Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer [1. Aufl.] 978-3-658-26230-3;978-3-658-26231-0

Grundschulforschung hat einerseits den Auftrag, grundlegende Erkenntnisse für die Grundschulpädagogik zu erbringen, und

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German Pages XII, 432 [444] Year 2019

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Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer [1. Aufl.]
 978-3-658-26230-3;978-3-658-26231-0

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Front Matter ....Pages 1-1
Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis (Cornelia Gräsel)....Pages 2-11
Diskussionspapier zum Selbstverständnis der Grundschulpädagogik als wissenschaftliche Disziplin (Margarete Götz, Susanne Miller, Wolfgang Einsiedler, Michaela Vogt)....Pages 12-21
Diskussion des Selbstverständnisses der Grundschulpädagogik als Disziplin (Susanne Miller, Sabine Martschinke, Margarete Götz, Andreas Hartinger, Diemut Kucharz, Katrin Liebers et al.)....Pages 22-33
Front Matter ....Pages 34-34
Kindheitsbilder – Welche Bilder zu sozialen, kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten von Kindern haben Studierende des Grundschullehramts? (Laura Faber, Friederike Heinzel)....Pages 35-40
„Lost in Translation“ – Zur ‚Übersetzungsarbeit‘ zwischen Theorie und Theorie von Grundschullehramtsstudierenden (Torsten Eckermann)....Pages 41-46
Verhaltensmuster von Studierenden des Lehramts für die Primarstufe (Madeleine Kerkhoff)....Pages 47-51
Professionelles Wissen von Lehramtsstudierenden zum basalen Lesen- und Schreibenlernen – ein interdisziplinäres Projekt (Petra Hanke, Johannes König, Daniela Jäger-Biela, Thorsten Pohl, Alfred Schabmann, Michael Becker-Mrotzek et al.)....Pages 52-58
Kompetenzen stärken und Reflexionen anregen – Beispiele für gelungene Maßnahmen zur Professionalisierung und Transfersicherung im Rahmen der Lehrer(innen)bildung (Anne Frey, Julia Kriesche, Madlen Protzel, Elke Döring-Seipe, Kai Nitsche)....Pages 59-70
Aufgabenbezogene Lernprozessbeobachtung als phasenübergreifendes Thema in der Grundschulbildung (Daniela Merklinger, Sandra Last)....Pages 71-80
Wie Studieren im Lernwerkstattseminar gelingt – Rekonstruktion von Lernprozessen Lehramtsstudierender in einer Hochschullernwerkstatt (Sandra Tänzer, Marc Godau, Marcus Berger, Gerd Mannhaupt)....Pages 81-87
Service Learning in der Ausbildung von Grundschullehrkräften – Ergebnisse der ProSeLFStudie (Sarah Désirée Lange)....Pages 88-94
Digitale Medien in der Grundschule – Professionalisierung von Lehramtsstudierenden durch eine Kooperation von Grundschulforschung und Grundschulpraxis (Sanna Pohlmann-Rother, Jan M. Boelmann)....Pages 95-101
Professionell Feedback geben – Lernen mit Videos in der ersten Phase der Grundschullehramtsbildung (Miriam Hess)....Pages 102-107
„Ich sehe was, was du nicht siehst“ – Profitieren Studierende bei der videobasierten Unterrichtsanalyse von Peer Feedback? (Nicola Meschede, Katja Adl-Amini, Ilonca Hardy)....Pages 108-113
Wahrnehumg von Heterogenität in der Grundschule – Strategien der Komplexitätsreduktion (angehender) Lehrkräfte (Stefanie Meier, Birgit Hüppin, Ralf Schieferdecker)....Pages 114-124
Reziprozität in Mentoring- und Lernpatenprojekten zwischen Studierenden und Kindern mit Zuwanderungshintergrund (Heike deBoer, Elke Inckemann, Anne Frey, Anna Lautenschlager, Hildegard Wenzler-Cremer)....Pages 125-136
„Lernpaten unterstützen Klassen mit Flüchtlingskindern (LUK!)“ – Ergebnisse aus der Begleitforschung und Implikationen für die Lehrer(innen)bildung (Elke Inckemann, Anna Lautenschlager, Anne Frey)....Pages 137-142
Front Matter ....Pages 143-143
Wie kommen Befunde der Wissenschaft in die Klassenzimmer? – Impulse der Fortbildungsforschung (Frank Lipowsky)....Pages 144-161
Praxisbezogene Beispiele vorschalten – den Theorie-Input nachschalten: Gestaltungsvarianten für Lehrer(innen)fortbildungen (Susanne Gebauer)....Pages 162-168
Von der Fortbildung in den Grundschulunterricht – Gelingensbedingungen für den Transfer innovativer Unterrichtsaktivitäten (Anna Herold, Liselotte Denner, Christa Rittersbacher)....Pages 169-174
Bedeutung berufsbezogener Interessenentwicklung für den Fortbildungstransfer von Lehrkräften – Ergebnisse einer qualitativen Begleitstudie zum Fortbildungsprojekt PROFI (Anja Heinrich-Dönges)....Pages 175-180
Front Matter ....Pages 181-181
Pädagogisches Wissen, Fachwissen oder fachdidaktisches Wissen – Auf welche Wissensarten des Professionswissens greifen Kunstlehrkräfte der Grundschule in der Vorbereitung ihres Unterrichts für zweite Klassen zurück? (Manuela Kübler, Miriam Hess)....Pages 182-187
Adaptive Lehrkompetenz erwerben – Beiträge der Lehrer(innen)bildung zur Professionalisierung von Grundschullehrer(inne)n (Eva-Kristina Franz)....Pages 188-193
Vom Einzelkämpfer zum Teamplayer: Ko-konstruktive Kooperation in Grundschulen mit personalisierten Lernkonzepten (Marco Galle, Rita Stebler, Kurt Reusser)....Pages 194-199
Möglichkeiten des Transfers schulischer Innovationen im Kontext des Lernens mit digitalen Medien an Grundschulen (Julia Gerick, Birgit Eickelmann)....Pages 200-205
Wissen und Handeln. Analyse von selbstgesteuertem Lernen mit handlungsnahen versus handlungsfernen Methoden (Klaus Konrad)....Pages 206-211
„Praxisnah erheben und auswerten“ – SWOTAnalysen als Verfahren zur Ermittlung von Impulsen für die kooperative Grundschulentwicklung (Anke Spies, Katja Knapp)....Pages 212-217
Front Matter ....Pages 218-218
Need for Cognition, subjektives Wohlbefinden und akademisches Selbstkonzept bei Grundschulkindern (Melina Andronie, Anja Wildemann)....Pages 219-226
Kinder mit BISS – Erleben von Selbstwirksamkeit und Interesse in der Grundschule (Katrin Velten, René Schroeder, Susanne Miller)....Pages 227-232
„Findest du Kinderrechte sind gut und wenn ja, warum?“ Partizipative Methoden der Kindheitsforschung im Kontext von Schulentwicklung zu Kinderrechten (Julian Storck-Odabaşı, Friederike Heinzel)....Pages 233-238
Transition neu zugewanderter Kinder – Perspektiven der Akteure und Unterstützungspotenziale (Charlotte Röhner, Jessica Schwittek)....Pages 239-250
Schüler(innen) in der Gestaltung des Verhältnisses von Grundschule und Familie mitdenken?! Potentiale der Kindheitsforschung für die Elternarbeit an Grundschulen (Nicoletta Eunicke, Tanja Betz)....Pages 251-256
Zur Qualität der Kindertagesbetreuung aus Kindersicht (Julian Heil, Susanna Roux, Emely Knör, Katja Thalhofer, Ulrike Bertrand)....Pages 257-262
„Mehr Zeit für einzelne Kinder“ oder „mehr Stress“ – Eine Interviewstudie zu Chancen und Risiken jahrgangsgemischten Lernens in der dritten und vierten Jahrgangsstufe aus der Perspektive von Lehrkräften (Sandra Feuchtenberger, Sabine Martschinke, Meike Munser-Kiefer, Andreas Hartinger)....Pages 263-269
Front Matter ....Pages 270-270
Professionalisierung von Lehrkräften in Zeiten von Inklusion – Zur Interaktion von Regel- und Förderschullehrkräften in der Grundschule (Melanie Radhoff, Magdalena Buddeberg, Sabine Hornberg)....Pages 271-276
Vorbereitung auf ein inklusives Schulsystem: Was Lehrkräfte über psychische Belastungen und Störungen bei Schulkindern wissen sollten – Exemplarische Vorstellung PSYCH.e – Vorstudie (Stephanie Berner, Gerd Schulte-Körne)....Pages 277-283
Einstellungen zu Inklusion an Schulen – eine Fallstudie (Lena Ohnesorge, Katrin Hauenschild)....Pages 284-289
Die soziale Partizipation von Schüler(inne)n in Lerngruppen der inklusiven Grundschule (Rebecca Schmitt)....Pages 290-295
Soziale Kompetenz und Integration von Grundschulkindern mit besonderem pädagogischen Förderbedarf. Erste Ergebnisse aus der KOMENSKI-Studie (Christian Elting, Bärbel Kopp, Sabine Martschinke)....Pages 296-302
Formatives Assessment in der inklusiven Grundschule im Spannungsfeld von Wissenschaft und Transfer (Katrin Liebers, Christin Schmidt, Ralf Junger, Annedore Prengel)....Pages 303-312
Front Matter ....Pages 313-313
WEGE in die Grundschule. Zur Perspektive von Kindern auf Entwicklungsaufgaben im Übergang in die Grundschule (Anna Katharina Hein, Henrik Streffer)....Pages 314-319
Anschlussfähige Gestaltung des Übergangs in die Grundschule am Beispiel literacy-bezogener, analoger Lerngelegenheiten (Projekt „LibelLe“) (Vanessa Henke)....Pages 320-325
Kooperationen zwischen KiTa und Grundschule in der Praxis: Eine Studie zur interaktionalen Ebene des Übergangs (Mirja Kekeritz)....Pages 326-331
Perspektiven des Transfers von Forschungsbefunden im Übergang Kindergarten-Grundschule (Ulrike Beate Müller, Anja Seifert, Petra Arndt, Petra Büker, Ursula Carle, Ulrike Graf et al.)....Pages 332-357
Sprachbildungsorientierte Zusammenarbeit von Eltern und pädagogischen Fachkräften in Kinderund Familienzentren im Sozialraum (Tamara Schubert, Susanna Roux, Jutta Sechtig)....Pages 358-365
Front Matter ....Pages 366-366
Metasprachliche Kompetenzen von Grundschulkindern. Einschätzungen von Erstklässlern zu pragmatischen Aspekten von Kommunikation (Maria Bergau)....Pages 367-371
Orthographisches Wissen von rechtschreibstarken und -schwachen Zweitklässler(inne)n (Anna-Katharina Widmer)....Pages 372-378
„Was ist ein Seilrutsche – ich habe nie das gesehen“: Zur interaktiven Verhandlung sprachlicher Differenzen im Klassenraum (Barbara Hoch)....Pages 379-384
Metasprachliche Interaktionswortschätze: Eine Analyse der Sprachgebrauchsmuster mono- und multilingualer Grundschüler(innen) bei mündlichem sprachenvergleichendem Erklären (Sebastian Krzyzek)....Pages 385-389
Sprache fördern – Sprache lernen – Sprache erfassen. Möglichkeiten und Grenzen der Kombination kindbezogener Daten. (Diemut Kucharz, Katja Koch, Oliver Hormann, Cordula Löffler, Julian Heil, Karin Kämpfe et al.)....Pages 390-401
„Beim Schreiben bleibt er unter seinem Niveau“ – Geschlechtsunterschiede beim Handschreiben (Eva Odersky, Angelika Speck-Hamdan)....Pages 402-407
Fachspezifische und überfachliche Gestaltungsmaßnahmen für den Übergang vom Sachunterricht der Primarstufe zum Fachunterricht der Sekundarstufe (Sarah Rau-Patschke, Julia Brüggerhoff)....Pages 408-414
Sachgespräche in jahrgangsgemischten Lerntandems – Erkenntnisse und Überlegungen für die Unterrichtspraxis (Matthea Wagener, Daniela Jähn)....Pages 415-420
Brücke(n) zwischen Praxis und Forschung – Eine explorative Sachunterrichtsstudie zu Schüler(innen)vorstellungen zum Thema „Brücken – und was sie stabil macht“ (René Schroeder)....Pages 421-426
Die Relevanz schulischer Kompositionsmerkmale für die Entwicklung mathematischer Kompetenzen am Ende der Grundschulzeit (Mario Vennemann, Birgit Eickelmann, Wilfried Bos, Heike Wendt)....Pages 427-432

Citation preview

Jahrbuch Grundschulforschung Christian Donie · Frank Foerster · Marlene Obermayr Anne Deckwerth · Gisela Kammermeyer · Gerlinde Lenske Miriam Leuchter · Anja Wildemann Hrsg.

Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer

Jahrbuch Grundschulforschung Band 23

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12674

Christian Donie · Frank Foerster · Marlene Obermayr · Anne Deckwerth · Gisela Kammermeyer · Gerlinde Lenske · Miriam Leuchter · Anja Wildemann (Hrsg.)

Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer

Hrsg. Christian Donie Institut für Bildung im Kindes- und J­ ugendalter, Arbeitsbereich ­Grundschulpädagogik ­Universität Koblenz-Landau Landau, Deutschland

Frank Foerster Institut für Bildung im Kindes- und Jugendalter, Arbeitsbereich Grundschulpädagogik Universität Koblenz-Landau Landau, Deutschland

Marlene Obermayr Institut für Bildung im Kindes- und Jugendalter, Arbeitsbereich Grundschulpädagogik Universität Koblenz-Landau Landau, Deutschland

Anne Deckwerth Institut für Bildung im Kindes- und Jugendalter, Arbeitsbereich Grundschulpädagogik Universität Koblenz-Landau Landau, Deutschland

Gisela Kammermeyer Institut für Bildung im Kindes- und Jugendalter, Arbeitsbereich Frühe Kindheit Universität Koblenz-Landau Landau, Deutschland

Gerlinde Lenske Institut für Bildung im Kindes- und Jugendalter, Arbeitsbereich Grundschulpädagogik Universität Koblenz-Landau Landau, Deutschland

Miriam Leuchter Institut für Bildung im Kindes- und Jugendalter, Arbeitsbereich Grundschulpädagogik Universität Koblenz-Landau Landau, Deutschland

Anja Wildemann Institut für Bildung im Kindes- und Jugendalter, Arbeitsbereich Grundschulpädagogik Universität Koblenz-Landau Landau, Deutschland

Jahrbuch Grundschulforschung ISBN 978-3-658-26230-3 ISBN 978-3-658-26231-0  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0 bibliografie; Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort Der weit gefasste Titel des vorliegenden Buches „Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer“ ist zeitgleich Titel der 26. Jahrestagung der Kommission Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft an der Universität KoblenzLandau am Campus Landau gewesen. Im Fokus stehen einerseits wissenschaftliche Herausforderungen und Ansprüche der Grundschulforschung, andererseits Möglichkeiten des Transfers dieser Forschung in die Unterrichtspraxis sowie die Erforschung der Gelingensbedingungen dieses Transfers. Inhaltliche Schwerpunkte sind daher Beiträge zur Erforschung und forschungsbasierten Entwicklung, Implementation sowie Evaluation von Kooperationen von Grundschulforschung und Grundschulpraxis, Professionalisierungsmaßnahmen von Lehrpersonen in Kita und Grundschule, Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis und umgekehrt Transfer von Fragen aus der Praxis in die Forschung im Elementar- und Primarbereich und methodischen Fragen zum Zusammenspiel von Forschung und Praxis. Hierbei versteht sich Grundschulforschung als eine Schnittstelle zwischen verschiedenen Disziplinen wie z.B. den Fachdidaktiken und Fachwissenschaften, der Erziehungswissenschaft, der Schulpädagogik, der Psychologie und der Soziologie. Sie hat sowohl den Auftrag grundlegende Erkenntnisse für die Elementar- und Grundschulpädagogik zu erbringen als auch die Praxis mitzudenken und mitzugestalten. Wir freuen uns über die Beiträge der Hauptvortragenden Cornelia Gräsel (S.1) und Frank Lipowsky (S.144), die das Thema der Tagung „Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer“ aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Außerdem liefern 53 weitere Beiträge aus verschiedenen Anteilsdisziplinen und den Fachdidaktiken eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Tagungsthema im engeren und weiteren Sinn. Die thematische Einordung erfolgt anhand der Bereiche, mit denen die jeweiligen Kapitel überschrieben sind: Grundlagen, Erste Phase der Lehrer(innen)bildung, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften, Professionelle Kompetenz, Kinder im Fokus, Inklusion, Elementarbereich und Übergang in die Grundschule und Fächerspezifische Zugänge. Wir danken allen Beteiligten und Kooperationspartner(inne)n, die uns vor, während und nach der Tagung unterstützt haben – insbesondere Lisa Dantin für die Mitarbeit bei der Erstellung dieses Tagungsbandes. Das Herausgeberteam

Inhaltsverzeichnis 1. Grundlagen  Cornelia Gräsel  Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis ........................................................... 2  Margarete Götz, Susanne Miller, Wolfgang Einsiedler und Michaela Vogt  Diskussionspapier zum Selbstverständnis der Grundschulpädagogik als wissenschaftliche Disziplin ............................................................................................ 12  Susanne Miller, Sabine Martschinke, Margarete Götz, Andreas Hartinger, Diemut Kucharz, Katrin Liebers und Kornelia Möller  Diskussion des Selbstverständnisses der Grundschulpädagogik als Disziplin ............... 22 

2. Erste Phase der Lehrer(innen)bildung  Laura Faber und Friederike Heinzel  Kindheitsbilder – Welche Bilder zu sozialen, kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten von Kindern haben Studierende des Grundschullehramts? ......................... 35  Torsten Eckermann  „Lost in Translation“ – Zur ‚Übersetzungsarbeit‘ zwischen Theorie und Theorie von Grundschullehramtsstudierenden ............................................................... 41  Madeleine Kerkhoff  Verhaltensmuster von Studierenden des Lehramts für die Primarstufe .......................... 47  Petra Hanke, Johannes König, Daniela Jäger-Biela, Thorsten Pohl, Alfred Schabmann, Michael Becker-Mrotzek, Birgit Träuble und Rebecca Schmitt  Professionelles Wissen von Lehramtsstudierenden zum basalen Lesen- und Schreibenlernen – ein interdisziplinäres Projekt ............................................................ 52  Anne Frey, Julia Kriesche, Madlen Protzel, Elke Döring-Seipel und Kai Nitsche  Kompetenzen stärken und Reflexionen anregen – Beispiele für gelungene Maßnahmen zur Professionalisierung und Transfersicherung im Rahmen der Lehrer(innen)bildung ............................................................................................... 59  Daniela Merklinger und Sandra Last  Aufgabenbezogene Lernprozessbeobachtung als phasenübergreifendes Thema in der Grundschulbildung ............................................................................................... 71  Sandra Tänzer, Marc Godau, Marcus Berger und Gerd Mannhaupt  Wie Studieren im Lernwerkstattseminar gelingt – Rekonstruktion von Lernprozessen Lehramtsstudierender in einer Hochschullernwerkstatt.......................... 81 

