochzeit von Rennewart und Alyze. Nach dem Vollzug des Beilagers prophezeit ein Engel den Tod Alyzes bei der Geburt des noch in der Hochzeitsnacht gezeugten Sohnes. [Siehe Al, Laisse CXCIV–CXCV: Die Hochzeit findet hier jedoch in Orange statt, das Beilager sowie die Botschaft des Engels fehlen bzw. finden sich an einer späteren Stelle (Laisse CIC). Nur in der Al-Handschrift C finden sich sowohl das Beilager als auch der Vorverweis auf Maillefers und Aélis’ Tod.] V. 5668–6901: Erneut belagert Terramers Heer Orange. Willehalm reitet nach Munleun, um Rennewart um Hilfe zu bitten. Aus Liebe zu Alyze verweigert dieser seine

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Hilfe. Während Willehalms Abwesenheit haben die Heiden dank eines von Gott gesandten Unwetters die Flucht ergriffen. [Keine Entsprechung in Al.; in Laisse CXCV findet sich lediglich ein Vorverweis auf Desramés baldigen Angriff auf Orange. In den Laissen CXCV–CIC kündigt der Erzähler die nachfolgende ‚Bataille Loquifer‘ an. Anschließend werden die Heimreise Aimeris und seiner Söhne und der Wiederaufbau von Orange geschildert. Der Inhalt dieser Laissen fehlt in ‚Rennewart I‘.] V. 6902–8853: Nachdem Rennewart die Herrschaft über Portebaliart angetreten hat, fallen heidnische Heerscharen ein. Der Kampf endet mit dem Sieg der Christen (Sargwunder). Der von Rennewart besiegte Pantanyse empfängt gemeinsam mit 15000 Heiden die Taufe. [Siehe Al, Laisse CIC: Hier finden sich allerdings nur ganz vereinzelte Übereinstimmungen mit ‚Rennewart I‘.] V. 8854–9297: Geburt Malefers, Alyzes Tod und Malefers Taufe. [Siehe Al, Laisse CIC: Hier wird auf Aélis’ Tod bei Maillefers Geburt und auf dessen Taufe nur kurz vorausgewiesen.]

Wie der Vergleich mit den entsprechenden Laissen aus Al (nach WHR) zeigt, basiert der erste Teil des ‚Rennewart I‘ (zumindest im wesentlichen) zweifelsfrei auf einer Version der ‚Bataille d’Aliscans‘. Ulrichs direkte Quelle, *‚Aliscans‘, ist allerdings nicht überliefert. Daher ist folgendes zu beachten: Wenngleich sich nur bei den nachgewiesenen Übereinstimmungen mit Al konkrete Aussagen über Ulrichs Umgang mit seiner Quelle treffen lassen, könnten sich durchaus auch diejenigen Textstellen, die keine oder nur eine partielle Entsprechung in den erhaltenen bzw. gedruckten Al-Handschriften aufweisen, ebenfalls als Entlehnungen aus der (nicht erhaltenen) Quelle erweisen. Für gut ein Drittel von ‚Rennewart I‘ findet sich aber ohnehin eine (bisweilen stark übereinstimmende) Entsprechung in den Laissen CLVII– CIC. Vor allem bis zu Baldewins Taufe (‚Rennewart‘, V. 3078) ist der Übereinstimmungsgrad mit Al sehr hoch. Mitunter erstrecken sich die Übereinstimmungen bis ins kleinste Detail. So sind z.B. oftmals für den Handlungsverlauf vollkommen irrelevante Episoden sowie Namensformen nahezu unverändert aus der Vorlage entlehnt. Ulrich war also zumindest im ersten Teil des ‚Rennewart‘ zweifellos bestrebt, seine frz. Quelle möglichst getreu ins Deutsche zu übertragen. Dies läßt die Schlußfolgerung zu, daß auch diejenigen Textstellen, die keine Entsprechung in WHR haben, zumindest zu einem Großteil bereits in *‚Aliscans‘ vorhanden waren. Beckers Behauptung, Ulrichs habe sich bei seiner Bearbeitung „jede Freiheit erlaubt“ und seine Quelle bisweilen stark „verunstaltet“ (Becker 1896, S. 83), erweist sich also (zumindest für ‚Rennewart I‘) als nicht haltbar. Ab Vers 3079 (Entsendung der Brautwerber an der frz. Königshof) steigt die Zahl der Abweichungen vom frz. Vergleichstext deutlich an.

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Daher stellt sich die Frage, ob *‚Aliscans‘ hier von allen überlieferten AlHandschriften abgewichen ist oder ob sich Ulrich im weiteren Verlauf seiner Arbeit stärker von seiner Vorlage gelöst, sich also von einem anfänglich getreuen Übersetzer zu einem freieren Bearbeiter entwickelt hat. Wie ein Blick auf das fortgesetzte Werk, den ‚Willehalm‘ zeigt, so finden sich insgesamt 12 Textstellen, die keine Entsprechung in Al, aber eine eindeutige Parallele in Wolframs Werk haben. Bei allem Bemühen, seiner frz. Quelle möglichst getreu zu folgen, hat sich Ulrich also doch hin und wieder als Bearbeiter, speziell als ‚Willehalm‘-Fortsetzer, erwiesen. Bei einigen Entlehnungen aus dem ‚Willehalm‘ handelt es sich sogar um Textstellen, die in deutlichem Widerspruch zu dem in Al berichteten Geschehen stehen, wie z.B. der Rückverweis auf den früheren Kuß zwischen Rennewart und Alyze (‚Rennewart‘, V. 2633; vgl. Wh 213,21–28 u.a.). Auch die gegenüber Al weitgehend neu hinzugefügte und geradezu leitmotivisch wiederkehrende Minnethematik könnte auf den Einfluß des ‚Willehalm‘ zurückzuführen sein (siehe u.a. Aderhold 1997, S. 146–276, insbesondere S. 223 u. 209). Dafür, daß Ulrich hier gegenüber seiner Vorlage geändert hat, spricht vor allem, daß das Thema Minne in den französischen Chansons de geste gattungsbedingt kaum eine Rolle spielt. Abgesehen von den (nachgewiesenen und möglichen) Entlehnungen aus dem ‚Willehalm‘ finden sich in ‚Rennewart I‘ auch zahlreiche Übereinstimmungen mit anderen zeitgenössischen mittelhochdeutschen Werken, wie dem ‚Rolandslied‘, dem ‚Karl‘ des Stricker, dem ‚Alexanderroman‘, dem ‚Erec‘ oder dem ‚Parzival‘. Bei diesen Übereinstimmungen handelt es sich jedoch großteils um Stereotypen und Topoi (aus den Bereichen Religion, Emotionen, höfisches Zeremoniell, Kampfschilderungen u.a.). Dies könnte als ein Indiz dafür gesehen werden, daß Ulrich ein gewisses Maß an Selbständigkeit im Umgang mit seiner frz. Vorlage gewonnen hat, aber generell ist zur Zeit der Entstehung des ‚Rennewart‘ der Fundus an stereotypen Erzählmustern derart angewachsen, daß sich ein direkter Entlehnungsweg nicht mehr nachzeichnen läßt. Denkbar wäre auch, da die betreffenden Stereotypen und Topoi zugleich vielfach ein für Chansons de geste typisches Motivmaterial darstellen, daß es sich (zumindest bei einer Vielzahl) um Entlehnungen aus *‚Aliscans‘ handelt. Abgesehen von den nachgewiesenen Übereinstimmungen mit dem ‚Willehalm‘ muß also bei den Abweichungen gegenüber dem Vergleichstext die Frage der Urheberschaft weitgehend unbeantwortet bleiben. Wenden wir uns daher zunächst dem Umfang beider Texte zu. Auffallend ist beim Vergleich mit Al (nach WHR), daß ‚Rennewart I‘ weitaus weniger Verse umfaßt. Vor allem die Anzahl der Zweikämpfe ist deutlich geringer.

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Daß die Kürzungen aber nicht kurzerhand Ulrich zugeschrieben werden dürfen, sondern durchaus ebenfalls von einem frz. Bearbeiter stammen könnten, zeigt schon ein Blick auf die stark divergierende Zahl der Zweikämpfe in den überlieferten Al-Handschriften. Bei *‚Aliscans‘ könnte es sich um eine Kurzfassung handeln, die, wie ein stichprobenartiger Textvergleich gezeigt hat (Hennings 2008, S. 304–306), insbesondere den AlHandschriften L und V nahegestanden haben dürfte. Denn auch dort ist die Anzahl der Zweikämpfe, verglichen mit den Langfassungen, deutlich reduziert. So fehlen z.B. Rainouarts Zweikämpfe gegen die Heidenkönige Tenebré, Eüré und Haucebier. Weitere Überlegungen zu der möglichen Redaktionszugehörigkeit von *‚Aliscans‘ finden sich bei Hennings (ebd.). Angesichts der Quellenlage kann also auch die Frage, ob Ulrich in der Anzahl der Zweikämpfe seiner Quelle getreu gefolgt ist oder hin und wieder auch selbständig den einen oder anderen Kampf getilgt hat, nicht definitiv beantwortet werden. Für letztere Annahme könnte aber zumindest sprechen, daß Ulrich generell (beruhend auf den Einfluß des ‚Willehalm‘?) bemüht war, das für die Gattung der Chansons de geste typische hohe Maß an Brutalität abzuschwächen. Zusammengefaßt können wir festhalten: Beim ersten Teil des ‚Rennewart‘ handelt es sich einesteils um eine weitgehend getreue Übersetzung von *‚Aliscans‘ und andernteils um eine aus anderen deutschsprachigen Werken, vorrangig aus dem ‚Willehalm‘ schöpfende Bearbeitung. Inhaltsvergleich von ‚Moniage Rennewart‘ und ‚Moniage Rainouart‘ (Laisse I–CCVII) Die Angabe der entsprechenden Laissen in der ‚Moniage Rainouart‘ basiert auf dem Text der Handschrift C (Ausg. Bertin 1973). V. 9298–9693: Nach Malefers Entführung zieht sich Rennewart aus Trauer vom weltlichen Leben zurück. [Siehe MR, Laisse I.] V. 9694–10247: Malefer wächst bei Tybalt in Kordes auf. [Keine Entsprechung in MR.] V. 10248–11589: Vor seinem Eintritt in das Kloster St. Julian zwingt Rennewart einen schwarzen Mönch zum Kleidertausch und erschlägt einige Einwohner der Stadt Prides. Anschließend tötet er den Pförtner des Klosters. Nach seiner Aufnahme ins Kloster erweist er sich trotz zahlreicher Verstöße gegen die Klosterregeln als sehr hilfreich im Kampf gegen heidnische Räuber. [Siehe MR, Laisse II–XXIX: Der Kampf gegen die Räuber wird hier wesentlich detaillierter geschildert.] V. 11590–11959: Malefer wächst indessen in der Obhut Tybalts heran und schwört, für das den Heiden angetane Unrecht Rache an den Christen, allen voran an Rennewart und Willehalm, zu üben. [Siehe MR, Laisse XLIV–XLVI.]

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V. 11960–13169: Rennewart plündert ein Schiff, erschlägt die heidnische Besatzung und läßt Terramer die toten Heiden als ‚Geschenk‘ überbringen. Daraufhin rüstet dieser zum Krieg gegen die Christen. Malefer hegt Zweifel an seiner Herkunft und beschließt, seinen wahren Vater zu suchen. [Siehe MR, Laisse XXX–XXXIII: Hier zeigen sich jedoch insbesondere bei den Namen beträchtliche Abweichungen. Überdies weiß Maillefer, daß Rainouart sein Vater ist, hält diesen aber für tot. In den Laissen XXXVI–LVII wird geschildert, wie die Heiden als Kaufleute verkleidet nach Bride (= Brioude) segeln und Rainouart aufs Schiff locken. Nachdem dieser alle Heiden erschlagen hat, treibt er hilflos auf dem Meer, kehrt aber nach seiner Rettung ins Kloster zurück. Indessen plündern die Heiden unter Maillefers Führung Portebaliart und ziehen weiter nach Orange. Der Inhalt der Laissen XXXVI–LVII fehlt in der ‚Moniage Rennewart‘.] V. 13170–15535: Belagerung von Orange und Ausfall der Christen. Willehalm besiegt Matusalan und Tybalt im Zweikampf. Malefer kämpft zwar auf der Seite der Heiden, tötet aber versehentlich einige von ihnen. [Siehe MR, Laisse LVIII–LXXII: Willehalms Kampf gegen Matusalan und Tybalt hat hier aber keine Entsprechung. Der in Laisse LIX–LXX geschilderte Zweikampf zwischen Guillaume und Maillefer fehlt hingegen in der ‚Moniage Rennewart‘.] V. 15536–16565: Willehalm sucht Rennewart, findet ihn schließlich im Kloster St. Julian und reitet mit ihm zurück nach Orange. Bei der Verfolgung von heidnischen Rittern sinkt Rennewart im Moor ein, wird aber von Willehalm gerettet. [Siehe MR, Laisse LXXIV–LXXXVI.] V. 16566–17982: Nach der Ankunft von Rennewart und Willehalm in Orange wird ein alles entscheidender Zweikampf zwischen Malefer und Rennewart vereinbart. In einer Kampfpause erkennen sich die Kampfgegner. Es folgt der Bericht Rennewarts über sein bisheriges Schicksal. [Siehe MR, Laisse LXXXVII–XCVI: Hier weicht jedoch die Schilderung des Zweikampfes beträchtlich ab. Rennewarts Bericht über sein bisheriges Schicksal fehlt an dieser Stelle (siehe aber Laisse LXXVIII). Die in Laisse XCVI– XCIX geschilderte Massenschlacht, die Flucht der Heiden und die Genesung Rainouarts und Maillefers dank eines Wundersteins haben hingegen in der ‚Moniage Rennewart‘ keine Entsprechung.] V. 17983–19305: Malefer will die Heiden bekehren oder gegen sie kämpfen, gewährt dann aber selbst denjenigen Schonung, die hartnäckig die Taufe verweigern. Die Heiden geloben Frieden, nur Tybalt schmäht Malefer und flieht nach Kordes. Matusalan und viele seiner Gefährten empfangen die Taufe. Es folgt ein Gespräch über die Minne zwischen Malefer und Willehalm. [Keine Entsprechung in MR; die in Laisse C geschilderte Taufe Maillefers, die Übertragung der Herrschaft über Portebaliart und Maillefers Heirat mit Ysoire haben hingegen keine Entsprechung in der ‚Moniage Rennewart‘.] V. 19306–20047: Rennewart übergibt Malefer die Herrschaft über Portebaillart und kehrt ins Kloster zurück, wo er fortan ein vorbildliches Mönchsleben führt. [Siehe MR, Laisse C-CI.] V. 20048–20216: Willehalms Rückkehr nach Orange. [Keine Entsprechung in MR; dort wird in Laisse CI–CLXXXVI berichtet, wie Rainouart nach seiner Rückkehr ins Kloster den Pförtner und einige seiner Mitbrüder tötet und wie die daraufhin gemeinsam mit dem Abt Henri Mordpläne schmieden. Nach einem Kampf gegen die als Mönche getarnten Heiden gerät Rainouart in einen Sturm, erobert schließlich den Turm von Aiete, der daraufhin von den Heiden belagert wird. Maillefer und Guillaume segeln nach Aiete. Nach einigen Kampfhandlungen wird ein alles entscheidender Zweikampf vereinbart. Hier schließt der sog. Gadifer-Teil an (Laisse CLXXXVI–CLXXXVIII).

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Sowohl der Inhalt der Laissen CI–CLXXXVI als auch der Laissen CLXXXVI– CLXXXVIII hat keine Entsprechung in der ‚Moniage Rennewart‘.] V. 20217–21903: Terramer schmiedet erneut Rachepläne. Willehalm reitet nach Portebaliart und bittet Malefer um Hilfe. Auch Loys und die frz. Königin sowie sein Vater Heimrich und seine Brüder sagen ihre Hilfe zu. Anschließend reitet Willehalm nach St. Julian und kehrt gemeinsam mit Rennewart nach Orange zurück. [Siehe MR, Laisse CVII–CXI: Die Parallelen sind hier allerdings nur sporadisch.] V. 21904–25213: In Orange überfallen 10 Heiden Willehalm im Schlaf. Es folgt ein Überraschungsangriff der Christen gegen das heidnische Lager, der in einer Massenschlacht endet. Beide Seiten erleiden unzählige Verluste. Willehalm wird im Zweikampf gegen König Ignoledoch verwundet. Nach ihrem Sieg lassen die Christen Rennewarts gefangene Brüder sowie Tybalt frei und gestatten den Heiden, ihre im Kampf gefallenen Könige einzubalsamieren. Terramer erneuert seinen Friedensschwur. Nur Tybalt zeigt sich unversöhnlich und schmäht Malefer erneut. Vor der Heimreise der Heiden erfolgt ein Einschub über die Minne von Passiguweiz zu Kassine. [Keine Entsprechung in MR.] V. 25214–26046: Rennewart kehrt ins Kloster zurück. Malefer begibt sich nach Portebaliart, und Willehalm und Kyburg führen ein friedliches und gottgefälliges Leben in Orange. Nach weiteren drei Jahren im Kloster stirbt Rennewart. Ein Engel verkündet sein Seelenheil. [Siehe MR, Laisse CCVII: Hier wird berichtet, daß auch Maillefer zwei Monate nach Rainouart stirbt und in Gadiferne begraben wird. Nachdem Tiebaut von ihrem Tod erfahren hat, fällt er in Gadiferne ein, verwüstet zahlreiche Länder und tötet unzählige Christen. Als Guillaume und Guiborc von dem Einfall der Heiden und dem Tod Rainouarts und Maillefers erfahren, herrscht in Orange Trauer. Der Inhalt dieser Laisse hat keine Entsprechung in der ‚Moniage Rennewart‘.]

In der ‚Moniage Rennewart‘ zeigen sich deutlich mehr Abweichungen gegenüber dem frz. Vergleichstext als im ersten Teil des ‚Rennewart‘. Nur ca. ein Fünftel hat eine Entsprechung in der ‚Moniage Rainouart‘. Wenngleich sich auch in diesen Fällen der Übereinstimmungsgrad generell als recht hoch erweist und somit Ulrichs enge Bindung an seine frz. Vorlage belegt, finden sich doch keine Beispiele für eine wortgetreue Übersetzung (wie in ‚Rennewart I‘). Auffallend ist, daß sich Ulrich anscheinend insbesondere in den letzten 6000 Versen zunehmend von seiner Vorlage gelöst hat. Denn von Vers 20048 (Malefers Herrschaftsantritt in Portebaliart) bis Vers 26046 (Ende der ‚Moniage Rennewart‘) finden sich nur mehr sporadische Übereinstimmungen mit dem frz. Vergleichstext. Schon in rein quantitativer Hinsicht weichen beide Texte sehr stark voneinander ab: Der deutsche Text ist beträchtlich kürzer. Mitunter fehlen ganze Handlungsblöcke (wie z.B. die Belagerung von Aiete und der Gadifer-Teil). Auffallend ist, daß derartige extreme Kürzungen mit einer bemerkenswerten Konsequenz durchgeführt wurden und somit keine groben Verstöße gegen die Erzähllogik zur Folge haben, was eines weitreichenden Überblicks über die Gesamthandlung bedarf. Da es im Unterschied zu der Überlieferung von ‚Aliscans‘ keine erhaltenen Kurzfassun-

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gen der ‚Moniage Rainouart‘ gibt, ist die Annahme, Ulrichs direkte Vorlage, die *‚Moniage Rainouart‘ könne bereits die groben Kürzungen aufgewiesen haben, nicht sehr wahrscheinlich. Es spricht vielmehr einiges dafür, diese Kürzungen (zumindest teilweise) Ulrich zuzuschreiben: Denn in einigen Fällen erweisen sich die Kürzungen als zwingend notwendig, um grobe Verstöße gegen die Erzähllogik des deutschen Textes zu vermeiden. Ein Beispiel wäre die Tilgung des in der ‚Moniage Rainouart‘ (Laisse CCVI) erwähnten Ablebens von Maillefer. Denn der Tod Malefers hätte (im Unterschied zum cycle de Guillaume, wo die ‚Moniage Guillaume‘ in der Regel direkt an die ‚Moniage Rainouart‘ anschließt) angesichts der Schilderung seiner Taten im nachfolgenden Malefer-Teil einen krassen Bruch in der logischen Struktur des Gesamttextes bedeutet. Da der Malefer-Teil ja, wie gesagt, nicht auf einer frz. Vorlage basiert, kommt als Urheber der o.g. Kürzung folglich nur Ulrich in Frage. Wenden wir uns aber zunächst den anderen Abweichungen, insbesondere den inhaltlich bedeutsamen (d.h. Änderungen und Zusätzen), zu: Auch diese setzen zu einem Großteil einen weitreichenden Überblick über das Handlungsgeschehen voraus. Ich greife zwei Beispiele für bedeutsame Änderungen heraus: zum einen das grundlegend geänderte Verhältnis von Rennewart zu seinen Mitbrüdern und zum anderen die ersten Anzeichen für ein friedliches Miteinander von Christen und Heiden an Stelle der stereotypen und anscheinend endlosen Spirale von Krieg und Rache sowohl in der ‚Moniage Rainouart‘ als auch in den frz. Chansons de geste generell. Was die Darstellung Rennewarts anbelangt, so ist diese Figur verglichen mit dem frz. Text deutlich positiver und weitaus weniger aggressiv. Während Rainouart in der ‚Moniage Rainouart‘ keine Bereitschaft zeigt, sich an die strengen Klosterregeln zu halten, im Affekt wiederholt seine Mitbrüder schlägt und bisweilen sogar tötet, mit der Folge, daß diese seine unkontrollierten Wutausbrüche fürchten, weist Rennewart im deutschen Text nicht nur ein beträchtlich geringeres Maß an Aggressionspotential auf, sondern ist (wenngleich anfangs auch nicht immer mit Erfolg) um ein friedliches Miteinander mit seinen Mitbrüdern und um die Einhaltung der strengen Klosterregeln bemüht. Diese grundlegende Änderung der Figurenkonzeption des Helden bedingt auch eine Änderung in der Darstellung anderer Figuren. Während in der ‚Moniage Rainouart‘ die Mönche und insbesondere der Abt ausgesprochen negativ gezeichnet werden und selbst vor perfiden Mordplänen nicht zurückschrecken, um ihren verhaßten Mitbruder loszuwerden, sind im deutschen Text die Mitbrüder und der Abt Rennewart nach anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten durchaus wohlgesonnen, da er sie von den Räubern erlöst und ihrem Kloster zu

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Wohlstand verholfen hat. Diese Änderung bedingt zugleich eine Tilgung zahlreicher Passagen im deutschen Text, wie z.B. der Mordpläne des Abtes Henri. Die zweite gravierende Änderung, die deutlichen Anzeichen für eine friedliche Koexistenz von Christen und Heiden, zeigt sich insbesondere gegen Ende der ‚Moniage Rennewart‘. Die weitgehend optimistische (bereits auf den Malefer-Teil vorausweisende) Schlußgestaltung hat keinerlei Parallelen in der ‚Moniage Rainouart‘. Dafür, beide Änderungen Ulrich zuzuschreiben, sprechen folgende Argumente: Zum einen knüpfen sie eng an den ‚Willehalm‘ an (siehe die Darstellung Rennewarts bei Wolfram und vor allem die sog. Matribleizszene). Zudem widerspricht die Tendenz, den Grad an Brutalität abzuschwächen, generell der Erzählhaltung der französischen Chansons de geste. Zum anderen ist die Friedensperspektive offenbar als ein ganz bewußt entwickeltes Gegenkonzept zu dem für die frz. Chansons de geste typischen Erzählmuster von nicht endenden Kämpfen zwischen Heiden und Christen zu verstehen. Ulrich berichtet gegen Ende der ‚Moniage Rennewart‘ zunächst, wie Terramer erneut mit einem riesigen Heer in Orange einfällt und schemagerecht den zahlenmäßig unterlegenen Christen unterliegt. Nach dem Sieg der Christen konvertieren zahlreiche Heiden zum christlichen Glauben. Aber auch denjenigen, die am heidnischen Glauben festhalten, wird freier Abzug und die Einbalsamierung der gefallenen Könige gewährt, nachdem sie geschworen haben, nie wieder in christliche Länder einzufallen. Die hier anklingende Friedenspolitik wird zu dem zentralen Thema im nachfolgenden Malefer-Teil. An Stelle der finalen Schlacht in Orange berichtet die ‚Moniage Rainouart‘ von einem Einfall der Christen in Tiebauts Herrschaftgebiet Aiete und von weiteren Heidenkämpfen – ein Ende der Gewaltspirale ist hier nicht in Sicht. Derartige, die Gesamtkonzeption betreffende Änderungen machen, wie wir zuvor festgestellt haben, auch einen beträchtlichen Teil der Kürzungen zwingend notwendig und setzen folglich einen kompetenten (recht freien) Bearbeiter (Ulrich?) voraus. Haben wir es für die Mehrzahl der inhaltlichen und quantitativen Abweichungen im ersten Teil des ‚Rennewart‘ noch als durchaus wahrscheinlich erachtet, daß es sich um Entlehnungen aus der frz. Vorlage, einer nicht erhaltenen Kurzfassung von Al, handelt, kommen wir für die ‚Moniage Rennewart‘ zu einem anderen Ergebnis: Wie sich gezeigt hat, sprechen einige schlagkräftige Argumente dafür, daß es sich zumindest bei einem Großteil der inhaltlich bedeutsamen Abweichungen (Kürzungen, Änderungen, Zusätze) um Eingriffe des deutschen Bearbeiters in seine frz. Vorlage und nicht um Übernahmen aus der *‚Moniage Rainouart‘ handelt. Diese These wird insbesondere durch folgende Ände-

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rungen gestützt: An einigen Stellen knüpft das in der ‚Moniage Rainouart‘ geschilderte Geschehen inhaltlich unmittelbar an die in der ‚Bataille Loquifer‘ geschilderten Ereignisse an. Hier war also Ulrich angesichts seiner Unkenntnis der im cycle de Guillaume unmittelbar auf ‚Aliscans‘ folgenden ‚Bataille Loquifer‘ geradezu gezwungen, in seine Vorlage einzugreifen, um gravierende Brüche in der Erzähllogik zu vermeiden (vgl. Hennings 2008, S. 308f., 370f. u. 378f.). Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Im Unterschied zur ‚Moniage Rainouart‘ ist Terramer (anknüpfend an ‚Rennewart I‘ und an den ‚Willehalm‘) immer noch das Oberhaupt der Heiden, und Tybalt hat weiterhin seine typische Rolle als negativ gezeichneter und selbst von den Heiden geringgeschätzter Schwiegersohn Terramers inne. In der ‚Moniage Rainouart‘ ist hingegen Tiebaut, da Desramé (= Terramer) infolge des in der ‚Bataille Loquifer‘ geschilderten Geschehens für tot gehalten wird, das Oberhaupt der Heiden, und ihm wird großer Respekt gezollt. Derartige, durch das Fehlen der ‚Bataille Loquifer‘ aus handlungslogischer Sicht zwingend notwendige Eingriffe in die französische Vorlage erfordern ein beträchtliches Maß an Selbständigkeit. Ulrich stellt hier also durchaus seine Fähigkeiten als Bearbeiter unter Beweis. Von diesen zeugt zudem die enge inhaltliche Vernetzung mit dem ersten Teil des ‚Rennewart‘ durch zahlreiche Rückverweise und Motivdoppelungen (Hennings 2008, S. 374f.). Dem Werk hingegen, wie es vor allem die ältere Forschung getan hat, jegliche, auch gedankliche, Homogenität abzusprechen (vgl. u.a. Westphal-Schmidt 1979, S. 265) ist schlichtweg ungerechtfertigt. Daß nicht nur die bedeutsameren, sondern auch eine Vielzahl von inhaltlich weniger wichtigen Abweichungen von Ulrich stammen dürfte, legen wiederum zahlreiche Übereinstimmungen mit anderen mittelhochdeutschen Epen, allen voran natürlich dem ‚Willehalm‘ nahe. So spielt beispielsweise auch hier die Minnethematik, die – wie wir in der Analyse von ‚Rennewart I‘ festgestellt haben – auf dem Einfluß der bei Wolfram vorkommenden Minnebeziehungen beruhen dürfte, eine zentrale Rolle (ganz im Unterschied zur ‚Moniage Rainouart‘, wo z.B. die Ehe Maillefers mit Ysoire nicht aus Minne, sondern aus rein politischem Kalkül geschlossen wird). Die Frage nach der Herkunft der auch in diesem Teil vorhandenen hohen Zahl von Stereotypen und Topoi bleibt – aus bereits genannten Gründen – außer Betracht.

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Inhaltsüberblick über den Malefer-Teil Da sich für diesen dritten Teil des ‚Rennewart‘ keine direkte frz. Vorlage nachweisen läßt, erfolgt hier nur ein möglichst knapp gehaltener Handlungsüberblick über den deutschen Text. Malefer segelt nach Falfunde und trifft Vorbereitungen für eine Heerfahrt nach Baldag. Dort angekommen, fordert er unter anderen die Länder Baldag und Samargone und schwört Rache an Tybalt. Terramer sieht sich schließlich genötigt, Malefer fiantze zu schwören, Tybalt hingegen flieht. Auf Betreiben der Söhne Terramers wird der Kampf wieder aufgenommen, doch nach Terramers Unterwerfung versöhnen sich beide Parteien. Die Heiden beschließen, gemeinsam mit Malefers Heer gegen den König Faufaserat von Marroch zu ziehen, doch Malefer bricht im Vertrauen auf Gottes Hilfe ohne das heidnische Heer gen Marroch auf. Im Kampf gegen Faufaserat siegen die zahlenmäßig stark unterlegenen Christen. Nachdem Malefer die Heiden vor die Wahl „Taufe oder Tod“ gestellt hat, gibt ihm Faufaserat seine fiantze. Doch auf der Ebene von Astarat, wo sich alle Heerscharen (einschließlich der Truppen Terramers) versammeln, verweigert er (ganz im Unterschied zu seinem Sohn Gamelerot) die Taufe, ebenso die Übergabe seiner Länder an Malefer und verspricht diesem statt dessen die Hand Bearosines. In der Nacht erscheint Malefer ein Engel, der ihm verkündet, daß Faufaserat an seinem heidnischen Glauben festhalten wird und Gott ihm, Malefer, die Königin Penteselie als künftige Ehefrau auserkoren hat. Malefer sieht daraufhin von einer Zwangstaufe ab, gibt Gamelerot, der inzwischen die Taufe empfangen hat, stellvertretend für Tybalt einen Versöhnungskuß und begibt sich nach Marroch. Nach der Taufe von Bearosine und ihrer anschließenden Hochzeit mit Passiguweiz bricht Malefer mit Gamelerot und 21 christlichen Königen zur Weiterreise nach Asya auf. Auf der Reise leidet Malefer heftige Minnequalen. An Land angekommen, siegen er und seine Gefährten über das Heer des Königs Tachalaz von Kappadocia. Dieser verweigert die Taufe, bleibt aber dank Gamelerots Schonungsgebot am Leben. Das christliche Heer erreicht Regralataz und siegt nach Malefers Kampf gegen vier Riesen bei der Burg Viprenate Raste über die Heiden. Der nachfolgende Überraschungsangriff Befamereits, des Königs von Jerigente und Regralataz, endet ebenfalls mit dem Sieg der Christen und der Schonung der besiegten Gegner. Befamereit erhält sogar die Erlaubnis, die gefallenen Heiden vom Schlachtfeld fortzuführen. In der Nacht erscheint erneut der Engel und verkündet Malefer das bevorstehende Zusammentreffen mit Pentesilie. Es kommt zur prophezeiten Begegnung: Nach einem Begrüßungskuß unterwirft Pentesilie Malefer und zwingt ihn, mit ihr nach Ephesus zu reisen. Es folgt ein Bericht über das Wesen der Amazonen. Nach der Hochzeit vergibt Malefer Lehen an 23 Könige. Malefer und Pentesilie führen eine glückliche Ehe, aus der ihr gemeinsamer Sohn Johannes erwächst, der seinen Vater an Stärke und Schönheit noch übertrifft. Später erhält er die Rüstung seines Urahnen Tanchanyse und kämpft an der Seite seines Vaters erfolgreich gegen drei Könige vom Wilden Meer. Angesichts seines Kampferfolges äußert Johannes den Wunsch, in weiteren Heidenkämpfen großen Ruhm zu erwerben. Pentesilie verbietet es ihm jedoch, bis er sein 20. Lebensjahr erreicht hat. Der Erzähler weist auf den Tod Malefers und Pentesilies und ihrer beider Seelenheil voraus. Der Malefer-Teil endet mit einem Epilog.

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Ulrich, der sich zu Beginn des ‚Rennewart‘ (speziell im ersten Drittel von ‚Rennewart I‘) noch als ein möglichst getreu der Vorlage folgender Übersetzer erwiesen hat, hat sich im weiteren Handlungsverlauf zusehends von seiner frz. Vorlage gelöst und sich vor allem in der ‚Moniage Rennewart‘ (insbesondere in den letzten 6000 Versen) zu einem recht freien Bearbeiter entwickelt. Im Malefer-Teil hat nun diese Entwicklung zweifelsohne (schon in Ermangelung einer direkten Vorlage) ihren Höhepunkt erreicht. Denn während der cycle de Rainouart (mit Ausnahme der Handschrift V [Paris, B.N. ms. fr. 24370], in der noch die Chanson ‚Renier‘ nachfolgt) mit dem in der ‚Moniage Rainouart‘ geschilderten Tod Rainouarts und Maillefers endet, setzt Ulrich im dritten Teil des ‚Rennewart‘ in über 7000 Versen weitgehend selbständig die Handlung um Rennewarts Sohn Malefer bis zu dessen Tod fort. Als Anregungen für die Maleferhandlung könnten ihm u.a. die Gahmuret-Feirefiz-Handlung im ‚Parzival‘ und das angedeutete Orientabenteuer Willehalms im ‚Willehalm‘ sowie die Eroberungszüge Alexanders des Großen gedient haben. Wenngleich Ulrich – wie zahlreiche Parallelen in anderen Werken belegen – hier wiederum (allerdings in weitaus höherem Maße als in den ersten beiden Teilen) aus dem reichen Fundus an Stereotypen, Topoi und Erzählschemata der (klassischen) mittelhochdeutschen Literatur – allen voran dem ‚Willehalm‘, dem ‚Parzival‘, dem ‚Trojaroman‘, dem ‚Nibelungenlied‘ und den sog. Brautwerbungsepen – schöpft, so kombiniert, variiert und ergänzt er die entlehnten Versatzstücke hier doch in der Regel viel freier und fügt sie so in den Kontext ein, daß ein ‚neues‘ Handlungsgeflecht mit durchaus innovativen Zügen entsteht. Daher kann man ihm insbesondere für diesen Teil eine gewisse schöpferische Originalität schwerlich absprechen. Diese zeigt sich insbesondere in der Darstellung der Minnebeziehung zwischen Pentesilie und Malefer. Die Forschung ist hingegen zu einer ganz anderen Einschätzung gelangt. So hat z.B. Busse (1913, S. 159) behauptet, der Malefer-Teil sei „gänzlich jeder originellen Erfindung bar“. Dieses Urteil ist keineswegs aufrechtzuerhalten, wenngleich man auch nicht ins Gegenteil verfallen und den Malefer-Teil als geniale Neuschöpfung ansehen darf. Etwa mit der ehemaligen Amazonenkönigin Pentesilie hat Ulrich eine Figur geschaffen, die in mehreren Zügen an die Pentesiliefigur im ‚Trojaroman‘ sowie an die Brünhild im ‚Nibelungenlied‘ erinnert, aber als ganze in ihrer Hybridität und Heterogenität in der zeitgenössischen Literatur ihresgleichen sucht. Einerseits wird sie, insbesondere nach ihrer von Gott bestimmten Heirat mit Malefer, geradezu zu einer Ikone christlicher Tugenden stilisiert (im Gegensatz zu anderen mittelalterlichen Werken, in denen Amazonen stets als Heidinnen dargestellt werden),

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andererseits vollzieht sie abrupt den Rollenwechsel von einer höfischen Minnedame zu einer über übernatürliche Kräfte verfügenden ehemaligen Amazonenkönigin, die ihren zukünftigen Gatten nicht durch ihre Reize, sondern mit körperlicher Gewalt zur Reise nach Ephesus zwingt. Wie in der ‚Moniage Rennewart‘ zeugen auch in diesem Teil zahlreiche intratextuelle Verweise (Rückverweise, Motivdoppelungen), die diesen Teil eng mit den vorhergehenden Teilen, vor allem mit der ‚Moniage Rennewart‘, vernetzen, von Ulrichs Bearbeiterqualitäten. Doch andererseits werden gerade im Malefer-Teil seine erzählerischen Grenzen deutlich. Denn dieser Teil bezahlt seine ‚Originalität‘ mit eklatanter Inhomogenität und Hypertrophie. So erscheint die Handlung an einigen Stellen unmotiviert, an anderen finden sich (schwere) Widersprüche und mitunter sogar groteske Verzerrungen. Zum Beispiel ist der geographische Rahmen von Malefers Orientabenteuern schlichtweg unsinnig, und selbst die zuvor entworfene Friedensutopie wird am Ende durch Malefers und Penteselies Sohn Johannes wieder (zumindest ansatzweise) in Frage gestellt, da dieser offenkundig großen Gefallen am Heidenkrieg findet und sich – gemäß der traditionellen Kreuzzugsideologie – durch die Tötung der Heiden das ewige Seelenheil verdienen will (anders Aderhold 1997, S. 288f.). Inhaltsvergleich von ‚Moniage Willehalm‘ und ‚Moniage Guillaume II‘ (Laisse I–CV) Neben der ‚Moniage Guillaume II‘ gibt es eine beträchtlich kürzere Version, die ‚Moniage Guillaume I‘ (Ausg. Cloetta 1906/11). Mit dieser stimmt der deutsche Text, sowohl was den Umfang als auch den Inhalt betrifft, zwar oftmals enger überein als mit der ‚Moniage Guillaume II‘, doch da die ‚Moniage Guillaume I‘ bereits mitten in der Schilderung der Belagerung von Paris durch den Riesen Ysoré (Laisse XXXIII) abbricht, stellt ab Vers 35185 bis zum Ende der ‚Moniage Willehalm‘ die ‚Moniage Guillaume II‘ die alleinige Vergleichsbasis dar. Da sich (bis zur Ysoréepisode) bei allen Gemeinsamkeiten mit der ‚Moniage Guillaume I‘ auch zahlreiche ausschließliche Übereinstimmungen mit der ‚Moniage Guillaume II‘ nachweisen lassen, dürfte Ulrichs Vorlage für diesen Teil des ‚Rennewart‘ eine nicht erhaltene ‚Moniage original‘ (*‚Moniage Guillaume‘) gewesen sein, auf die auch die beiden frz. Moniages zurückgehen, und die sich dank der ‚Moniage Willehalm‘ zumindest in Teilen rekonstruieren läßt.

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V. 33163–33689: Kyburg und Willehalm entsagen dem weltlichen Leben. Kyburg lebt fortan als Inkluse. [Keine Entsprechung in MG II: Hier ist Guiborc bereits verstorben, eine Parallele ist nur Guillaumes Entschluß, ins Kloster zu gehen.] V. 33690–34158: Willehalm wird Mönch im Kloster St. Julian, kämpft gegen Holzdiebe und kümmert sich demütig um die Versorgung der Hühner. [Siehe MG II, Laisse II–V: Hier ist das Kloster, in das Guillaume eintritt, das Kloster Aignienes. Der Kampf gegen die Holzdiebe fehlt, ebenso die Versorgung der Hühner. Was den Namen des Klosters betrifft, in das Willehalm im deutschen Text eintritt, zeigt sich eine wichtige inhaltliche Parallele in der ‚Moniage Guillaume I‘. Denn dort wird immerhin eine kurze Zwischeneinkehr Guillaumes im Kloster Saint-Julien erwähnt.] V. 34159–34331: Nach acht Jahren stirbt Kyburg. Aus Trauer führt Willehalm fortan das Leben eines Eremiten. Seine Nahrung erhält er durch ein Speisewunder. [Keine Entsprechung in MG II: Die einzige Parallele ist der Rückzug Guillaumes ins Eremitenleben. In MG II folgt hier in Laisse VI–XXXVI die Räuberepisode (s.u.). Anschließend wird berichtet, wie Guillaume nach seiner Rückkehr ins Kloster den Türsteher, den Prior und mehrere Mönche tötet. Nach der Versöhnung entschließt er sich, ein Eremitendasein zu führen. Der Inhalt dieser Laissen hat an späterer Stelle nur vereinzelte Entsprechungen in der ‚Moniage Willehalm‘. Auch die Gaidonepisode, der anschließende Bau eines Klosters in der Einöde bei Montpellier (= das spätere Kloster Gellone) und Guillaumes Sieg über einen Riesen (siehe MG II, Laisse XXXVI–LI) haben keine Entsprechung in der ‚Moniage Willehalm‘. Der Bau des Klosters beginnt dort erst nach der Ysoré-Episode. Keine Entsprechung hat auch die in Laisse LI–LXXIX geschilderte Synagonepisode (Guillaumes sieben Jahre währende Gefangenschaft in Palerne, der Sieg der Franzosen, die Rückkehr Guillaumes ins Kloster und der Vorverweis auf den Kampf gegen Ysoré).] V. 34332–34824: Einfall der Heiden in Paris unter Matribuleiz. Der von Loys entsandte Knappe Bomesheitis berichtet Willehalm von der Bedrängnis der Christen. Auf göttlichen Befehl begibt sich Willehalm nach Paris. Zuvor vernichtet er Kräuter in seinem Garten (Unkrautepisode). [Siehe MG II, Laisse LXXX–LXXXIV: Hier zeigen sich jedoch beträchtliche Abweichungen.] V. 34825–35184: Die Heiden fliehen kampflos. Willehalm erhält von Gott den Auftrag, bei Mumbasiliere ein Kloster zu erbauen. [Hier finden sich in MG II nur sporadische Entsprechungen.] V. 35185–35473: Willehalm begibt sich nach Paris auf der Suche nach Ysoré. Der anschließende Zweikampf endet mit dem Tod Ysorés. [Siehe MG II, Laisse LXXXVI– CIII: Hier begibt sich Guillaume allerdings zunächst in das Kloster Aignienes, um dort sein Pferd und seine Waffen zu holen. Auch die Kampfschilderung weicht beträchtlich ab.] V. 35474–35732: Willehalm arbeitet am Bau des Klosters und siegt über den Teufel, der den Bau einer Brücke mehrfach sabotiert hat. Der Bischof Cristan weiht die Kapelle des Klosters. [Siehe MG II, Laisse CIII–CV: Der Bischof Cristan hat hier jedoch keine Entsprechung, und der Bau des Klosters erfolgte bereits vor dem Kampf gegen Ysoré.] V. 35733–35907: Willehalm überführt gemeinsam mit Cristan Kyburgs Gebeine in die Kapelle. Während der Translation und auch später erweisen sich Kyburgs Gebeine als wundertätig. [Keine Entsprechung in MG II.] V. 35908–36110: Räuberepisode (Umstellung gegenüber der ‚Moniage Guillaume II‘). [Siehe MG II, Laisse VI–XXXVI.]

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V. 36111–36477: Nach ihrem Tod wird die frz. Königin in der Kapelle beigesetzt. Willehalm führt ein streng asketisches Leben und stirbt nach fünf Jahren im Geruch der Heiligkeit. Seine Seele gelangt ins Paradies, und Willehalm ist fortan der Fürsprecher der Ritter. [Keine Entsprechung in MG II: Die einzige Parallele ist der Eintritt von Guillaumes Seele ins Paradies.] V. 36478–36518: Nachwort: Ulrich ruft den Heiligen Willehalm an und bittet sein Publikum, Fürsprache für ihn einzulegen. [Siehe MG II, Laisse CV: Der Erzähler schließt mit einem Hinweis auf Saint Guilhem del Desert und einem Gebet.]

Inhaltlich (und auch geographisch) knüpft die ‚Moniage Willehalm‘ nicht an den vorhergehenden Malefer-Teil, sondern direkt an das Ende des zweiten Teils, der ‚Moniage Rennewart‘, an. Der deutliche Neueinsatz wird durch einen Prolog (‚Rennewart‘, V. 33163–33217) noch unterstrichen. In diesem kündigt Ulrich an, sich wieder dem Helden Willehalm zuwenden zu wollen, dessen ewiges Seelenheil ja bereits am Ende der ‚Moniage Rennewart‘ vorhergesagt wurde. Ähnlich wie in den ersten beiden Teilen erweist sich Ulrich auch hier an manchen Stellen als ein getreuer, an anderen Stellen hingegen als ein recht freier Bearbeiter. Für ca. ein Viertel des deutschen Textes findet sich eine Entsprechung in der ‚Moniage Guillaume I und/oder II‘. Dazu zählen: Willehalms monastische und eremitische conversio, sein siegreicher Kampf gegen den Riesen Ysoré, der Bau des Klosters Gellone, die Räuberepisode, der Kampf gegen den Teufel sowie Willehalms Tod und der Hinweis auf seine Aufnahme im Paradies. Mitunter reichen die Übereinstimmungen sogar bis auf die Detailebene. Betrachten wir zunächst den Umfang, so stellen wir wiederum fest (wie auch in den ersten beiden Teilen des ‚Rennewart‘), daß der deutsche Text beträchtlich kürzer ist als die ‚Moniage Guillaume II‘. Es fehlen sogar ganze Episoden wie z.B. die Gaidonepisode, Guillaumes Kampf gegen einen Riesen beim Bau der Eremitage und die Synagonepisode. Doch wie ein Blick auf die nur fragmentarisch erhaltene Kurzfassung, die ‚Moniage Guillaume I‘, zeigt, dürfte auch die *‚Moniage Guillaume‘ einen Großteil dieser Textpassagen nicht aufgewiesen haben. Die umfangreichen Reduktionen gegenüber der ‚Moniage Guillaume II‘ sind also nicht das Werk des deutschen Bearbeiters, sondern vielmehr Entlehnungen aus der frz. Vorlage. Dennoch dürfte Ulrich auch selbständig gelegentlich (kleinere) Reduktionen vorgenommen haben. Im Unterschied zur ‚Moniage Willehalm‘ berichten z.B. beide afrz. Moniages von einem Kampf zwischen Guillaume und seinen Mitbrüdern nach seiner Rückkehr ins Kloster. Da diese Episode dem im deutschen Text grundlegend geänderten Verhältnis Willehalms zu den Mönchen diametral widerspricht (s.u.), dürfte diese Kürzung als das Werk Ulrichs anzusehen sein.

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Abgesehen von den umfangreichen Reduktionen, die ja überwiegend als Übernahme aus der *‚Moniage Guillaume‘ anzusehen sind, weist der deutsche Text durchaus beträchtliche Abweichungen in der Handlungsstruktur auf. Diese können (zumindest zu einem Großteil) mit einiger Sicherheit Ulrich zugeschrieben werden. Dies zeigt sich z.B. an der Darstellung von Willehalms Leben im Kloster. Sie weicht zum einen grundlegend von allen erhaltenen französischen Fassungen der ‚Moniage Guillaume‘ ab. Zum anderen entspricht die Änderung einer bereits in der ‚Moniage Rennewart‘ festgestellten Tendenz des deutschen Bearbeiters, nämlich den Held deutlich positiver und weitaus weniger aggressiv im Umgang mit den Klosterbrüdern darzustellen. Im Zuge dieser Änderung wird auch hier, ebenso wie im zweiten Teil, die für die frz. Moniages charakteristische mönchsfeindliche Haltung getilgt. Statt des rauflustigen, unbeherrschten und stets hungrigen Guillaume, der (wie auch Rainouart) immer wieder im Affekt seine Mitbrüder tötet und mit seinen unkontrollierbaren Wutausbrüchen deren Haß auf sich zieht, schildert Ulrich Willehalm als einen frommen, demütig selbst die strengsten Klosterregeln einhaltenden Klosterbewohner, der in friedlicher Gemeinschaft mit den Mitbrüdern lebt und schließlich das Leben eines strenge Askese übenden Eremiten und Klostergründers führt, um dann im Geruch der Heiligkeit zu sterben. Diese Wandlung von einem weltlichen Herrscher und Heidenkämpfer zu einem Klosterbruder, der auf geradezu exemplarische Weise das Ideal des benediktinischen Mönchtums verkörpert, ist, wie gesagt, bereits in der ‚Moniage Rennewart‘ (am Beispiel der Figur des Rennewart) in ähnlicher – allerdings beträchtlich abgeschwächter – Form vorgeprägt und läßt sich mit dem Stichwort „Hagiographisierung“ (Bastert 2002) umschreiben. Die Behauptung von Westphal-Schmidt (1979, S. 251), der vierten Teil stehe in einem Gegensatz zu den ersten beiden Teilen des ‚Rennewart‘, ist also schlichtweg unzutreffend. Ulrich erweist sich auch in diesem Teil als ein mitunter recht freier Bearbeiter, der zwar bemüht ist, die grobe Handlungsstruktur seiner Vorlage zu wahren, aber andererseits deren brutale (teils burleske, schwankhafte) Züge zu tilgen und den heldenepischen Stoff konsequent zu einer erbaulichen Heiligenlegende umzugestalten. Zudem versteht er sich insbesondere in diesem Teil als Fortsetzer des ‚Willehalm‘. Denn mit der Schilderung von Willehalms (und Kyburgs) Heiligenleben liefert er die Begründung für die im ‚Willehalm‘ (4,13 u. 403,1) postulierte sanctitas Willehalms (und Gyburgs) nach und füllt somit eine große inhaltliche Leerstelle des fortgesetzten Werks. Dementsprechend finden sich im Unterschied zu den vorhergehenden Handlungsteilen in der ‚Moniage Willehalm‘

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(wiederum abgesehen von zahlreichen Stereotypen und Topoi, deren Entlehnungsweg sich ja nicht nachzeichnen läßt) ausschließlich nachgewiesene oder zumindest mögliche Entlehnungen aus den Werken Wolframs, insbesondere natürlich aus dem ‚Willehalm‘, und nicht aus anderen zeitgenössischen mittelhochdeutschen Werken. Bei dem Bemühen, seine Vorlage zu einer erbaulichen Schilderung von Willehalms Heiligenleben umzugestalten, sind Ulrich allerdings an einigen Stellen Motivierungsschwächen und Fehler in der Handlungslogik unterlaufen (Hennings 2008, S. 484–487). Dennoch hat er auch in diesem Teil einen weitreichenden Überblick über die Gesamthandlung und eine erstaunliche Konsequenz bei den Eingriffen in die Vorlage bewiesen. Zusammenfassung der Ergebnisse Vor allem zu Beginn des ‚Rennewart‘ zeigt sich noch Ulrichs enge Bindung an seine frz. Vorlage. Im zweiten und vierten Teil hat sich Ulrich zwar zunehmend von seinen Vorlagen gelöst, aber dennoch finden sich zahlreiche Übereinstimmungen in den zum Vergleich herangezogenen Texten. Überdies stellen sich viele der auf den ersten Blick Ulrich zuzuschreibenden Abweichungen – wie die Übereinstimmungen mit handschriftlich überlieferten, aus den Lesartenapparaten der herangezogenen Ausgaben zu rekonstruierenden Fassungen nahelegen (Hennings 2008, S. 304–306) – als bloß scheinbare heraus. Man kann also mit Sicherheit davon ausgehen, daß sich für weitere Änderungen (Kürzungen, Zusätze, Abweichungen) Entsprechungen in noch nicht gedruckten oder verlorenen Fassungen (*‚Aliscans‘, *‚Moniage Rainouart‘ und *‚Moniage Guillaume‘) finden ließen. Besonders gegen Ende der ‚Moniage Rennewart‘ wird deutlich, daß Ulrich im Verlauf seiner Arbeit zunehmend ein gewisses Maß an Selbständigkeit erlangt hat. Inspiriert von bereits bekannten Handlungsschemata und mit Hilfe einer Vielzahl von neu zusammengefügten und variierten Stereotypen und Topoi (aus zahlreichen Werken der mittelhochdeutschen Epik) finden sich durchaus Episoden, denen man Originalität schwerlich absprechen kann, am wenigsten natürlich im Malefer-Teil. Die wichtigsten konzeptionellen Änderungen, die Ulrich entgegen den entsprechenden frz. Chansons de geste – mit beachtlicher Konsequenz – durchgeführt hat, lassen sich mit den Stichworten Gewaltreduktion und Hagiographisierung umschreiben. Das Bestreben, das für die Chansons de geste charakteristische hohe Maß an Brutalität und Gewalt beträchtlich zu reduzieren, durch-

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zieht den gesamten ‚Rennewart‘. Die Tendenz zur Hagiographisierung zeigt sich natürlich vorrangig in den beiden Moniage-Teilen, entsprechende Spuren finden sich aber auch im Malefer-Teil. Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Ehe zwischen Malefer und Penteselie beruht ausdrücklich auf göttlichem Befehl, die Namensgebung ihres gemeinsamen Sohnes Johannes erfolgt aufgrund einer göttlichen Offenbarung, Malefers Siege auf seinem Eroberungszug in den Osten verdanken sich göttlicher Hilfe usw. Hier einen dualistischen Gegensatz zwischen der hagiographischen Tendenz der ‚Moniage Willehalm‘ und dem Kreuzzugs- und Minnegeschehen der anderen Handlungsteile zu sehen (Westphal-Schmidt 1979, S. 252), erweist sich als Fehlinterpetation. Dies ist nur eine von vielen Fehleinschätzungen und ungerechtfertigten Werturteilen, die die bisherige Rennewart-Forschung über den ‚Rennewart‘ geäußert hat. Einer der Hauptgründe dafür dürfte sein, daß Ulrichs Werk oftmals viel zu streng an Wolframs ‚Willehalm‘ gemessen wird. Der wohl schwerwiegendste Vorwurf ist die angebliche Rückkehr Ulrichs zum blinden Kreuzzugsfanatismus (Sabel 2003, S. 170f., 175f. u.a.). Der kurz vor dem Abbruch des ‚Willehalm‘ angestoßene Reflexionsprozeß hin zu einem künftigen friedlichen Miteinander von Christen und Muslimen werde, so Strohschneider (1991, S. 348), von Ulrich rundweg gekappt und das „Problemgebirge“ des ‚Willehalm‘ in „plane Steppe“ verwandelt. Auch Westphal-Schmidt (1979, S. 266) wirft Ulrich in diesem Zusammenhang „eklatante Problemlosigkeit“ vor (zustimmend Aderhold 1997, S. 288f.; Sabel 2003, S. 194f.). Diese Ansichten übersehen offenkundig, daß Ulrich zwar nicht im ersten Teil seiner ‚Willehalm‘-Fortsetzung an die Matribleizszene des ‚Willehalm‘ anknüpft, dies aber in den beiden nachfolgenden Handlungsteilen nachholt. Am Ende der ‚Moniage Rennewart‘ und insbesondere im Malefer-Teil bietet er ein vollgültiges Äquivalent zur Matribleizszene. Zu Beginn seines Werks, in der Endphase der zweiten Aliscansschlacht, sah er jedoch offenbar keine Möglichkeit, direkt an das Ende des ‚Willehalm‘ anzuknüpfen, ohne den Handlungsgang seiner frz. Vorlage tiefgreifend zu stören. Ein solch gravierender Eingriff wäre mit seiner (vor allem anfänglichen) Vorlagentreue unvereinbar gewesen. Angesichts seines ursprünglichen Bestrebens, seine frz. Vorlage getreu zu übersetzen, war er gewissermaßen gezwungen, den in *‚Aliscans‘ vorgegebenen erbarmungslosen Heidenkampf – zunächst ohne nennenswerte kritische Untertöne – zu übernehmen. Dabei nimmt er sogar gelegentlich inhaltliche Widersprüche zum ‚Willehalm‘ in Kauf (vgl. z.B. die ‚Wiederauferstehung‘ des in Wh 442,28 getöteten Tampasté: ‚Rennewart‘, V. 542). Erst im weiteren Handlungsverlauf, in dem er sich zusehends von seinen

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Vorlagen löst und sich zu einem mitunter freien Bearbeiter entwickelt, um schließlich den Malefer-Teil völlig selbständig zu dichten, knüpft er mehrfach direkt an die Matribleizszene an und überbietet sie sogar in mancher Hinsicht (so auch Bastert 2005, S. 122 u. 130f.). Für das unmittelbare Anknüpfen an den ‚religiösen Toleranzgedanken‘ im Sinne Wolframs sei folgendes Beispiel genannt: Gleich nach Beginn der Malefer-Handlung hat bereits die stereotype Formel nach dem Sieg über die Heiden „Tod oder Taufe“ ihre Gültigkeit verloren. Obschon sich Terramer, Tybalt, Faufaserat und andere weigern, die Taufe zu empfangen, wird der Friedensschluß nicht behindert. Zudem werden im Malefer-Teil auch ehemals verfeindete heidnische Parteien durch Versippung miteinander versöhnt, so daß „bei Malefers Aufbruch nach Asya […] die Erde auf bemerkenswerte Weise pazifiziert und geordnet“ ist (Strohschneider 1991, S. 304). Derartige Beispiele für eine eindeutige Abkehr von der traditionellen Kreuzzugsideologie sind aber keineswegs auf den Malefer-Teil beschränkt (dagegen Sabel 2003, S. 187, 191 u.a.). Ulrich fühlte sich dem fortgesetzten Werk stark verpflichtet. Davon zeugen zahlreiche Anspielungen und direkte Entlehnungen, ja mitunter sogar wörtliche Zitate aus dem ‚Willehalm‘. Einen besonders großen Einfluß auf Ulrich hatte offenkundig auch die typisch wolframsche Darstellung der Minnethematik – ein Themenbereich, der in den Chansons de geste eine ausgesprochen marginale Rolle spielt. Gelegentlich unternimmt Ulrich sogar den Versuch, die Vielfalt der bei Wolfram vorkommenden Arten von Minnebindungen noch zu übertreffen (vgl. Aderhold 1997, S. 146–276). Aber nicht nur Wolframs Œuvre, sondern die zeitgenössische mittelhochdeutsche Epik überhaupt hat im ‚Rennewart‘ allenthalben Spuren hinterlassen. Das Werk erweist sich folglich als Teil des reichen Stromes der nachklassischen deutschen Epik, die sich den klassischen Werken stofflich und gestalterisch in vielerlei Hinsicht eng verbunden fühlt und mit Vorliebe die unvollendet gebliebenen Werke fortsetzt.

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3.4 Das Kitzinger Bruchstück ‚Der Strit van Alescans‘ von Thordis Hennings Inhalt und Überlieferung des ‚Strit van Alescans‘ (SvA) – Überlieferung der ‚Bataille d’Aliscans‘ (Al) – Inhaltlicher Vergleich mit den Laissen CIX–CXXI der ‚Bataille d’Aliscans‘ – Ergebnisse des textkritischen Vergleichs

Inhalt und Überlieferung des ‚Strit van Alescans‘ (SvA) Das 1883 von Friedrich Anton Reuß im städtischen Archiv zu Kitzingen aufgefundene sog. Kitzinger Bruchstück (Ausg. Leitzmann) schildert in 709 Versen (mit zumeist unreinen Reimen und einer unregelmäßigen Anzahl von Hebungen) vor allem die Zweikämpfe Renoarts (Rennewarts) auf dem Schlachtfeld von Alescans gegen die eingefallenen Heiden. Kurz vor dem Sieg der Christen unter der Führung Guillams (Willehalms) bricht es ab. Die zweite Alischanzschlacht ist dem Leser natürlich aus dem ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach bekannt (s. Kap. 3.2), beide Texte weichen aber stark voneinander ab. So kommen z.B. die im SvA beschriebenen Zweikämpfe Renoarts gegen Margot von Bosindant, Hurepe, Borel und dessen 14 Söhne sowie gegen Walegrape im ‚Willehalm‘ nicht vor. Sie weisen aber eine enge Übereinstimmung mit den Laissen CIX–CXXI der ‚Bataille d’Aliscans‘ (Ausg. Wienbeck/Hartnacke/Rasch [WHR]) auf. Der Übereinstimmungsgrad ist derart hoch, daß man – soviel sei hier bereits vorweggenommen – mit Fug und Recht von einer überwiegend wortgetreuen Übersetzung sprechen kann (Hennings 2008, S. 196–263). Von der im späten 13. Jh. entstandenen Pergamenthandschrift des SvA (München, cgm 5249/20), einer Abschrift des Originals, sind lediglich vier zweispaltig beschriebene Großoktavblätter mit jeweils 42–43 Versen pro Spalte (fol. Ira bis fol. IVvb) erhalten. Da die vier Blätter eine feste inhaltliche Einheit bilden, ist im weiteren stets die Rede von einem Bruchstück. Abgesehen von einzelnen stark abgeriebenen oder durchlöcherten Stellen weist es vier längere Passagen auf, in denen der Text nur partiell erhalten und mitunter sogar bis zur Unverständlichkeit verstümmelt ist. Dies erklärt sich dadurch, daß jedes der vier Handschriftenblätter in (ursprünglich sechs) vertikale Streifen zerschnitten wurde und drei Pergamentfalze im Laufe der Überlieferung verlorengegangen sind. Diese betreffen den inneren Rand der Blätter II und III. Da von fol. III statt sechs nur vier Streifen erhalten sind, ist der auf fol. IIIra (V. 355–396) und IIIvb (V. 489–532) überlieferte Text so stark verstümmelt, daß eine Rekonstruktion des fehlenden

Das Kitzinger Bruchstück ‚Der Strit van Alescans‘

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Textmaterials hier allzu spekulativ wäre. Der verstümmelte Text auf fol. IIra (V. 181–223) und fol. IIvb (V. 312–354) läßt sich hingegen, da hier ja nur ein Streifen fehlt, unter anderem mit Hilfe der entsprechenden Passagen in Al relativ zuverlässig rekonstruieren. Überlieferung der ‚Bataille d’Aliscans‘ (Al) Die ‚Bataille d’Aliscans‘ ist in insgesamt 13 Handschriften und einigen Fragmenten überliefert (s. Kap. 3.2). WHR haben (ebenso wie Guessard/de Montaiglon in ihrer Ausgabe von 1870) die Arsenalhandschrift a bzw. ars (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal 6562) als Basishandschrift für den überwiegenden Teil ihres Textabdrucks gewählt. Allerdings weist diese Handschrift von V. 6022 bis 6778 (nach WHR) eine beträchtliche Lücke auf, in die ausgerechnet nahezu die Hälfte, nämlich die Verse 456–709, des Kitzinger Bruchstücks fällt. Diese sowie andere nicht in a/ars überlieferten Textpartien drucken WHR nach anderen Handschriften ab. Das Überlieferungsverhältnis des frz. Textes erweist sich als ausgesprochen kompliziert. Tyssens (1967, S. 249) spricht angesichts der außerordentlich verworrenen Handschriftenfiliation von einer „étonnante confusion“. Bis einschließlich Rainouarts Kampf gegen Borel (Laisse CXXI, V. 6022) stimmen zwar alle Al-Handschriften hinsichtlich ihres Handlungsverlaufs weitgehend überein, doch danach spalten sie sich in verschiedene Redaktionen auf. Die Arsenalhandschrift, deren große Lücke hier beginnt, ausgenommen, unterscheiden WHR zwei große Redaktionen bzw. Handschriftengruppen: bBTCm und MLV. bBTCm schildern nach Rainouarts Sieg über Borel seinen Kampf gegen dessen 14 Söhne, setzen dann fort mit den Zweikämpfen Rainouarts gegen Agrapart, Crucados, Walegrape, Grishart, Flohart, Desramé und seinen Bruder Tenebré und berichten vom Eingreifen der Christen und dem Zweikampf zwischen Rainouart und Haucebier (Laisse CXXII–CLXV). MLV enthalten anstelle der ersten sechs oben genannten in bBTCm überlieferten Kämpfe den Kampf Bertrans gegen Synagon sowie ein Gespräch zwischen Desramé und Baudin/Baudus, dann folgen – in umgekehrter Reihenfolge zu bBTCm – Rainouarts Zweikampf gegen Haucebier, das Eingreifen der Christen, Rainouarts Kampf gegen Desramé und der Tod seines Bruders Jambu.

Die nicht erhaltene frz. Vorlage des Kitzinger Bruchstücks (im weiteren in Anschluß an Suchier [1872, S. 145] mit der Sigle O bezeichnet) scheint zwischen diesen beiden Hauptredaktionen zu wechseln bzw. zu schwanken (desgleichen die hier unberücksichtigten Al-Handschriften d und e). Von SvA, V. 1–455 wird O im wesentlichen durch den gemeinsamen Text

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aller erhaltenen Al-Handschriften repräsentiert, von V. 456–649 hingegen durch bBTCm und von V. 650 bis zum Abbruch des Bruchstücks durch MLV. Nicht in O enthalten waren die beiden in bBTC geschilderten Zweikämpfe Rainouarts gegen Grishart und Flohart. Es folgten statt dessen der in MLV enthaltene Kampf Bertrans gegen Synagon de Palerne und das Gespräch zwischen Desramé und Baudin. Inhaltlicher Vergleich mit den Laissen CIX–CXXI der ‚Bataille d’Aliscans‘ SvA, V. 1–21 (Kampf der Christen gegen die Heiden) folgt eng dem in a/ars (Laisse CIX–CXI, V. 5254–5309) überlieferten Text. Für die anschließende bloeden-Episode (erneuter Fluchtversuch einer Gruppe von feigen Christen; Fortsetzung des Kampfes), V. 22–58, läßt sich dagegen in keiner der edierten Al-Handschriften (an entsprechender Stelle) eine Entsprechung nachweisen. Bei der bloeden-Episode handelt es sich im wesentlichen um eine abgewandelte Nachbildung einer früheren in Al (und im ‚Willehalm‘) überlieferten Fluchtszene (s.u.). Im Anschluß folgt das Kitzinger Bruchstück bis V. 455 (Fortsetzung der Kämpfe, Flucht der Heiden, Befreiung der sieben christlichen Gefangenen durch Renoart; Tod Margots von Bosindant; Angriff gegen Guillam, Verwundung Renoarts; Tod Hurepes; erneute Flucht der Heiden; Zweikampf Desramé-Guillam; Tod Borels) dann aber wieder weitgehend dem in a/ars überlieferten Text (Laisse CXI–CXXI, V. 5303–6019). Ab V. 456 beginnt die große Lücke in a/ars. Bis V. 649 (Kampf Renoarts gegen die 14 Söhne des Borel, Sieg der Christen, Flucht der Heiden zu Agrapart, Kampf gegen Crucados [Text ist hier stark verstümmelt], Sieg Renoarts über Walegrape) folgt der Text, abgesehen von einer kurzen, acht Verse umfassenden Episode (Laisse CXXII, V. 6023–6030, in bBTCm), den Laissen CXXIV–CIL der bBTCm-Redaktion (V. 6031– 6439). Hier sind die Abweichungen weitaus zahlreicher und bedeutsamer als in den vorhergehenden 455 Versen nach a/ars. Von V. 650 bis zum Abbruch des Bruchstücks (Kampf Sinagun-Bertran; Fortsetzung der Kämpfe, Gespräch zwischen Desramé und Baudin und dessen Suche nach Renoart) scheint das Kitzinger Fragment die Redaktion zu wechseln. Denn statt wie bBTCm nach Rainouarts Sieg über Walegrape mit seinen Kämpfen gegen Grishart und Flohart fortzufahren, folgen nach einer kurzen allgemeinen Überleitung (V. 650–655) die Schilderung des Kampfes zwischen Synagon und Bertran sowie das Gespräch zwischen Desramé und Baudin. Hier werden also die Laissen CXXIa und b, die sich ausschließlich in MLV finden und dort unmittelbar auf Rainouarts Sieg über Borel folgen, ‚nachgetragen‘. Es zeigt sich, wie auch in V. 1–455, eine ausgesprochen enge inhaltliche Übereinstimmung mit dem frz. Vergleichstext.