VIII

Inhaltsverzeichnis

Sarah Désirée Lange  Service Learning in der Ausbildung von Grundschullehrkräften – Ergebnisse der ProSeLF-Studie ........................................................................................................ 88  Sanna Pohlmann-Rother und Jan M. Boelmann  Digitale Medien in der Grundschule – Professionalisierung von Lehramtsstudierenden durch eine Kooperation von Grundschulforschung und Grundschulpraxis .................................................................................................... 95  Miriam Hess  Professionell Feedback geben – Lernen mit Videos in der ersten Phase der Grundschullehramtsbildung ......................................................................................... 102  Nicola Meschede, Katja Adl-Amini und Ilonca Hardy  „Ich sehe was, was du nicht siehst“ - Profitieren Studierende bei der videobasierten Unterrichtsanalyse von Peer Feedback? ............................................... 108  Stefanie Meier, Birgit Hüpping und Ralf Schieferdecker  Wahrnehumg von Heterogenität in der Grundschule – Strategien der Komplexitätsreduktion (angehender) Lehrkräfte.......................................................... 114  Heike de Boer, Elke Inckemann, Anne Frey, Anna Lautenschlager und Hildegard Wenzler-Cremer  Reziprozität in Mentoring- und Lernpatenprojekten zwischen Studierenden und Kindern mit Zuwanderungshintergrund ................................................................ 125  Elke Inckemann, Anna Lautenschlager und Anne Frey  „Lernpaten unterstützen Klassen mit Flüchtlingskindern (LUK!)“ – Ergebnisse aus der Begleitforschung und Implikationen für die Lehrer(innen)bildung.................. 137

3. Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften Frank Lipowsky  Wie kommen Befunde der Wissenschaft in die Klassenzimmer? – Impulse der Fortbildungsforschung ................................................................................................. 144  Susanne Gebauer  Praxisbezogene Beispiele vorschalten – den Theorie-Input nachschalten: Gestaltungsvarianten für Lehrer(innen)fortbildungen .................................................. 162  Anna Herold, Liselotte Denner und Christa Rittersbacher  Von der Fortbildung in den Grundschulunterricht – Gelingensbedingungen für den Transfer innovativer Unterrichtsaktivitäten...................................................... 169 

Inhaltsverzeichnis

IX

Anja Heinrich-Dönges  Bedeutung berufsbezogener Interessenentwicklung für den Fortbildungstransfer von Lehrkräften – Ergebnisse einer qualitativen Begleitstudie zum Fortbildungsprojekt PROFI .......................................................................................... 175 

4. Professionelle Kompetenz  Manuela Kübler (geb. Kraus) und Miriam Hess  Pädagogisches Wissen, Fachwissen oder fachdidaktisches Wissen – Auf welche Wissensarten des Professionswissens greifen Kunstlehrkräfte der Grundschule in der Vorbereitung ihres Unterrichts für zweite Klassen zurück?................................ 182  Eva-Kristina Franz  Adaptive Lehrkompetenz erwerben – Beiträge der Lehrer(innen)bildung zur Professionalisierung von Grundschullehrer(inne)n ...................................................... 188  Marco Galle, Rita Stebler und Kurt Reusser  Vom Einzelkämpfer zum Teamplayer: Ko-konstruktive Kooperation in Grundschulen mit personalisierten Lernkonzepten ...................................................... 194  Julia Gerick und Birgit Eickelmann  Möglichkeiten des Transfers schulischer Innovationen im Kontext des Lernens mit digitalen Medien an Grundschulen ........................................................................ 200  Klaus Konrad  Wissen und Handeln. Analyse von selbstgesteuertem Lernen mit handlungsnahen versus handlungsfernen Methoden. ............................................... 206  Anke Spies und Katja Knapp  „Praxisnah erheben und auswerten“ – SWOT-Analysen als Verfahren zur Ermittlung von Impulsen für die kooperative Grundschulentwicklung ........................ 212 

5. Kinder im Fokus  Melina Andronie und Anja Wildemann  Need for Cognition, subjektives Wohlbefinden und akademisches Selbstkonzept bei Grundschulkindern ................................................................................................. 219  Katrin Velten, René Schroeder und Susanne Miller  Kinder mit BISS – Erleben von Selbstwirksamkeit und Interesse in der Grundschule ........................................................................................................... 227  Julian Storck-Odabaşı (geb. Storck) und Friederike Heinzel  „Findest du Kinderrechte sind gut und wenn ja, warum?“ Partizipative Methoden der Kindheitsforschung im Kontext von Schulentwicklung zu Kinderrechten ............. 233 

X

Inhaltsverzeichnis

Charlotte Röhner und Jessica Schwittek  Transition neu zugewanderter Kinder – Perspektiven der Akteure und Unterstützungspotenziale ............................................................................................. 239  Nicoletta Eunicke und Tanja Betz  Schüler(innen) in der Gestaltung des Verhältnisses von Grundschule und Familie mitdenken?! Potentiale der Kindheitsforschung für die Elternarbeit an Grundschulen........................................................................................................... 251  Julian Heil, Susanna Roux, Emely Knör, Katja Thalhofer und Ulrike Bertrand  Zur Qualität der Kindertagesbetreuung aus Kindersicht .............................................. 257  Sandra Feuchtenberger, Sabine Martschinke, Meike Munser-Kiefer und Andreas Hartinger  „Mehr Zeit für einzelne Kinder“ oder „mehr Stress“ – Eine Interviewstudie zu Chancen und Risiken jahrgangsgemischten Lernens in der dritten und vierten Jahrgangsstufe aus der Perspektive von Lehrkräften .................................................... 263 

6. Inklusion  Melanie Radhoff, Magdalena Buddeberg und Sabine Hornberg  Professionalisierung von Lehrkräften in Zeiten von Inklusion – Zur Interaktion von Regel- und Förderschullehrkräften in der Grundschule......................................... 271  Stephanie Berner und Gerd Schulte-Körne  Vorbereitung auf ein inklusives Schulsystem: Was Lehrkräfte über psychische Belastungen und Störungen bei Schulkindern wissen sollten....................................... 277  Lena Ohnesorge und Katrin Hauenschild  Einstellungen zu Inklusion an Schulen – eine Fallstudie.............................................. 284  Rebecca Schmitt  Die soziale Partizipation von Schüler(inne)n in Lerngruppen der inklusiven Grundschule ................................................................................................................. 290  Christian Elting, Bärbel Kopp und Sabine Martschinke  Soziale Kompetenz und Integration von Grundschulkindern mit besonderem pädagogischen Förderbedarf. Erste Ergebnisse aus der KOMENSKI-Studie............... 296  Katrin Liebers, Christin Schmidt, Ralf Junger und Annedore Prengel  Formatives Assessment in der inklusiven Grundschule im Spannungsfeld von Wissenschaft und Transfer ........................................................................................... 303 

Inhaltsverzeichnis

XI

7. Elementarbereich und Übergang in die Grundschule Anna Katharina Hein und Henrik Streffer  WEGE in die Grundschule. Zur Perspektive von Kindern auf Entwicklungsaufgaben im Übergang in die Grundschule............................................. 314  Vanessa Henke  Anschlussfähige Gestaltung des Übergangs in die Grundschule am Beispiel literacy-bezogener, analoger Lerngelegenheiten (Projekt „LibelLe“) .......................... 320  Mirja Kekeritz  Kooperationen zwischen KiTa und Grundschule in der Praxis: Eine Studie zur interaktionalen Ebene des Übergangs..................................................................... 326  Ulrike Beate Müller, Anja Seifert, Petra Arndt, Petra Büker, Ursula Carle,Ulrike Graf, Christa Kieferle, Agnes Kordulla, Nicole Sturmhöfel und Franziska Wehner  Perspektiven des Transfers von Forschungsbefunden im Übergang Kindergarten-Grundschule ........................................................................................... 332  Tamara Schubert, Susanna Roux und Jutta Sechtig  Sprachbildungsorientierte Zusammenarbeit von Eltern und pädagogischen Fachkräften in Kinder- und Familienzentren im Sozialraum........................................ 358 

8. Fächerspezifische Zugänge Maria Bergau  Metasprachliche Kompetenzen von Grundschulkindern. Einschätzungen von Erstklässlern zu pragmatischen Aspekten von Kommunikation ................................... 367  Anna-Katharina Widmer (geb. Hanisch)   Orthographisches Wissen von rechtschreibstarken und -schwachen Zweitklässler(inne)n ..................................................................................................... 372  Barbara Hoch  „Was ist ein Seilrutsche – ich habe nie das gesehen“: Zur interaktiven Verhandlung sprachlicher Differenzen im Klassenraum .............................................. 379  Sebastian Krzyzek  Metasprachliche Interaktionswortschätze: Eine Analyse der Sprachgebrauchsmuster mono- und multilingualer Grundschüler(innen) bei mündlichen sprachenvergleichenden Erklären ................................................................................. 385  Diemut Kucharz, Katja Koch, Oliver Hormann, Cordula Löffler, Julian Heil, Karin Kämpfe, Sandra Rezagholinia, Tanja Betz, Sina Huschka, Petra Schulz und Janin Brandenburg  Sprache fördern – Sprache lernen – Sprache erfassen. Möglichkeiten und Grenzen der Kombination kindbezogener Daten.......................................................... 390 

XII

Inhaltsverzeichnis

Eva Odersky und Angelika Speck-Hamdan  „Beim Schreiben bleibt er unter seinem Niveau“ – Geschlechtsunterschiede beim Handschreiben ..................................................................................................... 402  Sarah Rau-Patschke und Julia Brüggerhoff  Fachspezifische und überfachliche Gestaltungsmaßnahmen für den Übergang vom Sachunterricht der Primarstufe zum Fachunterricht der Sekundarstufe................ 408  Matthea Wagener und Daniela Jähn  Sachgespräche in jahrgangsgemischten Lerntandems – Erkenntnisse und Überlegungen für die Unterrichtspraxis ....................................................................... 415  René Schroeder  Brücke(n) zwischen Praxis und Forschung – Eine explorative Sachunterrichtsstudie zu Schüler(innen)vorstellungen zum Thema „Brücken – und was sie stabil macht“ ........................................................................................................... 421  Mario Vennemann, Birgit Eickelmann, Wilfried Bos und Heike Wendt  Die Relevanz schulischer Kompositionsmerkmale für die Entwicklung mathematischer Kompetenzen am Ende der Grundschulzeit ....................................... 427 

1. Grundlagen

Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis Cornelia Gräsel

1

Was ist gelingender Transfer von Forschungsergebnissen?

‚Transfer‘ ist ein vielgestaltiger Begriff, aber im Zusammenhang mit dem Transfer von Forschungsergebnissen wird damit die Verbreitung (aktuellen) wissenschaftlichen Wissens in praktische Felder bezeichnet (vgl. Bromme, Prenzel & Jäger 2014; Prenzel 2010). Bei dieser Begriffsbestimmung stellen sich mehrere Fragen: Zunächst ist zu spezifizieren, welche Art von Wissen bzw. Forschungsergebnissen verbreitet wird. Wie in anderen Wissenschaften auch, lassen sich für den Bildungsbereich verschiedene Wissensarten unterscheiden (Wissenschaftsrat 2016: 9ff.): Beschreibungs- oder Erklärungswissen gibt Informationen oder Erklärungen über Phänomene oder Probleme des Bildungsbereichs, von besonderer Relevanz dafür sind internationale oder nationale Studien des Leistungsvergleiches, die regelmäßig auf Leistungen und Problembereiche hinweisen – beispielsweise die Leistungsunterschiede zwischen verschiedenen sozioökonomischen Gruppen der Gesellschaft. Mit Vorhersagewissen lassen sich Prognosen stellen, z.B. über die Entwicklung des Lehrer(innen)bedarfs. Veränderungs- oder Interventionswissen schließlich richtet sich auf Problemlösungen im Bildungsbereich durch bestimmte Maßnahmen, deren Wirkung wissenschaftlich systematisch abgesichert wurde. Diese Maßnahmen können auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sein, sie umfassen bildungspolitische Steuerungsinstrumente (vgl. Thiel 2014) wie Rahmenvorgaben (z.B. Klassenstärke, Schul- und Unterrichtsdauer, Stundentafel) oder schulische Curricula. Auf der Ebene der Schulentwicklung sind systematische schulinterne Fortbildungsmaßnahmen oder Schulprogramme bekannte und empirisch untersuchte Interventionen. Auf Unterrichtsebene schließlich wurden in den letzten Jahren zahleiche Trainings für Lehrpersonen oder Schüler(innen), Aufgaben- und Materialsammlungen sowie Unterrichtskonzepte entwickelt, deren Ziel es ist, das fachliche und überfachliche Lernen zu optimieren. Im Zusammenhang mit dem Transfer bzw. mangelndem Transfer wird – in der Regel implizit – vor allem Interventionswissen adressiert, und hier vorwiegend solches auf der Schul- oder Unterrichtsebene. Diese Form des Wissens steht auch im Zentrum des vorliegenden Artikels.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_1

Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis

3

Eine weitere zentrale Fragestellung im Zusammenhang mit Transfer lautet, wie neues und wissenschaftlich gesichertes Wissen an Schulen verbreitet wird, damit die Qualität von Bildungs- und Erziehungsprozessen tatsächlich gesteigert werden kann. In der Transferforschung wird betont, dass die Verbreitung wissenschaftlichen Wissens im Bildungsbereich nicht mit Diffusion gleichgesetzt werden kann. Bei Diffusionsprozessen wird eine Neuerung verbreitet, ohne dass sie sich verändert oder an wechselnde Kontextfaktoren anpasst. Standardbeispiele aus anderen Bereichen sind die Ausbreitung von neuen Technologien (z.B. Mobiltelefonen) und Medikamenten. Transfer impliziert dagegen eine Verbreitung von Neuerungen in verschiedenen Kontexten, die eine Adaption an die jeweils vorliegenden Bedingungen erfordert (vgl. Gräsel 2010): Die Neuerungen werden bei Transferprozessen an die jeweils konkret vorliegenden Rahmenbedingungen in einer Schule bzw. Klasse angepasst (vgl. Jäger 2004; Gräsel, Jäger & Willke 2006). Für die gelingende Ausbreitung kann diese Wandlungsfähigkeit von Innovationen sogar ausschlaggebend sein, weil sie die Akzeptanz durch die Praktiker(innen) erhöht. Transfer impliziert ferner, dass es sich nicht um eine ‚Einbahnstraße‘ bei der Verbreitung handelt, sondern die Nutzung von Innovationen in verschiedenen Kontexten wiederum Rückwirkungen auf die Wissenschaft hat. Praktische Fragen und Probleme werden beispielsweise in weiterführende wissenschaftliche Fragen transferiert, deren Bearbeitung wiederum zur Weiterentwicklung der Interventionen bzw. zu neuen Interventionen führt (Wissenschaftsrat 2016). Ob der Transfer wissenschaftlichen Wissens erfolgreich verläuft, wird in empirischen Studien häufig unterkomplex durch die Anzahl der erfolgreich erreichten Adressat(inn)en – etwa Schulen oder Lehrer(innen) – gemessen (vgl. Coburn 2003). Mit dieser eher oberflächlichen Erfassung kann nicht berücksichtigt werden, wie die Innovationen verankert wurden, ob sich z.B. auch Überzeugungen und Handlungsmuster der Beteiligten geändert haben. Coburn (ebd.) bezeichnet eine entsprechende Verankerung als ‚tief‘ und postuliert, dass eine tiefe Verankerung von Innovationen für eine dauerhafte Verbreitung notwendig sei. Bisherige Studien vernachlässigen überdies häufig die Evaluation des Transfererfolges in dem Sinn, ob die erreichten Verbesserungen durch eine Neuerung tatsächlich erreicht wurden, ob die Schüler(innen) durch die Veränderung z.B. mehr oder motivierter lernen. Gerade in der deutschen Tradition der Modellversuche wurden erwünschte Wirkungen und unerwünschte Nebenwirkungen viel zu selten empirisch untersucht (vgl. Nickolaus & Gräsel 2006). Dies ist aus verschiedenen Gründen problematisch: Eine mangelnde Kontrolle von Effekten kann dazu führen, dass wenig wirksame Maßnahmen verbreitet werden. Derzeit wird beispielsweise die Methode des ‚Schreibens nach Gehör‘ kritisch diskutiert, weil sie vor ihrer Verbreitung nicht systematisch untersucht wurde und sich insgesamt wenige klare Effekte (vgl. Funke 2014) bzw. nach einer aktuellen

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Cornelia Gräsel

Studie1 eher negative Effekte für die orthografischen Fähigkeiten der Schüler(innen) ergeben. Ein mangelnder Nachweis der Wirksamkeit von Innovationen ist zudem problematisch, weil sich dadurch negative Effekte für die Ausbreitung der Innovation ergeben können: Das Erleben eines relativen Vorteils einer Innovation im Vergleich zu den bisherigen Praktiken stellt eine wichtige Form der Unterstützung der Verbreitung von Innovationen dar (vgl. Rogers 2003).

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Ein Modell evidenzorientierter Praxis

Betrachtet man die Literatur zum Transfer im Bereich der Schule, dann lässt sich in vielen Arbeiten die Aussage finden, dass das Schulsystem – verglichen mit anderen, z.B. der Wirtschaft oder der Medizin – wissenschaftliche Innovationen besonders langsam übernimmt und dementsprechend als eher ‚transferträge‘ gilt (vgl. Spiel, Lösel & Wittmann 2009). Für diese vergleichsweise geringe Innovationsfreude werden verschiedene Gründe genannt, von denen ein zentraler im Folgenden aufgegriffen und im restlichen Beitrag ausgeführt werden soll: Im Schulbereich besteht eine relativ große Distanz der Praktiker(innen) zur Wissenschaft; eine Orientierung an Evidenz – also Ergebnissen aus der Wissenschaft – ist nicht gängig bzw. wird zum Teil in den zugrundeliegenden Wissenschaften selbst kritisch gesehen (siehe zu dieser Frage beispielsweise Stark 2017). Folgt man dieser Argumentation, dann ist es für den Transfer wissenschaftsbasierter Innovationen zentral, diese Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis zu verringern. Konzepte dafür werden unter dem Stichwort der ‚Evidenzbasierung‘ bzw. der ‚Evidenzorientierung‘ für den Schulbereich diskutiert. Für Evidenzorientierung gibt es verschiedene und durchaus kontroverse Positionen (vgl. z.B. das Sonderheft zur Empirischen Bildungsforschung der „Zeitschrift für Erziehungswissenschaft“ aus dem Jahr 2017). Im Folgenden wird ein Konzept von Evidenzorientierung skizziert, wie es – gemeinsam mit Kolleg(inn)en – im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte entwickelt wurde. Eine wichtige Anregung für dieses Konzept der Evidenzorientierung stellt das Feld der Medizin dar, in dem evidence-based practice schon seit ca. 20 Jahren ein Leitkonzept ist. Wie Mediziner(innen) treffen professionelle Pädagog(inn)en Entscheidungen, die das Leben von anderen substanziell und langfristig beeinflussen können. Der Anspruch, für diese Entscheidungen die gegenwärtig beste wissenschaftliche Evidenz gewissenhaft, ausdrücklich und vernünftig zu gebrauchen – 1

Eine entsprechende Dissertation von Tobias Kuhl aus der Arbeitsgruppe von Frau Prof. Dr. Una Röhr-Sendlmeier ist noch nicht veröffentlicht und wurde bisher nur in einem Vortrag auf dem 51. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie vorgestellt (siehe Kuhl & Röhr-Sendlmeier 2018; Universität Bonn 2018).

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wie er in der Medizin formuliert wurde (Sackett, Rosenberg, Gray, Haynes & Richardson 1996: 71) –, scheint legitimierbar und angemessen. Zwischen der Domäne der Medizin und dem Schul- bzw. Bildungsbereich gibt es natürlich Unterschiede (siehe Diskussion bei Hammersley 2007; Hargreaves 2007), aber auch Gemeinsamkeiten (vgl. Bromme 2014). Evidence-based medicine ist daher keine Blaupause, sondern eine Grundlage dafür, ein genuin pädagogisches Konzept von Evidenzorientierung zu entwickeln. Formen von „Evidenz“ Das Modell evidenzorientierter Praxis nutzt die Unterscheidung und Hierarchisierung verschiedener Formen von Evidenz, wie sie in der Medizin verwendet wird (State University of New York 2004). An der Spitze dieser Hierarchie steht die Zusammenfassung einer Vielzahl randomisierter Kontrollstudien zu bestimmten Themen in systematic reviews Metaanalysen, weil ihre Ergebnisse systematische Fehler ausschließen und die höchste Generalisierbarkeit aufweisen (Antes & Lang 2014). Einzelstudien mit Designs wie randomisierten Kontrollstudien und Kohortenstudien sind die nächsten Ebenen der Evidenzhierarchie. Am unteren Ende finden sich Einzelfallbeschreibungen, Editorials und die Erfahrung von Expert(inn)en. Inwieweit die in der Medizin vorgegebene Hierarchie (von Forschungssynthesen als bedeutsamste bis praktische Erfahrungen als am wenigsten bedeutsame Evidenzquelle) auf den Bildungsbereich übertragbar ist, ist eine offene Frage. Es erscheint aber sinnvoll und richtig, verschiedene Formen von Evidenz zu unterscheiden. Dies entspricht auch dem Vorschlag von Bromme et al. (2014), ein breites Spektrum wissenschaftlichen Wissens und unterschiedliche Forschungszugänge für evidenzorientiertes Handeln zu berücksichtigen, beispielsweise auch Fallstudien.

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Umgang mit empirischer Evidenz in Entscheidungs- oder Handlungssituationen

Bisher liegen nur wenige Ansätze dazu vor, wie Lehrer(innen) wissenschaftliche Erkenntnisse nutzen und wie sich eine Kompetenz zum wissenschaftlichen Argumentieren modellieren und messen lässt (vgl. z.B. Bauer, Prenzel & Renkl 2015; Hetmanek et al. 2015; Wenglein, Bauer, Heininger & Prenzel 2015). Aus dem bisherigen Forschungsstand zum evidenzbasierten Argumentieren wird deutlich, dass entsprechende Kompetenzmodelle mindestens drei Merkmale berücksichtigen sollten: (a) die Bewertung verschiedener Informationsquellen hinsichtlich ihrer Aussagekraft für eine konkrete Situation in ihrem Kontext, (b) die Abwägung unterschiedlicher und möglicherweise widersprüchlicher

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wissenschaftlicher Informationen sowie (c) die Integration des wissenschaftlichen Wissens mit den eigenen Erfahrungen bzw. den Standards und Gepflogenheiten in der professionellen Community. Eine Arbeitsgruppe um F. Fischer, M. Fischer und Gräsel formulierte auf dieser Grundlage ein Modell für die Kompetenz des evidenzbasierten Argumentierens (Trempler et al. 2015). Das Modell ist ein Prozessmodell, das den Ablauf einer pädagogischen Entscheidungssituation abbildet und die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnis in diese Situation integriert. Ausgangspunkt ist also eine Problem- oder Aufgabenstellung der schulischen Praxis, die unter Berücksichtigung wissenschaftlichen Wissens bearbeitet wird. Ein Beispiel, das wir in unseren Studien verwendeten, ist die Frage, ob für einen spezifischen Unterricht ein kooperatives Lehr-Lern-Setting vorgesehen werden sollte. Zur Bearbeitung dieser Aufgabe muss in einem ersten Schritt relevantes wissenschaftliches Wissen gefunden werden; anhand dieser Informationen muss entschieden werden, ob die Informationen für die Problemstellung relevant sind. Die gefundenen wissenschaftlichen Arbeiten müssen sodann hinsichtlich ihrer Qualität (z.B. Validität, Generalisierbarkeit, Vergleichbarkeit der Kontextfaktoren mit der Anwendungssituation) und Passung an den jeweiligen Kontext bewertet werden. Bei der Nutzung mehrerer Quellen und eventuellen Widersprüchen wird abgewogen, welchen Erkenntnissen unter den jeweiligen Kontextbedingungen mehr Gültigkeit und Anwendbarkeit zukommt. Der letzte Schritt des Modells sieht eine argumentative Begründung für die Entscheidung unter Berücksichtigung von Evidenz vor. Für diesen Schritt wird nicht nur wissenschaftliche Evidenz herangezogen, sondern eben auch das eigene Vorwissen, die eigenen Erfahrungen und die in der Gemeinschaft der Professionellen verankerten Vorstellungen und Überzeugungen. Auch bei diesem Schritt kann es zu Widersprüchen kommen – beispielsweise, wenn subjektive Theorien sich im Kontrast zu wissenschaftlichem Wissen befinden. Es muss also abgewogen werden, welche Argumente aus Evidenz oder aus anderen Quellen in welcher Weise für eine konkrete Entscheidung verwendet werden. Allgemeines Wissen aus Metaanalysen oder aus empirischen Studien kann in der Regel nicht ohne ‚Brückenannahmen‘ in praktisches Handeln übersetzt werden. Für diese Brückenannahmen ist wiederum Erfahrungswissen erforderlich, das nicht nur Wissen über den konkreten fachlichen und pädagogischen Kontext umfasst – bis hin zum Wissen über die Merkmale einzelner Schüler(innen) –, sondern auch in der Praxis fundiertes Wissen über alternative Handlungsformen und deren Wirkungen. Diese Integration von Informationen, die Begründung für das eigene Entscheiden und die kritische Reflexion der eigenen Entscheidung sind anspruchsvolle kognitive Prozesse, und genau diese sind bisher so gut wie noch nicht empirisch untersucht. Zusammenfassend plädiert das Modell für eine informierte Abwägung verschiedener Wissensarten und -quellen: Professionelle Praktiker(innen) sollten zu

Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis

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zentralen Handlungsbereichen allgemeine wissenschaftliche Evidenz kennen und ihr Wissen über entsprechende Erkenntnisse im Verlauf der Berufsbiografie immer wieder aktualisieren. In konkreten Entscheidungssituationen sollten sie dieses Wissen berücksichtigen und ggf. auf der Basis ihres Erfahrungswissens als für diese Situation nicht geeignet zurückweisen. Kurz: im pädagogischen Bereich hat Erfahrungs- und Kontextwissen eine große Bedeutung – aber das ist keine Rechtfertigung für die Ignoranz aktueller Forschungsergebnisse.

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Die Aufbereitung wissenschaftlichen Wissens

Das Modell der evidenzorientierten Praxis sieht vor, dass Lehrer(innen) Zugang zu verschiedenen Formen wissenschaftlichen Wissens haben und dieses in konkreten Entscheidungssituationen heranziehen (und sei es, um sich dagegen zu entscheiden, s.o.). Ein häufiger – und berechtigter – Einwand gegen unser Modell ist, dass es naiv wäre anzunehmen, dass sich Lehrer(innen) in der Praxis mit dem Studium neuer wissenschaftlicher Studien befassen und dabei auch den internationalen Forschungsstand zur Kenntnis nehmen. Für eine Verbreitung der Evidenzorientierung – und damit für den Transfer wissenschaftlichen (Interventions-) Wissens in die Praxis – wäre es daher von großer Bedeutung, Wissen leichter zugänglich zu machen und unterschiedliche Ergebnisse zu einem Thema strukturiert zusammenzufassen. In Hinblick auf die Verfügbarkeit wissenschaftlichen Wissens bestehen zwischen der Medizin und dem Bildungsbereich deutliche Unterschiede: In der Medizin haben sich eine Reihe von Strukturen und Werkzeugen etabliert, die zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Anwendung in der Praxis vermitteln. Dazu gehören als Zusammenfassungen von Einzelstudien systematische Reviews und Metaanalysen für praktisch bedeutsame Themen. Noch bedeutsamer für die evidenzorientierte Praxis sind die ‚Leitlinien‘, die z. B. von Fachgesellschaften für die Diagnose und Therapie bestimmter Erkrankungen erstellt werden und die für Praktiker(innen) handlungsleitend oder zumindest orientierend sind (vgl. M. R. Fischer & Bartens 1999). Für den Schulbereich sind bislang wenige Anstrengungen erkennbar, wissenschaftliches Wissen für Lehrer(innen) systematisch zugänglich und nutzbar zu machen. Erst in den letzten Jahren spielen Forschungssynthesen bzw. Metaanalysen für die Frage der Begründung praktischen Handelns von Lehrer(inne)n eine Rolle, wobei insbesondere die (methodisch nicht unproblematische) Hattie-Studie prominent wurde (Hattie 2009). Strukturen, die wie in der Medizin wissenschaftliche Ergebnisse aufbereiten bzw. eine Vermittlerposition von der Wissenschaft zur Praxis darstellen, wurden in Deutschland für den Bildungsbereich bisher nicht etabliert.

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In jüngster Zeit sind erste Ansätze erkennbar, zumindest relevante Literatur für Praktiker(innen) zusammenzufassen und sie ihnen zur Verfügung zu stellen. Ein bekanntes Beispiel, das sich allerdings in erster Linie an Verantwortliche in der Lehrerbildung richtet, ist das ‚Clearinghouse der TUM‘ (Technische Universität München, 2018). Das Projekt wird im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ gefördert und stellt zu relevanten Themen der Unterrichtsqualität Kurzreviews zusammen, die den aktuellen Forschungsstand auf der Grundlage von Metaanalysen enthalten. Ziel ist es, dadurch das evidenzorientierte Handeln (zukünftiger) Lehrer(innen) zu unterstützen, wobei das Format sich primär an Lehrer(innen)bildner richtet. Der Schwerpunkt des Clearinghouses liegt – dem Profil der Technischen Universität München entsprechend – auf Unterricht in den MINT-Fächern im Sekundarbereich. Die Kurzreviews enthalten Zusammenfassungen der zugrunde liegenden Arbeiten, eine Bewertung durch das Clearinghouse sowie ein Fazit für die Unterrichtspraxis. Bei der jeweiligen Bewertung werden forschungsmethodische Aspekte (z.B. zu Effektstärken der Einzelstudien), differenzielle Effekte (z.B. Unterschiede zwischen den Fächern oder zwischen Altersgruppen) und Aspekte der Generalisierbarkeit diskutiert. Zudem enthält jedes Kurzreview ein konkretes Studienbeispiel. Ein zweites Beispiel für die anwendungsorientierte Aufbereitung wissenschaftlicher Ergebnisse sind systematic reviews, die derzeit beim dipf (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, 2017) erstellt werden und noch nicht zur Verfügung stehen.2 Die systematischen Reviews verfolgen einen ähnlichen Anspruch wie das Clearinghouse, sie sollen allerdings thematisch breiter angelegt und entsprechend umfassender und länger sein. Zudem ist mit dem Projekt der Anspruch verbunden, gemeinsam mit internationalen Partner(inne)n Standards zu entwickeln, denen systematic reviews künftig genügen sollten. Dies soll es auch anderen Autor(inn)engruppen erleichtern, qualitativ hochwertige Übersichtsarbeiten zu erstellen. Das erste Review, das das Thema ‚Sprachförderung in Kindertageseinrichtungen für über dreijährige Kinder in deutschsprachigen Ländern‘ behandelt, wird einen Überblick über erprobte und evaluierte Ansätze der sprachlichen Bildung in der genannten Altersgruppe geben. Es bearbeitet also ein unübersichtliches und komplexes Thema und eignet sich daher möglicherweise besonders gut für die Entwicklung von ‚ReviewStandards‘, weil bei seiner Bearbeitung zahlreiche typische Schwierigkeiten wie konfligierende Befundlagen, unterschiedliche Operationalisierungen in den Studien, vage Beschreibungen der Förderansätze usw. auftreten dürften.

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Informationen finden sich online unter: https://www.dipf.de/de/forschung/forschungsthemen/systematic-reviews (Zuletzt zugegriffen am: 01.11.2018).

Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis

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Fazit

Der Transfer wissenschaftlichen Wissens in die Praxis setzt voraus, dass zwischen diesen beiden Feldern vermittelt wird. Das bedeutet zunächst, dass wissenschaftliche Ergebnisse so aufbereitet werden, dass sie wahrgenommen werden und damit überhaupt eine Grundlage für evidenzorientiertes Handeln bieten. Mit den genannten Ansätzen zur Entwicklung von Übersichtsarbeiten (reviews) wurden erste Schritte in die praxisnahe Aufbereitung von Forschungsergebnissen unternommen. Es stellt sich aber die Frage, wie diese Texte von Lehrer(inne)n wahrgenommen werden, wie sie verstanden und verarbeitet werden und vor allem, ob und wie sie tatsächlich Eingang in berufliche Entscheidungen bzw. Handlungen finden. Das von uns entwickelte Modell evidenzorientierter Entscheidungen veranschaulicht die komplexen kognitiven Fähigkeiten, die für die kompetente Nutzung von Evidenz erforderlich sind. Daneben stellen motivationale und überzeugungsbezogene Dispositionen wichtige Einflussfaktoren für die Nutzung von Evidenz dar (z.B. Bauer, Berthold, Hefter, Prenzel & Renkl 2017). Parallel mit der Entwicklung von Reviews sollten diese Bedingungen der Evidenzorientierung durch Forschungsarbeiten untersucht werden. Das hilft nicht nur, die Reviews selbst zu verbessern, sie beispielsweise informationsreicher, anwendbarer oder verständlicher zu gestalten. Derartige Forschung kann auch dazu beitragen, grundsätzliche Probleme der Nutzung von Evidenz in alltäglichen professionellen Entscheidungen präziser zu beschreiben bzw. für Probleme Lösungsansätze zu finden. Die bisherigen Arbeiten zum evidenzbasierten Argumentieren berücksichtigen m.E. insbesondere zu wenig die Frage, wie verschiedene Formen von Evidenzen integriert werden, die sich möglicherweise widersprechen, und wie zwischen Evidenz und Erfahrungswissen eine reflektierte und begründete Abwägung getroffen wird. Zudem wird nicht ausreichend thematisiert, wie allgemeine Aussagen durch (möglicherweise hoch subjektive und kontextabhängige) Brückenannahmen konkretisiert werden, um überhaupt handlungsleitend zu werden. Derartige Forschungen könnten eine gute Grundlage für realistische Transfererwartungen und damit auch für Transfererfolge sein. Eine zweite Forschungs- und Denkperspektive halte ich aber für mindestens ebenso wichtig: Transfer von Forschung in die Praxis wird bisher zu stark als individueller Prozess gesehen, also als Denk- und Problemlöseprozess einzelner Lehrer(innen). Spätestens seit der Forschung um die situated cognition in den 90er Jahren (vgl. z.B. Gruber 2009) weiß man, dass professionelles Denken und Problemlösen stark von der jeweiligen professionellen Gemeinschaft und deren Standards beeinflusst ist. Dementsprechend ist auch die Nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse eingebettet in professionelle Routinen und Prozesse.

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Eine Ausweitung der Evidenzorientierung setzt damit voraus, dass die Nutzung von Evidenz (selbstverständlicher) Teil des professionellen Diskurses wird. Das hat auch Konsequenzen für Interventionsansätze bei Lehrer(inne)n. Ich würde bezweifeln, dass sich Evidenzorientierung nur dadurch steigern lässt, dass Einzelne Informationen lesen und nutzen. Vielmehr müssen kooperative Settings etabliert werden – z.B. in Fortbildungen oder in professionellen Lerngemeinschaften –, die gemeinsam Möglichkeiten und Grenzen erarbeiten, wie wissenschaftliches Wissen in der Praxis genutzt werden kann. Ein enger Diskurs der Wissenschaft zu diesen Gruppen hätte zudem noch die Möglichkeit, die Interaktivität von Transfer besser zu realisieren. Derartige Gruppen könnten dann nämlich auch Fragen und Erwartungen an die Wissenschaft formulieren. Und dies könnte eine wichtige Grundvoraussetzung evidenzorientierten professionellen Handelns unterstützen: die Durchführung von Forschungsarbeiten, deren Ergebnisse praxisrelevante Fragen aufgreifen und auf Anwendung abzielen.

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Diskussionspapier zum Selbstverständnis der Grundschulpädagogik als wissenschaftliche Disziplin Margarete Götz, Susanne Miller, Wolfgang Einsiedler und Michaela Vogt Das vorliegende Diskussionspapier entstand auf wiederholte Anregungen und drängende Bitten aus den Reihen der Mitglieder der DGfE-Kommission „Grundschulforschung und Pädagogik der Primarschule“. Unter dem Kommissionsvorsitz von Margarete Götz und Susanne Miller und unter der aktiven Mitwirkung von Wolfgang Einsiedler und Michaela Vogt wurde der nachstehende Text verfasst und in die Mitgliederversammlung am 27.09.2016 eingebracht. Nach deren Willen wurde auf der 26. Jahrestagung in Landau ein Symposium zum Selbstverständnis der Grundschulpädagogik durchgeführt. Nachfolgend finden Sie zunächst das Diskussionspapier im Wortlaut und sodann die Dokumentation des Symposiums mit den Statements zum Selbstverständnispapier. Mit dem Abdruck in diesem Tagungsband will das Autorenteam die Diskussion einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen und im Kreis der Fachkollegen und -kolleginnen zur weiteren wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung anregen.