Das Kitzinger Bruchstück ‚Der Strit van Alescans‘

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Ergebnisse des textkritischen Vergleichs Der textkritische Vergleich zwischen dem Kitzinger Bruchstück und den Laissen CIX–CXXI der ‚Bataille d’Aliscans‘ (Hennings 2008, S. 196–263) hat zu folgenden Ergebnissen geführt: 1) Insgesamt stellen ca. zwei Drittel des im Kitzinger Bruchstück überlieferten Textmaterials eine sinn- oder sogar wortgetreue Übersetzung von Al dar. Insbesondere von Vers 1–455 (ausgenommen natürlich die bloedenEpisode) und von V. 650–709 ist der Anteil an wortgetreuer Übersetzung (traduction littérale) sehr hoch. Der Übersetzer folgt seiner afrz. Vorlage selbst dort, wo diese Schwächen in der Erzähllogik aufgewiesen haben dürfte. Wörtlich übersetzt werden u.a. Sprichwörter, stereotype Wendungen (z.B. SvA 19: alse de sains doet daz gras obe, vgl. Al (WHR) 5297: com la faus fait les pres), desgleichen völlig unwichtige Details sowie Namensformen und Zahlenangaben, mitunter sogar intertextuelle Anspielungen auf andere Chansons de geste, die dem deutschen Publikum kaum verständlich gewesen sein dürften. Ja, hin und wieder werden selbst frz. Wörter übernommen, ohne sie dem Lautstand des Deutschen anzugleichen. Kurzum, das Kitzinger Bruchstück stellt den frühen (und ziemlich ungelenken) Versuch einer sehr eng an die frz. Vorlage angelehnten Ü b e r s e t z u n g dar. Diese These wird auch durch Textstellen gestützt, in denen dem Übersetzer bei seinem Bemühen, die frz. Vorlage möglichst exakt ins Deutsche zu übertragen, Irrtümer unterlaufen sind. Ein Beispiel findet sich in V. 410, wo Desramé zu Guillam sagt: Guillam, dirre slag enist nit van aime kine getan. Hier hat der Übersetzer anscheinend die Sprecher verwechselt (Desramé statt Guillam). Denn wie im vorhergehenden Textabschnitt berichtet, setzt Desramé Guillam mit seinen Schlägen schwer zu und nicht umgekehrt. 2) Bei aller Übereinstimmung weist der Text jedoch, verglichen mit dem entsprechenden Handlungsabschnitt in Al, beträchtliche Kürzungen auf. Circa die Hälfte des im frz. Vergleichstext überlieferten Textmaterials hat im deutschen Text keine Entsprechung. Abgesehen von zahlreichen kleineren (über den gesamten Textabschnitt verteilten) Kürzungen finden sich neun größere Kürzungen (vgl. Al 5506–5528, 5606–5621, 6020–6030, 6144–6157, 6228–6239, 6245–6274, 6278–6350, 6369–6393 u. 6408–6429). Zum Teil fehlen ganze Episoden, wie beispielsweise die Baufumé-Episode (Al 5506–5528). Bemerkenswert ist folgendes: a) Die größeren Kürzungen erstrecken sich allesamt auf einen bestimmten Textabschnitt, nämlich auf die Verse 456–649 des SvA. b) Keine der Kürzungen hat eine Störung der logischen Handlungsabfolge zur Folge. Dies und

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der ansonsten sehr enge inhaltliche Übereinstimmungsgrad mit dem frz. Text sprechen für die Annahme, daß die Kürzungen wohl generell (zumindest aber die umfangreicheren Kürzungen sowie diejenigen, die aufgrund ihrer Konsequenz von einem weitreichenden Überblick über den weiteren Handlungsverlauf zeugen) bereits in O vorhanden waren (dagegen Suchier 1872, S. 150). 3) Nur bei einem relativ geringen Anteil (ca. einem Zehntel) des SvA handelt es sich um inhaltliche Abweichungen (Variationen) gegenüber dem afrz. Vergleichstext. Einige Variationen weisen eine so weitreichende semantische Übereinstimmung mit Al auf, daß man sie auch als freiere Übersetzungen bzw. Übersetzungsvarianten ansehen könnte. Doch der detaillierte übersetzungskritische Vergleich hat gezeigt, daß es sich bei der Mehrzahl dieser Fälle vielmehr um Entlehnungen aus O handeln dürfte. Dies dürfte auch für die wenigen Fälle von inhaltlich bedeutsameren Variationen zutreffen. 4) Interessanter in Hinblick auf unsere These von einer getreuen Übersetzung sind hingegen Textstellen, für die sich – zumindest in dem betreffenden Textstück – gar keine Parallele in den erhaltenen Al-Handschriften nachweisen läßt (Zusätze). Müssen wir angesichts dieser Zusätze unser Bild von einem unselbständigen, seiner Vorlage nahezu bedingungslos folgenden Übersetzer revidieren? Nein, denn der textkritische Vergleich der betreffenden Passagen hat ergeben, daß es sich bei den Zusätzen generell ebenfalls um Übernahmen aus O handelt. Die entsprechenden Parallelen finden sich allerdings an anderer Stelle, im nachfolgenden oder vorhergehenden Handlungsverlauf von Al (bzw. in anderen Chansons de geste). Selbst bei dem umfangreichsten Zusatz, der bloeden-Episode, handelt es sich um eine abgewandelte und in den veränderten Kontext eingepaßte Nachbildung einer früheren in Al überlieferten Fluchtszene. Zudem deutet schon die starke Formelhaftigkeit der Zusätze darauf hin, daß diese eher aus dem Formelrepertoire eines frz. Bearbeiters (bzw. Jongleurs) stammen dürften.

3.5 ‚Willem van Oringen‘ von Fritz Peter Knapp Auf einem Doppelblatt in der Reichsuniversität von Gent, Nr. 2749,10, aus der ersten Hälfte oder Mitte des 14. Jh. haben sich 429 teilweise stark verstümmelte, wohl brabantisch gefärbte Verse aus einer Bearbeitung der Chanson de geste ‚Moniage Guillaume II‘ (MG II), also der längeren Re-

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daktion, erhalten, und zwar aus Guillaumes Begegnung mit den Räubern und aus Guillaumes Gefangenschaft bei Sinagon. Der Text ist vermutlich im 13. Jh. entstanden. Der Bearbeiter könnte Claes van Haerlem, Ver Brechten Sone (vielleicht Nicolaas Persijn van Haarlem, Vertrauter von Graf Willem II.von Holland, † 1256 – vgl. van Anrooij 1991, S. 139f.), sein, dessen ‚Willem van Oringen‘ (WvO) Jacob van Maerlant erwähnt (‚Spiegel historiael‘, IV,1,29, V. 74f.; vgl. Kienhorst 1988, Bd. I, S. 221; Mulder-Bakker 1985, S. 69; Kienhorst 1998, S. 126f.). MG II erzählt: Guillaume ist ins Kloster von Aniane eingetreten, erntet aber nur Mißgunst bei den Mitbrüdern, insbesondere dem Abt. Man will ihn loswerden und schickt ihn unbewaffnet auf eine Reise durch eine verrufene Gegend, um Fische einzukaufen. *Zügig reiten Guillaume und der Knappe ihres Weges, erledigen den Einkauf und erreichen bei der Rückkehr wieder das Tal von Sigré (WvO: Sigeren). Guillaume spricht dem Knappen, der vor Furcht zittert, Trost zu. Dann fordert er ihn auf, ein Lied zu singen. Der Knappe tut es – zunächst leise, aber auf Guillaumes Befehl hin lauter. Die Räuber sind indessen von einem Raubzug zurückkehrt und sitzen nun unter einem Baum zum Essen. Bei ihrem Raubzug haben sie einen Edelmann ausgeraubt und ihn und seine Frau gefesselt in einen Graben geworfen, zwei seiner Söhne getötet und seine Töchter geschändet. Insgesamt sind es 15 Räuber, allesamt versehen mit guten Waffen. Ihr grausamer Anführer heißt Goudrain (WvO: Gonnart). Als die Räuber den Gesang, der mehr als eine Meile weit zu hören ist, vernehmen, rüsten sie sich zum Angriff.* [Lücke in WvO] Es besteht aber Uneinigkeit darüber, ob man das Opfer, wenn es ein Jongleur ist, verschonen solle. Goudrain erklärt zornig, Jongleure führten häufig viel Geld und gute Kleider mit sich, und befiehlt den Kumpanen, den mutmaßlichen Jongleur seiner gesamten Habe zu berauben. *Sieben Räuber postieren sich an einem Weg, den Guillaume passieren muß, die übrigen acht bleiben zunächst zurück. Als die Räuber sehen, daß es sich um einen Mönch handelt, und zudem das beladene Saumpferd erblicken, sind sie erfreut, da sie reiche Beute wittern.* [Lücke in WvO] Allerdings erweckt die Größe Guillaumes Furcht. Aber dennoch gibt Goudrain den Befehl zum Angriff. *Zunächst fesseln sie den Knappen, der Gott um Hilfe für Guillaume anfleht, und werfen ihn in einen Graben. Dann umzingeln sie Guillaume, obwohl er sie vor der Gewalt gegen einen geweihten Mönch warnt. Im übrigen leistet er aber keinerlei Gegenwehr – nicht einmal als Goudrain ihm befiehlt, sich Stück für Stück auch noch seiner Kleidung zu entledigen. Aber er würde, wäre er bewaffnet, ganz anders handeln.* [Lücke in WvO] Als er barfuß, nur mit seiner Unterhose bekleidet, wohl wissend, daß er ohne Eingreifen Gottes sein Leben verlieren wird, vor ihnen steht, lachen alle Räuber, bis auf einen einzigen. Dieser hat Mitleid mit Guillaume, den er für einen Edelmann hält, und bittet Goudrain, er möge doch Guillaume wenigstens seine Kutte lassen, damit er nicht erfrieren müsse. Als Antwort auf dieses Ansinnen machen sich die übrigen Spießgesellen über ihn lustig, und Gondrain weist ihn harsch zurecht. *Als die Räuber von ihm ablassen und Anstalten machen, fortzureiten, zeigt Guillaume ihnen seinen Gürtel und weist darauf hin, daß allein die Schnalle wertvoller sei als all die anderen Gegenstände, die ihm die Räuber geraubt haben. Begierig betrachten die

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Räuber das wertvolle Stück. Als Goudrain sich niederkniet, um ihm den Gürtel wegzunehmen, tötet Guillaume ihn mit einem einzigen Faustschlag.* [Lücke in WvO] Dann fordert er die anderen Räuber auf, mit ihm um den Gürtel zu kämpfen. Er wird ohne Waffen schwer verwundet und wäre ohne Gottes Hilfe unweigerlich verloren. In höchster Bedrängnis fällt sein Blick auf das Saumpferd. Er reißt ihm das rechte Bein heraus und tötet damit acht Räuber. Die restlichen fliehen in den Wald, werden aber auf ihrer Flucht ebenfalls bis auf einen erschlagen. Das Pferd wird durch ein Wunder geheilt. In Frieden mit seinen Mitbrüdern leben kann Guillaume aber weiterhin nicht und sucht in einer Einsiedelei Zuflucht. Als die Heiden im weit entfernten Palermo davon hören, Guillaume habe sich aus der Welt zurückgezogen, ziehen sie aus, finden, überwältigen den Wehrlosen und bringen ihn nach Palermo. König Synagon läßt ihn in einen stinkenden dunklen Kerker werfen. *Dort leidet Guillaume größte Qualen, denn abgesehen von seinem Hunger (er erhält nur ein wenig Wasser und Brot) und seiner schlechten körperlichen Verfassung wird der Kerker vom Meerwasser überflutet, was seine Wunden zusätzlich schmerzen läßt. Zum Schutz vor dem Wasser, das ihm oftmals bis zum Kinn reicht, klettert er auf einen großen Stein, auf dem er Gott um Hilfe anzuflehen pflegt. So vergehen sieben Jahre, in denen Guillaume unsägliche Qualen leidet und wünscht, Louis käme, um ihn zu befreien. Hier erfolgt ein Vorverweis auf seine Befreiung durch seinen Cousin und Gefährten, den man le timonier (Steuermann) Landri nennt. Zusätzlich zu seinen großen körperlichen Qualen ist Guillaume den ständigen Schmähungen seiner Kerkermeister ausgesetzt, die ihn zum heidnischen Glauben bekehren wollen. Seine Kleider sind vollkommen zerschlissen und sein Körper extrem ausgemergelt. Zudem sind sein Gesicht und seine Nase von Haaren überwuchert. Aber Gott hat ihn nicht vergessen, immerhin seine Wunden geheilt und ihm einen Engel mit der tröstlichen Aussicht auf seine baldige Befreiung geschickt.* [Lücke in WvO] Diese naht eines Tages in Gestalt Landris. Aus Kummer über Guillaumes Rückzug aus dem weltlichen Leben hatte er sich auf eine Pilgerreise nach Jerusalem begeben, wurde jedoch mit seinen Gefährten von Heiden gefangengenommen, als Sklaven verkauft, schließlich von einem Sturm nach Palermo verschlagen und von Piraten Synagon übergeben. *Da die Freibeuter gegenüber Synagon die Vermutung geäußert haben, Landri stamme aus Guillaumes Geschlecht, ruft dieser Landri zu sich, um mehr über seine Herkunft zu erfahren. Landri gibt zunächst vor, bei ihm und seinen Gefährten handle es sich um Kaufleute. Aber Synagon schenkt seinen Worten keinen Glauben, sondern zwingt Landri mit Drohungen und Versprechen, seine wahre Herkunft sowie seine Verwandtschaft mit Guillaume zu gestehen.* Synagon erklärt, er sei zum Kampf mit dem Heer der Franzosen bereit, welche Landri holen solle. Sollte er unterliegen, werde er Guillaume freilassen, ansonsten ihn töten und Frankreich erobern. Natürlich kommen die Christen und siegen nach schwerem Kampf nicht zuletzt dank des Ausbruchs Guillaumes aus dem Kerker.

Der schlechte Erhaltungszustand der mnl. Fragmente läßt nur einen ungenauen Vergleich mit dem frz. Text zu, der ja auch nur eine Fassung der MG II repräsentiert, und zwar kaum diejenige, welche der mnl. Bearbeiter kannte. Die Teile des afrz. Textes, welche man in der Bearbeitung wieder-

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erkennen kann, sind in der Inhaltsangabe zu Beginn und am Ende mit einem Asteriskus (*) bezeichnet. Wie der Bearbeiter vorgeht, mag ein Beispiel zeigen. MG II, V. Que li larron – qui Dex puist cravanter – 1203 Qui reperoient enz el val de Sigré Erent venu d’une meson praer, 1205 D’un gentil home qu’il orent desrobé Et sa mesniee et lui encenbelé, .II. de ses filz li orent mort gité Et lui meismes et sa fame au vis cler Orent lessié loiez en .I. fossé 1210 Et de ses fillez firent lor volentez; Ne sai que die, molt ont vergondez. Tot lor avoir en orent amené, Dras et deniers et chevaus sejornez.

„Als die Raubmörder – Gott möge 1203 sie vernichten –, die ins Tal von Sigré zurückkehrten, eben ein Haus ausgeraubt hatten, da hatten 1205 sie zwei der Söhne eines Edelmannes, den sie ausgeplündert und sein Gesinde und ihn in Fesseln gelegt hatten, ihm getötet und ihn selbst und seine Frau von leuchtendem Antlitz in einem Graben gebunden 1210 liegen gelassen und an seinen Töchtern ihre Lust gebüßt. Was soll ich sagen? Sehr schändlich haben sie gehandelt! All seine Habe hatten sie ihm weggenommen, Kleider, Denare und Pferde behalten.“

WvO, V. Die mordenaers waren binnen desen Comen ende hadden roef gedaen Ende si hebben den sanc verstaen. Si quamen van < …> op dien dach, Dar si waren om hare bejach Ende enen edelen man hadden doet Ende sine maisnide ende sijn conroet Ende sine kindere; des gelike Si plagen dagelike. Si brachten tgoet, dat sine was, Nimanne en wondere das, Mordenaren noch oec dief En hebben nimanne soe lief, Si en soudene om clene dinc doden, Si en latens hem niet verbloden.

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„Die Raubmörder waren inzwischen gekommen und hatten Raub verübt, und sie haben den Gesang [des Knappen – das Signal] verstanden. Sie kamen von < …> an jenem Tag, als sie auf ihrem Beutezug waren, und sie hatten einen Edelmann getötet und seine Gesinde, sein Gefolge und seine Kinder. Dergleichen übten sie täglich. Sie brachten die Habe, die ihm gehörte. Niemand braucht sich darüber zu wundern. Auch jetzt haben Raubmörder noch niemand so gern, daß sie ihn nicht einer Kleinigkeit wegen töten und sich nicht davon abschrecken lassen.“

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Unter der – allerdings unsicheren – Voraussetzung, daß die Vorlage der Bearbeitung ungefähr so ausgesehen hat, liegt eindeutig eine solche und keine Übersetzung vor. Der Sachverhalt wird nur annähernd gleich beschrieben, die unterschiedliche Behandlung der Raubopfer in ein allgemei-

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nes Gemetzel verwandelt und dann eine Erzählerbemerkung zum allgemeinen Verhalten von Raubmördern hinzugefügt. Kürzungen begegnen allenthalben. Weggelassen sind z.B. die anfängliche Weigerung des Knappen zu singen, etliche Gebete Wilhelms oder die Worte des Engels im Kerker. Vielleicht fehlten sie schon in der Vorlage. Doch es gibt auch Zusätze, etwa bei der Lügenrede Landris. Übersetzungsfehler sind bei dieser unsicheren Textbasis schwer dingfest zu machen. Bei den Namen ist allerdings im WvO 418f. sicher etwas durcheinandergekommen: Ende van Polien Reinier, / Van Beaulande die ridder fier. Gemeint sind Renier de Gênes und Hernaut de Beaulande. Die Herkunftsbezeichnung de Pulle/van Polien würde dagegen zu Mille/Mile (vgl. WvO 422) gehören. Im übrigen macht die Bearbeitung aber einen recht gewandten Eindruck. Besondere literarische Meriten oder Defizite lassen sich aber aus dem geringen Material nicht herauslesen. Ob es sich um Reste aus einer alleinstehenden ‚Moniage Guillaume‘ oder einem ganzen Zyklus handelt, wissen wir natürlich auch nicht. Vielleicht deutet die Aufzeichnung in drei Kolumnen auf eine größere Handschrift mit viel Text (Kienhorst 1998, S. 129). Nicht weiterhelfen kann uns in diesen Fragen auch die Auffindung eines weiteren Fragments eines mnl. Versromans von Willem van Oringen in Oxford, Bodleian Library, Ms. Dutch b. 2, fol 6 (Kienhorst 1998). Denn der Blattrest enthält nur 29 verstümmelte Verse, die sich nur grob dem Sagenkreis um Guillaume d’Orange, aber keinem bestimmten afrz. Epos als Vorlage zuweisen lassen. [Manuskriptabschluß (Teil B, Kap. 3): Dezember 2011]

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Einleitung

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4 Kreuzzugsepen von Geert Claassens 4.1 Einleitung – 4.2 Der cycle rudimentaire – 4.3 Die épopées intermédiaires – 4.4 Die Fortsetzungen der ‚Conquête de Jérusalem‘ – 4.5 Die mittelniederländischen Übersetzungen – 4.6 Die Rezeption der Kreuzzugsepik im germanischen Sprachraum

4.1 Einleitung Die Kreuzzüge hatten von Anfang an eine enorme literarische Ausstrahlung. Die tatsächlichen Kreuzzüge wurden in Liedern sowohl auf Griechisch als auch auf Latein, aber auch in verschiedenen Volkssprachen besungen und beschrieben. Das Phänomen ‚Kreuzzug‘ war daneben auch Gegenstand von Predigten und Traktaten: Man rief zur Teilnahme an der peregrinatio Christi auf, daneben wurde aber auch über das ‚Wie‘, ‚Was‘ und ‚Warum‘ der Kreuzzüge nachgedacht. Die afrz. Kreuzzugsepen und ihre Fortwirkung im germanischen Sprachraum stehen hier trotz ihrer Begrenztheit als bedeutender Teil der Kreuzzugsliteratur im Zentrum des Interesses. Genauer betrifft dies den afrz. cycle de la Croisade, ein breit überlieferter Zyklus von Erzählungen über die Kreuzzüge der in seiner umfangreichsten Form etwa ein Dutzend Überlieferungszweige (branches) umfaßte. Die Genese dieses Zyklus erstreckt sich über einen Zeitraum von mehr als anderthalb Jahrhunderten und spiegelt sich in den handschriftlichen Überlieferungen. Die inhaltliche Differenzierung der verschiedenen Handschriften zeigt, wie sehr dieser Zyklus zur damaligen Zeit ein ‚literarischer Organismus‘ war. Dies erschwert es dem gegenwärtigen Forscher gleichzeitig, einen Zugang zu genauerem Verständnis des Inhalts, der Struktur und deren Zusammenhang zu finden. Daher können über den genauen Umfang der verschiedenen Branches lediglich ungefähre Angaben gemacht werden. Statt einer chronologischen Behandlung anhand konstitutiver Texte wurden deshalb die drei Entwicklungsstadien des Zyklus, die in der Forschungsliteratur allgemein als akzeptiert gelten, als Ausgangspunkt für diese Erörterung gewählt. Gerade weil die Rezeption im

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Kreuzzugsepen

germanischen Sprachraum so begrenzt ist – es gibt nur mittelniederländische Übersetzungen und diese sind sehr fragmentarisch – werden hier keine ausführlichen Zusammenfassungen der Texte geboten, sondern lediglich kurze Inhaltsangaben gemacht (ausführlichere Zusammenfassungen bei Claassens 1993 und Hennings 2008, S. 43–53). Alle Angaben, die handschriftliche Überlieferung des cycle de la Croisade betreffend, sind Myers (1977) und Claassens (1993, S. 419–430) entnommen. Der Einfluß des cycle de la Croisade wird in einer Gruppe von Texten, bestehend aus ‚Le chevalier au cygne et Godefroid de Bouillon‘, ‚Baudouin de Sebourc‘, ‚Le batârd de Bouillon‘ und ‚Saladin‘, die lange Zeit unter dem Namen deuxième cycle de la Croisade bekannt war, auf anschauliche Weise demonstriert. Obwohl vor allem im erstgenannten Text Material aus dem alten Zyklus aufgenommen wurde, liegt hier keine vollständige Umarbeitung (rémaniement) des älteren Zyklus vor. Diese zusammenhängende, jedoch nicht in zyklischer Form (da es keine Handschriften gibt, in die alle vier Texte aufgenommen wurden) verbundene Gruppe von Texten nimmt klar Abstand von biographischen Elementen, die in manchen Branches des cycle de la Croisade doch sehr prominent anwesend sind. Diese Texte werden im Folgenden außer Betracht gelassen, da es sich bei ihnen um keinen echten Zyklus handelt und die Texte darüber hinaus aus dem vierzehnten Jahrhundert stammen (Claassens 1992 u. 1993, S. 75–104).

4.2 Der cycle rudimentaire Inhaltsangabe – Abfassung und Überlieferung

Inhaltsangabe Der sogenannte cycle rudimentaire, der die drei ältesten und zentralsten Teile des Zyklus umfaßt, behandelt den ersten Kreuzzug und beschreibt die Ereignisse aus der Zeit zwischen 1095 und 1099. Es ist offensichtlich, daß dieses Triptychon einen festen historischen Kern enthält, es wäre aber falsch anzunehmen, daß es vollkommen frei von fiktionalen Elementen ist. Die ‚Chanson d’Antioche‘ beschreibt die Aktivitäten des Petrus von Amiens, geistlicher Führer des Volkskreuzzuges, die Reise des eigentlichen Kreuzfahrerheers nach Konstantinopel, die Belagerungen von Nicäa und Doryläum in Kleinasien, die Weiterreise durch Sizilien und Syrien, und darüber hinaus geht sie sehr ausführlich auf die schweren

Der cycle rudimentaire

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Gefechte während der Belagerung von Antiochia im Sommer 1096 ein. Der Text endet mit einer Beschreibung des endgültigen Sieges der Kreuzfahrer gegen den islamischen Anführer Corbaran. In ‚Les chétifs‘ stehen die Erlebnisse einiger Kreuzfahrer, die nach der Schlacht von Civetot am 21. Oktober 1096 in Kriegsgefangenschaft gerieten, im Zentrum. Der Text zerfällt in drei Teile, in denen jeweils Richard de Chaumont, Baudouin de Beauvais und Harpin de Bourges die Hauptrolle innehaben. Die drei Helden treten als champions für den bei Antiochia besiegten König Corbaran von Oliferne auf. Als dieser sich von seinem Lehnsherren anhören muß, er habe unnötigerweise eine Niederlage gegen die Kreuzfahrer erlitten, beschließt Richard de Chaumont, für Corbaran in einem Zweikampf anzutreten, womit Corbaran dem Sultan beweist, daß seine Niederlage unvermeidbar war. Baudouin de Beauvais seinerseits besiegt einen vom Teufel besessenen Drachen, der das Territorium des Sultans bedroht. Harpin de Bourges rettet einen jungen Neffen Corbarans nacheinander aus den Klauen von einem Wolf, einem Affen und einer Gruppe von Räubern. Als Belohnung für diese Heldentaten werden alle chétifs, also jeder, der nach der Schlacht von Civetot in Kriegsgefangenschaft kam, von Corbaran freigelassen. Das zentrale Thema von ‚La conquête de Jérusalem‘ ist die Belagerung und Eroberung Jerusalems am 15. Juli 1099. Die Erzählung umfaßt eine relativ kurze Zeitspanne aus der Geschichte des ersten Kreuzzuges, von der Ankunft des Kreuzfahrerheers vor den Mauern Jerusalems Anfang Juni 1099 bis einschließlich der Niederlage eines islamischen Befreiungsheers, welches kurz nach der Eroberung Jerusalems versuchte, die Stadt zurückzuerobern (möglicherweise ist dies eine literarische Bearbeitung der Schlacht bei Ascalon am 12. August 1099).

Abfassung und Überlieferung Die drei ältesten Teile des cycle de la Croisade, die ‚Chanson d’Antioche‘ (CA), ‚Les chétifs‘ (Cht) und ‚La conquête/chanson de Jérusalem‘ (CJ), bilden den Kern, das Mittelstück des Zyklus. Nota bene: Die weiter unten noch zu besprechenden épopées intermédiaires stehen in der zyklischen Struktur vor diesem Triptychon, sind aber erst später als Vorgeschichte (prequel) hinzugefügt worden. Problematisch ist, daß die drei Chansons CA, Cht und CJ nicht selbständig überliefert sind, sondern nur als Bestandteile des cycle rudimentaire. Verantwortlich für diese Zyklusgestaltung ist der sonst unbekannte Graindor de Douay: Mais Graindor de Douay nel velt mie oblier Ki vos en a les vers tot fais renoveler (CA 14f.: „G. de D. will ihn [den Anfang der Geschichte] nicht vergessen, der für euch die Verse davon ganz neu zu machen unternahm“). Aus Verweisen auf Ereignisse aus der Zeit Philipps II. August (1180–1223) leitet man ab, daß dieser in den letzten Jahrzehnten des zwölften Jahrhunderts tätig war (Duparc-Quioc 1976/78, Bd. II, S. 135–137). Graindor hat das Textmaterial, welches er zum cycle rudimentaire zusammenfügte, bestimmt nicht unverändert belassen; nicht nur

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Kreuzzugsepen

fügte er verbindende Abschnitte zwischen den drei Texten hinzu, sondern es ist zudem sehr wahrscheinlich, daß er für eine große Zahl an Verweisen auf z.T. jüngere Werke verantwortlich ist (ebd., S. 103–120). Die CA, die ca. 9500 Verse zählt, aufgeteilt in 374 laisses monorimées, ist der Ausgangspunkt des cycle rudimentaire und in elf Handschriften erhalten, von denen drei fragmentarisch sind. Die CA könnte von einem sonst unbekannten Richard le Pèlerin geschrieben worden sein: Cil qui le cançon fist sot bien dire les nons, Ricars li pelerins de qui nos le tenons „Derjenige, welcher die Chanson verfaßte, konnte die Namen richtig nennen, R. der Pilger, von dem wir sie haben“ (CA 9013f.). Cook (1980, S. 23–27) hat diese Zuschreibung an Richard zurecht in die Diskussion um die Verfasserfrage eingebracht, es gibt in dieser Sache aber noch keinen Konsens. Hatem (1932, S. 326–349) und Sumberg (1968, S. 328) sehen in der CA das Produkt einer literarischen Aktivität in Outremer, aber Cahen (1957, S. 314–315) gibt gute Kontra-Argumente. Über die Herkunft des Dichters ist ebenfalls schon viel Tinte verschrieben worden, aber die Auffassung von DuparcQuioc (1976/78, Bd. II, S. 228–234), die annimmt, daß der Dichter aus dem Ternois kam, scheint am ehesten akzeptabel. Was kaum noch bestritten wird, ist die frühe Datierung des CA um 1100, ziemlich kurz nach den Ereignissen, die den historischen Kern der CA bilden. Aus der chronologischen Perspektive ist die CJ der zweite Text des cycle rudimentaire. Genau wie die CA ist auch die CJ nicht ursprünglich von Graindor verfaßt, sondern von ihm für den cycle rudimentaire bearbeitet worden; der ursprüngliche Autor ist unbekannt. Die CJ, bestehend aus mehr als 9000 Versen, aufgeteilt in 271 laisses monorimées, ist in elf Codices überliefert, von denen vier nur in fragmentarischer Form erhalten sind. Man nimmt an, daß der Text um 1135 geschrieben wurde – eine Datierung, die auf der ‚nachträglichen Vorhersage‘ des Todes Thomas’ van Marle basiert. 1131 ist dieser angeblich wegen seiner Grausamkeiten gegen Geistliche und Bürger von seinem Lehnsherrn, Raoul de Vermandois, getötet worden (Kleber 1987, S. 178). Der Ursprung dieses Textes wird im Nordwesten Frankreichs vermutet, und es ist möglich, daß die Familie von Thomas van Merle, die Herren von Coucy, die Auftraggeber des Textes waren. Die CJ würde demnach als eine Art Rehabilitation Thomas’ van Merle fungiert haben, denn der Erzählung nach war Thomas der erste Kreuzfahrer auf der Mauer von Jerusalem (in Wirklichkeit war das Letold van Doornik), was ungefähr die einzige Heldentat wäre, die für ihn sprechen würde (Duparc-Quioc 1955, S. 39–44). Die Cht ist als letzter Text des cycle rudimentaire entstanden und wurde durch Graindor bearbeitet, um als Bindeglied zwischen der CA und der CJ

Der cycle rudimentaire

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zu fungieren. Der Text zählt mehr als 4000 Verse, aufgeteilt in 139 laisses monorimées, und ist in zehn Handschriften überliefert, von denen acht eine vollständige Version enthalten. Wie gesagt, ist Graindor nicht der ursprüngliche Verfasser von Cht, aber ein Teil des Textes, nämlich die zweite Episode mit Baudouin de Beauvais in der Hauptrolle, erlaubt, den Autor näher zu charakterisieren, wenn auch nicht exakt zu identifizieren. In der 54. Laisse lesen wir: Li boins princes Raimons ki la teste ot colpee, Ke Sarrasin ocisent, la pute gens dervee, […] Ceste cancons [fist faire] de verités provee. Li dus Raimons l’estraist, dont li arme est alee; Cil ki le cancon fist en ot bone soldee, Canoines fi [[fu?]] Saint Piere, de provende donee (Cht 1666–1675) „Der gute Fürst Raimond, der geköpft worden ist, den die Sarrazenen, das abscheuliche, wahnwitzige Volk, getötet haben, […] ließ diese unzweifelhaft wahre Chanson anfertigen. Derjenige, welcher die Chanson anfertigte, wurde gut entlohnt und mit einer Pfründe begabt. Er war ein Kanoniker von Saint Pierre.“

Aus diesen Versen kann mit großer Wahrscheinlichkeit erschlossen werden, daß der Dichter ein Kanoniker von Sankt Peter in Antiochia war und daß er seine Geschichte im Auftrag von Raymond von Antiochia (= Raymond von Poitiers, † 1149, zweiter Sohn von Wilhelm IX. von Aquitainien) schrieb (Myers 1984, S. 64f.; Philips 1991). Damit ist eine pauschale Datierung auf ca. 1140–1149 haltbar. Auf der Basis dieses Arguments nahm Hatem (1932, S. 391–394) an, daß die Cht in Outremer selbst entstand – eine These, für die er (im Gegensatz zu seinen Hypothesen zu CA und CJ) Zustimmung erhalten hat. Was die Baudouin-Episode angeht, nimmt man jedenfalls an, daß diese im Heiligen Land geschrieben wurde (Holmes/McLeod 1937, S. 102; Duparc-Quioc 1955, S. 74 u. 81; Myers 1981, S. XXII–XXXV; Myers 1984, S. 73). Das auffälligste Charakteristikum des cycle rudimentaire ist der (schwankende) historiographische Gehalt der Branches. Für den modernen Leser, der sich einigermaßen mit der Geschichte der Kreuzzüge auskennt, ist es offensichtlich, daß das historische Substrat dieser Texte beträchtlich ist. Es zeigt sich in den Übereinstimmungen zwischen der CA einerseits und einzelnen lateinischen Kreuzfahrerchroniken andererseits. Problematisch ist allerdings, daß es sich hierbei nicht um eine direkte gegenseitige Abhängigheit handelt. Entlehnt die CA aus lateinschen Chroniken, oder sind es umgekehrt die Chroniken, die die CA verwendet haben? Oder hat man es hier mit unabhängigen textuellen Traditionen, die das gleiche Thema behan-

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Kreuzzugsepen

deln und dabei nur durch ihr Medium abweichen (Latein versus Volkssprache), zu tun? Duparc-Quioc (1962, S. 10–15, 225–237 u. 247) verteidigte die These, die CA fungiere in ihrer präzyklischen Form als Quelle für die anonyme ‚Gesta Francorum et aliorum Hierosolimitanorum‘, ebenso aber auch für die Chroniken von Raymond von Aguilers, Fulkert von Chartres und später noch Albert von Aachen. Graindor dagegen habe bei seiner Bearbeitung der CA für den cycle rudimentaire große Stücke aus der Chronik von Robert von Reims übersetzt und inkorporiert. Ein anderes Beispiel für diese Vermischung von Fakten und Fiktion betrifft den möglichen historischen Hintergrund von der Richard de Chaumont-Episode in Cht. Holmes und McLeod (1937, S. 104f.) suggerieren, daß diese Episode eine Bearbeitung einer in Syrien zirkulierenden Erzählung über die Kriegsgefangenschaft Richards de Principatu und Bohemonds von Antiochia († 1111) sei. Parallelen zwischen der ChaumontEpisode und zwei Passagen in der ‚Historia ecclesiastica‘ von Ordericus Vitalis (1075–ca. 1142) stützen diesen Vorschlag, zeigen aber auch gleichzeitig die Nähe zwischen Texten, die in einem Augenblick als Dichtung und im nächsten als Historiographie bezeichnet werden. Es scheint, als werde die Definition des wechselseitigen Verhältnisses der lateinischen zur volkssprachigen Tradition innerhalb der mittelalterlichen Kreuzzugsliteratur noch immer stark durch die selbstverständlich anachronistische Auffassung, Texte auf Latein seien als Historiographie und volkssprachige als Dichtung anzusehen, verhindert. Ausgerechnet bei der Beschäftigung mit einem Gegenstand wie den Kreuzzügen sollte zwischen beiden Traditionen eine größere Nähe angenommen werden, als dies bisher der Fall gewesen ist; schließlich handelt es sich hier um eine Form zeitgenössischer Geschichtsschreibung, in der zugunsten eines anderen Publikums lediglich die gewählte Sprache verschieden ist. Die Tatsache, daß in den volkssprachlichen Texten durchaus häufig verifizierbare historische Fakten erkennbar sind, während die lateinische Tradition ihrerseits nicht ganz frei von fiktionalen Elementen ist, beweist die Nähe beider Traditionen zueinander.

Die épopées intermédiaires

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4.3 Die épopées intermédiaires Inhaltsangabe – Abfassung und Überlieferung

Inhaltsangabe Der zweite Ast des Zyklus, die épopées intermédiaires, besteht aus fünf Zweigen, die dem cycle rudimentaire inhaltlich vorausgehen (in zyklischer Reihenfolge): ‚La naissance (Les enfances) du chevalier au cygne‘ (NChCy), ‚Le chevalier au cygne‘ (ChCy), ‚La fin d’Elias‘ (FE), ‚Les enfances Godefroi‘ (EG), und ‚Le retour de Cornumarant‘ (RC). Die ersten drei Branches haben keine Verbindung zur Geschichte der Kreuzzüge, sondern erzählen sehr ausführlich die Geschichte des Schwanritters, der in dem gesamten Pentaptychon als Großvater Gottfrieds van Bouillon auftritt. Die zwei letztgenannten Branches enthalten zwar einzelne Verweise auf die Kreuzzugsgeschichte, diese scheinen aber vor allem als Verbindungselemente zwischen den épopées intermédiaires und der darauffolgenden Kreuzfahrterzählung zu fungieren. NChCy erzählt von der Herkunft des Schwanritters: Ein königliches Ehepaar hat sieben Kinder, aber die Mutter des Königs, die die Ehe verurteilt, entfernt die Kinder direkt nach der Geburt und ersetzt sie durch sieben Welpen (oder Schlangen). Die Königin wird zu Unrecht eingesperrt. Ein Diener erhält den Auftrag, die Kinder zu töten, beschließt aber aus Mitleid, sie im Wald zurückzulassen, wo sie von einem Einsiedler erzogen werden. Jahre später erkennt ein anderer Diener der bösartigen Mutter die Kinder im Wald, da sie alle die gleichen Kettchen um den Hals tragen. Im Auftrag der Mutter bemächtigt er sich sechs der sieben Kettchen, und die Kinder verwandeln sich auf der Stelle in Schwäne. Weil eines der Kettchen zu einem Becher umgeschmolzen wird, können nur fünf der Schwäne ihre Menschengestalt wieder erlangen. Das eine Kind, das Schwan bleiben muß, gibt Elias, dem einzigen Kind, das nicht in einen Schwan verwandelt wurde, seinen Namen: der Schwanritter. ChCy erzählt die Reise von Elias dem Schwanritter zum Hof Kaiser Ottos in Nimwegen. In dieser zum Klassiker gewordenen Geschichte tritt Elias als champion für die Herzogin von Bouillon gegen Herzog Rainier von Sachsen an. Als Gewinner eines gerichtlichen Zweikampfes erhält Elias die Hand von Beatrix, der Tochter des Herzogs von Bouillon. Nach dem Vollzug der Ehe bittet Elias Beatrix darum, ihn niemals nach seiner Identität zu fragen. Als Elias schläft, erscheint Beatrix ein Engel, der ihr prophezeit, daß sie einer Tochter das Leben schenken wird, die selbst wiederum drei Söhne gebären wird: einen König, einen Herzog und einen Grafen (= der spätere König Balduin I. von Jerusalem, Herzog Gottfried von Bouillon und Graf Eustach III. von Boulogne). Unterwegs von Nimwegen nach Bouillon wird die Reisegesellschaft von Elias und Beatrix unter Eskorte kaiserlicher Truppen von Anhängern des besiegten und getöteten Rainiers von Sachsen angegriffen. Am Ende werden die Angreifer besiegt,

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Kreuzzugsepen

und die Reisegruppe erreicht Bouillon in Sicherheit. Dort übernimmt Elias die Regierung, und bald wird ihm und Beatrix die Tochter Ida geboren. Ein Traum warnt Elias vor einem kurz bevorstehenden Angriff der Sachsen. Die darauf folgende Belagerung von Bouillon kann nur mit der Hilfe des Kaisers Otto aufgehoben werden. Ida kann nun in Frieden aufwachsen, aber am siebten Hochzeitstag beschließt Beatrix, Elias trotzdem nach seiner Identität zu fragen. Am nächsten Morgen bricht er auf nach Nimwegen, um Kaiser Otto um die Entbindung von seinen Pflichten zu bitten. In Nimwegen wird er daraufhin mit einem Kahn, der durch seinen einen Bruder, der noch immer in der Gestalt eines Schwans lebt, gezogen wird, abgeholt und verschwindet. FE umfaßt einerseits den Bericht, wie auch das letzte Schwanenkind seine ursprüngliche Gestalt wiedererlangt, konzentriert sich andererseits aber auf die Erlebnisse von Pons, dem Bannerträger von Elias in ChCy, und Abt Gerard von St. Truiden. Zusammen machen diese eine Pilgerfahrt nach Jerusalem, wo sie Cornumarant begegnen (was sich in EG noch als bedeutendes Ereignis herausstellen wird). Die Branche erzählt von ihrer Heimreise und ihrer zufälligen Ankunft im ‚neuen‘ Bouillon, dem gegenwärtigen Wohnsitz von Elias dem Schwanritter. Elias wird wieder mit Beatrix und seiner Tochter Ida vereint, der er voraussagt, daß sie bald heiraten und drei Söhne gebären wird. Er schenkt Ida seine Reichtümer und seine Waffen, die sie an Gottfried weiterreichen soll. Auf der Heimreise zum ‚alten‘ Bouillon bringt eine Taube Pons und Abt Gerard die Nachricht, daß Elias gestorben sei. Ida ist zu dem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt und empfängt ihre ersten Verehrer. In der vorletzten Branche, EG, wird erzählt wie Graf Eustach Kaiser Otto um die Hand von Ida bittet, der Tochter von Schwanritter Elias und Beatrix, die drei Söhnen das Leben schenken wird: Eustach, Gottfried und Balduin. Es ist vor allem Gottfried, der im Zentrum dieser Branche steht, sein Aufwachsen und seine erste Konfrontation mit dem islamischen König Cornumarant. Dieser reist in den Westen, nachdem ihm seine Großmutter Calabre prophezeit hat, daß die Christen Nicäa, Antiochia und den Tempel Salomons erobern werden; er will die Macht der Christen erkunden und Gottfried ermorden. In den Niederlanden angekommen, wird er von Gerard von St. Truiden, der Cornumarant während seiner Pilgerreise nach Jerusalem kennengelernt hatte, wiedererkannt (das Treffen der beiden wird in FE geschildert). Der Abt schreibt Gottfried von Cornumarants Plänen, und zusammen planen sie eine List, um Cornumarant in die Irre zu führen: Sie präsentieren ihm eine Waffenschau, in der die Christen viel mächtiger erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Cornumarant bejaht die Wahrheit der Prophezeiung gegenüber Abt Gerard und bittet um eine Unterhaltung mit Gottfried, der ihm verkündet, daß er Cornumarant innerhalb der nächsten fünf Jahre in seinem Königreich angreifen wolle. In RC steht die Rückreise von Cornumarant im Zentrum. Zu Hause angekommen, will er seine Glaubensbrüder vor dem nahenden Angriff der Christen warnen, gilt aber am Hofe des Sultans als Verräter. Durch einen Zweikampf gelingt es ihm, seine Freiheit wiederzuerlangen. Die Branche endet mit einer Ankündigung des Volkskreuzzuges unter der Leitung von Petrus dem Einsiedler und des Ersten Kreuzzuges unter der Führung von Gottfried von Bouillon.

Die épopées intermédiaires

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Abfassung und Überlieferung Der ChCy ist die älteste der fünf Branches und dürfte zwischen 1170 und 1187/88 verfaßt worden sein. Diese Datierung basiert auf einem Verweis auf ‚Fouques de Candie‘ (ca. 1170) in ChCy und der Tatsache, daß im Apokalypsekommentar von Geoffrey d’Auxerre (ca. 1187/88) Material aus ChCy verarbeitet wird (Claassens 1993, S. 45). Diese Branche zählt ca. 4600 Verse in 144 Laissen und ist in elf Handschriften überliefert. Von EG sind noch dreizehn Handschriften bekannt (nicht alle davon sind vollständig). Die Branche zählt mehr als 3700 Verse, verteilt über 149 Laissen. Ein Terminus post quem kann aus dem Bericht über die Eroberung von Akkon (St. Jean d’Acre) durch den französischen König Philipp abgeleitet werden: Puis venra cil Phelipes et l’autre baronie: Par forche prendra Acre, cele chité garnie (EG 2380f.). Die Hafenstadt hat sich den Kreuzfahrern am 11. Juli 1191 ergeben. Es ist übrigens auffällig, daß EG nur Philipp II. August als Eroberer von Akkon nennt, obwohl dies vielmehr die Leistung des englischen Königs Richard Löwenherz war. RC ist in sieben Handschriften erhalten und umfaßt ungefähr 1500 Verse, verteilt über 48 Laissen. Die Branche wird auf 1192 datiert (Krüger 1936, S. 262) und ist wohl mehr oder weniger gleichzeitig mit EG entstanden. Sie fungiert vor allem als Übergangsteil zum eigentlichen Kreuzfahrtzyklus; ihre Scharnierfunktion ergibt sich aus den verschiedenen Anspielungen auf die anderen Teile des Zyklus, ChCy, EG, CA und CJ (vgl. Bender 1986, S. 61–65). Die NChCy ist eine besondere Branche, weil von ihr gut und gerne vier Versionen bekannt sind, die jeweils nach der weiblichen Protagonistin benannt sind: die Beatrix-Version, die Elioxe-Version, eine Kompositversion dieser beiden und die Isomberte-Version, die lediglich in der spanischen ‚Gran conquista d’Ultramar‘ überliefert ist. Die Elioxeversion (3499 Verse, 106 Laissen) ist in einer Handschrift überliefert und wird auf das Ende des zwölften Jahrhunderts datiert (Sumberg 1968, S. 363). Die Beatrix-Version (ca. 3200 Verse, 145 Laissen) ist dagegen aus acht Handschriften, von denen nur vier einen vollständigen Text enthalten, bekannt. Der spanische Text und die Kompositversion bleiben hier außer Betrachtung. Dasselbe gilt für die Elioxe-Version, die womöglich der Beatrix-Version als Grundlage gedient hat. Hieraus folgt, daß die Beatrix-Version die jüngste aller Versionen ist. Sie steht hier im Zentrum des Interesses, da sie viel stärker an die Gesamtheit der épopées intermédiaires angepaßt wurde. Die Cygnus-Episode in dem ‚Dolopathos sive de rege et septem sapientibus‘ (ca. 1190) von Johannes von Alta Silva ist die Quelle dieser

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Erzählung (Mickel/Nelson 1977, S. LXXXXI–LXXXXIII). Ursprünglich hat diese Geschichte also ein eigenständiges Leben geführt und wurde wahrscheinlich zur Erläuterung der Abstammung des Schwanenritters zu den épopées intermédiaires hinzugefügt: Wer ist er und welches ist seine Herkunft? Die FE (ca. 2400 Verse, 59 Laissen) ist in sieben Handschriften jedes Mal als Fortsetzung von ChCy überliefert. Die Branche gehört zu den jüngeren Textteilen und hat als terminus ante quem das Jahr 1218, da im Präsens auf Kaiser Otto von Deutschland und König Philipp von Frankreich verwiesen wird. Otto IV. von Braunschweig war ein Zeitgenosse Philipps II. August und regierte von 1198 bis 1218 (vgl. Nelson 1985, S. XXVI). FE ist, genau wie NChCy, zu ChCy hinzugedichtet worden. Die Gesamtheit der épopées intermédiaires kann somit auf ca. 1170–1220 datiert werden, auch wenn es nicht möglich ist, alle Branches mit der gleichen Genauigkeit zu datieren. Die Urheberschaft der épopées intermédiaires ist alles andere als klar. Im RC und den EG wird ein gewisser Renaus erwähnt, seine genaue Rolle (Dichter, Kompilator, Kopist?) kann jedoch nicht ermittelt werden. Bender (1986, S. 60) nennt ihn noch als Autor, während Sumberg (1968, S. 49 u. 89ff.) in ihm nicht mehr sieht als einen jongleur, vielleicht der rémanier der épopées intermédiaires in zwei der Handschriften (Paris, B.N. mss. fr. 795 u. 1621), da die Erwähnung Renaus’ nur in diesen zwei Handschriften vorkommt. Bestimmt genauso interessant ist die Erwähnung der Abtei von St. Truiden in der FE: El rosne a Sainteron [St. Truiden, G.C.] fu trovés li escris: .I. Mounes le trouva, ki en rime l’a mis (FE 37f.: „In der Schriftrolle in Sainteron wurde das Geschriebene gefunden. Ein Mönch fand es, der es in Reime setzte“). Dies suggeriert, daß die Geschichte in St. Truiden gefunden und dort von einem Mönch in Versform gebracht wurde. Bei der Suche nach dem Entstehungsort des Pentaptychons lenkt dies den Blick ganz von selbst nach Norden. Man geht davon aus, daß die épopées intermédiaires in der Reichsromania, den französischsprachigen Gebieten des Römischen Reiches, entstanden sind: Ein deutscher Kaiser namens Otto spielt eine wichtige Rolle in diesen Branches, zudem findet sich eine auffallend gute Wiedergabe der Geographie von Bouillon und den umliegenden Gebieten (Bender 1986, S. 64f.). Claassens (1993, S. 47–55, u. 2007) begründet ausführlich, warum der brabantische Herzog Heinrich I. († 1235) als Mäzen in Betracht gezogen werden kann. Die Enstehungsperiode der épopées intermédiaires fällt grob gesehen mit seiner Regierungsperiode (1190–1235) zusammen, und darüber hinaus gelang es diesem Herzog durch seine Hochzeit mit Mathilde von Boulogne 1179 zudem, die Grafschaft Boulogne

Die épopées intermédiaires

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und das Herzogtum Bouillon in seinen Einflußbereich zu bringen. Die These von Heinrich I. als Mäzen erklärt sicher auch die bemerkenswerte Rolle von St. Truiden. Sint-Truiden war der Standort einer wichtigen Benediktinerabtei und während langer Zeit ein Zankapfel zwischen den Herzögen von Limburg, den Bischöfen von Lüttich und den Herzogen von Brabant. Tatsächlich aber war es Heinrich I., der während seiner Herrschaft die oberste Schirmherrschaft über die Abtei von Sint-Truiden erwerben konnte. Auch die bemerkenswerte Rolle von Nimwegen (das sonst in der afrz. Epik eine eher nebensächliche Rolle spielt) in verschiedenen Branches kann aus dieser Perspektive beleuchtet werden. Nimwegen war zwischen 1202 und 1204 in den Händen Brabants. Im Streit um die Thronfolge, der nach dem Tode Kaiser Heinrichs VI. († 1197) entbrannte, wußte Heinrich I. die Stadt zuungunsten des Grafen Ottos I. von Gelre († 1207) zu erobern. Der Graf von Gelre war ein Parteigänger des Thronprätendenten Philipp von Schwaben († 1208), während Heinrich von Brabant die Partei von Otto IV. von Braunschweig unterstützte, welcher sogar sein Schwiegersohn wurde, als er 1204 Heinrichs Tochter Maria heiratete. Übrigens: Daß der Kaiser in den épopées intermédiaires ausgerechnet Otto heißt, gibt angesichts dieser Hintergründe doch zu denken, oder handelt es sich hier um bloßen Zufall? Während des verheerenden ‚deutschen Kreuzzuges‘ im Jahre 1197 war Heinrich I. von Brabant der einzige Fürst, der mit der Eroberung von Sidon und Beirut im Oktober 1197 und mit dem Ausbau einer Landverbindung zwischen Jerusalem und der Grafschaft Tripoli noch militärischen Erfolg verbuchen konnte. Dieser Beweis ‚guten Kreuzfahrertums‘ mag die Kopplung der épopées intermédiaires an den cycle rudimentaire erklären, es ist hier aber nicht nur Heinrichs Beteiligung an den Kreuzzügen von Bedeutung. Die épopées intermédiaires scheinen auch eine historische Rechtfertigung für Heinrichs Streben nach dem Herzogtitel von Niederlothringen zu bieten. In der fünften Laisse des ChCy (V. 108–111) wird die Ankunft der Herzogin von Bouillon in Nimwegen folgendermaßen beschrieben: La vindrent a sa cort Baivier et Alemant Et une veve dame qui le cuer ot dolant Ducoise ert de Buillon et d’Ardane le grant Et si tenoit Hasbaing et Lovaing et Braibant. „Da kamen an seinen Hof Baiern und Deutsche und eine verwitwete Dame, die im Herzen bekümmert war. Sie war Herzogin von Boullon und Groß-Ardennen und besaß den Haspengau und Louvain und Brabant.“

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Die Witwe wird als Herzogin von Bouillon und den Ardennen vorgestellt, aber daneben auch als rechtmäßige Fürstin des Haspengaus und von Löwen und Brabant. In der neunten Laisse (ChCy 239–247) kommt die Abstammung der betreffenden Herzogin erneut zur Sprache, als sie dem Kaiser gegenüber ihre Ahnen aufzählt: Car jo sui del linage Rainalt, le fil Aimmon. Godefrois a le barbe, li viels dus de Bullon, Sire, cil fu mes pere, de moi fist norecon. Et li dus a le boce, qui Godefrois ot non, Sire, cil fu mes frere, que de fit [[fait?]] le set on. Andoi fumes jumel d’une conjontïon; Cil fu bons cevaliers et de fiere raison, Si conquist tot Hasbaing a coite d’esperon; Encore tieng jo de lui Lowaing et Sainteron. „Denn ich bin aus dem Geschlecht von R., dem Sohn A.s. G. mit dem Bart, der alte Herzog v. B., Herr, war mein Vater und zog mich auf. Und der Herzog mit dem Bukkel, der G. hieß, Herr, war mein Bruder, was als Tatsache bekannt ist. Wir beide waren Zwillinge aus einer Zeugung. Er war ein guter Ritter und mutigen Sinnes und eroberte den ganzen Haspengau in Parforceritt. Von ihm habe ich noch L. u. S. inne.“

Und ihr Stammbaum ist in der Tat beeindruckend: Sie gehört dem Geschlecht von Reinoud, Sohn des Aimon an. Ihr Vater ist Gottfried mit dem Bart, Herzog van Bouillon, und Gottfried der Bucklige ist ihr Bruder, von dem sie nach wie vor Löwen und Sint-Truiden in Besitz hat. Diese genealogische Information und die sich daran koppelnden Erbansprüche zeigen eine besonders beachtenswerte Mixtur von Wirklichkeit und Fiktion. Die Herzogin von Bouillon kann kaum als eine historische Person betrachtet werden, aber ihre Enkelin Ida wird als die Mutter von Gottfried von Bouillon vorgestellt und sowohl in ihr als auch in ihrem Sohn sind die historischen Personen sehr wohl erkennbar. Von Ida († 1113) ist bekannt, daß sie eine Schwester Gottfrieds des Buckligen († 1076) war und aus dem Hause Ardennen stammte, welches den Titel ‚Herzog von Niederlothringen‘ trug, und ihr Vater war tatsächlich Gottfried mit dem Bart († 1069). Der altfranzösische Text schreibt demnach Verwandtschaften und Erbansprüche der historischen Ida ihrer fiktiven Großmutter zu. Und der Anspruch auf Brabant ist an sich auch fiktiv. Brabant war niemals Besitz des Hauses Ardennen. Andersherum beanspruchten die Herzöge von Brabant über lange Zeit den Herzogtitel von Niederlothringen für sich! Der Titel wurde 1106 von Kaiser Heinrich IV. Gottfried I. mit dem Bart, dem ersten Herzog von Brabant († 1139), verliehen und seit dieser Zeit führten die Herzöge von Brabant diesen Titel, wenn daran auch keinerlei reale Macht oder

Die Fortsetzungen der ‚Conquête de Jérusalem‘

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Besitz geknüpft war. Bevor der Titel in brabantische Hände kam, führte ihn das Haus Ardennen. Nachdem Idas Bruder Gottfried der Bucklige im Jahre 1076 kinderlos verstarb, erhob Idas zweiter Sohn, Gottfried von Bouillon, Anspruch auf den Titel, und Kaiser Heinrich IV. verlieh ihn ihm im Jahre 1093. Nach Gottfrieds Tod im Jahre 1100 bekam Heinrich I. von Limburg den Titel, doch Kaiser Heinrich nahm ihm diesen im Jahre 1106 wieder ab und verlieh ihn nun Gottfried I. von Brabant. Die besprochenen Passagen in dem ‚Chevalier au cygne‘ dienen meines Erachtens zur Untermauerung der brabantischen Ansprüche, indem sie nämlich eine genealogische Verbindung des brabantischen Stammbaumes mit dem des Hauses Ardennen suggerieren. Die reale Verleihung des Titels an Gottfried I. von Brabant wird hier durch einen weiteren historischen Unterbau des Anspruches gestützt und zwar über einen Bezug zur Person Gottfrieds von Bouillon. Dieser letzte Abkömmling des Hauses Ardennen, der diesen Titel trug, wird in ‚Le chevalier au cygne‘ nämlich auf subtile Weise dem brabantischen Stammbaum zugeordnet und zwar als Enkel des Schwanritters. Ein positiver Beweis für ein brabantisches Mäzenat kann nicht erbracht werden, aber seine Annahme macht die beachtenswerten Besonderheiten dieses Textkomplexes verständlicher und läßt seine Merkmale deutlich plausibler erscheinen (Claassens 2007).

4.4 Die Fortsetzungen der ‚Conquête de Jérusalem‘ Inhaltsangabe – Abfassung und Überlieferung

Inhaltsangabe Mit dieser Textgruppe erreicht der cycle de la Croisade seinen größten Umfang. Zu diesem ‚Epilog‘ des Zyklus werden folgende Texte gezählt (in zyklischer Reihenfolge): ‚La chrétienté Corbaran‘ (CCor), ‚La prise d’Acre‘ (PA), ‚La mort Godefroi‘ (MG) und ‚La chanson des rois Baudouin‘ (RB). Mit diesen Fortsetzungen kommt es zu einer erneuten Hinwendung zur Kreuzzugsgeschichte in der Entwicklung des cycle de la Croisade. Sie erzählen grosso modo die Geschichte des lateinischen Königreichs von Jerusalem von der Schlacht bei Ascalon am 12. August 1099 bis zum Vorabend der Schlacht bei Hattin 1187. Wie sehr die historischen Kreuzzüge wieder im Zentrum stehen, wird aus den vielen wiedererkennbaren historischen Personen klar. Auf Seite der Christen stehen Gottfried von Bouillon und vier

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Kreuzzugsepen

seiner Nachfolger: Balduin I., Amalrich I., Balduin IV. der Aussätzige und Balduin von Bourg (hier in der Gestalt von Baudoin de Sebourc), auf islamischer Seite erkennt man unter anderen Saladin und dessen Bruder Malik-el-Adil wieder. Daß der Zyklus vor der eigentlichen Schlacht bei Hattin abrupt abbricht, ist nicht weiter verwunderlich, da Saladin in dieser Schlacht einen entscheidenden Sieg errang und damit der Untergang des lateinischen Königreichs von Jerusalem eingeläutet wurde. Obwohl die politische und militärische Geschichte der Kreuzfahrerstaaten in Outremer in den Vordergrund tritt, darf in keinster Weise ein in jeder Hinsicht präziser und wahrheitsgetreuer Bericht der Ereignisse erwartet werden, da Anachronismen und Verflechtungen verschiedener Ereignisse in diesen Fortsetzungen sowohl die Darstellung der historischen islamischen als auch der christlichen Seite betreffen (Roy 1929, S. 460–464; Bender 1986, S. 74). Abfassung und Überlieferung Grillo (1984, S. XXV) legt dar, daß im Falle der Fortsetzungen eigentlich nicht wirklich von Branches gesprochen werden kann. Er schlägt vor, einerseits CCor als Branche und andererseits MG, PA und RB als drei zu unterscheidende Episoden, die zusammen eine Branche bilden, zu sehen (Grillo 1984; 1987a; 1994). An anderer Stelle schreibt er: „The titles used in connection with Branch II designate the principal episodes of a continous and autonomous narrative, and should not imply a series of independently generated branches. Taken together, these episodes form a stilistically cohesive whole in MS BN 12569 where they all appear.“ (Grillo 1987a, S. XXII)

Daß MG, PA und RB trotzdem als mehr oder weniger selbständige Einheiten betrachtet werden müssen, folgt aus dem Gebrauch traditioneller Eröffnungsformeln (PA 1882: Or coumence cançons de bien enluminee …, wobei die Formel in diesem Beispiel allerdings nicht an der Grenze zweier Laissen, sondern mitten in einer Laisse steht). CCor ist in drei Handschriften (mit Spuren in einer vierten Handschrift) erhalten und zählt ungefähr 1500 Verse, verteilt über 25 Laissen. Die Branche scheint eine Ausarbeitung einer annonce in Cht (V. 2765–2773) zu sein: Dort kündigt Corbaran an, daß er mit 20000 seiner Glaubensgenossen zum Christentum konvertieren werde – eine Tat, die die islamische Welt in Aufruhr versetzen wird. Diese Verbindung zwischen Cht und CCor hat zu wilden Spekulationen bezüglich ihrer Urheberschaft geführt. Grillo (1984,

Die mittelniederländischen Übersetzungen

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S. XXI u. XXXIf.; 1987b, S. 588) plädiert jedoch in überzeugender Weise gegen die Annahme eines alleinigen Urhebers für beide Branches: CCor ist viel später zu datieren (ca. 1250–1300) als Cht und unterscheidet sich zudem von den anderen Branches des Zyklus durch den gemischten Gebrauch von Halbreimen und reinen Reimen (Grillo 1987b, S. 591f.). PA (ca. 1900 Verse, 69 Laissen), MG (ca. 1600 Verse, 45 Laissen) und RB (ca. 3300 Verse, 101 Laissen) sind in zwei Handschriften überliefert, von denen nur eine eine vollständige Version enthält (vgl. Myers 1977 u. Grillo 1987a, S. XV). Die Branche ist in ihrer Gesamtheit nicht leicht zu datieren (Grillo 1973). Der Verweis auf eine große Zusammenkunft von Gläubigen in den Kirchen von Lens und Boulogne, um dort die durch Gottfried von Bouillon nach Europa gesandten Reliquien anzubeten, liefert möglicherweise einen Terminus a quo. Diese Zusammenkunft wird in einer Urkunde von Graf Robert I. von Artois auf den 11. November 1247 datiert. Es könnte aber sein, daß die Laisse, in der die Zusammenkunft beschrieben wird, durch einen Kopisten hinzugefügt wurde und somit nicht von der Hand des Autors selbst stammt (Grillo 1987a, S. XXXII, Anm. 34). Möglicherweise enthält die Branche auch einen Verweis auf die 1257 mit einer allgemeinen Versöhnung beendete Fehde zwischen den Dampierres und den Avesnes. Im allgemeinen wird die Branche auf ca. 1250–1300 datiert. Für keine dieser Branches ist ein Autor bekannt, und auch ihr ‚Sitz im Leben‘ ist nur annäherungsweise bestimmbar. Für CCor fehlen die notwendigen Bezugswerte, für PA, MG und RB wird vermutet, daß der Anonymus möglicherweise unter dem Mäzenat einer der großen französischen Vasallenfamilien mit einer langen Kreuzfahrertradition, wie den Grafen von Artois, St. Pol oder Coucy, schrieb. Möglich wäre auch, daß Maria von Brabant, Ehefrau Philipps III. des Kühnen von Frankreich, die Auftraggeberin war – als Tochter des dichterisch tätigen Herzogs Heinrich III. von Brabant wird sie sich mit dem literarischen Betrieb ausgekannt haben, und in ihrer Familie herrschte zudem reges Interesse an der Kreuzzugsepik (Grillo 1987a, S. XXXIII–XXXV – s.o.).

4.5 Die mittelniederländischen Übersetzungen Die Rezeption des altfranzösischen cycle de la Croisade im germanischen Sprachgebiet zeigt sich in den mittelniederländischen Übersetzungen des Zyklus bzw. Teilen davon. Die mnl. Überlieferung ist aber lediglich fragmentarisch: Weder ist von den Teilen des Zyklus ein vollständiger Text,

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noch Material von den Verbindungsteilen erhalten. Die Handschriften werden durchgängig auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert (Claassens 1993, S. 111), es gibt aber keine Indikatoren gegen eine frühere Datierung der Übersetzungen selbst bis ins dreizehnte Jahrhundert hinein. Von zwei Branches des cycle de la Croisade, EG und CA, sind mnl. Fragmente erhalten. Von diesen mnl. Übersetzungen – ‚Godevaerts Kintshede‘ und ‚Roman van Antiochië‘ – sind acht Pergamentstreifen erhalten, die alle zu ein und demselben Codex gehört haben (Wien, cod. 15393; Gent, Bibliotheek der Rijksuniversiteit, 1647; Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, IV 209, 10; Löwen, Coll. J. Deschamps [ohne Sigle]). Sie wurden aufgrund der Schrift 1986 zum ersten Mal miteinander in Verbindung gebracht (Kienhorst/Mulder 1986, S. 93–95). Von ‚Godevaerts Kintshede‘ sind noch 60 z.T. unvollständige Verse mit einer fragmentarischen Beschreibung einer Waffenschau erhalten (Ausg. Claassens, S. 132–139). Diese Waffenschau ist folgendermaßen in die Erzählung eingebettet: Der sarazenische König Cornumarant ist nach Europa gekommen, um die Stärke der christlichen Heere auszukundschaften und, falls möglich, Gottfried von Bouillon zu ermorden. Cornumarants Mutter hat nämlich prophezeit, daß Gottfried mit seiner Armee kommen werde, um Cornumarants Territorium zu erobern. Cornumarant will versuchen, der Prophezeiung entgegenzuwirken, aber in den Niederlanden angekommen, wird er von Abt Gerard von St. Truiden, der Gottfried über Cornumarants Pläne informiert, wiedererkannt. Gottfried täuscht Cornumarant mit einer gewaltigen Waffenschau, bei welcher dieselben Abteilungen mehrfach vorbeiziehen. Hierdurch ist Cornumarant derart beeindruckt, daß er von seinem Mordvorhaben absieht und er Gottfried seine Identität offenbart. In den afrz. EG umfaßt dieser ganze Teil die Verse 2705–3606, allerdings gibt es nirgends wörtliche Übereinstimmungen zwischen Quellentext und Übersetzung, obwohl die inhaltliche Übereinstimmung zwischen beiden frappierend ist. Es ist offensichtlich, daß der Stoff im mnl. Text anders angeordnet wurde. In den Versen 11–15 von ‚Godevaerts Kintshede‘ vergleicht König Cornubrant seinen Widersacher Gottfried mit conijnc Tybaut van Arabye: Beide seien sehr reich und hätten einen imposanten Hofstaat. In der afrz. Fassung kommt dieser Vergleich auch vor, dort ist es aber Tiebaus li bers, qui maris fu Orable mit dem Gottfried verglichen wird. Überdies wird der Vergleich in den EG am Ende der Waffenschau vorgenommen, während er sich in ‚Godevaerts Kintshede‘ am Anfang der Waffenschau findet. Das überlieferte Material ist in seiner Menge zu begrenzt, um die Übersetzungs- und Bearbeitungstechnik genauer unter die Lupe nehmen zu können: Möglicherweise hat der Überset-

Die mittelniederländischen Übersetzungen

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zer seinen Quellentext durchgreifend bearbeitet, es läßt sich aber auch nicht ausschließen, daß in der afrz. Tradition Texte zirkulierten, die der mnl. Übersetzung näher standen. Die betreffende Passage weist übrigens große Ähnlichkeit mit einem Absatz aus den ‚Gesta Karoli Magni‘ (ca. 884) von Notker Balbulus auf – es ist sehr gut möglich, daß der Autor der EG seinem Publikum hier eine Parallele zwischen Karl dem Großen und Gottfried von Bouillon suggerieren wollte (Claassens 1993, S. 121). Vom ‚Roman van Antiochië‘ sind noch 175 Verse erhalten (Ausg. Claassens, S. 140–159), die sich auf divergierende Passagen in CA beziehen. Die Verse 1–24 entsprechen den Versen 3116–3127 von CA und beschreiben einen Ausbruch der in Antiochia belagerten Sarazenen durch die porte dou Feer. Diese Verse zeigen auf den ersten Blick, daß die Übersetzung weitschweifiger als der Quellentext ist, was sich größtenteils durch die unvermeidbare Redundanz, die bei einer Übersetzung in Versen auftritt, erklären läßt. Es ist schwieriger, die Verse 25–48 in CA zu verorten: Man spricht über einen gewissem Reymbaut, der seinen Gegner tötet und danach selbst von einem Sarazenen angegriffen wird. Dieser Reymbaut ist wahrscheinlich identisch mit Raimbaus Creton, der an mehreren Stellen in CA eine Rolle spielt. Aber der nächstfolgende Abschnitt nach dem Ausbruch durch die porte dou Feer, in dem Raimbaus Creton vorkommt, bezieht sich auf die Laissen CLXVI bis einschließlich CLXIX (CA 3798–3901). Dies birgt folgendes Problem: Aus kodikologischen Gründen muß man annehmen, daß dieser Teil der mnl. Übersetzung dem vorigen sehr dicht folgt, während in der afrz. CA ein größerer Textteil zwischen beiden Abschnitten steht (vgl. Claassens 1993, S. 126). Es ist natürlich nicht unmöglich, daß der Übersetzer seinen Quellentext intensiv umgearbeitet hat, es könnte aber durchaus auch der Fall sein, daß er eine abweichende Vorlage benutzt hat. Interpolationen aus CA in der Chronik Baudris von Bourgueil († 1130) lassen die Existenz von CA-Versionen mit abweichender Erzählstruktur, in denen der Auftritt von quidem miles Carnotensis, nomine Raibaudus Grato unmittelbar nach der Beschreibung des sarazenischen Ausbruchs vorkommt, allerdings sehr plausibel wirken (vgl. Claassens 1993, S. 126f.; Duparc-Quioc 1976/78, Bd. I, S. 207, Anm. zu Z. 3798, u. II, S. 220–225). Die Verse 49–84 beschreiben Kämpfe, in die Tancreid van Apulië und Bohemond van Tarente verwickelt sind. Diese kurzen Abschnitte lassen sich nicht exakt im Text von CA verorten, was einerseits am fragmentarischen Charakter der Passagen liegt, andererseits aber auch als Argument für die Annahme, der Übersetzer habe eine abweichende Version von CA gebraucht, gewertet werden kann (Claassens 1993, S. 127). In den Versen 85–115 erhält der Leser einerseits einen Bericht über das Blutbad, das

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die Kreuzfahrer bei der porte dou Feer unter den Sarazenen anrichten, andererseits die Schilderung von Grabungen, die die Kreuzfahrer unter der Leitung von Eustaes und Boudewijn in einem Berg durchführen. Die erste Gegebenheit der Geschichte hat eine interessante Parallele in CA, vor allem in den Versen 3757–3761, für die zweite Gegebenheit ist aber wiederum kein direktes Pendant im afrz. Quellentext auffindbar. Die Verse 116–175 gehören zur sogenannten ambassade de Sansadoine aus dem afrz. Text: die Gesandschaft, die die in Antiochia belagerten Sarazenen mit der Bitte um Hilfe zu ihrem Herrscher schicken. Die Jammerklage von Garsioen, Herr von Antiochia, scheint aus CA 4454–4459 entlehnt zu sein. Das Herbeirufen der sarazenischen Barone und die Rede Garsioens in den Versen 131–145 zeigen große Übereinstimmungen mit CA 4505–4513. Die bei Duparc-Quioc (1976/78, I, S. 234–235 u. 237) angegebenen Varianten lassen die Möglichkeit, sich dem Quellentext weiter zu nähern, leider nicht zu. Der fragmentarische Charakter der mnl. Übersetzung und die begrenzte Menge des Textmaterials bedingen, daß sich eine nähere Beschäftigung mit der Bearbeitungstechnik bis dato wenig lohnt, zumal es sehr wahrscheinlich ist, daß der Übersetzer eine abweichende, nicht erhaltene Version der afrz. CA benutzt hat. Zur Feststellung der Identität des Übersetzers von ‚Godevaerts Kintshede‘ und dem ‚Roman van Antiochië‘ sind bis jetzt noch nicht genügend Informationen vorhanden. Es ist allerdings bemerkenswert, daß die Fragmente klar erkennbar auf Flämisch verfaßt wurden: Der Kopist war also wohl ein Flame, aber auch seine Vorlage scheint flämischer Herkunft gewesen zu sein (Claassens 1993, S. 111f.). Ein flämisches Interesse an der Kreuzzugsepik ist in se nicht weiter erstaunlich, schließlich wird der cycle rudimentaire im Nordwesten Frankreichs angesiedelt (vgl. ebd., S. 30–35). Dies steht nun aber in einem Spannungsverhältnis zu der Tatsache, daß der afrz. cycle rudimentaire in seiner Ausbreitung mit den afrz. épopées intermédiaires – und ‚Godevaerts Kintshede‘ ist eine Übersetzung einer Branche der épopées intermédiaires! – hauptsächlich eine brabantische Angelegenheit war. Wenn man annimmt, daß die mnl. Übersetzungen von einem Flamen für ein flämisches Publikum angefertigt wurden, dann taucht auch hier die Frage auf, wie dieses Publikum zu definieren ist: Man nimmt an, daß der hohe flämische Adel frankophon war, und für eine nähere Bestimmung eines möglichen Publikums außerhalb dieser Kreise fehlen die nötigen Informationen (vgl. Besamusca 1991, S. 155). Es wäre naheliegender, auch von einer mnl. Tradition im Brabantischen im Kielwasser der brabantischen Beteiligung an der afrz. Zyklusbildung auszugehen, doch ist von einer solchen Tradition keine Spur erhalten. Die Verweise auf die Schwan-

Die Rezeption der Kreuzzugsepik im germanischen Sprachraum

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ritterlegende im ‚Spiegel historiael‘ (1283–1288) von Jacob van Maerlant weisen zwar darauf hin, daß diese Legende vor 1288 in Brabant und darüber hinaus bekannt war, lassen aber nicht automatisch zu, von einem brabantischen Hintergrund für die mnl. Übersetzungen auszugehen, da sich Jacob durchaus auf die afrz. Texte hätte beziehen können (Claassens 1993, S. 116–120). Die handschriftliche Überlieferung bietet aber sehr wohl ein mögliches Indiz für die Annahme, daß der vollständige Zyklus einst übersetzt wurde. Die Fragmente gehören wahrscheinlich zu einem Typ Codex, der im 14. Jahrhundert für Versepik gebräuchlich war: ca. 27 bis 30 cm hoch, niedergeschrieben in zwei Spalten von 40 bis 50 Zeilen, wobei ein durchschnittlicher Band 10 bis 15 Lagen mit vier Doppelbögen zählte. Hiervon ausgehend, würden die Fragmente aus einem Codex, der mehr als nur ‚Godevaerts Kintshede‘ und den ‚Roman van Antiochië‘ enthielt, stammen. Diesem Schema folgend, könnte man behutsam annehmen, daß dieser Codex der erste Teil eines zweiteiligen Ensembles gewesen sein könnte; der vollständige cycle de la Croisade in seiner am weitesten verbreiteten Form (wie etwa in der Hs. Paris, B.N. ms. fr. 12569, die 42315 Verse zählt) würde in diesem Typ Codex dann auch zwei Bände umfassen (Claassens 1993, S. 112f.).

4.6 Die Rezeption der Kreuzzugsepik im germanischen Sprachraum Gegenüber der beeindruckenden Überlieferung des afrz. cycle de la Croisade – alles in allem sind 24 Handschriften mit Teilen des Zyklus (einige davon nur fragmentarisch) erhalten – ist die Überlieferung im germanischen Sprachgebiet nur spärlich. Die mnl. Tradition läßt vermuten, daß der vollständige Zyklus einst ins Mittelniederländische übersetzt wurde. Daß ausgerechnet der brabantische Herzog Heinrich I. der wahrscheinliche Auftraggeber für die épopées intermédiaires gewesen sein könnte, macht das Vorhandensein der matière de la croisade in brabantischen Hof- und Adelskreisen äußerst wahrscheinlich. Und obwohl die erhaltenen Fragmente der mnl. Übersetzungen durchgängig aus dem 14. Jahrhundert stammen, gibt es eigentlich keinen Grund, auszuschließen, daß die Übersetzungen früher zustande gekommen sein könnten. Aber wenn man für diese auch von einem brabantischen Mäzenat ausgeht (was übrigens zu dem flämischen Charakter des mnl. Fragments in Widerspruch stehen würde!), dann stammt die Übersetzungsarbeit wahrscheinlich erst aus dem späteren

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13. Jahrhundert, denn erst unter Herzog Jan I. (1267–1294) zeichnet sich eine Hinwendung zum Mittelniederländischen als Literatur- und Kultursprache ab – was die Existenz früherer mnl. Texte und Übersetzungen in brabantischen Gebieten selbstverständlich nicht ausschließt. Dies ändert nichts daran, daß relativ wenig Spuren der mnl. Tradition erhalten sind, was natürlich an den Zufällen des Überlieferungsprozesses liegen kann, sich aber genausogut durch eine begrenzte initiale Verbreitung erklären lassen würde. Sehr stark ins Auge fällt die völlige Abwesenheit dieser stark historiographisch orientierten Kreuzzugsepik im deutschen Sprachraum. Obwohl die deutsche Beteiligung an den frühesten Kreuzzügen vielleicht weniger umfangreich war als die des französischen und niederländischen Adels, kann diese jedoch schwerlich für nicht existent gehalten werden. Darüber hinaus spielt der deutsche Adel in späteren Kreuzzügen sehr wohl eine prominente Rolle. Wenn man jedenfalls die Kreuzzugsepik zum Teil für narrative Propaganda ansieht, scheint aus dieser Perspektive die Annahme einer eigenen deutschen Tradition naheliegend. Dieses Rätsel – wenn es denn so genannt werden darf – wird durch ein zusätzliches Phänomen noch weiter verkompliziert: Wo sich innerhalb des deutschen Sprachraums ein Interesse für Kreuzzugslyrik in Gestalt einer einheimischen deutschen Tradition neben Bearbeitungen französischer Kreuzzugslieder abzeichnet, fehlt hingegen im niederländischen Sprachraum jede Spur lyrischer Texte, die sich direkt mit den Kreuzzügen verbinden ließen (f GLMF III). Diese Unterschiede zwischen den Niederlanden und Deutschland sind bislang nicht erklärbar. Zum Teil wird man dies aus den Wechselfällen der handschriftlichen Überlieferung (es ist sowieso relativ wenig mnl. Lyrik erhalten) erklären können, es ist aber naheliegend, auch hier von einem Unterschied in den literarischen Interessen auszugehen. Aus der Perspektive der literarischen ‚Migration‘ ist der cycle de la Croisade ein bemerkenswerter Fall. Die Wurzeln des Zyklus liegen klar im französischen Sprachgebiet, und es hat sehr wohl eine Rezeption im germanischen Sprachgebiet gegeben – davon zeugen jedenfalls die Fragmente der mnl. Überlieferungen. Der erste Schritt der Migration ist jedoch das Aufnehmen und Ausarbeiten des Zyklus unter dem Mäzenat eines brabantischen Herzogs, wobei in erster Instanz die verwendete Sprache nicht verändert wurde. Mit anderen Worten: Ein deutscher Fürst – und die Herzoge von Brabant waren nicht die geringsten! – rezipiert einen französischsprachigen Textkomplex und läßt ihn dann auf französisch fortsetzen. Später erfolgt eine Übersetzung ins Mittelniederländische, aber von einer weiteren Rezeption im Deutschen fehlt jede Spur. War der afrz. cycle de la

Literaturhinweise

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Croisade so sehr geprägt durch regionale und spezifisch genealogisch-dynastische Elemente, daß der Zyklus für deutsche aristokratische Mäzene uninteressant war? [Übersetzung (Teil B, Kap. 4): Erna Kornelis] [Manuskriptabschluß (Teil B, Kap. 4): Dezember 2011]

Literaturhinweise 1) Textausgaben Romanische Texte: [CA = ‚La chanson d’Antioche‘] La Chanson d’Antioche, hg. v. Suzanne Duparc-Quioc, 2 Bde., Paris 1976–1978. [ChCy = ‚Le chevalier au cygne‘] Le Chevalier au Cygne and La Fin d’Elias, hg. v. Jan A. Nelson, Tuscaloosa 1985 [The Old French Crusade Cycle II]. [Cht = ‚Les chétifs‘] Les Chétifs, hg. v. Geoffrey M. Myers, Tuscaloosa 1981 [The Old French Crusade Cycle V]. [CJ = ‚La conquête de Jérusalem‘] La Chanson de Jérusalem, hg. v. Nigel R. Thorp, Tuscaloosa 1992 [The Old French Crusade Cycle VI]. [CCor = ‚La chrétienté Corbaran‘] The Jérusalem Continuations. Part I: La Chrétienté Corbaran, hg. v. Peter R. Grillo, Tuscaloosa 1984 [The Old French Crusade Cycle VII/1]. [EG = ‚Les enfances Godefroi‘] Les Enfances Godefroi and Retour de Cornumarant, hg. v. Emanuel J. Mickel, Tuscaloosa 1999 [The Old French Crusade Cycle III]. [FE = ‚La fin d’Elias‘] Le Chevalier au Cygne and La Fin d’Elias, hg. v. Jan A. Nelson, Tuscaloosa 1985 [The Old French Crusade Cycle II]. The Jérusalem Continuations. The London-Turin Version, hg. v. Peter R. Grillo, Tuscaloosa 1994 [The Old French Crusade Cycle VIII]. [MG = ‚La mort Godefroi‘] The Jérusalem Continuations. Part II: La Prise d’Acre, La Mort Godefroi, and La Chanson des Rois Baudouin, hg. v. Peter R. Grillo, Tuscaloosa 1987 [The Old French Crusade Cycle VII/2]. [NchCy = ‚La naissance du chevalier au cygne‘] La Naissance du Chevalier au Cygne, hg. v. Emanuel J. Mickel u. Jan A. Nelson, Tuscaloosa 1977 [The Old French Crusade Cycle I]. [PA = ‚La prise d’Acre‘] The Jérusalem Continuations. Part II: La Prise d’Acre, La Mort Godefroi, and La Chanson des Rois Baudouin, hg. v. Peter R. Grillo, Tuscaloosa 1987 [The Old French Crusade Cycle VII/2].

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Kreuzzugsepen

[RB = ‚La chanson des rois Baudouin‘] The Jérusalem Continuations. Part II: La Prise d’Acre, La Mort Godefroi, and La Chanson des Rois Baudouin, hg. v. Peter R. Grillo, Tuscaloosa 1987 [The Old French Crusade Cycle VII/2]. [RC = ‚Le retour de Cornumarant‘] Les Enfances Godefroi and Retour de Cornumarant, hg. v. Emanuel J. Mickel, Tuscaloosa 1999 [The Old French Crusade Cycle III]. Germanische Texte: De Middelnederlandse kruisvaartromans, hg. v. Geert H. M. Claassens, Amsterdam 1993.

2) Forschungsliteratur: Bender 1986: Karl-Heinz Bender, Partie historique, in: K.-H. Bender u. Hermann Kleber (Hgg.), Le premier cycle de la croisade. De Godefroy à Saladin: entre la chronique et le conte de fées (1100–1300) [GRLMA III, tome 1/2, fasc. 5], Heidelberg 1986, S. 33–87. Besamusca 1991: Bart Besamusca, De Vlaamse opdrachtgevers van Middelnederlandse literatuur: een literair-historisch probleem, in: NTg 84 (1991), S. 150–162. Cahen 1957: Claude Cahen, Le premier cycle de la croisade (Antioche, Jérusalem, Chétifs): notes brèves à propos d’une livre (récent?), in: MAge 63 (1957), S. 311–328. Claassens 1992: Geert H. M. Claassens, The Status of the Deuxième Cycle de la Croisade: a Preliminary Note, in: Olifant 17 (1992), S. 119–133. Claassens 1993: De Middelnederlandse kruisvaartromans, hg. v. Geert H. M. Claassens (s.o. unter Textausgaben). Claassens 2007: Geert H. M. Claassens, Von Rencesvals nach Nimwegen. Über den ‚Sitz im Leben‘ der altfranzösischen épopées intermédiaires, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Chanson de geste im europäischen Kontext. Ergebnisse der Tagung der Deutschen Sektion der ICLS am 23. und 24. 4. 2004 in Köln, Göttingen 2008, S. 15–25. Cook 1980: Robert F. Cook, ‚Chanson d’Antioche‘, chanson de geste: Le cycle de la croisade est-il épique?, Amsterdam 1980. Duparc-Quioc 1955: Suzanne Duparc-Quioc, Le Cycle de la Croisade, Paris 1955. Duparc-Quioc 1962: Suzanne Duparc-Quioc, La composition de la ‚Chanson d’Antioche‘, in: Romania 83 (19620, S. 1–29 und 210–247. Duparc-Quioc 1976/78: La Chanson d’Antioche, hg. v. Suzanne Duparc-Quioc, 2 Bde. (s.o. unter Textausgaben). Grillo 1973: Peter R. Grillo, Note sur le Cycle de la Croisade du ms. B.N. fr. 12569: les reliques de Lens, in: Romania 94 (1973), S. 258–267. Grillo 1984: The Jérusalem Continuations. Part I: La Chrétienté Corbaran, hg. v. Peter R. Grillo (s.o. unter Textausgaben). Grillo 1987a: The Jérusalem Continuations. Part II: La Prise d’Acre, La Mort Godefroi, and La Chanson des Rois Baudouin, hg. v. Peter R. Grillo (s.o. unter Textausgaben).

Literaturhinweise

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Grillo 1987b: Peter R. Grillo, Les redactions de la ‚Chrétienté Corbaran‘, premiere branche des continuations du cycle de la croisade, in: CUERMA (Hg.), Au carrefour des routes d’Europe: la chanson de geste (CISR 10, Straßburg 1985), Aix-en-Provence 1987, S. 585–600. Grillo 1994: The Jérusalem Continuations. The London-Turin Version, hg. v. Peter R. Grillo (s.o. unter Textausgaben). Hatem 1932: Anouar Hatem, Les poèmes épiques des croisades. Genèse – Historicité – Localisation. Essay sur l’activité littéraire dans les colonies Franques de Syrie au moyen age. Paris 1932. Hennings 2008: Thordis Hennings, Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum. Die Rezeption der Chanson de Geste im 12. und 13. Jahrhundert – Überblick und Fallstudien, Heidelberg 2008. Holmes/McLeod 1937: Urban T. Holmes u. William M. McLeod, Source Problems of the ‚Chétifs‘, a crusade chanson de geste, in: RR 28 (1937), S. 99–108. Kienhorst/Mulder 1986: Hans Kienhorst u. Herman Mulder, Copiisten van Middelnederlandse literaire handschriften, in: Dokumentaal 15 (1986), S. 93–95. Kleber 1987: Hermann Kleber, Appendice, in: Karl-Heinz Bender (Hg.), Les Épopées de la Croisade. Premier colloque international (Trèves, 6–11 aôut 1984), Stuttgart 1987, S. 177–179. Krüger 1936: August Georg Krüger, Die Quellen der Schwanritterdichtung, Hannover 1936. Mickel/Nelson 1977: La Naissance du Chevalier au Cygne, hg. v. Emanuel J. Mickel u. Jan A. Nelson (s.o. unter Textausgaben). Myers 1977: Geoffrey M. Myers, The Manuscripts of the Cycle, in: Mickel/Nelson 1977, S. XIII–LXXXIX. Myers 1981: Les Chétifs, hg. v. Geoffrey M. Myers (s.o. unter Textausgaben). Myers 1984: Geoffrey M. Myers, Les ‚Chétifs‘. Etude sur le développement de la chanson, in: Romania 113 (1984), S. 63–87. Nelson 1985: Le Chevalier au Cygne and La Fin d’Elias, hg. v. Jan A. Nelson (s.o. unter Textausgaben). Phillips 1991: Jonathan P. Phillips, A Note on the Origins of Raymond of Poitiers, in: English Historical Review 106 (1991), S. 66f. Roy 1929: Emile Roy, Les poèmes français relatifs à la 1re croisade. Le poème de 1356 et ses sources, in: Romania 55 (1929), S. 411–468. Sumberg 1968: Lewis Sumberg, La ‚Chanson d’Antioche‘: étude historique et littéraire. Une chronique en vers français de la Première Croisade par le pèlerin Richard, Paris 1968.

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Kreuzzugsepen

Literaturhinweise

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5 Lothringerepen von Geert Claassens 5.1 Einleitung: Der Lothringer-Zyklus im Altfranzösischen und Mittelniederländischen – 5.2 ‚Garin le Lohérain‘ und ‚Gerbert de Metz‘ – 5.3 ‚Roman der Lorreinen‘ – 5.4 Die Rezeption der Lothringerepik im germanischen Sprachraum

5.1 Einleitung: Der Lothringer-Zyklus im Altfranzösischen und Mittelniederländischen Der afrz. Zyklus, der unter dem Namen geste des Lohérains bekannt ist, gehört zur Karlsepik und besteht in seiner umfangreichsten Form aus fünf Chansons de geste (in zyklischer Reihenfolge): ‚Hervis de Metz‘, ‚Garin le Lohérain‘, ‚Gerbert de Metz‘, ‚Anseys de Metz‘ und ‚Yon ou la Venjance Fromondin‘. Den Kern des Zyklus bilden ‚Garin le Lohérain‘ und ‚Gerbert de Metz‘, in dem die Geschichte von Vater (Garin) und Sohn (Gerbert) erzählt wird. ‚Hervis de Metz‘ ist eine jüngere Vorgeschichte (entstanden vor 1215), von der es eine kurze (ca. 10500 Verse) und eine längere (ca. 13000 Verse) Version gibt, in der die Geschichte von Hervis, Garins Vater, im Mittelpunkt steht. Von diesem Text sind drei vollständige Handschriften und zwei Fragmente überliefert (Hennings 2008, S. 41f.). Es wurden auch zwei Fortsetzungen der Kernteile verfasst, die insofern bemerkenswert sind, als sie zwei alternative Fortführungen der Geschichte der Kernteile bieten. Die eine, ‚Yon ou la Venjance Fromondin‘ (ca. 6600 Verse) ist nur aus einer einzigen Handschrift bekannt (Paris, B.N. ms. fr. 1622, Anfang 13. Jh.), in der sie zusammen mit ‚Garin le Lohérain‘ und ‚Gerbert de Metz‘ aufgenommen ist. Die andere heißt ‚Anseys de Metz‘ (Kurzfassung ca. 15000 Verse; Langfassung ca. 25000 Verse) und ist in fünf vollständigen Hss. und mehreren Fragmenten überliefert. Beide Fortsetzungen sind Anfang des 13. Jh.s entstanden und erzählen vom Tod Gerberts, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise (vgl. Hennings 2008, S. 39f.). Diese Fortsetzungen von ‚Garin le Lohérain‘ und ‚Gerbert de Metz‘ können hier des Weiteren

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Lothringerepen

außer Acht gelassen werden, da sie im germanischen Sprachraum – weder im Mittelniederländischen noch im Mittelhoch- bzw. Mittelniederdeutschen – rezipiert wurden. Von den beiden Kernteilen ist eine Übersetzung ins Mittelniederländische erhalten, die in der Medioniederlandistik unter dem Namen ‚Lorreinen I‘ bekannt ist. Daneben gibt es eine mittelniederländische Fortsetzung – genannt ‚Lorreinen II‘ –, in der die Verbindung zum afrz. Zyklus noch immer sichtbar ist, aber in der der anonyme mnl. Dichter seine eigene Version der Fortsetzung der Geschichte von Garin und Gerbert erzählt. ‚Lorreinen I‘ und ‚Lorreinen II‘ werden in der Sekundärliteratur normalerweise unter dem Namen ‚Roman der Lorreinen‘ zusammengefaßt. Die handschriftliche Überlieferung von ‚Lorreinen I‘ und ‚Lorreinen II‘ ist fragmentarisch (aber trotzdem noch immer stattlich) und ziemlich komplex. Wie bei den f Empörerepen (Teil B, Kap. 6) und den f Kreuzzugsepen (Teil B, Kap. 4) haben wir es hier mit einem Subgenre der Ritterepik zu tun, das zwar eine deutliche mittelalterliche Rezeption im niederländischen Sprachraum kannte, jedoch nicht im deutschen Sprachraum.

5.2 ‚Garin le Lohérain‘ und ‚Gerbert de Metz‘ Zusammenfassung – Abfassung und Überlieferung

Zusammenfassung ‚Garin le Lohérain‘ (nach Hennings 2008, S. 36f.): Als die Vandalen in Frankreich einfallen, beruft Karl Martell, da er nicht über ausreichende Mittel für einen Krieg verfügt, in Lyon einen Hoftag ein. In dem Herzog von Lothringen, Hervis de Metz, findet er einen getreuen Helfer im Kampf gegen die heidnischen Invasoren. Für seinen Heldentaten im Heidenkampf belohnt Gott Hervis mit einem Wunder: Er sendet ihm ein schwarzes Kreuz. Nachdem die Heiden dem König eine tödliche Wunde zugefügt haben, erliegt dieser in Paris seinen Verletzungen, und Hervis sichert Karls jungem Sohn und legitimem Erben, Pippin, den Thron. Anschließend reitet er über Châlons-surMarne, Verdun und Gorze nach Metz zurück. In Gorze beauftragt er den Abt damit, in seinem Namen um die Hand der schönen Aelis de Cologne, der Schwester Gaudins, zu werben. Mit ihr wird Hervis später zwei Söhne, Garin und Bégon, und sieben Töchter zeugen. Als die Heiden Metz belagern und Pippin ihm jegliche Hilfe versagt, tritt Hervis in den Dienst des Königs Anseis von Köln. Gemeinsam kämpfen sie siegreich gegen die Heiden, aber auf der Verfolgungsjagd wird Hervis getötet. Anseis bemächtigt sich daraufhin der Stadt Metz, und der getreue Bérengier bringt Garin und Bégon zu ihrem Onkel, dem Bischof von Châlons. Nach siebeneinhalb Jahren erklärt sich Pippin bereit, für die Waisen zu sorgen und belehnt Bégon mit der Gascogne, sehr zum Mißfallen der

‚Garin le Lohérain‘ und ‚Gerbert de Metz‘

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Bordelesen, allen voran Fromonts und seines Vaters Hardré. Nach dem Sieg über aufständische Vasallen erhält Garin schließlich Metz, sein väterliches Erbe, zurück. Als Heiden das Gebiet des Königs Thierri de Maurienne, Val Parfonde, belagern, führt Garin anstelle des kranken Pippin das französische Heer an und erringt dank göttlicher Hilfe einen triumphalen Sieg. Der im Kampf tödlich verwundete Thierri verspricht Garin auf dem Sterbebett die Hand seiner erst acht oder neun Jahre alten Tochter Blanchefleur. Vor lauter Neid stürzt sich Fromont auf Garin – vor den Augen des untätigen Königs. Da greift Hernais d’Orleans, ein Verwandter Garins, ein, tötet Hardré und schlägt Fromont in die Flucht. Dieser gelangt durch die Heirat mit Hélissent de Ponthieu, der Schwester des mächtigen Grafen von Flandern, zu neuer Macht. In Cambrai entbrennt ein Krieg zwischen den Bordelesen auf der einen und den Lothringern und Pippin auf der anderen Seite. Die Bordelesen erleiden schwere Verluste und erklären sich schließlich für besiegt. Aber schon naht ein weiterer Konflikt: Blanchefleur, die in der Zwischenzeit ein heiratsfähiges Alter erreicht hat, kommt nach Paris, um Garin zu ehelichen. Unter dem Vorwand, zwischen den Brautleuten bestehe ein allzu enger Verwandtschaftsgrad, bricht Pippin, der sich in die schöne Braut verliebt hat, die Trauung ab und vermählt sich selbst mit Blanchefleur. Im weiteren verleumdet Bernard de Naisil, ein Onkel Fromonts, Garin beim König. Aber durch einen Gerichtskampf verteidigt Bégon den guten Ruf seines Bruders und tötet seinen Gegner Isoré, den Bruder Fromonts. Der Krieg zwischen beiden Sippen entflammt erneut, als Bégon und Garin auf Blanchefleurs Rat mit zwei Nichten Pippins, Biatris und Aelis (beide Töchter von Milon de Blaives) verheiratet werden. Südlich von Bordeaux geraten Bégon und Biatris in einen Hinterhalt der Bordelesen. Bégon wird verwundet, und die Bordelesen nehmen seine Burg Belin ein. Mit Hilfe des königlichen Heeres wird die Burg umgehend befreit und im Gegenzug Bordeaux belagert. Schließlich kapitulieren die Bordelesen, und für die nächsten siebeneinhalb Jahre herrscht Frieden. Eines Tages wird Bégon auf dem Weg nach Metz während einer Wildschweinjagd im Wald von Lens, dem Gebiet Fromonts, von Wilderern getötet. Dies bedeutet ein jähes Ende des Friedens. Von Guillaume de Blancafort mit Gold bestochen, schlägt sich Pippin auf die Seite der Bordelesen. Der Krieg weitet sich bis zu den Toren von Paris aus. Nur dank der Königin schließen beide Parteien Frieden. Als Buße für die Tötung unzähliger Gegner will sich Garin auf eine Pilgerreise ins Heilige Land begeben, wird aber in einen Hinterhalt gelockt und ermordet. Die Söhne Bégons und Garins (Gérin, Hernaut und Gerbert) setzen den Kampf gegen die Bordelesen mit aller Härte fort. Mitten in den Kampfschilderungen bricht die Chanson ab (wird aber fortgesetzt im ‚Gerbert de Metz‘). ‚Gerbert de Metz‘ (nach Hennings 2008, S. 37f.): Die Lothringer unter der Führung von Gerbert und seinen beiden Cousins Hernaut und Gérin ersuchen den König Pippin um Unterstützung im Kampf gegen die Bordelesen. Dank der Intervention der Königin sagt ihnen dieser schließlich (nach langem Zögern) die gewünschte Hilfe zu. Währenddessen greifen Rigaut und sein Bruder Morant Bordeaux an und töten Fromonts Bruder und seinen Onkel. Pippin fordert Fromont auf, sich für die Tötung Bégons und Garins zu verantworten und droht, seine Länder zu verwüsten. Außer sich vor Zorn beschimpft Fromont den König und die Königin und stürzt sich auf den Überbringer der Botschaft, Gérart, der jedoch entkommen kann. Wenig später erscheint Fromont am Königshof, sagt Pippin hochmütig die Fehde an und bezichtigt die Königin des Ehebruchs mit Gerbert, Gérin und Hernaut. In dem nachfolgenden Kampf unterliegen die Bordelesen und fliehen. Gerbert erhält Géronville zum Lehen und belagert Val Par-

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Lothringerepen

fonde. Auf ihrer Flucht brennen die Bordelesen alle Burgen, die sich im Besitz von Gerbert, Gérin und Hernaut befinden, mit Ausnahme Géronvilles, nieder. Es folgt eine Schilderung der Belagerung Géronvilles. Doch die Stadt hält selbst den schwersten Belagerungsmaschinen stand. In der Zwischenzeit ist jedoch Pippin den Bestechungsversuchen der Bordelesen erlegen und verweigert (sehr zum Unwillen der Königin) den Lothringern fortan jedwede Unterstützung. Als er das Hilfegesuch des Königs Anseis von Köln abweist, eilen Gerbert und Gérin diesem im Kampf gegen die Heiden zu Hilfe. Als Dank für den Sieg bietet Anseis Gerbert die Hand seiner Tochter und ein Lehen an, aber Gerbert schlägt dieses Angebot aus und reitet an den französischen Königshof. Dort findet er Fromont und die Bordelesen vor, und es entbrennt sogleich ein heftiger Kampf. In einen Zweikampf gegen Fromonts Sohn Fromondin erringt Gerbert den Sieg für die Lothringer. Daraufhin begibt sich Fromont zu Yon, dem König der Gascogne, sammelt ein großes Heer und belagert Géronville erneut. Doch Fromonts Tochter Ludie, die sich in Hernaut verliebt hat, steht heimlich auf der Seite der Belagerten. Als Fromont die Burg durch Verrat einnehmen will, warnt sie ihren Geliebten, und die Bordelesen erleiden erneut eine totale Niederlage. Daraufhin schickt Fromont seinen Bruder Guillaume mit 10000 Goldmark, 100 Pferden und ebenso vielen Saumtieren zu Pippin, beteuert seine Unschuld und fleht ihn um Gnade an. Als Pippin dieses Angebot ausschlägt, kündigt Guillaume ihm im Namen Fromonts Fehde an und flieht. Auf der Verfolgungsjagd sterben der Verräter Bernart de Naisil sowie Guillaume und sein Sohn Garin. Gerbert, Gérin und Hernaut erleiden schwere Verwundungen. Ganz allein flieht Fromont auf einem Kaufmannsschiff, das von heidnischen Piraten gekapert wird. Fromont schwört im weiteren dem christlichen Glauben ab und tritt in den Dienst des Heidenkönigs Galafré. Mit einem großen heidnischen Heer bereitet er seine Rückkehr nach Frankreich und die erneute Belagerung Géronvilles vor. Währenddessen hat Fromondin mit Pippin und den Lothringern Frieden geschlossen und der Hochzeit von Hernaut und Ludie zugestimmt. Aber während eines Festes bricht der Krieg erneut aus. Als die Lothringer Pippin um Hilfe ersuchen, lehnt dieser, der ständigen Kämpfe müde, jede Unterstützung ab. Doch die Königin sammelt ein großes Hilfsheer, mit dem die Lothringer erneut einen Sieg erringen. Fromondin wird daraufhin Mönch, legt aber, als Gerbert ein großes Heer aufstellt, um Anseis von Köln im Heidenkampf zu unterstützen, seine Mönchskutte ab und trifft (mit Hilfe Pippins) Vorbereitungen für einen neuerlichen Verrat. In letzter Minute ändert er jedoch seinen Plan und kämpft gemeinsam mit Gerbert gegen die Heiden. Nachdem diese aus Frankreich geflohen sind, beginnt der Kampf zwischen den beiden verfeindeten Sippen aufs neue. Fromondin wird gefangengenommen, Gérin heiratet Anseis’ Tochter und wird zum König gekrönt. Im weiteren kämpfen die Lothringer wiederum gemeinsam mit den Bordelesen gegen die Heiden, die unter der Führung Fromonts in Frankreich eingefallen sind. Diesen Krieg bezahlt Fromont mit seinem Leben. Gerbert heiratet schließlich die Tochter des verstorbenen Königs Yon, nachdem er und seine Gefährten sie vor den heidnischen Invasoren gerettet haben, und wird König der Gascogne. Im weiteren kämpfen die Christen noch mehrmals erfolgreich gegen die Heiden. Auch der Krieg gegen die Bordelesen entflammt erneut, als Gerbert aus dem Schädel Fromonts eine Trinkschale anfertigen und Fromondin aus dieser trinken läßt. Fromondin schwört grausame Rache und tötet unter anderen Hernauts Zwillingssöhne. Schließlich verläßt er das Land und wird Eremit in der Nähe von Pamplona. Gerberts Frau stirbt, nachdem sie einem Sohn, Yon, das Leben geschenkt hat. Die Lothringer begeben sich nach Narbonne, wo sie die Tochter Aymeris de Narbonne aus der Gewalt heidnischer Invasoren befreien. Anschließend heiratet

‚Garin le Lohérain‘ und ‚Gerbert de Metz‘

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Gérart sie. Nach vier Jahren begeben sich Gerbert, Gérin und ihr Freund Mauvoisin gemeinsam auf eine Pilgerreise nach Santiago de Compostela. Als sie unterwegs in der Eremitage Fromondins Station machen, erwacht in diesem erneut der Wunsch, sie zu töten und seine Länder zurückzuerobern. Aber auch dieser Mordversuch schlägt fehl, und Fromondin wird von Gerbert getötet. Die Chanson endet mit der Rückkehr der Lothringer nach Frankreich.

Abfassung und Überlieferung Die beiden Kernteile des Lothringer-Zyklus sind jeweils – und immer zusammen! – in zwanzig Handschriften überliefert, von denen einige sehr alt sind (Paris, B.N. ms. fr. 2179, 12./13. Jh.; Oxford, Bodleian Library, Rawlinson Poetry 150, Anfang 13. Jh.). Die jüngste Ausgabe von ‚Garin le Lohérain‘ stammt von Iker-Gittleman 1996/97 (nach Hs. Paris, B.N. ms. fr. 1582), die von ‚Gerbert de Metz‘ von Taylor 1953 (nach Hs. Paris, Bib. de l’Arsenal, 2983). Daneben sind noch zahlreiche Fragmente überliefert (vgl. Bonnardot 1874; Viëtor 1876; Taylor 1953, S. XXIIf.; Van der Have 1990, S. 89–92; Iker-Gittleman 1996/97, Bd. I, S. 12–16). Die handschriftliche Überlieferung ist damit auch ein wichtiger Hinweis auf das Alter dieser zwei Chansons de geste. Über den Ursprung der Verbindung ‚Garin-Gerbert‘ ist sehr viel geschrieben worden (vgl. Pohoryles 1981), doch es scheint auch einen Konsens über eine Datierung um 1180–1200 zu geben. Möglicherweise hat ‚Garin le Lohérain‘ ältere Wurzeln (vgl. u.a. Grisward 1967, S. 321), jedoch hat Lecoy (1956) gute Argumente für eine Datierung dieser Chanson de geste auf 1185–1215. Ende des 12. Jh. scheint also eine sichere Datierung für die Verbindung von ‚Garin le Lohérain‘ und ‚Gerbert de Metz‘. Über die Autorschaft gibt es wenig zu sagen. Die Annahme, daß die zwei Epen ihre Ursprünge in der mündlichen Tradition haben, ist plausibel, jedoch nicht nachweisbar. Wer im 12. Jh. ihre Aufzeichnung veranlaßte – und damit die Autorschaft für sich beanspruchen könnte – ist leider auch nicht mehr bekannt. Die Romanistik hat sich zwar über den möglichen historischen Kern des Epos geäußert, hat jedoch die Frage nach einem möglichen Mäzenat und dem Zielpublikum bislang außer Acht gelassen. Die geste des Lohérains kann als eine umfangreiche Geschichte über Verrat und Rache verstanden werden, in der die Figur des Fromond den Verrat symbolisiert und die Figur des Garin die Rache. Diese Geschichte spielt sich vor dem Hintergrund eines Feudalsystems ab, das sich in starkem Verfall befindet: Der Monarch ist zu schwach, um der Fehde ein Ende zu setzen, und diese dauert dadurch über Generationen hinweg an. Der Zyklus

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Lothringerepen

zeichnet sich durch seine vielseitige Komposition, die viele Charaktere und einen großen geographischen Raum umfaßt, sowie durch realistische Beschreibungen aus.

5.3 ‚Roman der Lorreinen‘ Einleitung – ‚Lorreinen I‘: Abfassung, Überlieferung und Verhältnis zur altfranzösischen Vorlage – ‚Lorreinen II‘: Abfassung, Überlieferung, Zusammenfassung und Quellen

Einleitung Eine wissenschaftliche Untersuchung des ‚Roman der Lorreinen‘ wird nicht gerade dadurch vereinfacht, daß eine moderne Ausgabe aller überlieferten Fragmente fehlt. Wer sich in diesen Text vertiefen möchte, muß neun verschiedene Teileditionen zu Rate ziehen, eine Reihe, die die Chronologie der Entdeckung der Fragmente widerspiegelt. In chronologischer Reihenfolge: Jonckbloet (1844), Matthes (1876), De Vries (1883), Kalff (1886), Borchling (1922), Willner (1935), Overdiep (1939), Berteloot (1977) und Van der Have (1984). In diesen Publikationen wurden im Ganzen achtzehn Fragmente veröffentlicht, die vier verschiedene Handschriften repräsentieren. Doch wer diese Teileditionen spontan liest, wird sich schnell nicht mehr zurechtfinden: die logische Reihenfolge der Fragmente erschließt sich aus diesen Ausgaben nicht sofort. Diese ist jedoch in der einzigen ausführlichen Textstudie, der von Van der Have (1990), auf hervorragende Weise dargelegt. Und wer sich mit den Fragmenten beschäftigt, wird darüber hinaus sehr schnell den Eindruck bekommen, daß der Text nicht in seiner Gänze mit der afrz. geste des Lohérains korrespondiert. Im Mittelniederländischen ist gleichzeitig mehr und weniger als in der afrz. Vorlage überliefert. Die Fragmente, die ein Pendant zu der afrz. Tradition haben, werden im Folgenden unter dem Titel ‚Lorreinen I‘ behandelt werden. Die Fragmente, die, wie es aussieht, die Reste einer ursprünglichen mnl. Weiterführung der Übersetzungen von ‚Garin le Lohérain‘ und ‚Gerbert de Metz‘ sind, werden unter dem Namen ‚Lorreinen II‘ besprochen. Die Genese dieses mnl. Lorreinenkomplexes läßt sich in etwa vergleichen mit der von ‚Reinaerts historie‘: Der Dichter dieser – allerdings anders als ‚Lorreinen II‘ nicht originalen, sondern vorlagenabhängigen – Fortsetzung von ‚Van den vos Reynaerde‘ (f VI Die deutsche und niederländische Tierepik) bettete diesen Text in sein eigenes Werk ein, das damit

‚Roman der Lorreinen‘

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sozusagen zu einem integrierten Diptychon wurde. So dürfen wir auch annehmen, daß der anonyme Dichter, der die ‚Lorreinen II‘ schrieb, eine bestehende Übersetzung von ‚Garin le Lohérain‘ und ‚Gerbert de Metz‘ in ein größeres Werk einbettete, aus dem ein integriertes Diptychon – ‚Lorreinen I‘ und ‚Lorreinen II‘ – entstanden ist. Darüber hinaus ist es plausibel, daß es ursprünglich ein Triptychon werden sollte, doch ist bis jetzt noch kein Fragment gefunden worden, das dies belegen würde. Im Mittelpunkt der Forschung zur Genese des ‚Roman der Lorreinen‘ steht ein Ausschnitt, der deutlich als eine Art ‚Inhaltsangabe‘ des gesamten Werkes fungiert: Nu latic hier van hem bliven Ende wille vort bescriven Van desen boeke dandre partie. Derres boeke es altemale drie. Deerste boec die geet an Daer dese veede eerst began, En hint daer Fromondijn Bleef doet in die cluse sijn. Dese andre sal inden, dats waer, Noch harde lange hier naer Op Ritsarts doet, Yoens sone, Die harde stout was ende coene. Dan sal dat derde overliden Tote des keysers Vrederijcs tiden; Dat seecht die jeeste diet heeft bescreven. Nochtan es haer vele ontbleven Dat hemelijc, getrouwic, was. In die stat van Bordeas In Sente Severijns abbie Heeft men gescreven oyt ende ye Dese veede altemale, Ende dat na den rechte wale. In tween boeken leget daer Die harde groet sijn ende swaer, Daer dat Walsce ute es genomen, Daer dit mede ute es comen. Daer so leget in Latine. (Jonckbloet 1844, S. 74f., V. 17–43)

„Nun höre ich auf von ihm und will weiter schreiben den zweiten Teil von diesem Buch. Es gibt insgesamt drei von diesen Büchern. Das erste Buch beginnt dort, wo die erste Fehde begann, und endet, wo Fromondijn in seiner Klause tot lag. Das zweite wird wahrhaftig enden noch sehr viel später danach beim Tode Ritsarts, des Sohnes von Yoen, der sehr tapfer und mutig war. Dann wird das dritte führen bis zu Kaiser Vrederijcs Zeiten. Das sagt die darin beschriebene Geschichte. Jedoch fehlt davon noch viel, das geheim war, wie ich glaube. In der Stadt Bordeaux in der Abtei Sankt Severin hat man vor langer Zeit diese gesamte Fehde aufgezeichnet, und zwar zwar ganz getreu. In zwei Büchern liegt es dort, die sehr groß und schwer sind, woraus das Romanische entnommen ist, woraus zudem dieses gekommen ist. Dort liegt es in Latein.“

Aus diesen Zeilen können wir schließen, daß der ‚Roman der Lorreinen‘ aus drei boeken (Büchern, also Teilen) bestand oder auf jeden Fall als Triptychon geplant war (ob das dritte Buch nun wirklich geschrieben wurde, läßt sich bis zum heutigen Tag nicht nachweisen). Das erste Buch beschreibt die Geschichte von der Entstehung der Fehde zwischen den Bor-

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Lothringerepen

delesen und den Lothringern bis zum Tode Fromondijns (was dem Stoff von ‚Garin le Lohérain‘ und ‚Gerbert de Metz‘ entspricht). Das zweite Buch führt die Geschichte weiter bis zum Tode Ritsarts, dem Sohn Yoens (wofür es kein Pendant in der afrz. Tradition gibt). Das dritte Buch würde laut der oben dargestellten Inhaltsangabe die Geschichte fortführen bis zur Zeit des Kaisers Vrederijc. Durch das Fehlen überlieferten Textmaterials können wir nur über dessen Inhalt mutmaßen. Man könnte annehmen, daß die Geschichte bis zur Zeit Friedrich I. Barbarossas (Kaiser von 1152 bis 1190) oder Friedrich II. (Kaiser von 1218 bis 1250) weitergeführt würde, jedoch legt Van der Have (2007, S. 39f.; vgl. auch Van der Have 1990, S. 134f.) auf überzeugende Weise dar, daß Vrederijcs eine Kopistenverschreibung von Lodewijcs ist, was bedeuten würde, daß das Triptychon des ‚Roman der Lorreinen‘ sich vollständig im karolingischen Zeitalter abspielt, unter den Herrschern Pippin dem Jüngeren, Karl dem Große und dessen Sohn Ludwig. In der obigen Inhaltsangabe werden auch die Quellen des ‚Roman der Lorreinen‘ aufgezeigt. Die betreffenden Verse könnten als ein Verweis auf die Quelle für den ganzen ‚Roman der Lorreinen‘ interpretiert werden, aber wenn die Verse 41f. der Inhaltsangabe als nebengeordnet gelesen werden – und das ist die plausibelste Lesart (vgl. Overdiep 1935; Van der Have 1990, S. 34) – wird eigentlich nichts anderes gesagt, als daß in der St. Seurin-Abtei zu Bordeaux der lateinische Quelltext der afrz. geste des Lohérains aufbewahrt wurde. Aus der Inhaltsangabe und auch der handschriftlichen Überlieferung ergibt sich eine getrennte Behandlung der beiden Phasen, in denen der mnl. ‚Roman der Lorreinen‘ entstand. ‚Lorreinen I‘: Abfassung, Überlieferung und Verhältnis zur altfranzösischen Vorlage Was nun unter dem Namen ‚Lorreinen I‘ bekannt ist, ist, wie gesagt, eine bearbeitete Übersetzung der beiden Kernteile der geste des Lohérains, ‚Garin le Lohérain‘ und ‚Gerbert de Metz‘. Diese mnl. Übersetzung wurde aller Wahrscheinlichkeit nach um die Mitte des 13. Jh. von einem Dichter, dessen Name nicht überliefert ist, doch den wir aufgrund seines Sprachgebrauchs in Brabant ansiedeln können, verfaßt (Van den Berg 1983, S. 204f., u. 1987, S. 4–50). Von den ‚Lorreinen I‘ sind noch fünf Fragmente erhalten, die zusammen zwei verschiedene Codices repräsentieren (Kienhorst 1988, Bd. II, S. 120–122; Van der Have 1990, S. 69–81). Hs. C (Leiden, Universiteits-

‚Roman der Lorreinen‘

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bibliotheek, Ltk. 1022) weist noch 184 Verse auf, wovon nur noch 112 vollständig lesbar sind (Ausg. De Vries 1883, S. 9–16). Die vier Fragmente der Hs. B befinden sich in zwei verschiedenen Bibliotheken. B1–3 werden unter der Signatur 131 D 1 in der Königlichen Bibliothek der Niederlande in Den Haag (Ausg. Matthes 1876, S. 1–35) und B4 unter der Signatur Ltk. 1002 in der Universitätsbibliothek Leiden (Ausg. Van der Have 1984) aufbewahrt. Van der Have (1990, S. 105) hat aus kodikologischen Gründen argumentiert, daß die Handschriften B und C nur eine Übersetzung von ‚Garin le Lohérain‘ und ‚Gerbert de Metz‘ beinhalten und nicht als Überreste von Handschriften des ausführlichen ‚Roman der Lorreinen‘ angesehen werden dürfen. Auch haben sie keine Übersetzung von ‚Hervis de Metz‘ enthalten. Das ist ein erstes Argument für die Annahme, daß ‚Lorreinen I‘ von einem anderen Dichter verfaßt wurde als ‚Lorreinen II‘. Ein zusätzliches Argument entlehnte er der Forschung Evert van den Bergs über Versbau in mnl. erzählender Poesie: Der Text der Hss. B, C und D (s.u.) ist in der konservativeren synthetisch-statischen Versform geschrieben, während der von Hs. A (s.u.) in der progressiveren synthetisch-dynamischen Versform verfaßt wurde (Van den Berg 1983, S. 228; vgl. Van der Have 1990, S. 105f.). Damit ist eine doppelte Autorschaft für ‚Lorreinen II‘ noch nicht bewiesen, aber doch sehr glaubhaft. Die Fragmente der Hss. B und C korrespondieren mit den folgenden Teilen des afrz. Textes, in der folgenden Tabelle nach ihrer Position im Gesamttext wiedergegeben: Mnl. Fragmente

Afrz. Quelle (Ausg. Iker-Gittleman)

C (Ausg. De Vries 1883, S. 9–16)

V. 5128–5252 [Der Verräter Bernard de Naisil erreicht bei Pippin, daß Fromont seine Untaten wiedergutmachen darf]

B1 (Ausg. Matthes 1876, S. 1–7)

V. 9996–10109 [Begons Leiche wird nach Lens gebracht, wo Fromont sie erkennt]

B2 (Ausg. Matthes 1876, S. 8–21)

V. 10210–10434 [Fromont läßt Begons Leiche nach Metz bringen]

B3 (Ausg. Matthes 1876, S. 21–35)

V. 11367–11613 [Der junge Gerbert de Metz wird von Pippin zum Ritter geweiht]

B4 (Ausg. Van der Have 1984, S. 198, 201)

V. 13304–13394 [Guillaume de Blanchefort bringt Pippin dazu, die Lothringer ein Jahr lang nicht zu unterstützen]

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Lothringerepen

Die Tabelle verdeutlicht auf einen Blick, daß es große Lücken zwischen den verschiedenen Fragmenten gibt, zeigt aber auch, daß die mnl. Übersetzung um ca. 30 % länger ist als die afrz. Vorlage. Das ist ein Verhältnis, das im Prinzip die Annahme erlaubt, die Übersetzung entspreche der Vorlage ziemlich genau; die Ausweitung läßt sich größtenteils durch die unvermeidliche Redundanz, die beim Übersetzen in Versen entsteht, erklären. Durch die Bedingungen der Versform ist eine wörtliche Übersetzung schließlich nicht möglich. Der folgende Ausschnitt verdeutlicht die hier generell verwendete Übersetzungsmethode. ‚Lorreinen I‘, Fragment B1 – Ausg. Matthes 1876, V. 124–162

‚Garin le Loherenc‘, V. 10080–10106

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Sor une biere lievent le chevalier,

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Op ene bare, so men irst mach, leiden si den stouten man ende vordene henen van dan the Lens wert, then grave Fromonde ende hen volgeden die drie honde tote Lens in die zale. Daer leiden si den ridder tale op ene tafle die daer lach, daer Fromont op tetene plach met sinen riddren ende sinen ghenoeten, then hoghen feesten ende then groten. Die honde ginghen om hem staen ende lecten sine wonden saen, sine hande ende sijn antscijn. Scoenre man en mochte niet sijn dan die grave die daer lach; elken ontfarmes diene sach. Sijn lijf was claer ende wit. ‚Deus, wat ridder so was dit,‘ seiden riddren ende vrouwen. Alle waren sijs in rouwen. ‚Het was scade dat hi hier quam, daer hi dus sinen ende nam. Deus, hoe scone was sijn mont!‘ Elc prisdene die daer stont: ‚Het es scade alte groet dat hi dus es bleven doet vor onwerdeghe vule quadien. Een edel man met sire pertien hadde cume dorren bestaen.‘

et aprés lui s’arouterent si chien. Deci q’a Lens n’ont soign de l’atargier; sor une table o Fromons siaut mangier a haute feste, qant li cuens sa cort tient, couchent le cors del gentil chevalier, et entor lui se couchent si .iii. chien. Ullent et braient et mainent grant tempier, totes les plaies comancent a lechier, et puis le cors trestot de chief en chief: Dex ne fist home qui n’en preïst pitiè! Veoir le vont serjant et chevalier, et beles dames, borjois et escuier. Dit l’un a l’autre: ‚Veez quel chevalier,

com bele boiche! Dex! com cil nés li siet! En ceste terre l’a aporté pechiez! Or l’i ont mort li gloton pautonier: ja nus frans hom ne le vosist tochier, jantis ert molt, molt l’amoient si chien!‘

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Mettien quam Fromont toe gegaen ende besachene altemale, vore ende achter alse wale. Levende hadde hine ghesien, doet mochts hem te bat gescien. Hi herkindene bi eerre wonden die hi selve thenen stonden hem gaf in danscijn, den ridder fier, vor Sinte Quintijns int fergier.

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Cele parole ot Fromonz li guerriers qui conseilloit o le vassal Renier. Fromonz li cuens droit vers le cors en vient; il le regarde et devant et derrier: vif l’ot veü, mort le reconut bien, par une plaie q’enmi le vis li siet. Ses cors meïsmes l’i feri d’un espié sor Saint Quentin, par delez .i. vivier.

„Auf eine Bahre legten sie so rasch “Auf eine Bahre wie möglich den tapferen Mann legten sie den Ritter, und führten ihn hinweg nach Lens, den Grafen F., und ihm folgten die drei Hunde und nach ihm machten sich seine Hunde auf den Weg bis Lens in den Burgsaal. bis Lens wollten sie in schleunigst weiterbringen. Dort legten sie den Ritter auf eine Tafel nieder, die da stand, Auf eine Tafel, wo F. zu essen pflegte wo F. zu essen pflegte mit seinen Rittern und beim hohen Fest, wenn der Graf Hof Standesgenossen hielt, an den großen und hohen Festen. legten sie den Körper des edlen Ritters, Die Hunde stellten sich um ihn auf und um ihn herum lagerten sich seine drei Hunde. Sie heulten und jaulten und zeigten großen Jammer und leckten sogleich seine Wunden, und begannen alle seine Wunden zu lecken seine Hände und sein Antlitz. und dann den ganzen Körper von oben bis unten. Einen schöneren Mann konnte es nicht geben als den Grafen, der da lag. Jedem tat er leid, der ihn sah. Gott schuf niemand, welchem er nicht leid tat! Sein Körper war leuchtend weiß. Sehen wollten ihn Knappen und Ritter und schöne Damen, Bürger und Schildträger. ‚Ach, was war dies für ein Ritter!‘, Es sagte der eine zum andern: ‚Seht, sagten Ritter und Damen. was für ein Ritter,

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Lothringerepen Alle trauerten sie um ihn. ‚Es war schade, daß er hierher kam, wo er so sein Ende nahm. Ach, wie schön war sein Mund!‘ Jeder, der da stand, pries ihn: ‚Es ist ein allzugroßer Schaden,

welch schöner Mund! Gott, wie ihm diese Nase steht! In dieses Land hat ihn ein Verbechen gebracht.

daß er so gestorben ist durch schändliche Schurken. 152

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Nun haben ihn räuberische Schurken getötet, Ein edler Mann hätte ihn mit seinen denn kein edler Mann hätte ihn Scharen anrühren wollen. kaum zu bestehen gewagt.‘ Sehr edel war er, sehr liebten ihn seine Hunde! Dies hörte der Krieger F., der mit dem Vasallen R. Rat pflegte. Inzwischen kam F. hinzugegangen Graf F. kam geradewegs zu dem Körper, und besah ihn insgesamt betrachtete ihn vorne und hinten gleich wohl. von vorne und hinten. Lebend hatte er ihn gesehen, Lebend hatte er ihn gesehen, tot sollte es ihm um so besser tot erkannte er ihn wohl gelingen. Er erkannte ihn an einer Wunde an einer Wunde, die er ihm selbst einmal die mitten auf seinem Antlitz war. im Antlitz beibrachte, dem kühnen Er selbst hatte sie ihm beigebracht mit Ritter, einer Lanze bei Saint Quentin im Baumgarten.“ bei Saint Quentin neben einem Teich.“

Selten werden Details ausgelassen, dann und wann Informationen verschoben, aber im Prinzip hält sich der Übersetzer an den Inhalt der Vorlage. Hierfür braucht er, wie bereits erwähnt, durchweg wesentlich mehr Worte als der afrz. Quelltext. Im überlieferten Textmaterial gibt es nur eine Stelle, an der sich die Übersetzung wesentlich von der Quelle unterscheidet. In ‚Garin le Lohérain‘ (V. 11472–11555) wird der junge Gerbert de Metz von seinem Vater Garin nach Paris geschickt, wo König Pepin ihn zum Ritter weihen wird. Dieser festlichen Angelegenheit wohnen viele Adlige und Ritter bei, u.a. Auberi le Borgoinz und Gerberts Brüder Hernaut und Gerin. Im afrz. Text wird das Ritual ausführlicher und mit viel mehr Detailtreue beschrieben als in der mnl. Übersetzung (‚Lorreinen I‘, Fragment B3 – Ausg. Matthes 1876, V. 131–226). In diesem Fragment (Van der Have [1990, S. 99–103] zitiert Übersetzung und Quelle vollständig) kürzt der Überset-

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zer Stellen, arbeitet sie aus und ändert sie auf eine Weise, die in den anderen Fragmenten nicht vorkommt. Auffallend ist vor allem die geänderte Einkleidung der tatsächlichen Ritterweihe: in ‚Garin le Lohérain‘ geschieht dies lediglich durch die Schwertleite; in der Übersetzung jedoch durch Schwertleite und Ritterschlag. Diese Ausweitung der Zeremonie hängt möglicherweise mit historisch und regional bestimmten Änderungen im Ritual der Ritterweihe zusammen (im 13. Jh. wird der Ritterschlag wichtiger), doch fehlen uns leider weitere Indizien, um dies für ‚Lorreinen I‘ näher zu belegen. Der Eindruck, daß der Übersetzer normalerweise den Inhalt seiner Vorlage treu umsetzte (mit Ausschweifungen aufgrund der Versredundanz), kann durch die fragmentarische Überlieferung verzerrt sein: Es ist immer möglich, daß er an anderen Stellen auch von seinem Quelltext abwich, wie in dem oben dargelegten Beispiel. Doch solange kein neues Textmaterial auftaucht, bleibt dies reine Spekulation. Es dominiert der Eindruck einer Übersetzung, die der Vorlage inhaltlich genau folgt. ‚Lorreinen II‘: Abfassung, Überlieferung, Zusammenfassung und Quellen Der zweite Teil des ‚Roman der Lorreinen‘ – ‚Lorreinen II‘ – kann nicht genau datiert werden, wird aber mit Sicherheit noch im 13. Jh. entstanden sein, da er markante Übereinstimmungen mit dem mnl. ‚Roman van Heinric ende Margriete van Limborch‘ aufweist, den der ansonsten unbekannte Dichter Heinric im Jahre 1291 begonnen haben soll (Huet 1905, S. 1–3). Van der Have (1990, S. 139–140) behandelt die Datierungsproblematik ausführlich und legt überzeugend dar, daß ‚Lorreinen II‘ vor dem ‚Limborchroman‘ geschrieben wurde. Der Terminus post quem wird von ‚Lorreinen I‘ geliefert, und gewiß von dessen Quellen, doch kann dies noch weiter eingegrenzt werden. Van der Have (ebd., S. 123–128) behandelt die zusätzlichen Quellen, die der Dichter der ‚Lorreinen II‘ verwendet hat. Hierzu gehören die Chronik des Pseudo-Turpin, die Weltchronik von Sigebert de Gembloux und die Weltchronik von Hélinand de Froidmont, jedoch ist es das ‚Speculum historiale‘ von Vincent de Beauvais, das es uns als zusätzliche Quelle erlaubt, 1256 als Terminus a quo anzunehmen. Wenn man alles in Betracht zieht, ist eine Datierung in das letzte Viertel des 13. Jh. ein sicherer Standpunkt. Es ist nicht bekannt, wer die ‚Lorreinen II‘ geschrieben hat, doch aufgrund der Sprache kann mit Sicherheit angenommen werden, daß er aus Brabant stammte (Van den Berg 1983, S. 204f.). Es ist nicht undenkbar,

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daß der Dichter zur Zeit von Herzog Jan I (regn. 1267–1294) für den Hof zu Brabant arbeitete: Da verschiedene Herzöge Brabants den Titel dux Lotharingiae führten, werden sie einem literarischen Werk, in dem die Lothringer eine auffallende und positive Rolle spielten, wohlgesinnt gewesen sein (Van der Have 1990, S. 143–147). Überdies hatten die Fürsten von Brabant eine ausgesprochene ‚karolingische Vorliebe‘. Sie erhoben sogar, als Nachkommen des karolingischen Königshauses, Anspruch auf den französischen Thron (Heymans 1983, S. 3–89). Hier läßt sich auch eine Verbindung zu der Verschiebung sehen, die im Übergang von ‚Lorreinen I‘ zu ‚Lorreinen II‘ sichtbar wird: Die Handlung der afrz. Tradition spielt zur Zeit Pippins (beginnt sogar mit Karl Martell), wohingegen die mnl. Tradition Karl den Großen wieder in den Mittelpunkt stellt. ‚Lorreinen II‘ ist in dreizehn Fragmenten überliefert, die zusammen genommen über 10000 Verse beinhalten (Kienhorst 1988, Bd. II, S. 115–120; Van der Have 1990, S. 41–69 u. 81–84). Zwei dieser Fragmente umfassen einen beträchtlichen Teil des Textes, jeweils 2160 sowie 4677 Verse, die aneinander anschließen. Hs. D ist ein Blatt einer dreispaltigen Handschrift, die unter der Signatur 18430 in der Königlichen Bibliothek Brüssel (Ausg. Kalff 1886, S. 130–137) zu finden ist. Hs. A war auch eine dreispaltige Handschrift, deren Fragmente auf neun Bibliotheken verteilt aufbewahrt werden. A1–2 befinden sich in Gießen (Universitätsbibliothek, 98) und liefert den größten Teil der ‚Lorreinen II‘: eine zusammenhängende Gruppe von sechs Blättern (2160 V., Ausg. Jonckbloet 1844, S. 1–73) sowie eine von dreizehn Blättern (4677 V., Ausg. Overdiep 1939, S. 19–34). Der Inhalt der ‚Lorreinen II‘ kann (mehr oder weniger) wie folgt zusammengefaßt werden (als Vorlage dient mir hier Van der Have 2007, S. 33–37). [Buch I] Der Inhalt des ersten Buchs entspricht dem von ‚Lorreinen I‘, wobei denkbar – jedoch nicht beweisbar – ist, daß der Text leicht angepaßt wurde, um einen Zusammenhang mit der vorgesehenen Fortsetzung herzustellen. [Buch II, erster Teil] Nach dem Tod Pippins folgt ihm Karl der Große auf den Thron. Die Lothringer werden durch Yoen und Garijn, den Söhnen des Gierbeert van Mes, verstärkt. In Gelloen (dem Erzverräter Ganelon) finden sie einen würdigen Gegner. Verbittert werden sich die Lothringer der Tatsache bewußt, daß der Anführer der Bordelesen zu ihrer eigenen Familie gehört: Ernaut, der zweite Sohn von Begge (Begon), ist sein Vater, und Ludie, Tochter Fromonds von Lens, ist seine Mutter. Wie sein Großvater Fromond ist Gelloen der Herzog von Bordeaux. Schnell zeigt sich Gelloen von seiner schlechtesten Seite und wird nach Afrika verbannt, wo er sich keineswegs bessert. Er steht König Agulant im Kampf gegen Desrames bei, wechselt aber die Seite, als Desrames ihm die Hand seiner Tochter verspricht. Sie wird die Mutter von Gelloens beiden Söhnen, Beligant und Marcilijs. Überladen mit Unehre kehrt Gelloen nach Frankreich zurück und läßt die beiden einander heftig be-

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kriegenden Sarazenengruppen hinter sich. Die erste Gruppe, unter der Führung seiner Söhne, steht auf seiner Seite. Die zweite Gruppe, mit Agulant als Anführer, will sich an Gelloen rächen. Weil Gierbeert den Eremiten Fromondijn getötet hat, fühlen sich die Bordelesen gezwungen, Rache zu nehmen. Gelloen tötet Gierbeert und auf diese Weise setzt sich die Fehde fort. Nun ist Yoen an der Reihe. Yoen hat viele Besitztümer. Er heiratet die Tochter des Aspriaen, der König des weit entfernten Scythia (Sciten) ist. Als sein Schwiegervater stirbt, erbt Yoen dessen Königreich. Im Westen besitzt er Gascogne, Flandern, Reims und Narbonne. Auch tritt er als Lehnherr seines Neffen Otte für Lothringen und Metz, die Rhein-Maas-Region und die Stadt Köln auf. Ihm wird sogar Bordeaux zugewiesen – als Strafe für Gelloen, der zu weit gegangen ist. Die nächste Generation wird nun eingeführt. Yoen hat einen Sohn und eine Tochter, Ritsart und Judit. Sein Bruder Garijn hat einen Sohn, Girbeert. Der Tod seiner Frau läßt Yoen mit seiner Tochter Judit allein zurück. Er bringt sie bei seinem Bruder Garijn unter, doch auch dessen Frau stirbt. Otte und seine Frau Helene wohnen der Beerdigung bei und Yoen hält sie für geeignete Pflegeeltern für Judit: Otte ist sein Neffe und er hat gelernt, die höfische Art Helenes zu schätzen. So bricht Judit nach Köln auf. Während der Abwesenheit Karls des Großen bricht der Krieg zwischen den Bordelesen und den Lothringern in all seiner Heftigkeit aus. Zum Teil wird dies durch die Heirat von Karls Sohn Lodewijc (Louis) mit Yoens Tochter Judit verursacht. Diese Heirat weckt Angst und Wut bei den Bordelesen, die diese als eine ungerechte Begünstigung ihrer Gegner empfinden. Als Karl zurückkommt, ergreifen die Lothringer ihre Chance: verschiedene Bordelesen werden gehängt und Gelloen flieht als Pilger vermummt nach Köln. König Otte heißt ihn dort herzlich willkommen. Gelloen findet noch eine Möglichkeit, um die bevorstehende Heirat zwischen Lodewijk und Judit zu verhindern: sollte Judit in einem Bordell untergebracht werden, wäre die Wahrscheinlichkeit groß, daß der junge König sie nicht mehr heiraten möchte. Um Otte davon zu überzeugen, mit ihm zusammen diesen Plan in die Tat umzusetzen, erzählt ihm Gelloen, daß König Yoen mit Ottes Frau Helene Ehebruch begangen hat. Der wütende Otte glaubt Gelloen und gibt den Befehl, Judit in ein Bordell zu bringen. Jedoch befreit sie Jan von Mes (Metz), ein Ritter, der auf der Seite der Lothringer steht, und bringt sie nach Aachen. Otte und Gelloen verfolgen sie und belagern Aachen, aber ziemlich schnell durchschaut Otte Gelloens Lügen. Gelloen ist König von Schweden und hat keine andere Wahl als dorthin zu fliehen. Dort vermählt er seine Tochter Yrene mit Leo, dem Sohn Konstantins und zukünftigen Kaiser Griechenlands. Als die Ehe zwischen Lodewijc und Judit in Paris vollzogen ist, haben auch die Lothringer und Bordelesen sich erneut Verstärkung geholt, Yoen die Kaiserin Roms und Gelloen die Kaiserin Griechenlands. Als Karl seinen Hof zu Aachen zusammenruft, klagt Yoen seinen Neffen Otte an. Er gewinnt den Prozeß und kommt zu seinem Recht. Aber er bekommt weniger als das, was er sich erhofft hatte: er muß versprechen, daß er nicht mehr mit Helene sprechen wird. Im Gegensatz zu dem, was er versprochen hat, läßt der eifersüchtige Otte seine Frau in Norwegen in den Kerker werfen. Yoen reist zusammen mit Ritsart nach Scythia, wo sie die große Stadt Gardeterre errichten. [Buch II, zweiter Teil] Agulant fällt in Spanien ein. Er möchte Frankreich erobern, vor allem um sich an Gelloen zu rächen, doch Karl kommt ihm in die Quere. Zunächst fin-

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den zwischen einer begrenzten Anzahl von Kriegern Gefechte statt (erst zwölf gegen zwölf, dann hundert gegen hundert, und schließlich tausend gegen tausend), die jedes Mal mit einem Sieg der Christen enden. Allerdings sind sie in der nächsten Schlacht weniger erfolgreich, bis Gelloen plötzlich auf der Bildfläche erscheint. Er bietet Karl seine Dienste an, aber auch (insgeheim) Agulant. Der Sarazene lehnt entrüstet ab, doch ist ihm bewußt, daß er gegen die beiden Heere Karls und Gelloens zusammen keine Chance hat. Daraufhin verläßt er Spanien, mit dem festen Vorhaben, mit einem noch größeren Heer zurückzukehren. Auf diese Weise wird Gelloen der Held der Konfrontation. Karl rehabilitiert ihn und gibt ihm seine Schwester zur Frau – wodurch Gelloen zum Stiefvater Roelants wird – und ernennt ihn zu seinem Ratsherren. Währenddessen reist Yoen, ganz von seiner Liebe zu Helene in den Bann geschlagen, nach Norwegen, entführt sie und nimmt sie mit nach Alta Gotia (Hogen Goten). Sein Sohn Ritsart übernimmt die Verantwortung für die Fehde. Die Lothringer werden zunächst nach Paris bestellt, wo Otte ihnen die Schuld an dem Verlust seiner Frau gibt. Schon bald fliegen Anschuldigungen hin und her, und zwei gerichtliche Duelle sollen die Sache zu einem Ende bringen. Entgegen aller Erwartungen verlaufen die Duelle für Ritsart und seinen Neffen Girbeert günstig, woraufhin Gelloen zwischen beide kommt. Er überzeugt Karl, die Kämpfe abzubrechen und eine Versöhnung zu erzwingen. Ritsart straft den Kaiser mit Mißachtung, tötet mehrere seiner Männer, verwundet Gelloen und flieht nach Bordeaux. Zu Karls Verdruß weigern sich die übriggebliebenen Lothringer, sich an einem Friedensvertrag zu beteiligen. Später verliert Gelloen seine Vertrauensposition am Hof und muß eine Pilgerreise unternehmen. Sein Neffe Robbrecht von Milaan (Mailand) fleht Ritsart an, den früheren Besitz der Bordelesen zum Lehen erhalten zu dürfen. Ritsart stimmt zu, weil er schon beschlossen hat, mit Girbeert nach Scythia aufzubrechen. Doch sobald die beiden Lothringer abgereist sind, wird Robbrechts Verhalten immer schlimmer. Allerdings findet er in Rigaut, der zum wichtigsten Repräsentanten der Lothringer wird, einen beeindruckenden Gegner. In Scythia müssen es Ritsart und Girbeert nicht nur mit Gelloens Tochter, Yrene, die Kaiserin von Griechenland geworden ist, aufnehmen, sondern auch mit ihren Brüdern Fromondijn und Haerdreit. Ritsard und Girbeert sind recht erfolgreich, bekommen dann aber dringende Bitten, nach Frankreich zurückzukehren. Währenddessen ist Gelloen bei Yoen und Helene in Hoog-Gotia angekommen, wo er es schafft, einen Keil zwischen die Königin und ihren Liebhaber zu treiben. Anhänger Gelloens zeugen ihr zwei Söhne, Rollo und Segenfrijt, und erst nach vielen Komplikationen kehrt Helene schließlich zu Yoen zurück. In Frankreich verfängt sich Robbrecht von Milaan in seinem eigenen Lügen- und Intrigengeflecht. Karl der Große will Recht über ihn sprechen und schickt ihm drei Boten hohen Ansehens, die jedoch von Robbrecht gefangengenommen werden. Daraufhin zieht er mit einem großen Heer nach Saint-Denis, wo seine Taten sich jeder Beschreibung entziehen. Karl entscheidet sich für eine Gerichtsverhandlung in Paris, wo auch Ritsart und Girbeert anwesend sind. Auf dem Weg nach Frankreich überredet Gelloen seine Söhne Beligant und Marcilijs, mit einem sarazenischen Heer Spanien zu überfallen. Unglücklicherweise lud Gelloen sich die Wut seines alten Feindes Agulant auf den Hals, als er in Afrika war. Kurz bevor der Prozeß gegen seinen Neffen Robbrecht van Milaan beginnt, kommt Gelloen in Paris an. Robbrecht hat sich so schlimm verhalten, daß auch Gelloen ihm nicht mehr helfen und lediglich auf eine Versöhnung hinsteuern kann.