Vorbemerkungen Mit Beginn der 1970er-Jahre erreichte die Grundschulpädagogik durch die Aufnahme in den universitären Fächerkanon in Westdeutschland formal den Status einer wissenschaftlichen Disziplin. In den ostdeutschen Bundesländern vollzog sich diese Entwicklung ab den 1990er-Jahren. Nach anfänglichen Selbstverständnisproblemen hat sie sich an vielen Universitäten (in Baden-Württemberg an Pädagogischen Hochschulen) als Wissenschaft etabliert und an nicht wenigen Standorten beachtliche Forschungsergebnisse erzielt. In den letzten zehn Jahren entwickelten sich Disziplinen und Forschungsstränge, die Überschneidungen mit der Grundschulpädagogik aufweisen und darin deren Selbstverständnis tangieren. Die Entwicklungen können wie folgt knapp skizziert werden: a.

Bedingt durch die bildungspolitische und auch pädagogische Forderung nach Inklusion stellt sich auf disziplinärer und auf professioneller Ebene die Frage nach der Sonderpädagogisierung der Grundschulpädagogik.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_2

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Mit der vollzogenen Stärkung der Bildungsaufgabe vorschulischer Einrichtungen hat die Grundschule als Institution ihre bisherige Monopolstellung als Ort grundlegender Bildung eingebüßt. Daher ist disziplinär nach der Grenze zwischen Elementar- und Grundschulpädagogik zu fragen. Das Kind als die ursprünglich zentrale Referenz- und Legitimationsgröße grundschulpädagogischer Reflexionen ist in die Kindheitsforschung ‚ausgewandert‘, sodass im disziplinären Gegenstandsfeld der Grundschule eine Lücke entsteht.

Trotz vieler Überschneidungen mit Nachbardisziplinen beansprucht die Grundschulpädagogik den Status einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin innerhalb der Erziehungswissenschaft, die über die Grundschuldidaktik Querverbindungen zu den Fachwissenschaften aufweist. Als eine solche Disziplin hat sie die Aufgabe einer auf Kontinuität bedachten Theorie der Bildung für Kinder vom vierten bis zum zwölften Lebensjahr genauso inne wie die einer guten Forschung inklusive eigener Nachwuchsarbeit.

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Grundschulpädagogik im aktuellen interdisziplinären Feld

Die Grundschulpädagogik widmet sich gegenwärtig mit ihren Fragestellungen, Themen und Methoden einem wissenschaftlichen Feld, auf das sich zumindest in Teilen auch das aktuelle Erkenntnisinteresse insbesondere der Elementarpädagogik, der Sonderpädagogik und der Kindheitsforschung richtet. So wünschenswert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist, setzt sie doch in jedem Fall eine disziplinäre Selbstvergewisserung der Grundschulpädagogik voraus, die ihrerseits auf die Markierung von Überschneidungen wie Grenzlinien angewiesen ist. Sie ergeben sich aus den Besonderheiten, welche die Grundschulpädagogik traditionell wie aktuell für ihr Diskurs- und Forschungsfeld beansprucht. Unter den schulbezogenen Wissenschaften ist sie als einzige Disziplin zuständig für die in der ersten öffentlichen Pflichtschule für alle Kinder zu leistende Grundbildung. Die Theoretisierung und die Untersuchung dieses Konstrukts mit den Mitteln der Forschung verleihen der Grundschulpädagogik ihre disziplinäre Identität, die sie von verwandten Wissenschaften unterscheidbar macht. Hiervon ausgehend können folgende Bestimmungsmomente als disziplinrelevant definiert werden: a. Anders als die Elementarpädagogik bezieht sich die Grundschulpädagogik auf eine gesellschaftliche, obligatorisch zu besuchende Institution, in der sich Grundbildung unter den Bedingungen des zeitlich, sozial und curricular organisierten Lernens und des professionalisierten Lehrens vollzieht. b. Mit der in Deutschland etablierten Sonderpädagogik teilt die Grundschulpädagogik zwar die Bearbeitung spezifischer individueller und kollektiver

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Bildungsprobleme, grenzt deren pädagogische Lösung allerdings weder disziplinär noch institutionell aus dem grundschulpädagogischen Diskurs und dem grundschulspezifischen professionsbezogenen Handlungsfeld aus. Trotz identifizierbarer Gemeinsamkeiten mit der aktuell vorwiegend sozialwissenschaftlich orientierten Kindheitsforschung unterscheidet sich die Grundschulpädagogik von den dort vorherrschenden Erkenntnisambitionen insofern, als sie Kinder und Kindheit nicht losgelöst von schulisch definierten Bildungsfragen und -anstrengungen thematisiert. Bedingt durch die curriculare Bindung von grundlegender schulischer Bildung teilt die Grundschulpädagogik mit den Fachdidaktiken das Interesse an der Lehrbarkeit eines fachlich geordneten Wissens in Abhängigkeit von individuellen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Erwartungen. Damit gewinnen fachnahe grundschuldidaktische Fragestellungen eine hohe Bedeutung, für deren Lösung die Grundschulpädagogik auf Erkenntnisse der Fachdidaktiken, des Weiteren auch der Fachwissenschaften angewiesen ist. Dennoch übersteigt die Grundschulpädagogik die Grenzen der Fachdidaktik, da grundlegende Bildung zumal in ihrer schulischen Anfangsphase die Kultivierung von fachübergreifenden und fachunabhängigen Bildungsanlässen und -aktivitäten ebenso einschließt wie den Umgang mit sozialen Kooperations- und Ordnungsformen.

Schulische Grundbildung als disziplineigene Theoriebildung

Im grundschulpädagogischen Feld ist seit mehr als einem Jahrzehnt eine anhaltende Forcierung der Forschungsaktivität und -produktivität zu verzeichnen. Im Vergleich dazu stagnieren Anstrengungen, die auf die Entwicklung und Profilierung einer disziplineigenen Theorie schulischer Grundbildung fokussieren. Die Ansätze älteren Datums, die dazu vorliegen, bewegen sich im Denkrahmen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und sind mit deren bekannten Schwächen belastet. Soweit Ansätze jüngeren Datums etwa unter anthropologischen und sozialwissenschaftlichen Vorzeichen vorliegen, bleiben sie im aktuellen grundschulpädagogischen Diskurs randständig und haben zudem nach eigenem Bekunden ihrer Vertreter(innen) noch nicht den Status einer ausgereiften und erklärungsmächtigen Theorie grundlegender schulischer Bildung. Statt eine eigene spezifische Theorie schulischer Grundbildung auszuarbeiten, operiert die Disziplin gegenwärtig v.a. mit Leihtheorien, die vorzugsweise der Psychologie und Soziologie entstammen, vereinzelt auch der Kulturanthropologie und Philosophie, neuerdings ebenso den Neurowissenschaften. Ohne disziplineigene Theoriearbeit bleibt die Grundschulpädagogik als Wissenschaft

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in der externen Wahrnehmung sowie im interdisziplinären Diskurs profil- und konturlos. Sie riskiert, ihre beanspruchte Eigenständigkeit als wissenschaftliche Disziplin zu verlieren und wird in ihren Forschungsaktivitäten anfällig für kurzlebige Ad-hoc-Thematiken ohne theoretisch relevanten grundschulpädagogischen Erkenntnisgewinn. Weder die Berufung auf die historische Tradition oder auf bildungspolitische Vorgaben noch die Forcierung von Forschungsaktivitäten löst das Problem der mangelnden Theoriebildung – unabhängig davon, wie elaboriert die Forschungen methodisch sind. Für die inhaltliche Ausarbeitung einer notwendigen Theorie der grundlegenden Bildung liegen in der Grundschulpädagogik wie in der Erziehungswissenschaft durchaus ausbau- und anschlussfähige Vorschläge vor. Darunter befinden sich auch solche, die mit explizitem Bezug auf die Grundschule unter anderem Reflexionen zur kompetenztheoretischen Explikation der Grundbildung, ihrer institutionellen und zeitlichen Limitierung sowie ihres curricularen Programms enthalten. Unabhängig von der favorisierten bildungstheoretischen Position für eine disziplineigene Theorieentwicklung geht es dabei immer um die Identifikation begründbarer Modi der Welt- und Selbsterschließung, die geeignet sind, jedem Mitglied der nachwachsenden Generation ein chancenreiches Leben als Person und Bürger(in) zu eröffnen. Der Mechanismus dafür ist im Fall der Grundschulpädagogik die Einführung in das schulische Lernen sowie dessen Stabilisierung, Ausweitung und Intensivierung über die Zeitspanne der grundlegenden Bildung hinweg. Eine elaborierte Theorie grundlegender Bildung, die in modernen Gesellschaften inhaltlich unterschiedlich ausfallen kann, liefert der Grundschulpädagogik als wissenschaftlicher Disziplin ein rational geordnetes und intern stimmiges System von Aussagen, über dessen Existenz a. b.

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gegenstandsbezogen das Reflexions- und Aufgabenfeld der Grundschulpädagogik eine systematische Strukturierung, Ausdifferenzierung und thematische Begrenzung erfährt, forschungsbezogen einerseits empirisch wie historisch gesättigte Befunde in ihrer Zurechenbarkeit und ihrer Relevanz für die Grundschulpädagogik beurteilt werden können, andererseits Kriteriensätze für eine empirische Überprüfbarkeit grundschulpädagogischer Theoretisierungsvarianten generiert werden, wissenschaftssoziologisch die intra- und interdisziplinäre Kommunikationsund Kooperationsfähigkeit gewährleistet wird, schultheoretisch das Bildungsprogramm der Grundschule bildungstheoretisch überprüfbar wird und damit vor pluraler Beliebigkeit wie einseitiger Engführung bewahrt werden kann sowie

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professionsbezogen ein Referenz- und Orientierungsmodell für die Verständigung, Kooperation und das Handeln der pädagogischen Akteure in der Grundschulpraxis vorliegt.

Um zu vermeiden, dass eine wie auch immer geartete Theorie der grundlegenden Bildung zu einem Muster ohne Wert wird, muss sie für die Grundschule unter Berücksichtigung der Bedingungen institutionalisierten Lernens und Lehrens konkretisiert und ausdifferenziert werden. Dabei gilt es – unabhängig von bestehenden Institutionalisierungsvarianten –, die für eine Theoretisierung der grundlegenden Bildung relevanten kulturellen Qualifikationen, Kompetenzen und Weltaneignungsformen zu identifizieren, die unterschiedslos allen Kindern vor jeder Bildungsspezialisierung zukommen. Zentral erscheint dabei die Frage, wie bildungsbedeutsames Lernen in seinen Vollzügen und Inhalten pädagogisch profiliert, sozial organisiert, curricular ausdifferenziert, methodisch arrangiert und professionell unterstützt werden kann. Dieses Lernen vollzieht sich in einer für alle Kinder verpflichtenden Basisinstitution, von der als paradoxe Leistung erwartet wird, für die nachwachsende Generation Vergesellschaftung und Individualisierung zu verbinden, Gleichheit der Bildungsstartchancen zu garantieren und zugleich Differenz zu ermöglichen. Die Antwortsuche ist dabei auf eine bildungstheoretische Verständigung ebenso angewiesen wie auf Forschungsaktivitäten, welche die empirische Realität schulischen Lehrens und Lernens historisch wie aktuell aufklären.

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Grundschulpädagogik als Diskurs- und Forschungsfeld für eine Grundschule für alle Kinder

Die Grundschule ist im deutschen Schulsystem die Schulform, in der die Vorstellung einer Schule für alle Kinder ihren konsequenten Ausdruck findet. Das Konzept einer Schule für alle Kinder ist ideengeschichtlich als Schule der Demokratie bereits in den Schulartikeln der Weimarer Verfassung von 1919 angelegt, in denen zum ersten Mal in Deutschland eine gemeinsame obligatorische Schule für alle Kinder des Volkes festgeschrieben wurde. Die Gründungsidee geht zurück auf die Einheitsschulbewegung, welche die frühe soziale, konfessionelle und geschlechtliche Trennung der Kinder in unterschiedliche Bildungswege vermeiden, ein breites gemeinsames Bildungsfundament schaffen und den Zugang zur höheren Schule in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft überwinden wollte. Die in diesem Sinne grundlegend demokratisch gedachte ‚Schule für alle‘ prägt die Identität der Grundschule als Institution, der Grundschulpädagogik als wissenschaftliche Disziplin und das Professionsverständnis der Grundschullehrkräfte von Beginn an bis heute. Auch wenn es realhistorisch von

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Beginn an bis heute stets Einschränkungen bei der Umsetzung gab, verstand und versteht sich die Grundschule als inklusive Schule schlechthin. Daher widerspricht letztlich jede Förderschulüberweisung dem Gleichheitsversprechen der Demokratie, wie es schulstrukturell mit der Einführung der Grundschule angestrebt wurde. Es erscheint deshalb aus grundschulpädagogischer Sicht sowohl unter historischer wie aktueller Perspektive geradezu paradox, wenn die Grundschule in der externen Wahrnehmung als Schule der Auslese etikettiert wird. Aktuell werden die Bemühungen um ein inklusives Schulsystem häufig – überwiegend in der Lesart der Disziplin der Sonderpädagogik – als die jetzt wahre Entwicklung zu einer Schule für alle gedeutet, weil sie darauf zielen, sämtliche Barrieren zu überwinden, die Verschiedenheit aller Kinder zu akzeptieren und Bildungspartizipation nicht nur für behinderte, sondern für sämtliche benachteiligten Kinder zu ermöglichen. Im Widerspruch dazu steigt aber gleichzeitig der Anteil von Kindern mit einem zugewiesenen sonderpädagogischen Förderbedarf. Diese Kinder werden damit – auch wenn sie auf der allgemeinen Schule verbleiben – etikettiert und in den Zuständigkeitsbereich des sonderpädagogischen Systems überführt. Inklusion in dieser Umsetzung verstärkt damit noch die Zwei-Gruppen-Theorie in behinderte und nicht-behinderte Kinder, in pädagogische und in sonderpädagogische Förderung und in allgemeine und in sonderpädagogische Lehrkräfte. Insofern bleibt es Aufgabe der Grundschulpädagogik, sich mit den eigenen Traditionen in Bezug auf eine gemeinsame Schule, auf eine gemeinsame Lehrer(innen)ausbildung (die natürlich Spezialisierungen beinhalten kann und muss) und auf einen grundlegenden Bildungsanspruch für alle Kinder auseinanderzusetzen. Hierzu muss sie auf der Basis der gegenwärtigen normativen, theoretischen und didaktischen Ansätze und empirischen Erkenntnisse ein eigenständiges Verständnis von Inklusion entwickeln und damit die Grundschule als Schule für alle Kinder neu bestimmen.

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Grundschuldidaktik als Feld der Grundschulpädagogik

In älteren Ansätzen waren Bildungstheorien Gegenstand der Grundschuldidaktik. Theoretisch durchaus anspruchsvoll wurden aus dem Bildungsbegriff übergreifende und fachliche Bildungsziele abgeleitet. Entgegen einer bloßen Beschränkung auf Lehren und Lernen wurde die Grundschuldidaktik später in eine umfassende Grundschulpädagogik eingeordnet. Demzufolge versteht sich Grundschuldidaktik als pädagogisch fundierte und geleitete Auseinandersetzung mit einer Unterrichtstheorie für das Grundschulalter. Ein Beispiel für den engen Zusammenhang von Pädagogik und Didaktik der Grundschule ist die Ermöglichung von Selbstwirksamkeits-/Leistungserfahrungen in Verbindung mit domä-

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nenspezifisch unterschiedlichen Lernaufgaben einschließlich des Erwerbs kultureller Qualifikationen. Grundschuldidaktik befasst sich auch systematisch mit der Theorie des Curriculums bzw. mit den neueren Konzepten ‚Bildungsstandards‘ und ‚Kompetenzerwerb‘. Nach wie vor ist es ein wichtiger Arbeitsbereich, mit Gesichtspunkten wie Systematik, Sequenzierung, Exemplarizität und Lehrgangsaufbau zur planmäßigen Organisation des Grundschulunterrichts beizutragen. Lehrpläne bieten einerseits Auswahlmöglichkeiten für Inhalte und Methoden, andererseits enthalten sie in fachlicher und zeitlicher Ordnung verpflichtende Lernaufgaben für den Erwerb von Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten. Wegen der großen bildungsbiografischen Bedeutung der in der Grundschule zu erwerbenden Kompetenzen für jedes weiterführende Lernen hat Grundschulunterricht die Aufgabe, Wissen und Können nicht nur anzubahnen, sondern auch für solide und stabile Lernergebnisse zu sorgen. Grundschuldidaktik macht deutlich, dass das Lernen nicht in der Abarbeitung von Unterrichtsthemen besteht, sondern in der Herstellung eines Zusammenhangs zwischen Lernaufgaben und übergeordneten Bildungszielen sowie der Epistemologie des Lernens. Kernstücke dieses Bildungsverständnisses für die Grundschule sind zum einen die sachbezogene Dimension mit der Aufgabe, die Kinder in die Rationalitätsformen der Welterschließung und in die grundlegenden Wissenskonzepte der Fächer einzuführen, zum anderen die soziale Dimension mit der Förderung von Kompetenzen für die Teilhabe an der gesellschaftlichen Kommunikation. Grundschuldidaktik ist keine ‚Vermittlungslehre‘, sondern sie verknüpft Lehren und Lernen mit der Förderung der Lernfähigkeit und mit dem Blick auf die epistemologischen Zugänge, d.h. die Grundschule ist die erste Institution, in der Schüler(innen) Lernmethoden erwerben sowie die Fähigkeit, sich selbst beim Lernen zu beobachten und es zu verbessern (Monitoring). Dabei spielen die Formen des selbstgesteuerten und des kooperativen Lernens eine immer wichtigere Rolle, da wegen der zunehmenden Heterogenität in den Lerngruppen differente Lernaufgaben und hoch individualisierte Lernwege erforderlich werden. In diesem Kontext hat auch das soziale Lernen seinen Platz: Die Schüler(innen) befassen sich mit den vielfältigen Regeln sachlicher und sozial angemessener Kommunikation und sie setzen sich mit Schlüsselkonzepten demokratischen Denkens und Handelns auseinander. Das in diesem Positionspapier vertretene Verständnis von Inklusion (Abschnitt 3) setzt am gemeinsamen Lernen in heterogenen Lerngruppen an, übergeordnetes Prinzip ist aber die Individualisierung in Form von Lernzieldifferenz und des individuellen Erlebens von Kompetenzerfahrungen. Grundschuldidaktisch wird es eine weithin noch zu lösende Forschungsaufgabe sein zu klären, wie Lernsettings zu gestalten sind, damit sie gleiche Bildungszugangschancen

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für alle Kinder eröffnen und zugleich nach Inhalt und Niveau differente Lernergebnisse ermöglichen. Die Entwicklung einer grundschuldidaktischen Theorie gehört zu zukünftigen Arbeits- und Forschungsaufgaben der Grundschulpädagogik. Sie ist mit ihrer Fokussierung auf eine Grundschule für alle Kinder wie auf das breite Spektrum vermittlungswürdiger und -bedürftiger Lernaufgaben kein leichtes Unterfangen. Ihre Ausarbeitung muss historische Forschung etwa zu den Entstehungskontexten von Lehr- und Lernformen ebenso berücksichtigen wie fachdidaktische Forschung, die Erforschung soziokultureller Ausgangslagen und Bedingungen des Lernens der Kinder, Analysen sozialer Dynamiken in Schulklassen und Lerngruppen der Grundschule sowie die Unterrichtsmethodenforschung, z.B. zu Unterrichtsqualität, im Rahmen sozial-kognitiver Lehr-LernTheorien.