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Von ihrem Gewissen geplagt, reist Helene heimlich nach Jerusalem, wo sie den Rest ihres Lebens völlig zurückgezogen verbringt. Viele Jahre später kehrt Yoen nach Scythia zurück, wo er erfolgreich gegen Kaiserin Yrene und ihre Brüder kämpft. Yrene wird die Alleinherrscherin über Griechenland, nachdem König Leo auf dem Schlachtfeld stirbt. Inzwischen ist Agulant in Frankreich eingefallen. Seine Racheaktion gegen Gelloen scheitert jedoch: Agulant wird getötet, genau wie Robbrecht van Milaan, woraufhin Gelloen eine wichtige Position am Hof Karls des Großen zu ergattern weiß. Unterstützt von Vrederic de Deen (der Däne) vertreibt Yoen Kaiserin Yrene aus Gardeterre und kehrt schließlich nach Frankreich zurück. Dort hetzt Gelloen alle seine Kinder auf: er will, daß Beligant und Marcilijs die Überfahrt mit ihren Sarazenen wagen, alarmiert Fromondijn und Haerdreit, und Yrene soll in Scythia einfallen. So kommt es zu einem entscheidenden Aufeinanderprallen von Lothringern, Bordelesen und Sarazenen in Frankreich. Die letzte Schlacht, bei Roncevaux, zu der auch Yrene auf dem Schlachtfeld erscheint, wird zu einer Katastrophe: fast alle sterben, auch Yoen und Ritsart. Beide Generationen gehen unter, die Krone wird verloren, Gelloen wird gehängt und Yrene gevierteilt. Nur die Fehde überlebt. [Buch III] Von der Existenz eines dritten Buches wird ausgegangen, doch ist davon nichts erhalten geblieben. Auf der Basis einiger ankündigender Passagen in den Fragmenten, kann über den Inhalt aber mit gewisser Berechtigung spekuliert werden. So ist es plausibel, daß der Dichter durch die Gestaltung der Figur Gelloens (Ganelon) als Anführer der Bordelesen eine Verbindung zur ‚Chanson de Roland‘ herstellte. Im letzten Fragment (A12 – Ausg. Matthes 1876, S. 36–44) wird eine Roncevaux-Episode angekündigt. In demselben Fragment (Matthes 1876, S. 37, V. 34–44) macht der Dichter einen Ausflug nach Narbonne. Er läßt Garijn, den Bruder Yoens, nach Narbonne reisen zu seinem Schwiegersohn Aymerijn, der mit seiner Tochter Ermengart verheiratet ist. In einem kurzen Abschnitt führt der Dichter Aymerijns Söhne ein – die Urenkel von Gerbert de Metz! –, von denen Willeken (Guillaume au court nez) und Aymerijn (Aymer le chétif) namentlich genannt werden. Es hat allen Anschein, daß der Dichter sich hiermit die Möglichkeit offenhalten wollte, in Buch III Elemente aus dem Zyklus um Guillaume d’Orange aufzunehmen und zu bearbeiten (Van der Have 2007, S. 39f.).

‚Lorreinen II‘ muß in seiner vollständigen Form eine beeindruckende Dichtung gewesen sein. Aufgrund der Foliozahlen in den Fragmenten – die Foliozahl CCCXC ist überliefert – kann mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß das erste und das zweite Buch zusammen ca. 150000 Verse ergeben haben (Van der Have 2005, S. 82f.). Die Ausarbeitung gegenüber ‚Lorreinen I‘ (und folglich gegenüber der afrz. Tradition) ist demnach gewaltig gewesen. Gerade weil zwei verschiedene afrz. Fortsetzungen von ‚Gerbert de Metz‘ verfaßt wurden, liegt es auf der Hand zu untersuchen, ob ‚Lorreinen II‘ an eine von diesen anschließt. Durch den Namen von Gerberts Sohn in ‚Lorreinen II‘, Yoen, kommt eigentlich nur ‚Yon ou la venjance Fromondin‘ in Frage, doch wird schnell deutlich, daß der mnl. Dichter diesen Text nicht übersetzt oder bearbeitet hat. Vielmehr hat er das Thema von ‚Lorreinen I‘, die genealogischen Verhältnisse zwi-

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schen den Charakteren und ihre Länder, wie sie am Ende von ‚Gerbert de Metz‘ beschrieben werden, aufgenommen, um dann daraus eine ganz neue Geschichte zu machen.

5.4 Die Rezeption der Lothringerepik im germanischen Sprachraum Auch im Falle der geste des Lohérains kann man von einer einseitigen Rezeption im germanischen Sprachraum sprechen: Es gibt zwar eine markante Überlieferung im Mittelniederländischen, doch ist die einzige Spur des Textkomplexes im Mittelhoch- oder Mittelniederdeutschen möglicherweise der Name Lohengrin in Wolfram von Eschenbachs ‚Parzival‘ (aber ob dieser wirklich von Garin le Lohérain abgeleitet ist, ist noch längst nicht geklärt). Die Rezeption von Texten setzt ein interessiertes Publikum voraus, und das scheint in Deutschland nicht vorhanden gewesen zu sein. Dies ist um so erstaunlicher, als ein substantieller Teil der Handlung sich auf ‚deutschem‘ Gebiet abspielt, mit Köln und Metz als narrativen Zentren. Man könnte anführen, daß die Rhein-Maas-Region, in diesem Falle Lothringen, zu westlich, zu peripher gewesen sei, um für einen Großteil des deutschen Adels interessant zu sein, doch ist das nicht sehr wahrscheinlich: Die Bischofsstadt Köln war auch im Hochmittelalter eines der wichtigsten Machtzentren im deutschen Kaiserreich. Der Mangel an deutschem Interesse für die geste des Lohérains läßt sich vielleicht durch den frankozentrischen Aspekt dieser Geschichte erklären: Sie beginnt ja mit einem von Sarazenen bedrohten französischen Fürsten – Karl Martell –, der sich an seine Lehnsmänner wenden muß, weil er selbst nicht in der Lage ist, die Bedrohung abzuwenden. Daraufhin entwickelt sich die Geschichte zu einem Bericht über Verrat, Vergeltung, Wiedervergeltung, Bruderzwist und Krieg, in dem französische Aristokraten und ihr Anhang die Hauptrollen spielen. Die Rezeption im mnl. Sprachraum weist demgegenüber eine ganz eigene Entwicklung auf. Daß es in den höfischen Kreisen des Herzogs von Brabant ein Interesse an der geste des Lohérains gab, ist nicht verwunderlich, wenn man an die lothringischen Ambitionen der Herzöge Brabants und ihre Beschäftigung mit dem karolingischen Erbe denkt. In ‚Lorreinen II‘, der ursprünglichen mnl. Fortsetzung der afrz. Kerngeschichte, wird dieser karolingische Aspekt noch einmal dadurch verstärkt, daß die Geschichte während der Amtszeit Karls des Großen fortgesetzt wird, wobei der Dichter Verbindungen mit dem karolingischen Epos schlechthin, der ‚Chanson de Roland‘, herstellt und (in Buch III) darüber hinaus möglicherweise auch

Literaturverzeichnis

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mit dem Zyklus um Guillaume d’Orange. Der frankozentrische Aspekt bleibt in ‚Lorreinen II‘ deutlich präsent, auffallend sind allerdings die exotischen Elemente: Die Geschichte läßt sich ohne Probleme in ferne Länder wie Afrika, Scythia (das Land der Skythen, nordöstlich des Schwarzen Meers lokalisiert), Griechenland, das Heilige Land und Hoog-Gotia (Hogen Goten, das als Land der Goten, am Kaukasus gelegen, zu verstehen ist) verlagern. Die Charaktere schwärmen aus, es wird über – manchmal auch politisch brisante – Liebesgeschichten und Konflikte, die auf fremdem Boden ausgetragen werden, berichtet, doch schließlich wird die Geschichte nach Frankreich, ihrem Ursprungsland, zurückverlegt, und das große Finale findet auf französischem Boden statt. Wie genau diese Wendungen in der Geschichte des Konflikts zwischen Bordelesen und Lothringern in das literarische Interesse Brabants im späten 13. Jh. passen, ist noch nicht klar und harrt weiterer Erforschung. [Übersetzung (Teil B, Kap. 5): Marjolijn Storm] [Manuskriptabschluß (Teil B, Kap. 5): Februar 2012]

Literaturverzeichnis Bibliographien: Besamusca 1983; Farrier 1993 (s.o. unter Forschungsliteratur).

1) Textausgaben Romanische Texte: Garin le Loherenc, hg. v. Anne Iker-Gittleman, 3 Bde., Paris 1996/97 Gerbert de Mez. Chanson de geste du XIIe siècle, hg. v. Pauline Taylor, Namur 1953. Germanische Texte: Berteloot 1977: Amand Berteloot, Nieuwe steentjes uit de ‚Lorreinen‘-puzzel, in: SpL 19 (1977), S. 97–111. Borchling 1922: Conrad Borchling, Neue Bruchstücke des mnl. ‚Romans der Lorreinen‘, in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 48 (1922), S. 43–53. Van der Have 1984: Ben van der Have, Op het spoor van een tekst. De reconstructie van een verloren ‚Lorreinen‘-fragment, in: Literatuur 1 (1984), S. 197–202. Heymans 1983: Jan van Boendale, Van den derden Eduwaert, hg. v. Jo G. Heymans, Nijmegen 1983. Jonckbloet 1844: Willem J. A. Jonckbloet, Roman van Karel den Grooten en zijne XII pairs (fragmenten), Leiden 1844

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Lothringerepen

Einleitung: Der Empörer-Zyklus

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6 Empörerepen von Irene Spijker 6.1 Einleitung: Der Empörer-Zyklus – 6.2 ‚Renaut de Montauban‘ – 6.3 Die Rezeption der Empörerepik im germanischen Sprachraum – 6.4 ‚Renout van Montalbaen‘

6.1 Einleitung: Der Empörer-Zyklus Eine der drei gestes, die Bertrand de Bar-sur-Aube (Ende des 12. Jahrhunderts) unterscheidet, ist die von Doon de Maience. In der modernen Forschung wird dieser epische Zyklus meist der cycle des barons révoltés genannt, der Empörer(epen)-Zyklus. Einige Chansons de geste, die hierzu gezählt werden, sind ‚Girart de Roussillon‘, die ‚Chevalerie Ogier‘ und ‚Renaut de Montauban‘. Die Bezeichnung ‚Empörerepen‘ ist eigentlich anachronistisch: „Die Übertragung des Begriffes Empörer auf Girart, Ogier und Renaut stellt eine Interpretation im Sinne der Staatsauffassung des XIX. und XX. Jahrhunderts dar, die jedoch in den Texten selbst keine Stütze findet. Die altfranzösische Epik kennt die Begriffe Empörer und Empörung nicht. […] Für diese [Autoren, I.S.] stellten die Konflikte zwischen dem König und den drei Helden nicht etwa eine Empörung im modernen Sinne dar, sondern die Unterdrückung an sich loyaler Vasallen durch einen ungerechten und übermächtigen König bzw. deren berechtigter Kampf gegen diesen König.“ (Bender 1967, S. 140f.)

6.2 ‚Renaut de Montauban‘ Entstehung – Handschriftliche Überlieferung, Versionen – Inhalt

Entstehung ‚Renaut de Montauban‘ (RdM) erzählt vom jahrelangen Kampf, den sich Renaud und seine drei Brüder, die vier Söhne Aymons, mit Charlemagne liefern. Die Entwicklung der Chanson de geste, wie wir sie heute kennen,

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Empörerepen

ist komplex, und es ist schwierig, darin aufeinanderfolgende Phasen zu unterscheiden. Wahrscheinlich darf man die Figur Yon, den König der Gascogne, als historischen Kern der Erzählung betrachten. Schon Longnon (1879) hat Yon mit Eudo von Gascogne und Aquitanien (Anfang des 8. Jahrhunderts) in Verbindung gebracht, der zunächst Chilperic II. gegen Karl Martel unterstützte, ihn danach aber auslieferte. Verschiedene Traditionen – mündliche, schriftliche und ikonographische – werden zur Entwicklung der Chanson de geste beigetragen haben (Calin 1962; Thomas 1987; Suard 2000). Einige Zeilen in Alexander Neckams ‚De naturis rerum‘ (Ende des 12. Jahrhunderts) erinnern an Renauds schicksalhafte Partie Schach an Charlemagnes Hof. Da diese Schachpartie nicht auf ein historisches Ereignis zurückgeht, kann man aus dieser Reminiszenz schließen, daß bereits in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts eine Erzählung über eine Schachpartie als Anlaß für den Krieg zwischen Renaud und Charlemagne in Umlauf war. Faszinierend ist auch die Abbildung eines Pferdes mit vier Reitern auf einem portugiesischen Grabmal aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, wenngleich nicht gesichert ist, daß diese vier als die Söhne Aymons identifiziert werden dürfen. Handschriftliche Überlieferung, Versionen Wir kennen verschiedene Versionen der Chanson de geste RdM. Die so genannte traditionelle Version (Ende des 12. Jahrhunderts) ist ganz oder teilweise in ungefähr zehn Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts erhalten, die jüngste datiert von ca. 1400. Einige dieser Handschriften enthalten auch einen oder mehrere andere Texte des ‚Renaut-Zyklus‘: ‚Maugis d’Aigremont‘, ‚Vivien de Monbranc‘ und ‚La mort de Maugis‘. Bis ungefähr 1990 war die bekannteste Handschrift dieser Gruppe die Handschrift L (Paris, B.N. ms. fr. 24387; Teilausg. Michelant 1862; vollständige Ausg. Castets 1909), die meist auf das 13. Jahrhundert datiert wurde, wobei Jacques Thomas (Teilausg. 1962: „L’épisode ardennais“) eher auf den Anfang des 14. Jahrhunderts datiert. Thomas besorgte 1989 eine Edition der Fassung aus Handschrift D (Oxford, Bodleian Library, Douce 121). Dies ist die älteste Handschrift, in der der RdM bis auf wenige Blätter vollständig erhalten ist. Sicherheitshalber datiert Thomas sie auf die Mitte des 13. Jahrhunderts, hält es aber nicht für ausgeschlossen, daß sie einige Jahrzehnte älter ist. Die Handschrift Hatton 59 der Bodleian Library kann hinsichtlich ihres Alters möglicherweise mit Handschrift D

‚Renaut de Montauban‘

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konkurrieren. Die Blätter 71–173 beinhalten einen Teil der traditionellen Version, die Blätter 1–70 eine eigenständige (unvollständige) Version. Eine spätmittelalterliche Versumarbeitung der traditionellen Version finden wir in zwei Handschriften des 15. Jahrhunderts. Eine Prosabearbeitung ist in ungefähr zehn Handschriften des 15. Jahrhunderts und in zahlreichen Drucken (‚Les quatre fils Aymon‘) erhalten. Die komplexen Verbindungen zwischen den Fassungen, die die traditionelle Version vertreten, sind von verschiedenen Forschern (z.B. Thomas, Negri) intensiv studiert worden. Es steht fest, daß keine der traditionellen Fassungen vollständig mit einer anderen traditionellen Fassung übereinstimmt und daß keine als die direkte Quelle für eine oder mehrere der anderen erhaltenen Fassungen nachgewiesen werden kann. An mehreren Teilen des Textes können sie in Gruppen eingeteilt werden, die jeweils eine eigene (Sub-)Version aufweisen. Die Zusammenstellung dieser Gruppen variiert von Textteil zu Textteil. Inhalt Die folgende Zusammenfassung basiert auf Fassung D (Ausg. Thomas). A. Prolog: Charlemagne hält zu Pfingsten einen Hoftag ab. Beuve d’Aigremont, der zu einem Feldzug gegen die Sachsen nicht erschienen ist, fehlt. Charlemagne sendet seinen Sohn Lohier (Lotharius) zu Beuve mit dem Auftrag, diesen zu Hofe zu entbieten. Sollte sich Beuve weigern zu kommen, droht ihm eine schwere Bestrafung. Lohier übermittelt die Botschaft, woraufhin Beuve gegenüber Charlemagne und Lohier Drohworte äußert. In einem darauf folgenden Kampf wird der Königssohn von Beuve getötet. Seine Begleiter kehren, mit dem Leichnam, zurück. Noch vor ihrer Rückkehr ist Charlemagne beunruhigt. Er versichert, daß er sich an Beuve rächen wird, sollte dieser Lohier etwas antun. Aymon, ein Bruder Beuves, pflichtet dem König bei und bietet ihm die Hilfe seiner Söhne an: Renaud, Allard, Richard und Guichard (im Folgenden abgekürzt als „die QFA“, quatre fils Aymon). Sie kommen zum Hof und werden dort zu Rittern geschlagen. Renaud erhält bei dieser Gelegenheit das Wunderpferd Bayard. Er gelobt, er werde Charlemagne treu dienen. Doch dann wird Lohiers Leichnam gebracht. Auf Anraten Renauds, der Vergeltung fürchtet, fliehen Aymon und die QFA auf ihre Burg in Dordonne. Der König macht sich bereit, um gegen Aigremont zu marschieren. Aymon und die QFA schließen sich seinem Heer nicht an. Auf den Rat eines seiner Ratsherren schickt Charlemagne Ogier mit einem Versöhnungsvorschlag zu Beuve. Trotz des angebotenen freien Geleits wird Beuve auf dem Weg nach Paris verräterisch getötet. Sein Sohn Maugis beschließt, ihn mit Hilfe seiner Familienmitglieder zu rächen. Mit seinen Onkeln Girard de Roussillon und Doon de Nanteuil fällt er in Frankreich ein. Nach einer blutigen Schlacht versöhnen sich Girard und Doon mit dem König. Zu Pfingsten wird in Paris ein großes Fest gefeiert, bei dem auch Aymon, die QFA und Maugis anwesend

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Empörerepen

sind. Renaud spielt mit Charlemagnes Neffen Bertholet Schach. Zwischen beiden entsteht Streit und Bertholet versetzt Renaud einen kräftigen Schlag. Wütend meldet Renaud dies dem König, dem er auch den Mord an Beuve vorwirft. Für diesen Mord fordert er Genugtuung, Charlemagne weigert sich, diese zu geben. Hierauf ergreift Renaud das Schachbrett und schlägt Bertholet damit den Schädel ein. Es gelingt den Männern Charlemagnes nicht, Renaud zu ergreifen, weil dieser von seinen Verwandten verteidigt wird. Die QFA fliehen nach Dordonne. Aymon wird dazu gezwungen, seinen Söhnen abzuschwören und vertreibt sie von seiner Burg. B. Ardennenteil: In den Ardennen errichten die QFA Burg Montessor. Charlemagne schließt diese Burg ein, nimmt sie schließlich mit einer List ein und legt sie in Schutt und Asche. Jahrelang ziehen die QFA in den Ardennen umher. Eines Tages kehren sie nach Dordonne zurück, um ihre Mutter Aie zu besuchen. Das Wiedersehen ist emotional. Aymon setzt seine Söhne vor die Tür, gibt ihnen aber die Erlaubnis, mitzunehmen, was sie wollen. Sauber und gut gekleidet verlassen sie Dordonne. Maugis schließt sich ihnen an. Er führt einen Schatz, den er Charlemagne gestohlen hat, mit sich. C. Gascogneteil: Die QFA treten bei König Yon von Gascogne in den Dienst. Dank Renaud unterwirft sich der Sarazene Bègue Yon. Mit Yons Zustimmung errichten die QFA auf einem Felsen in der Dordogne eine Burg, Montauban; Renaud heiratet Yons Schwester Clarice. Charlemagne entdeckt Montauban und will, daß Yon die QFA ausliefert. Yon weigert sich und Charlemagne entschließt sich zu einer Belagerung Montaubans. Da bietet sich sein junger Neffe Roland ihm an. Er ist bereit, es mit Renaud aufzunehmen. Zunächst befreit er Köln aber von den Sachsen. Darnach organisiert Charlemagne ein Pferderennen, um ein gutes Pferd für Roland zu beschaffen. Inkognito nimmt Renaud mit Bayard an dem Rennen teil. Er gewinnt, ergreift die Krone Charlemagnes, die als Preis an der Ziellinie prangt, gibt sich zu erkennen und weigert sich, die Krone im Austausch gegen Gold, Silber und eine einjährige Waffenruhe zurückzugeben. Charlemagnes Heer schlägt bei Montbendel seine Zelte auf. Erneut fordert der König von Yon die Auslieferung der QFA. Auf Anraten seiner Ratsherrn lockt Yon die QFA in eine Falle: auf Maultieren begeben sie sich nach Vaucouleurs in der Annahme, daß Charlemagne sich dort mit ihnen versöhnen wird. Sie sind mit einer gewaltigen Übermacht konfrontiert und müssen sich einen schweren Kampf liefern. Es ist Maugis, der ihnen auf Bayard, begleitet von Männern Renauds, zu Hilfe kommt, zu verdanken, daß sie lebend nach Montauban zurückkehren. Yon flieht zur Abtei Saint-Siméon, um dort Mönch zu werden. Roland nimmt ihn gefangen, aber Renaud befreit ihn und nimmt ihn nach Montauban mit. Richard fordert Roland heraus, unterliegt und muß sich ergeben. Als Pilger verkleidet findet Maugis im Lager Charlemagnes heraus, was mit Richard geschehen soll. In letzter Sekunde wird Richard vor dem Galgen gerettet. In den Gefechten nach seiner Befreiung treffen Charlemagne und Renaud aufeinander, ohne den anderen zu erkennen. Sobald Renaud deutlich wird, wer sein Gegner ist, bittet er ihn um Frieden. Er ist bereit, ihm Montauban und Bayard abzutreten und mit Maugis zum Heiligen Grab zu ziehen. Charlemagne weigert sich: Er will Maugis in die Hände bekommen, um ihn hinzurichten. Nach einem Überfall auf das königliche Heerlager sieht Maugis sich gezwungen, sich Olivier zu ergeben. In der Nacht zaubert er jeden in Schlaf, befreit sich von seinen Fesseln und entkommt nach Montauban. Charlemagne verlegt sein Lager nach Montauban. Kurze Zeit später entführt Maugis den König auf die Burg, um eine Versöhnung zu erzwingen. Hiernach zieht er sich als

‚Renaut de Montauban‘

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Einsiedler in einen Wald zurück. Weil der König nicht zu einer Versöhnung bereit ist, wenn Maugis ihm nicht ausgeliefert wird, läßt Renaud ihn wieder gehen. Die Belagerung dauert an und es kommt zu einer Hungersnot auf Montauban. Über einen unterirdischen Gang verlassen die Belagerten die Burg. Natürlich nehmen sie Bayard mit, Yon vergessen sie ebensowenig. D. Dortmundteil: Sie suchen ihre Zuflucht in Dortmund, wo man sie herzlich empfängt. Charlemagne versteht es, sie auch hier zu finden. Weil der König nicht auf Renauds Friedensgesuch eingehen will, wenn Maugis ihm nicht ausgeliefert wird, liefern sie sich erneut eine Schlacht. Maugis begibt sich nach Dortmund und entführt Charlemagnes Sohn Charlot in die Stadt. Danach kehrt er in seine Einsiedelei zurück; später wird er zum Heiligen Grab ziehen. Die QFA nehmen Richard de Normandie als Kriegsgefangenen. Renaud ist bereit, die beiden Kriegsgefangenen gegen einen Friedensschluß freizulassen. Die Pairs setzen den König unter Druck: weil er sich weiterhin weigert, Frieden zu gewähren, verlassen sie ihn. Da gibt er nach. Renaud erhält Frieden unter der Bedingung, daß er zum Heiligen Grab zieht und Bayard ausliefert. In diese Bedingungen willigt Renaud ein. Bayard wird mit einem Mühlstein um den Hals in den Rhein geworfen. Doch er zerschellt den Mühlstein, springt an Land und rennt zu Maugis. Renauds Brüder werden Pairs von Frankreich und bleiben bei Charlemagne, Renauds Söhne erhalten eine Position am Hof, und Clarice erhält Dortmund. E. Epilog: Renaud zieht als Büßer nach Rom, wo er beim Papst beichtet. Danach reist er ins Heilige Land, wo er Maugis wieder findet, der ebenfalls als Pilger hergekommen ist. Mit dem Ziel, dem König von Jerusalem bei seinem Kampf gegen den Sultan zu helfen, schließen sie sich dem Christenheer an. Renaud übernimmt die Heeresleitung und Jerusalem wird von den Christen zurückerobert. Renaud und Maugis besuchen das Heilige Grab. Die Königskrone von Jerusalem, die die Christen ihm anbieten, schlägt Renaud aus. Zusammen mit Maugis schifft er sich ein für Brindisi. Maugis kehrt in seine Einsiedelei zurück, Renaud begibt sich an Charlemagnes Hof. Es stellt sich heraus, daß Clarice gestorben ist. Nachdem seine Söhne in Paris in einem Gerichtskampf einen Sieg gegen die Verräter errungen haben, verteilt Renaud in Montauban seine Besitzungen. Danach zieht er sich in einen Wald zurück, darauf hilft er in Köln beim Bau von St.-Peter – inkognito und für einen Hungerlohn. Seine Kollegen hassen ihn, weil er das Geschäft verdirbt. Sie töten ihn, indem sie ihm einen Stein an den Kopf schleudern. Seinen Leichnam stecken sie in einen Sack, den sie in den Rhein werfen. Renauds Seele wird ins Paradies geleitet, und beim Leichnam geschehen Wunder. Nachdem der tote Körper aus dem Rhein gezogen worden ist, erkennt man das Opfer als ‚den Arbeiter von St.-Peter‘. Als man ihn begraben will, fährt der Wagen, auf den man den Körper gelegt hat, von selbst nach Dortmund. Der Bischof von Dortmund erkennt Renaud. In einem Kloster dort wird der Tote in einen Sarg gelegt und Gott bewirkt für ihn, der dort ‚Heiliger Renaud‘ genannt wird, Wunder.

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Empörerepen

6.3 Die Rezeption der Empörerepik im germanischen Sprachraum Ausgehend von Frankreich fand die Erzählung von Renaud und seinen Brüdern ihren Weg in andere Teile Europas. Was den romanischen Sprachraum betrifft, so ist sie vor allem in Italien beliebt gewesen, und ist in verschiedenen Formen auch in den germanischen Sprachraum gelangt. In England druckte Caxton um 1489 ‚The Right Pleasaunt and Goodly Historie of the Foure Sonnes of Aymon‘; er scheint den Text eines französischen Drucks von ca. 1480 übersetzt zu haben (Smyser 1967). In Adelskreisen war man zu diesem Zeitpunkt bereits mit dem französischen Prosatext vertraut (Meale 1992). Es gibt Hinweise darauf, daß der Erzählstoff spätestens zu Beginn des 14. Jahrhunderts als englischer Text in Versform im Umlauf war, aber davon ist bis heute nichts wieder aufgetaucht (Smyser 1946 u. 1967; Cowen 2004). Nach Island wird der Stoff der Erzählung über mündliche Überlieferung gelangt sein. Hier entstand die ‚Mágus saga jarls‘, die in etwa 70 Handschriften erhalten ist. Wir kennen zwei Versionen dieses altnordischen Prosatexts: eine Version, die ungefähr aus 1300 datiert, und eine jüngere umgearbeitete Version (Skårup 1993). Die Saga ist eine Kompilierung, der Stoff der Erzählung ist verschiedenen Quellen entnommen. Auf RdM geht nach Skårup (1995) nicht viel mehr zurück als der Handlungsrahmen und die Schachepisode; von einer Übersetzung dieser Episode kann keine Rede sein. In der ältesten Version spielt Rögnvaldr (Renaud) Schach gegen Kaiser Játmundr, in der jüngeren Version gegen Hlöjver/Lojvíkus (Louis). Játmundr/Hlöjver wird getötet, was zu einem Krieg zwischen seinem Sohn Karl und Rögnvaldr und dessen Brüdern führt. Der Karl der Saga ist nicht Charlemagne; er herrscht nicht über Frankreich, sondern ist Kaiser von Deutschland. In der jüngeren Version muß er als Karl der Dicke, Sohn Ludwigs des Deutschen, identifiziert werden (Skårup 1993). Die Erzählung der Saga spielt sich denn auch vornehmlich in Deutschland ab. Von einem Büßerleben oder Märtyrertum Rögnvaldrs ist nicht die Rede. Wie der Name der Saga vermuten läßt, liegt der Blick oft auf Mágus (Maugis), der hier der Ehemann von Amundis (Aymons) Tochter ist. Der Renaudstoff wurde auch durch auf der ‚Mágussaga‘ fußende isländische Rímur und in einem Volkslied von den Färöer-Inseln verbreitet. Nach Togeby (1972, S. 377ff.) beweist dieses Lied, daß eine altnordische Übersetzung des vollständigen ‚Renaud de Montauban‘ existiert hat, aber nach Skårups Ansicht kann das Lied nicht auf eine altnordische Übersetzung des 13. Jahrhunderts zurückgehen (Skårup 1993).

In den Niederlanden war die Erzählung spätestens bereits im 13. Jahrhundert bekannt. Der Verstext ‚Renout van Montalbaen‘ (13. Jahrhundert), auf den im folgenden ausführlich eingegangen werden soll, wurde im 15. Jahrhundert zu einem Prosatext, der ‚Historie vanden vier Heemskinderen‘ (HvH) umgearbeitet, der über Jahrhunderte hinweg sehr beliebt bleiben sollte. Deutschland nimmt eine Sonderstellung ein. Laut der Chanson de geste (RdM 12215) fliehen die QFA von Montauban nach Tremoine, Dortmund. Später wird der Wagen, auf dem der Körper Renauds liegt, von selbst in

‚Renout van Montalbaen‘

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diese Stadt fahren (14279). Dort legt man den toten Körper in einen Sarg. Saint Renaut a a non en icele regné (14305: „Sankt Renaud wird er in dieser Gegend genannt“). Tatsächlich wurde in Dortmund ein Reinolt (der örtlichen Legende zufolge ein frommer Mönch in Köln, der als Märtyrer starb) als Heiliger verehrt – seit wann ist nicht bekannt. Die Stadt besaß Reliquien Reinolts. Wann sie diese erwarb, wissen wir nicht, vielleicht war es bereits im 11. Jahrhundert. Spätestens seit dem 13. Jahrhundert ist Reinolt der Schutzheilige Dortmunds (Weifenbach 1998; Schilp 2000; Lange 2000). Interessant ist die Frage nach der Beziehung zwischen dem RdM und der Heiligenverehrung in Westfalen. Zweifelsohne ist die älteste erhaltene Version des RdM dem Heiligenkult geschuldet: Nur die Verehrung des Heiligen in Dortmund kann erklären, warum die QFA ihre Zuflucht in Dortmund suchen, warum Renaud nach Köln geht und warum sein Leichnam nach Dortmund fährt (Thomas 1981b, S. 32ff.; Suard 2000, S. 38–45; Weifenbach 2004, S. 195). Neubauer-Bruck (2004) hat die Möglichkeit vorgeschlagen, daß die QFA sich ursprünglich in Termogne in den Ardennen verschanzten und daß Renauds Leichnam an diese Stelle zurückkehrte. Die QFA-Erzählung ist auf verschiedenen Wegen nach Deutschland gekommen. Einige deutschen Texte (14./15. Jahrhundert) gehen auf die niederländische Tradition zurück (s. Kap. 6.4), zwei Prosatexten (überliefert in Quellen des 16. Jahrhunderts) liegt ein französischer Prosatext zugrunde. In einigen deutschen Texten sind Rittererzählung und lokale Heiligenlegende miteinander verbunden. (Eine Übersicht über die deutschen Haimonskindertexte gibt Weifenbach 1999, Bd. I, S. 60–67 u. 214–227.) Von der Heiligenverehrung im Bistum Köln zeugen sowohl deutsche als auch lateinische Quellen (Weifenbach 1998, S. 40–49; 1999, Bd. I, S. 292–296).

6.4 ‚Renout van Montalbaen‘ Datierung und Überlieferung – Zielpublikum – Inhalt – ‚Renout van Montalbaen‘ und die ‚Renaut de Montauban‘-Tradition – Bearbeitungstechnik – Prolog und Verwandtschaftsverhältnisse – Der eifersüchtige Lodewijc – Politik – Psychologie – Atmosphäre: komische, höfische und religiöse Elemente

Datierung und Überlieferung Der Verstext ‚Renout van Montalbaen‘ (RvM), der vermutlich einem Flamen zugeschrieben werden darf (Van den Berg 1985, S. 13 u. 23; 1987,

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Empörerepen

S. 13–17), entstand im 13. Jahrhundert, vielleicht schon vor 1225 (Van den Berg 1983, S. 175–177 u. 222; 1988, S. 103). Die Verse (einst zählte der Text ungefähr 15000) sind paarweise gereimt. Vom RvM sind nur Fragmente erhalten geblieben, die aus drei Handschriften stammen. Die älteste (Riga, Stadtbibl., 3; verschollen) wird auf das 4. Viertel des 13. Jh., die jüngste auf ca. 1500 datiert. Zusammen zählen diese Fragmente mehr als 2500 Verse. Daneben kennen wir ungefähr 80 Verse aus einem Handschriftenfragment des 14. Jahrhunderts, das verloren ist. Über die langen Textteile, von denen nichts übrig ist, können wir uns auf der Grundlage anderer Quellen ein gutes Bild machen: ein kleines mittelniederdeutsches Versfragment (14. Jahrhundert), das eine genaue Übersetzung von RvM darstellt; der rheinfränkische Verstext ‚Reinolt von Montelban‘ (überliefert in zwei Heidelberger Hss., cpg 340 u. cpg 399 von ca. 1474 bzw. 1480), der als eine Umschreibung, die dem RvM auf dem Fuße folgt, bezeichnet werden muß; die ‚Historie vanden vier Heemskinderen‘, eine mittelniederländische Prosabearbeitung (ältester vollständig erhaltener Druck: 1508), die dem RvM ziemlich genau folgt und in der manchmal ein Reim aus dem Verstext übernommen ist, und ein Kölner Druck von 1493, der auf einen mittelniederländischen Druck zurückgeht. Zielpublikum Für welches Publikum der RvM bestimmt war, wissen wir nicht. Aufgrund seiner fragmentarischen Überlieferung verfügen wir nicht über Anfangsoder Schlußverse, die Informationen über den Dichter oder einen Auftraggeber beinhalten könnten. Auch der ‚Reinolt‘ hilft uns nicht weiter. Gemeinhin läßt sich die Frage nach dem Entstehungsmilieu flämischer Ritterromane nicht leicht beantworten (Besamusca 1991; Van den Berg 1995; Van Oostrom, LG, S. 218–233). Es liegt nicht auf der Hand, daß sie für flämische Grafen bestimmt waren oder in deren Auftrag angefertigt wurden – an ihrem Hof sprach man französisch. Wenngleich nicht vollständig ausgeschlossen ist, daß am Grafenhof auch mittelniederländische Texte entstanden und zirkulierten, ist es doch wahrscheinlicher, daß diese Texte in literarischen Zentren außerhalb des Hofes entstanden. Dabei ist an die Höfe der Pairs von Flandern (deren Burgen sich an den Grenzen der Grafschaft befanden), der Burggrafen und der Adligen, die die vier erblichen Hofämter bekleideten, zu denken. Bezüglich des RvM ist vorsichtig die Möglichkeit eines Entstehens am Hof eines der Pairs, deren

‚Renout van Montalbaen‘

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Burgen am Fluß Dender lagen, vorzuschlagen (Spijker 1987, S. 1007); das älteste RvM-Fragment wird im Gebiet zwischen Dender und Zenne lokalisiert. Auch die Städte dürfen als möglicher Entstehungsraum flämischer Ritterromane nicht aus den Augen verloren werden. In diesem Zusammenhang verdient ein großherziger Pariser Bürger Aufmerksamkeit, der eine Rolle in einer Episode spielt, für die der französische Text keine Parallele bietet (HvH, Ausg. Spijker, S. 321). Die Tendenz zu trivialisieren, die der RvM aufweist, erlaubt die Annahme, daß dieser Text in soziokultureller Hinsicht „in einigem Abstand vom Grafenhof“ (Van den Berg 1995, S. 209) entstand. Inhalt Im Großen und Ganzen erzählt der RvM dasselbe wie – oben zusammengefaßt – der RdM. Einige auffällige Unterschiede werden im folgenden hervorgehoben. Der Prolog erzählt zunächst, wie Huge van Dordonne König Karl auf einem Hoftag im Namen seiner Onkel Aymijn van Dordonne und Aymerijn van Narbonne, die ebenfalls anwesend sind, um eine Belohnung für ihre treuen Dienste bittet. Karl verweigert dies, Huge äußert Kritik an dieser Verweigerung und Karl tötet ihn. Nach einem heftigen Kampf von Huges Verwandten und ihren Anhängern gegen Karl und seine Männer wird Aymijn verbannt. Jahrelang zieht er plündernd und mordend durch Karls Land. Als endlich Frieden geschlossen wird, erhält er Aye, die Schwester des Königs, zur Frau. Dennoch hegt er weiterhin Groll gegen Karl und schwört, er werde alle Mitglieder der Königsfamilie, die er in die Hände bekommt, töten. Deswegen hält Aye in den folgenden Jahren ihre Schwangerschaften vor ihm geheim. So bekommt Aymijn ohne sein Wissen vier Söhne: Ritsaert, Adelaert, Writsaert und Renout. Eines Tages verkündet Karl, daß er die Herrschaft an seinen Sohn Lodewijc übertragen will. Auf Drängen Bischof Tulpijns wird Aymijn zur Krönung eingeladen. Erst jetzt enthüllt Aye ihm, daß er vier Söhne hat – nachdem sie von ihm das Versprechen erhalten hat, daß er etwaige Kinder am Leben lassen wird. Er schlägt sie zu Rittern und gibt Renout das Wunderpferd Beyaert. Vater und Söhne begeben sich nach Paris. Lodewijc erweist sich als besonders eifersüchtig auf sie, namentlich auf den starken, gefälligen Renout. Er legt Aymijns Söhnen (die (H)Aymijns kinderen > Heemskinderen, im weiteren abgekürzt als „Hk“) vielfältige Hindernisse in den Weg. Beim Verteilen von Geschenken nach seiner Krönung übergeht er sie. Karl gibt ihnen daraufhin ein Lehen. Schließlich kommt es so weit, daß Lodewijc, angestachelt von seinen Ratsherren, Adelaert dazu zwingt, gegen ihn Schach zu spielen und ebenso wie er seinen Kopf aufs Spiel zu setzen. Adelaert gewinnt. Er verschont das Leben des jungen Königs und weist ihn darauf hin, daß derjenige, der ihn auf die Idee für dieses Spiel gebracht hat, nicht viel um ihn gibt. Wütend versetzt Lodewijc Adelaert einen Schlag mit dem Schachbrett. Nachdem Renout gehört hat, was vorgefallen ist, schlägt er Lodewijc vor Karls Augen den Kopf ab. Es kommt zu einem Kampf. Den Hk gelingt es, auf Beyaert zu entkommen. Sie werden verbannt und Aymijn dazu gezwungen, ihnen abzuschwören.

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Spanienepisode: An der Stelle, wo der RdM den Ardennenteil hat, findet sich im RvM eine Spanienepisode: über ihre Elternburg Pierlepont fliehen die Hk nach Spanien, wo sie jahrelang dem heidnischen König Saforet dienen. Weil dieser seinen Verpflichtungen und Versprechungen ihnen gegenüber nicht nachkommt, schlägt Renout diesem den Kopf ab. Der Gascogneteil stimmt stark mit dem französischen Gascogneteil überein. Viele Elemente der Erzählung finden sich in der gleichen Reihenfolge in beiden Texten: Die Ankunft der Hk bei Yewe (Yon), Yewes Einwilligung dazu, auf dem Felsen eine Burg zu errichten, der Bau Montalbaens, Roelants Kölnfeldzug, das Pferderennen, Yewes Verrat, die Schlacht bei Valcolone (Vaucouleurs), die Gefangennahme Ritsaerts und Malegijs’ (Maugis’), das Lager Karls und seiner Männer vor Montalbaen, Karls Entführung, Malegijs’ Aufbruch. Aber nachdem vom Bau Montalbaens und Karls erster vergeblicher Belagerung dieser Burg berichtet worden ist, und bevor von Roelants Kölnexpedition berichtet wird, werden Abenteuer dargeboten, von denen sich einige im französischen Ardennenteil wieder finden: Die Hk besuchen ihre Mutter; Renouts Brüder werden gefangengenommen und von Malegijs befreit und (ohne Parallele im RdM) Beyaert wird gestohlen und mit Malegijs’ Hilfe von Renout zurück gewonnen. Ardennenteil: Nach ihrem Entkommen von Montalbaen fliehen die Hk nicht nach Dortmund, sondern auf ihre Burg in den Ardennen. Bei ihrer Versöhnung mit dem König wird Beyaert ins Wasser geworfen und ertrinkt. Epilog: Als er auf Montalbaen seine weltlichen Angelegenheiten geregelt hat, bricht Renout auf. Drei Jahre lang lebt er als Einsiedler in einem Wald. Danach begibt er sich ins Heilige Land. Im Kampf gegen die Heiden fällt Malegijs und Renout kehrt deswegen allein nach Europa zurück. Nachdem seine Bauhandwerkerkollegen in Köln seinen Leichnam in den Rhein geworfen haben, wird dieser von einer Invaliden aus dem Wasser geholt. Auf einer Marke an seinem Gürtel liest man, wer er ist. Die Bewohner Dortmunds bitten um einen Teil des Körpers: Sie wollen zu Renouts Ehren eine Kirche errichten. Der Bischof von Köln verweigert dies, doch der Wagen, auf dem der Leichnam liegt, fährt von selbst nach Dortmund. Dort errichtet man eine Kirche, in der Renout beigesetzt wird. Nachdem er durch den Bischof von Köln über den Mord benachrichtigt worden ist, belagert Karl Köln und vollzieht die Todesstrafe an den Bauhandwerkern. Als er nach Dortmund kommt, um Renouts Körper zu sehen und man das Grab öffnet, zeigt es sich, daß der Tote verschwunden ist: Renout hat sich seinen Brüdern angeschlossen. Sie liegen in Neapel.

‚Renout van Montalbaen‘ und die ‚Renaut de Montauban‘-Tradition Der erste Forscher, der sich ernsthaft mit der Beziehung zwischen dem RvM und dem RdM beschäftigt hat, war Matthes, der 1875 eine Edition aller damals bekannten RvM-Fragmente besorgte. Der Großteil der französischen Versfassungen, die wir heute kennen, war zu seiner Zeit bekannt. 1862 hatte Michelant im Nachwort seiner RdM-Edition alle ihm bekannten Handschriften aufgelistet, die einen RdM in Versform beinhalten. Die Handschriften, deren Inhalt ihm bekannt war, ließen sich seiner

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Meinung nach in zwei Gruppen aufteilen: eine Kategorie, die oben als traditionelle Version bezeichnet wurde und eine Kategorie, die oben als spätmittelalterliche Umarbeitung bezeichnet wurde. Nach Matthes stimmt der RvM am ehesten mit der Kategorie überein, die die in Michelants Augen älteste Version bietet, das heißt der traditionellen Version. Die vielen Unterschiede, die der RvM in Bezug auf diese Version aufweist, brachten Matthes zu dem Schluß, daß der mittelniederländische Dichter keine der erhaltenen Fassungen des RdM als Quelle benutzte. Seine Theorie zur Entstehung des mittelniederländischen Textes ist durch die Theorie Paulin Paris’ (1852) zur Entstehung des RdM angeregt. Paris war der Meinung, daß im RdM wie wir ihn kennen eine nördliche Tradition (Ardennen) und eine südliche (Gascogne) zusammengefügt sind. Nach Matthes wurzelt auch der RvM in einer nordfranzösischen und einer südfranzösischen Sage, die hier jedoch auf andere Art miteinander verbunden sind als im französischen Text. Er hielt es nicht für ausgeschlossen, daß der mittelniederländische Dichter sich auf eine nicht erhaltene französische Quelle stützte, bevorzugte aber die Vorstellung eines selbständig arbeitenden kreativen Dichters, der aus dem vorhandenen Material eine eigene einzigartige Version der Erzählung schuf. Matthes’ Entstehungstheorie wurde von verschiedenen Forschern übernommen, doch die meisten (unter ihnen Diermanse, der 1939 eine Edition der damals bekannten RvM-Fragmente besorgte) glaubten, daß der mittelniederländische Dichter eine unbekannte französische Fassung übersetzt habe. Matthes’ Theorie zum Prolog fand hingegen viel Zustimmung. Die mittelniederländische Version des Prologs mit der Ermordung Lodewijcs (statt Bertholets und Lohiers) und mit der Fehde zwischen Aymijn und dem König (statt der zwischen Beuve und dem König) sah Matthes als ursprünglicher als die französische Version an. Eines seiner Argumente besagte, daß auch die französische Tradition Spuren einer Version aufweise, nach der Charlemagnes Sohn von Renaud getötet wird: In verschiedenen Versen wird an den Tod von jemandem erinnert, der als Sohn Charlemagnes oder als Loeïs bezeichnet wird. Matthes nahm daher an, daß der RvM, obwohl in s g e s a m t jünger als der traditionelle RdM, bei der Ermordung Lodewijcs eine ältere Version repräsentiert als der RdM. Diese Idee überzeugte viele, darunter Gaston Paris (1875), der in der isländischen ‚Mágus saga‘ ein zusätzliches Argument fand. Marie Loke (1906) argumentierte, der RvM gehe i n s g e s a m t auf ein Erzählstadium zurück, das älter als der traditionelle RdM sei. Im Gascogneteil scheine der mittelniederländische Dichter dieselbe französische Quelle benutzt zu haben wie der Dichter des von Michelant herausgege-

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benen Texts. Die Erzählung, die er in seiner Quelle vorfand, habe er mit Elementen angereichert, die er anderen Texten entlehnt habe. Vor allem von romanistischer Seite gab es Kritik an Lokes Gedanken; die meisten Romanisten konnten sich mit ihrem wesentlichen Inhalt nicht einverstanden geben. Wohl aber konnten sich die meisten auf die Ansicht einigen, daß es i m RvM Elemente gibt (die Ermordung Lodewijcs, der Spanienaufenthalt) die einer älteren Phase entstammen als derjenigen, die die erhaltenen Fassungen des RdM aufweisen. Castets, der Fassung L 1909 vollständig herausgab, wies in seiner Einleitung darauf hin, daß verschiedene mittelniederländische Elemente, die in L keine Parallele haben, dafür in einer oder mehreren anderen französischen Fassungen vorkommen – was auch Matthes schon angemerkt hatte. Castets (1909, S. 256f.) schlußfolgerte, daß der RvM auf verschiedene französische Quellen zurückgehe, die aus verschiedenen Zeiten stammen und nicht alle in gleichem Maße bekannt waren. Der Prolog soll eine Kombination alter Elemente und eigener Erfindungen des mittelniederländischen Dichters sein. Im Allgemeinen beschränkten sich die Gelehrten darauf zu sagen, daß der RvM eine Übersetzung, Bearbeitung oder kreative Umarbeitung einer nicht erhaltenen französischen Fassung sei, ohne sich über das Verhältnis dieser verlorenen Fassung zu den erhaltenen französischen Fassungen auszusprechen. Von der Ansicht, daß die Ermordung Lodewijcs und der Spanienaufenthalt einer alten französischen Tradition entstammten, distanzierte sich Thomas (1962, Bd. I, S. 208–214) in seiner Edition der „Episode ardennais“. Obwohl er davon überzeugt war, daß ältere als die uns bekannten RdM-Texte existiert haben, erklärte er die Anspielungen auf eine Ermordung Loeïs’ in den erhaltenen französischen Fassungen als Fehler eines Kopisten oder Bearbeiters. Er schloß auch die Möglichkeit nicht aus, daß selbst der ursprüngliche RdM schon Inkonsistenzen aufwies. In einer späteren Untersuchung (Thomas 1981a) schlug er die Möglichkeit vor, daß der Prolog des ursprünglichen RdM eine Ermordung Bertholets durch Renaud sowohl wie eine Ermordung Loeïs’ durch Richard beinhaltete. Schließlich vertrat Calin (1962, S. 39–43) den Standpunkt, daß verschiedene französische Erzählungen über die Entstehung der Fehde nebeneinander bestanden haben. Der mittelniederländische Dichter habe sich auf eine andere (aber nicht notwendig ältere) Tradition als der französische Dichter gestützt. Die Grundlage der Spanienepisode müsse in einigen anderen Episoden der Erzählung gesucht werden. Vielleicht hätten auch zu den hierin erzählten Ereignissen verschiedene Traditionen existiert.

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In einer Untersuchung zum Verhältnis des RvM und des RdM, die ich selbst durchgeführt habe (Spijker 1990a), wurden die Vertreter der mittelniederländischen RvM-Tradition erstmals systematisch mit allen uns bekannten Versfassungen der französischen RdM-Tradition verglichen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung lauten wie folgt: Der RvM steht der traditionellen RdM-Version näher als den beiden anderen RdM-Versionen. In weiten Teilen des RvM werden die Elemente der Erzählung in derselben Reihenfolge dargeboten wie im RdM – auch eine beträchtliche Reihe weniger wichtiger Elemente. Des öfteren lassen sich Übereinstimmungen bis ins Detail und sogar textuelle Übereinstimmungen feststellen. Dem stehen zahlreiche Unterschiede gegenüber. Der mittelniederländische Dichter wird sich auf eine Quelle (oder Quellen), die mit dem uns bekannten RdM übereinstimmte(n), gestützt haben, doch kann keine der erhaltenen französischen Fassungen als Quelle für den RvM nachgewiesen werden. Wie auch die romanistische Forschung gezeigt hat, bilden die französischen traditionellen Fassungen in verschiedenen Textabschnitten Gruppen, die jeweils eine eigene (Sub-)Version darstellen. Der mittelniederländische Dichter muß den RdM in einer Subversion, die weitgehend mit der Fassung N übereinstimmte (Paris, B.N. ms. fr. 766; um 1300), eine vergleichsweise junge Subversion, gekannt haben: Über weite Teile des RvM verstreut kommen Passagen und Episoden vor, in denen sich der mittelniederländische Text ausschließlich oder vor allem an die Subversion anschließt, welche eine (jeweils in der Zusammenstellung wechselnde) Gruppe von Fassungen liefert, von der N ein Vertreter ist. Die Gefangenschaft von Renouts Brüdern findet sich beispielsweise in N und drei anderen traditionellen Fassungen wieder. Der mittelniederländische Dichter wird den RdM aber nicht in einer (Sub-)Version gekannt haben, die inhaltlich vollständig mit N übereinstimmte. Zumindest kann er nicht a u s schließl i ch diese Subversion gekannt haben. N fehlen nämlich Elemente, die der RvM übereinstimmend mit anderen traditionellen französischen Fassungen aufweist. Die mündliche Überlieferung wird im Entstehungsprozeß des RvM eine entscheidende Rolle gespielt haben. Wir dürfen vermuten, daß der mittelniederländische Dichter über Vorträge Kenntnis vom französischen Text gewonnen hat und daß er danach aus dem Kopf, auf der Grundlage seiner Erinnerungen, den RvM abfaßte. (Daneben besteht die Möglichkeit, daß er (Teile des) RdM g e l e s e n hat, doch wird er beim Dichten des niederländischen Textes auf der Grundlage seiner E ri nn er ung en zu Werke gegangen sein.) Bei der Übertragung des Gascogneteils ins Niederländische blieb er ziemlich nahe beim RdM. Besonders in den zentralen Episoden (Pferde-

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rennen, Valcolone und Ritsaerts Gefangenschaft und Befreiung) behielt er viele Details aus dem französischen Text bei und kam an diese hier und da, in sehr kleinen Textausschnitten, auch textuell sehr nah heran. Wahrscheinlich betrachtete er den Gascogneteil als den wichtigsten Teil der Erzählung und war mit ihr am besten vertraut. Möglicherweise hat er deren zentrale Episoden öfter als einmal im Vortrag gehört. Ebensowenig darf die Möglichkeit ausgeschlossen werden, daß der Stoff dieser Episoden in den Niederlanden schon bekannt war, bevor der RdM vollständig ins Niederländische übertragen wurde. Ein Teil der Unterschiede zwischen dem RvM und dem RdM kann mit Gedächtnisprozessen erklärt werden. Für einen anderen Teil der Abweichungen untereinander werden andere Faktoren verantwortlich sein, die in den folgenden Abschnitten besprochen werden. Natürlich können Prozesse, die sich im Gedächtnis vollzogen, mit diesen Faktoren interferiert haben. Der Dichter folgte seinem eigenen Kurs und ging vor allem frei mit den Textteilen um, die dem französischen Gascogneteil vorausgehen und diesem folgen. Den Prolog über Beuve und Bertholet kann er gekannt haben. Er kann gute Gründe dafür gehabt haben, diese Vorgeschichte durch eine andere zu ersetzen (s.u. „Prolog und Verwandtschaftsverhältnisse“). Die Ermordung Lodewijcs wird er ebenso wie einige andere Elemente der Erzählung Renauttraditionen entlehnt haben, von denen in den erhaltenen französischen Quellen nur noch Anklänge zeugen; neben der Tradition mit dem Totschlag Bertholets kann eine Tradition mit dem Totschlag Loeïs’ existiert haben. Wieder andere Elemente entlehnte er anderen Texten als dem RdM. Einige Elemente werden schließlich seiner eigenen Fantasie und Kreativität entsprungen sein. Bearbeitungstechnik Der mittelniederländische Dichter scheint die Erschaffung eines schnell voranschreitenden Textes voller Handlung und Abenteuer angestrebt zu haben. Die E re i gn i s s e in der Erzählung waren für ihn anscheinend am wichtigsten. Zudem wird er seinen Text möglichst auf den Kenntnisstand und die Erfahrungswelt seines beabsichtigten Publikums abgestimmt haben. Von diesen zwei Tendenzen – einzeln oder zusammen – ausgehend kann eine Reihe von Abweichungen des RvM in Bezug auf den RdM erklärt werden, beispielsweise eine geringere Beachtung der ernsten politischen Problematik, die im RdM prominent ist und eine weniger tiefgehende psychologische Ausarbeitung. Diese beiden Aspekte werden später

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besprochen. Dieselben Tendenzen können dafür verantwortlich sein, daß der RvM, was die Toponymie, Topographie und den Handlungsort betrifft, weniger nuanciert ist (Spijker 1990a, S. 165–176). Die Variation des Handlungsortes ist weniger stark als im RdM. So wird Karl öfter an einem festen bekannten Ort gezeigt, nämlich in Paris, während er im RdM beispielsweise auch in Laon Hof hält. In Paris finden im RvM verschiedene Ereignisse statt, die sich nach einigen französischen Fassungen in ebenderselben Stadt abspielen und nach anderen französischen Fassungen anderswo, aber auch solche Ereignisse, die in a l l e n traditionellen französischen Fassungen anderswo angesiedelt sind. Von einem Lager bei Montbendel ist nicht die Rede. Was im RdM in Montbendel verortet ist, spielt sich im RvM in Paris ab. So heckt Yewe den Verrat an den Hk persönlich und direkt mit Karl in Paris aus, während im RdM Boten zwischen Montbendel und Yons Burg hin- und herreisen, um den Verrat zu arrangieren. Viele Toponyme aus dem RdM finden sich im RvM nicht wieder. Dies betrifft nicht nur Toponyme, die für die Handlung irrelevant sind, sondern auch Namen von Örtlichkeiten, die in der Erzählung eine wichtige Rolle spielen. Der Felsen, auf dem die Hk während der heftigen Schlacht in Valcolone Zuflucht suchen, – in allen französischen traditionellen Fassungen Roche Mabon genannt – hat im RvM keinen Namen. Orte, die im RdM einen Namen haben und aufgrund dessen identifiziert werden können – oder den Eindruck wecken, daß dies der Fall ist – sind im RvM namenlos und werden durch einen Gattungsnamen in Kombination mit einem unbestimmten Artikel bezeichnet. Man kann deshalb von räumlicher Verwischung (vervaging) sprechen. Auch in topographischer Hinsicht ist der RvM weniger präzise und weniger breit ausgearbeitet. So fehlt die Beschreibung der Beschaffenheit von Vaucouleurs, die alle traditionellen Fassungen des RdM geben. Dies ist eine schauerliche Beschreibung, die die Unsicherheit der Situation, in der sich die QFA befinden, unterstreicht, und die somit sehr funktionell ist. Ihr Fehlen im RvM kann einzig ausgehend von der Tatsache erklärt werden, daß der mittelniederländische Dichter von einem Höhepunkt zum nächsten und besonders von einer Handlung zur nächsten eilt. Der Handlungsstrang (Spijker 1990a, S. 144–164) konzentriert sich im RvM stärker auf ‚Hauptsachen‘ als im RdM. In Teilen der Erzählung, in denen der RvM dem RdM nahe steht, fehlen im mittelniederländischen Text allerlei Details, die in allen französischen traditionellen Fassungen vorkommen: Details, die für den Handlungsverlauf wenig oder gar keine Bedeutung haben, die mit einer sorgfältigen Abrundung verbunden sind oder die Handlung verzögern. Anders als im RdM wird beispielsweise

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nicht beschrieben, wie Renout bei seiner Heimkehr nach dem Pferderennen von seiner Frau Claradijs begrüßt wird und von dem Abenteuer berichtet. Einige Figuren erhalten kaum oder keine Aufmerksamkeit, nachdem ihre aktive Rolle zu Ende gespielt ist. Yewe wird nach der Schlacht bei Valcolone von Renout gefangengenommen. Renout gibt seinen Männern den Auftrag, ihn in Ketten zu legen. Hiernach wird nichts mehr über Yewe gesagt (außer, seltsam genug, daß er Renout später Hilfstruppen sendet). Von Claradijs schweigt der Dichter, nachdem Renout ihr von der Versöhnung mit Karl erzählt hat. Im RdM wird der Faden sowohl Yons als auch Clarices Lebensgeschichte sorgfältig verschlungen. Im Gascogneteil bietet der RvM eine nachweislich vereinfachte, drastisch gekürzte Version des französischen traditionellen RdM: Über ein Lager bei Montbendel wird nichts gesagt, es kommen keine Briefe, Schreiber und Boten in den Verhandlungen zwischen Yewe und Karl vor und Yewe beruft keine Ratsversammlung ein. Schnell zielt der Dichter auf Yewes Verrat ab. Hinsichtlich des großen Erzählrahmens kann man vereinfachend behaupten, daß die dreigliedrige Kriegserzählung des RdM (Ardennen, Gascogne, Dortmund) im Wortsinne vereinfacht ist, und zwar zum Gascogneteil. Der Teil nach der Flucht aus Montalbaen (der sich nicht in Dortmund, sondern in den Ardennen abspielt) ist stark verkürzt: Die Belagerung ist von sehr kurzer Dauer und der RvM drängt auf die Versöhnung hin. Über Verwicklungen und Reibereien in Karls Heer wird nichts berichtet. Der französische Ardennenteil kommt so im RvM nicht vor. Ausgehend von der offenbaren Vorliebe des mittelniederländischen Dichters für Handlung läßt sich erklären, daß er das dürftige Vagabundentum der QFA wegfallen ließ. Ebensowenig übernahm er aus dem französischen Ardennenteil Elemente, die sich als Verdopplung von Elementen aus dem Gascogneteil betrachten lassen: Bau einer Burg, deren Belagerung etc. Einige spannende Elemente, die im Gascogneteil ohne Parallele sind, wie den Besuch der QFA bei ihrer Mutter, hielt er jedoch durchaus für der Mühe des Übernehmens wert. Diese Elemente verband er auf seine eigene Weise miteinander und übertrug sie en bloc in den Gascogneteil. Er ging hier also drastisch umstrukturierend zu Werke. Prolog und Verwandtschaftsverhältnisse Der französische Prolog präsentiert Aymon, den Vater der QFA, als Bruder von Beuve d’Aigremont, Girard de Roussillon und Doon de Nanteuil. Dies sind grimmige Leute, die nicht davor zurückschrecken, gegen

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Charlemagne Krieg zu führen und nicht zu erscheinen, wenn er gegen die Heiden in die Schlacht zieht. Beuve wird von seiner Frau und einem seiner Ritter darauf hingewiesen, daß es nicht gut sei, seinen gesetzmäßigen Herrn zu bekriegen; man verspiele damit die Liebe Gottes. Er habe falsch daran getan, Charlemagne nicht in dessen Kampf gegen die Heiden beizustehen. Der mittelniederländische Dichter hat die Verwandtschaft der Hk mit dieser grimmigen Trias aufgelöst; er erwähnt nirgends, daß Aymijn ihr Bruder wäre. Beuve und Doon werden im RvM selbst nicht genannt. Der mittelniederländische Dichter hat die Hk zu Verwandten der Helden gemacht, die von Bertrand de Bar-sur-Aube zur dritten geste gerechnet werden, die ihre Kraft und Kampfeslust in den Dienst von König und Christentum stellen. Der zentrale Held dieser geste, Guillaume d’Orange, ist ein Sohn des Aymeri de Narbonne. Dieser wird nun im RvM als ein naher Verwandter Aymijns dargestellt. In der mittelniederländischen RvM-Tradition sind Aymijn und Aymerijn Onkel des Huge van Dordonne; im ‚Reinolt‘ ist Huge ein Schwestersohn sowohl Aymerijns als auch Aymijns und diese sind demnach Brüder. Huge erinnert Karl an die Leistungen, die beide im Dienst des Königs im Kampf gegen die Heiden erbracht haben. Aymerijn ist ein bedeutender Zeuge der Krönung Lodewijcs. Auch andere Mitglieder des berühmten Heldengeschlechts kommen im RvM vor: Willem van Oringen (tritt im Prolog als Ratsherr bzw. Familienmitglied Aymijns auf und ist Ritsaerts Pate), Aernout van Beaulant (Aymerijns Vater), Olivier, Bernaert van Brabant und Bertram die palesijn. Des weiteren werden Geraert und Ganelin (Söhne Bertrams) und Geraert van Viane genannt. Bis auf Olivier tauchen all diese Figuren ausschließlich in solchen Teilen der Erzählung auf, für die der RdM keine Parallele bietet, oder deren Inhalt vom mittelniederländischen Dichter drastisch umgearbeitet wurde: der Prolog, die Episode mit dem Raub Beyaerts und die Episode mit der Befreiung der Brüder Renouts (Spijker 1990a, S. 240–241). Mit dem Alter hat der Dichter es nicht so genau genommen: es treten problemlos fünf Generationen des Geschlechts gleichzeitig auf! (Vergleichbare Eigenartigkeiten in Bezug auf den Zeitverlauf und die Altersverhältnisse tun sich auch anderswo im Text auf – vgl. Spijker 1999.) Aymerijn muß beim mittelniederländischen Publikum wohlbekannt und beliebt gewesen sein: In einem der erhaltenen Fragmente eines mittelniederländischen ‚Gheraert van Viane‘ erwähnt der Dichter explizit Aymerijns außergewöhnlich große Berühmtheit, und es gibt Hinweise darauf, daß seine Rolle in diesem Text stärker hervorgehoben wurde als im französischen ‚Girart de Vienne‘ (Spijker 1983). Auch über die Heldentaten anderer Mitglieder dieses Geschlechts hat es mittelniederländische Texte

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gegeben: Erhalten ist ein Teil eines Bifoliums des ‚Willem van Oringen‘ (f Wilhelmsepen, Teil B, Kap. 3.5), in dem ebenso mit Stolz über Aymerijn gesprochen wird, und wahrscheinlich hat es eine mittelniederländische Bearbeitung des ‚Garin de Monglane‘ gegeben. Mit der Darstellung Aymijns als Verwandter Aymerijns wird der mittelniederländische Dichter die Absicht verfolgt haben, die Hk mit einem Geschlecht zu verbinden, das beim Publikum beliebt war und von vornherein deutlich zu machen, daß sie tatsächlich loyale Vasallen waren, die sich für den christlichen Glauben und den König einsetzen wollten – daß sie nur gezwungenermaßen gegen den König kämpften. Durch ihre Verwandtschaft mit Aymerijn konnten seine Hauptpersonen sich schon im Voraus der Sympathie des Publikums sicher sein (Spijker 1990a, S. 75f.). Der eifersüchtige Lodewijc Im RvM wird Lodewijc von Renout nach einer Partie Schach, die er mit schlechten Absichten begonnen hat, getötet: Lodewijc war eifersüchtig auf die Hk, legte ihnen Hindernisse in den Weg und wollte ihnen schaden. Aufgrund einer Passage der (untereinander verschiedenen Fassungen der) französischen traditionellen Version, worin Aie den sie besuchenden Unbekannten (= die QFA) erzählt, warum ihre Kinder vor Charlemagne fliehen mußten, und aufgrund der ‚Mágus saga‘ kann unterstellt werden (Spijker 1990a, S. 61–68), daß es einmal eine französische Version der Erzählung gab, in der Charlemagnes Sohn Loeïs eifersüchtig auf die QFA war, mit üblen Absichten (die auch hinter dem Schachspiel im italienischen ‚Rinaldo da Monte Albano‘ stecken) gegen einen von ihnen Schach spielte, und in der ihn dies das Leben kostete. Bei der Konzipierung des Prologs kann der mittelniederländische Dichter sich durch eine solche Version der Erzählung inspirieren lassen haben. Skårup (1995) fällt das Urteil, daß die Saga keine Stütze für die Hypothese, daß es jemals eine solche französische Version der Erzählung gegeben hat, biete. Daß Karl vor Wut kocht, als sein Sohn, den er gerade als seinen Nachfolger gekrönt hat, vor seinen Augen ermordet wird, ist durchaus verständlich; über die verhängnisvolle Partie Schach ist er nicht informiert. Der Leser/Zuhörer kann aber jedes Verständnis für Renouts Tat aufbringen: Lodewijc ist eifersüchtig, nachtragend, eingebildet und schikaniert die Hk aufs äußerste. Sein Verhalten geht absolut zu weit, was auch aus Karls Reaktionen darauf deutlich wird: Wann immer Lodewijc den Hk vor den Kopf stößt, bemüht sich Karl darum, das Fehlverhalten seines Sohnes

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wieder gut zu machen; er weist ihn zurecht und zeigt sich versöhnlich gegenüber den Hk, wenn sie heftig und mit physischer Gewalt auf Lodewijcs erniedrigende Schikanierungen reagieren. Was ebensowenig für Lodewijc spricht, ist, daß er sich von einigen namentlich genannten Ratsherren beraten läßt, die in der mittelalterlichen Literatur als berüchtigte Verräter bekannt sind. Diese sind es, die ihn auf die Idee einer Partie Schach bringen, und auf ihren Ratschlag hin setzt Lodewijc in Selbstüberschätzung seinen Kopf aufs Spiel – womit die Hk ohne weiteres ein Anrecht auf seinen Kopf haben. Kurzum, in dem mittelniederländischen Prolog trägt alles dazu bei, daß das Publikum davon überzeugt ist, daß Lodewijc es sich selbst zuzuschreiben hat, daß er ermordet wird und daß die Hk u n w i l l e n t l i ch mit Karl in Konflikt geraten (vgl. auch HvH, Ausg. Spijker, S. 299–303). Politik Hauptthema des RdM ist das gespannte Verhältnis zwischen dem König und seinen Vasallen. Charlemagne ist ein Tyrann, ein halsstarriger, unversöhnlicher Fürst, der sich nicht an seine feudalen Verpflichtungen hält. Er mißbraucht seine Macht, er tut falsch daran, sich gegenüber den QFA unversöhnlich zu geben. Renaud ist grundsätzlich loyal. Tatsächlich ist er unwillentlich mit dem König im Krieg. Immer wieder wird betont, daß die QFA im Recht sind und der König nicht. Wiederholt fallen die Wörter droit („Recht“) und tort („Unrecht“). In den Chansons de geste vor dem RdM spielte der Gegensatz von droit und tort ausschließlich im Zusammenhang mit dem Kampf zwischen Christen und Heiden eine Rolle. Im RdM wird er erstmals zur Charakterisierung des Verhältnisses von König und Vasall verwendet, und zwar zum Nachteil des ersteren. Sowohl die QFA als auch die Pairs sind sich des tort Charlemagnes bewußt. Wie sollen sie sich ihm gegenüber verhalten? Dieser Tyrann ist immerhin ihr König und Herr. Dieses Dilemma, das im RdM prominent ist, läßt sich historisch durch den Unmut über die starke Zentralisierungspolitik erklären, die der französische König am Ende des 12. Jahrhunderts betrieb (Bender 1967, S. 138–175; vgl. Calin 1962, S. 113–143). Diese politische Problematik erhält im RvM weniger Nachdruck (Spijker 1987). Hier wird viel weniger auf dem Gegensatz von Recht und Unrecht bestanden. Die Erzählung ist in hohem Maße aus dem politischen Kontext herausgelöst. Sowohl Renout als auch die genoten (die Pairs) gehen unbefangener mit Karl um als im RdM. Der König flößt ihnen weniger

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Respekt ein, sie belügen ihn, machen sich über ihn lustig und schrecken nicht davor zurück, ihn in seiner körperlichen Würde anzurühren: Renout begreift, daß er ihn nicht töten darf, wirft ihn aber ohne Skrupel aus dem Sattel, Bischof Tulpijn geht ihm an die Gurgel. Die Machtlosigkeit des Königs wird in die Sphäre des (bisweilen derb) Komischen und des grob Körperlichen gezogen. Offenbar erwartete der mittelniederländische Dichter, daß sein Publikum eher an einer schnell voranschreitenden, spannenden Erzählung, die viele lustige Elemente beinhaltete, interessiert war als an einem Text, in dem auf literarische Weise ernsthafte feudalpolitische Probleme zur Sprache kamen, die in einer Wirklichkeit, die nicht die Wirklichkeit dieses neuen Publikums war, angesiedelt waren. Die politische Problematik um Yewe wurde ebenfalls weggelassen (s.u.). Psychologie Auch psychologische Probleme werden im RvM weniger vertieft als im RdM. Dies hat große Folgen für den Eindruck, den namentlich Aymijn und Yewe auf den Leser machen (Spijker 1990a, S. 176–192). Aymon/Aymijn wird dazu gezwungen, seinen Söhnen abzuschwören. Der französische Aymon leidet schwer unter der Situation, in der er sich nun befindet. Dem von ihm geschworenen Eid treu kämpft er während der Belagerung Montessors auf seiten des Heeres des Königs, tut dies aber unter Qualen im Herzen. Zweimal verjagt er seine Söhne von seiner Burg, aber seine Vaterliebe läßt sich nicht verleugnen: Er läßt es zu, daß Aie sie versorgt und gesteht ihnen zu, mitzunehmen, was sie wollen. Später nimmt er an der Belagerung Montaubans teil, aber weil er den Gedanken nicht erträgt, daß seine Kinder verhungern, hilft er ihnen, indem er seinen Männern den Auftrag gibt, Montauban nicht mit Steinen, sondern mit Nahrungsmitteln zu beschießen. Wegen dieser Tat muß er das Heer Charlemagnes verlassen, womit seine Rolle zu Ende gespielt ist. Aymon ist ein Mann, der von einem inneren Konflikt zerrissen wird. Er wird zwischen seiner Vaterliebe und dem aufrechten Streben, dem geschworenen Eid gerechtzuwerden, hin und her getrieben. Er klagt darüber, daß er verpflichtet ist, wider seine Gefühle zu handeln, und weint vor Machtlosigkeit. Ein völlig anderes Bild bekommt der Leser vom mittelniederländischen Aymijn. Auch er erhebt gegen seine Söhne die Waffen, aber von einem inneren Kampf ist bei ihm nichts zu spüren. Sobald er hört, daß seine Söhne auf seiner Burg sind, geht er, ohne zu zögern, zum Angriff über. Dies kommt ihn teuer zu stehen: Renout nimmt ihn gefangen und läßt ihn in Ketten vor Karl bringen.

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Nachdem Aymijn dem König erzählt hat, was geschehen ist, hören wir nichts mehr über ihn (mit Ausnahme von ‚Reinolt‘, V. 14779–14785). Was in ihm vorgeht, wird nicht erzählt. Von dem Moment an, in dem er seinen Söhnen abschwört, scheint er sich bedingungslos und definitiv gegen sie zu wenden. Dadurch, daß der RvM nicht explizit von einem psychischen Konflikt, der Aymijn plagt, berichtet, macht dieser einen negativeren Eindruck als Aymon. Diese Veränderung wird man nicht dem Wunsch des niederländischen Dichters, das Tempo in der Erzählung aufrechtzuerhalten, zuschreiben müssen: Ogiers psychischer Konflikt, namentlich in Valcolone (Verpflichtungen gegenüber Karl versus Treue gegenüber den Hk, Ogiers Verwandten), findet sehr wohl Beachtung. Aymon scheint die Sympathie des mittelniederländischen Dichters dadurch verspielt zu haben, daß er, im Gegensatz zu Ogier, tatsächlich gegen seine Söhne die Waffen erhoben hat. Darum wird der Dichter nichts mehr über Aymijn erzählen wollen haben (oder hat er verdrängt), was uns milder über diesen urteilen lassen könnte. Die spektakuläre Nahrungsmittelschießerei ließ er von den bekanntesten Pairs ausführen. Der negative Eindruck, den Aymijn weckt, nachdem er den Hk abgeschworen hat, wird durch Renouts Reaktion verfestigt und verstärkt: Er urteilt hart über seinen Vater, hat keine Nachsicht mit ihm und hofft während der Belagerung Montalbaens anders als im RdM nicht auf dessen Hilfe. Der Unterschied zwischen Aymon und Aymijn hat eine Parallele in demjenigen zwischen Yon und Yewe. Sobald Charlemagne Montauban entdeckt hat, verlangt er von Yon die Auslieferung der QFA. Im Beisein Renauds weigert sich Yon. Nach dem Fiasko beim Pferderennen rückt Charlemagne nach Süden vor und nimmt das in der Gascogne gelegene Montbendel ein. Aus seinem Heerlager geht ein Bote zu Yon, der erneut die Auslieferung der QFA fordert und für den Fall, daß Yon sich weigert, mit schweren Konsequenzen droht. Durch die Nähe von Charlemagnes Heer und die Einnahme Montbendels fühlt sich Yon in die Enge getrieben. Er legt seinen Ratsherren sein Dilemma dar: Er sei Renauds Lehnsherr und Schwager und habe diesem viel zu verdanken, doch fürchte er Charlemagne. Die Mehrheit der Ratsherren ist für die Auslieferung und damit sind die Würfel gefallen. Der Dichter stellt es so dar, als ob Yon dazu gezwungen sei, sich mit dem Beschluß seiner Ratsherren abzufinden; Yon scheint ihr Votum als bindend anzusehen. Einer der Herren schreibt ihm auch genau vor, wie er bei der Auslieferung vorzugehen habe. Es bereitet Yon viel Kummer, die QFA zu verraten, er wird krank davon und hat Gewissensbisse. Selbst Renaud zeigt Mitleid mit seinem Verräter: Er verhindert, daß Roland ihn erhängt, sperrt ihn in den Kerker in Montauban

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ein und nimmt ihn schließlich nach Dortmund mit. Yon ist nicht so sehr schlecht als vielmehr schwach. Er ist das Paradebeispiel eines traître occasionnel (vgl. Verelst 1990): Er schreitet unter dem Druck der Umstände zur Auslieferung. Ihm fehlt die politische Macht und die geistige Stärke, den Weg zu verfolgen, den ihm sein Herz aufzeigt. Daß er nicht durch und durch schlecht ist, wird durch die milde Haltung, die Renaud ihm gegenüber zeigt, bestätigt. Als durchweg schlecht erscheint aber Yewe. Zunächst verhält er sich ebenso sympathisch wie Yon: Er empfängt die Hk gastfreundlich und behandelt sie korrekt. Als Karl ihre Auslieferung von ihm verlangt, beratschlagt er sich mit seinen Ratsherren und Renout. Das Resultat ist, daß er den Hk Zustimmung zum Bau einer Burg gibt und daß er Renout seine Tochter gibt. Darüber ist Karl erzürnt. Auf einem Hoftag in Paris (von einem Vorrücken in die Gascogne und einer Einnahme Montbendels ist nicht die Rede) verlangt er erneut von Yewe die Auslieferung. Er verspricht ihm vier Lastpferde beladen mit Gold. Yewe zögert keine Sekunde, fragt niemanden um Rat und kann sofort sagen, wie er die Hk in die Falle locken wird. Von Schuldgefühl oder Kummer ist nichts zu spüren – es sei denn in ‚Reinolt‘, V. 7634–7636, wo er von Renout nicht geküßt werden will, weil er nach eigener Aussage Kopfschmerzen hat. Als ihnen klargeworden ist, daß Yewe sie verraten hat, sehen Renout und die Seinen in ihm einen niederträchtigen Halunken. Renout hätte ihn denn auch ohne weiteres durch Roelant erhängen lassen, wenn Claradijs nicht die Schande erwähnt hätte, die es für ihre Kinder bedeuten werde, die Enkel eines Erhängten zu sein. Renout befreit ihn darum aus den Händen Roelants und läßt ihn in Ketten legen. Danach wird nichts mehr über Yewe berichtet (eine merkwürdige Ausnahme bildet ‚Reinolt‘, V. 12043–12045). Der mittelniederländische Dichter, der vor allem ein Auge für die E r e ig n i s s e gehabt zu haben scheint, sah in dem König der Gascogne in der Valcoloneepisode aufgrund des Verrats, den er beging, offenbar einen Verräter der aus den Chansons de geste bekannten Art, oder wollte ihn in jedem Fall so darstellen (Spijker 1990b). Er wird kein Interesse gehabt haben (oder erwartete von seinem Publikum kein Interesse) an der politischen Problematik des schwachen Fürsten, der sich unwillentlich dem Willen seiner mächtigen Herren fügen muß, noch an der komplizierten Figur des traître occasionnel. Offenbar fesselte ihn nicht so sehr die Situation, aus der heraus Yons Verrat zustande kam, sondern vielmehr dieser Verrat selbst. So schnell wie möglich steuert er auf das heimtückische Versprechen zur Auslieferung der Hk zu. Alle mildernden äußeren Umstände läßt er weg. Der atypische Verräter aus dem französischen Text wurde dadurch zu einem

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schamlosen Halunken. Die Verantwortung für das Unheil, in das die Hk gestürzt werden, liegt bei ihm, nicht bei seinen Ratsherren. Um seine Wandlung (anfänglich ist er ja loyal gegenüber Renout und ergreift kühn Partei für ihn) glaubhaft zu machen, schreibt ihm der mittelniederländische Dichter eine schlechte Eigenschaft zu, die er im RdM nicht besitzt: Habgier. Atmosphäre: komische, höfische und religiöse Elemente Bei allem Ernst beinhaltet der RdM lustige Elemente, die besonders mit dem Auftreten Maugis’ in Zusammenhang stehen. Der mittelniederländische Dichter hat diese Elemente mit sichtlichem Vergnügen übernommen. So läßt er Malegijs, dem französischen Quellentext folgend, als Pilger verkleidet von Karl gefüttert werden, sind Malegijs und Renout beim Pferderennen zu schlau für den König und treibt Ogier seinen Spott mit Roelant. Auch hat er (oft derb-)komische Elemente hinzugefügt. Im Prolog erobert Renout beispielsweise am königlichen Hof mit Gewalt Essen und einen Schlafplatz, und Bischof Tulpijn geht dem König an die Gurgel, nachdem ihm dieser einen Faustschlag versetzt hat. Als die Hk in Pilgerverkleidung ihre Mutter besuchen, erkennt diese Renout nicht an einer Narbe (wie im RdM), sondern dadurch, daß er sich betrinkt, alles ausplaudert und sturzbetrunken umfällt. Des Motivs Trunksucht/Trunkenheit bedient sich der Dichter ebenso dankbar in der Episode über die Rückeroberung des gestohlenen Beyaert, die im RdM keine Parallele hat: Die Knechte, die Beyaert in ihrer Obhut haben, werden mit Hilfe eines berauschenden Getränks außer Gefecht gesetzt und ein paar Mönche, die Renout und Malegijs treffen, werden mit Goldstücken bestochen und sagen einander auf Latein, daß sie diese für Wein ausgeben werden (Spijker 1990a, S. 238f.). Der RvM beinhaltet auch Elemente, die sich als ‚höfisch‘ bezeichnen lassen. Nachdem Roelant den gestohlenen Beyaert von Karl geschenkt bekommen hat, fragen eine oder mehrere Damen ihn, wann er eine Reitvorführung geben werde. Die Wahl eines Tages überläßt Roelant der/den Dame/Damen. Karl sagt in dieser Passage (‚Reinolt‘, V. 4202f.) sogar: sol uch gut geschien mit truwen, / das muß uch komen von frauwen. Kurz danach diskutieren die Damen die Frage, wer der hübscheste Ritter sei. Durch das höfische Gepräge in diesem Passus unterscheidet sich die Pferdediebstahlepisode von den Textteilen, in denen der RvM sich dem RdM anschließt. Diese ‚höfischen‘ Elemente erinnern an Artusromane. Dasselbe gilt für

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ein weiteres Element, das in dieser Episode eine Schlüsselrolle spielt: den goldenen Kelch, dessen sich Malegijs raffiniert bei der Rückeroberung Beyaerts bedient. Wenngleich dieses Objekt nirgendwo im ‚Reinolt‘ oder dem Prosadruck von 1508 (in den mnl. Versfragmenten ist diese Passage nicht erhalten) als ‚Gral‘ bezeichnet wird, muß dem Dichter hier der Gral vorgeschwebt sein (Spijker 1990a, S. 92f.). Das Vorhandensein ‚höfischer‘ Elemente in einem Text, der zur Karlsepik gehört, ist keineswegs außergewöhnlich – weder in der französischen Literatur noch in der mittelniederländischen. Unlängst hat Van Oostrom (LG, S. 233) noch betont, daß der Unterschied zwischen epic und romance für den mittelniederländischen Ritterroman wenig zutreffend ist. Diese Subgenres sind vielmehr zeitgenössisch und unterliegen so der ‚Kreuzbestäubung‘: Sowohl was die Form als auch was den Inhalt betrifft, nähern sie sich einander an. Ebenso wie im RdM sind religiöse Elemente im RvM prominent, namentlich im Epilog. Aber auch davon abgesehen, kommen sie vor, denkt man beispielsweise an die Befreiung Kölns und an die Pilgerfahrten nach Santiago de Compostella; diese Elemente entlehnte der mittelniederländische Dichter der französischen Tradition. Das Element der Santiago-Wallfahrt wurde von ihm verdoppelt und aus erzähltechnischen Gründen eingesetzt (Spijker 1990a, S. 235f.). In Episoden, für die die erhaltenen französischen Quellen keine Parallele bieten, spielt Religion ebenfalls eine Rolle. In der Spanienepisode treten die Hk in den Dienst des heidnischen Königs Saforet, doch Renout weigert sich entschieden, den Glauben an Apollo und Mamet (der Islam wird – wie üblich – als polytheistische Religion dargestellt) anzunehmen und besteht darauf, am christlichen Glauben festzuhalten. In der Episode, in der Beyaert gestohlen und zurückgewonnen wird, erkennt er, daß Gott keine Gewalt gegen den König duldet. Bastert (2004, S. 145f.) hat das Motiv des von Gott geschützten Königs mit der Tatsache in Verbindung gebracht, daß im ‚Reinolt‘ (und das gilt gleichermaßen für die mittelniederländische Tradition, auf der dieser fußt) Karls mehr oder weniger teuflische Gegner Malegijs und Beyaert getötet werden, was im RdM nicht der Fall ist. Neben Renouts reumütiger Betrachtung umfaßt die genannte Episode einige ‚bedenkliche‘ Elemente. Die Mönche, die Malegijs und Renout treffen, sind nicht gerade moralisch hochstehend, und auch ihr Abt nötigt wenig Respekt ab. Mit den Mönchen macht Malegijs kurzen Prozeß, zum Erschrecken Renouts. Schlichtweg blasphemisch handelt der Zauberer, wenn er sich zum Zwecke der Rückeroberung Beyaerts eines Kelchs bedient, der im ‚Reinolt‘ (V. 5044–5047) nichts anderes als der Abendmahlskelch ist; dem mittelniederländischen

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Prosaroman zufolge ist in diesem prächtigen Gegenstand Material aus der Abendmahlsschale verarbeitet (HvH, Ausg. Spijker, S. 133 u. 358). Wer sein Brot in den Trank eintaucht, der in diesem Kelch ist, dem wird laut Malegijs vollständige Vergebung aller seiner Sünden zuteil. Es ist nicht erstaunlich, daß diese ‚bedenklichen‘ Elemente der Erzählung zusammen mit einer großen Zahl unschuldiger aussehender Elemente gestrichen wurden, als der Prosatext zur Zeit der Gegenreformation bereinigt wurde (Duijvestijn 2001; vgl. HvH, Ausg. Spijker, S. 325–327). [Übersetzung (Teil B, Kap. 6): Michael Wolbring] [Manuskriptabschluß (Teil B, Kap. 6): Januar 2009]

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C Religiöse Erzählungen 1. Einleitung 2. ‚Grégoire‘/‚Gregorius‘ 3. ‚Eracle‘/‚Eraclius‘ 4. ‚Mai und Beaflor‘ 5. ‚Die gute Frau‘

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Einleitung

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1 Einleitung von Fritz Peter Knapp Vermag die gewählte Gattungsbezeichnung mehr als den kleinsten gemeinsamen Nenner anzugeben? Vier Texte unterschiedlichen Umfangs werden hier darunter zusammengefaßt, ‚Gregorius‘ (4006 V.), ‚Eraclius‘ (5392 V. in Hs. A, 5697 V. in Hs. C), ‚Die gute Frau‘ (3058 V.), ‚Mai und Beaflor‘ (9676 V.), die ersten beiden von namhaften Autoren, nämlich von Hartmann von Aue bzw. von einem gewissen, sonst unbekannten Otte, die beiden anderen anonym. Sie überschreiten alle das kleinepische Maß, meist aber nur geringfügig, bis auf das zuletzt genannte Werk. Die Literaturgeschichtsschreibung hat sich mit der Gattungszuordnung schwer getan, und die Schwierigkeiten vervielfachen sich noch, wenn man die afrz. Vorlagen der Werke ins Spiel bringt. Grundsätzlich kann eine Bearbeitung mit der Sprache selbstverständlich auch die Gattung wechseln, wird aber in der Regel von der Vorlage noch einiges ‚mitschleppen‘, was sich dem neuen Rahmen nicht ganz einfügt. Was hier aber von besonderem Interesse sein muß, ist die Frage, welche Bereicherung das deutsche Literatursystem aufgrund welcher Auswahl aus dem fremden System erfahren hat. Die Antwort auf die Frage ist aus mehreren Gründen nicht leicht zu geben. Die Quellenfrage selbst ist nur beim ‚Eraclius‘ unkompliziert. Als Vorlage hat der ‚Eracle‘ Gautiers d’Arras gedient. Beim ‚Gregorius‘ ist uns zwar die Fassung der ‚Vie du pape saint Grégoire‘, welche Hartmann benützt hat, nicht erhalten, aber sie gehörte jedenfalls derselben Gattung an wie die erhaltenen Fassungen und stand diesen auch textlich nahe. Die afrz. Vorlagen der beiden anderen Werke sind verloren. Wir besitzen nur stoffverwandte Werke, so daß ein unmittelbarer Vergleich der Gattungen gar nicht möglich ist. Die ‚Gute Frau‘ steht ‚Guillaume d’Angleterre‘ von Chrétien (de Troyes?) am nächsten, ‚Mai und Beaflor‘ der ‚Manekine‘ von Philippe de Remy. Wenn wir trotz der Bedenken die afrz. Werke nebeneinanderstellen, so weisen sie bei aller Differenz eine gemeinsame Distanz zur matière de Bretagne und dem märchenhaft Wunderbaren sowie eine gewisse, wenngleich unterschiedliche Nähe zum hellenistischen Roman auf. Lefèvre in GRLMA IV

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Einleitung

(1978) setzt den ‚Eracle‘ zusammen mit ‚Floire et Blancheflor‘ und anderen Romanen unter die Rubrik „Du rêve idyllique au gout de la vraisamblance“, woran im selben Band Léjeune ‚La Manekine‘ unter der Überschrift „Jean Renart et le roman réaliste au XIIIe siècle“ anschließt. Zink (LG, S. 158–165) nennt das Kapitel, wo er ‚Eracle‘ und ‚La Manekine‘ unterbringt, „Les romans dits ‚réalistes‘“. ‚Guillaume d’Angleterre‘ bleibt da wie dort draußen, aber nur, weil er vermutungsweise Chrétien de Troyes zugesprochen und diesem ein eigenes Kapitel gewidmet wird. Aber er hat mit Chrétiens Artusromanen natürlich herzlich wenig zu tun. Micha in GRLMA IV (1978, S. 164) stellt nur eine Nähe zum roman d’aventure und zum conte pieux fest, was man stets bei den übrigen genannten Texten auch getan hat. Erich Köhler in NHL VII (1981, S. 252–256) faßt ‚Floire et Blancheflor‘, ‚Apollonius de Tyr‘, ‚Guillaume d’Angleterre‘, ‚Eracle‘, ‚Partonopeu de Blois‘ und ‚Florimont‘ zur Gattung des „Schicksalsromans (roman d’aventure)“ zusammen. Köhler (ebd., S. 255) geht davon aus, „daß der Schicksalsroman das christliche merveilleux seiner Anfänge [wie im ‚Apollonius‘] säkularisiert und die Wunder des griechisch-byzantinischen Romans als Möglichkeiten des wirklichen Lebens begreifbar zu machen versucht“. Bei ‚Guillaume d’Angleterre‘ und ‚Eracle‘ kann aber von einer Säkularisierung des christlichen Mirakels ebensowenig die Rede sein wie bei ‚La Malekine‘ oder gar beim ‚Saint Grégoire‘, der ja eine, wenngleich ‚falsche‘ Legende ist. Und als grundsätzlich möglich haben schon die antiken Autoren der hellenistischen Romane deren teilweise haarsträubend unwahrscheinlichen Abenteuer präsentieren wollen. Von Schicksalsromanen zu sprechen hat aber durchaus Sinn, auch wenn nun der christliche Gott statt des eisernen Fatums oder der blinden Fortuna alles nach endlosen Wirren schließlich zum guten Ende führt. Da dies auch auf die Gregorlegende zutrifft, muß man selbst diese nicht, wie alle Literaturgeschichten es tun, als geistliche Dichtung völlig von den anderen Romanen absondern, sondern darf daran erinnern, daß auch hier die Liebe eine wichtige Rolle spielt, auch wenn sie nicht im irdischen Glück endet. Immerhin steht auch in Gautiers ‚Eracle‘ zwar eine Liebesgeschichte in der Mitte der erzählten Handlung, doch nicht am Ende. Vielmehr erzählt dann Gautier die Geschichte von der Wiedergewinnung des Kreuzes Christi, also eine Legende, deren die Kirche liturgisch gedenkt. Gleichwohl dominiert in keinem anderen hier aufgelisteten Werk das geistliche Moment so sehr wie im ‚Saint Grégoire‘. Da diese Legende auch einer anderen Zeit angehört, bildet sie mit jenen gewiß keine literarische Reihe. Wieweit man im übrigen von einer solchen sprechen kann, scheint

Einleitung

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nach dem Gesagten mindestens zweifelhaft. Bei den deutschen Derivaten scheint es auf den ersten Blick einfacher zu sein. ‚Eraclius‘, ‚Die gute Frau‘ und ‚Mai und Beaflor‘ erscheinen bei Bumke (LG II) unter der Höfischen Epik mit legendenhaften Stoffen, bei Brunner (LG) als erbaulich-legendarische Romane. Wehrli (LG [11980], S. 466) ordnet ihre Autoren den „Geschichts- und Geschichtenerzählern“ zu, sieht also als dominant die Neigung der Romane an, „sich wieder ins Historische oder Legendarische, d.h. die Wiedergabe faktischer oder kirchlicher Realität zu verwandeln“. Doch stellt er die drei Romane den Gestaltungen des Roland-, HerzogErnst-, Alexander-, Troja- und Apollonius-Stoffes unmittelbar an die Seite, hält das Legendarische somit offenbar nicht für ein entscheidendes distinktives Merkmal. Allein stehen sie auch bei Bumke und Brunner nicht, sondern neben ‚Der gute Gerhard‘ Rudolfs von Ems, ‚Engelhard‘ Konrads von Würzburgs, ‚Wilhelm von Wenden‘ Ulrichs von Etzenbach – Romanen, die wohl nicht aus afrz. Wurzel erwachsen sind (f Einleitung, Kap. 0.2). Mit der Legendenepik bzw. der religiösen Epik insgesamt werden sie in keiner Literaturgeschichte zusammengebracht. Wir haben also keinen Grund zur Annahme, Frankreich hätte hier eine neue Gattung, etwa den sogenannten realistischen Roman, in Deutschland initiiert. Vielmehr schließt man hier an Legende und Geschichtsepik an, die längst auf lat. Grundlage etabliert waren. Gewiß haben auf diesen Gebieten auch die mhd. rezipierten afrz. Antikenromane und Chansons de geste eine große Bereicherung gebracht. Doch auch hier ist im Mhd. eine zusätzlich historisierende Tendenz unverkennbar. Dasselbe läßt sich beim ‚Eraclius‘, der ‚Guten Frau‘ und ‚Mai und Beaflor‘ beobachten, nur bei Hartmanns ‚Gregorius‘ nicht. Am besten ist dies beim ‚Eraclius‘ möglich, wo wir einen unmittelbaren Vergleich mit der Quelle anstellen können. Der ‚Schicksalsroman‘ wird nahezu zur Chronik. Wo Gautier d’Arras einen Liebeskasus à la Kapellan Andreas ausbreitet, greift Otte kürzend und kirchlich moralisierend ein. Soweit sich ‚La Manekine‘ mit ‚Mai und Beaflor‘ vergleichen läßt, weicht ein parabolisch-exempelhafter einem pseudohistorischen Charakter. Umgekehrt tilgt Hartmann von Aue alle Ansätze zu einer historischen Verortung des heiligen Papstes, des Helden der Geschichte, zugunsten einer parabolischen Lesart. Die afrz. Vorlage der ‚Guten Frau‘ war wohl von dem stoffverwandten ‚Guillaume d’Angleterre‘ gattungsmäßig verschieden. Ihr religiöser und erbaulicher Charakter steht möglicherweise, im Gegensatz zur mhd. Bearbeitung, überhaupt in Frage. Jedenfalls enthielt sie eine Menge zeitgeschichtlicher Anspielungen, eingehüllt in eine rein fiktive Handlung. Die deutsche Bearbeitung übernimmt sie weitgehend verständnislos, versucht aber der Geschichte wenig-

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Einleitung

stens am Ende einen wenig passenden ‚karolingischen‘ historischen Rahmen zu geben. Mehr als eine deutliche religiöse Note bleibt für die vier mhd. Texte als Gemeinsamkeit kaum übrig, wobei zu betonen ist, daß die Handlung jeweils den irdischen Bereich nicht verläßt. Ebensowenig homogen sind die in den Werken zutage tretenden Bearbeitungstendenzen. Die vier Texte sind offenbar doch eher als zufällige Restmenge außerhalb der großen Gattungen übriggeblieben. Wenn Ottes ‚Eraclius‘ nach Feistners Darstellung gegenüber „Gautiers höfisch ambitioniertem und sowohl dynastisch als auch ideologisch anspielungsreichem ‚Eracle‘“ ein klares Eigenprofil als „ständisch verallgemeinerbares moralisch-religiöses Exempel aus der Geschichte“ gewonnen hat (f ‚Eracle‘/‚Eraclius‘), so läßt sich Gleiches für die ‚höfische Legende‘ ‚Gregorius‘ natürlich nicht behaupten, und bei ‚Mai und Beaflor‘ und der ‚Guten Frau‘ schlägt uns die undurchsichtige Quellenlage die entscheidenden Argumente ohnehin aus der Hand.

‚Grégoire‘/‚Gregorius‘

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2 ‚Grégoire‘/‚Gregorius‘ von Fritz Peter Knapp Abfassung und Überlieferung der Texte – Inhalt und Aufbau – Gattungsrahmen – Grundintention des französischen Textes – Umformung der Vorlage durch Hartmann von Aue – Hartmanns theologische Probleme

Abfassung und Überlieferung der Texte ‚La vie du pape saint Grégoire‘ (in den Handschriften, wenn überhaupt, meist kürzer ‚De saint Gregoire‘ oder ähnlich betitelt) ist in sechs Codices überliefert. Davon gehören je drei zwei Fassungen A und B an, die sich partienweise entweder wenig oder stark unterscheiden. Schon der Umfang differiert beträchtlich. Die größte Lücke weist ausgerechnet die älteste Hs. B1 der B-Fassung auf: Zwischen B1 2032 und B1 2067 fehlen rund 200 Verse, und zwar nicht bloß gegenüber A, sondern auch gegenüber B2 und B3. (Dafür kommen rund 30 Verse gegenüber B2 und B3 dazu: B1 2033–2066.) Doch auch die ‚vollständige‘ Fassung B ist noch ca. 200 Verse kürzer als A. Nach Mario Roques (1956) gehen die beiden Fassungen einfach auf zwei Subarchetypen  und  zurück, wobei allerdings B2 und B3 mit A kontaminierte Ableitungen aus  seien. Den Subarchetypen liege ein ‚Ur-Grégoire‘ x, eine archaische zum Gesang bestimmte strophische Chanson de saint aus dem früheren 11. Jh., zugrunde. Dem stimmt Herlem-Prey (1979) grundsätzlich zu, beharrt aber nicht auf der Kontaminationshypothese, sondern leitet das Gemeinsame von A und B2 und B3 aus x her. So oder so bleiben Zweifel. Viele Abweichungen gehen doch beträchtlich über Schreibereingriffe hinaus und machen mündliche Überlieferung wahrscheinlich. Obwohl wichtige Abschnitte der Handlung des ‚Grégoire‘ im okzitanischen Süden Frankreichs, in Aquitanien, spielen, ist ein okzitanischer Ursprung der Dichtung ebenso ungesichert wie die meist angenommene Herkunft aus dem französischen Nordosten. Die älteste Handschrift (B1) stammt vom Anfang des 13. Jahrhunderts aus England, und alle Hss. sind

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französisch. Für eine südliche Provenienz spräche freilich eine mögliche Abhängigkeit von der Judaslegende, welche ihrerseits auf eine (verlorene) okzitanische Urfassung zurückgehen könnte (Baum 1916). Diese kann kaum vor dem 11. Jh. entstanden sein, was dann dementsprechend für die Gregorlegende gelten müßte. Ulrich Mölk (1987; 1990), der Roques’ These ablehnt, meint sogar, eine eindeutige Abhängigkeit vom ‚Roman de Thèbes‘ (um 1150) erkennen zu können, woher die Ödipus-Motivik stammen könnte. Aber der ‚Grégoire‘ wirkt an sich doch etwas archaischer. Die Anonymität des Textes entspricht wohl der Gattungstradition der Legende. Kein extratextuelles Zeugnis besitzen wir über das soziale Milieu, dem der Text entstammt. Aber die Anrede seigneurs zu Anfang von Prolog und Epilog bezeugt wahrscheinlich ein adeliges Publikum als primär. Daß der Text etwas mit der berühmten Eleonore, Herzogin von Aquitanien (1137–1204), und ihrem Hof zu tun hat (Mertens 2004, S. 789), muß Spekulation bleiben, desgleichen die Ableitung der erschlossenen Urfassung x des 11. oder 12. Jh. aus einer verlorenen frühmittelalterlichen byzantinischen Gregorlegende. Die Existenz einer byzantinischen Version wird durch neuzeitliche Fassungen der Legende aus dem südslawischen Raum und dem Vorderen Orient nahegelegt. Sie könnte aber durchaus jünger sein und ihrerseits schon auf eine westliche Fassung zurückgehen (Mölk 1990). Der deutsche ‚Gregorius‘ hat einen namhaften Verfasser, Hartmann von Aue (fl. ca. 1180 bis ca. 1200). Er dürfte dessen zweites episches Werk nach dem ‚Erec‘ gewesen und wohl gegen 1190 geschrieben worden sein. Überliefert ist er ebenfalls in zwei Fassungen, wovon aber nur die eine von Hartmann stammen dürfte, die andere erst von Schreibern, welche Hartmanns Prolog weggelassen haben. Erhalten sind 12 Textzeugen, davon fünf mehr oder weniger vollständige, die älteste aus dem 2. Viertel des 13. Jh. (ostoberdeutsch). Schon zwischen 1210 und 1213 ist der Text auf Latein von Arnold von Lübeck bearbeitet worden, im 14. Jh. dann in deutscher Prosa für die Legendensammlung ‚Der Heiligen Leben‘. Wie Hartmann, der gewiß sein gesamtes Werk und so auch seinen ‚Gregorius‘ (HG) für die höfische Gesellschaft bestimmt hat, an seine Quelle gelangt sein könnte (etwa durch verwandtschaftliche Beziehungen seiner vermuteten Gönner, der Zähringer?), wissen wir nicht. Die ihm vorliegende Hs. hat sich nicht erhalten. Sie war gemäß der aufwendigen, methodisch aber nicht unangreifbaren quellenkritischen Untersuchung von Brigitte Herlem-Prey (1979) ein Manuskript von x. Das würde immerhin erklären, warum der ‚Gregorius‘ in der Regel der Fassung B näher als der Fassung A steht, an vielen Stellen aber doch wiederum A zu folgen scheint. Aber es bleiben

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viele Fragen offen. Mitunter kann sogar die mittelenglische Fassung einen Fingerzeig auf Hartmanns unmittelbare Vorlage (HG*) geben.

Inhalt und Aufbau Die dem deutschen Text, Hartmanns ‚Gregorius‘ (HG), und seiner Vorlage, der ‚Vie de saint Grégoire‘ (VG), gemeinsame Handlung ist die folgende: In Aquitanien wachsen die Eltern des Helden auf. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben und einige (HG: zehn) Jahre danach folgt ihr der Vater, der Landesherr, ins Grab, der die Tochter vor seinem Tode in die Obhut ihres Bruders gibt. Dieser umsorgt und ehrt sie pflichtgemäß, bis der Teufel ihm sinnliches Begehren einflößt. Aus Angst vor der öffentlichen Schande duldet die Schwester, obwohl sie um die Sündhaftigkeit ihres Tuns weiß, den Inzest. Als sie schwanger wird, vertrauen sie sich einem Vasallen an. Dieser schickt den Bruder auf Pilgerfahrt nach Jerusalem, die Schwester auf seine Burg zu seiner Frau, wo sie heimlich niederkommt. Der Bruder läßt die Vasallen zuvor seiner Schwester den Lehenseid schwören und bricht auf, stirbt aber auf der Fahrt an einer Krankheit (HG: der Minnekrankheit). Die Schwester läßt inzwischen das neugeborene Knäblein, versehen mit kostbaren Stoffen, Geld und einer Tafel, auf der seine sündhafte Abkunft und sein adeliger Stand vermerkt und Anweisungen für seine Erziehung und sein Leben gegeben werden, in einem Fäßchen in einem Boot auf dem Meer aussetzen. Als der Tod ihres Bruders bekannt wird, muß sie trotz ihres Schmerzes die Regierung übernehmen, weigert sich aber, einen Gatten aus den zahlreichen Bewerbern zu wählen, sondern widmet sich dem Gottesdienst und der Buße. Ein römischer Herzog versucht daher mit Waffengewalt, ihr Jawort zu erzwingen. Währenddessen ist das Boot mit dem Fäßchen jenseits des Meeres vom Wind zur Küste getrieben und von Fischern an Land gezogen worden. Sie treffen auf den Abt des Klosters, für das sie Fische fangen sollten. Er bemerkt das Kind, da es schreit, übergibt es einem der Fischer zur Erziehung, tauft es auf seinen eigenen Namen, Gregor, und nimmt es schließlich ins Kloster zum Unterricht auf. Der Knabe lernt unglaublich schnell und entwickelt sich überhaupt seiner Herkunft gemäß aufs beste und edelste. Als er aber erfährt, daß er ein Findelkind ist, will er diese Schande in der Fremde verbergen und bittet den Abt, ihn als Ritter auszustatten. Weder die Aussicht auf die Nachfolge des Abts noch auf eine reiche, vornehme Heirat kann ihn davon abbringen. Als ihm die Schrift auf der Tafel vom Abt bekanntgemacht wird, will er erst recht in die Ferne ziehen und seine Abstammung ausfindig machen. Der Wind treibt sein Schiff über das Meer an die Küste des Landes seiner Mutter. Sie und ihr Sohn erkennen einander nicht. Er tritt in ihre Dienste, zeichnet sich im Kampf aus, besiegt den Herzog und setzt ihn gefangen. Nun kann sich wieder der Teufel einmischen. Alle Vornehmen des Landes raten der Landesherrin, den Befreier zum Mann zu nehmen, und sie willigt ein. (HG: Nur die Heirat an sich wird angeraten. Sie wählt den Gatten selbst.) Gregor übernimmt die Herrschaft, bleibt aber betrübt über seine unbekannte sündhafte Abkunft, versteckt die Tafel und betrachtet sie täglich heimlich mit Tränen und Scham. Von einer Kammerzofe erfährt die Herrin davon, entdeckt die Tafel und ihren neuerlichen Inzest. Nachdem sie

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sich im Gespräch mit ihrem Sohn Gewißheit verschafft hat, fällt sie in Verzweiflung. Gregor aber tröstet sie, rät ihr, das Leben einer Büßerin und Wohltäterin zu führen, und entschließt sich selbst zu einer noch weit schwereren Sühne. Er wandert im Büßergewand zur Küste und erfährt von einem Fischer, bei dem er einkehrt, daß es dort eine vorgelagerte kleine unbewohnte Felseninsel gibt. Diese wählt er für sein Büßerleben und läßt sich von dem Fischer hinüberrudern und die Füße mit Eisenketten fesseln, deren Schlüssel der Fischer ins Meer wirft. Hier verbringt Gregor siebzehn Jahre im Gebet und nährt sich nur vom Wasser, das sich in einer Steinmulde sammelt, zuletzt ganz abgemagert und nackt, da die Kleider verschlissen von ihm abgefallen sind. Inzwischen ist der Papst in Rom gestorben. Gott selbst lenkt die Wahl der Nachfolge auf dem Stuhl Petri (in VG und HG etwas unterschiedlich), verweist auf den Büßer auf jener Felseninsel und führt die Abgesandten zu dem Fischer, der ihnen einen großen Fisch vorsetzt. Darin findet sich der von dem Fisch einst verschluckte Schlüssel. Als der Fischer von der Suche der Männer erfährt, berichtet er ihnen von dem Büßer und bringt sie zur Insel. Gregor kann seine Erwählung nicht glauben und ändert seine Meinung erst, als er von der göttlichen Botschaft und dem Schlüsselfund erfährt und auch seine Tafel, die er einst beim Fischer vergessen hat, wieder gefunden wird. Er wird nach Rom gebracht. Beim Einzug werden Kranke geheilt und alle Glocken läuten von selbst. Ihm wird ein begeisterter Empfang zuteil, und er regiert in Demut und Weisheit. Um Absolution zu erhalten, kommt auch seine Mutter zum Papst nach Rom. An dem Inhalt ihrer Beichte erkennt Gregor sie und verkündet ihr, daß Gott ihnen beiden vergeben hat. Sie beendet ihr frommes Leben in Rom (VG: in einem Frauenkloster). So erwerben Mutter und Sohn das Himmelreich.

Außer den angemerkten gibt es noch andere Abweichungen im erzählten Geschehen. Hartmann hat die Geschichte um mehr als 1000 Verse verlängert, und zwar hauptsächlich durch Milieuschilderungen. Hof, Kloster und Fischerhaus treten plastischer hervor. Doch damit zielt er eher auf atmosphärische Wirkung. Der Hauptunterschied liegt in den moraltheologischen Erzählerkommentaren, die aber natürlich bis zu einem nicht geringen Grade von der weithin identischen sinnträchtigen Handlung gesteuert werden. Gattungsrahmen Nach den zahlreichen Selbstzeugnissen und Quellenberufungen zu schließen, beanspruchten die Heiligenviten in aller Regel, historia zu sein (Schmale 1985, S. 127ff. u. 189). Die darin explizit oder implizit behauptete Wahrheit ist somit, ungeachtet jeder zusätzlichen exemplarischen oder gar allegorischen ‚tieferen‘ Sinnebene des Textes, zuerst einmal eine Wahrheit historischer Faktizität. Dementsprechend heftig waren seit der Väterzeit die Diskussionen um apokryphe, nicht ausreichend bezeugte Legenden. Wo ernste Zweifel bestanden, wurden fiktive Stücke nicht in die Legen-

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densammlungen aufgenommen oder zumindest nur mit entsprechenden Kautelen. Wie die außerkanonischen biblischen Schriften durften sie eine gewisse religiöse Neugierde befriedigen, aber nicht als absolut glaubwürdig oder gar als liturgische Pflichtlektüre ausgegeben werden. Mit entsprechenden Fragezeichen versieht Jacobus de Voragine die Judaslegende (‚Legenda Aurea‘ LVI,12). Die Vita Gregors nimmt er überhaupt nicht auf. Der Autor der frz. Gregorlegende hatte versucht, seinen Heiligen historisch zu legitimieren: Dieser Papst sei ein Gelehrter der Heiligen Schrift und einer von den Erfindern des Gesanges gewesen und nach seinem Tode als heiliger Bekenner (confessor) in den Himmel aufgenommen worden. Es habe mehrere heilige Päpste mit Namen Gregor gegeben, darunter als heiligsten aber diesen großen von Gott begnadeten Sünder Gregor, in dessen Namen daher alle Sünder Gott um Vergebung bitten sollen (VG, A1, V. 2701–2740). In der B-Fassung wird immerhin eingeräumt, es handle sich nicht um den Erfinder des gregorianischen Kirchengesanges, sondern um einen der übrigen drei heiligen Päpste mit Namen Gregor. Neben Gregor I. dem Großen gab es tatsächlich noch zwei, deren Lebenszeugnisse aber alle nichts mit VG Vergleichbares enthalten. Zur Ehre, in Legendare aufgenommen zu werden, hat es die GregorVita trotz allem Fleiße seiner ersten Propagandisten erst im Spätmittelalter gebracht, in Frankreich in die großteils von der ‚Legenda Aurea‘ abhängige Legendensammlung von 1399 in der Florentinischen Handschrift Ms. med.-pal. 1412, in Deutschland in ‚Der Heiligen Leben‘ von Ende des 14. Jahrhunderts aus Nürnberg. Aber auch deren Redaktoren sind äußerst vorsichtig. Im Florentinischen Codex wird Gregor nur in der Überschrift ein Heiliger genannt. Jede historische Bestimmung fehlt, desgleichen jede Aussage über seine Anrufung oder Verehrung. Auch in ‚Der Heiligen Leben‘ spricht nur der Titel Von Sant Gregorius auff dem Stain. Im übrigen liegt einfach eine stark verkürzende Prosaauflösung des Hartmannschen Werkes vor, der jedoch sowohl Prolog als auch Epilog und somit auch die Fürsprecherfunktion des Heiligen fehlen. Hartmann hat sie am Schluß zumindest angedeutet, wenn er die Hörer/Leser auffordert, diesen guten Sünder als Boten in der Beschwernis auszusenden, um selbst zum ewigen Heil zu gelangen (HG, V. 4000–4006). Als solcher Bote bei Gott taugt selbstverständlich nach katholischer Lehre nur ein Heiliger. Schon der Kirchenmann Arnold von Lübeck, der nach 1209, also in kurzem zeitlichem Abstand zum Original, Hartmanns Legende ins Lateinische überträgt, hat den Satz weggelassen. Er hält die Geschichte zwar für historisch, spricht aber nirgends von einem Heiligen, sondern nur von Gregorius peccator.

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Es erscheint nicht unmöglich, daß eine verlorene (okzitanische?) Vorform der frz. Gregorlegende noch von einem namenlosen Papst sprach, so wie auch sämtliche andere Protagonisten des Stückes in VG und HG namenlos sind. Hartmann hat den Namen des Helden in Prolog und Epilog ausgespart und dem Werk eindeutig selbst den Titel von dem guoten sündære gegeben (HG 176), entsprechend der Ankündigung VG, B1 1f.: oez, seigneurs, por Deu amur, / La vie d’un bon pecheur. Das reflektiert eine gewisse Unsicherheit in der Gattungswahl. In der definitionsgemäß fiktiven Parabel trägt der Held in aller Regel keinen, jedenfalls keinen auch nur ansatzweise historisch einzuordnenden Namen. In der Legende kam es dagegen gerade auf die namentliche Prominenz an. Die erhaltenen Gregorviten haben sie mehr oder minder behauptet. Die Kirche blieb freilich mit Recht skeptisch (Knapp 2003). Grundintention des französischen Textes Die Romanistik hat sich zwar immer wieder um den Text der ‚Vie du saint pape Grégoire‘, herzlich wenig aber um ihre Interpretation bemüht. Nicht fehlen konnte sie natürlich in Jean Charles Payens Studie über das Reuemotiv in der mittelalterlichen frz. Literatur. Hier erscheint sie als „un long exemplum illustrant de manière démesurée le sermon en vers qui en constitue le prologue“ (Payen 1968, S. 106f.), einen Prolog, welcher die mögliche Vergebung aller Sünden verheißt, was dann in der Erzählung wiederum eingeschränkt wird. Aber viel mehr erfahren wir bei Payen nicht. Viel weiter führt die kleine Studie des frz. Germanisten Daniel Rocher (1988), der den theologischen Angelpunkt des Sinngehaltes im Erzählerkommentar zur Zeugung Gregors sieht. Es heißt hier, der Teufel habe sich über die erfolgreiche Verführung der Geschwister zum Inzest gefreut, sei aber in Wahrheit übel betrogen worden (B1 180 enginné ~ B1 192 ~ A1 222), da in derselben Nacht Gregor gezeugt wurde, der durch seine Buße sich und die Eltern wieder gereinigt habe. Der Teufel habe von dieser heiligsten Zeugung (B1 186 De cel saintisme engendrement = A1 216) nichts gewußt. Ob da auf die heilsgeschichtliche felix culpa, ein umstrittenes Theologumenon (ohne die Erbschuld keine Menschwerdung Gottes) angespielt wird, mag dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall steckt aber darin die christliche Überzeugung, daß das personifizierte Böse letztlich auch der göttlichen Allmacht unterworfen ist. Zugleich liegt großes Gewicht auf der göttlichen Providenz. Daß der Mensch aktiv mitwirken muß, um der göttlichen Gnade würdig zu sein, wird gleichwohl durch den herausgestellten Bußgedanken

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deutlich. Die Buße so exorbitant zu erfüllen, daß sie auch andere der Verdammnis entreißen kann, vermag freilich nur der von Gott erwählte Heilige. Wie göttliche Gnade und menschlicher Wille ineinandergreifen, kommt in Gregors Gebeten nach der Entdeckung seines Inzests zum Ausdruck (Rocher 1988, S. 60f.). Er prophezeit dem Teufel eine Niederlage durch seine harte Buße, die er, Gregor, mit Gottes Hilfe (B1 1523, 1530; A1 1918) üben will, und dankt Gott, weil dieser ihm seine Todsünde aufgedeckt hat, mit welcher ihn der Teufel ohne sein Wissen in die Verdammnis führen wollte (B1 1533–38 ~ B1 1569–74 ~ A1 1953–56). Wenn Rocher am Ende von einer „Manipulation des Teufels durch Gott“ und einem „hintergründigen ‚heilsamen‘ Humor Gottes in seinem Spiel mit dem Teufel“ spricht (Rocher 1988, S. 65), drängt er allerdings den Bußgedanken wohl zu stark in den Hintergrund, ja erweckt tatsächlich den Eindruck, daß „die Menschen kaum mehr als einen Objektstatus haben“ (Kasten 1993). Ein solcher Eindruck würde aber dem frz. Text schwerlich ganz gerecht – noch weniger freilich ein diesem unterstelltes „manichäistisches Weltbild“ (Herlem-Prey 1989, S. 21). Keinerlei Referenz auf frühere Interpretationen enthält die ausführliche und gewichtige Studie von Anita Guerreau-Jalabert (1988). Sie tritt vehement für eine klerikale Herkunft ein. Ihrer streng strukturalistischen Lektüre stellt sich der Text als dialektische Gegenüberstellung der laienaristokratischen Welt des Hofes in Aquitanien (Raum I) mit der klerikalreligiösen Welt zuerst des Inselklosters (Raum II) und dann – nach der Rückkehr in jene laikale Welt (Raum I) – der Inseleremitage im Meer (Raum III) dar, eine Opposition von These und Antithese, die dann in der Synthese der sowohl weltlichen als auch klerikal-religiösen Macht des römischen Papsttums aufgehoben wird. Die Kirche habe diese so strukturierte Erzählung dazu benützen wollen, um der Laienaristokratie die verheerenden Folgen einer nicht von kirchlichen Vorgaben geleiteten Lebensund Verhaltensweise am Beispiel der Mißachtung der klerikalen Vorschriften der Eheschließung vor Augen zu führen. Aus Guerreau-Jalaberts Sicht kommt der zweite Inzest nur zustande, weil die Landesherrin den Freier von außen ablehnt und einen im Lande ganz Unbekannten von unbekannter Herkunft auf Anraten der weltlichen Barone ohne Beteiligung kirchlicher Amtsträger und ohne kirchliche Riten heiratet. Als politische Katastrophe resultieren daraus das Ende der Dynastie und die Herrenlosigkeit des Landes. Voraussetzung für den Inzest war andererseits aber auch Gregors Zurückweisung der Laufbahn als Mönch und Abt, also einer spirituellen Verwandtschaft, die in den Augen der Kirche ohnehin jeder profanen ethisch überlegen gewesen wäre. Schließlich aber bricht der Büßer

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doch alle Brücken zur irdischen Welt und Verwandtschaft ab und vereinigt sich auf mystische Weise allein mit Gott, wofür dieser ihm als Papst die väterliche Leitung der Christenheit auf Erden überträgt. Guerreau-Jalabert treibt die Aufstellung von Oppositionen sogar so weit, daß sie der Kirche unterstellt, sie habe das Zölibat nicht nur als geistliche Verwandtschaft mit Gott und der Kirche, sondern geradezu als spirituellen Inzest angesehen, der eben im Gegensatz zum biologischen Inzest nicht nur erlaubt, sondern sogar erstrebenswert gewesen sei. Die Gregor-Vita wird so zum Dokument des Machtanspruchs der Kirche, welche, selbst organisiert nach dem Prinzip der spirituellen Verwandtschaft, die völlige Kontrolle über die nach dem Prinzip der biologischen Verwandtschaft organisierte laikale Herrenschicht und damit letztlich über die gesamte Gesellschaft ausüben will und soll. Wo diese Kontrolle fehlt, dort agiert nach Ausweis dieses Textes der Teufel und stürzt alle Akteure ins Verderben. Diese Interpretation fasziniert durch ihre fast mathematische Klarheit und Einfachheit. Sie scheint gleichwohl beträchtlich überzogen. Dagegen sprechen – nach Knapp (2003) – (1) die mehr als deutlichen Erzählerbemerkungen, die als wesentliches geistliches Thema der Legende die Alternative von Verzweiflung und Buße nennen, (2) die extratextuelle historische Tatsache, daß sich die strengen kirchlichen Ehevorschriften mit der Forderung nach Ausschluß der Verwandtschaft bis ins siebente Glied, nach einem öffentlichen Aufgebot und nach einer priesterlichen Einsegnung erst im Laufe der Kodifizierung des kanonischen Rechts im 12. Jahrhundert allmählich herausbilden und erst peu à peu an die Laien herangetragen werden (Schröter 1985), vor allem aber (3) der Vitentext selbst, der diese Forderungen als solche nirgends formuliert. Dafür, daß die Landesherrin für die Heirat den Rat anderer einholt, wird sie vom Erzähler ausdrücklich als klug (sage A1 1608; afaitee B1 1259) gelobt. Daß sich in den Rat dann der Teufel einschleicht (A1 1613f.; B1 1267f.), kann sowohl als Beschuldigung wie als Entschuldigung der Ratgeber gelesen werden. Die Symbolstruktur eines Textes ist stets nur e i n e Ebene der Sinnvermittlung, noch dazu eine nicht von vornherein eindeutige. Wenn der Deutung der Symbolstruktur auf der Diskursebene nur das Schweigen des Erzählers gegenübersteht, ist Vorsicht angebracht, insbesondere wenn solche Hypothesen wie die vom spirituellen Inzest ohne jeden historischen Beleg in den Raum gestellt werden. Wenn Guerreau-Jalabert (1988) im Kern recht hätte, so müßte der Autor der französischen Gregor-Vita in ihrer ursprünglichen Fassung den gelehrten Kanonisten zumindest nahegestanden haben. Das müßte sich dann aber doch in den direkt ausgesprochenen theologischen Sentenzen

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deutlich spiegeln. Nun erwartet nach dem Inzest die Mutter mit Recht von ihrem Sohn, der in der Klosterschule unterrichtet wurde, beste Belehrung. Dieser gelehrte Theologe, der zum Heiligen und Papst aufsteigen wird, behauptet dann jedoch, daß für ihren Inzest, hätten sie wissentlich (a escient ) gehandelt, niemand in irgendwelchen Schriften eine ausreichende Buße finden könnte (B1 1559–66), die unwissentlich (nunsachant ) begangene Sünde jedoch abgewaschen werden könne. Nun kennt zwar die frühmittelalterliche Bußtheologie durchaus strenge Bußvorschriften auch für unwissentlich begangene Sünden, jedoch nur eine einzige Kategorie von Sünden, die – zumindest nach Ansicht einiger Theologen – nicht gebüßt werden können: die Sünden wider den Heiligen Geist, welche aufgrund ihrer Natur von sich aus die Buße verhindern. Bußvorschriften auch für unwissentlich begangene Sünde halten sich im Mittelalter sehr zäh. Moraltheologie und Kanonistik entdecken gleichwohl im 12. Jahrhundert die Gesinnungsethik (wieder), so daß zumindest die unbehebbare, nicht leichtfertig riskierte ignorantia im allgemeinen als Entschuldigungsgrund voll anerkannt wird (vgl. zuletzt Seelbach 2004). Wäre es, wenn GuerreauJalabert recht hätte, schon seltsam, daß unser Legendenautor davon nichts zu wissen scheint, so wäre es wohl nachgerade undenkbar, daß er seinem gelehrten Helden eine sogar noch rigoristischere, ja geradezu heterodoxe Sündenauffassung unterstellt. Hier ist offenbar kein schriftgelehrter, dialektisch geschulter Autor am Werk. Er wählt vielmehr ganz ‚naiv‘ ein Schuldmotiv, bei dem es sich offenbar vor einem laikalen Publikum erübrigte, irgendwelche gelehrten Vorschriften zu bemühen, um besonderen Abscheu zu erregen. Eine Sühne für einen derartigen Tabubruch, würde er wissentlich begangen, scheint vielmehr unvorstellbar. Für den unwissentlichen Inzest nimmt der Sünder jedoch eine Sühne auf sich, die neuerlich theologisch äußerst bedenklich erscheint. Denn die selbst initiierte Aussetzung und Ankettung auf dem Felsen in Meer läßt nur zwei logische Deutungen zu: Entweder Gregor liefert sich dem Hungertod aus, begeht also Selbstmord, oder er provoziert ein Wunder Gottes zur Erhaltung seines Lebens. Das ist aber beides eine Todsünde. Denn es steht geschrieben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen“ (Mt 4,7 nach Dt 6,16). Da er aber nach seiner Rettung keine der beiden Sünden bekennt und/oder büßt, sondern schlichtweg zum Heiligen erklärt wird, liegen solche moraltheologischen ‚Quisquilien‘ offenkundig außerhalb des Gesichtskreises dieses Autors. Dieser packt den Zuhörer mittels des Unerhörten, Unfaßbaren: Aus einem Inzest geboren, ausgesetzt, gerettet, klerikal aufgewachsen, steigt der Held zum weltlichen Herrscher auf, fällt aber zugleich in unvorstellbare Schuld, nimmt unvorstellbare Buße auf sich und

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wird zum Papst und Heiligen erwählt. Erzählbar ist diese Geschichte im Grunde nur, wenn man bestimmte erzähllogische und theologische Fragen gerade n i ch t stellt (Knapp 2003, S. 114). Ulrich Mölk (1990, Sp. 127f.), der allerdings die Brisanz der Schuldfrage verkennt, hat mit Recht, eine ältere Anregung aufgreifend (Dorn 1967, S. 82), eine Abhängigkeit dieser Bußform von der Veroneser MetroLegende aus dem 9. Jh. angenommen (Mölk 1987). Aber erst die GregorLegende hat die Buße ins Selbstmörderische (zum Selbstmord allgemein vgl. Knapp 1979) gesteigert. Metro kettet sich nach Aufdeckung seiner (wahrscheinlich) unwissentlich begangenen Sünde an einen Stein vor der Basilika der Stadt Verona, wirft den Schlüssel in die Etsch und bricht die Buße nach sieben Jahren ab, da der Schlüssel im Magen eines Fisches gefunden wird. Von völlig fehlender Nahrung ist jedoch bei Metro ebensowenig die Rede wie bei all den berühmten Askeseheiligen der Legendentradition. Auch die Bußzeit ist erst bei Gregor derartig exorbitant. Das Inzesttabu kann natürlich nur von der historischen Kulturanthropologie richtig eingeschätzt werden. Was ursprünglich vermutlich v.a. der Festigung der Kernfamilie und Verflechtung der Sippen diente (s.u.a. den knappen Forschungsbericht von Siebert 1996, S. 30–45; Eming 2002), wurde als Sittengesetz internalisiert, und zwar in vielen Kulturen der Erde, so in der heidnischen Antike wie im alten Judentum, das es dem Christentum vererbte. Wenn die Gregorlegende auf der Judaslegende aufbaut, so diese gewiß ihrerseits auf dem Ödipusmythos. Ob auf diesen Mythos auch VG oder HG nochmals direkt zurückgegriffen haben, läßt sich nicht sagen. Umformung der Vorlage durch Hartmann von Aue Harald Haferland schreibt zu seiner narratologischen Analyse des ‚Gregorius‘ (Haferland 2005, S. 357): Hartmann von Aue ist hier kaum mehr als ein getreuer Vermittler seiner französischen Vorlage, und wenn ich ihn im folgenden zitiere, so deshalb, weil er den ‚Geist der Erzählung‘ [ein berühmter Ausdruck aus Thomas Manns Neugestaltung der Legende] adäquat zu interpretieren versucht.