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Grundschulpädagogik als forschende Disziplin

Was die für eine wissenschaftliche Disziplin unabdingbaren Forschungsleistungen anbelangt, ist für die Grundschulpädagogik in den letzten beiden Jahrzehnten zweifelsohne eine Aufwärtsentwicklung zu verzeichnen. So haben die grundschulpädagogischen Forschungsaktivitäten quantitativ zugenommen, ihr thematisches Spektrum erweitert und ihre forschungsmethodische Qualität gesteigert. Im Generellen dient die Grundschulforschung – die sich überwiegend im Feld oder an Schnittstellen zwischen empirisch-qualitativer, empirischquantitativer, historischer und vergleichender Forschung bewegt – der grundschulpädagogisch relevanten Theoriegewinnung, -bildung, -überprüfung und weiterentwicklung. Hinzu kommen solche Projekte, die unter Bezugnahme auf grundschulpädagogische Theorieannahmen und Forschungsergebnisse bildungspolitisch initiierte Reformprogramme forschend begleiten, überprüfen und voranbringen. Ausgehend vom Status quo ist zukünftig eine Ausweitung und Vertiefung grundschulpädagogischer Forschung erforderlich, nicht nur um die vorstehend genannten und auch zukünftigen Problemlagen wissenschaftlich fundiert zu klären und eventuell zu lösen. Die Forcierung der Grundschulforschung ist darüber hinaus für die disziplineigene wissenschaftliche Nachwuchssicherung unerlässlich. Qualifikant(inn)en erhalten durch die Einbindung in ausgezeichnete und gegebenenfalls drittmittelfinanzierte Forschungsprojekte die Gelegenheit, sich durch den Erwerb fundierter Methodenkenntnisse wissenschaftlich zu qualifizieren. Zudem kann über eine anspruchsvolle, auch international vorzeigbare Forschung die eigenständige Forschungsprofilierung der Grundschulpädagogik über den erreichten Stand hinaus ausgeweitet und geschärft werden. Dazu sind

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u.a. die Einwerbung von DFG-Projekten und die Einrichtung eines Graduiertenkollegs geeignete Maßnahmen, die zukünftig in den Reihen der Vertreter(innen) der Grundschulpädagogik eine verstärkte Aufmerksamkeit erfahren sollten. Nicht zuletzt wird durch eine weitere Forcierung sehr guter Forschung auch das wissenschaftliche Prestige der Grundschulpädagogik sowohl innerhalb der Erziehungswissenschaft wie innerhalb der Universitätsdisziplinen gesteigert.

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Grundschulpädagogik als Scientific Community und nachwuchsfördernde Disziplin

Die Existenz einer national etablierten sowie international vernetzten Scientific Community ist von hoher Relevanz für die erfolgreiche Fortentwicklung einer wissenschaftlichen Disziplin. Mit Blick auf die nationale Perspektive sind seit den 1990er-Jahren verstärkt Tendenzen zur Herausbildung eines eigenen grundschulpädagogischen Kommunikationsnetzwerkes feststellbar. Dies betrifft sowohl die Gründung einer disziplinbezogenen Kommission inklusive der Veranstaltung jährlicher Kommissionstagungen als auch periodisch erscheinende wissenschaftliche Publikationen im Bereich der Grundschulforschung. Umgeben ist dieses interne Kommunikationsnetzwerk von Anfang an von Bezugsdisziplinen, die den Grundschulforscher(inne)n eine ganze Reihe von Theorieannahmen und Forschungsansätzen sowie letztlich auch alternativen Netzwerken und Kommunikationsplattformen bieten. Die Stärkung der eigenen Scientific Community mit Kommunikationsformen für Grundschulforschende ist dementsprechend eine wichtige Aufgabe der Grundschulpädagogik, wenn sie als wissenschaftliche Disziplin dauerhaft wahrgenommen werden möchte. Dies betrifft auch eine intensive Einbindung des wissenschaftlichen Nachwuchses in bestehende Kommunikationsnetzwerke. Mit Blick auf internationale Perspektiven kommt für die Grundschulpädagogik die Notwendigkeit hinzu, verstärkt an bereits bestehenden internationalen Angeboten – wie Tagungsformaten oder internationalen Periodika – zu partizipieren sowie eigene Publikations- und Veranstaltungsbemühungen noch stärker international auszurichten. Insbesondere der wissenschaftliche Nachwuchs würde hiervon deutlich profitieren, da eine internationale Ausrichtung des eigenen Forschungsprofils mittlerweile für eine wissenschaftliche Karriere von zentraler Relevanz ist. Neben disziplinspezifischen Kommunikationsstrukturen bedarf es zur Weiterentwicklung der Grundschulpädagogik als Disziplin und damit für die Professionalisierung grundschulpädagogischer Forschung einer gesicherten institutionellen Verortung inklusive einer disziplinspezifischen Karrierestruktur. Dem steht jedoch u.a. die Tatsache gegenüber, dass die Grundschulpädagogik als universitäre Disziplin gegenwärtig nicht an allen Standorten mit Lehrer(in-

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nen)bildung in Form einer Professur oder eines Lehrstuhls vertreten ist oder nur in einer Doppeldenomination berücksichtigt wird. Derartige standortspezifische Konstellationen können die Durchführung von spezifisch grundschulpädagogischen Forschungsprojekten erschweren. Hinzu kommen Auswirkungen der Umstrukturierungen des Lehramtsstudiums seit Bologna. Einerseits ist die sich langsam etablierende Gleichstellung der Lehrämter überfällig und uneingeschränkt zu begrüßen. Andererseits führt dies an manchen Standorten zu einer Umorientierung in den Modulplänen: weg von spezifisch grundschulpädagogischen Inhalten hin zu allgemein bildungswissenschaftlichen. Langfristig können solche Entwicklungen die Notwendigkeit von Professuren für Grundschulpädagogik sowie damit verbunden die Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses für die Disziplin Grundschulpädagogik infrage stellen. Hinzu kommen Diskontinuitäten und Instabilitäten im Qualifikationsprozess des wissenschaftlichen Nachwuchses in der Phase des Übergangs vom Studium zur Promotion. Dies macht gegenwärtig die Förderung von Nachwuchswissenschaftler(inne)n durch disziplinspezifische Methodenschulungen und Nachwuchsworkshops – bspw. über die Kommission Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe – unverzichtbar. Ebenso notwendig ist die Unterstützung für die Gruppe von Promovierenden, die nach dem Referendariat und ggf. weiteren Jahren in der Schulpraxis in den wissenschaftlichen Qualifikationsprozess eintreten. Weitere Probleme der Profilbildung von Grundschulforschenden beziehen sich auf die zumeist fehlende Möglichkeit, ein passendes Promotions- und Habilitationsfach bspw. mit dem Titel Grundschulpädagogik zu wählen. Diese und weitere Umstände erschweren die Ausbildung von Forschenden mit einem dezidiert grundschulpädagogischen Profil. Der Abbau derartiger Hindernisse stellt deshalb ein wichtiges Entwicklungsziel im Sinne einer disziplinären Stärkung der Grundschulpädagogik dar.

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Fazit

Angesichts der vorstehend aufgezeigten inner- wie außerdisziplinären Entwicklungen präsentiert sich die Grundschulpädagogik als Wissenschaft gegenwärtig in einer Verfassung, die eine Debatte über ihr disziplineigenes Selbstverständnis dringend erforderlich macht – sofern die Grundschulpädagogik zukünftig nicht riskieren will, als eine profillose oder gar überflüssige Disziplin wahrgenommen zu werden. Das Autor(inn)enteam dieses Beitrages möchte damit eine Diskussion anregen, in der verstärkt über das Selbstverständnis der Grundschulpädagogik nachgedacht und in der versucht wird, die disziplinprägenden Merkmale herauszuarbeiten.

Diskussion des Selbstverständnisses der Grundschulpädagogik als Disziplin Susanne Miller, Sabine Martschinke, Margarete Götz, Andreas Hartinger, Diemut Kucharz, Katrin Liebers und Kornelia Möller

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Einführung (Susanne Miller und Margarete Götz)

Mit den nachfolgenden Statements werden die Ergebnisse eines Symposiums publizistisch dokumentiert, das im Rahmen der 26. Jahrestagung der DGfEKommission „Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe“ zum wissenschaftlichen Selbstverständnis der Grundschulpädagogik veranstaltet wurde. Die Diskussionsgrundlage des Symposiums bildete der vorangestellte Text zum Selbstverständnis. Mit den in den Statements enthaltenen Anregungen, Problematisierungen und kritischen Impulsen werden diskussionswürdige Aspekte in die Selbstverständnisdebatte einer Disziplin eingebracht, die im universitären Fächerkanon vergleichsweise jung ist. Die ersten Professuren für Grundschulpädagogik wurden zu Beginn der 1970er Jahre eingerichtet. Mittlerweile können die von Wolfgang Einsiedler (2015: 49ff.) genannten Charakteristika einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin, wie 1. Bildung von Kommunikationsnetzwerken, 2. wissenschaftliche Produktion von Erkenntnissen, 3. Sozialisierung und Ausbildung des Nachwuchses, 4. Schaffung einer institutionellen Basis - Professionalisierung der Forschung als erfüllt angesehen werden. Dennoch gibt es aktuell genügend Anlässe, den Status der Grundschulpädagogik als eigenständige wissenschaftliche Disziplin offensiv innerhalb wie außerhalb des erziehungswissenschaftlichen Feldes zu vertreten. Konkret zeigt sich dies beispielsweise bei inneruniversitären Entscheidungen über Wieder- oder Nichtzuweisung von entsprechenden Professuren oder bei Denominationen, die sich häufig begrifflich nicht mehr klar der Grundschulpädagogik zuordnen lassen (vgl. Götz 2018). In Bezug auf die Profession ist die Disziplin gegenwärtig deutlich gefordert zu markieren, worin die spezifischen Qualifikationen von ausgebildeten Grundschullehrkräften gegenüber den Seiten- und Quereinsteiger(inne)n liegen, die vielfach ohne ein Studium des Lehramts Grundschule in den Schuldienst eingestellt werden (siehe Stellungnahme der Kommission für Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe; vgl. Koch et al. 2017). Neben diesen eher hochschul- und bildungspolitischen Herausforderungen gibt es auch auf wissenschaftsdisziplinärer Ebene die Notwendigkeit, sich der Spezi-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_3

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fika der Disziplin der Grundschulpädagogik zu besinnen und sie zu formulieren. Die Begründung für eine solche Notwendigkeit wird im Selbstverständnistext an den Überschneidungsfeldern der Grundschulpädagogik mit den Disziplinen der Sonderpädagogik, der Elementarpädagogik und der Kindheitsforschung festgemacht. Dabei geht es nicht um eine strikte Abgrenzung von diesen Nachbardisziplinen, sondern um eine Schärfung der eigenen disziplinären Zugangsweisen, weil nur von hier aus eine interdisziplinäre Zusammenarbeit möglich und fruchtbar ist. Diese Schärfung wird im Selbstverständnistext in insgesamt sechs Punkten deutlich gemacht: 1. Grundschulpädagogik im aktuellen interdisziplinären Diskurs, 2. Schulische Grundbildung als disziplineigene Theoriebildung, 3. Grundschulpädagogik als Diskurs- und Forschungsfeld für eine Grundschule für alle Kinder, 4. Grundschuldidaktik als Feld der Grundschulpädagogik, 5. Grundschulpädagogik als forschende Disziplin, 6. Grundschulpädagogik als Scientific Community und nachwuchsfördernde Disziplin. Die inhaltlichen Ausführungen zu den sechs Punkten können dem vorangegangenen Abdruck im Detail entnommen werden. Zur besseren Einordnung der nachfolgenden einzelnen Statements soll in knapper Form der Entstehungskontext des Symposiums nachgezeichnet werden: Der Selbstverständnistext selbst, auf den sich die Statements beziehen, ist in der vorliegenden Form erstmalig der Mitgliederversammlung der Kommission Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe am 27. September 2016 auf der Jahrestagung in Bielefeld vorgelegt worden. Er wurde auf wiederholte Anregung aus den Reihen der Mitglieder der Kommission unter dem Kommissionsvorsitz von Margarete Götz und Susanne Miller und unter aktiver Mitarbeit von Wolfgang Einsiedler und Michaela Vogt verfasst. Der 2016 neu gewählte Vorstand (Susanne Miller und Sabine Martschinke) machte sich den Text und die damit verknüpfte Intention zu eigen. Unter Umbenennung des ursprünglichen Titels in „Diskussionspapier zum Selbstverständnis“ wurde ohne weitere inhaltliche Änderungen der Text beschlussmäßig mit großer Mehrheit von den Mitgliedern der Kommission akzeptiert. Gleichzeitig wurde vereinbart, die eingeleitete Selbstverständnisdebatte zukünftig weiterzuführen. Um eine möglichst hohe Beteiligung aller Mitglieder zu ermöglichen, wurde, ebenfalls auf Beschluss der Mitgliederversammlung, im Oktober 2016 ein Online-Forum eingerichtet. Außerdem organisierte der Vorstand ein Symposium für die nächste Jahrestagung 2017, von dem nachfolgend berichtet wird. Aus den Reihen der Mitglieder erklärten sich Andreas Hartinger, Kornelia Möller, Diemut Kucharz und Katrin Liebers zu Stellungnahmen bereit, die nachfolgend publiziert sind. Abschließend fasst Sabine Martschinke die im Symposium geführte Diskussion in den wesentlichen Punkten zusammen. Auf diese Weise soll zum einen der seit 2016 stattgefundene kommissionsinterne Diskussionsprozess zum Selbstverständnis der Grundschulpädagogik in seinem Verlauf

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nachvollziehbar dokumentiert werden, zum anderen wird mit den Einzelbeiträgen der bisher erreichte Stand in der Selbstverständnisdebatte einer breiteren Fachöffentlichkeit auch über die Grenzen der Grundschulpädagogik hinaus zugänglich gemacht.

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Statements

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Andreas Hartinger: Der Bezug zum Feld und Grundschulpädagogik als Fokussierungsdisziplin

Das vorliegende Diskussionspapier ist ohne Zweifel ein wichtiger Schritt, um über Grundschulpädagogik als wissenschaftliche Disziplin zu reflektieren und zu überlegen, was den Kern unserer Disziplin (im Sinne von Stichweh 2013) ausmacht. Ein Aspekt, der nach meiner Einschätzung allerdings etwas zu kurz kommt, ist der Bezug zum Feld, also zur Grundschule und ihrer Praxis. Zwar ist im Diskussionspapier der Bezug der Grundschulpädagogik zur Grundschule als gesellschaftliche Institution implizit immer vorhanden, er wird allerdings nicht expliziert (lediglich in den Vorbemerkungen wird einmal von der Grundschule als „disziplinären Gegenstandsfeld“ gesprochen). Es wäre zumindest plausibel, einen Satz wie z.B. „Die Grundschulpädagogik als wissenschaftliche Disziplin beschäftigt sich mit allen Fragen, die das Lernen, Lehren und Leben in der Grundschule betreffen“ aufzunehmen, durch den deutlich gemacht wird, dass der Bezug zum Feld die zentrale Referenzkategorie der Disziplin ist. Allerdings bedeutet das dann auch, dass darüber nachzudenken ist, was mit der wissenschaftlichen Disziplin geschieht, wenn sich die Grundschule und ihre Praxis ändern. Letztlich muss man auch überlegen, welche Konsequenzen es hat, dass sich das Feld (die Ausgestaltung in Deutschland über die verschiedenen Bundesländer hinweg) unterschiedlich präsentiert. Es stellen sich dann Fragen wie: „Unterscheidet sich die Grundschulpädagogik als wissenschaftliche Disziplin in einem Land, in dem die Grundschule vier Jahre dauert, von einem, in dem die Kinder sie sechs Jahre lang besuchen?“ oder „Was bedeutet es für die Grundschulpädagogik als wissenschaftliche Disziplin, wenn Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarfen die Grundschule (und nicht Förderschulen) besuchen?“ Wenn man den Bezug der Grundschulpädagogik als wissenschaftlicher Disziplin zur Grundschule und ihrer Praxis akzeptiert, dann hat dies auch Konsequenzen für die Erstellung einer im Diskussionspapier angemahnten „disziplineigenen Theorie schulischer Grundbildung“ (Abschnitt 2). Aufgrund der Unterschiede, Unsicherheiten oder auch Veränderungen im Feld muss eine solche Theorie für diese Ungewissheiten offen sein.

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Dies erscheint mir auch bedeutsam mit Blick auf die internationale Ausrichtung der Grundschulpädagogik im akademischen Diskurs. Die völlig berechtigte Aufforderung des Diskussionspapiers „eigene Publikations- und Veranstaltungsbemühungen noch stärker international auszurichten“ (Abschnitt 6) bedeutet, dass man sich in der Ausrichtung nicht zu stark auf die aktuell in Deutschland oder gar im eigenen Bundesland vorfindbare Ausgestaltung der Grundschule beziehen kann. Vielmehr ist es dann auch erforderlich, sich an (international wirkmächtigen) Theorien aus Bezugsdisziplinen zu orientieren. Auch aus diesem Grund ist es nach meiner Einschätzung wichtig, dass sich die Grundschulpädagogik weniger durch ihre Abgrenzung zu anderen Disziplinen (wie die im Positionspapier genannten Elementarpädagogik, Sonderpädagogik oder Fachdidaktiken) versteht, sondern vielmehr als ‚Fokussierungsdisziplin‘, in der die auch dort behandelten Fragen aus einer bestimmten Sichtweise erforscht, betrachtet und interpretiert werden. So ist es z.B. erforderlich, die spezifische Situation und Ausgestaltung der Grundschule im Auge zu haben, wenn lernpsychologische Studien mit Grundschulkindern durchgeführt werden. Ebenso gilt es z.B., fachdidaktische Studien zu den Möglichkeiten inhaltlichen Lernens dahingehend einer Überprüfung zu unterziehen, inwieweit die dort propagierten Lerninhalte im Kontext einer grundlegenden Bildung von Bedeutung sind (v.a. dann, wenn der Lernerfolg viel Aufwand und Zeit erfordert). Die Didaktik des Sachunterrichts ist hier in ihrer vielperspektivischen Ausrichtung vermutlich ein gutes Bindeglied. Grundschulpädagogik als wissenschaftliche Disziplin sollte dann relevante Fragen, Aufgaben, Probleme der Grundschule identifizieren und ohne Berührungsängste überlegen, welche Disziplinen helfen können, diese Fragen zu beantworten. Die ,Deutungshoheit‘ für die Interpretation der Ergebnisse mit Blick auf die Weiterentwicklung der Grundschule sollte sich unsere Disziplin vorbehalten – diese speist sich dann wiederum aus dem Bezug auf die Grundschule und ihre Praxis. 2.2

Diemut Kucharz: Die Disziplin der Grundschulpädagogik und ihre Nachbardisziplinen1

Die wissenschaftliche Disziplin Grundschulpädagogik hat ein klar umrissenes Gegenstandsfeld: die Bildungsinstitution Grundschule, die Schüler(innen) im Grundschulalter, deren Eltern, die Lehrkräfte und deren Professionalisierung, die administrativen und politischen Akteure sowie das jeweilige Handeln der Akteure. Wie die Schulpädagogik insgesamt so bedient sich auch die Grund1

Dieses Teilkapitel wurde in vergleichbarer Weise von Schönknecht, Kucharz, Bennemann, Koch & Ramseger (2017) veröffentlicht.