Dies so einfach ohne weitere Argumente zu dekretieren ist nicht unbedenklich. Noch viel weniger zu rechtfertigen sind aber umgekehrt Interpretationen, welche auf die Vorlage kaum oder gar keine Rücksicht nehmen. So sind aber die allermeisten Germanisten außerhalb Frankreichs

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verfahren. Sehr viele finden es nicht einmal der Rede wert, daß Hartmann hier eine französische Quelle benützt hat, so etwa noch in neuester Zeit Hartmut Freytag (2004). Dabei stammt der erste Vergleich mit der Quelle schon aus der Frühzeit der Hartmann-Forschung (Lippold 1869). Noch genauer (unter Einbeziehung der mittelenglischen Bearbeitung) fällt er bei dem Anglisten Eugen Kölbing (1876, S. 42–79) aus (Ergänzungen und Korrekturen bei Sparnaay 1933/38, Bd. I, S. 139–146). Für die frz. Forschung war er natürlich stets ein Thema (Piquet 1898; Herlem-Prey 1979 u. 1989; Rocher 1988 u.a.). In Deutschland griffen es dagegen nur wenige (wie Schottmann 1965 oder Kasten 1993) intensiver auf. Auch das Erscheinen der verdienstvollen zweisprachigen Ausgabe der VG von Ingrid Kasten (1991) hat da keine Wende gebracht. In der Regel bleibt es bei gelegentlichen Hinweisen, die oft reinen Alibicharakter haben. Angesichts der (oben skizzierten) inhaltlichen Gemeinsamkeiten von VG und HG mutet das geradezu absurd an. Hartmann wollte offenbar gar nichts Neues, sondern dasselbe nur neu und anders erzählen. Das Verhältnis des deutschen zum französischen Text erklärt sich keineswegs allein aus dem Unterschied zweier individueller Erzähltemperamente, sondern schon aus einem typologischen Unterschied. VG steht – mag es nun auf eine Chanson de saint zurückgehen oder nicht – erzähltechnisch der Chanson de geste weit näher als dem Roman courtois. Es wird schub- oder stoßweise, repetierend-variierend, exklamativ und hyperbolisch erzählt. Der Roman sucht dagegen die gedanklichen Verknüpfungen, formt möglichst einheitliche, in sich stimmige Szenen, dämpft grelle Affekte. So auch Hartmann, der zudem noch lehrhafte Ziele zur sozialethischen Erziehung der laienadeligen Hörerschaft verfolgt. Das tat er auch schon im ‚Erec‘, wenngleich mit profan-weltlicher Ausrichtung. Wieweit er sich dadurch von Chrétiens ‚Erec et Enide‘ unterschied, ist umstritten. In der Erzähltechnik hat Hartmann sich jedoch in jedem Falle durchaus von Chrétien inspirieren lassen, so daß er im ‚Gregorius‘ weit eher einen ‚innerfranzösischen‘ Gattungstransfer nachvollzieht, als eine Übertragung ins deutsche Kulturmilieu vornimmt. Ob dieses überhaupt irgendwo in HG eindeutig durchscheint, bleibt ungewiß, wenn man die folgenden Differenzen zu VG durchmustert. In der Eröffnungsszene zeigt Hartmann die gleichmäßige Sorge des sterbenden Vaters für seine beiden, nun bald verwaisten Kinder, erhöht die Bedeutung der Vasallen, weitet die Unterweisungen an den Sohn zu einem kleinen Fürstenspiegel aus. Im Gespräch mit dem Abt auf der Insel wird dann der inzwischen geschulte frühreife Gregorius gleich von Anfang an höflich parlieren, statt sich wie in VG dem Abt zuerst einmal ver-

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zweifelt zu Füßen zu werfen (B1 815 = A1 1027). Nachdem er den Grund dafür angegeben hat, geht der Abt hier sogleich ins Haus des Fischers, um die Indiskretion scharf zu rügen – eine ‚unorganische‘ Unterbrechung des Gesprächs, welche in HG fehlt (allerdings auch in der mittelenglischen Fassung, daher vielleicht auch schon in HG*). Gregors Rolle, in VG allein durch hartnäckiges Beharren auf dem nicht explizit begründeten plötzlichen Entschluß zum Ritterleben bestimmt, entwickelt sich in HG zu einem echten rationalen Widerpart. Das Argumentieren bleibt nicht dem Abt vorbehalten. Die beiden Lebensarten, die geistliche und die ritterliche, erscheinen so als gleichermaßen legitim, aber nicht für jedes Individuum zu jeder Zeit gleichermaßen passend. Das kann wiederum besser zur Lebensorientierung des Publikums dienen. Doch Gregors Argumente für das Rittertum (die in VG fehlen) erklären sich natürlich nicht aus dem schulischen Lernerfolg des Knaben, denn sie gehören nicht zu den Ausbildungsgegenständen der Klosterschule. Hier gerät der dt. Erzähler in Erklärungsnot wie bei anderen erzähllogischen Ergänzungen (s.u.). Gregor erklärt, er habe, so sehr man ihn ze den buochen twanc (HG 1583), von Kindesbeinen an die Ritterschaft im Herzen getragen und in Gedanken geübt (HG 1563–1624). Das begreift nicht nur der Abt nicht, sondern es mußte jedem Krieger im Publikum als extrem irreal erscheinen. Selbst Parzivals wundersam rascher Weg zur Ritterschaft verläuft über eine kurze konkrete Ausbildungsstufe. Woher Gregor das Wissen haben und wie er Leibestraining erfolgreich nur im Kopf betreiben kann, erfährt man nicht. Woher die plötzliche Lust, Ritter zu werden (B1 895 = A1 1133), kommt, läßt sich leicht ahnen, nämlich vom Teufel, der Gregor auch ins Land seiner Mutter zurückführt (B1 1037–46 ~ A1 1235–40, fehlt in HG). Für Hartmann mag die tatsächliche, aber Gregor nicht bewußte adelige Abstammung für den inneren ritterlichen Drang ausgereicht haben. Wenn Gregor dann am Episodenende durch die gegenüber der Quelle kunstvoll hinausgezögerte Übergabe der Tafel sogar noch die Aussicht erhält, daß er diese Abstammung in Erfahrung bringen könnte, gibt das den letzten Ausschlag zugunsten der Ausfahrt. Daß Standesunterschiede und Standesehre für Hartmann eine größere Rolle spielen, zeigt auch die Fischerszene. Der rîche Gregor steht dem ungebornen Fischer (HG 2829) gegenüber, doch es ist nun der rîche dürftige (HG 2751), der nur noch Demut und keine weltliche êre mehr kennt, was die Fallhöhe beträchtlich steigert und die Disposition zur Heiligkeit betont. Über das adelige Aussehen und Gebaren des angeblichen Fischersohnes hatten sich seinerzeit die Leute auf der Insel nicht genug verwundern können (HG = VG). Dadurch offenbart sich sogleich die unwissentliche An-

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maßung der Pflegemutter, die von dem Findelkind Knechtsdienste erwartet. Sie ist wütend, weil dieser Niemand es gewagt hat, ihr eigenes Kind zu schlagen. Deshalb und zur Steigerung der Betroffenheit Gregors hat Hartmann vielleicht die Frau des armen Fischers zur Pflegemutter gemacht. In VG (B1 708–737 ~ A1 889–920) war es noch die Frau des reichen Fischers. Die beiden Fischer sind in VG und HG Brüder. Der Abt verpflichtet in VG den armen durch Geld zum Schweigen und übergibt das Findelkind dem reichen, damit er es als Kind seiner weit entfernt lebenden Tochter ausgeben und aufziehen möge. In HG tritt der arme Fischer an die Stelle des reichen; die vorgeschobene in der Ferne lebende leibliche Mutter bleibt dieselbe. So kommt Gregor dann mit den Kindern seiner Pflegemutter in Konflikt, in VG mit deren Neffen. Völlig auszuschließen ist es freilich nicht, daß Hartmanns wohl stärkster Eingriff in die äußere Handlung auf ein bloßes Mißverständnis der Quelle zurückgeht. Hier heißt es, der Abt habe das Knäblein „dem reichen Bruder“ (B1 717 = A1 888 al frere manant ) übergeben. manant kann allerdings auch „(zurück)bleibend“ heißen und ist in drei Hss. sogar durch maintenant ersetzt worden. Dann war nur aus dem Zusammenhang zu erschließen, daß es sich um den reichen Bruder handelt. Zu spekulativ wäre es dagegen, eine Verstümmelung der Vorlage für die Änderung der Haltung der Mutter Gregors zur Aussetzung ihres Kindes in HG verantwortlich zu machen (Kölbing 1876, S. 50). In VG warnt einerseits die Schwester den verzweifelten Bruder davor, dem gemeinsamen Kind etwas zuleide zu tun, andererseits tritt sie nach der Geburt in den Hungerstreik, um die Aussetzung zu erzwingen. Doch das entspricht einfach dem doppelten Wunsch, das Leben des Kindes zu erhalten und gleichzeitig doch der eigenen sozialen Vernichtung zu entgehen (A1 263f.) – ein emotionaler Widerspruch, der nur einem nachrechnenden Verstand unauflösbar erscheint. Sollen wir Hartmann diese Denkweise zumuten? Hat er hier dämpfend und verschleiernd eingegriffen, „um die Widersprüche in der Frau nicht zu deutlich werden zu lassen“ (Schottmann 1965, S. 97) oder um „die Mutter in dieser Szene möglichst frei von Makel erscheinen zu lassen“ (Kasten 1993, S. 412)? Eine Tendenz zur Entschuldigung der Mutter läßt sich allerdings sonst nicht feststellen. Wo Kasten eine solche Möglichkeit noch erwägt, bei der Entscheidung zur Ehe mit dem unbekannten Sohn, muß sie selbst zugeben, daß hier „die Handlung ironisch gebrochen wird“ (Kasten 1993, S. 415). In VG suchen die Ratgeber den Gatten für die Landesherrin aus, und sie fügt sich. In HG raten sie nur eindringlich zur Heirat, überlassen ihr aber die Gattenwahl. Sie glaubt trotz ihres früheren Entschlusses zur Ehelosigkeit, jetzt im Sinne Gottes

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zu handeln – und wählt den Sohn: da ergie des tiuvels wille an (HG 2246). Der Teufel ist auch schon am Werk, als die Mutter den Fremden zum ersten Mal sieht und Gefallen an ihm findet (HG 1960f.). In VG hat sich der Teufel dagegen in den Rat eingeschlichen (A1 1613f.; B1 1267f.). Weder auf die Ehe noch auf die Minne an sich fällt damit ein Schatten. Die Ehe wird vom Erzähler in HG als beste weltliche Lebensweise gepriesen (HG 2223–25). Selbst an der Innigkeit des erotischen Verhältnisses von Bruder und Schwester läßt Hartmann keinen Zweifel. Der Bruder stirbt sogar den Liebestod (HG 830–852). Aber in der Form des Inzests ist die Liebe natürlich trotzdem sündhaft. Die Schuld fällt auch nicht ausschließlich auf den Bruder, denn die Schwester entzieht sich ihm nach ihrer unfreiwilligen Defloration keineswegs. Der Teufel ist vielmehr weiter erfolgreich, wie es in VG und HG heißt: „Denn tagtäglich entzündet er (der Teufel) sie (beide) und gewöhnt sie mehr und mehr daran, an dieser Sünde festzuhalten“ (VG 187–189); „Die Lockspeise der Teufelsreizung reizte sie immer weiter, daß sie an den Sünden Gefallen fanden“ (HG 400–403). Ganz ähnliches beobachten wir auch im Vorfeld des zweiten Inzests. Die Hilfeleistung Gregors für die Landesherrin nimmt in HG viel stärker den Charakter eines Minnedienstes an. Der Einfluß eines höfischen literarischen Schemas macht sich hier bemerkbar. Die Wahrscheinlichkeit der Handlung steigert sich dadurch aber nicht. Die Landesherrin soll schœne junc (HG 1897) sein, hat aber schon einen mannbaren Sohn und einige Bußaskese hinter sich. Man darf hier wiederum nicht nachrechen. Selbst in dem berühmten exzeptionellen Verhältnis von Lancelot und Ginover im ‚Prosa-Lancelot‘ beträgt der Altersunterschied (höchstens) zehn Jahre. Auch die wohl real existente, literarisch jedenfalls vielerorts manifeste Schwärmerei so manches am fremden Hofe dienenden Knappen für die weit ältere Herrin des Hofes fällt als Assoziation eher aus. Ob die Geschichte die in der Forschung immer wieder in HG festgestellte Tendenz zur Verinnerlichung überhaupt so gut verträgt, scheint nicht selbstverständlich. Diese Tendenz verwirklicht sich auch in zahlreichen Erzählerkommentaren, die Hartmanns Erzählweise insgesamt (nicht nur in HG, sondern auch in seinen anderen epischen Werken) auszeichnen. „Diese wiederholten Einschübe nehmen dem Berichteten die Unmittelbarkeit, seine Wucht und Folgerichtigkeit. Es wirkt gebrochen und gespiegelt durch die Reflexion des Dichters: Hartmann will nicht nur erläutern und motivieren, er will seine Hörer auch nicht mehr direkt der Ungeheuerlichkeit und dem Schmerz aussetzen, er sorgt für gewisse Distanz“ (Schottmann 1965, S. 103). Kann man aber dieses Geschehen aus der Distanz überhaupt noch

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verstehen? Es ist nicht einmal ganz sicher, daß dem doch ziemlich rohen Felsblock dieses Stoffes die feine Ziselierung durch Hartmann wirklich angemessen sein kann, auch wenn man die Signale kunstvoller Komposition, Rück- und Vorausblicke bewundern muß. Dafür nur ein – auch bei Schottmann (1965, S. 99) verzeichnetes – Beispiel: Gregor bittet Gott, seine Ausfahrt mit dem Schiff ans rechte Ziel zu lenken, und sieht sein Gebet erhört, als er vor der belagerten Stadt anlangt: sô bin ich rehte komen. / daz ist des ich got ie bat / daz er mich bræhte an die stat / dâ ich ze tuonne vunde (HG 1868–71). Dieselben Worte diz ist des ich ie bat, / daz mich got bræhte ûf die stat (HG 2609f.) verwendet er nach Entdeckung des Inzests, doch diesmal bitter ironisch in seinem ganz kurzen Aufbegehren gegen Gott. Doch damit handelt sich nicht nur der Held, sondern auch der Dichter die unbeantwortbare Frage nach Gottes Mitwirken ein (s.u.). In VG hat der Teufel das Schiff gelenkt (B1 1037–46 ~ A11235–40), den Gregor denn auch später entsprechend anklagt (B1 1519–22 ~A11907–17). Hartmanns theologische Probleme Wir haben festgestellt, daß die frz. Gregorlegende eine rationale Überprüfung ihrer Theologie und Erzähllogik nicht verträgt. Warum fragt niemand in Aquitanien Gregor nach seiner Abkunft? Warum hört Gregor nach seiner Eheschließung selbst auf, nach seinen Eltern zu forschen, obwohl er sich dies doch geschworen hat (B1 1153ff.; A1 915ff.)? Wird er dadurch irgendwie an dem Inzest schuldig? Wenn nicht, warum sollte er dafür büßen? Nicht nur der Autor von VG und sein Publikum stellten diese Fragen anscheinend nicht. Auch ein durchaus reflexionsfreudiger Autor wie Hartmann von Aue konnte es offenbar nicht tun, ohne die Geschichte zu gefährden. Aber in seiner erst gegen 1190 angefertigten Bearbeitung waren solche Lücken noch auffälliger und haben viele moderne Interpreten prompt darauf gebracht, gerade aus dem nicht Gesagten Deutungen abzuleiten. Noch niemand ist freilich auf den Gedanken gekommen, eine Schuld Gregors auf dem Stein anzunehmen, weil der Erzähler zur selbstmörderischen Buße schweigt. Auch eine weitere Lücke in der Erzähllogik scheint nicht aufgefallen zu sein, welche sich erst durch die neuere Diskussion des 12. Jahrhunderts über die Gültigkeit der Feudalehe auftat, während in der alten Geschichte ein solches Problem offenbar noch nicht bestand. Wie wir z.B. aus dem ‚Tristan‘ wissen, war es überaus gefährlich für die soziale, ja bisweilen sogar für die leibliche Existenz eines jungen Mädchens, wenn

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es nicht jungfräulich in die Ehe trat (Schröter 1985, S. 175f.), es sei denn, sie war Witwe. Genau das durfte Gregors Mutter aber nicht behaupten, so daß alle Welt sie für eine Jungfrau hielt. Kein Wort darüber in HG, obwohl sich das Problem vielleicht durch einen Hinweis auf Gregors sexuelle Naivität hätte entschärfen lassen. Aber was hätte es angesichts viel gravierenderer Lücken genützt? Mochte auch dem Dichter Hartmann die divinitas vielleicht nicht so gar durchliuhtec gewesen sein wie dem elfjährigen künftigen hl. Gregor (HG 1187), die damals neue Intentionalitätsdebatte konnte ihm dennoch nicht unbekannt geblieben sein, und so hatte er nur folgende Möglichkeiten: (1) Er konnte den Inzest zu einem wissentlichen machen, damit aber die grundsätzliche sittlich positive Anlage des späteren Heiligen aufheben. (2) Er konnte die Ignoranz von Mutter und Sohn beseitigen, damit aber den Inzest unmöglich machen. (3) Er konnte die Ignoranz als irgendwie schuldhaft bedingtes Versäumnis begründen, damit aber jene Bedingung als die zu büßende Sünde erscheinen lassen. (4) Er konnte den Inzest durch die Ignoranz ganz entschuldigen, damit aber den Sinn der für den Inzest geleisteten Buße auch ganz beseitigen. Nichts davon hat er getan. Aus der endlosen – hier nicht darzustellenden – Forschungsdiskussion (Forschungsberichte von Gössmann 1974; Cormeau/Störmer 2007, S. 110–141) kann man freilich einen ganz anderen Eindruck gewinnen. Die Mehrzahl der Interpreten unterstellt Hartmann, er habe den für die Handlungslogik notwendigen unmittelbaren Zusammenhang von Gregors Buße mit dem unwissentlichen Inzest auf die eine oder andere Weise auflösen wollen. Die einen behaupten, der Inzest sei bloß die notwendige Folge einer oder mehrerer wissentlicher Sünden, in welchen die wahre Schuld liege. Im ganzen deutschen Text ist jedoch wie in der Vorlage nur von einer einzigen Sünde die Rede, für welche Gregor büßt, nämlich von dem Inzest (Knapp 2003, S. 44; ähnlich schon Schönbach 1894, S. 102; Herlem-Prey 1989, S. 19f.). Die Mutter wundert sich, daß die Erde nâch der missetât / die mir der lîp begangen hât (HG 2681), d.h. nach der fleischlichen Sünde des Inzests, sie noch tragen will, und fragt den schriftgelehrten Sohn ausdrücklich nur nach der Buße „für eine so geartete Schuld“ (2687: über sus gewante missetât ). Gregor verheißt ihr zwar aufgrund seiner Kenntnis theologischer Schriften (2700, vgl. 2685) göttliche Gnade für alle missetât (2700), wenn sie denn angemessen gebüßt werde, bezeichnet die Mutter aber natürlich nur im Hinblick auf diese jetzt begangene Sünde als ein schuldec wîp (2720). Wenn die Mutter klagt, ihre Seele nû (2677), jetzt, verloren und gotes zorn (2678) auf sich gezogen zu haben, so fordert ihr Sohn sie auf, eben diesen Zorn zu besänftigen, und schließt sich hier selbst mit ein: den

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zornmuot / den wir sô gar verdienet hân. / ich wil im ouch ze buoze stân (Hs. A, V. 2734ff.). Schließlich kann nur der unwissentliche Inzest gemeint sein, wenn der Erzähler nach der Schilderung von Gregors siebzehnjähriger Buße auf dem Stein sagt: got an im vergaz / sîner houbetschulde (3140f.). Denn hier ist nur von einer einzigen, aber kapitalen Sünde (peccatum capitale) die Rede. Eine andere Forschungsrichtung erklärt die Frage nach der Art der Schuld überhaupt für irrelevant, weil Gregors zur Heiligkeit führende maßlose Bußleistung im Gegenteil auf einer tieferen Einsicht in die grundsätzliche Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit aller Menschen beruhe (so u.a. Cormeau 1966, bes. S. 70 u. 143; Ohly 1976, bes. S. 10, Anm. 5; Schilling 1986, S. 43f.). Daß der Held sich zwar für entschuldigt hält, aber trotzdem für den unwissentlichen Inzest in demütiger Selbsterniedrigung „stellvertretend für alle menschliche Schuld“ (Dittmann 1963, S. 241) 17 Jahre auf dem Stein büßt, ist theologisch aus damaliger Sicht nicht zu rechtfertigen. Falsche Selbstbezichtigung aus Demut ist sündhaft, wie u.a. aus dem ‚Liber poenitentialis‘ Alains von Lille hervorgeht (Kolb 1982, S. 27). Vor allem aber wird es – und das ist abermals entscheidend – vom Erzähler mit keinem Wort angedeutet, ebensowenig, daß die Unwissenheit hier besiegbar gewesen sei und so die unwissentliche Schuld nicht entschuldigen könne (Kolb 1982). Höchstens spekulieren kann man auch darüber, ob Hartmann von der kanonistischen Debatte über die ignorantia (in)vincibilis wußte und die Lösung dieser theologischen Frage vielleicht bewußt offenhalten wollte (Seelbach 2004). Nur in einem Punkt ist sich die Forschung trotz aller sonstigen unüberbrückbaren Gegensätze offenbar so ziemlich einig: Der Autor habe dem Text einen eindeutigen Sinn gegeben, der bisher nur nicht klar erkannt oder allgemein anerkannt worden sei. Liegt es aber nicht viel näher, daß Hartmann sich selbst vergeblich an der französischen Vorlage abgearbeitet hat, die von einem traditionellen, um 1190 kaum noch zu vermittelnden Sündenverständnis lebt? Ja, hat er durch seine Ansätze zu einer psychologischen und sozialen Ausdeutung der Geschichte die unüberbrückbaren Widersprüche in dem Text nicht nur noch deutlicher hervortreten lassen, ohne sie auflösen zu können (Knapp 2003)? Immerhin schien diese Geschichte ihm trotz allem geeignet, Gottes unbegrenzte Barmherzigkeit zu demonstrieren, welche einzig durch die Sünden wider den Heiligen Geist verspielt werden könne. Zu dieser Demonstration mochte er auch auf den Legendenschluß nicht verzichten (s.o.).Vor jenen Sünden aber warnt er ausführlich im Prolog. Hartmann hat ihn zwar massiv erweitert, aber wiederum die Grundlinien nicht ange-

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tastet. Der Prolog von VG stellt die Geschichte vom guten Sünder als Beispiel für andere Menschen vor. Es soll die Leute, denen es an Glauben (A1 18 Qui mescreient ) oder an Hoffnung (B1 18 Ki despeirent ) mangelt und die deshalb wähnen, für ihre schweren Vergehen keine Gnade mehr erlangen zu können, vor der Verzweiflung bewahren, indem es von Gottes großem Erbarmen (A1 35 grant misericorde) oder großer Vergebung (B1 35 grant remissiun) erzählt. Da man um so häufiger von einer Sünde berichten solle, je größer sie war, handle dieses Exempel von einer Sünde, die unweigerlich in die Hölle geführt hätte, wäre Gott nicht gnädig (A1 59 merciables = B1 57) gewesen. So aber sei dem Sünder, da er die Hoffnung nicht verloren, sondern sich durch Buße entsühnt habe, schließlich ein sehr gutes Geschick beschieden gewesen (B1 42–44 Mes lui ala de ceo tresbien / K’il ne chaït en desperance, / Ainz s’amenda par penitence ~ A1 42–44), so daß er am Ende gar ein heiliger Papst wurde. Statt der ca. 60 Verse des Prologs braucht Hartmann fast das Dreifache, bzw. wenn man die autorbezogenen Bemerkungen abrechnet, immer noch weit mehr als das Doppelte. Von seiner am Werkanfang geäußerten angeblichen Reue über sein früheres allzu weltliches dichterisches Schaffen kommt er gleich auf die Verfehlung der mangelnden Bußbereitschaft, die auf der Erwartung eines langen Lebens und einer daher immer noch verbleibenden Gelegenheit zur Buße beruht. Die Ankündigung der zu erzählenden Geschichte warnt aber vorerst nur vor der Verzweiflung, wie in VG auch. Für die Empfehlung der Buße zieht Hartmann das biblische Zweiwegegleichnis heran (Mt 7,13f.) und verbindet damit dann das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lc 10,30–37), das er ausführlich allegorisch deutet (vgl. v.a. Spitz 1984), darunter die Kleider für den Ausgeraubten als Hoffnung und Furcht. Das mündet in die aus VG bekannte Versicherung der grenzenlosen Gnade Gottes. Daß sie nicht greifen kann, wenn der Mensch nicht büßt, weil er an diese Gnade nicht glaubt, wird von Hartmann freilich theologisch zugespitzt: Jede Sünde kann vergeben werden außer die Verzweiflung (desperatio; HG 166: niuwan der zwîfel eine). Die zweite, komplementäre Sünde wider den heiligen Geist, die Vorwegnahme der selbstverständlichen Vergebung (praesumptio), wird erst im Epilog nachgetragen (HG 3963–82), doch war sie ja schon zu Anfang des Prologs unter dem Namen vürgedanc (HG 21) apostrophiert worden, wie wir gesehen haben. Hier schlägt Hartmanns theologische Ausbildung durch. Vielleicht ist er aber doch auch von VG angeregt worden. Wenn er sich der Dummheit und (spirituellen) Untätigkeit in seiner Jugend bezichtigt, die ihm die falschen Worte geraten und von der Bußfertigkeit abgehalten hätten, so erinnert das an die Leute, die aus Nachlässigkeit die Frucht der

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Buße verlieren (B1 23f. par malveise negligence, / Perdent le fruit de penitence ~ A1 23f.), auch wenn diese negligence hier umgekehrt gerade eng mit der desperance verbunden ist. Was Hartmann aber im Prolog ausspart, ist die Benennung der Sünde, welche der Held auf sich geladen hat (VG B1 47–54 ~ A1 47–54). Er verschiebt das auf die Erzählung selbst (HG 144f.). Das Erklärungspotential des Prologs für diese Sünde kann dann jedenfalls nicht groß sein. In vürgedanc oder in zwîfel verfällt der Held ja gerade nicht. Schon Ruh (1977, S. 113) hat daraus geschlossen, es gehe Hartmann gar nicht um die Schuldfrage, sondern allein um das Schuldbewußtsein. Die Forschung ist ihm darin größtenteils nicht gefolgt, und es ist auch nicht sehr wahrscheinlich, daß ein Autor, der der Mutter eine theologische Invektive gegen die – in VG klar vorausgesetzte (Herlem-Prey 1989, S. 7f.) – Vererbung der persönlichen Schuld von Eltern an die Kinder in den Mund legt (HG 475–477), Gregors eigene Schuld einfach als gegeben und unproblematisch erachtet haben sollte. Auch die im Vergleich mit VG generell auffallende „Betonung der Willensfreiheit“ (Kasten 1993, S. 404) spricht klar dagegen. Dieses „Moment der Eigenverantwortung“ (ebd.) muß natürlich irgendwie zumindest ansatzweise dem Einfluß der metaphysischen Mächte Grenzen setzen. Freilich wird man nicht so weit gehen dürfen zu behaupten, daß Hartmann die Rolle des Teufels „à une sorte de hors d’œuvre“ reduziert habe (Piquet 1898, S. 271). Immerhin beklagt der Erzähler sich ausdrücklich darüber, daß Gott dem Teufel so viel Macht über den Menschen, den Gott mit eigener Hand nach seinem Ebenbild schuf, eingeräumt hat (HG 332–338). Damit ruft er in einem die Würde und die Erbsünde des Menschen auf, allem voran aber die Allmacht Gottes, die eine selbständige, unabhängige Gegenmacht nicht duldet, sondern freiwillig dem Teufel nur einen gewissen Freiraum läßt. Daß die Gregorlegende in HG nicht weniger heilsgeschichtliche Aspekte hat als in VG, hat die Forschung längst klar gemacht (zuletzt Freytag 2004). Doch tritt nun die durch die Erbsünde bedingte, dessenungeachtet aber jeweils persönlich zu verantwortende Verfallenheit an das Böse in den Vordergrund vor Gottes ‚humorvollem‘ Spiel mit dem Teufel, wie es Rocher in VG sieht (s.o.). Deshalb muß auch die Apostrophierung des betrogenen Teufels bei Hartmann entfallen. Damit fehlt die „tröstende Antwort des Franzosen“ auf die Frage der Theodizee. „Die Macht des Teufels bleibt bei ihm [Hartmann] ein unerforschliches Mysterium, ein unergründlicher Ratschluß Gottes, wie die praedestinatio“ (Rocher 1988, S. 63). Daher bäumt sich auch der Held für einen Moment dagegen auf (HG 2608). Dann aber nimmt er den Ratschluß Gottes und damit auch die ihm unbegreifliche Sünde an.

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Unbegreiflich bleibt sie auch dem Autor und dem Publikum. Das weist schwerlich auf einen ganz freien, originellen, romanhaften Umgang mit der Quelle (Hirschberg 1979; Haug 1992, S. 134–154), der die Geschichte ihres erbaulichen Charakters berauben, sie in einen offenen Sinnhorizont stellen, ja gar bewußt in die Sinnaporie treiben soll. Der legendenhafte Exempelcharakter bleibt vielmehr erhalten, beschränkt sich aber vollends auf den Aufruf zur Bußbereitschaft und zum Vertrauen in Gottes unbeschränkte Barmherzigkeit. [Manuskriptabschluß (Teil C, Kap. 2): September 2007]

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3 ‚Eracle‘/‚Eraclius‘ von Edith Feistner Forschungsstand: Abfassung und Überlieferung der Texte, Urteile über die Dichter – Stoffgeschichte, Inhalt und Struktur – Grundintention des französischen Textes – Umformung der Vorlage durch Otte – Literarhistorischer und methodischer Erkenntniswert

Forschungsstand: Abfassung und Überlieferung der Texte, Urteile über die Dichter Mit dem ‚Eracle‘ des Gautier d’Arras bezieht sich der ‚Eraclius‘ des mittelhochdeutschen Autors Otte auf eine altfranzösische Quelle, deren Autor und insbesondere deren Auftraggeber mit Fug und Recht als historisch bedeutend gelten können. Ein ‚Miracle de la Vierge‘ des 13. Jahrhunderts nennt Gautiers d’Arras qui fist d’Eracle in einem Atemzug mit Chrétien de Troyes, La Chèvre oder Benoît de Sainte-Maure als einen jener menestrel, die sich herausragende Verdienste um die französische Dichtung erworben haben (Ms. Arsenal 3518, fol. 96b; zit. nach Gythiel 1971, S. vi). Mit seinem berühmten Zeitgenossen teilt sich Gautier die Verbindung zum prominenten Gönnerkreis der nordfranzösischen très-grandseigneurs, die dynastisch über Frankreich hinaus mit dem anglonormannischen Königshaus, aber auch, nicht weniger prominent, mit deutschen Adelsgeschlechtern verbunden waren und damit die europäische Dimension höfischer Literatur und Kultur auf erstrangige Weise repräsentieren: Thibaut V. de Blois (1152–1191) wird im Prolog des ‚Eracle‘ (Ausg. Raynaud de Lage, V. 53) als Auftraggeber gewürdigt; seiner Schwägerin, Eleonores von Aquitanien Tochter contesse Marie de Champagne, in deren Auftrag ebenfalls Chrétiens ‚Lancelot‘ entstand, und Baudouin de Hainaut (wohl Baudouin V. [1171–1195], eventuell aber auch Baudouin IV. [1120–1171]) wird im Epilog (V. 6527 bzw. 6530) für ihr Mäzenatentum Lob gezollt. In ‚Ille et Galeron‘, dem zweiten Werk, das von Gautier erhalten ist, ruft der Dichter im Epilog seinen ‚Eracle‘ in Erinnerung (Ausg. Lefèvre,

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V. 6591–6592a), während er im Prolog (V. 69) als Gönnerin Beatrice von Burgund nennt, Gemahlin Friedrich Barbarossas und als solche 1167 in den Rang einer Kaiserin erhoben, den auch Gautiers Widmung voraussetzt. Die namhaften Gönner Gautiers sind zum einen für die Datierung seines literarischen Schaffens wichtig – urkundliche Zeugnisse, nach denen vor allem die ältere Forschung gesucht hat (Cowper 1949; Benton 1961), können schon wegen der Häufigkeit des Namens Gualterius kaum stichhaltig sein –, zum anderen aber ebenfalls für die Kontextualisierung von Gautiers Werk im Kenntnis- und Erwartungshorizont des Publikums. Für die Datierung lassen sich aus den Lebensdaten der Gönner nur das Jahr 1159, von dem an Marie de Champage den im ‚Eracle‘ erwähnten Titel einer Gräfin trug, als Terminus post quem und 1184, das Todesjahr der Kaiserin Beatrice, als Terminus ante quem unstrittig festlegen (Renzi 1964; Pratt 2007), wenngleich man nicht ohne gewisse Plausibilität den Zeitrahmen, in dem sowohl der ‚Eracle‘ als auch ‚Ille et Galeron‘ entstanden sind, noch genauer, nämlich auf die Jahre zwischen 1176 und 1184, einzugrenzen versucht hat (Fourrier 1960; vgl. auch Pierreville 2001). Über die Datierungsfrage hinaus verbinden sich mit Gautiers Markenzeichen, das Fourrier (1960) forschungsprägend als „courant réaliste“ bezeichnet hat, eine Fülle von möglichen zeitgenössischen Anspielungszusammenhängen. Im ‚Eracle‘ zeigt sich der „courant réaliste“ schon an der Wahl einer historischen Heldenfigur: der des (byzantinischen) Kaisers Heraclius/ Herakleios (610–641), der im Jahr 627 aus Sassanidenhand die Reliquie des Heiligen Kreuzes als christliche Siegestrophäe zurückeroberte, 630 wieder nach Jerusalem brachte und trotz des nicht lange währenden Triumphes über die ‚Heiden‘ im Zeitalter der Kreuzzugsbewegung als erster Kreuzfahrer gefeiert worden ist. Gautiers Gönner Thibaut de Blois war 1177 in Ivry beim Friedensschluß zwischen dem französischen und dem englischen König, Louis VII und Heinrich II., anwesend und nahm später selbst an dem Kreuzzug teil, den beide Herrscher dort gelobten. Daneben könnte das Motiv der Ehescheidung im ‚Eracle‘ mit der aufsehenerregenden Scheidung Eleonores von Aquitanien von Louis VII (1152) assoziiert worden sein, zumal im Jahr 1174 Heinrich II., den Eleonore nach ihrer Scheidung geheiratet hat, seine Frau hat einsperren lassen und das Motiv des vom Ehemann zugemuteten Gefängnisaufenthalts eine weitere Parallele zum ‚Eracle‘ darstellt. Wie Eracle wurde Eleonores und Louis’ VII Sohn erst nach siebenjähriger kinderloser Ehe geboren und erhielt den Beinamen Dieudonné (‚Eracle‘, V. 225), der später auch Philippe-Auguste, dem gleichfalls erst nach langer Kinderlosigkeit geborenen Sohn des französischen Königs mit Adèle de Champagne, verliehen wurde.

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Die überlieferungsgeschichtliche Vergesellschaftung des ‚Eracle‘ illustriert ihrerseits die Anknüpfungspunkte des Werkes zum geistlich-‚historischen‘ Kontext der Kreuzes- bzw. Kreuzfahrtsthematik wie zum Kontext des höfischen Romans, nicht zuletzt zu solchen Beispielen, die in Frankreich noch über die Tristanromane hinaus die Verbindung von Ehe und Ehebruch bzw. Ehebruchsphantasie (man denke nur an Chrétiens ‚Cligès‘ und ‚Chevalier de la charrete‘) thematisieren – eine Thematik, die sich überdies in der französischen Lyrik wiederfindet. In zwei der drei erhaltenen Handschriften, die durchweg aus dem pikardischen Raum stammen und in der Spanne zwischen dem Ende des 13. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden sind, befindet sich neben dem ‚Eracle‘ nicht zufällig der ‚Cligès‘. Die Hs. A (Paris, B.N. ms. fr. 1444) enthält zudem aber auch geistliche und lehrhafte Dichtung sowie eine französische Version des ‚Pseudo-Turpin‘, Hs. T (Turin, Biblioteca Nazionale, 1626 [L.I.13]) dagegen nur säkulare höfische Texte. Die Hs. B (Paris, B.N. ms. fr. 24430), wo der Epilog des ‚Eracle‘ noch vor der Nennung von Baudouin de Hainaut beendet wird, stellt eine bunte Mischung aus höfischer Dichtung, Hagiographie und Chronistik dar. Die andersartige Ausrichtung, die Gautiers Werk im Vergleich zu Chrétien aufweist, sowie die als heterogen empfundene offene Gattungskonstitution führten zusammen mit der relativ geringen und räumlich begrenzten Überlieferung in der romanistischen Forschung (meist ohne Rekurs auf Ottes Gautier-Rezeption) dazu, daß Gautier als bemühter ‚Schüler‘ vom Schatten des ‚Meisters‘ Chrétien praktisch erdrückt worden ist. In den letzten Jahren zeichnet sich jedoch, wie nicht nur neue Ausgaben mit Übersetzungen ins Französische der Gegenwart (Eskénazi 2002) und ins Englische (Pratt 2007) zeigen, eine Trendwende ab, ja, man kann von einer regelrechten Gautier-Renaissance in der Romanistik sprechen, die den lange hintangestellten Dichter – nun teilweise regelrecht den Spieß umkehrend (insbesondere Pierreville 2001) – als den ‚anderen Chrétien‘ entdeckt hat. Wichtig ist hier, unabhängig von allen wertungsbezogenen Rehabilitierungsversuchen, der neue Blick auf den in der Tat lange übersehenen intertextuellen und ideologiekritischen Diskussionszusammenhang (Wolfzettel 1990b), der sich zwischen Gautiers und Chrétiens Werk eröffnet, die zwei Dichter als Vertreter einer jeweils anders akzentuierenden Poetik höfischer Selbstrepräsentation wahrnimmt und damit, wenn man an die von Gautier explizit mit ins Spiel gebrachte geistlich-historische Fundierung adeliger Legitimation einerseits und an Chrétiens säkulare, höfisch-exklusive Rationalisierung einer märchenartigen Symbolwelt andererseits denkt, ebenfalls Einsichten über den Toleranzspielraum vermit-

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telt, den das Adelspublikum der ‚Diskutanten‘ zuließ. Gerade Gautiers Charakteristikum, Märchenmotive und geistlich-historische Rationalität übereinanderzublenden, hat das Interesse der Forschung an diesem Dichter auch von dem allein auf Chrétien bezogenen Vergleich gelöst (Wolfzettel 2005a u. b). Völlig anders liegen in fast jeder Hinsicht die Verhältnisse bei Otte. Hier ist außer Ottes Bezugnahme auf die französische Vorlage (Ausg. Frey, V. 43f.) und seiner Selbstbezeichnung als gelêrter man am Ende des ‚Eraclius‘Prologs (V. 40) weder von ihm selbst noch von seinem/seinen Auftraggeber(n) irgendetwas bekannt. Ob das Werk überhaupt im höfischen Kontext zu suchen, d.h. in der Reihe der adaptations courtoises zu verorten ist (Pratt 1987), steht keineswegs fest; Frey (1990) erwägt nicht von ungefähr einen städtischen Kommunikationskontext. Und nachdem der ‚Eraclius‘ trotz einer gegenüber Gautier verstärkten Tendenz zur Historisierung der erzählten Geschichte auch keine Referenzen auf außerliterarische Ereignisse enthält, die zeitnah zur Entstehungsphase der mittelhochdeutschen Bearbeitung wären, läßt sich, abgesehen vom Terminus post quem, den Gautiers ‚Eracle‘ darstellt, ebenfalls die Datierung nur ungefähr bestimmen, wohl zwischen ca. 1180/90 und 1230 (vgl. Frey 1974). Fraglich bleibt auch die Lokalisierung. Die bemerkenswerte bildzyklische Umsetzung des kompletten ‚Eraclius‘, einschließlich Ehebruchspartie, in den Freskenmalereien der Kirche von Fraurombach (Schlitz) könnte am ehesten auf (ober-)hessische Provenienz des Dichters bzw. seines Werkes hindeuten, ist jedoch, zumal weitere Indizien fehlen, ebensowenig beweiskräftig (Frey 1970) wie die früher gleichfalls erwogene Zuordnung zum Thüringer oder zum Wittelsbacher Hof (Schröder 1924). Immerhin weist die Vergesellschaftung des ‚Eraclius‘ in den drei Handschriften, die ihn überliefern (Frey 1970; Hagby 2003), zusammen mit dem Rezeptionszeugnis aus der ‚Weltchronik‘ des Jans Enikel darauf hin, in welche literarischen Kontexte das mittelalterliche Publikum Ottes Werk eingeordnet hat: Hs. A (Wien, cod. 2693) aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts ist der älteste vollständig erhaltene Überlieferungzeuge der ‚Kaiserchronik‘ (Redaktion B); die Hs. C vom Anfang des 15. Jahrhunderts (Erfurt/Gotha, Universitäts- und Forschungsbibliothek, cod. Chart. A 3; Wiener Provenienz) zählt zu den neuerdings genauer gesichteten Handschriften der ‚Weltchronik‘ Heinrichs von München (Spielberger 1998; Klein 1998). Damit wird Ottes ‚Eraclius‘ in zwei von drei Handschriften direkt innerhalb einer Chronik überliefert, wo er an entsprechender Stelle den jeweiligen Standardtext ersetzt. Nur in der um die Wende zum 14. Jahrhundert angefertigten, über die Bibliothek Johann Jakob Fug-

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gers nach München gelangte Hs. B (cgm 57) sind der ‚Eraclius‘ und Veldekes ‚Eneasroman‘ mit ‚Mai und Beaflor‘ zusammengebunden und bezeugen hier ein Interesse an antikisierender ‚historischer‘ Dichtung. Die gegenüber Gautier dennoch klarer profilierte chronikalische Zuordnung des ‚Eraclius‘ hat ihren Anhalt zum einen in Ottes Bearbeitungsstrategie. Zum anderen liegt sie aber auch daran – und dies gilt bereits für Otte und seinen eigenen Bearbeitungsspielraum –, daß eine Reihe gerade solcher Texte, die wie Chrétiens ‚Cligès‘ und ‚Chevalier de la charrete‘, wie ‚Guillaume d’Angleterre‘, aber auch wie das ‚Alexiuslied‘ und die in Frankreich so verbreiteten Chanson de geste-Zyklen Motivverwandtschaften bzw. Gattungsaffinitäten zu den verschiedenen Partien der Eraclius-Dichtung aufweisen, in die deutsche Literatur gar nicht, nur partiell bzw. modifiziert oder verzögert importiert worden sind. Dadurch verschob sich notwendigerweise das intertextuelle Bezugspotential im Vergleich zu dem der französischen Quelle, und vor allem die Chronistik bot sich als ein eher funktional denn gattungstypologisch definiertes ‚Auffangbecken‘ an. Die Forschung hat mit einem gelinde gesagt zurückhaltenden Interesse auf dieses schwer datier- und lokalisierbare Werk zwischen den Gattungen reagiert, das auch deshalb aus dem Rahmen fällt, weil es insgesamt kürzer ist als die französische Vorlage und noch dazu teilweise ungewöhnlich stark von ihr abweicht. Der Verfasser Otte stand lange Zeit noch mehr im Schatten des Gautier d’Arras (so auch bei Bumke 1972), als dieser selbst von dem Licht überschattet worden ist, das Chrétien ausstrahlte. Eine relativ prominente Rolle spielte der ‚Eraclius‘ lediglich im Zusammenhang mit der nationalen Polemik des 19. Jahrhunderts, wo Otte insbesondere von Hans Ferdinand Maßmann als Repräsentant des ‚männlich-gesunden‘ Deutschen propagandistisch von dem ‚frivol-geschwätzigen‘ Franzosen Gautier abgehoben wurde (Richter 1992), und dann, auf seriöserer philologischer Grundlage, noch einmal in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts mit Freys textkritischer Untersuchung (1970) sowie den Monographien von Feistner (1987) und Pratt (1987) über das Verhältnis zwischen Otte und Gautier, die die längst überholten Quellenvergleiche von Guth (1908) und Maertens (1927) ablösten. Seither haben, abgesehen von Erwähnungen in übergreifenden Themenkontexten, nur wenige Aufsätze das Werk als ganzes zum Thema gemacht (Frey 1990; Schmitz 1992; Hagby 2003).

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Stoffgeschichte, Inhalt und Struktur Dem ‚Eracle‘ liegt eine komposite Stoffgeschichte (Faral 1920; Fourrier 1960; Feistner 1987) zugrunde, die sich auf ursprünglich distinkte, bei Gautier erstmals im Zusammenhang miteinander überlieferte matières bezieht. Die beiden ersten Quellenbereiche des ‚Eracle‘ weisen anders als die von Chrétien favorisierte matière de Bretagne ins christliche Byzanz, obwohl der Schauplatz zunächst Rom ist: Die Jugendgeschichte des Helden fußt auf der verbreiteten orientalischen Erzählung von einem armen Jüngling (oder Greis), der sich wegen seiner drei außerordentlichen Gaben, die Natur von Steinen, Pferden und Menschen zu ergründen, an einen König oder Kaiser verkaufen läßt. Sie ist einleitend noch um eine Vorgeschichte von der Geburt des Helden ergänzt, wo das biblische Motiv der erst spät – durch göttliches Wunder – mit einem Erben gesegneten Ehe (Gn 21,1–3; Idc 13–16; Lc 1) aufgegriffen wird, wie es etwa im ‚Alexiuslied‘ (höfisiert auch im ‚Guillaume d’Angleterre‘) begegnet, und sich ein geistlicher Rahmen für die erzählte Geschichte öffnet. Nach der Bewährung des dreifach begabten Helden und seinem Aufstieg zum Berater am römischen Kaiserhof steht jedoch die Ehebruchsgeschichte um den Kaiser, seine Frau Athanaïs und deren Geliebten Parides im Zentrum; sie resultiert daraus, daß der Kaiser den Rat des Helden, auf Athanaïs’ aufrichtige Liebe zu vertrauen anstatt sie einzusperren, in den Wind schlägt, und endet mit der Scheidung. Diese Partie der erzählten Geschichte fußt ihrerseits auf dem romanhaft ausgestalteten ‚Eheabenteuer‘ von Theodosius II. und seiner Frau Eudokia in Konstantinopel bzw. nach Eudokias scheidungsbedingter Vertreibung in Jerusalem. Obwohl dort nicht von einem tatsächlichen Ehebruch erzählt wird, sondern von einem der Kaiserin irrtümlich unterstellten, unterstreicht Eudokias Geburtsname Athanaïs den stoffgeschichtlichen Zusammenhang mit dem ‚Eracle‘, und hinter Parides/Paris, dem Namen des Geliebten, dürfte sich eine Anspielung auf den Apfel verbergen, der im ‚Eheabenteuer‘ des Theodosius den Anlaß für das zur Scheidung führende Mißverständnis bildet. Die folgende Partie des ‚Eracle‘, wo der Held nun selbst als Kaiser präsentiert wird, geht im Gegensatz zur Geschichte von den drei Gaben und zur Ehebruchsgeschichte auf eine genuin liturgische Quellentradition zurück: die Geschichte von der Rückeroberung des Heiligen Kreuzes Christi durch Kaiser Heraclius zum Fest der Kreuzeserhöhung (exaltatio crucis, lateinischer Ritus: 14. September), der noch die Geschichte von der Kreuzesauffindung (inventio crucis, lateinischer Ritus: 3. Mai) durch Helena, die Mutter Kaiser Konstantins d. Gr., vorgeschaltet ist. So schließt sich der eingangs eröffnete geistliche Rahmen.

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Otte übernimmt in seinem ‚Eraclius‘ zwar das Gerüst der von Gautier vorgegebenen Geschichte, verlängert sie aber nicht nur im Sinne einer ‚Vita‘ bis zum Tod des Helden, sondern macht sie insgesamt ‚historischer‘ und zieht zu diesem Zweck, wie er mehrfach betont, über Gautier hinaus weiteres, insbesondere chronikalisches Quellenmaterial heran (Feistner 1987). Dabei dürfte sich hinter der von Otte zitierten karonica (‚Eraclius‘, V. 5434) am ehesten die ‚Chronica sive historia de duabus civitatibus‘ des Otto von Freising verbergen (vgl. auch Pratt 1987); eventuell kannte der Autor des ‚Eraclius‘ auch selbst bereits die ‚Kaiserchronik‘, in deren Kontext sein Werk ja einmal überliefert ist. Die chronikalische Stoßrichtung wird schon dadurch deutlich, daß Otte dem Kaiser, dem der junge Held als Berater dient, anstelle des Namens Laïs (wohl eine Anspielung Gautiers auf den französischen König Loïs/Louis bzw. dessen ‚Eheabenteuer‘ mit Eleonore von Aquitanien) den Namen Fokas gibt, den der Vorgänger des oströmischen Kaisers Heraclius/Herakleios tatsächlich trug. Die zwar thematisch zur Kreuzeslegende gehörende, chronologisch aber Jahrhunderte vor der Regierung des Heraclius/Herakleios anzusiedelnde Geschichte von der Auffindung des Heiligen Kreuzes übergeht Otte bei seiner Bearbeitung des ‚Eracle‘ ebenfalls. Das Nacheinander zweier geschichtlich unmittelbar aufeinanderfolgender Kaisergestalten läßt Ottes Werk – mit den entsprechenden strukturellen und diskursiven Konsequenzen, die sich auch im Detail an der dosiert zwischen Amplifikation und Abbreviation wechselnden Bearbeitungsstrategie zeigen – wie den Ausschnitt aus einer Kaiserchronik wirken, während der französische Dichter (nicht nur) gattungspoetologisch andere Ziele verfolgt. Grundintention des französischen Textes Die Ambitioniertheit des französischen Dichters zeichnet sich bereits in den allerersten Versen des ‚Eracle‘ ab. Noch bevor hier der Gönner Thibaut de Blois und der Gegenstand des Werkes vorgestellt werden, heißt es (‚Eracle‘, V. 1–4): Se Gautiers d’Arras fist ainc rien c’on atorner li doive a bien, or li estuet tel traitié faire que sor tous autres doive plaire.

„Wenn Gautier von Arras bisher etwas geschaffen hat, was man ihm positiv anrechnen soll, muß er nun eine solche Abhandlung schaffen, die vor allen anderen gefallen soll.“

Gautier kündigt ein Werk an, das „über allen anderen“ stehen solle. Die Allgemeinheit der Überbietungsformel legt nahe, daß er dieses Werk kei-

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neswegs etwa nur aus seinem eigenen literarischen Schaffen herausgehoben wissen will (ggf. unter Einschluß weiterer, heute verlorener Werke aus seiner Feder), sondern durchaus auch aus dem der anderen Dichter. Dabei kommt es ihm zunächst ganz auf den poetologisch-ästhetischen Aspekt an; er betont, wenn man die zweigliedrige Formel des Horazschen prodesse et delectare zugrundelegt, das letztere (vgl. ‚Eracle‘, V. 4: plaire). Der Aspekt gelehrter Bildung fließt erst gegen Ende des Prologs mit ein, wo Gautier verspricht, en romans vom Leben des Eracle (V. 95) zu erzählen, also für das im Unterschied zu ihm nicht geistlich gebildete Publikum einen Transfer aus der lateinischen Quellentradition in die Kultur volkssprachlicher Dichtung zu leisten. Das Selbstbewußtsein Gautiers, der als auctor die Fäden in der Hand hält, durchzieht den ‚Eracle‘ insgesamt, wenn man etwa an die außerordentliche Zahl von „interventions auctoriales“ (Arzenton Valeri 1990; vgl. auch Zumthor 1984) denkt, die die Präsenz eines alle Register ziehenden Dichters suggerieren. Diese Register reichen von einer geradezu gnomisch pointierten Verdichtung des Erzählvorgangs (King 2003) über die Einarbeitung verschiedenster Gattungsmuster bis hin zu einer geschichtlich und geographisch weit ausgreifenden Verbindung von chevalerie und clergie im Spannungsfeld literarischer Diskurse. „La recherche de l’universel“, so der Titel eines Aufsatzes von Friedrich Wolfzettel (1990b) über Gautier, ist die treffendste Formulierung, wenn man Selbstverständnis, Ästhetik und Intention dieses Autors (auch im Kontrast zu Chrétien) auf den Punkt bringen will. Das Oszillieren zwischen Höfischem und Geistlichem stellt, so unterschiedlich es durch wechselnde Gattungsinterferenzen auch perspektiviert wird, ein Charakteristikum des ‚Eracle‘ dar und entzieht die stoffgeschichtlich kompositen Teile des Werkes, selbst wenn man sie jeweils für sich nimmt, einer eindeutigen Gattungszuschreibung. Dieses Oszillieren steht im Dienst einer wechselseitigen Rückversicherung von Höfischem und Geistlichem, die als das ideologische Markenzeichen Gautiers gelten kann. Die Forderung nach Tugendadel zielt dabei nicht unbedingt auf eine moralische Verallgemeinerung des Höfischen als Standeskategorie ab, sondern darauf, einer Partikularisierung säkularer höfischer Werte innerhalb des Systems adeliger Selbstlegitimation entgegenzuwirken (Wolfzettel 1990b), um so den Geburtsadel durch geistlich-religiöse Verpflichtung gleichsam doppelt zu adeln. Daß darin dennoch beachtlicher Sprengstoff steckt, zeigt sich, abgesehen etwa von der unverblümten Kritik an den adligen Heiratskandidatinnen für Laïs, deren moralische Defizite Eracle dank göttlicher Begabung aufdeckt, insbesondere an Eracle selbst, der –

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zwar adeliger Abstammung, doch freiwillig versklavt – nicht durch Erbe, sondern den Ruf seiner Tugend zum christlichen Retter mit Kaiserwürden aufsteigt (Castellani 1990; Pierreville 2000). Schon die Vorgeschichte über die nach langer Kinderlosigkeit durch Gebetserhörung mit einem Sohn gesegnete Ehe bezeugt die Engführung von höfischer und geistlicher Perspektive, indem sie den auserlesenen gesellschaftlichen Status und zugleich die Frömmigkeit des Adelspaares Myriados und Cassine betont. Sie ist zudem kein bloßes Präludium zum Märchen von den drei Gaben, sondern fungiert als Folie für dessen eigene religiöse Kontextualisierung: Das Wunder der ersten Engelserscheinung vor der Geburt des Eracle wiederholt sich im Wunder des vom Engel überbrachten Himmelsbriefes, das die Verleihung der drei Gaben bei all ihrer märchenartigen Substanz zum göttlichen Wunder stilisiert und die Wirksamkeit dieser Gaben überdies an die Bedingung einer geistlichgelehrten Schulbildung des Eracle bindet. Gerade wegen der bei Gautier durchaus bewahrten höfischen Säkularität der Gaben selbst und wegen der entsprechenden Folgen, die sie für die weitere Geschichte haben, erscheint im Gegenzug der geistliche Stilisierungsapparat sogar aufwendiger als etwa im hagiographisch ‚eindeutigen‘ Alexiuslied. So sehr sich die Vorgeschichte von der Geburt des Eracle mit dem Beginn des Alexiusliedes motivgeschichtlich berühren mag, so unterschiedlich gestaltet sich der weitere Verlauf; denn während Alexius einem Eremiten gleich der Welt entsagt, unternimmt es Eracle einerseits sehr wohl, sich wie ein Romanheld mit Hilfe seiner Gaben in der Welt zu behaupten. Andererseits ist jedoch auch dies wiederum durch religiösen Eifer motiviert: Der freiwillige Verzicht des Eracle, als einziger Sohn die Erbfolge anzutreten, soll dem Seelenheil seines verstorbenen Vaters Myriados dienen. Ne puet perir qui en Diu croit „Wer an Gott glaubt, kann nicht zugrundegehen“ ist nicht nur der Kernsatz aus der Rede des Engels bei der Verkündigung von Eracles Geburt, sondern ebenfalls das Fundament für dessen eigenes Vertrauen in die Kraft seiner Gaben (vgl. ‚Eracle‘, V. 170 bzw. V. 854). Und auch Athanaïs, die Eracle als Frau für Kaiser Laïs auswählt, ergreift in mustergültiger christlicher Fürsorge Partei für die Armen, überzeugt die Reichen, sorgt für Gerechtigkeit und demonstriert so die Richtigkeit ihrer Auswahl durch den wie ein Werkzeug Gottes agierenden Eracle. Unter der Prämisse, daß Eracle nicht irrt, ja, daß er als von Gott selbst Begabter gar nicht irren kann, wenn es sich um Steine, Pferde und Frauen handelt, steht auch die Liebesgeschichte um Athanaïs und Parides, die sich aus der Geschichte von den drei Gaben zu einer eigenen, minnekasuistisch elaborierten (Nolting-Hauff 1959) und dabei strukturell zentralen Sequenz

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innerhalb des Werkes entfaltet. Das religiöse Vorzeichen ist sogar als regelrechte Legitimationsgrundlage für den fin’amors instrumentalisiert, d.h. es dient hier nicht dazu, höfische Säkularität geistlich zu domestizieren, sondern verleiht ganz im Gegenteil Gautiers literarischer Inszenierung der Ehebruchsthematik eine um so konsequentere höfische Wendung, die streckenweise durchaus dem Traktat ‚De Amore‘ des Andreas Capellanus Ehre gemacht hätte: Aus dem Mund des Eracle erhält Athanaïs quasi offiziell die Absolution von jeder Schuld an ihrem Ehebruch mit Parides, und ihre eigenen Anflüge von moralisch-religiösem Skrupel kulminieren in einem vehementen Bekenntnis zu ihrer außerehelichen Liebe. Diesem Bekenntnis beugt sich Laïs mit der Einwilligung in die Scheidung und einer Apanage für das Liebespaar, nachdem er erkennen mußte, daß er selbst die Ehe zerstört hat, weil er mit dem Einsperren der Athanaïs seinem ebenso unhöfischen wie moralisch anstößigen Mißtrauen anstatt dem erprobten Rat des Eracle gefolgt ist. Während das weitere Schicksal des römischen Kaisers Laïs im Sande verläuft, widmet sich der Schlußteil dem Aufstieg des Eracle zum Kaiser von Konstantinopel. Hier steht anders als im Mittelteil nicht das Religiöse im Dienst des Höfischen, sondern, ähnlich wie schon in der Kindheitsund Jugendgeschichte des Helden, das Höfische im Dienst des Religiösen. Zu diesem Zweck wird einerseits auf der Folie der lateinischen Erzählung vom Kampf um das Heilige Kreuz und von dessen Rückführung nach Jerusalem eine hagiographisch-liturgische Perspektive entfaltet, zusätzlich noch um die als Vorgeschichte innerhalb der Kreuzeslegende fungierende Erzählung von der Auffindung des Heiligen Kreuzes angereichert und mit gelehrter Bibelexegese verbunden (vgl. ‚Eracle‘, V. 6079–6120). Andererseits wird diese Perspektive durch Anleihen aus der Chanson-de-gesteTradition diskursiv überblendet: Anreden an die Signor, der Topos des conseil des barons, der Topos der Zwangstaufe oder die aggressive, in der Konfrontation zwischen Eracle und Cordroé gipfelnde gegenseitige Aufstachelung der Christen und der Heiden stellen so die zugrundeliegende Geschichte vor einen kreuzzugshaft gefärbten feudalhöfischen Horizont. Mit einem buchstäblich in Stein gehauenen Monumentalbild von Eracle läßt Gautier denn auch das Werk zur Mahnung an tuit li cortois (V. 6518: „alle Höfischen“) ausklingen: Was von Eracle bleibt und die Zeit überdauert, ist, so als hätte er nach seinem Durchgang durch die literarischen Themen und Gattungen am Ende alles andere abgestreift, das Reiterbild des kaiserlichen Gottesstreiters im Dienst der Kirche, von dem es heißt: vers Paienime tent se destre / et fait sanlant de manecier / et de l’onor Diu porcacier (V. 6504–6506: „Gegen Heidenland streckt er seine Rechte und

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scheint zu drohen und Gottes Ehre zu erstreben“). Bei Otte stirbt er – ein symptomatischer Unterschied – an der Wassersucht (‚Eraclius‘, V. 5628–5645). Umformung der Vorlage durch Otte Schon Ottes Prolog, der in Hs. A und C aufgrund der Einbettung des Werkes in eine Kaiser- bzw. Weltchronik eliminiert, aber durch Hs. B bezeugt ist, illustriert die andersartige Konzeption des ‚Eraclius‘ im Vergleich zu Gautier. Während sich der französische Dichter im ersten Vers als Schöpfer eines ‚Werkes über allen Werken‘ nennt, stellt der deutsche Dichter sich selbst und seine französische Buchvorlage erst ganz am Ende in dem auf prologus praeter rem und prologus ante rem folgenden titulus vor (‚Eraclius‘, V. 140–144) und wählt überhaupt eine strikt geistliche Prologrhetorik: Der prologus praeter rem (V. 3–66), eingeleitet von einer Apostrophe an Gott, den himmlischen Vater, besteht in einem Beichtgebet des Erzählers mit den für das Bußsakrament vorgesehenen Komponenten des Sündenbekenntnisses, der Reue und des Bußversprechens. Das Beispiel des Erzählers wird sodann als Muster für alle Gläubigen katechetisch verallgemeinert und findet ebenfalls zum Schluß des Werkes ein Echo in der von Gautier abweichenden Beschreibung der letzten Lebensphase des Eraclius, die durch Verirrung, Reue und göttliche Sündenvergebung gekennzeichnet ist. Der prologus ante rem (V. 67–140), wiederum durch ein (Beistands-)Gebet eingeleitet, geht denn auch von der Rückeroberung des Heiligen Kreuzes aus und läuft auf das Motto der manichvalten wunder / die got mit Eraclio begie (V. 96f.) bzw. die Aufforderung des Publikums zum Gehorsam gegenüber Gott zu. Die Beteuerung der (geschichtlichen) Wahrheit des Berichteten leitet zur abschließenden Beistandsbitte über, die der Erzähler an die Dichterkollegen (V. 128: die guoten tihtære) adressiert. So sehr sich der Prolog in Bescheidenheitstopik ergeht, bezeugt jedoch auch er – freilich unter einem von Gautier verschiedenen Vorzeichen – ein beachtliches Selbstbewußtsein des Dichters, noch bevor dieser seine gelehrte Bildung expliziert: Das im Beichtgebet als Bußleistung angekündigte Werk wird ganz anders als etwa in Hartmanns von Aue ‚Gregorius‘-Prolog ausgerechnet mit dem Topos ‚Wissen und Talent verpflichten zur Mitteilung‘ verbunden (vgl. Mt 25, 14–30 bzw. Lc 19,11–27); ein lateinisches Zitat fehlt gleichfalls nicht (V. 47 zu Ez 33,11) und bereits im prologus ante rem deutet Otte an, daß sich seine Belesenheit auch auf andere einschlägige Quellen (V. 90) erstreckt als nur auf die französische Vorlage.

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Neben der Absicht einer geistlich-historischen Perspektivierung, die über Gautier hinausgeht und dabei die Rückbindung an einen ständisch exklusiven höfischen Diskurs tendenziell löst, dürfte gerade Ottes zusätzliche Kenntnis anderer Eraclius-Bilder insbesondere aus der Chronistik (vgl. den einschlägigen Überblick über die Divergenzen zwischen liturgischer Tradition und Geschichtsschreibung von Sommerlechner 2003) ausschlaggebend dafür gewesen sein, daß er sich nicht nur im Schlußteil des Werkes auffällig weit von Gautier entfernt, sondern auch sonst freier über die französische Vorlage verfügt, als es bei mittelhochdeutschen Bearbeitungen üblich ist. So steht dem Ausbau der Geschichte von Geburt und Kindheit des Eraclius bis zu dessen Verkauf an den Truchseß des römischen Kaisers, also der Lebensphase vor dem Eintritt des Helden in das höfische Leben, die Kürzung bei der Sequenz von den drei Proben gegenüber, insbesondere aber bei der Ehebruchssequenz. Und den Teil des Werkes, der sich dem Wirken des Eraclius als Nachfolger von Fokas widmet, konzipiert Otte ohnehin neu durch Anleihen aus der Chronistik bis hin zu einem ‚Annex‘ über die Situation christlicher Herrschaft zur Zeit des Eraclius und dessen eigenes, keineswegs heldenhaftes Leben nach der Rückeroberung des Heiligen Kreuzes. Doch zieht Otte, angefangen mit den Einleitungsversen (nach dem Prolog) zur Datierung der Geschichte, auch in das Werk insgesamt chronikalische Formeln und Exkurse ein (Feistner 1987). Daß er so dem ‚Eraclius‘ das Gerüst einer regelrechten Chronik verleiht, wirkt sich über Ummotivierungen im Detail hinaus auch auf die Struktur des Werkes aus: Während Gautier den ersten Einschnitt vor der Hochzeit von Kaiser Laïs und Athanaïs mit der Formel huimais commencerai li contes (‚Eracle‘, V. 2746: „jetzt werde ich mit der Erzählung beginnen“) markiert – ähnlich wie Chrétien die Hochzeit von Erec und Enide vom Vorausgehenden mit der Formel ci fine li permerains vers (‚Erec et Enide‘, V. 1844: „hier endet der erste Abschnitt“) abhebt – und während Gautier den auf das Ehe(bruchs)-Abenteuer folgenden Schlußteil mit einer Eloge über die höfischen Herrscherqualitäten von Eracle einleitet (‚Eracle‘, V. 5088–5118), akzentuiert Otte im Chronikstil den Übergang der Regierung von Kaiser Fokas auf Kaiser Eraclius. Die entsprechend ausgestaltete Schluß- und Einleitungsformel (‚Eraclius‘, V. 4532–4571; in Hs. A und B noch um einen Exkurs über die translatio imperii von Konstantin d. Gr. bis zu Karl d. Gr. verlängert; vgl. Nellmann 1963; Schnell 1982) verbindet sich dabei mit den über das ganze Werk hin ausgestreuten chronikalischen Einsprengseln. Innerhalb des Rahmens, den ihm das selbstgewählte Formgerüst der Geschichtsschreibung bietet, erzählt Otte trotz des damit verbundenen christlich-moralischen Tenors durchaus lebendig und

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anschaulich, selbst dort, wo er die Vorlage kürzt; doch geht es ihm ebensowenig wie um die Rückkoppelung des geistlichen an den höfischen Diskursrahmen um die für Gautier bezeichnende Strategie, durch wechselnde Gattungszitate bzw. -interferenzen ein Werk zu verfassen, das gleichsam als Summe literarischer Muster „über allen Werken“ steht. In diesem Sinn steht Gautiers ‚Eracle‘ auch über den Gattungen, während Ottes ‚Eraclius‘ eher zwischen den Gattungen steht und, ungeachtet des ästhetischen Bruches zwischen Dichtung und Chronistik, am Beispiel der Vita seines Helden vor allem Geschichten aus der Geschichte lehrreich-ansprechend vermitteln will. Die moralische Verallgemeinerung des Höfischen beginnt schon damit, daß der Held kein Sohn eines bedeutenden höfischen preudome (‚Eracle‘, V. 122) ist wie bei Gautier, sondern sein Vater als edel burgære (‚Eraclius‘, V. 178) präsentiert wird, dessen Herz tiefe Frömmigkeit erfüllt. Neben dem religiösen Aspekt, der noch über Gautier hinaus den märchenhaften zurückdrängt, wird weniger die ständische als die städtische Provenienz betont – möglicherweise auch ein Indiz für den von der französischen Vorlage abweichenden ‚Sitz im Leben‘. Nicht wie bei Gautier nach dem Aufstieg zum Ritter, sondern nach der Taufe wird der Held als künftiger Kaiser und Glaubenskämpfer vorgestellt (V. 358–381): ein weiteres Beispiel für Ottes Profilierung des Geistlichen anstelle des Höfischen, das sich hier zudem mit einem Exkurs über den abwechselnd christlichen und heidnischen Besitz des Heiligen Kreuzes und damit auch die wechselvolle Geschichte der Herrschaft über Jerusalem bis hin zu Gottfried von Bouillon verbindet. Gleichwohl vermittelt Otte ansonsten regelrecht das Bild einer ‚Familienidylle‘, in der Eraclius aufwächst. Eraclius wird nicht nur fromm, sondern auch liebevoll erzogen, insbesondere von seiner Mutter, die mehr aus Sorge um sein Wohlergehen den Verkauf des Sohnes auf dem Sklavenmarkt beschließt anstatt wie bei Gautier aus religiösem Rigorismus. Ottes anschauliche Beschreibungen setzen sich im Folgenden fort. Sie beziehen sich wie etwa im Fall der verfallenen Hütte, wo Athanaïs vor ihrem Aufstieg zur Kaiserin lebt (V. 2276–2291), keineswegs speziell auf den höfischen Bereich. Selbst die Heiratsdiplomatie am Kaiserhof wird vor allem in die Kanzleistube verlegt (V. 1860–1879), und im Zusammenhang mit der Ehebruchslist weiß Otte, daß man in Städten nicht, wie der französische Liebhaber es tut (‚Eracle‘, V. 4464–4468), eine Pfütze eigens herrichten muß, um eine Beschmutzung zu provozieren, weil hier die Straßen ohnehin meist schlammig seien (‚Eraclius‘, V. 3986–3988). Ottes Vorliebe für lebendig inszenierte Dialoge zeichnet sich ebenfalls von Anfang an ab. Ganz besonders kommt sie aber bei der Ehebruchs-

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sequenz zur Geltung, wo im Gegenzug die minnekasuistischen Monologe der französischen Vorlage ganz zurücktreten oder überhaupt wegfallen. Die theoretischen Reflexionen über die Liebe, die Gautiers entsprechend umfangreiche Monologe enthalten, reduzieren sich im ‚Eraclius‘ vor allem auf die Frage der Legitimation vor Gott. Dabei weiß Athanaïs von Anfang an ebenso genau wie der Erzähler, daß sie eine Sünde auf sich nimmt. Und am Ende muß sie im Unterschied zu ihrem französischen Pendant froh sein, nicht mit dem Tod bestraft zu werden, sondern wenigstens in Armut mit Parides leben zu dürfen, nachdem Eraclius vor Fokas dafür plädiert hat, daß dieser, indem er trotz aller Warnung Athanaïs während seiner Abwesenheit aus Rom eingesperrt habe, Mitschuld an der Aktivierung des Eva-Erbes seiner Frau trägt. Weil Otte mit dem fin’amors wenig im Sinn hat, tritt im Schutz der moralischen Kautele, die die abschließende Ahndung der grozze[n] missetat (‚Eraclius‘, V. 4478) darstellt, ein schwankhafter Vermittlungsgestus mit einer geradezu plautinisch inszenierten Überlistung von Athanaïs’ Bewachern hervor, nicht zuletzt dank der Kupplerinnenfigur Morphea, die ihr bei Gautier namenloses, höfisch domestiziertes Vorbild mit Mutterwitz, aber auch Durchtriebenheit erfüllt. Doch zeigt sich der deutsche Bearbeiter bemüht, selbst diese Sequenz wiederum in einen chronikartigen Rahmen zu stellen. So wird der bei Gautier nicht näher beschriebene oder lokalisierte politische Konflikt, der den Kaiser zwingt, sich aus Rom zu entfernen und ihn die fatale Einsperrungsmaßnahme über seine Frau verhängen läßt, von Otte als Glaubenskrieg gegen die vom Römischen Reich repräsentierte Christenheit historisch ‚definiert‘ (‚Eraclius‘, V. 2573–2580 u. 2806–2840) und nach Ravenna verlegt (wo sich in der Tat ein zumindest aus weströmischer Sicht ‚feindliches‘ byzantinisches Exarchat befunden hat). Parallel zur Fehlentscheidung des Kaisers in Bezug auf das Verhalten gegenüber seiner Frau, das Otte noch über Gautier hinaus als Produkt eines Vertrauensbruchs gegenüber dem von Gott begabten Ratgeber Eraclius kennzeichnet, erscheint also auf reichspolitischer Ebene die Christenheit insgesamt Gefährdungen und Angriffen ausgesetzt, so beständig sich der rechte Glaube auch unter Fokas selbst gemehrt habe. Nach achtjähriger Amtszeit wird der Kaiser schließlich verraten und erslagen (V. 4554) und Eraclius tritt als Nachfolger auf den Plan. Da Otte Gautiers Nebeneinander des fiktiven römischen Kaisers Laïs und des zum byzantinischen Kaiser aufsteigenden Eracle prorömisch historisiert, d.h. nur ein einziges, vom Westen aus regiertes Reich anerkennt, ist auch Eraclius wie schon sein (historischer) Vorgänger Fokas ze rome cheiser (V. 359), selbst wenn er sich meist ze chriechen aufhält (V. 4565).

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Kaiser Eraclius überbietet zwar als Hauptfigur des Werkes seinen Vorgänger Fokas, indem er Jerusalem und die von dort geraubte Reliquie des Heiligen Kreuzes aus der Hand des Sassanidenherrschers Cosdras für die Christenheit zurückerobert und die Eroberungspläne des Perserkönigs zunichte macht, doch endet auch er nicht als strahlender Held wie in Gautiers Dichtung. Dies liegt einmal mehr daran, daß Otte die französische Vorlage bzw. die lateinische Legende von der exaltatio crucis (vgl. ‚Eraclius‘, V. 5443), auf die sich Gautier hier stützt, chronikalisch ergänzt und ‚korrigiert‘. Seit Hrabanus Maurus ist die legendenhafte Tradition (Faral 1920) etabliert, die vom siegreichen Zweikampf des Eraclius gegen den Sohn des Cosdras und vom zunächst feierlich-triumphalen, dann – nach dem durch den Engel Gottes verkündeten und mit dem Wunder vom Torverschluß untermauerten Tadel – demütig-dankbaren Einzug des Kaisers in Jerusalem erzählt. In sie baut Otte das Motiv der Heeresschlacht ein, das in der Chronistik meistens anstelle des ‚legendären‘ Zweikampfs begegnet. Außerdem führt er in Anlehnung an die Chroniktradition bzw. an Otto von Freising auch das weitere Wirken des Eraclius im religionspolitischen Kontext seiner Zeit aus. Die Heeresschlacht vor dem entscheidenden Zweikampf, wie in der lateinischen Chronistik üblich an die Donau verlegt (eine Kontamination mit der Schlacht Konstantins d. Gr. gegen die Ungarn?), nimmt Otte aber keineswegs zum Anlaß, um die bei Gautier vorgeprägte Ausgestaltung der Legendentradition nach dem Muster der Chanson de geste zusätzlich auszubauen. Wenngleich er wie Gautier unter dem Einfluß der Kreuzzugsbewegung steht – der Glaubenskrieg ist ja das prägende Thema der historischen Exkurse im ‚Eraclius‘ insgesamt –, so moderiert er doch (nicht nur) die Kampfesschilderungen und wirkt deshalb gerade im Schlußteil um so mehr wie ein Geschichtsschreiber. Selbst dem aggressiven FeindbildTenor im Überschneidungsbereich zwischen klerikaler Kreuzzugspropaganda und Chanson de geste schließt er sich nicht an; denn so klar auch bei ihm der Dignitätsunterschied zwischen Christen und Heiden ist, erscheinen letztere anders als bei Gautier nicht wie unbelehrbar-widerständige Kreaturen, denen man nur mit Zwangstaufe beikommen kann. Vielmehr werden sie wie Opfer der Irreleitung durch ihren eigenen Herrscher dargestellt: Cosdras läßt sie in dem Glauben, die Christen, die zu ihm kommen, um dem Heiligen Kreuz zu huldigen, verehrten ihn selbst als Gott (‚Eraclius‘, V. 4677–4679). Er spiegelt ihnen unter seinem prächtigen ‚Himmel‘ vor, über Regen und Wind gebieten zu können, bis sie ihn höchstpersönlich für den Schöpfer der Welt halten (V. 4687–4691). Hinter dem vermeintlichen Himmel verbirgt sich im übrigen eine Kunstuhr aus

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dem Schatzhaus Chosraus II. in Ganzak, die in ihrer technischen Raffinesse dem Abendland unbekannt war und deshalb dort allgemein mit dem Thronhimmel verwechselt wurde (vgl. Herzfeld 1920; Abka’i-Khavari 2000). Der anschließende chronikalische Annex, mit dem Otte wohl auf der Grundlage von Daten aus der ‚Chronica sive historia de duabus civitatibus‘ Ottos von Freising die bei Gautier erzählte Geschichte moralisierend ‚verlängert‘, nimmt überdies nicht nur die Konfrontation von Gläubigen und Ungläubigen in den Blick. Während der Regierungszeit des Eraclius stehen sich neben dem vom persischen ‚Zauberer‘ zum heiligen Märtyrer bekehrten Anastasius, der auch die Möglichkeit eines Seitenwechsels repräsentiert, in der Tat zwar Machmet, der den ungelouben merte (‚Eraclius‘, V. 5475) und der als Diener Gottes wirkende Frankenkönig Tagebreht gegenüber. Doch nach diesem historischen Überblick läuft die Perspektive vor allem auf die innere Gefährung durch Irrtum und Sünde zu, für die Eraclius selbst als warnendes Beispiel herangezogen wird. Bereits bei dem Verweis, den ihm der Engel Gottes vor den Mauern Jerusalems erteilt, deutet sich an, daß auch Eraclius, uneingedenk des demütigen Einzugs Jesu Christi am Palmsonntag, nicht vor Selbstüberschätzung gefeit ist. Danach verfällt er den ‚teuflischen‘ Irrlehren eines Sergius (historischer Bezugspunkt sind die religiösen Kompromisse, die Herakleios mit dem Patriarchen Sergios zum Zweck der politischen Integration der wiedereroberten monophysitischen Provinzen des Ostens anstrebte) und vertraut auf Sternkunde anstatt auf Gott. Erst als dieser ihn mit militärischem Desaster bestraft, werden ihm wieder die Augen geöffnet. Er bereut und nimmt, als ihn die Wassersucht befällt – der ‚Kaiserchronik‘ zufolge immerhin eine Todesart, die den vorbildlichen Herrscher auszeichnet (Ohly 21968) –, die Krankheit mit Gott versöhnt bußfertig hin. So ist aus Gautiers höfisch ambitioniertem und sowohl dynastisch als auch ideologisch anspielungsreichem ‚Eracle‘ ein ständisch verallgemeinerbares moralischreligiöses Exempel aus der Geschichte geworden. Während Gautiers ‚Eracle‘ eine gezielte gattungsübergreifende Konstitution eignet, erscheint bei Otte die dadurch bedingte Hybridität wenn nicht gebändigt, so doch gleichsam neutralisiert, indem sie in den seinerseits ohnehin nur funktional geschlossenen Rahmen der Chronistik hineingeschoben und damit ästhetisch entschärft wird.

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Literarhistorischer und methodischer Erkenntniswert Beim Blick auf die deutsch-französischen Literaturbeziehungen im höfisch geprägten Hochmittelalter ist man leicht versucht, mehr oder weniger selbstverständlich von der Prämisse einer Korrespondenz zwischen der (höfischen) Ausrichtung der französischen Vorlage und der deutschen Bearbeitung auszugehen. Bereits begrifflich liegt dies der Rede von der adaptation courtoise zugrunde, die als Leitvorstellung eine möglichst kongeniale ‚Einholung‘ der Vorlage durch den Bearbeiter impliziert oder ggf. sogar die einer die Vorlage noch überholenden ‚Modernität‘ nach Maßgabe einer zeitgemäßen Anpassung innerhalb des höfischen Kontextes. Wie differenzierungsbedürftig die Prämisse von der adaptation courtoise ist, wird an Gautiers und Ottes Werk deutlich. Beide mögen sich zwar in der französischen bzw. deutschen Literaturlandschaft ihrer Zeit jeweils durchaus sperrig ausnehmen, sollten aber auch nicht einfach als Ausnahmen abgetan werden, die die Regel bestätigen. Während Gautier gerade im Vergleich mit dem für ein und denselben Gönnerkreis tätigen Chrétien den beträchtlichen Spielraum innerhalb der Ästhetik adeliger Repräsentation illustriert, weist das Beispiel von Ottes Bearbeitung auf die Durchlässigkeit der Grenze höfischer Exklusivität überhaupt hin – zumal dort, wo sich eine als geschichtlich beglaubigt geltende materia mit konkurrierenden Traditionslinien aus der Latinität verbindet, die es erlauben, den Text der volkssprachlichen Vorlage beim Transfer in die Zielsprache ggf. entsprechend zu ‚revidieren‘. Daraus resultierende Akzentverschiebungen müssen ein höfisches Zielpublikum nicht unbedingt ausschließen. Das gilt trotz aller Indizien, die auf einen städtischen Kommunikationskontext hindeuten könnten, auch für Ottes ‚Eraclius‘. Und ähnlich verhält es sich mit Ottes eigenem gesellschaftlichem Ort (wobei hier selbst die Provenienz aus einem Kloster, z.B. einer adeligen Reichsabtei, oder einem Stift nicht ganz undenkbar wäre). Das Beispiel des ‚Eraclius‘ und seiner französischen Vorlage macht aber jedenfalls darauf aufmerksam, daß im Blick auf die deutsch-französischen Literaturbeziehungen schon für das Hochmittelalter zu unterscheiden ist zwischen einer genuin höfischen Literarisierung von Stoffen mit signifikantem Fiktionalitätspotenzial wie der matière de Bretagne – dafür steht geradezu exzeptionell das Vorbild Chrétiens – und dem Bereich der volkssprachlichen Literarisierung einer geschichtsbezogenen, geistlich-gelehrten Quellentradition, wo auf der Diskursebene neben einem Höfisierungspotenzial auch ein nicht genuin ständisch gebundenes religiöses Belehrungspotenzial als Option zur Ver-

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fügung steht. Entsprechend unterschiedlich ist die Gemengelage bei Gautier und Otte, was sich bis in die Rezeptionsgeschichte (vgl. die Umsetzung von Ottes ‚Eraclius‘ im Bildprogramm der Pfarrkirche von Fraurombach) hinein auswirkt. Außerdem weist Ottes Werk, gerade weil seine Vorlage ausgesprochen elaborierte und auf die deutsche Literatur der Zeit kaum übertragbare intertextuelle Anspielungszusammenhänge enthält, darauf hin, daß vergleichende Studien nicht (wie weitgehend noch Feistner 1987 und Pratt 1987) bei der jeweiligen Vorlage und ihrer Bearbeitung stehenbleiben dürfen, sondern beide Texte möglichst großräumig im System der französischen bzw. deutschen Literatur vernetzen müssen. Auch für die deutschfranzösischen Literaturbeziehungen insgesamt bedeutet es methodisch eine Verkürzung, wenn sie bloß aus der Summe zweistelliger Relationen hochgerechnet werden, der Horizont systematischer Asymmetrien oder Leerstellen aber aus dem Blick bleibt. Um das Verhältnis zwischen ‚Eracle‘ und ‚Eraclius‘ in diesem Sinn als Fallstudie aufzubereiten, wäre parallel zu den wichtigen Vorarbeiten der neueren Gautier-Forschung auch Ottes Text (nicht trotz, sondern wegen der Vielfalt gattungsübergreifender motivlicher, struktureller und thematischer Anknüpfungspunkte, die er in chronikalischem Rahmen umschließt) seinerseits innerhalb der mittelhochdeutschen Literatur systematisch zu vernetzen, ohne ihn nur als Lieferanten von Fundstellen für andere Fragezusammenhänge zu gebrauchen. [Manuskriptabschluß (Teil C, Kap. 3): Februar 2009]

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‚Eracle‘/‚Eraclius‘

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‚Mai und Beaflor‘

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4 ‚Mai und Beaflor‘ von Fritz Peter Knapp Abfassung und Überlieferung des Textes – Das Rätsel der Vorlage – Literarischer Gattungsrahmen und märchenhafter Kern – ‚Mai und Beaflor‘: ein europäischer Liebesroman?

Abfassung und Überlieferung des Textes Der deutsche Versroman ‚Mai und Beaflor‘ (MuB) enthält in der überlieferten Fassung keinen Verfassernamen. Auch der bairische adelige Landrichter Jakob Püterich von Reichertshausen, welcher 1462 in seinem ‚Ehrenbrief‘ an die Erzherzogin Mechthild von Österreich zu Rottenburg am Neckar bei der Auflistung seiner Bibliothek den Titel vermerkt, registriert ausdrücklich die Anonymität. Selbst Zeit und Ort der Abfassung lassen sich nur vermuten. Die Reime sind noch deutlich der klassischen Norm verpflichtet. Gelegentliche mundartliche Abweichungen weisen zwar auf das Bairisch-Österreichische, ermöglichen aber keine engere Eingrenzung. Dasselbe gilt für die Schreibsprache der beiden erhaltenen Handschriften, München, cgm 57, fol. 1r-52v (A, 14. Jahrhundert, unvollständig), und Fulda, Hessische Landesbibliothek, Codex C 6 (B, 15. Jahrhundert). So bleiben nur literarische Abhängigkeitsverhältnisse als Indizien übrig. Unser Autor schöpft in erster Linie aus den Werken der Klassiker Hartmann, Wolfram und Walther, an mindestens zwei Stellen aber ziemlich sicher auch aus dem ‚Frauendienst‘ (Str. 1271) des steirischen Adeligen Ulrich von Liechtenstein (Knapp, LG II/1, S. 332). Da nun am Ende des 13. Jahrhunderts Gundacker von Judenburg und der Autor des ‚Grazer Marienlebens‘ ihrerseits wörtliche Anleihen bei unserem Autor gemacht haben (Fechter 1985), spricht doch einiges dafür, daß dieser sein Werk in der Steiermark schuf, und zwar in der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts. Das stilkritische Gespür von Helmut de Boor, der auf 1270/80 getippt hat (LG III/1 [41973], S. 103, bzw. LG III/1 [51997], S. 94), könnte das Richtige getroffen haben.

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Volker Mertens hat ideengeschichtlich argumentiert und eine Entstehungszeit vermutet, „in der das höfische Liebesmodell noch nicht ‚verbraucht‘ war“, also für den mhd. Text die späten zwanziger Jahre und für die frz. Vorlage (s.u.) noch vor 1200, aber zugleich eingeräumt, jener sei auch in der Umgebung des ‚Partonopier und Meliur‘ von Konrad von Würzburg „noch möglich“ gewesen (Mertens 1994, S. 404f.). Dieser nachklassische Liebesroman wurde wahrscheinlich 1277 im Auftrag des Ritters (miles) Peter Schaler, eines Basler Stadtadeligen (Brunner 1985, Sp. 275f.) abgeschlossen – eine interessante soziokulturelle Parallele zum ritterlichen Auftraggeber im Prolog unseres Textes. Das Rätsel der Vorlage Der Anonymus selbst beruft sich auf den mündlichen Bericht eines (ebenfalls ungenannten) edlen Ritters, der die Geschichte in einer Prosachronik gelesen und den Autor gebeten habe, sie in Reime zu fassen (‚Mai und Beaflor‘, V. 70–80). Völlig auszuschließen ist die Richtigkeit dieser Angabe nicht, da eine zumindest teilweise stoffverwandte Erzählung in der Lebensbeschreibung des sagenhaften anglischen Königs Offa I. (4. Jh.) von Matthäus Paris gegen 1250 (Vaughan 1958; K. Schnith in LMA VI (1993), s.v. Matthäus Paris) oder auch schon früher (um 1200?) von einem anderen Autor (R. Gleißner in LMA VI, 1993, s.v. Offasage; Th. Honegger in RGA XXII (2003), s.v. Offa; Michael Swanton, Ausg der ‚Vita duoram Offarum‘, 2006) auf Latein wiedergegeben wird. Aber daß Ritter dergleichen selbst lesen, wäre zumindest für die Steiermark im 13. Jh. höchst ungewöhnlich. Überdies trägt MuB doch ausgesprochen romanhafte Züge. Inhaltlich weit näher stehen zudem eine Reihe frz. Texte, am nächsten ‚La Manekine‘ von Philippe de Remy, Sire de Beaumanoir (ca. 1205/10 bis kurz vor 1265), verfaßt im zweiten Viertel des 13. Jh. (Ausg. Sargent-Baur [1999]; andere Datierungen in diversen Handbüchern, auch Knapp, LG II/1, sind irreführend). Eine Inhaltsangabe dieses Romans sei der von MuB gegenübergestellt. MuB Der König (= Kaiser) des (christlichen) Römischen Reiches, Teljon, und seine Gattin Sabie haben eine Tochter, die vom Papst auf den Namen Beaflor getauft wird. Sie wächst zu großer Schönheit und Tugend heran. Als in ihrem zehnten Lebensjahr ihre Mutter stirbt, wird sie auf Rat der Fürsten dem

‚La Manekine‘ Der König von Ungarn und seine Gattin, die Tochter des Königs von Armenien, haben eine wunderschöne Tochter, Joïe. Die sterbende Gattin nimmt dem Gatten das Versprechen ab, nur eine zweite Frau zu heiraten, die ihr gleicht. Als die Tochter sechzehn Jahre alt geworden ist, drängen

‚Mai und Beaflor‘ Senator Roboal und seiner Gattin Benigna zur Pflege anvertraut. Beaflor kann sich hier ungestört ihrer besonderen Neigung, der Gottesliebe und dem Gebet, widmen, bis der neidische Satan dem König Teljon unlautere Minne zu seiner Tochter einflößt, der die Einsamkeit Beaflors dazu ausnützen will, sie zu verführen und, da es ihm mit Worten nicht gelingt, ihr Gewalt anzutun. Sie erreicht mit geheuchelter Erwiderung seiner Gefühle einen Aufschub von vierzehn Tagen, sucht nun verzweifelt nach einem Ausweg und bittet schließlich ihre Zieheltern, sie in einem Schiff aufs Meer hinaustreiben zu lassen. Ein von Gott gesandter Wind führt das Schiff mit der reich ausgestatteten Jungfrau den Tiber hinab und aufs Meer hinaus. Den Kaiser erfassen, als man ihm erzählt, seine Tochter sei spurlos verschwunden, schwere Gewissensnöte (V. 486–1960). Beaflor verschlägt es in kurzer Frist an die Küste des griechischen Maienlandes. Alle bestaunen dort ihre Schönheit, insbesondere der schöne, noch bartlose Landesherr, Graf Mai. Er bittet schüchtern um ihre Hand. Graf Mais Mutter Eliacha jedoch verweigert ihre Zustimmung und zieht sich, da sie nichts ausrichtet, grollend auf ihren Witwensitz, Burg Klaremunt, zurück. Nach der Zustimmung der Vasallen wird die Hochzeit mit allem geistlichen und höfischen Pomp gefeiert. Mai herrscht als idealer Fürst. Die Eheleute leben in einträchtiger Liebe und danken Gott für Beaflors Schwangerschaft (1961–3877). Mais Onkel, der König von Kastilien, bittet ihn um Unterstützung im Kampf gegen die heidnischen Mauren. Mai gibt seine Frau in die Obhut der treuen Grafen Korneljus und Effreide, fährt nach Spanien und verhilft den Kreuzrittern zu einem vollständigen Sieg. Inzwischen gebiert Beaflor einen schönen Knaben. Der ausgesandte Bote rastet auf der Burg Eliachas, die ihn trunken macht, der Briefe beraubt und diese fälscht. Als Mai daraus erfährt, daß Beaflor angeblich mit zwei Pfaffen Unzucht getrieben

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die Barone den König, wieder zu heiraten. Boten schwärmen aus, um eine Dame zu finden, die aussieht wie die Verstorbene, und kommen zu Weihnachten erfolglos heim. Die Wahl der Barone fällt somit auf die Tochter. Der Vater will sie vergeblich zur Heirat überreden. In panischer Angst vor dem Inzest haut sich die verzweifelte Tochter die linke Hand ab, welche aus dem Küchenfester in den Fluß fällt und von einem Fisch verschlungen wird. So verstümmelt ist sie der Krone unwürdig. Dafür will der Vater sie verbrennen lassen. Doch man verhilft ihr zur Flucht aus dem Kerker, setzt sie in einem Nachen ohne Ruder und Segel auf dem Meer aus und inszeniert eine Scheinhinrichtung (V. 49–1068).

Joïe landet in Schottland und wird zum König in Dundee gebracht. Trotz ihrer Verstümmelung und der Weigerung, ihre Identität preiszugeben, verliebt sich der König in sie. Er nennt sie Manekine (Puppe). Trotz des Widerstandes seiner Mutter heiratet er die Unbekannte in bescheidener kirchlicher Zeremonie und feiert ihre Krönung mit einem großen Fest. Die Mutter zieht sich zornig auf ihr Witwenerbteil Evolinc zurück. Die Eheleute leben in einträchtiger Liebe zueinander. Joïe gewinnt die Zuneigung der Bevölkerung. Zur Freude ihres Gemahls empfängt sie ein Kind (1069–2464). Der König bittet seine Gattin, auf Turnierfahrt in Frankreich und Flandern gehen zu dürfen, und gibt die Schwangere in die Obhut des Seneschalls und zweier vertrauter Ritter. Sie gebiert einen schönen Knaben. Der ausgesandte Bote reist nach Frankreich und rastet dabei auf der Burg der Königsmutter, die ihn trunken macht, des Briefes beraubt und diesen fälscht. Der Bote übergibt den falschen Brief in Creil an der Oise. Der König erfährt daraus, daß seine Gattin ein Monster geboren

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und einen Wolf geboren habe, will er sich erfolglos im Meer ersäufen. Er gebietet mit einem Handschreiben durch denselben Boten den Vasallen, Frau und ‚Kind‘ bis zu seiner Ankunft sorgfältig zu bewahren. Auf der Rückreise wird der Bote auf die gleiche Weise nochmals betrogen und übermittelt an Korneljus und Effreide den gefälschten Befehl, Beaflor und ihr Kind zu vierteilen. Sie wollen der ihnen im Falle einer Weigerung angedrohten Todesstrafe jedoch tapfer entgegensehen und bewegen Beaflor, sich auf dieselbe Weise wie einst auf dem Meere Gott anzuvertrauen. Über die angebliche Hinrichtung Beaflors empört, ziehen die Untertanen dem grausamen Landesherrn mit Heeresmacht entgegen. Nur der Bischof kann eine Schlacht verhindern. Mai erfährt nach und nach die ganze Wahrheit, reitet zur Burg seiner Mutter, durchbohrt sie mit dem Schwert, versucht mehrfach vergeblich, sich selbst zu richten, und beschließt auf Anraten des Bischofs, schwere Buße auf sich zu nehmen (3878–7183). Gott hat inzwischen das Schiff mit Beaflor und ihrem Sohn in sechs Tagen nach Rom geführt, wo Roboal und Benigna es entdekken und ihre Ziehtochter freudig in die Arme schließen. Das Kind geben sie als ihr eigenes aus. Der Kaiser selbst nimmt es in seine Obhut, der Papst tauft es auf den Namen Schoifloris. Nach acht Jahren, in denen der Knabe prächtig heranwächst, langt auch der büßende Fürst Mai als Pilger mit den Grafen Korneljus und Effreide und reichem Gefolge in Rom an und wird von Roboal gastfreundlich aufgenommen, der Beaflor die Ankunft ihres Gatten vermeldet, ihr aber befiehlt, sich jetzt noch nicht zu erkennen zu geben. Sie gehorcht trotz ihrer Seelenqual. Erst am dritten Tag können die Ehegatten einander in die Arme schließen (7184–9419).

habe, macht das aber nicht publik, sondern sendet denselben Boten zurück mit dem Befehl, Mutter und ‚Kind‘ bis zu seiner Rückkunft sorgfältig zu bewahren. Der Bote macht aber wiederum Zwischenstation bei der Königsmutter, die ihn wiederum auf dieselbe Weise hintergeht. Die drei Beschützer der Königin erhalten so den falschen Befehl, Mutter und Kind zu verbrennen, lassen aber trotz der angedrohten eigenen Exekution aus Mitleid beide am Leben und setzen sie im selben Nachen aus, in dem Joïe gekommen war. Dann lassen sie geschnitzte Statuen öffentlich verbrennen. Als der König endlich ankommt, erfährt er nach und nach die ganze Wahrheit, läßt seine Mutter in einem Turm einsperren und begibt sich mit seinen Vertrauten auf See zur Suche nach Gattin und Sohn (2465–4586).

Inzwischen ist Joïe mit ihrem Sohn an die Küste vor Rom in die Mündung des Far (Fiumicino) verschlagen und von Fischern aufgelesen worden. Ein Senator, der reichste Mann Roms, kauft sie und nimmt sie respektvoll in seinen Haushalt auf. Sieben Jahre lang führt sie ein frommes, zurückgezogenes Leben, und das Knäblein wächst heran. Endlich langt auch ihr Gatte nach endloser vergeblicher Suche und einem langen Gebet zu Maria in Rom an und nimmt Quartier bei dem Senator. Joïe, die auch in Rom nichts als ihren Spitznamen preisgegeben hat, verbirgt sich angstvoll vor dem Gast. Dieser offenbart dem Gastgeber den Grund seines Grams. Die Ehegatten werden glücklich zusammengeführt. Sie enthalten sich jedoch am Höhepunkt der Fastenzeit des ehelichen Verkehrs und wollen am Gründonnerstag zur Generalabsolution des Papstes gehen (4587–6696).

‚Mai und Beaflor‘ Der Papst vergibt auf Bitten des Kaisers Mai und seinen Vasallen ihre Schuld. Der Kaiser beichtet ihm auch die seine, entsagt der Krone und bestimmt Mai zu seinem Nachfolger. Nach der glanzvollen Krönungsfeier regiert dieser das Reich ebenso wie vorher Maienland in Frieden und Gerechtigkeit, geliebt von seiner Frau, die ihn alles Leid vergessen läßt. Ihr vorbildliches irdisches Leben erwirkt ihnen auch das ewige Leben (9420–9676).

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Längst hat auch der König von Ungarn sein Verhalten gegenüber seiner Tochter bereut und erfahren, daß sie nicht verbrannt, sondern nur ausgesetzt wurde. Er beschließt, dem Papst seine Sünden zu beichten, und erreicht Rom am Dienstag in der Karwoche. Am Gründonnerstag hört Joïe das öffentliche Bekenntnis ihres Vaters, gibt sich ihm zu erkennen und verzeiht ihm. Der König von Schottland erzählt auch seine Geschichte, und alle sind in Freude vereint. Der Papst sieht in diesem Lauf der Dinge ein Mirakel (7396). Dieses bestätigt sich sichtbar, als zwei Kleriker, welche Wasser aus einem Brunnen für die Weihwassersegnung zu Ostern holen, im Gefäß eine abgeschlagene Hand finden und der Papst sie nach der Predigt und Generalabsolution an Joïes Armstumpf anzufügen vermag, ohne daß eine Wunde verbleibt. Eine Stimme vom Himmel verkündet, daß man in dem Brunnen einen Fisch finden wird und in ihm ein süß duftendes Sanktuar, in welchem die hl. Jungfrau die Hand aufbewahrt hatte. So geschieht es. Man feiert hernach gemeinsam die Gottesdienste von Karfreitag bis Ostern. Am Sonntag teilen Joïe und ihr Gatte erstmals wieder das eheliche Lager. Die Ehegatten, ihr Sohn und Joïes Vater segeln nach Ungarn. Dort trifft eine Deputation aus Armenien ein, welche Joïe in ihr Erbland ruft. Sie reiten dorthin und schaffen Frieden und Ordnung. Eine Gesandtschaft verkündet in Schottland die Geschichte und die Rückkehr des Landesherrn. Zu Ostern kommt dieser zusammen mit der ganzen Familie in Berwick an. Es folgen eine Reihe großer Feste und Besuche der Landesstädte. Die böse Schwiegermutter ist im Turm verstorben. Das Königspaar residiert schließlich in Dundee und bekommt noch weitere Kinder, die alle einmal selbst Throne besteigen werden (6697–8528).

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Die Grundstruktur ist dieselbe. Vor dem drohenden Inzest mit dem Vater flieht die schöne Tochter, treibt in einem führerlosen Schiff auf dem Meer an eine entfernte Küste, heiratet dort den Landesherrn, gebiert in dessen Abwesenheit einen Sohn, wird durch gefälschte Briefe von der Schwiegermutter beim Ehemann verleumdet, zu Hause mit dem Tode bedroht und so zur neuerlichen Flucht gezwungen, die auf dieselbe Weise erfolgt wie beim ersten Mal, nur diesmal gemeinsam mit dem Knaben. Die Schwiegermutter wird bestraft, die verleumdete Schwiegertochter in Rom wiedergefunden, wo der Gatte und der Vater Vergebung beim Papst suchen und so die Familie wieder vereint wird. Die gleiche Verbindung von Inzest- und Verleumdungsmotiv, die gleiche Verleumdungsmethode durch abgefangene und gefälschte Briefe, die gleiche religiöse Atmosphäre des Mirakulösen, insbesondere des führerlosen Schiffes, die gleiche Erstrekkung des Handlungsraumes über große Entfernungen erweisen die enge Verwandtschaft der beiden Texte. Die lat. Variante des Stoffes in der genannten ‚Vita duorum Offarum‘ von ca. 1200 (?) – ob sie die älteste bekannte ist, hängt davon ab, ob die Vita nicht doch erst von Mathhäus Paris um 1250 geschaffen wurde (s.o.) – kennt zwar auch beide Motive, doch läßt hier der Vater, der Kleinkönig von York, die ‚widerspenstige‘ Tochter im Wald aussetzen, und diese Strafe wiederholt sich. Sie ist die Folge nicht zweier, sondern nur eines gefälschten Briefes. Diesen sendet der königliche Gatte von einem Kriegszug nach Hause. Der Brieffälscher ist der Vater selbst, wo der Bote, natürlich unwissentlich, Rast macht. In der falschen Nachricht werden Frau und Kinder zur Aussetzung und Verstümmelung verurteilt. Bei der Frau unterbleibt diese, bei den Kindern wird sie von einem Einsiedler wieder geheilt, bei welchem der heimgekehrte Gatte seine Familie schließlich auch wiederfindet (Inhaltsangabe bei Frenzel 1998, S. 487, nicht ganz korrekt). Als Quelle für MuB kommt diese lat. Vita nicht in Frage, aber auch schwerlich ‚La Manekine‘, obschon dieser Roman sicher älter als MuB ist. Doch die Unterschiede sind zu groß. In MuB fehlt das Verstümmelungsmotiv völlig. Der Vater handelt unbeeinflußt von seinen Vasallen aus reiner Triebhaftigkeit. Den Haupthelden trifft dagegen am schweren Schicksal seiner Gattin keine Schuld, da er pflichtgemäß in den Sarazenenkrieg zieht. Trotzdem tut er schwere Buße (sozusagen nur nebenbei auch für die eigenhändige Tötung der verbrecherischen Mutter). Die Schauplätze der Handlung sind bis auf Rom verschieden. Zu den großen kommen eine Menge kleinerer Differenzen, die man diesem nicht eben genialen deutschen Dichter vielleicht eher als die großen zutrauen kann (s.u.).

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Aber über Spekulationen kommt man so kaum hinaus. Auch die sonstige weite Verbreitung des Stoffes im europäischen Mittelalter gibt keine eindeutigen Hinweise. Zwei weitere verwandte Texte aus Frankreich gehören erst dem 14. Jh. an, die Chanson de geste ‚La Belle Hélène de Constantinople‘ (Ausg. Roussel [1995], die älteren Datierungen korrigierend) und ‚Le Roman du Comte d’Anjou‘ von Jean Maillart, geschrieben 1316. Doch früher und unserem Text inhaltlich sogar etwas näherstehend taucht der Stoff auch in der ‚Weltchronik‘ Jansens von Wien (nach 1272) auf (Knapp, LG II/1, S. 335). Jans erzählt in 680 Versen (‚Weltchronik‘, V. 26677–27356) folgende Novelle: Der Vater der Heldin, hier der König der Russen (Reußen) will nach dem Tod seiner Gattin nur eine neue Gattin freien, die seiner Tochter gleicht. Als sich eine solche nicht findet, erwirken die Großen des Reiches der gefährdeten Erbfolge wegen vom Papst mit reichlicher Bestechung die Sanktionierung der Ehe des Königs mit seiner eigenen Tochter. Diese jedoch, um dem Inzest zu entgehen, schneidet sich die Haare ab und zerkratzt sich ihr schönes Antlitz fürchterlich, wird dafür von ihrem Vater in ein Faß gesperrt, auf dem Meer ausgesetzt und kommt so ze Kriechen in daz lant (Jans, ‚Weltchronik‘, V. 26865). Im weiteren Fortgang der Geschichte fallen die Heiden statt in Spanien in Griechenland selbst ein, gibt es nur e i n e n gefälschten Brief, läßt der griechische König selbst aus Leichtgläubigkeit seine Gemahlin mitsamt ihrem angeblich teuflischen Kind in dem Faß aufs Meer hinausschicken und nach Aufklärung des Betrugs seine Mutter lebendig einmauern. Sowohl er als auch der Russenkönig pilgern nach Rom und beichten beim Papst, der sie mit der unschuldig Verstoßenen wieder glücklich vereint. Das geht teilweise mit ‚La Manekine‘, teilweise mit MuB näher zusammen, teilweise aber auch ganz eigene Wege. Als Quelle für MuB fällt daher auch Jans aus. Daß die Vorlage ein frz. Roman gewesen sein muß, läßt sich aber durch den Nachweis realer territorialgeschichtlicher Bezüge in MuB im hohen Maße wahrscheinlich machen (Knapp 1976). Nicht nur im frz., sondern auch im deutschen Sprachraum, ja in ganz Europa bekannt müssen in der zweiten Hälfte des 13. Jh. zwar Spanien als das Land der Reconquista und Rom als Mittelpunkt des Römischen Reiches gewesen sein. Es verwundert somit ebensowenig, wenn auch noch das östliche Mittelmeer ins Blickfeld rückt. Der Hauptheld des Romans herrscht wie bei Jans in Griechenland. Völlig außergewöhnlich und überraschend ist es dagegen, wenn dieses Land in unserem Gedicht in der Form der realen territorialen Aufsplitterung in die lateinisch-fränkischen Fürstentümer des 13. Jahrhunderts erscheint: Maienland ist das Fürstentum Achaia in der Landschaft Elis auf

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der Peloponnes (= Morea/Morée, MuB 2051: Murie) mit der Hauptstadt Andravida/Andreville (= Andervile, MuB 2056 u. ö.) und der Hauptfestung Chlemutsi/Clairmont (= Klaremunt, MuB 2056 u. ö.), deren zweiten französischen Namen Mate-Grifon („Bezwinge den Griechen“) unser Autor wohl als Bezeichnung einer anderen Burg Griffun/Griffon (MuB 2069 u. ö.) mißverstanden hat. In den Jahren 1220–23 ließ Fürst (princeps, prince) Gottfried I. von Villehardouin Clairmont erbauen, und unter seinem Nachfolger Gottfried II. (1229?-1246) erlebte das Fürstentum seine Blütezeit. War schon durch das Fürstengeschlecht Villehardouin die Peloponnes/Morea mit Frankreich eng verbunden, so intensivierte sich unter der Regentschaft Gottfrieds II. der Kontakt noch beträchtlich. „In Frankreich wurde damals für junge Adelige eine Art Kavalierstour nach Morea zur Mode, weil man glaubte, nirgends die Tugenden der Ritterschaft besser lernen zu können als am Hofe von Andravida im westlichen Elis, wo der Fürst residierte“ (Mayer 1965, S. 184). Dementsprechend zeichnet sich auch in MuB das Maienland als Hort höfischer Sitte und Pracht aus, und es trägt überdies ganz realistische Zügen hoher Fruchtbarkeit an Weizen, Reis, Obst, Wein, Öl-, Mandel- und Kastanienbäumen (MuB 2012–35). Nun tauchen diese Namen und territorialen Verhältnisse, soweit ich sehe, in keinen anderen episch-literarischen Werken auf, weder in französischen noch in deutschen. Auf welchen anderen Zweck konnten sie aber zielen, als die Aufmerksamkeit gerade auf den Kreuzfahrerstaat Achaia zu lenken? Wo anders als in Frankreich oder in dessen engerem Einflußbereich (wie den frz. Kreuzfahrerstaaten) konnte man mit diesen Angaben aber überhaupt etwas anfangen? Die einschlägigen Namen für griechische Örtlichkeiten erscheinen auch nur in der Form, welche ihnen die Franzosen gegeben hatten. Überall anders hätten Namen aus den Antikenromanen von Theben oder Troja denselben oder besseren Effekt erzielt. Ob nun die frz. Vorlage von MuB (MuB*) aus Morea selbst oder aus dem frz. Mutterland stammen mag, die Verwechslungen und Unstimmigkeiten in der Geographie dürften wohl erst in der dt. Übertragung hineingekommen sein. Hier werden aus einem Land und aus einer Stadt jeweils zwei gemacht, und man kann von Klaremunt in fünf Tagen nach Spanien reiten (Knapp 1976, S. 89–91). Der mhd. Autor hatte offenbar keine Ahnung, wovon er hier überhaupt sprach. Um so eher müssen wir mit einer extremen Abhängigkeit von seiner französischen Quelle rechnen. Wir dürfen also getrost aus MuB bei aller darin vollzogenen bewußten und unbewußten Umformung einen in der Grundstruktur identischen verlorenen frz. Roman MuB* etwa aus dem zweiten Viertel oder der Mitte des 13. Jh. extrapolieren. Eine frühere Datierung (s.o.) ist ausgeschlossen.

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Literarischer Gattungsrahmen und märchenhafter Kern Dem Typus nach gehört ‚Mai und Beaflor‘ zu den letztlich vom hellenistischen Roman abstammenden, auch in der mittelgriechischen Literatur beliebten Großerzählungen von der Verbindung, Trennung und unverhofften Wiedervereinigung eines jungen Paares. Deutsche Repräsentanten des Typs aus dem früheren 13. Jahrhundert sind ‚Flore und Blanscheflur‘ von Konrad Fleck (um 1220, alemannisch; f V Florisromane) und ‚Wilhelm von Orlens‘ von Rudolf von Ems (1235/43; f Einleitung, Kap. 0.2). Beide gehen nicht zufällig auch direkt auf frz. Vorlagen zurück, ebenso Konrads von Würzburg Roman ‚Partonopier und Meliur‘ (s.o.; f V Partonopeusromane), nämlich auf ‚Floire et Blancheflor‘ (um 1150/60), ‚Jehan et Blonde‘ (verfaßt von Philippe de Remy nicht lange vor der mhd. Bearbeitung) und ‚Partonopeu de Blois‘ (spätes 12. Jh., vielleicht vor 1188). Mit der gattungsmäßigen Einordnung in die mittelalterliche Literatur hat man sich hier schwer getan. Man hat u.a. „erbaulichen Abenteuerroman“ (De Boor, LG III/1 [41973], S. 101) oder „erbaulichen Liebesroman“ vorgeschlagen (Kasten 1993, S. 4). Im Falle von MuB scheinen mir die konkrete historisch-geographische Einbettung und das religiös-legendenhaft Wunderbare eine so wichtige Rolle zu spielen, daß ich von einem historisch-mirakulösen Versroman sprechen möchte (Knapp, LG II/1, S. 332). Daß jene Einbettung so recht gelungen sei, kann man freilich nicht behaupten. Man möchte auch hier vermuten, daß der mhd. Autor einiges verunklärt habe. Beweisbar ist das nicht, und so müssen wir auf eine Differenzierung zwischen MuB und MuB* weitgehend verzichten. Daß der Autor historia im mittelalterlichen Sinne bieten will, steht außer Frage. Es kann gar keine Rede davon sein, daß er bewußt „eine fiktive Welt aufbaut“ (so Fechter 1985, Sp. 1164). Unser Autor scheint an die christliche Spätantike zu denken. Senatoren gab es zwar in Rom nicht nur bis zum Ende des 6. Jahrhunderts, sondern auch wiederum ab 1143/44. Doch die translatio imperii zu den Franken bzw. Deutschen hat noch nicht stattgefunden. Rom ist die kaiserliche Residenz und das Zentrum des Reichs. Man spricht dort Griechisch und Latein, freilich auch schon Heidnisch, die Sprache der Sarazenen in Marsiljis (= Marseille?), Nordspanien (?) und im Orient (Baldac = Bagdad), und Französisch, offenbar die höfische Modesprache, in der sich Mai und Beaflor unterhalten (MuB 2240) und auch ihr Sohn in Rom unterrichtet wird, sofern hier wälisch (7777) soviel wie franzois bedeutet. Sie war tatsächlich die Herrensprache in den fränkischen Fürstentümern Griechenlands nach 1204. Was zum Römischen Reich außer Ita-

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lien gehört, bleibt unklar; Griechenland sowie Kastilien, wo Mais Oheim als König herrscht, offenbar nicht. Mittelalterlich ist auch die Vorstellung vom Wahlkönigtum im Reich (erst eine Zugabe in MuB?). König Teljon war mit rechter wal an das riche komen (MuB 120) und wird erst viel später Kaiser genannt, ohne daß seine Krönung erwähnt würde. So zeigen sich allenthalben Brüche zwischen dem historisierenden und modernen Kolorit. Ähnliches gilt für die Örtlichkeiten der Handlung. Während die räumlichen Verhältnisse auf der Peloponnes (s.o.) und in der Gegend von Rom einigermaßen korrekt aus der Sicht des 13. Jahrhunderts wiedergegeben werden, bleibt das Gesamtbild ganz verschwommen. Daß das führerlose Schiff entweder um Sizilien herum oder durch die Meerenge von Messina nach Griechenland getrieben werden mußte, mag als Wunder ganz leicht durchgehen; daß der Bote jedoch auf dem Landweg von Griechenland nach Spanien reitet und nach fünf Tagen auf halbem (?) Wege seinem Landesherrn begegnet (MuB 5313–17), zeugt von völliger Unwissenheit, und zwar hier vermutlich erst des deutschen Autors, der die ganze Heidenkampfepisode aus literarischen Reminiszenzen (v.a. Wolfram von Eschenbach) selbst zusammengebaut haben dürfte. Der reale Hintergrund der christlichen Reconquista schimmert zwar durch. Eine bestimmte Phase der Eroberungen, wie die König Ferdinands III., des Heiligen, von Kastilien (1217–1252) (so Fechter 1985, Sp. 1164), läßt sich aber nicht wiedererkennen. Aus MuB* stammen dagegen vermutlich die Rolle des römischen Papsttums und auch die dagegen laut werdenden kritischen Untertöne. Bei Jans wird der Papst zu Anfang bestochen. Auch in MuB gilt er als bestechlich (8000–05). Das ist die im Hochmittelalter geläufige Romschelte, welche gegen die antiken Päpste nicht erhoben wird. Wirklich aufgehoben wird dadurch die Situierung in der Spätantike wohl nicht, so daß MuB*/MuB eine ähnliche Zwischenstellung zwischen dem Antikenroman und dem Liebesroman mit ‚modernem‘ Zeitkolorit einnimmt wie der ‚Partonopeu de Blois‘, der allerdings auch noch die griechisch-trojanische Vorgeschichte der merowingischen Frankenkönige voranstellt. Deren wichtigster, Chlodwig (Clovis) I. († 511), ist ja der Onkel des Haupthelden Partonopeu. Auch hier wird aber kaum ein soziokultureller Unterschied zwischen der Welt des 5. und der des 12. Jh. erkennbar. So ist der (namentlich nicht genannte) Vater der Hauptheldin Melior höchstens durch seine Feindschaft mit den Persern als spätantiker Kaiser von Byzanz/ Konstantinopel gekennzeichnet. Das Kernmotiv des Romans ist allerdings keineswegs zeitgebunden: Dem Helden wird – erfolglos – das tabuhafte Verbot auferlegt, seine zauberhafte Geliebte, die sich ihm im Finstern immer wieder hingibt, zu sehen. Hier liegt wohl ein Feenmärchen zugrunde

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(f V Partonopeusromane), welches jedoch in dem frz. Roman dadurch in die Realität überführt wird, daß Melior die weiße Magie erlernt hat. In unserem Text wird dieselbe Überführung durch die Verchristlichung des Wunderbaren erreicht (s.u.). Am Anfang aber stand wohl ein Märchen. Dessen erstes Motiv, das abgewiesene inzestuöse Begehren des Vaters, kennen wir auch aus Perraults ‚Peau d’âne‘ oder Grimms ‚Allerleihrauh‘. Die märchenhafte Sublimierung des Sexuellen durch das der verstorbenen Gattin gegebene Versprechen ist in ‚La Manekine‘ noch bewahrt, nicht mehr in MuB. Im antiken Roman von ‚Apollonius von Tyrus‘ hat der königliche Vater die blutschänderische Verbindung sogar schon vollzogen und wehrt alle Freier grausam ab. Nur als Ausgangslage gebraucht wird das Inzestmotiv im Märchen vom ‚Mädchen ohne Hände‘ (AaTh 706). Hier erscheint das Verstümmelungsmotiv kombiniert mit dem ebenfalls überaus verbreiteten Motiv von der unschuldig verstoßenen Frau, das auch in den Legenden von Crescentia oder Genoveva verarbeitet wird. Auch diese Kombination ist in ‚La Manekine‘ besser bewahrt als in MuB, auch wenn die Selbstverstümmelung gegenüber der Fremdverstümmelung vielleicht schon sekundär ist. Der Königssohn, der liebend den Makel der Verstoßenen oder Flüchtenden mißachtet, ist allen Fassungen gemeinsam, den meisten auch die böse Schwiegermutter, wiederum ein typischer Märchenzug. „Die Heldin wird also ein zweites Mal verfolgt und verstoßen. Das ist keine zufällige Verdoppelung […]. Beim ersten Mal geht es um das Freikämpfen von der Vaterbindung, beim zweiten Mal um das Durchstehen der bedrohlichen Mutterbindung ihres Mannes. […] Aber wer unbeirrt den Weg zu sich selbst geht, dem wird Hilfe zuteil. Und die Liebenden finden schließlich endgültig zueinander“ (Scherf 1982, S. 264). Wenn es der Märchenforschung aufgefallen ist, „wieviel christlich fromme, ja frömmlerische Elemente in die Grimmsche Fassung [des Märchens] eingedrungen sind“ (ebd., S. 261), so läßt sich diese Tendenz bis in die literarischen Fassungen des 13. Jh. zurückverfolgen, nicht erst in MuB, sondern schon in die älteste von Philippe de Remy, der nicht nur das ganze Zeitgerüst der Erzählung nach kirchlichen Festen ausrichtet, sondern dem kirchlichen Bußsakrament eine ganz zentrale Rolle einräumt. Man wird daher gut daran tun, der naheliegenden Versuchung, diese Romane des 13. Jh. in erster Linie nach dem Märchenschema und dann auch noch psychoanalytisch zu deuten (wie Buschinger 1995, S. 260), nicht zu erliegen, sondern das Christlich-Erbauliche in den Vordergrund zu stellen. Das Märchenhafte, das sich in der mündlichen Tradition da und dort bis neuere Zeit erhalten hat, ist diesen Romanen schon gründlich ausgetrieben.

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Das fast durchgehende Fehlen von Personennamen in ‚La Manekine‘ könnte grundsätzlich ein Rest der Märchengestalt sein. Doch die zahlreichen, meist ganz konkreten Ortsnamen im Text sind eindeutige Gegenbeweise. Dieser Befund erinnert vielmehr an die Sammlungen lat. Exempel im 13. Jh., wo überwiegend ein quidam, ein quidam miles, quidam rex oder dergleichen in einer realen, geographisch genau bezeichneten Welt agiert. Vermutlich stammt dies aus der biblischen Parabel, die eine real mögliche, aber nicht historisch bezeugte Begebenheit erzählt. In MuB ist dagegen eine historische Begebenheit anvisiert, auch wenn brauchbare Zeitangaben fehlen und die Personennamen z.T. Rätsel aufgeben. In ‚La Manekine‘ trägt die Titelheldin den Mitakteuren gegenüber meist den im Titel genannten Decknamen, und fast wirkt auch ihr richtiger Name Joïe als solcher. Er bedeutet „die freudig Begrüßte“ oder „die Fröhliche“ (TL IV [1960], Sp. 17421–745). Die englische Wiedergabe mit Joy in der zweisprachigen Ausgabe von Sargent-Baur ist daher ein wenig irreführend, obwohl sie eine noch direktere Brücke zum Namen des Titelhelden von MuB, Mai, mhd. Meie, afrz. Mai, bilden könnte, der natürlich auch sprechend ist: ‚(Zeit der) Wonne‘. Der Blütenmonat korrespondiert zudem mit dem Namen der Heldin, Beaflor. Die übrigen Namen Sabie, Teljon, Benigna, Roboal, Eliacha, Korneljus, E(u)ffreide gemahnen v.a. an den frz. Antikenroman, sind aber offenbar teilweise verballhornt: Sabie < Sabine, Teljon < Delon(?) oder Delios(?), Roboal < Rodoal. E(u)ffreide dürfte der übliche frz. Männername Gef(f)rei, Jef(f)roi, Geuf(f)roi etc. sein. Eliacha klingt hebräisch, läßt sich nicht erklären, stört aber den frz. Gesamteindruck kaum. ‚Mai und Beaflor‘: ein europäischer Liebesroman? Der Verlust von MuB* in der Überlieferung verbietet selbstverständlich den in diesem Handbuch gängigen Vergleich von Vorlage und Bearbeitung. Eine ansatzweise Interpretation des Textes soll gleichwohl versucht werden (nach Knapp, LG II/1, S. 336–341, teilweise wörtlich), wobei die möglichen Veränderungen durch den Bearbeiter zum Großteil offen bleiben müssen. Ein Liebesroman? Gewiß. Es scheint aber nicht ausgemacht, ob das Liebesmodell von Verbindung, Trennung und unverhoffter Wiedervereinigung den gedanklichen Aufbau des Romans wirklich eindeutig beherrscht (so Mertens 1994; skeptisch Kasten 1993, S. 18). Vielmehr bringt dieser eine Weltanschauung zum Ausdruck, welche die Idealität der weltlichen Adelsherrschaft durch Integration kirchlicher Gebote und Fröm-

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migkeitsnormen zu legitimieren sucht. Der Weltflucht wird ebenso eine Absage erteilt wie jeder eigenständigen antikirchlichen Laienmoral, wie sie etwa im vermutlich gleichen Kulturraum Ulrich von Liechtenstein propagiert hatte (vgl. dazu Knapp, LG I, S. 492 u. 589). In der sittlichen Haltung Beaflors kommt der Versuch des Ausgleichs religiöser und profaner Ansprüche fast einem geistigen Drahtseilakt gleich. Die Jungfräulichkeit ist ein überaus hohes Gut. Um sie gegen den Inzest zu schützen, billigt Gott sogar den Bruch oder die Fälschung eines Eides (MuB 1000–06), der sonst als absolut heilig gilt (9171–77). Gegen alle psychologische Wahrscheinlichkeit zeigt sich Beaflor auch nach der gerade noch abgewendeten Vergewaltigung durch ihren Vater bei der Werbung Graf Mais als erotisch völlig naiv. Sie weiß gar nicht, was Minne ist, verheißt gleichwohl dem Werbenden, der seinerseits auch niht wibe noch gephlegen hat (2552), die Gewährung des Beilagers, sofern er ez mit eren suchet (2606). Sie denkt an das Wort des Apostels Paulus, daß eine Jungfrau ohne Sünde einen Mann lieben dürfe, sofern es mit rehte, in der legitimen Ehe, geschehe (MuB 2627–32 nach I Cor 17,28), und gibt ihr Jawort, womit nach Kirchenrecht die Ehe schon rechtsgültig geschlossen wäre (vgl. Kasten 1993). Nach weltlichem Recht geschieht dies erst durch das Beilager. Eine adelige Feudalehe ist das Ergebnis dynastischer, politischer und ökonomischer Erwägungen zur Sicherung der Erbfolge. Der von der Kirche geforderte Konsens der Eheleute, wie er hier zwischen Mai und Beaflor ausdrücklich zustande kommt (MuB 2639–45), ist dafür ohne Belang. Mai dagegen setzt seine persönlichen Wünsche gegenüber Beaflor mit Bitten, gegenüber seiner Mutter mit Gewalt durch. Den Vasallen droht er mit Thronverzicht. Noch mehr beeindruckt sie aber Beaflors Gottesliebe. Daß diese für das Mädchen sogar Vorrang vor jeder irdischen Minne hat, weiß auch Mai (2936–46). Sie legt vollkommene christliche Demut, Armuts- und Leidensbereitschaft an den Tag – ganz im Sinne der damals in Deutschland auf dem Höhepunkt befindlichen religiösen Frauenbewegung –, hält sich eines Fürsten für unwürdig, fügt sich dann aber doch den Bitten des Grafen und seiner Vasallen. Der Widerstreit der beiden Formen der Minne wiederholt sich in der Hochzeitsnacht. Auf Beaflors Wunsch beten die Brautleute wie einst Tobias und Sara um Gottes Schutz vor den Nachstellungen des Teufels (Tb 8,4ff.), ehe sie zu Bett gehen. Auch Mai vermag sogar rechte Andacht aufzubringen, da er die Beaflors sieht. Dann aber trägt er sie mit den Worten des gewetes (=gebetes) ist nu genuc (MuB 3665) zum Lager, ohne daß sie widerspräche und auf den drei biblischen Tobiasnächten der Keuschheit bestünde, welche einst Parzival bei Wolfram von Eschenbach eingehalten hatte. Vielmehr überwindet sie wie ihr ebenfalls noch unberührter Bräu-

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tigam die Scham, und sie werden beide vreudenrich (3682) und erleben die ganze Nacht die suzzicheit der minne (3699). Mai ist zudem sehr erleichtert, daß er die Jungfräulichkeit seiner Ehefrau von unbekannter Herkunft unverletzt findet (3689–98), wiederum gewiß nicht aus dynastischen Überlegungen, sondern aus der Sicht des alleinbesitzenden Mannes in der christlichen Ehe. Deren Werte treten jetzt auch für Beaflor ganz an die Stelle des Jungfräulichkeitsideals. Sie ordnet sich nun – ganz im Sinne des Epheserbriefes 5,21ff. – ihrem Manne unter wie dem Herrn Jesus Christus, dies bis zur völligen Selbstentäußerung, gleich ihrer späteren ungleich berühmteren Leidensgenossin Griseldis, und hört dabei nie auf, dem Gatten mit Seele und Leib anzugehören. Auch in der Zeit der grausamen Trennung läßt sie keinen Zweifel daran, daz enzundet was ir gier [„Liebesbegehren“] und ouch alle ir sinne (MuB 7709f.). Ein Erzählerkommentar preist die bleibende Einheit der beiden als Sieg der wahren Minne, die dort nicht herrschen könne, wo jemand sein Herz auf viele aufteilen will (7713–7725). Das ist die Ausschließlichkeit der Zweierbeziehung, wie sie von den Geboten der höfischen Hohen Minne ebenso gefordert wird wie von denen der christlichen Ehe, die hier aber bewußt gegeneinander ausgespielt werden. Mertens hatte gemeint, „daß die Liebe die allem anderen übergeordnete Macht ist. Nicht nur die genealogischen Bedenken, auch die religiösen Verhaltensmuster müssen ihr gegenüber zurücktreten“ (Mertens 1994, S. 400). Das trifft aber nur auf das vorrangige Prinzip der Herrschaftslegitimität zu, das tatsächlich hier nicht mehr gilt. Von den religiösen Verhaltensmustern wird jedoch nur das klerikale in die Schranken gewiesen und ihm die christliche Ehe als zumindest gleichberechtigt an die Seite gestellt. Die wirksamste religiöse Überhöhung erfährt das dargestellte weltliche Geschehen jedoch durch das – in ‚La Manekine‘ ebenso manifeste – vielfache wunderbare Eingreifen Gottes zugunsten seiner ‚Magd‘ Beaflor. Gott rettet sie vor ihrem Vater (MuB 1073–75) und vor dem Selbstmord (1100), lenkt ihr Schiff nach Griechenland (1703) und wieder zurück nach Rom (6057; 7187–98) und bringt ihr auch übers Meer, wenngleich auf Umwegen, ihren Gatten zurück (8151; 8176–86). Mehr als einmal wird das außerordentlich Mirakulöse, das auz genommen wunder (MuB 1963), das Jesus Christus wirkt, da ihm nichts unmöglich ist, hervorgehoben und ausführlich über den Zusammenhang zwischen dem andächtigen Bittgebet und Gottes Hilfe und Barmherzigkeit reflektiert. Im Falle des Grafen Mai ist es die Barmherzigkeit mit einem Sünder, der an der Treue seiner geliebten Gattin gezweifelt, seine Mutter im Affekt erschlagen und beinahe sogar Selbstmord begangen hat, dafür aber zu schwerer Buße bereit gewesen ist. Schon daß keiner der auffällig häufigen Suizidversuche zum Erfolg

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führt, muß wohl als Zeichen göttlicher Milde gewertet werden angesichts des Horrors, den der mittelalterliche Christ vor der Sünde, die nicht mehr vergeben werden kann, empfand (Knapp 1979, S. 193–197). Nur Beaflor gelangt freilich schon im Gebet zur Einsicht der Verwerflichkeit des Selbstmords, denn sie ist ein engel suzzes wip (MuB 7749). Die Selbstmordversuche sind zugleich nur die letzte Konsequenz eines ständig ausbrechenden Gefühlsüberschwangs, der dem pro forma immer noch hochgehaltenen Ideal der mâze zuwiderläuft. Gewiß fallen auch in den klassischen Erzählwerken Männer und Frauen für unseren modernen Geschmack auffallend oft vor Schmerz in Ohnmacht, brechen in endlose Klagen und Klagegebärden aus, rufen den Tod herbei und sind kaum von ihrer Umgebung zu beruhigen. Aber in solcher Häufung sind sie wohl doch Symptome einer Spätzeit. Um die Frage zu beantworten, ob sie erst den dt. Text auszeichnen, können wir wiederum nur ‚La Manekine‘ zum Vergleich heranziehen. Hier geht wohl nur das endlose Lamento des Gatten nach der Entdeckung des Verlusts seiner Gattin über ‚klassisches‘ Maß hinaus. Er quält sich, heult, fällt mehrfach in Ohnmacht und klagt fast 60 Verse lang (Philippe de Remy, ‚La Manekine‘, V. 4253–4365). Doch der Exzeß bleibt die Ausnahme und geht auch nicht bis zum Selbstmordversuch. MuB* könnte trotzdem sentimentaler gewesen sein als ‚La Manekine‘. Eher fassen wir hier aber doch eine Eigenart von MuB. Sie paßt recht gut zum permanenten Hang zur Repetition sowohl auf der Makrowie der Mikroebene des Textes. Auf dieser Ebene zeigt er sich in der stilistischen Bevorzugung der (meist alliterierenden) Zwillingsformel, des Parallelismus und der Wortwiederholung. Da unser Anonymus dabei sehr häufig sein Sprachgut von den deutschen Klassikern borgt, muß das naturgemäß typisch deutsch anmuten, da auch keine über die mhd. Klassik hinausgehenden Französismen auffallen. Auch inhaltlich sind etliche Entlehnungen aus den klassischen deutschen Werken unübersehbar. Etwa der Exkurs über Gottes Erbarmen mit dem reuigen Sünder (MuB 8189–8217) gemahnt an Hartmanns ‚Gregorius‘ und Wolframs ‚Parzival‘. Vor allem ist der ganze Sarazenenkrieg in Spanien dem ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach nachgestaltet, ohne daß die von Wolfram damit verbundene religiöse und menschliche Problematik auch nur angedeutet würde. Aber er rundet das Bild des idealen rex iustus et pacificus ab mit der buchstäblichen Erfüllung der kirchlichen Forderung nach höchster Rechtfertigung des Kriegerhandwerkes in der echten militia Christi. Zugleich hält unser Autor – nicht anders als Philippe de Remy (vgl. u.a. die große Festbeschreibung in ‚La Manekine‘, V. 2153– 2369) – an der ‚alten Herrlichkeit‘ weltlich-adeligen Lebens fest. Schöne

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Edelfrauen gehören für ihn zur höfischen Geselligkeit wie Prachtentfaltung, köstliche Speisen und Getränke, Tanz, Musik und ritterliche Kampfspiele. Ritterschaft im Turnier und im Krieg, selbst im primär religiös motivierten Heidenkampf, soll auch Minnedienst sein, wie es schon Wolfram von Eschenbach gefordert hat. Ob der Aufbau des Romans schon in MuB* in der gleichen Weise proportioniert war, wissen wir nicht. Auf den Prolog von 84 Versen folgen die Exposition von 401 Versen, dann Teil I (Beaflor und ihr Vater) mit 1467 V., Teil II (Beaflor bei Mai in Griechenland) mit 1911 V., Teil III (Krieg in Spanien) mit 1205 V., Teil IV (Intrige, Flucht und Aufklärung) mit 2086 V., schließlich Teil V (Wiedervereinigung) mit 2484 V. Schlägt man die Exposition zu Teil I, so wären I, II und IV ungefähr gleich lang, der kürzere Kriegsabschnitt hätte mit einem gewissen Recht einen Sonderstatus. Dem Teil V wollte der Erzähler offenbar unbedingt ein Achtergewicht verleihen. Einigen Wert legt er auch auf motivliche, geographische und personelle Responsionen (Buschinger 1995, S. 265f.). So ist etwa der Ausgangsund Endpunkt der Handlung der gleiche, nämlich Rom. Das können wir aber ebensowenig auf das Konto des deutschen Autors buchen wie gewisse soziokulturell interessante Züge des Texts, welche Volker Honemann (2003, S. 166–169) hervorgehoben hat: die Bedeutung der schriftlichen Kommunikation, der unteren Bevölkerungsschichten und des Geldes in dem Roman. Umgekehrt könnten solche Ungereimtheiten, wie die zwei Namen von Mais und Beaflors Sohn, der Schoifloris getauft wird, später aber nur noch Lois heißt, oder das blinde Motiv des Plans, den abgedankten Kaiser wieder froh zu machen (MuB 9526–35), auch schon in MuB* gestanden haben, müssen es aber nicht. Im großen und ganzen versteht der Dichter von MuB sein Handwerk. Kunstlos ist sein Stil keineswegs und andererseits auch nicht manieristisch übersteigert. Es fehlt auch nicht an einigen neuen Variationen, Bildern, Vergleichen, Reimen, kleinen Genreszenen und realistischen Einzelzügen, welche das von Routine beherrschte Gesamtbild beleben. Er wird wohl am ehesten ein fahrender Berufsdichter gewesen sein, der ein bißchen dazu neigt, seine Kunst durch retardierende Elemente auszukosten. Mit den meisten anderen dt. Romanautoren des späteren 13. und des 14. Jh. kann er es ohne weiteres aufnehmen. Die höchst bemerkenswerte mentalitätsgeschichtliche Position verdankt sein Roman aber höchstwahrscheinlich in erster Linie seiner Vorlage, einem frommen Minneroman aus Frankreich, den wie andere auch die Germanistik der Romanistik ‚zurückgeben‘ kann. [Manuskriptabschluß (Teil C, Kap. 4): Oktober 2007]

Literaturverzeichnis

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Literaturverzeichnis Kurzbibliographien: Fechter 1985, Sp. 1166; Düwel 1999, Sp. 55 (s.u. unter Forschungsliteratur).

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[Jans von Wien] Jansen Enikel, Werke. Weltchronik, Fürstenbuch, hg. v. Philipp Strauch (MGH DC 3), Hannover 1891–1900 [Nachdr. München 2001]. Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur, hg. v. Wolfgang Golther, in: ‚Tristan und Isolde‘ und ‚Flore und Blanscheflur‘, hg. v. W. Golther, Bd. II, Stuttgart 1888 [Nachdr. Tokio 1974]. Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur, hg. v. Karl Bartsch, Wien 1871 [Nachdr. Berlin 1970]. [‚Mai und Beaflor‘] Mai und Beaflor, hg., übers. u. komm. v. Albrecht Classen, Frankfurt a. M. u.a. 2006. (Zit.) Mai und Beaflor, hg. v. Franz Pfeiffer (?)/A. J. Vollmer (?), Leipzig 1848 [Nachdr. Hildesheim 1974]. Rudolf von Ems, Willehalm von Orlens, hg. v. Victor Junk (DTM 2), Berlin 1905 [Nachdr. Zürich 1967]. [Ulrich von Liechtenstein, ‚Frauendienst‘] Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst, hg. v. Reinhold Bechstein, 2 Bde., Leipzig 1888. (Zit.) Ulrich von Liechtenstein, Das Frauenbuch. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übers. u. komm. v. Christopher Young (RUB 18290), Stuttgart 2003.

2) Forschungsliteratur Brunner 1985: Horst Brunner, Konrad von Würzburg, in: VL V (1985), Sp. 272–304. Buschinger 1995: Danielle Buschinger, Skizzen zu ‚Mai und Beaflor‘, in: Alfred Ebenbauer (Hg.), Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark, Bern u.a. 1988, S. 31–48; wieder in: D. Buschinger, Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters, Greifswald 1995, S. 258–271. Düwel 1999: Klaus Düwel, Mai und Beaflor, in: EM 9 (1999), Sp. 53–55. Fechter 1985: Werner Fechter, ‚Mai und Beaflor‘, in: VL V (1985), Sp. 1163–1166. Frenzel 1998: Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur, Stuttgart 91998. Honemann 2003: Volker Honemann, ‚Mai und Bêaflôr‘. On Meaning and Importance, in: William J. Jones (Hg.), Vir ingenio mirandus, Fs. John L. Flood, 2 Bde. (GAG 710), Göppingen 2003, S. 155–171. Kasten 1993: Ingrid Kasten, Ehekonsens und Liebesheirat in ‚Mai und Beaflor‘, in: OGSt 22 (1993), S. 1–20. Knapp 1976: Fritz Peter Knapp, Das Bild Griechenlands in der Verserzählung ‚Mai und Beaflor‘, in: PBB (Tüb.) 98 (1976), S. 83–92. Knapp 1979: Fritz Peter Knapp, Der Selbstmord in der abendländischen Epik des Hochmittelalters, Heidelberg 1979. Köhler-Zülch 1996: Ines Köhler-Zülch, Mädchen ohne Hände (AaTh 706), in: EM 8 (1996), Sp. 1375–1387. Mayer 1965: Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge, Stuttgart 1965.

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5 ‚Die gute Frau‘ von Fritz Peter Knapp Abfassung und Überlieferung des Textes – ‚Die gute Frau‘ und verwandte französische Texte des 12. Jahrhunderts – Historische Bezüge der Handlung – Ein deutscher erbaulicher Abenteuerroman

Abfassung und Überlieferung des Textes Der kurze deutsche Versroman ‚Die gute Frau‘ (GF) – wir bleiben mit Janota (De Boor, LG III/1 [51997], S. 92) trotz des Umfanges von nur 3058 Versen bei dieser Gattungsbezeichnung, obwohl Verserzählung oder Versnovelle vielleicht passender wäre – ist nur in einer schwäbischen Handschrift von ca. 1480 erhalten (Wien, cod. 2795), dürfte aber in (nieder)alemannischer Schreibsprache in der Nachfolge der klassischen Autoren, insbesondere Hartmanns, aber auch Wolframs und Gottfrieds, entstanden sein. Wenn dem anonymen Autor der ‚Gute Gerhard‘ von Rudolf von Ems bekannt gewesen sein sollte, wofür wenig spricht (s.u.), ergäbe sich ein Terminus post quem von ca. 1220. Die übliche Festlegung auf ca. 1230/40 hängt von der Identifizierung des Markgrafen ab, der, wie der Dichter sagt, ihn gebeten habe, daz ich diu mære rihte / ze tiutschem getihte (GF, V. 13f., vgl. auch V. 3052). Die vorausgehende Quellenfiktion spricht von einem Buch, welches einst im Auftrag von König Karle (= Karl der Große) geschrieben worden sei und in Arle (=Arles) liege. der ditze buoch las, / der was von Munferrân / des margrâven cappelân: / der seit im diu mære […] (GF 6–9). Das ist mehrdeutig. Schon der Name ist konjiziert, überliefert dagegen Núnfferran. Die frz. Namen der Erzählung sind aber vielfach, und zwar oft schon vom Autor, arg entstellt worden. Die Forschung hat überwiegend die Herkunftsbezeichnung Montferrant dem Kapellan zugeteilt, wodurch die räumliche Zuordnung des Markgrafen unbestimmt bleibt. Es könnte sich dann um den niederalemannischen Markgrafen Hermann V. von Baden († 1243) handeln, was zu reichen Spekulationen über die Verortung des Textes in real-, kultur- und frömmigkeitsgeschichtlichen Zu-

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sammenhängen Anlaß gab (besonders bei Aker 1983). Bumke (1979, S. 254) hat zwar eingewendet, das grammatische Verständnis weise viel eher auf die Verbindung des genannten Namens mit dem Markgrafen und folglich auf den mit den Staufern verbundenen italienischen Markgrafen von Montferrat, dessen Kapellan das Buch gelesen und auch auf Deutsch bearbeitet habe, damit aber wenig Anklang gefunden. Beweisbar ist keine der angebotenen Auslegungen, schon deshalb nicht, weil die Sprache des Textes (alemannisch mit rheinfränkischen Einschlägen nach Zwierzina 1900/01) weder eine Datierung auf die Zeit nach 1250 ausschließen noch etwas über den Mäzen aussagen muß. Wenn der Erzähler im Epilog die Schwaben und Franken auffordert, für die karolingische Herrschaft und Rechtsordnung des Landes, dâ wir hie inne sint (GF 3034), dankbar zu sein, schränkt er allerdings das Zielpublikum der Erzählung eindeutig und klar ein. Sicher ist auch, daß die angebliche Quelle als ein frz. Buch vorgestellt und darin eine frz. Geschichte erzählt wird. Vom Helden heißt es an späterer Stelle, er habe solchen Minnedienst geleistet, daz man in wälscher zungen / sô wol gelobeten jungen / in allen enden niender vant (GF 1281–83), d.h. nirgendwo im gesamten frz. Sprachgebiet. Was liegt also näher, als diu mære rihten ze tiutschem getihte (GF 13f.: „die Erzählung zu einem deutschen Gedicht herrichten“) als eine Übertragung aus dem Französischen zu verstehen. Wenn aber das Buch für Karl den Großen offenkundig fiktiv ist, so kann es auch diese Aussage sein. ‚Die gute Frau‘ und verwandte französische Texte des 12. Jahrhunderts Was wir besitzen, sind einige frz. Texte, die inhaltlich mit der ‚Guten Frau‘ mehr oder minder starke Übereinstimmungen aufweisen. Keiner davon bietet aber alle entscheidenden Grundzüge der Handlung, welche in der folgenden knappen Inhaltsangabe enthalten sind: In Frankreich wird dem Grafen Rupert/Ruprecht von Barria eine liebliche Tochter geboren, seinem engen Freund und Vasallen ein Sohn. Die Kinder wachsen gemeinsam auf und hängen in Kinderminne aneinander. Nach dem Tode des Grafenpaares ist der Vasall der Beschützer des Mädchens, stirbt aber auch bald. Das Mädchen selbst übernimmt die Herrschaft und wird so die Herrin ihres früheren Spielkameraden. Dieser liebt sie heiß, wagt es aber nicht, um sie zu werben, ohne Rittertaten in der Fremde vollführt zu haben. Sie will ihn in ihrer Nähe behalten, obwohl sie unverheiratet bleiben möchte, muß ihm schließlich aber Urlaub gewähren, damit er dem Grafen von Poitouwe gegen den König von Hispanje und den Herzog von Britanje beistehen kann (GF 21–551).