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schulpädagogik für die eigene Theoriebildung und Forschung verschiedener Nachbardisziplinen, um ihren Gegenstandsbereich umfassend genug erforschen zu können (Schorch 2007). Dazu gehören beispielsweise die Philosophie, die Soziologie oder die pädagogische und die Entwicklungspsychologie. In der Grundschulpädagogik als Profession geht es darum, Bildungsprozesse von Grundschüler(inne)n zu initiieren, zu begleiten und zu unterstützen. Dabei stehen z.B. Bildungsprozesse wie die kognitive und sprachliche Entwicklung (Welterschließung, Mathematik, Schriftsprache, Literacy, Lernstrategien), die soziale und Persönlichkeitsentwicklung (Einfügen und Behaupten in der Gruppe, Übernahme von Verantwortung, Selbstbewusstsein) im Fokus. Die Kindheits- und Elementarpädagogik als sehr junge Disziplin beschäftigt sich mit der Erforschung und Beschreibung verschiedener Kindheiten sowie mit der bereichsspezifischen Entwicklung von Kindern unter sechs Jahren. Die Elementarpädagogik untersucht auch die Bedeutung institutioneller Unterstützung. Die traditionelle Aufgaben-Trias der Kindertagesstätten von ‚Erziehung, Betreuung und Bildung‘ hat sich in den letzten Jahren deutlich in Richtung ‚Bildung‘ verschoben, indem immer mehr bereichsspezifische Bildungsprozesse von jungen Kindern und deren Unterstützung in den Fokus geraten (Kucharz 2014). Hierbei kann auf die lange Tradition der Grundschulpädagogik in der Gestaltung von Bildungsprozessen für junge Kinder zurückgegriffen werden. In der Sozialpädagogik steht der Mensch als Individuum und seine Biografie im Zentrum. Die Sozialpädagogik konzentriert sich auf die Aufwachsbedingungen im außerschulischen Bereich, in dem auch informelle Kontexte in den Blick geraten. Systemisch gesehen gehören Schule und Jugendhilfe zu getrennten Bereichen; Schule als ‚Zwangsveranstaltung‘ wird häufig kritisch gesehen (Kucharz 2014), insbesondere in ihrer Wirkung auf benachteiligte Kinder. Im Zuge zunehmender Einrichtung von Ganztagsschulen überlappen sich Arbeitsbereiche von Schule und Jugendhilfe, der Ort der Begegnung mit den Kindern ist die Schule. Neben einer Gestaltung professioneller Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule stehen auch gemeinsame Forschung und Theoriebildung der beiden Disziplinen (Grund-)Schulpädagogik und Sozialpädagogik an. Im Zentrum der Sonderpädagogik stehen Kinder mit besonderen Entwicklungsbedarfen, denen durch spezifische Unterstützung eine gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden soll. Die Professionalisierung der Sonderpädagogik hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren durch zunehmende Spezialisierung und Ausdifferenzierung vollzogen (Katzenbach 2015). Angesichts der Aufgabe der Inklusion ist bislang noch ungeklärt, welchen Stellenwert die jeweiligen Spezialgebiete in einer solchen Schule haben und wie Inklusion gedacht werden kann. Die Grundschulpädagogik als Profession hat sich schon immer mit einer heterogenen Lerngruppe beschäftigt und dafür Konzepte für einen produktiven Umgang entwickelt. Hier könnte sie einen wichtigen Beitrag leisten, wie inklu-

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sive Schule gestaltet werden kann – angesichts zahlreicher Diversitätsmerkmale, zu denen auch verschiedene Formen von Beeinträchtigung gehören. Zusammenfassend zeigt sich, dass die Grundschule als wissenschaftliche Disziplin und als Profession aufgrund ihrer Tradition für zahlreiche aktuelle Entwicklungsfelder benachbarter Disziplinen theoretische und empirische Expertise mitbringt, die hier stichwortartig aufgezählt werden: Gestaltung von Ganztagsschulen durch Rhythmisierung und die Verbindung von unterrichtlichem und außerunterrichtlichem Lernen, Arbeiten und Handeln, Hineinführen in systematisches und bereichsspezifisches Lernen durch zunehmende Versachlichung und Fachlichkeit, die Gestaltung und Unterstützung durchgängiger Bildungs- und Entwicklungsprozesse von Kindern im inklusiven Setting für heterogene Lerngruppen. Als Fazit kann es in keiner Weise um eine Auflösung oder einen Profilverlust der Grundschulpädagogik gehen, vielmehr hat diese in Theorie, Empirie und Profession viele der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen, welche die ‚Nachbardisziplinen‘ derzeit beschäftigen, bereits bearbeitet. Damit weist die Grundschulpädagogik als Disziplin hohe Anschlussfähigkeit auf. 2.3

Katrin Liebers: Weiterentwicklung der pädagogischen Theorie einer Grundschule für alle Kinder

Die markierten Diskursfelder des Diskussionspapiers werden als überaus relevant erachtet, wenngleich die ideengeschichtliche Bestimmung einer „grundlegend demokratisch gedachten ‚Schule für alle’“ als Kern einer zukünftigen Identität der Grundschule als Institution, der Grundschulpädagogik als wissenschaftlicher Disziplin und des Professionsverständnisses der Grundschullehrkräfte noch vertiefter geführt werden sollte. Dieser ideengeschichtlichen Bestimmung kann uneingeschränkt zugestimmt werden. Gleichzeitig zeigt ein Blick in das aktuelle Diskursfeld, welche Entwicklungsbedarfe sich hinsichtlich der Theoriebildung, aber auch hinsichtlich zukünftiger Forschungs- und Entwicklungsbedarfe ergeben, „um die Grundschule als Schule für alle Kinder neu zu bestimmen“. Die Grundschule soll seit ihrer Gründung 1919 als eine Schule für alle Kinder in Deutschland fungieren und damit schulstrukturell das „Gleichheitsversprechen der Demokratie“ (Götz 2011: 27) einlösen. Die gesellschaftspolitische Idee einer demokratischen Grundschule, die allen Kindern ungeachtet ihrer Herkunft einen gleichen Bildungszugang ermöglichen soll, hat sich bereits in den Gründungsjahren der Grundschule als eine äußerst schwer zu realisierende Aufgabe erwiesen und ist es auch heute noch. Bereits in den späten 1920er Jahren wurde empirisch belegt, dass begabten Kindern aus unteren sozialen Schichten der Übergang an das Gymnasium nur selten ermöglicht wurde (Bäumer

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1930: 30, zitiert nach Götz 2011: 30). Zugleich erlebten die Hilfsschulen, die überwiegend von Kindern der alleruntersten sozialen Schichten besucht wurden, in den 1920er Jahren ihre erste ‚Blütezeit‘ (Myschker 1983). Vor dem Hintergrund heutiger gesellschaftlicher Transformationsprozesse sollen öffentliche Grundschulen mehr denn je dem demokratischen Auftrag einer Schule für alle Kinder genügen. Die Grundschulen scheinen der Idee einer inklusiven Grundschule, die von allen Kindern wohnortnah gemeinsam besucht wird, auf den ersten Blick recht gut zu entsprechen. Dennoch zeigen sich irritierende Tendenzen, so steigt z.B. in den Metropolenregionen Deutschlands der Anteil von Kindern, die Grundschulen privater Träger besuchen (Beispiel Stadt Leipzig: zehn Prozent, Stadt Leipzig 2017) und es gibt weiterhin eine Praxis, einen Teil der Schulanfänger(innen) direkt in Förderschulen einzuschulen (bundesweit drei Prozent zum Schuljahr 2016/2017, Nier 2017). Zudem nimmt trotz rasch steigender Inklusionsquoten der Anteil der Kinder, die eine Förderschule besuchen, nicht substanziell ab, stattdessen nimmt die allgemeine Förderquote, d.h. der Anteil der Schüler(innen), denen sonderpädagogischen Förderbedarfe zugeschrieben werden, stetig zu (Wocken 2015). Aktuelle Befunde (Kocaj, Kuhl, Kroth, Pant & Stanat 2014) legen nahe, dass dies wie jeher überwiegend Kinder aus einem prekären sozialen Milieu sind. Ebenso wird die Grundschule ihrem zweiten demokratischen Auftrag, Chancengerechtigkeit innerhalb der Grundschule und beim Übergang in die weiterführenden Schulen zu ermöglichen, nur bedingt gerecht. Während Unterschiede in der Bildungsbeteiligung, die aus den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Kinder resultieren, mit den Vorstellungen einer leistungsbezogenen Verteilungsgerechtigkeit zumeist gerade noch vereinbar sind, gilt dies für Bildungsdisparitäten infolge sekundärer Herkunftsmerkmale der Eltern, wie sie in der IGLU-Studien, insbesondere der von 2016 (Hußmann et al. 2017), verstärkt offenkundig wurden, sowie Formen institutioneller Diskriminierung keinesfalls mehr. Auch wenn es der Grundschule weitgehend gelingt, vielen, wenn auch nicht allen Kindern, eine gute grundlegende Bildung zu ermöglichen, zeigt sich im Hinblick auf das demokratische Versprechen, eine Schule für alle Kinder zu sein, als ein eher enttäuschendes Fazit, dass es der Grundschule seit ihrer Gründung bis heute nicht genügend gut gelungen ist, die sozial bedingte Ungleichheit der Bildungsbeteiligung zu vermindern. Dabei zeigt der Blick in andere hochindustrialisierte Länder, dass erfolgreiches Lernen sehr vieler Kinder bei gleichzeitiger Entkoppelung von Leistung und Herkunft deutlich besser gelingen kann und zudem z.B. die Leseleistungen aller Kinder gesteigert werden konnten. Die genannten Aspekte sind in einer Theoriebildung der Grundschule stärker zu fokussieren und vertiefend zu beforschen. Zudem bedarf es neuer päda-

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gogischer Entwicklungsansätze, um den Anspruch einer Schule für alle Kinder in der alltäglichen Praxis besser gerecht werden zu können. 2.4

Kornelia Möller: Kritik am Diskussionspapier aus Sicht grundschulbezogener Fachdidaktiken

Ich beginne mit Zustimmung zu wichtigen Teilen des Papiers, fahre fort mit Punkten, die mir aus einer fachdidaktischen Perspektive problematisch erscheinen und präsentiere zum Abschluss einen Vorschlag für eine ausgewogenere Bestimmung des Verhältnisses zwischen Fachdidaktik und Grundschulpädagogik/-didaktik. Zunächst: Das Führen eines Diskurses zum Selbstverständnis der Disziplin Grundschulpädagogik ist uneingeschränkt zu begrüßen. Auch scheint mir die Kommission Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe in der DGfE ein geeigneter Ort für einen solchen Diskurs zu sein. Ein solcher Diskurs ist notwendig, um Heterogenitäten in der Community der grundschulbezogen Forschenden und mit der Pädagogik der Grundschule Befassten sichtbar zu machen und Gelegenheit zu bieten, differierende Positionen zu begründen und auszuhandeln. Auch das Selbstverständnis, eine eigene Disziplin innerhalb der Pädagogik darzustellen, ist zu begrüßen, da die Grundschulpädagogik Ansprüche an eine allgemeine und grundlegende Bildung in der Eingangsstufe unseres schulischen Bildungssystems formuliert und als solche eine schulstufenbezogene pädagogische Disziplin darstellt, die sich mit den besonderen Aufgaben und Bedingungen einer Pädagogik des institutionellen Lernens in der Grundschule auseinandersetzt. Auch eine allgemeine Grundschuldidaktik (Abschnitt 4) – als Teilbereich der Grundschulpädagogik und als Spezialbereich der Allgemeinen Didaktik, quasi als eine auf eine (sehr relevante) Stufe ausgerichtete allgemeine Didaktik – scheint mir erforderlich, um 1. Ansprüche an das frühe Lernen im Grundschulalter zu formulieren und 2. dabei die spezifischen Besonderheiten des Lehrens und Lernens in diesem Alter berücksichtigen zu können. Ich begrüße auch die Forderung nach vermehrten Anstrengungen, Grundschulpädagogik mitsamt ihrer Grundschuldidaktik als forschende Disziplinen weiterzuentwickeln (Abschnitte 5 und 6), um die Theoriebildung in der Disziplin voranzutreiben und Nachwuchssicherung zu betreiben. Auch die Forderung, die entsprechende Forschung stärker als bisher zu internationalisieren und auch auf DFG-Niveau durchzuführen, befürworte ich uneingeschränkt. Der Aussage allerdings, dass die Grundschulpädagogik unter den schulbezogenen Wissenschaften „als einzige Disziplin“ „für die in der ersten öffentlichen Pflichtschule für alle Kinder zu leistende Grundbildung“ (Abschnitt 1)

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zuständig ist, möchte ich deutlich widersprechen. Auch kann die Grundschulpädagogik als pädagogische Disziplin allein keine Aussagen zum curricularen Programm der Grundschulbildung vorlegen (Abschnitt 2), und sie ist auch nicht in der Lage, eine fachbezogene Auswahl und zeitliche Aufeinanderfolge von Bildungsinhalten vorzulegen, mit dem Ziel, die Kinder in die grundlegenden Wissenskonzepte der Fächer einzuführen (Abschnitt 4). Die Aufgabe, die Kinder in die Realitätsformen der Welterschließung und in die grundlegenden Wissenskonzepte der Fächer einzuführen (ebd.), liegt primär im Zuständigkeitsbereich der grundschulbezogenen Fachdidaktiken, die entsprechende Fragen aus fachlicher, fachdidaktischer und pädagogischer Sicht bearbeiten und dabei die Weiterführung der in der Grundschule angebahnten Bildungsprozesse in den weiterführenden Schulen im Blick haben. Fachbezogene Lernprozesse lassen sich nicht allein aus pädagogischer Perspektive gestalten – eine zusätzliche fundierte fachliche und fachdidaktische Analyse ist unerlässlich, um begründete und durch Forschung gestützte Aussagen über Ziele, anzustrebende Kompetenzen, den Aufbau von Lernsequenzen und altersgemäße Lernformen in den Fächern der Grundschule machen zu können. Ohne Berücksichtigung fachlicher und fachdidaktischer Grundlagen ließen sich z.B. keine Lernschwierigkeiten erkennen, keine passenden lernunterstützenden Maßnahmen entwickeln und keine angemessene Sequenzierung von Lernprozessen vornehmen. Auch die Auswahl von Lerngegenständen bedarf der fachdidaktischen Expertise: Welche Konzepte sind zugleich grundlegend für die jeweilige Disziplin, für die Kinder erschließbar und relevant in ihrer gegenwärtigen Umwelt? Zur Beantwortung dieser Fragen berücksichtigen die Fachdidaktiken auch Erkenntnisse und Aussagen aus korrespondierenden Disziplinen, wie der Pädagogik, Grundschulpädagogik, Allgemeinen Didaktik, Grundschuldidaktik, aber auch aus den Fachwissenschaften sowie der Psychologie, Philosophie und Soziologie. Die Thematisierung allgemeiner pädagogischer und didaktischer Aspekte des frühen Lernens in der Grundschule, auch der Aspekte, die das fachliche Lernen übersteigen (Abschnitt 1), ist dagegen Aufgabe der (allgemeinen) Grundschulpädagogik und didaktik. Dass fachliches und fachdidaktisches Wissen für die Gestaltung qualitätsvoller Lernprozesse unabdingbar ist, belegen Ergebnisse der Unterrichtsqualitätsforschung zumindest in einigen Fächern hinreichend (Kunter & Ewald 2016); auch für die Grundschule liegen Evidenzen vor. So konnten Ohle, Fischer und Kauertz (2011) zeigen, dass das fachliche Wissen von Sachunterrichtslehrkräften unter Berücksichtigung einer angemessenen fachdidaktischen Sequenzierung des Unterrichts den Lernfortschritt zum Thema Aggregatzustände in einer vierten Klasse signifikant vorhersagt. Weitere empirische Ergebnisse zeigen, dass das fachdidaktische Wissen derselben Lehrkräfte noch deutlicher den Lernfortschritt der Viertklässler(innen) in demselben Unterricht vorhersagt

Diskussion des Selbstverständnisses der Grundschulpädagogik als Disziplin

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und außerdem auch signifikant mit dem Fachinteresse und dem Kompetenzerleben der Schüler(innen) zusammenhängt (Lange, Kleickmann, Tröbst & Möller 2012; Lange et al. 2015). Hill, Rowan und Ball (2005) erzielten ähnliche Ergebnisse für den Mathematikunterricht in der Grundschule. Diese Ergebnisse stützen die Annahme, dass ein solides fachliches und fachdidaktisches Wissen für die Gestaltung fachbezogener Lernprozesse unabdingbar ist. Der Ort für die Erforschung des notwendigen, auf das Lernen in der Grundschule bezogenen fachlichen und fachdidaktischen Wissens, für die Erforschung grundschulgeeigneter Vermittlungsformen und für die forschungsbasierte Auswahl geeigneter Bildungsinhalte sind die Fachdidaktiken. Auch wenn hier noch ein großer Ausbaubedarf besteht, ist doch anzuerkennen, dass sich die grundschulbezogene fachdidaktische Bildungsforschung in den letzten Jahrzehnten positiv entwickelt hat. Zurück zum Selbstverständnispapier: Statt zu formulieren, die Grundschulpädagogik sei die einzige für fachbezogene Lern- und Bildungsprozesse zuständige Disziplin, sollte das Verhältnis zwischen Grundschulpädagogik/-didaktik und den Fachdidaktiken als ein kooperatives Verhältnis beschrieben werden. Grundschulbezogene Forschung und Entwicklung bedarf der Zusammenarbeit von grundschulbezogen arbeitenden Fachdidaktikern und Grundschulpädagogen – und sie benötigt für beide Bereiche auch eigene, ausgewiesene Professuren. Die Kommission Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe in der DGfE sollte sich als ein Ort verstehen, an dem diese Kooperation stattfindet und gefördert wird.

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Resümee und Ausblick (Sabine Martschinke)

Das Papier und seine Funktion wurden in der Plenumsdiskussion zunächst auf der Metaebene diskutiert und von der teilnehmenden Gruppe bilanzierend gewürdigt: Alle Seiten – sowohl die Diskutant(inn)en als auch die Teilnehmer(innen) des Symposiums – betonten, dass das Papier eine hohe Bedeutung für die Weiterentwicklung der Disziplin habe und eine gute Grundlage sei, um das Verständnis der Grundschulpädagogik in seinen Gemeinsamkeiten und auch in seinen Unterschieden zu anderen Disziplinen zu klären. Gemeinsamer Tenor war, dass Berührungsängste in Bezug auf die Nachbardisziplinen und Ängste vor dem Verschwinden der Disziplin abgebaut und eine optimistischere Grundhaltung sowie ein höheres Selbstbewusstsein in Bezug auf die eigene Disziplin spürbarer formuliert werden könnten. Insgesamt wurden die sechs Diskursfelder gut angenommen, wobei die Hochschullehre als eine ‚Leerstelle‘ identifiziert wurde, die noch zu füllen sei.

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Susanne Miller, Sabine Martschinke, Margarete Götz et al.

Deutlich wurde, dass die Funktion des Papiers nicht allein in der Dokumentation und Festschreibung eines Selbstverständnisses der Grundschulpädagogik zu sehen ist, sondern es darüber hinaus auch schon jetzt Defizite oder Probleme identifiziert und notwendige Entwicklungsbedarfe und Entwicklungspotentiale aufzeigt. Diese Funktion könnte in der Zukunft noch gestärkt werden: Zwei Entwicklungsschwerpunkte wurden in der Diskussion identifiziert, um die es weiter zu ringen gilt. Der erste Entwicklungsschwerpunkt liegt in dem Begriffspaar Theoriebildung und Gegenstand. Hier wurde angemahnt, dass ein dringender Bedarf besteht, in Bezug auf den Gegenstand bzw. die Gegenstände der Grundschulpädagogik (empirisch belegte) Theorien oder Theoriebausteine klar zu benennen oder zu systematisieren und in ‚Theoriegebäude‘ einzubauen. Der zweite Entwicklungsschwerpunkt betrifft das Begriffspaar bzw. letztendlich das Spannungsfeld Disziplin und Interdisziplinarität das nicht aufgelöst, sondern vorrangig begrifflich gefasst werden müsste. Der sprachliche Umgang mit den Fachdidaktiken im Papier müsste bei einer Überarbeitung des Papiers dazu gehören. Eine präzise begriffliche Auseinandersetzung mit den beiden wichtigen Begriffen kann dann überführt werden in eine Positionierung, die sowohl die interdisziplinäre Verknüpfung der Grundschulpädagogik als selbstverständlich und als Mehrwert versteht, aber die Eigenständigkeit der Disziplin mit der ihr eigenen Deutungshoheit (Hartinger, s.o.) für diverse „Gegenstände und Theorien“ wertschätzt. Die große Resonanz, die das vorstehend dokumentierte Symposium bei den Teilnehmer(inne)n der 26. Jahrestagung der Kommission für Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe erfahren hat, belegt das fachliche Interesse an einer Klärung und Schärfung des disziplinären Markenkerns der wissenschaftlichen Grundschulpädagogik. Die Reflexion darüber ist mit der bisherigen Diskussion über das Selbstverständnis der Grundschulpädagogik als wissenschaftliche Disziplin nicht ein für alle Mal abgeschlossen. Sie wird auch zukünftig notwendig sein, wenn die Grundschulpädagogik als interdisziplinär anschluss- und handlungsfähige Disziplin ernst genommen werden will.

Literatur Einsiedler, W. (2015): Geschichte der Grundschulpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Götz, M. (2011): Kindorientierung – ein gesellschaftsabstinenter Anspruch der Grundschule? In: F. Heinzel (Hrsg.), Generationenvermittlung in der Grundschule (S. 26–39). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Götz, M. (2018): Grundschulpädagogik als Wissenschaft – Versuch einer Bilanzierung für die Zukunft. In: S. Miller, B. Holler-Nowiitzki, B. Kottmann, S. Lesemann, B. Letmathe-Henkel, N. Meyer et al. (Hrsg.), Profession und Disziplin. Grundschulpädagogik im Diskurs (S. 22– 38). Wiesbaden: Springer VS.

Diskussion des Selbstverständnisses der Grundschulpädagogik als Disziplin

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Hill, H. C., Rowan, B. & Ball, D. L. (2005): Effects of teachers' mathematical knowledge for teaching on student achievement. In: American Educational Research Journal, 42 (2), 371– 406. Hußmann, A., Wendt, H., Bos, W., Bremerich-Vos, A., Kasper, D., Lankes, E.-M. et al. (2017): IGLU 2016. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Pressemappe. Münster: Waxmann. Katzenbach, D. (2015): De-Kategorisierung inklusive? Über Risiken und Nebenwirkungen des Verzichts auf Etikettierungen. In: C. Huf & I. Schnell (Hrsg.), Inklusive Bildung in Kita und Grundschule (S. 33–55). Stuttgart: Kohlhammer. Kocaj, A., Kuhl, P., Kroth, A. J., Pant, H. A. & Stanat, P. (2014): Wo lernen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf besser? Ein Vergleich schulischer Kompetenzen zwischen Regel- und Förderschulen in der Primarstufe. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 66 (2), 165–191. Koch, K., Kucharz, D., Martschinke, S., Miller, S., Ramseger, J. & Schönknecht, G. (2017): Stellungnahme zur Einstellung von Personen ohne erforderliche Qualifikation als Lehrkräfte in Grundschulen (Seiten- und Quereinsteiger). Berlin: DGfE, Sektion Schulpädagogik. Online: https://www.dgfe.de/fileadmin/OrdnerRedakteure/Sektionen/ Sek05SchPaed/GFPP/ Stellungnahme.pdf (Zuletzt abgerufen am: 13.08.2018). Kucharz, D. (2014): Grundschulpädagogische Unterrichtsforschung und ihr Anregungspotential für die Kindheitspädagogik. In: T. Betz & P. Cloos (Hrsg.), Kindheit und Profession. Konturen und Befunde eines Forschungsfeldes (S. 49–65). Weinheim: Beltz Juventa. Kunter, M. & Ewald, S. (2016): Bedingungen und Effekte von Unterricht: Aktuelle Forschungsperspektiven aus der pädagogischen Psychologie. In: N. McElvany, W. Bos, H. G. Holtappels, M. M. Gebauer & F. Schwabe (Hrsg.), Bedingungen und Effekte guten Unterrichts (S. 9–31). Münster: Waxmann. Lange, K., Kleickmann, T., Tröbst, S. & Möller, K. (2012): Fachdidaktisches Wissen von Lehrkräften und multiple Ziele im naturwissenschaftlichen Sachunterricht. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 15 (1), 55–75. Lange, K., Ohle, A., Kleickmann, T., Kauertz, A., Möller, K. & Fischer, H. E. (2015): Zur Bedeutung von Fachwissen und fachdidaktischem Wissen für Lernfortschritte von Grundschülerinnen und Grundschülern im naturwissenschaftlichen Sachunterricht. In: Zeitschrift für Grundschulforschung, 8 (1), 23–38. Myschker, N. (1983): Lernbehindertenpädagogik. In: S. Solarová (Hrsg.), Geschichte der Sonderpädagogik (S. 120–166). Stuttgart: Kohlhammer. Nier, H. (2017): Zahl der ABC-Schützen steigt leicht. Online: https://de.statista.com/infografik /11914/zahl-der-einschulungen-in-deutschland/. (Zuletzt zugegriffen am: 13.08.2018). Ohle, A., Fischer, H. E. & Kauertz, A. (2011): Der Einfluss des physikalischen Fachwissens von Primarstufenlehrkräften auf Unterrichtsgestaltung und Schülerleistung. In: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, 17 (2), 357–389. Schönknecht, G., Kucharz, D., Bennemann, E.-M., Koch, K. & Ramseger, J. (2017): Profession und Disziplin: Verbindendes – Trennendes? In: S. Miller, B. Holler-Nowitzki, B. Kottmann, S. Lesemann, B. Letmathe-Henkel, Meyer, N. et al. (Hrsg.), Profession und Disziplin – Grundschulpädagogik im Diskurs (Jahrbuch Grundschulforschung, Bd. 22, S. 74–76). Wiesbaden: Springer VS. Schorch, G. (2007): Studienbuch Grundschulpädagogik. Stuttgart: Klinkhardt (UTB). Stadt Leipzig (2017): Bildungsreport 2016. Online: https://www.leipzig.de/jugend-familie-undsoziales/schulen-und-bildung/bildungsmanagement/bildungsmonitoring/ (13.08.2018). Stichweh, R. (2013). Wissenschaft, Universität, Professionen, Soziologische Analysen (2. Aufl.). Bielefeld: transcript. Wocken, H. (2015): Die verführerische Faszination der Inklusionsquote. Ein Aufschrei gegen die Etikettierungsschwemme und den Separationsstillstand. Online: http://www.hanswocken.de/Texte/Etikettierungsschwemme.pdf (Zuletzt zugegriffen am: 13.08.2018).

2. Erste Phase der Lehrer(innen)bildung

Kindheitsbilder – Welche Bilder zu sozialen, kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten von Kindern haben Studierende des Grundschullehramts? Laura Faber und Friederike Heinzel

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Zum Kindheitsbild im Kontext von Kindgemäßheit und Entwicklungsorientierung

In der Grundschule gilt ein „kindgemäßer Unterricht“ als Zentralkonzept und Aufgabenfeld der Grundschulpädagogik (Schorch 2007). Der pädagogische Anspruch der Kindorientierung prägt die Geschichte der Grundschule, obgleich das Prinzip der „Kindgemäßheit“ vielfach kritisiert wurde (z.B. Heinzel 2011). Dieses Prinzip hat auffordernden Charakter und wird mit Vorstellungen von Entwicklungsorientierung verbunden (Eßer 2014). Dabei wird für die Einordnung eines Kindes, seiner Entwicklung und seines Lernens die Orientierung am Lebensalter überbetont. Auch Studierende des Grundschullehramts folgen z.T. Bildern eines ‘normalen Kindes‘ und argumentieren deshalb oftmals defizitorientiert. Damit einhergehende unterschätzende Erwartungen von Lehrer(innen) an die Fähigkeiten von Schüler(inne)n können schulisches Lernen beeinflussen (Rosenthal & Jacobson 1971). Hierbei führt ein von der Lehrkraft erwartetes hohes Potential der Schüler(innen) eher zu positiven Leistungsentwicklungen, während negative Lehrkrafterwartungen eher zu negativen Leistungen beitragen (Murphy, Campbell & Garavan 1999). Aktuelle praxistheoretische Ansätze und Subjektivationstheorien stellen heraus, dass über das Zusprechen von Fähigkeiten Positionen zugewiesen und unterschiedliche Lerngelegenheiten für Schüler(innen) eröffnet werden (Rabenstein & Reh 2013). Da besonders jüngere Schüler(innen) durch Lehrkrafterwartungen beeinflusst werden (u.a. Beilock, Gunderson, Ramirez & Levine 2009) erscheint es sinnvoll, solche Erwartungen im Rahmen der Lehrer(innen)bildung für das Grundschullehramt zu problematisieren.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_4

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Laura Faber und Friederike Heinzel

Der Beitrag und die Seminarkonzeption1 zielen im Rahmen einer Professionalisierungsmaßnahme der Lehrer(innen)bildung für die Primarstufe auf die Dekonstruktion solcher defizitorientierten Bilder vom Kind ab.

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Seminarkonzeption

Die Lehrveranstaltung wurde als flankierende Veranstaltung zum Praxissemester im Grundschullehramt konzipiert und zielte auf die Steigerung pädagogischen Wissens, positive Einstellungen zu Inklusion sowie die Förderung von Reflexionsfähigkeit, Empathie und Perspektivenübernahme ab. Dabei wurden fünf inhaltlich-methodische Elemente nach Müller-Using (2015) umgesetzt: Wertebildung, Lernen an Fallbeispielen, Kontemplation und Wahrnehmungsschulung, aktives Zuhören und die Reflexion praktischer Erfahrungen im Umgang mit Kindern. In diesem Beitrag wird der zuletzt genannte Aspekt betrachtet. Dazu führten die Studierenden innerhalb einer Seminarsitzung zunächst eine Gruppendiskussion zu einer Fallvignette mit inklusiver Thematik durch. Inhaltlich ging es um ein Mädchen mit Lernschwäche, welches im Unterricht an einem Extratisch saß, andere Aufgaben erhielt und nicht ins Unterrichtsgeschehen miteinbezogen wurde (Tellisch 2016). Zentraler inhaltlicher Bestandteil war die Exklusion einer Schülerin. Die Studierenden, die in ihren Praktikumsklassen mit den Kindern ein Kreisgespräch zu derselben Fallvignette durchführten, schrieben im Vorfeld ihre Erwartungen an den Verlauf des Kreisgesprächs und an die Kinder auf. Im Kreisgespräch mit den Kindern übernahmen die Studierenden, nachdem sie die Fallvignette in ihren Klassen vorgelesen hatten, die Moderation. Die Kinder sollten selbstständig über Inhalte der beschriebenen Situation diskutieren. Bei der Nachbereitung sollten die Studierenden Sichtweisen der Schüler(innen) audiographieren und transkribieren. Im Anschluss wurden die kindlichen Sichtweisen den eigenen Sichtweisen zur Vignette und den vorherigen Erwartungen an die Kinder mit den gesammelten Erfahrungen schriftlich kontrastiert, mit dem Ziel ein stärker fähigkeitenorientiertes und anerkennendes Kinderbild zu entwickeln.

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Die Entwicklung und Evaluation der Seminarkonzeption wurde im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JA1505 gefördert.

Kindheitsbilder

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Forschungsmethodisches Vorgehen und Fragestellung

Die Stichprobe bestand aus 47 Studierenden des Grundschullehramts, die das Seminar in drei Durchgängen (SoSe 2016, WiSe 2016/2017, SoSe 2017) an der Universität Kassel besuchten (35 weiblich, 12 männlich).2 Das mittlere Alter der drei Kohorten betrug 22,19 Jahre (SD = 2,37), wobei die Studierenden zwischen 19 und 30 Jahre alt waren und sich zwischen dem dritten und sechsten Semester (M = 3,77, SD = 0,61) befanden. Die Fragestellung für diesen Beitrag lautet: Welche Vorstellungen und „Bilder“ zeigen sich bei Studierenden des Grundschullehramts zu den Fähigkeiten von Kindern in ihren Reflexionen vor der Durchführung eines Kreisgesprächs mit ihnen und wie wird ein Umdenken dieser angenommenen kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten der Kinder nach dem Kreisgespräch thematisiert? Mittels inhaltlich-strukturierender qualitativer Inhaltsanalyse (Mayring 2010) mit MaxQDA fand die Auswertung der schriftlichen Reflexionen der Studierenden statt. Hierfür wurden induktiv Kategorien entwickelt, welche die Vorstellungen von den Fähigkeiten von Kindern im Vorfeld des Kreisgesprächs klassifizieren und die Thematisierung der positiven Überraschungen dokumentieren.

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Ergebnisse

Durch die inhaltsanalytischen Auswertungen konnten in den Reflexionen induktiv sechs defizitorientierte Bilder vom Kind und dessen Fähigkeiten kategorisiert werden: Das Kind ohne Empathie, das Kind mit geringen kommunikativen Fähigkeiten, das Kind ohne Gerechtigkeitsvorstellungen, das kognitiv eingeschränkte Kind, das unerfahrene Kind und das Kind als „leeres Gefäß“. Es zeigte sich, dass die Studierenden die Kinder im Vorfeld hinsichtlich kognitiver, sozialer, kommunikativer und emotionaler Fähigkeiten unterschätzten und sich an starren Entwicklungsstufenmodellen und an Bildern vom „werdenden Kind“ orientierten. Im Vergleich von Erwartungen an das Kreisgespräch und Erfahrungen in diesem konnten in den qualitativen Auswertungen Textpassagen bestimmt werden, die als „Überraschungen“ formuliert wurden. Die Studierenden beschrieben die Kinder ihrer Praktikumsklasse in ihren schriftlichen Reflexionen nun als Akteure, die sich besser als vorher angenommen, in die Situation Anderer einfühlen können und die Fähigkeit der Perspektivenübernahme besitzen. Zudem stellten die Studierenden stärker, als vorher angenommene, ausgeprägte kommunikative Fähigkeiten bei den Kindern fest, zeigten 2

Flankierende Seminare sind im Praxissemester auf 15 Studierende begrenzt.

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Laura Faber und Friederike Heinzel

sich erstaunt, dass Kinder eigene Meinungen entwickeln und dass man mit ihnen über Exklusion im Schulalltag sprechen kann. In Tabelle 1 sind die herausgearbeiteten Konstruktionen der Studierenden vom Kind beschrieben sowie je ein Ankerbeispiel zur Thematisierung des Umdenkens aufgeführt. Tabelle 1: Bilder vom Kind und Thematisierung des Umdenkens Bild vom Kind

Definition „Bild vom Kind“ Es wird angenommen, dass Kinder …

Thematisierung der Überraschung und des Umdenkens

Das Kind ohne Empathie

…nicht in der Lage sind, sich in andere Personen hineinzuversetzen oder die Perspektiven zu wechseln.

„Mir ist sehr positiv aufgefallen, dass sie versucht haben, sich in Melanie hineinzuversetzen. Ich hätte nicht mit den gelungenen Perspektivübernahmen gerechnet.“ (WiSe 2016/2017)

Das Kind mit geringen kommunikativen Fähigkeiten

…kaum kommunikativen Fähigkeiten besitzen.

„Ich war überrascht, dass in einem ersten Schuljahr so ein Gespräch zustande kommen kann. Ich hatte im Voraus die Befürchtung, dass sie keine eigene Meinung entwickeln und sich somit am Gespräch nicht beteiligen können.“ (SoSe 2016)

Das Kind ohne Gerechtigkeitsvorstellungen

… nicht in der Lage sind, sich mit Themen wie Gerechtigkeit, Ungerechtigkeit, Normalität, Behinderung und Teilhabe auseinanderzusetzen.

„Außerdem war ich sehr davon beeindruckt, dass die Schüler sagten, jedes Kind gehöre zur Klassengemeinschaft und niemand dürfe wegen einer Krankheit oder Behinderung ausgeschlossen werden.“ (WiSe 2016/2017)

Das kognitiv eingeschränkte Kind

… nicht weit denken können und/oder den Inhalt der Vignette nicht verstehen.

„Es war sehr spannend zu sehen wie die Grundschüler mit der Thematik aus der Fallvignette umgegangen sind. Einige Sätze von den Kindern haben mich erstaunt, da ich nicht gedacht hätte, dass Kindern in der Lage sind soweit zu denken.“ (WiSe 2016/2017)

Das unerfahrene Kind

… im Grundschulalter wenige Erfahrungen haben und kaum in der Lage sind, Probleme zu lösen.