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Er bewährt sich im Kampf und kann sogar den Herzog gefangennehmen, so daß die Invasoren ihre Ziele aufgeben müssen. Zum Dank bietet ihm der Graf die Hand seiner Tochter an, erfolglos natürlich. Da trifft die Nachricht ein, seine Herrin, diu guote vrouwe, wie sie im Volke heißt, werde von einem abgewiesenen Freier, dem Grafen Wido von Averne, mit Krieg heimgesucht. Er kehrt heim, besiegt Wido am Fluß Aller, verletzt sich aber leicht, so daß sein Finger verkrüppelt bleibt. Mehr als bloßen Dank erntet er aber nicht, bis die Minne doch auch die gute Dame ergreift und sie sich auf Rat der Vasallen mit dem Verliebten ehelich verbindet. Sie leben glücklich zusammen (552–1476). Dem Gatten gibt eines Tages der Anblick von Blinden und Lahmen den Gedanken an die Vergänglichkeit der Welt ein, und seine Frau stimmt sogleich dem Verzicht auf das Wohlleben zu. Sie ziehen in ärmlichen Kleidern als Bettler in die Welt, bis sie zwei Kinder (keine Zwillinge, wie in allen Handbüchern zu lesen) gebiert und mit sich tragen muß. Das erschöpft sie so, daß sie nicht mehr weiterwandern kann. Auf ihren Wunsch verkauft ihr Mann sie als Leibeigene an eine Kaufmannsfrau (1477–1780). Der Mann zieht mit dem Kaufpreis in der Börse und den Kindern weiter, wird der Kinder aber beraubt, da der Strom der Seine ihn beim Versuch, die Kinder hinüberzubringen, mitreißt. Er sucht die Kinder vergebens, da sie vom Bischof von Riems und vom Grafen von Urliens aufgelesen und mitgenommen worden sind. Er schläft unter einem Baum vor Kummer ein. Ein Adler raubt ihm den Geldbeutel und läßt diesen bei der guten Dame niederfallen. Diese hat sich inzwischen von ihrer Schwäche erholt und durch ihre Handarbeit großes Ansehen erworben. Graf Tiebalt von Bleis wird auf sie aufmerksam, kauft sie der Kaufmannsfrau ab, wird aber von Gott gehindert, mit ihr zu schlafen. Dennoch heiratet er sie, nachdem er ihre Geschichte erfahren hat, stirbt jedoch bald und hinterläßt ihr die Grafschaft (1781–2166). Zu dieser Zeit hat den König von Frankreich seine aragonesische Frau um des Königs von Portigal willen verlassen, und er wirbt durch den Abt von Sant Denise um die Gräfin von Bleis. Da sie von einer göttlichen Stimme des himmlischen Lohnes versichert wird, willigt sie in die Ehe ein, die der König jedoch nicht zu vollziehen vermag, diesmal eines Zauberers aus Tolet wegen, der, von der Aragonesin ins Land gebracht, den König impotent gemacht hat. Auch er lebt glücklich und keusch mit der guten Frau, stirbt aber auch ein Jahr später (2167–2556). Die zwölf Paladine beschließen eine neue Heirat der Königin. Diese lädt nach Ablauf des Trauerjahres die Armen aus ihrem Reich nach Sant Denise ein und erkennt dort unter den Bettlern auch ihren Ehemann an dem krummen Finger. Der Ehemann wird in seine alten Rechte eingesetzt, und auch die verloren geglaubten Kinder werden von einem Grafen herbeigebracht. Alle sind glücklich vereint. Jetzt erst wird vom Erzähler verraten, daß der Ehemann Karelman, die Frau nur La bone dame, die Kinder Karle und Pippin der cleine geheißen haben (2557–3048).

Die ausführlichsten Quellenstudien finden sich in den englischsprachigen Dissertationen von Feder (1964) und Mackinder-Savage (1978). Wenn wir die spätmittelalterlichen stoffverwandten Texte beiseite lassen, so kommen zum Vergleich ‚Guillaume d’Angleterre‘ von Chrétien (de Troyes?) (GA), ‚L’escoufle‘ von Jean Renart (?) und ‚Amadas et Ydoine‘ (AY) in Frage. GA kann nach Feder (1964, S. 17) etwa so auf das Handlungsgerüst reduziert werden:

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Um Gottes willen gibt ein Königspaar Macht und Reichtum auf und geht heimlich in die Fremde. Die Königin gebiert in der Wildnis Zwillingssöhne. Sie wird von diesen und dem Gatten getrennt und bald darauf auch dieser von jenen. Dem König wird auch die Geldbörse, die man ihm aus Mitleid gegeben hat, von einem Adler geraubt, so daß er völlig mittellos ist, die Königin jedoch von einem Landesherrn aufgenommen. Sie heiratet ihn, natürlich inkognito, unter der Bedingung eines Aufschubs des sexuellen Vollzugs um ein Jahr und beerbt ihn, als er innerhalb dieses Jahres stirbt. Durch Zufall kommt der König auf seiner Wanderung an denselben Ort. Ebendort wird das Paar auch mit den verloren geglaubten Söhnen, die von Fremden aufgezogen worden waren, wieder vereint.

Doch dann gibt auch Feder (1964) zu, daß dieses Gerüst in GA völlig anders gefüllt ist als in der ‚Guten Frau‘. Die Eheleute sind königlichen Standes. Ihr Ausbruch aus der Herrschaft erfolgt auf göttlichen Befehl. Schiffsleute rauben die (von der Geburt geschwächte) Königin. Der Verlust der Kinder wird durch einen Wolf ausgelöst, auch wenn ihm die Beute entrissen wird. Der König tritt in die Dienste eines Kaufmanns und kommt auf einer seiner weiten Handelsreisen in die Nähe seiner Frau. Die Söhne leben als königliche Jäger im Nachbarland ihrer Mutter, wo der Vater sie findet. Als Wiedererkennungszeichen dienen Rockschöße, welche sich der König einst abgeschnitten hatte, um die Säuglinge darin einzuwickeln. Die drei Geschichten von Mann, Frau und Kindern erhalten etwa gleiches Gewicht in der Erzählung. Im Gegensatz zu GF spielt in GA das Meer eine große Rolle. Vor allem fehlt in GA jede Entsprechung des ersten Teils von GF. Aber selbst im zweiten Teil geht die Übereinstimmung kaum über das hinaus, was gewiß schon in der gemeinsamen ‚Urfabel‘ gegeben war, nämlich die durch unglückliche Umstände herbeigeführte Trennung eines Mannes, der zuvor freiwillig oder unfreiwillig seiner gehobenen sozialen Stellung verlustig gegangen ist, von seiner Familie und die glückliche Wiedervereinigung. Aus Anregungen durch den antiken Roman gespeist, findet sich der Typus (AaTh 938; vgl. Fischer 2002) erstmals voll ausgebildet in der Eustachius/Placidas-Legende aus dem 8. Jh. Die weiteste Verbreitung fand sie wohl durch ihre Aufnahme in die ‚Legenda Aurea‘ (Nr. 157) aus dem späteren 13. Jh. und in die ‚Gesta Romanorum‘ (Nr. 110) von ca. 1300. Ein wichtiger Zug der ‚Urfabel‘, der Raub der Kinder an einem Fluß (1) durch wilde Tiere (2), hat sich, was (1) betrifft, in GF, was dagegen (2) betrifft, in GA erhalten, in beiden dagegen die wunderbare Unberührtheit der geraubten Ehefrau. Nicht der ‚Urfabel‘ angehört haben gewiß die typischen Legendenmerkmale der Bekehrung des Eustachius/Placidas zum Christentum und das am Ende ‚aufgesetzte‘ Martyrium.

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Weder aus der ‚Urfabel‘ noch aus der Legende, sondern direkt oder indirekt aus der Geschichte von Wilhelm von England hat Rudolf von Ems das Motiv der Trennung und Wiedervereinigung eines hochadeligen Paares in seinem ‚Guten Gerhard‘ (um 1220) bezogen, denn der Verlobte der norwegischen Prinzessin Erene, welche ihn durch einen Schiffbruch aus den Augen verloren hat, heißt hier Willehalm von Engellant. Er langt völlig zerlumpt und traurig in Köln an, wo Erene den Sohn des guten Gerhard aus Dankbarkeit heiraten soll, sich dafür aber eine Bedenkzeit von einem Jahr ausbedungen hat. Das Paar wird nach dem großzügigen Verzicht des guten Gerhard getraut. Daraus auf einen Rekurs des GF-Dichters auf den ‚Guten Gerhard‘ zu schließen (Feder 1964, S. 101–108), besteht kaum Anlaß, da die anderen möglichen Gemeinsamkeiten nicht Rudolfs unverwechselbare Handschrift tragen. Alles kann schon in der frz. Quelle von GF gestanden haben. Eine spätere Zutat erst der mittelalterlich-höfischen Fassung zur ‚Urfabel‘ ist gewiß der in GA und GF übereinstimmend berichtete Raub einer (in beiden Erzählungen roten) Geldbörse durch einen Adler. Da ebenfalls bei einer Jagd nach einem Vogel, der eine Börse (hier mit einem Ring) geraubt hat, im Roman ‚L’escoufle‘ (‚Die Gabelweihe‘ von 1200/1202) das Liebespaar, das schon seit Kindesbeinen in Liebe verbunden und einander auch zur Ehe versprochen ist, getrennt wird, hat Feder (1964, S. 44–56) auch diesen Text als Quelle ins Spiel gebracht. Doch die übrigen Anknüpfungspunkte sind sehr schwach. Das Motiv der Kinderminne findet sich in zahlreichen anderen mittelalterlichen Erzählungen, so auch in ‚Amadas et Ydoine‘ (AY, ca. 1190/1220), das nach Feder (1964, S. 57–65) die Hauptquelle für den ersten Teil von GF gewesen sein könnte. Amadas, Sohn des Seneschalls des Herzogs von Burgund, liebt dessen Tochter Ydoine bis zum Wahnsinn. Sie erwidert seine Gefühle erst, als er scheinbar tot vor ihr zusammenbricht. Wieder genesen, sucht er ritterlichen Ruhm, findet die Geliebte jedoch bei der Rückkehr in erzwungener Ehe mit dem Grafen von Nevers, wird wirklich verrückt und eingesperrt, kann jedoch entkommen. Ydoine bleibt durch Zauberkünste in der Ehe unberührt, trifft mit dem Geliebten zusammen und heilt ihn, wird jedoch bald darauf selbst von einer seltsamen Krankheit befallen und stirbt, jedoch ebenfalls nur scheinbar, so daß einer glücklichen Vereinigung, nachdem der Gatte auf sie verzichtet hat, nichts mehr im Wege steht.

Die entscheidenden Berührungspunkte sind der Standesunterschied der Liebenden, die daher noch notwendige ritterliche Bewährung des Werbenden und die nicht konsumierte erzwungene Ehe (die wohl aus dem ‚Cligès‘ von Chrétien de Troyes stammt). Vor allem die Widersprüche in GF – die Kinder lieben einander, dann verweigert das Mädchen die Ehe, schließlich

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verliebt sie sich doch richtig in den Werbenden (GF 1292–96) – bringen Feder (1964, S. 61) auf den Gedanken, in GF könnte der ungeschickte Versuch vorliegen, die Motive der Kinderminne und des Standesunterschiedes zu verbinden. Auch wenn Feder es nicht versäumt, bei allen Details Fragezeichen anzufügen, hält er es insgesamt für erwiesen, daß die ‚Gute Frau‘ eine deutsche Originaldichtung nach mehreren frz. Quellen, keine Bearbeitung einer einzigen frz. Vorlage ist. Auch Mackinder-Savage (1978 u. 1981) schließt sich dem an. Dann könnte auch der in GF, V. 3020 genannte frz. ‚Name‘ der Königin la bone dame nicht der Titel der verlorenen Vorlage gewesen sein, wie die ältere Forschung gemeint hat. Historische Bezüge der Handlung Der Übername diu guote vrouwe einer sonst namenlosen Dame paßt allerdings so gar nicht zu der allem Anschein nach nachträglich vorgenommenen, weil einzig in Prolog und Epilog vorhandenen Einpassung der ganzen Geschichte in die karolingische Genealogie, wo eine bon(n)e dame sonst nirgends vorkommt. Dem Gatten wird hier plötzlich der Name Karelman aufgedrückt, die Kinder heißen nun Karle und Pippin (und zwar Pippin der cleine, weil die arme Mutter ihn nicht genügend versorgen konnte und er so zurückblieb). Pippin habe das Land der Schwaben und Franken erobert, Karle, der größere Bruder, ihm eine Rechtsordnung gegeben. Zudem sei dieser König von Arle geworden. Diese letzten Angaben über Karl den Großen entsprechen der deutschen chronikalischen Überlieferung (‚Kaiserchronik‘, V. 14757 u. 14883; Der Stricker, ‚Karl der Große‘, V. 1270 u. 1352). Die genealogischen Angaben weichen davon allerdings beträchtlich ab (auch die folgende, die hl. Gertrud sei eine Tochter Karls gewesen). Es werden in der dt. Literatur jedoch schon im ‚König Rother‘ (um 1160/70), dann in Konrad Flecks ‚Flore und Blanscheflur‘ (um 1220) die jeweiligen chronikalisch nicht nachweisbaren Titelhelden zu Vorfahren der Karolinger gemacht, hier über die mütterliche, dort über die väterliche Linie. Da Flore und Blanscheflur auch das Schicksal eines in Kinderminne verbundenen, dann grausam getrennten Paares erleiden, möchte man GF gerne hier anschließen. Das funktioniert jedoch nicht, denn Flore und Blanscheflur sind angeblich die Eltern von Berhte (Berta = Bertrada), der Mutter Karls des Großen, und an deren Stelle steht in GF just la bone dame, die Tochter Ruperts von Barria. Pippin III., Bertradas Gatte, und Karlmann, sein Sohn, sind zudem in GF gegenüber der Realität vertauscht.

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Auf keinen Fall vermag diese Ansippung die GF zu einem ‚Karlsgedicht‘ zu machen, wie Feder (1964, S. 155–165) meint. Die Invasion des Herzogs von Britanje und des Königs von Hispanje in Poitouwe hat gewiß nichts mit der Abwehr der Sarazenen bei Tours und Poitiers 732 zu tun, denn von solchen ist in GF nirgends die Rede. Bei den 12 Pairs de France (GF 2557–68) muß Feder (1964, S. 162–164) selbst zugeben, daß eine Anregung durch die zeitgenössische französische Realität nicht auszuschließen ist. Dieses Kollegium aus sechs weltlichen und sechs geistlichen Fürsten am Hofe des Königs bestand spätestens seit ca. 1200. Ursprung und Zusammenhang mit den fiktiven 12 Paladinen Karls des Großen sind umstritten (Lalou 1993). Wenn Feder trotzdem eher an einen Anschluß an den Stricker (‚Karl‘, V. 509) glaubt, so muß daran erinnert werden, daß sich die betreffenden Verse in GF nicht im ‚karolingischen‘ Epilog finden, sondern sich auf den Hof des Königs von Frankreich beziehen, welchen der Hauptheld, der erst im nachhinein Karlmann und Vater Karls des Großen genannt wird, als Gatte der verwitweten Königin beerbt. Nun macht Aker (1983, S. 161f.) darauf aufmerksam, daß diese Königin in GF zuvor Gräfin von Bleis (= Blois) gewesen ist und daß in der realen Historie König Ludwig VII. Adela aus dem Hause der Grafen von BloisChampagne, das sich auf die Karolinger zurückführen wollte, zu seiner (dritten) Frau nahm. Daß damit aber weit weniger eine Assoziation mit dem 8. Jh. als mit dem 12. Jh. geknüpft wird, scheint auch Aker klar zu sein. Es ist nach den Pairs schon die zweite. Dazu bemerkt Aker (1983, S. 162) ganz richtig: „Die Macht der zwölf Barone, die entgegen der historischen Wirklichkeit das Recht haben, den König abzusetzen, hätte sicher dem Wunschdenken der großen französischen Kronvasallen entsprochen, die sich seit dem 12. Jh. einer erstarkten Zentralgewalt gegenüber sahen.“

Auf ein zeitgenössisches Publikum zielt gewiß auch die „Fülle von französischen Ortsnamen, welche Landeskenntnis verraten“ (De Boor, LG III/1 [51997], S. 92). Aker schwankt, ob sie schon in einer frz. Geschichte von der bonne dame standen oder erst in GF hinzukamen. Dabei behauptet sie doch (Aker 1983, S. 159f.): „Alle Länder, Städte, Flüsse sind auf einer Karte Frankreichs auffindbar. Die genannten Könige, Herzöge und geistlichen Würdenträger führen Titel, die der historischen Wirklichkeit Frankreichs entnommen sind (König von Frankreich/Portugal/Spanien, Herzog der Bretagne, Graf von Poitou/Auvergne/Gascogne/Provence, Abt von St. Denis, Bischof von Reims usw.). Sogar bis in die Wahl der Eigennamen hinein erstreckt sich der Zugriff auf die historische Realität. So war etwa tatsächlich der Name Theobald über Generationen hinweg bei den Grafen von Blois und Champagne, der Name Guido bei denen von Auvergne in Gebrauch.“

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Was sollten deutsche Hörer oder Leser aber mit diesen Informationen in GF anfangen? Was Aker davon aufzählt, mochten sie vielleicht auch im Ausland kennen. Doch es gibt ja noch weit mehr und wesentlich unbekanntere Namen. Sie sind denn auch im deutschen Text meist verballhornt, so daß die Behauptung, sie seien alle „auf einer Karte Frankreichs auffindbar“, reichlich kühn anmutet. Wo nicht eine Reimsilbe betroffen ist, könnten Verschreibungen im Manuskript vorliegen. Aber auch unser Dichter verdient schwerlich viel Vertrauen. So begegnet für Denise in GF, V. 2233 u. 2628 nise, 2660 nisten. Doch Zweifel an der Identifikation besteht hier ebensowenig wie beim Fluß Aller (GF 1080: Allier in der Auvergne), bei Gason (1110: Gascogne), Riems: Urliens (1807f.: Reims, Orléans) und Treis: Bleis (1979f.: Troyes, Blois). Daß der dt. Autor hier eine normannisch-westfrz. ei-Form benützt, verdient allerdings Beachtung. Für Barria (26 u. 2077) ist Bar-le-Duc oder Bar-sur-Seine vorgeschlagen worden. Doch für das Land des Grafen Rupert/Robert paßt der andere Vorschlag, Berry (der Auvergne benachbart), doch wesentlich besser. Für Murlan (1109 u. 1175) nennt Mackinder-Savage (1978) im Kommentar zur Stelle als mögliche Entsprechung Moulins an der Allier, für Linode (651 u. 713) Limagne an der Allier. Da der Graf von Murlan jedoch die Gascogne beherrscht, wird weit eher Marsan gemeint sein. Leichter zu durchschauen ist wohl Linode, weil neben dem Stadtnamen der Landname Linodin steht (750 u. 751: ze Linodine). Das wird aus Limoges bzw. Limousin verhört worden sein. An Wahrscheinlichkeit gewinnt dies bei einem Vergleich der in GF, V. 645–654 genannten Städte, die der Graf von Poitou an den König von Spanien verloren bzw. vor seinem Zugriff bewahrt haben soll (Cawirz, Mushart, Linode, Rodel, Poitiers, Lenseni ), mit der realen Landkarte. Cahors und Moissac waren demnach nicht mehr zu halten, wohl jedoch noch Rodez im Osten, Limoges, Poitiers und Lusignan im Norden. Geht man vom angevinischen Herzogtum Aquitanien im 12. Jh. aus, so gehörten freilich Cahors und Rodez nie dazu. Gerade Cawirz ist aber ganz leicht durchschaubar, hießen doch die angeblich wucherischen Geldwechsler mhd. kawerzînen < mlat. cavercini < afrz. cahorsins nach der Stadt Cahors. Rodel und Lenseni sind wohl so arg entstellte Formen, daß die Zuordnung fraglich bleibt. Am Kernbefund läßt sich aber kaum rütteln. Der südwestfrz. Schauplatz einer Episode von GF ist für uns erkennbar, war es aber für Autor und Publikum des mhd. Werkes sicher nur ganz beschränkt. Folglich stammt er als ganzer aus einer verlorenen Vorlage *GF. Das bedeutet nicht, daß *GF insgesamt ein Schlüsselroman gewesen sei. Reale Geographie verbürgt noch kein reales Geschehen. Aber punktuelle Anspielungen sind durchaus denkbar. Hispanje und Britanje könnten

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Decknamen für ganz andere politisch-militärische Mächte sein. Gänzlich unbeweisbare Vermutungen wären aber müßig. Anders liegt die Sache bei den Ehen der bonne dame mit dem Grafen von Blois und dem König von Frankreich. Es heißt im Text, sie habe vor ihrer Ehe mit dem König ihren vorherigen Gatten Diebalt als Witwe beerbt, da nach frz. Recht auch Frauen voll erbberechtigt gewesen seien (GF 2144–56). Hier sind wohl zwei Personen fiktiv verschmolzen worden, Marie (die berühmte Gönnerin Chrétiens!), Gattin Heinrichs I. von Blois-Champagne, die ihren 1181 verstorbenen Mann beerbte und das Land während der Minderjährigkeit ihres Sohnes 1181–1187 völlig selbständig regierte, und Adela (s.o.), Tochter Tedbalds (Theobalds) IV. und Schwester Heinrichs I. von Blois-Champagne, die 1160 König Ludwig VII. heiratete. Ludwig war zuvor mit Konstanze von Kastilien und in erster Ehe mit Eleonore von Aquitanien, der Mutter Maries, verheiratet gewesen, ehe er sich 1152 von ihr trennte. Dies war wohl die spektakulärste, von zahlreichen Gerüchten um Eleonores Untreue begleitete Eheauflösung des Jahrhunderts, insbesondere, weil Eleonore zwei Monate danach Heinrich, Herzog der Normandie und Graf von Anjou, 1154 König von England, ehelichte. In GF, V. 2167–82 wird erzählt, dem König von Frankreich sei eben zur Zeit, als die bonne dame Witwe wurde, seine Frau, von Arragôn die künegin (vermutlich gemeint, wie auch sonst oft, die Königstochter), vil lasterlîche […] genomen worden und auch durch den Bann des Papstes nicht vom König von Portugal, zu dem sie gegangen war, zurückzugewinnen gewesen, da die „arme“ Christenheit sich damals nicht um den Bann kümmerte. Wie sollte ein zeitgenössisches frz. Publikum nicht sofort Aragon und Portugal als Decknamen für Aquitanien und England durchschaut haben? Die Rolle der Kirche wird allerdings im Text geradezu ins Gegenteil verkehrt. Die Annullierung der Ehe Ludwigs wurde von einer Kirchenversammlung in Beaugency vollzogen und vom Papst gebilligt (nicht dagegen dann 1196 die Verstoßung der zweiten Gattin Philipps II. August, der wirklich gebannt wurde). Daß sich die Bannung auf die Geschichte des Römischen Reichs im 13. Jh. beziehen sollte (Aker 1983, S. 150), hat wenig für sich, denn von einem Verstoß gegen die kanonischen Ehegesetze war da nie die Rede. Wenn man nun noch bedenkt, daß Eleonore zwar ihrem zweiten, nicht jedoch ihrem ersten Gatten Söhne gebären konnte, mochte eine satirisch-hyperbolische Spitze auch in der Angabe von GF, V. 2429–44 liegen, die aragonesische Königin von Frankreich habe mit Hilfe eines Schwarzkünstlers aus Toledo ihren Gatten für immer impotent gemacht. Die Anspielung könnte aber auch ein anderes Ziel gehabt haben. An der Doppelbödigkeit dieses Textes kann jedoch schwerlich auch nur der ge-

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ringste Zweifel herrschen, ebensowenig, daß sie nur in Frankreich voll verständlich und daher sinnvoll gewesen ist. Ein deutscher erbaulicher Abenteuerroman Was aber ist, abgesehen von Sprache und Stil, der Anteil des deutschen Autors an dem Text? Wir wissen es nicht. Die postulierte Hintersinnigkeit der frz. Vorlage weckt Zweifel daran, ob darin „der erbaulich-legendäre Einschlag“, den de Boor (LG III/1 [11962], S. 101) der ‚Guten Frau‘ bescheinigt, schon so ausgeprägt gewesen sein kann. Der ersten Hälfte des Textes (bis V. 1476), einem reinen Minne- und Abenteuerroman, fehlt er ohnehin auch noch in der mhd. Fassung völlig. „Nichts führt auf die Thematik des zweiten Teils hin: Demut und Weltentsagung“ (ebd., S. 102). Der Umschlag erfolgt erst durch ein Bekehrungserlebnis. Während in der Eustachius/Placidas-Legende ein innerlich schon christlicher Heide auch äußerlich bekehrt wird und sich freiwillig dem Schicksal Hiobs unterwirft, erkennt in GF ein christlicher Fürst die Eitelkeit der Welt und zieht bettelnd umher. Das entspricht der radikalsten Form der vita religiosa im Rahmen der hochmittelalterlichen Frömmigkeitsbewegung (Aker 1983, S. 61–97). Dazu hätte allerdings neben der Armut auch sexuelle Enthaltsamkeit gehört, nicht erst in der Zwangsehe, wie Aker (ebd., S. 85) zu meinen scheint, sondern schon in der legitimen Ehe. Die gute Frau ist aber nicht schon vor dem Abschied von der Welt schwanger wie in GA, sondern wird es erst danach (GF 1637f.). Die Alternative höfisch („unverbrüchliche Bewahrung getreuer Minne“) vs. legendär („Schutz weiblicher Keuschheit durch Gott“) wird so auch von Helmut de Boor nicht ganz richtig aufgestellt. Es handelt sich vielmehr um ein Sowohl-als-auch. Und das Bettlerleben ist auch nur Durchgangsstation. „Rückkehr in die Welt also und nicht Weltflucht ist letztes Ziel“ (De Boor, LG III/1 [11962], S. 103). Es besteht auch kaum Anlaß, das mirakulöse Element in GF hoch zu veranschlagen. Das läßt sich im Vergleich nicht nur mit der Eustachius/ Placidas-Legende zeigen, sondern auch mit der ebenfalls erbaulichen und durchaus stoffverwandten Erzählung von f ‚Mai und Beaflor‘ (Teil C, Kap. 4), wo Gott weit öfter direkt und sichtbar ins Geschehen eingreift. In GF tut er es eindeutig nur einmal, nämlich in der Hochzeitsnacht mit dem Grafen von Bleis/Blois, der sie nicht zu berühren wagt, weil ein „Kämmerer“ sie behütet (GF 2019–28):

‚Die gute Frau‘ ir huote ein kamerære dem niht ze vil wære, ob er der helle abgründe und der erde volmünde (Hs.: pflumunde) ûf in die lüfte hüebe und die selben grüebe dem lufte mahte gelîch: daz enwær im niht umügelîch. dem bevalch si ir getriuwer man, do er ir durch hungers nôt entran.

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„Ein Kämmerer beschützte sie, dem es nicht zu viel wäre, den Abgrund der Hölle und das Fundament der Erde in die Luft zu heben und dieselben Gruben der Luft gleich zu machen. Das wäre ihm nicht unmöglich. Ihm hatte ihr treuer Mann sie anbefohlen, als er sie wegen der Hungersnot verließ.“

Das ist natürlich eine metaphorische Antonomasie für Gott, keine „fantastic creature“, über die Mackinder-Savage (1978, S. 36f.) rätselt. Schon bei der zweiten unfreiwilligen Ehe braucht Gott aber nicht mehr einzugreifen, denn die bereits oben erwähnte Zauberkunst hat dem König die Kraft geraubt, einer Frau sexuell beizuwohnen. Die gute Frau freilich meint, daz si got der guote / von schanden behuote (GF 2493f.). In einem weiteren Sinne ist das natürlich richtig, ein Wunder im engeren Sinne liegt hier aber nicht vor, ebensowenig wie bei der Wiedervereinigung mit Mann und Kindern. Am ehesten könnte man noch bei der Geldbörse von einem Wunder sprechen, da sie der Adler, von einem anderen Vogel bedrängt, just über der guten Frau fallen läßt und Gott sie so tröstet, wie es in GF, V. 1916 heißt. Aber solche oder ähnliche außergewöhnlichen und unerwarteten Ereignisse werden schon im paganen antiken Roman von Fortuna oder vom Fatum bewirkt. An deren Stelle ist hier natürlich Gottes Allmacht getreten. Und religiös geprägt ist der zweite Teil der Erzählung allemal. Den Zauberkünstler von Toledo hat unser Autor aus dem ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach entnommen. Die Stelle stimmt teilweise bis in den Wortlaut hinein mit der Beschreibung des Meisters Kyot (‚Parzival‘ 453,11–17) überein (der natürlich niemand seine sexuelle Potenz raubt). Anderes dürfte aus Hartmann Werken und aus dem ‚Tristrant‘ Eilharts von Oberg (kaum dagegen aus dem ‚Guten Gerhard‘ Rudolfs von Ems) stammen. Hier fassen wir also Zutaten des deutschen Dichters. Um seine gesamte Eigenleistung wirklich einzuschätzen, reicht das natürlich nicht. Zuzuschreiben ist ihm gewiß der ‚karolingische‘ historische Rahmen, dies aber gerade deshalb, weil er so gar nicht zur erzählten Geschichte passen will. Wenn man ‚Mai und Beaflor‘ als historisch-mirakulösen Roman bezeichnen kann, so ist die ‚Gute Frau‘ höchstens mäßig mirakulös und auch historisch nur durch den Rahmen, der erst in der Bearbeitung hinzugekommen ist. *GF hat, soweit sich vermuten läßt, zwar zeitgeschichtliche Anspielungen enthalten, diese aber bewußt in eine rein fiktive Handlung eingehüllt.

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Damit steht aber eben auch der religiöse und erbauliche Charakter des frz. Romans möglicherweise in Frage. Janota teilt de Boors Ansicht, in GF werde eine „höfische Lösung des bedrängenden Problems, Gott und der Welt zu gefallen“ anvisiert (De Boor, LG III/1 [11962], S. 103). Er sieht die Gestaltung aber im Einklang mit „der Suche nach einer tragfähigen Lebenskonzeption für ein adeliges Publikum. Die schmucklose, ja schlichte Darstellungsweise mag die Ernsthaftigkeit dieser Suche unterstreichen“ (De Boor, LG III/1 [51997], S. 94). Kein „ziemlich trockener mündlicher Sachbericht des französischen Kaplans“ und keine eigene „Armut an erzählerischer Begabung“ (De Boor, LG III/1 [11962], S. 103) wären dann dafür verantwortlich. Die zahlreichen Unklarheiten, Widersprüche und Lücken der Handlungslogik, die hier nicht vorgeführt werden können, zeigen allerdings tatsächlich ein „etwas armselige[s] Werk“ (Heinzle, LG II/2, S. 116). Schuld daran trug aber vielleicht ein für die erbaulichen Absichten des dt. Bearbeiters ungeeigneter frz. Text, dessen Verlust wir nur bedauern können. [Manuskriptabschluß (Teil C, Kap. 5): Ende 2007]

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Literaturverzeichnis

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‚Die gute Frau‘

Schröder 1908: Edward Schröder, Der Dichter der ‚Guten Frau‘, in: Prager deutsche Studien 8 (1908), S. 339–352. Wunderle 1989: Elisabeth Wunderle, ‚Die gute Frau‘, in: LL IV (1989), S. 433f. Zwierzina 1900/01: Konrad Zwierzina, Mittelhochdeutsche Studien, in: ZfdA 44 (1900), S. 1–116, 249–316 u. 345–406; ZfdA 45 (1901), S. 19–100, 253–313 u. 317–419.

Abkürzungsverzeichnis

465

Abkürzungsverzeichnis (Allgemeine Bibliographie „Germania Litteraria Mediaevalis Francigena“) AASS AaTh AaThU

ABäG Abb. ABBCL Abs. AfdA AfK afrz. Afrz. Gramm. ags. AH ahd. AHDL AJPh AK alem. ALMA AM an. anfrk. Anm. Annales ESC AnR

Acta Sanctorum, begr. v. Jean Bolland, Antwerpen u.a. 1643ff. Antti Aarne, The Types of the Folktale. Verzeichnis der Märchentypen, übers. u. erw. v. Stith Thompson (FFC 184), Helsinki 21961 [11928]: Märchentyp (+ Nr.) Hans-Jörg Uther, The Types of International Folktales. A Classification and Bibliography, Based on the System of Antti Aarne and Stith Thompson, 3 Bde. (FFC 284–286), Helsinki 2004: Märchentyp (+ Nr.) Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik, Amsterdam 1972ff. Abbildung Académie Royale de Belgique. Bulletin de la Classe des lettres et des sciences morales et politiques, Brüssel 1919ff. Abschnitt Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Berlin 1876–1944, Stuttgart 1948/50–1989 (Supplement zur ZfdA) Archiv für Kulturgeschichte, Berlin u.a. 1903ff. altfranzösisch Hans Rheinfelder, Altfranzösische Grammatik, 2 Bde.; I: Lautlehre, München 51976; II: Formenlehre, München 21976 angelsächsisch Analecta hymnica medii aevi, 55 Bde., Leipzig 1886–1922 [Neudr. New York/London 1961] althochdeutsch Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen-âge, Paris 1926ff. The American Journal of Philology, Baltimore 1880ff. Archiv für Kulturgeschichte, Köln/Weimar/Wien 1903ff. alemannisch Archivum latinitatis medii aevi. Bulletin Du Cange, Brüssel 1924ff. Annales du midi, Toulouse 1889ff. altnordisch altniederfränkisch Anmerkung Annales. Économies, sociétés, civilisations, Paris 1946ff. Analecta romanica. Beihefte zu den Romanischen Forschungen, Frankfurt a. M. 1955ff.

466 ANT AQ APF AR arab. Arbitrium Art. as. ASNS AT ATB Aufl. Ausg(g). bair. BAR BBIAS BBSR Bd., Bde. bearb. begr. Berlin, mgf (mgq, mgo) Bertau, LG bes. Bezzola BGP BHL Bibl. (-bibl.) BIMILI Bl(l). BMZ

Abkürzungsverzeichnis Anglo-Norman Texts, Oxford 1939ff. Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, Darmstadt 1956ff. Les anciens poètes de la France, hg. v. François Guessard, Paris 1858–1870 Archivum romanicum, Florenz 1917–1941 arabisch Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft, Tübingen 1983ff. Artikel altsächsisch Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, Braunschweig u.a. 1846ff. Altes Testament Altdeutsche Textbibliothek, begr. v. Hermann Paul, Halle a. d. S. 1882–1939 u. 1952–1955, Tübingen 1955ff. (Ergänzungsreihe 1963ff.) Auflage Ausgabe(n) bairisch Biblioteca dell’Archivum romanicum, Florenz 1921ff. Bibliographical Bulletin of the International Arthurian Society / Bulletin bibliographique de la Société internationale arthurienne, Paris 1949ff. Bulletin bibliographique de la Société Rencesvals, Lüttich 1958ff. Band, Bände bearbeitet begründet Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. (Ms. germ. qu., Ms. germ. oct.) Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, 2 Bde.; I: 800–1197, München 1972; II: 1195–1220, München 1973. besorgt Reto R. Bezzola, Les origines et la formation de la littérature courtoise en Occident (500–1200), 3 Teile in 5 Bde., Paris 1958–1963 Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, Münster 1891ff. Bibliotheca hagiographica latina, Brüssel 1898–1901, Supplementbd. 21911 Bibliothek (-bibliothek) Bibliothek mittelniederländischer Literatur, Münster 2005ff. Blatt (Blätter) Georg F. Benecke, Wilhelm Müller u. Friedrich Zarncke, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, 3 Bde., Leipzig 1854–1866 [Nachdr. Stuttgart 1990]

Abkürzungsverzeichnis De Boor, LG

De Boor, LG III/2 (Glier) De Boor, Texte BPM Brunner, LG Bumke Bumke/Cramer/ Kartschoke, LG

CB CCCM CCM CCSL CFMA CISR CN cod(d). CSEL CUERMA Curtius DA

467

Helmut de Boor u. Richard Newald (Hgg.), Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart; I: Helmut de Boor, Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung. 770–1170, München 11949, bearb. v. Herbert Kolb, München 91979; II: ders., Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang. 1170–1250, München 11953, bearb. v. Ursula Henning, München 111991; III/1: ders., Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn. 1250–1350, München 11962, bearb. v. Johannes Janota, München 51997 Helmut de Boor u. Richard Newald (Hgg.), Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart; III/2: Ingeborg Glier (Hg.), Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Reimpaargedichte, Drama, Prosa. 1250–1370, München 1987 Walther Killy (Hg.), Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse; I: Helmut de Boor (Hg.), Mittelalter, 2 Teilbde., München 1965 Bulletin de philosophie médiévale, Turnhout 1964ff. Horst Brunner, Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick (RUB 9485), Stuttgart 1997. Joachim Bumke, Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter. Ein Überblick, Heidelberg 1967 Joachim Bumke, Thomas Cramer u. Dieter Kartschoke, Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter, 3 Bde., München 1990; I: D. Kartschoke, Deutsche Literatur im frühen Mittelalter, München 32000; II: J. Bumke, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, München 52004; III: Th. Cramer, Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter, München 32000 Carmina Burana, hg. v. Alfons Hilka u. Otto Schumann; I/1–3: Text, Heidelberg 1930–1970; II/1: Kommentar, Heidelberg 1930. Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis, Turnhout 1966ff. Cahiers de civilisation médiévale, Poitiers 1958ff. Corpus Christianorum. Series Latina, Turnhout 1953ff. Classiques français du moyen-âge, Paris 1910ff. Congrès international de la Société Rencesvals (+ Jahr) Cultura neolatina. Rivista di filologia romanza, Modena 1941ff. codex (codices) Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum (Academiae Vindobonensis), Wien 1866ff. Centre Universitaire d’Études et de Recherches Médiévales d’Aix Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen 111993 [11948] Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters (1937–1944: für Geschichte des Mittelalters, Weimar), Marburg/Köln 1951ff.

468 DEAF DEAF, Bibl. ders., dies. Diss. Diss. Abstr. DLFMA DLZ DMA DNP Donaueschingen, cod. DPhA -dr. dt. DTM DU durchges. DVjs DWB ebd. EG Ehrismann, LG EM engl. Eppelsheimer erw. Euphorion

Abkürzungsverzeichnis Dictionnaire étymologique de l’ancien français, begr. v. Kurt Baldinger, bearb. u. hg. v. Frankwalt Möhren, bisher 4 Bde., Tübingen 1995ff. Dictionnaire étymologique de l’ancien français. Complément bibliographique 2007, bearb. u. hg. v. Frankwalt Möhren, Tübingen 2007 derselbe, dieselbe Dissertation Dissertation Abstracts. A Guide to Dissertations and Monographs Available in Microfilm, Ann Arbor/London 1938ff. Dictionnaire des lettres françaises, hg. v. Cardinal Georges Grente; I: Le Moyen Âge, hg. v. Robert Bossuat, 2. Aufl. bearb. v. Geneviève Hasenohr u. Michel Zink, Paris 1992 [11964] Deutsche Literaturzeitung für Kritik der Internationalen Wissenschaft (bis 1920: Deutsche Literaturzeitung), Berlin 1880– 1993 Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Berlin 1996ff. Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. v. Hubert Cancik, 16 Bde., bisher 7 Supplementbde., Stuttgart 1996ff. Donaueschingen, Fürstlich Fürstenbergische Hofbibliothek, cod. (+ Nr.) Deutsche Philologie im Aufriß, hg. v. Wolfgang Stammler, 3 Bde. (+ Registerbd.), Berlin u.a. 21957–1962 [11952–1957] -druck deutsch Deutsche Texte des Mittelalters, Berlin 1904ff. Der Deutschunterricht, Seelze 1947ff. durchgesehen Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Stuttgart/Weimar 1923ff. Deutsches Wörterbuch, begr. v. Jacob u. Wilhelm Grimm, 16 Bde. (in 32 Teilbde.), Leipzig 1854–1960 ebenda Études germaniques, Lyon/Paris 1946ff. Gustav Ehrismann, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters, 4 Bde., München 1918–1935 Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, begr. v. Kurt Ranke, hg. v. Rolf Wilhelm Brednich, bisher 13 Bde., Berlin 1977ff. englisch Bibliographie der deutschen (Sprach- und) Literaturwissenschaft, begr. v. Hanns W. Eppelsheimer, hg. v. Clemens Köttelwesch u.a., Frankfurt a. M. 1957ff. erweitert Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte (1934–1944: Dichtung und Volkstum), Heidelberg 1894ff.

Abkürzungsverzeichnis

469

europ. expl.

europäisch explicit

f., ff. Fabula

folgende Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung, Berlin/New York 1958 ff. Französisches etymologisches Wörterbuch, begr. v. Walther von Wartburg, Basel u.a. 11928–2003, 21983ff. Folklore Fellows Communications, Helsinki 1910ff. floruit Louis-Fernand Flutre, Table des noms propres avec toutes leurs variantes figurant dans les romans du moyen âge écrits en français ou en provençal et actuellement publiés ou analysés, Poitiers 1962 Frühmittelalterliche Studien, Berlin 1967ff. Folio Fragment, fragmentarisch fränkisch frühneuhochdeutsch französisch Festschrift French Studies, Oxford 1947ff.

FEW FFC fl. Flutre

FMSt fol. Frgm., frgm. frk. frnhd. frz. Fs. FSt GAG gegr. germ. Germania Germanistik Gerritsen/Melle GLL GQ Gramm. Gramm. Buridant Gramm. Loey Gramm. Moignet griech. GRLMA GRM

Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Göppingen 1968ff. gegründet germanisch Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Altertumskunde, Wien 1856–1892 Germanistik. Internationales Referatenorgan mit bibliographischen Hinweisen, Tübingen 1960ff. Willem P. Gerritsen u. Anthony G. van Melle (Hgg.), A Dictionary of Medieval Heroes, übers. v. Tanis Guest, Woodbridge (N.Y.) 1998 [Ndl. Ausgabe Nimwegen 1993] German Life and Letters, Oxford 1936ff. (N.F. 1947ff.) The German Quarterly, Appleton (Wis.) 1928ff. Grammatik Claude Buridant, Grammaire nouvelle de l’ancien français, Paris 2000 Adolphe van Loey, Middelnederlandse spraakkunst, 2 Bde., Groningen 71976; I: Vormleer; II: Klankleer Gérard Moignet, Grammaire de l’ancien français. Morphologie, syntaxe, Paris 32002 griechisch Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, hg. v. Hans Robert Jauß u. Erich Köhler, Heidelberg 1968ff. Germanisch-romanische Monatsschrift, Heidelberg 1909ff. (N.F. 1950ff.)

470

Abkürzungsverzeichnis

H. Hälfte, Heft Handschriftencensus Handschriftencensus. Eine Bestandsaufnahme der handschriftlichen Überlieferung deutschsprachiger Texte des Mittelalters: www.handschriftencensus.de [04. 04. 2012] HDA Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. v. Hanns Bächtold-Stäubli, 10 Bde., Berlin 1927–1942 [Nachdr. Berlin 2000] Hdb. Handbuch Heidelberg, cpg Heidelberg, Universitätsbibliothek, codex palatinus germanicus (+ Nr.) Hg(g)., hg. v. Herausgeber, herausgegeben von Heinzle (Hg.), LG Joachim Heinzle (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit; I/1: Wolfgang Haubrichs, Von den Anfängen zum hohen Mittelalter. Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60), Königstein/Ts. 21995 [11988]; I/2: Gisela Vollmann-Profe, Von den Anfängen zum hohen Mittelalter. Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen Mittelalter (1050/60–1160/70), Königstein/Ts. 21994 [11986]; II/1: L. Peter Johnson, Vom hohen zum späten Mittelalter. Die höfische Literatur der Blütezeit (1160/70–1220/30), Königstein/ Ts. 1999; II/2: Joachim Heinzle, Vom hohen zum späten Mittelalter. Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/ 30–1280/90), Königstein/Ts. 21994 [11984]; III/1: Johannes Janota, Vom späten Mittelalter zum Beginn der Neuzeit. Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit (1280/90–1380/90), Königstein/Ts. 2004. Hl., hl. Heilige(r), heilig HLF Histoire littéraire de la France, begr. v. Dom Rivet, hg. v. Paulin Paris u.a., Paris 1733ff. HMS Friedrich Heinrich von der Hagen (Hg.), Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts; I–IV: Leipzig 1838 [Neudr. Aalen 1963], V–VI: Leipzig 1856 [Neudr. Aalen 1962] Hs(s). Handschrift(en) HWP Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, 13 Bde., Darmstadt 1971–2007 IASL idg. inc. it. Jb. JbIG JbOWG

Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Berlin 1976ff. indogermanisch incipit italienisch Jahrbuch Jahrbuch für internationale Germanistik, Frankfurt a. M. u. a. 1969 ff. Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft, Frankfurt a. M. u.a. 1980/81ff.

Abkürzungsverzeichnis JEGPh Jh. Kalff, LG Kap. Klapp KLD Kluge Knapp, LG

Knuvelder, LG

Komm., komm. krit. KTRMA LAGDTM Langlois lat. LB Lexer LG

471

The Journal of English and Germanic Philology, Urbana (Ill.) 1901ff. Jahrhundert Gerrit Kalff, Geschiedenis der Nederlandsche letterkunde, 7 Bde., Groningen 1906–1912; I: Standenpoëzie, Groningen 1906; II: Volkskunst, Groningen 1907 Kapitel Bibliographie der französischen Literaturwissenschaft, begr. v. Otto Klapp, hg. v. Astrid Klapp-Lehrmann, Frankfurt a. M. 1960ff. Carl von Kraus (Hg.), Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts; I: Texte; II: Kommentar, besorgt v. Hugo Kuhn; 2. Aufl. durchges. v. Gisela Kornrumpf, Tübingen 1978 [11952–1958] Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Aufl. bearb. v. Elmar Seebold, Berlin 2002 Herbert Zeman (Hg.), Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart; I: Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273, Graz 1994; II/1: ders., Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439. Die Literatur in der Zeit der frühen Habsburger bis zum Tod Albrechts II. 1358, Graz 1999; II/2: ders., Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439. Die Literatur zur Zeit der habsburgischen Herzöge von Rudolf IV. bis Albrecht V. (1358–1439), Graz 2004 Gerard P. M. Knuvelder, Handboek tot de geschiedenis der Nederlandse letterkunde, 4 Bde., ’s-Hertogenbosch 61967; I: Van de aanvang tot de vroege renaissance, ’s-Hertogenbosch 81982 [11948] Kommentar, kommentiert kritisch Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben, München 1962ff. Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, hg. v. Manfred Kern u. Alfred Ebenbauer, Berlin/New York 2003 Ernest Langlois, Table des noms propres de toute nature compris dans les chansons de geste imprimées, Paris 1904 [Nachdr. Genf 1974] lateinisch Leuvense bijdragen, Löwen 1896ff. Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Leipzig 1872–1878 [Nachdr. Stuttgart 1992] Literaturgeschichte

472 LGRPh LiLi Lit. Literaturwiss., literaturwiss. Literatuur LJb LL LL2 LMA LR LThK

MA MAev MAev PhSt MAge Manitius, LG MarR masch. md. me. Mediaevalia Mediaevistik MF

mfrk.

Abkürzungsverzeichnis Literaturblatt für germanische und romanische Philologie, Heilbronn 1880–1944 Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Stuttgart/ Weimar 1970ff. Literatur Literaturwissenschaft, literaturwissenschaftlich Literatuur. Tweemaandelijks tijdschrift over Nederlandse letterkunde, Amsterdem 1984–2004 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, (N.F.) Berlin 1960ff. Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, hg. v. Walther Killy, 14 Bde. (+ Registerbd.), Gütersloh 1988–1993 Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums, 2. Aufl. hg. v. Wilhelm Kühlmann, 12 Bde. (+ Registerbd.), Berlin/New York 2007ff. Lexikon des Mittelalters, hg. v. Robert Auty u.a., 9 Bde. (+ Registerbd.), München u.a. 1980–1999 Les lettres romanes, Löwen 1947ff. Lexikon für Theologie und Kirche, begr. v. Michael Buchberger, 3., völlig neu bearb. Aufl. hg. v. Walter Kasper, 10 Bde. (+ Registerbd.), Freiburg 1993–2001 Mittelalter(s) Medium Aevum, Oxford 1932ff. Medium Aevum. Philologische Studien, München 1963ff. Le moyen âge. Revue d’histoire et de philologie, Brüssel/Paris 1888ff. Max Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, 3 Bde. (Handbuch der Altertumswissenschaft IX/2/1–3), München 1911–1931 [Nachdr. München 1965] Marche romane, Lüttich 1951–1993 maschinenschriftlich mitteldeutsch mittelenglisch Mediaevalia. A Journal of Mediaeval Studies, Binghamton (N.Y.) 1975ff. Mediaevistik. Internationale Zeitschrift für interdisziplinäre Mittelalterforschung, Frankfurt a. M. u.a. 1988ff. Des Minnesangs Frühling, unter Benutzung der Ausgg. v. Karl Lachmann u. Moriz Haupt, Friedrich Vogt u. Carl von Kraus neu bearb. v. Hugo Moser u. Helmut Tervooren, 3 Bde., Stuttgart 361977–1981; I: Texte, 38., erneut revidierte Aufl., Stuttgart 1988; II: Editionsprinzipien, Melodien, Handschriften, Erläuterungen, Stuttgart 1977; III: Kommentare, [Nachdr.] Stuttgart 1981; III/1: Carl von Kraus, Untersuchungen, Leipzig 1939; III/2: Anmerkungen, 30. Aufl. neu bearb. v. Carl von Kraus, Zürich 1950 mittelfränkisch

Abkürzungsverzeichnis MGG MGG2 MGH MGH AA MGH DC MGH DMA MGH EE MGH HM MGH LL MGH PL MGH QG MGH Schr. MGH SRG MGH SRL MGH SRM MGH SS MGH ST mhd. Mhd. Gramm. Mhd. Wb. MIF MIGSN

Minis I Minis II MIÖG MJb mlat. Mlat. Wb. MLJ

473

Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Friedrich Blume, 14 Bde. (+ 3 Supplementbde.), Kassel u.a. 1949–1986 Die Musik in Geschichte und Gegenwart, begr. v. Friedrich Blume, 2. Ausg. hg. v. Ludwig Finscher, 2 Teile in 26 Bde., Kassel u.a. 1994ff. Monumenta Germaniae historica, Berlin u.a. 1826ff., München 1949ff. MGH Scriptores. Auctores antiquissimi, 15 Bde. MGH Scriptores. Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des MA, 6 Bde. MGH Deutsches Mittelalter. Kritische Studientexte, 4 Hefte MGH Epistolae, bisher 27 Bde. MGH Hilfsmittel, bisher 27 Bde. MGH Leges, bisher 63 Bde. MGH Antiquitates. Poetae latini medii aevi, bisher 6 Bde. MGH Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters, bisher 27 Bde. Schriften der MGH, bisher 62 Bde. MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi, 78 Bde.; N.F.: Scriptores rerum Germanicarum, bisher 25 Bde. MGH Scriptores rerum Langobardorum et Italicarum, 1 Bd. MGH Scriptores rerum Merovingicarum, 7 Bde. MGH Scriptores, bisher 39 Bde. MGH Studien und Texte, bisher 53 Bde. mittelhochdeutsch Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 25. Aufl. neu bearb. v. Thomas Klein, Tübingen 2007 Mittelhochdeutsches Wörterbuch, hg. v. Kurt Gärtner u.a., bisher 1 Bd., Stuttgart 2006ff. Stith Thompson, Motif-Index of Folk-Literature, 6 Bde., Kopenhagen 21955–1958 [11932–1936] Motif-Index of German Secular Narratives from the Beginning to 1400, hg. v. d. Österreichischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung v. Helmut Birkhan, 7 Bde., Berlin/New York 2005–2010 Cola Minis, Französisch-deutsche Literaturberührungen im Mittelalter, in: RJb 4 (1951), S. 55–123 Cola Minis, Französisch-deutsche Literaturberührungen im Mittelalter, in: RJb 7 (1955/56), S. 66–95 Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (1923–1942: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung), Innsbruck u.a. 1880ff. Mittellateinisches Jahrbuch, Stuttgart 1964ff. (Beihefte: 1968ff.) mittellateinisch Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert, hg. v. d. Bayerischen Akademie der Wissenschaften, bisher 4 Bde. (+ Registerbd.), München 1959ff. Modern Language Journal, New York 1916ff.

474

Abkürzungsverzeichnis

MLN MLQ MLR MM

Modern Language Notes, Baltimore 1886ff. Modern Language Quaterly, Seattle 1940ff. Modern Language Review, London 1905ff. Miscellanea Mediaevalia. Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln, Köln 1960ff. MMS Münstersche Mittelalter-Schriften, München 1970ff. mnd. mittelniederdeutsch mnl. mittelniederländisch Mnl. Gramm. Johannes Franck, Mittelniederländische Grammatik, Leipzig 21910 [Nachdr. Arnheim 1971] Mnl. Wb. Eelco Verwijs u. Jakob Verdam, Middernederlandsch woordenboek, 11 Bde., ’s-Gravenhage 1885–1952 Molinier Auguste Molinier, Les sources de l’histoire de France des origines aux guerres d’Italie (1494), 6 Bde., Paris 1901–1906 [Neudr. New York 1964] MPh Modern Philology, Chicago 1903ff. MPG Patrologiae cursus completus, series Graeca, hg. v. Jacques Paul Migne, 161 Bde., Paris 1857–1866. MPL Patrologiae cursus completus, series Latina, hg. v. Jacques Paul Migne, 217 Bde. (+ 4 Registerbde.), Paris 1844–1864. MR Medioevo romanzo, Rom 1974ff. ms(s). manuscrit(s), manuscript(s) MSt Mediaeval Studies, Toronto 1939ff. MTU Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. d. Kommission für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1960ff. München, cgm (clm) München, Bayerische Staatsbibliothek, codex germanicus Monacensis (codex latinus Monacensis) (+ Nr.) Museum Museum. Tijdschrift voor filologie en geschiedenis, Leiden 1893–1959 NAWG NdJb ndl. NdSt Neophilologus N.F. nfrk. nhd. NHL Niermeyer

Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.-hist. Klasse, Göttingen 1941–2006 Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung. Niederdeutsches Jahrbuch, Neumünster 1876ff. niederländisch Niederdeutsche Studien, Münster/Köln 1954ff. Neophilologus. An International Journal of Modern and Mediaeval Language and Literature, Dordrecht 1916ff. Neue Folge niederfränkisch neuhochdeutsch Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus von See, 24 Bde. (+ Registerbd.), Wiesbaden 1972–2002 Jan Frederik Niermeyer/Co van de Kieft, Mediae latinitatis lexicon minus, 2. Aufl. bearb. u. hg. v. Jan W. J. Burgers, 2 Bde., Leiden u.a. 2002

Abkürzungsverzeichnis

475

NLk NM NT NTg NTk

Nederlandse letterkunde, Assen 1996ff. Neuphilologische Mitteilungen, Helsinki 1899ff. Neues Testament De nieuwe taalgids, Groningen 1907–1995 Nederlandse taalkunde, Assen 1996ff.

obd. OFM OGSt o.J. okz. Olifant

oberdeutsch Ordo fratrum minorum – Franziskaner Oxford German Studies, London 1966ff. ohne Jahr okzitanisch Olifant. A Publication of the Société Rencesvals, AmericanCanadian Branch, Winnipeg 1973ff. Frits P. van Oostrom, Stemmen op schrift. Geschiedenis van de Nederlandse literatuur vanaf het begin tot 1300, Amsterdam 2006. Ordo fratrum praedicatorum – Dominikaner Ordo sancti Benedicti – Benediktiner österreichisch

Van Oostrom, LG OP OSB österr.

Paris, B.N. ms. fr./lat. Paris, Biblothèque nationale de France, manuscrit français/latin (+ Nr.) PBB Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, begr. v. Hermann Paul u. Wilhelm Braune, Halle a. d. S. 1874–1979, Tübingen 1955ff. PBB (Halle) PBB, Halle a. d. S. 1955–1979 PBB (Tüb.) PBB, Tübingen 1955–1979 PC Alfred Pillet, Bibliographie der Troubadours, hg. u. bearb. v. Henry Carstens, Halle a. d. S. 1933 [Nachdr. New York 1968] PhStQu Philologische Studien und Quellen, Berlin 1956ff. PMLA Publications of the Modern Language Association of America, New York 1884ff. Poetica Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, München 1967ff. PQ Philological Quarterly, Iowa City 1922ff. PRF Publications romanes et françaises (1930–1960: Société de publications romanes et françaises), Genf 1930ff. prov. provenzalisch QF Queeste R. RAC

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, Berlin u.a. 1874–1996 Queeste. Tijdschrift over middeleeuwse letterkunde in de Nederlanden, Hilversum 1994ff. G. Raynauds Bibliographie des altfranzösischen Liedes, neu bearb. und ergänzt v. Hans Spanke, Teil 1, Leiden 1955 Reallexikon für Antike und Christentum, begr. v. Franz Joseph Dölger, hg. v. Theodor Klauser u.a., bisher 24 Bde., Stuttgart 1950ff.

476 RBPh RE

Reg. REW Rez. RF RG RGA RGG rhfrk. RHLF RJb RL RLG RLLO RLR RMSt RN rom. Romania RPh RR RSM

RSt RUB RZLG

Abkürzungsverzeichnis Revue belge de philologie et d’histoire, Brüssel 1922ff. Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, begr. v. August Pauly, neue Bearbeitung hg. v. Georg Wissowa u.a., 1. Reihe 24 Bde., 2. Reihe 10 Bde., 15 Supplementbde., Stuttgart 1893–1978 Register Wilhelm Meyer-Lübke, Romanisches etymologisches Wörterbuch (SREH III/3), Heidelberg 31935 [Nachdr. Heidelberg 1992] Rezension Romanische Forschungen, Frankfurt a. M. 1883ff. Recherches germaniques, Straßburg 1971ff. Reallexikon der germanischen Altertumskunde, begr. v. Johannes Hoops, 2., völlig neu bearb. Aufl. hg. v. Heinrich Beck u.a., 35 Bde., Berlin 1973–2007 [11913–1919] Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 4., völlig neu bearb. Aufl. hg. v. Hans Dieter Betz, 8 Bde. (+ Registerbd.), Tübingen 1998–2006 rheinfränkisch Revue d’histoire littéraire de la France, Paris 1894ff. Romanistisches Jahrbuch, Hamburg 1947ff. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (Neubearbeitung des RLG), hg. v. Klaus Weimar u.a., 3 Bde., Berlin 1997–2003 Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, begr. v. Paul Merker u. Wolfgang Stammler, 2. Aufl. hg. v. Werner Kohlschmidt u.a., 4 Bde. (+ Registerbd.), Berlin 1958–1988 Revue de langue et littérature d’Oc (1960–1961: Revue de langue et littérature provençales), Avignon 1960ff. Revue des langues romanes, Montpellier 1870ff. Reading Medieval Studies, Oxford 1975ff. Romance Notes, Chapel Hill (N.C.) 1960ff. romanisch Romania. Revue (1872–1942: Recueil) trimestrielle consacrée à l’étude des langues et littératures romanes, Paris 1872ff. Romance Philology (Research Center for Romance Studies, Berkeley), Turnhout 1947ff. Romanic Review, New York 1910ff. Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, hg. v. Horst Brunner; I: Überlieferung, Tübingen 1994; II: Katalog der Töne, Tübingen 2009; III–XIII: Katalog der Texte, Tübingen 1986–1990; XIV–XVI: Register, Tübingen 1996–2002 Romanistische Studien, Berlin 1897–1941 Reclam Universal-Bibliothek, Leipzig 1867–1992 u. Stuttgart 1947ff. Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte (1994–1997: Cahiers d’histoire des littératures romanes), Heidelberg 1977ff.

Abkürzungsverzeichnis S. SATF

477

Stouten u.a. (Hgg.), LG StPh Str. StR

Seite (Publications de la) Société des anciens textes français, Paris 1875ff. Sitzungsberichte Sitzungsberichte der (Preußischen/Deutschen) Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Phil.-hist. Klasse, Berlin 1836ff. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Heidelberg 1909ff. Sitzungsberichte (1849–1960: Berichte über die Verhandlungen) der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.hist. Klasse, Berlin 1849–1960, Leipzig 1962ff. Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München, Phil.-hist. Klasse, München 1860ff. Sitzungsberichte der (Österreichischen) Akademie der Wissenschaften in Wien, Phil.-hist. Klasse, Wien 1848ff. Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache, 2 Teile; I: Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, 2 Bde., Wiesbaden 1987. Scriptorium. Revue internationale des études relatives aux manuscrits, Brüssel 1946ff. Sénéfiance [Schriftenreihe], Aix-en-Provence 1976ff. Sammlung Sammlung Metzler, Stuttgart 1961ff. Die Schweizer Minnesänger, hg. v. Karl Bartsch, Frauenfeld 1886; Die Schweizer Minnesänger, [nach der Ausg. v. Karl Bartsch] neu bearb. u. hg. v. Max Schiendorfer, Tübingen 1990 Spalte spanisch Speculum. A Journal of Medieval Studies, Cambridge (Mass.) 1926ff. Spiegel der letteren. Tijdschrift voor nederlandse literatuurgeschiedenis en voor literatuurwetenschap, Löwen 1956ff. Sammlung romanischer Elementar- und Handbücher, Heidelberg 1901ff. Sankt, Saint(e) Studi francesi, Turin 1957ff. Studi medievali, Spoleto 1904ff. Studia neophilologica, Oslo u.a. 1928ff. Peter Stotz, Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters, 5 Bde., München 1996–2004 Hanna Stouten u.a. (Hgg.), Histoire de la littérature néerlandaise. Pays-bas et Flandre, Paris 1999 Studies in Philology, Chapel Hill (N.C.) 1906ff. Strophe Studia romanica, Heidelberg 1961ff.

Tab. TCFMA

Tabelle Traductions des classiques français du Moyen Âge, Paris 1968ff.

SB SBB SBH SBL SBM SBW Schneider Scriptorium Sénéfiance Slg. SM SMS Sp. span. Speculum SpL SREH St. StF StM StN Stotz

478 Tervooren TL TLF TNTL Totok TPMA TRE TVNM

Abkürzungsverzeichnis Helmut Tervooren, Van der Masen tot op den Rijn. Ein Handbuch zur Geschichte der mittelalterlichen volkssprachlichen Literatur im Raum von Rhein und Maas, Berlin 2006 Adolf Tobler, Altfranzösisches Wörterbuch, bearb. u. hg. v. Erhard Lommatzsch, weitergeführt v. Hans Helmut Christmann, 11 Bde., Stuttgart 1925–2002 Textes littéraires français, Genf u.a. 1945ff. Tijdschrift voor Nederlandse taal- en letterkunde, Leiden 1881ff. Wilhelm Totok, Handbuch der Geschichte der Philosophie; II: Mittelalter, Frankfurt a. M. 1973 Thesaurus proverbiorum medii aevi, begr. v. Samuel Singer, hg. v. Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, 13 Bde., Berlin 1995–2002 Theologische Realenzyklopädie, hg. v. Gerhard Krause u. Gerhard Müller, 36 Bde. (+ 2 Registerbde.), Berlin 1974–2007 Tijdschrift van de (Koninklijke) Vereniging voor Nederlandse Muziekgeschiedenis, Amsterdam 1882ff.

UB Übers., übers. übertr. Überweg

Universitätsbibliothek Übersetzung, übersetzt übertragen Friedrich Überweg (Hg.), Grundriß der Geschichte der Philosophie; II/2: Die patristische und scholastische Philosophie, hg. v. Bernhard Geyer, Berlin 131956

V. Verf., verf. VGI

Vers Verfasser, verfaßt Veröffentlichungen (1958–66: Mitteilungen) des Grabman-Instituts zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie, München u.a. 1958ff. (N.F. 1967ff.) Verhandelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen te Amsterdam, Afdeeling Letterkunde, Amsterdam (N.F.) 1938ff. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, begr. v. Wolfgang Stammler, 2., völlig neu bearb. Aufl. hg. v. Kurt Ruh u. Burghart Wachinger, 10 Bde. (+ 4 Ergänzungsbde.), Berlin 1978–2008 [11933–1955] Verslagen en mededelingen der Koninklijke Vlaamsche academie voor taal- en letterkunde (ab 1972: Verslagen en mededelingen der Koninklijke Academie voor Nederlandse Taal- en Letterkunde), Gent 1887ff. Vox romanica, Basel u.a. 1936ff.

VKNAW VL

VMKVA

VR Walther

Wb.

Hans Walther, Proverbia sententiaeque Latinitatis medii aevi. Lateinische Sprichwörter und Sentenzen des Mittelalters in alphabetischer Anordnung, 5 Bde. (+ Registerbd.), Göttingen 1963–1969. Wörterbuch

Abkürzungsverzeichnis WdF Wehrli, LG Wien, cod. Te Winkel, LG

Wiss., wiss. WSt WW Z. ZfdA ZfdPh ZfG ZfrPh ZFSL Zink, LG zit.

Wege der Forschung, Darmstadt 1956ff. Max Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 31997 [11980] Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Codex Vindobonensis (+ Nr.) Jan te Winkel, De ontwikkelingsgang der Nederlandsche letterkunde, 3 Teile in 7 Bde., Haarlem 21922–1927 [Neudr. Utrecht 1973]; I: Geschiedenis der Nederlandsche letterkunde van Middeleeuwen en Rederijkerstijd, Haarlem 21922 [11908] Wissenschaft(en), wissenschaftlich Wolfram-Studien, Berlin 1970ff. Wirkendes Wort, Trier 1950ff. Zeile Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Wiesbaden u.a. 1841–1875, Stuttgart 1876ff. Zeitschrift für deutsche Philologie, Berlin 1869ff. Zeitschrift für Germanistik, Berlin u.a. 1980ff. (N.F. 1991ff.) Zeitschrift für romanische Philologie, Tübingen 1877ff. Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, Stuttgart u.a. 1889ff. Michel Zink, Littérature française du Moyen Age, Paris 22001 [11992] zitiert (bei Ausgaben: nach dieser Ausgabe wird zitiert)

(Abkürzungen biblischer Bücher nach der Vulgata) Abd Act Agg Am Apo Bar Ct Col I Cor II Cor Dn Dt Ec Eph I Esr II Esr Est Ex Ez

479

Abdias Apostelgeschichte Aggäus Amos Geheime Offenbarung (Apokalypse) Baruch Hoheslied Kolosserbrief 1. Korintherbrief 2. Korintherbrief Daniel Deuteronomium Prediger (Ecclesiastes) Epheserbrief 1. Esdras 2. Esdras (Nehemias) Esther Exodus Ezechiel

480 Gal Gn Hab Hbr Iac Idc Idt Ier Io I Io II Io III Io Iob Ioel Ion Ios Is Iud Lam Lc Lv Mal Mc I Mcc II Mcc Mi Mt Na Nm Os I Par II Par Phil Phlm Prv Ps I Pt II Pt III Rg IV Rg Rm Rt Sap Sir I Sm II Sm So Tb

Abkürzungsverzeichnis Galaterbrief Genesis Habakuk Hebräerbrief Jakobusbrief Richter Judith Jeremias Johannes-Evangelium 1. Johannesbrief 2. Johannesbrief 3. Johannesbrief Job Joel Jonas Josue Isaias Judasbrief Klagelieder Lukas-Evangelium Leviticus Malachias Markus-Evangelium 1. Makkabäer 2. Makkabäer Michäas Matthäus-Evangelium Nahum Numeri Osee 1. Chronik (Paralipomenon) 2. Chronik (Paralipomenon) Philipperbrief Philemonbrief Sprüche Psalm(en) 1. Petrusbrief 2. Petrusbrief 3. Könige 4. Könige Römerbrief Ruth Weisheit Sirach (Ecclesiasticus) 1. Samuel (1. Könige) 2. Samuel (2. Könige) Sophonias Tobias

Abkürzungsverzeichnis I Th II Th I Tim II Tim Tit Za

1. Thessalonicherbrief 2. Thessalonicherbrief 1. Timotheusbrief 2. Timotheusbrief Titusbrief Zacharias

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