„Auch rein inhaltlich waren die Aussagen der Kinder sehr gut. Ihre Meinung deckte sich fast völlig mit der der Studierenden und trotz der großen Alters- und Erfahrungsdifferenz haben die Kinder teilweise sogar bessere Lösungsvorschläge als wir Studierende präsentiert.“ (SoSe 2017)

Das Kind als „leeres Gefäß“

… „leere Gefäße“ sind, welche durch Wissen und Erfahrungen gefüllt werden müssen.

„Dies hat mir nochmal vor Augen geführt, dass Kinder nicht nur fachlich kein „leeres Gefäß“ sind, sondern auch die emotionalen und empathischen Fähigkeiten, zum Teil, sehr gut ausgeprägt sind.“ (SoSe 2016)

Kindheitsbilder

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Diskussion und Fazit

Kritisch ist anzumerken, dass die Studierenden zwar eigene Erwartungen und Erfahrungen reflektieren, im Rahmen der universitären Lehrveranstaltung allerdings die Problematik der sozialen Erwünschtheit (u.a. Hartmann 1991) berücksichtigt werden muss, auch wenn die Reflexionen nicht bewertet wurden. Dennoch sind die schriftlichen Reflexionen im universitären Seminar veranlasst (Häcker 2017) und müssen vor dem Hintergrund ihrer Zweckmäßigkeit beurteilt werden. Die gestellte Reflexionsaufgabe diente u.a. dem Aufdecken von Normierung von Kindheit und eigenen Erwartungen an Kinder. Durch die schriftlichen Äußerungen zeigt sich, dass der Transfer von Forschungsergebnissen der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung und der neueren Entwicklungspsychologie im Studium des Grundschullehramts herausfordernd ist. Starre Konzepte von „Kindgemäßheit“ oder „Entwicklungsgemäßheit“ konnten durch gezielte Reflexion praktischer Erfahrungen und der Auseinandersetzung mit den Fähigkeiten von Kindern flexibilisiert werden. Allerdings müsste die Nachhaltigkeit einer solchen Maßnahme im Hinblick auf die Anerkennung sozialer, kognitiver und kommunikativer Fähigkeiten von Kindern durch Grundschullehrkräfte untersucht werden. Ob die positiven Erfahrungen langfristig mit positiven Erwartungen und einem entsprechenden Einstellungswandel an Schüler(innen) einhergehen, konnte durch die Studie nicht ermittelt werden. Insgesamt zeigte sich, dass die Studierenden über normierende Konstruktionen zu den Fähigkeiten von Kindern verfügen. Da es gerade in Bezug auf anerkennendes pädagogisches Handeln, den Aufbau wertschätzender professioneller Beziehungen sowie die Entwicklung von Kindern wichtig ist, fähigkeitenorientierte und positive Erwartungen an Schülerinnen und Schüler zu richten, ist das Erkennen, Bewusstmachen und Überdenken normativer Erwartungen eine wichtige reflexive Leistung. Die Seminarkonzeption konnte durch die Konfrontation mit unerwarteten Fähigkeiten von Kindern und der Reflexion studentischer Erwartungen mit Erfahrungen positive Überraschungen anstoßen.

Literatur Beilock, S. L., Gunderson, E. A., Ramirez, G. & Levine, S. C. (2009): Female teachers ́ math anxiety affects girls ́ math achievement. In: Proceedings oft he National Academy of Sciences, 107 (5), 1860–1863. Online: http://www.pnas.org/content/107/5/1860.full.pdf+html (Zuletzt zugegriffen am: 04.08.2018). Eßer, F. (2014): Die verwissenschaftlichte Kindheit. In: M. Bader, F. Eßer & W. Schroer (Hrsg.), Kindheit in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge (S. 125–154). Frankfurt a. M.: Campus.

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Laura Faber und Friederike Heinzel

Häcker, T. (2017): Grundlagen und Implikationen der Forderung nach Förderung von Reflexivität in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung- In: C. Berndt, T. Häcker & T. Leonhard (Hrsg.), Reflexive Lehrerbildung revisited. Traditionen – Zugänge – Perspektiven. (S. 21-45). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Hartmann, P. (1991): Wunsch und Wirklichkeit. Theorie und Empirie sozialer Erwünschtheit. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag (DUV Sozialwissenschaft). Heinzel, F. (2011): Kindgemäßheit oder Generationenvermittlung als grundschulpädagogisches Prinzip? In: F. Heinzel (Hrsg.), Generationenvermittlung in der Grundschule. Ende der Kindgemäßheit? (S. 40–68). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Mayring, P. (2010): Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken (11. Aufl.). Weinheim: Beltz. Murphy, D., Campbell, C. & Garavan, T. N. (1999): The Pygmalion effect reconsidered: its implications for education, training and workplace learning. In: Journal of European Industrial Training, 23 (4/5), 238–251. Müller-Using, S. (2015): Empathie und pädagogisch-professionelles taktvolles Handeln, ein integrativer pädagogischer Wissensbestand? In: Bildung und Erziehung, 68 (1), 41–60. Rabenstein, K. & Reh, S. (2013): Von „Kreativen“, „Langsamen“ und „Hilfsbedürftigen“. In: F. Dietrich, M. Heinrich & N. Thieme (Hrsg.), Bildungsgerechtigkeit jenseits von Chancengleichheit (S. 239–257). Wiesbaden: Springer VS. Rosenthal, R. & Jacobson, L. (1971): Pygmalion im Unterricht. Lehrererwartungen und Intelligenzentwicklung der Schüler (3. Aufl.). Weinheim: Beltz. Schorch, G. (2007): Studienbuch Grundschulpädagogik. Die Grundschule als Bildungsinstitution und pädagogisches Handlungsfeld. Bad Heilbrunn: Klinkhardt UTB. Tellisch, C. (2016): Serielle Stigmatisierung von Schüler/innen in Lehrer-Schüler-Interaktionen. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 2, 209–223.

„Lost in Translation“ – Zur ‚Übersetzungsarbeit‘ zwischen Theorie und Theorie von Grundschullehramtsstudierenden Torsten Eckermann

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Vom „Theorie-Praxis-Problem“ zum „Theorie-TheorieProblem“

Luhmann (1981: 170) hat mit Blick auf die theorieeigene Sprache formuliert: „Wer überhaupt spricht oder schreibt, sollte sich verständlich ausdrücken. Das ist eine auf den ersten Blick einleuchtende Forderung. Denn wozu äußert er sich, wenn er nicht verstanden werden will?“. Luhmann fordert mit seiner Aussage die akademische Zunft allerdings nicht dazu auf, verständlich(er) zu schreiben, sondern fragt nach den guten Gründen, warum wissenschaftliche Texte unverständlich produziert werden. Eine der Ursachen liegt Luhmann zufolge darin begründet, dass die alltagsweltliche Rhetorik den wissenschaftsspezifischen Anforderungen unterworfen wird. Die bisweilen abstrakte Theoriesprache sichert dabei die disziplininterne (Anschluss-)Kommunikation, womit allerdings Worte nicht nur expliziert, sondern auch häufig ihrer alltagsweltlichen Bedeutung entkleidet werden. Für Studierende des (Grundschul-)Lehramts, die im Laufe ihres Studiums sich noch in einen forschenden, disziplinären Habitus einüben, ergibt sich vor diesem Hintergrund die Herausforderung, dass sich wissenschaftliche Texte bei ihrer Lektüre häufig nur schwer aufschließen lassen, bisweilen auch unverständlich bleiben und somit eine – im wörtlichen Sinne gemeinte – Zumutung darstellen (vgl. Steinhoff 2010). Beim Sezieren wissenschaftlicher Texte und dem schriftlichen Komponieren eigener Texte sehen sich Studierende in diesem Sinne damit konfrontiert, ‚Übersetzungsarbeit‘ zu leisten: Von den ‚eigenen‘ alltäglichen Sprachgewohnheiten in den akademischen Duktus und zurück. Diese kontinuierliche ‚Übersetzungsarbeit‘ dürfte nicht zuletzt auch deshalb erschwert werden, da nicht nur in der scientific community über pädagogisches Handeln kommuniziert wird, sondern auch in den Medien, der Ratgeberliteratur und der Alltagswelt insgesamt „popularisierte Begriffe, Konzepte und Thesen anzutreffen“ (Terhart 1999: 155) sind, welche die pädagogische Praxis zum Gegenstand haben.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_5

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Torsten Eckermann

Bislang liegen allerdings aus dem Bereich der qualitativ-empirischen Grundschulforschung noch keine Befunde dazu vor, wie sich diese ‚Übersetzungsarbeit‘ beim Verfassen von schriftlichen Textdokumenten im Kontext des Lehramtsstudiums konkret ausgestaltet. Diese Forschungslücke nimmt der vorliegende Beitrag zum Anlass, um sich den textförmigen ‚Übersetzungsprozessen‘ im Kontext schriftlich verfasster Arbeiten zu widmen. Im Beitrag soll argumentiert werden, dass es sich bei den ‚Übersetzungskonflikten‘ weniger nur um das vielbeschworene Theorie-Praxis-Problem handelt, welches bei der Anfertigung von schriftlichen Arbeiten virulent wird. Vielmehr soll hier die These entfaltet werden, dass es sich um ein Theorie-Theorie-Problem handelt, wobei zwischen impliziten pädagogischen Alltags- und Eigentheorien1 und wissenschaftlicher Theorie übersetzt und vermittelt werden muss.

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„Doing theory“ – Zwischen pädagogischen Alltagstheorien und wissenschaftlichen Theorien

(Alltags-)Theorien, die nach dem griechischen Wort theoria sinngemäß als zweckentbundene (Welt-)Anschauung übersetzt werden könnten, sind vermutlich immer schon Bestandteil von Gesellschaften gewesen (vgl. Hierdeis & Hug 1992). Während Theorien älteren Datums häufig weniger wissenschaftlich, sondern vor allem religiös motiviert waren, wurden ihnen bereits früh eine Eigentümlichkeit und ein Mangel an alltäglicher Selbstverständlichkeit unterstellt, der den wissenschaftlichen Theoretiker(inne)n auch den Ruf von Weltfremdheit einbrachte (vgl. am Beispiel Thales: Hierdeis & Hug 1992). Wissenschaftlichen Theorien wurden in Opposition zum Alltag gesetzt, da dieser durch ein nichtsystematisiertes Wissen gekennzeichnet sei, welches zwar für die Akteure im Alltag Gültigkeit aufweist, allerdings wissenschaftlichen Kriterien nicht genügt (vgl. ebd.). Gleichwohl diese Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Alltag auf den ersten Blick einleuchtend sein mag, bei näherem Hinsehen ist sie nur schwerlich aufrechtzuerhalten. Die akademische Praxis mag insofern vom Alltag abgehoben sein, da Probleme nicht alltagspraktisch, sondern wissenschaftlich bearbeitet werden. Allerdings ist sie vom Alltag nicht völlig isoliert, sondern orientiert sich u.a. durch Forschungsmethoden (z.B. Interviews, Beobach1

In der Literatur lassen sich weitere Begriffe finden: So ist mitunter auch die Rede von impliziten Theorien, subjektiven Theorien, naiven (Unterrichts-)Theorien die eine weitgehend äquivalente Bedeutung aufweisen. Diese Formen der Theorien werden zumeist so definiert, dass sie vor allem persönliche Überzeugungen beinhalten, deren Gültigkeit unterstellt wird, ohne dass sie einer vertieften, mit wissenschaftlichen Methoden gewonnenen Analyse unterzogen wurden sind.

„Lost in Translation“

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tungen) auch an selbigem. Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass wissenschaftliche Theorien etwa zu Alltagstheorien eine Perspektivverschiebung darstellen, aber sie weisen eben auch Ähnlichkeiten auf (vgl. ausführlich: Hierdeis & Hug 1992). Auch mit Blick auf die pädagogische Praxis ist eine scharfe Trennung nicht immer klar erkennbar, da in die pädagogische Praxis sowohl pädagogische Alltagstheorien als auch wissenschaftliche Theorien eingelagert sind. Bislang ist allerdings nicht näher untersucht worden, wie bei der Textproduktion von Grundschullehramtsstudierenden zwischen impliziten Alltagstheorien und wissenschaftlichen Theorien übersetzt und vermittelt wird.

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Methodische Notizen

Das im Folgenden zu analysierende Fallbeispiel stammt aus einem Textkorpus von wissenschaftlichen Essays, die im Rahmen der Vorlesung „Übergänge an Grundschulen“ im Wintersemester 2016/2017 an der Europa-Universität Flensburg angefertigt wurden. Die Aufgabe bestand darin, dass die Studierenden des Masterstudiengangs Grundschullehramt (1. Semester) unter Bezugnahme von ausgewählten wissenschaftlichen Texten eine Fragestellung wissenschaftlich argumentierend bearbeiten sollten. Eine besondere Herausforderung bei diesem Textformat ergibt sich daraus, dass nicht nur wissenschaftliche Standpunkte referiert werden, sondern die eigene Position dazu ins Verhältnis gesetzt wird. Für die Analyse der Texte wurden die Essays der Studierenden sequenzanalytisch ausgewertet (vgl. Meseth 2013). Bei Textpassagen, die mit einer Referenz (z.B. indirektes oder direktes Zitat) aus einem wissenschaftlichen Text versehen sind, wurde die Originalquelle mit in die Analysen einbezogen, da sich hier die Übersetzungsarbeit gut dokumentiert.

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Fallbeispiel

Die Studierende Maja2 hat für ihren Essay die Frage ausgewählt, inwieweit die Grundschule als aufnehmende Institution einen ‚Bruch‘ bzw. eine ‚Brücke‘ für Grundschulkinder darstellt. Zu Beginn erläutert sie den Aufbau ihres Essays, indem sie darauf hinweist, dass zunächst „theoretische Modelle betrachtet“ und anschließend eine „persönliche Stellungnahme“ erfolgen solle. Mit der von ihr gewählten Zweiteilung verweist sie bereits auf die für sie getrennten Sphären zwischen „Theorie“ und „persönlicher“ Positionierung, die allerdings im späte-

2

Der Name der Studierenden wurde anonymisiert.

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Torsten Eckermann

ren Text nicht aufrechterhalten wird. Der nachfolgende Textausschnitt findet sich in dem zweiten Teil des Essays unter „Persönliche Stellungnahme“: Wie auch die BiKS-Studie erwiesen hat, haben Kooperationsformen zwischen Grundschule und Kindergarten keine nachweislichen Auswirkungen (Faust, 2013, S. 36). Viel ausschlaggebender sind die konkreten Lernvoraussetzungen, die bereits vor dem Schulbeginn vorhanden sind (ebd., S. 36f.). Für diese ist vor allem das soziale Umfeld, in erster Linie die Familie, verantwortlich. Schon 1960 wurde diese Problematik erkannt und problematisiert (Heinzel 2009, S. 300). Deshalb vertrete ich auch die Ansicht, dass es unglaublich schwierig beziehungsweise eigentlich unmöglich ist, diese unterschiedlichen Lernvoraussetzungen auszugleichen.

Wie der Ausschnitt zeigt, zieht Maja für ihre eigene Argumentation zunächst eine empirische Studie als empirische Beweislast heran. Sie schließt somit an den wissenschaftlichen Forschungsstand an und signalisiert eine Bereitschaft an der Teilhabe am wissenschaftlichen Diskurs. Referiert wird dabei auf einen Text, den sie mit genauen Seitenangaben zitiert, was die Möglichkeit zur genauen Überprüfung einräumt. Im weiteren Fortgang des Essays wird argumentiert, dass die konkreten Lernvoraussetzungen viel ausschlaggebender als die Kooperationsformen seien. Auffällig ist, dass von viel ausschlaggebender die Rede ist, was insofern inkonsistent erscheint, wenn doch – wie zuvor erwähnt – die Kooperationsformen überhaupt keine Auswirkungen haben. Auch hier artikuliert sich eine Relativierung des angeführten empirischen Befunds, was als weiterer Indikator für die impliziten alltags- und eigentheoretischen Einlassungen (im Sinne KiTa und Grundschule sollten kooperieren) zu interpretieren wäre, die offensichtlich gegen diesen Befund sprechen. Maja führt in ihrem Essay weiter aus: Um den Übergang in die Grundschule für die Kinder als ‚Brücke‘ zu gestalten, erachte ich es als vorteilhaft, wenn Kinder bereits im Kindergarten gewisse Kompetenzen erlangen können. So zum Beispiel der spielerische Erwerb der phonologischen Bewusstheit (Einsiedler 2008, S. 337). Wichtig empfinde ich es auch, dass dies auf eine spielerische Weise erfolgt und die Bildungspläne müssen dementsprechend gestaltet werden (.) Empirisch belegt ist ebenfalls, dass die „Qualität der pädagogischen Prozesse kurz- und langfristige positive Auswirkungen auf verschiedene Aspekte des Sozialverhaltens“ (Roßbach, 2008, S. 319) hat. Ich denke daher, dass der Kindergarten als vorbereitende Institution einen Übergang in die Grundschule auf gewisse Weise erleichtern kann und von dieser Funktion Gebrauch machen sollte. Es wird ihm niemals gelingen, soziale Disparitäten auszugleichen, jedoch kann er verhindern, dass der Übergang in die Grundschule zur „Bruchstelle“ wird. Auf Grund dessen spreche ich mich auch dafür aus, dass die Grundschule, besonders die erste Klasse, unbedingt an den Kindergarten anknüpfen sollte und das so der Übergang bestmöglich abgestimmt ist.

In dieser Passage wird unmittelbar auf die Fragestellung des Essays Bezug genommen: Eine ‚Brücke‘ könne der Übergang in die Grundschule demnach darstellen, wenn Kinder im Kindergarten bereits gewisse Kompetenzen erwerben

„Lost in Translation“

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(z.B. phonologischen Bewusstheit). Auffällig ist, dass Maja sich als Verfasserin explizit ins Spiel bringt (erachte ich es). Sie richtet sich somit gegen das IchTabu, welches von wissenschaftlichen Texten häufig erwartet wird (vgl. Steinhoff 2010). Zudem werden für die Argumentation verschiedene Gewährsmänner (Einsiedler, Roßbach) herangezogen. Ähnlich wie bereits zuvor lässt sich auch hier eine auf empirische Befunde basierende theoretische Argumentation identifizieren. Diese wird jedoch durchmischt von persönlichen Überzeugungen, die zum Teil auch in Verabsolutierungen (Es wird ihm niemals gelingen) ihren Niederschlag finden, womit hier offensichtlich wiederum alltags- und eigentheoretische Anteile zum Vorschein kommen. Am Ende zeigt sich sodann, dass die Argumentation, die zu Beginn unter Rekurs auf den empirischen Befund (BiKS-Studie) aufgebaut wurde, gänzlich revidiert wird, da nun für eine bestmögliche Abstimmung zwischen Kindertagesstätte und Grundschule votiert wird, was letztlich auf die Kooperation zwischen den Institutionen bzw. eine inhaltlich-curriculare Abstimmungen hinausläuft.

5

Fazit

Das ausgewählte Fallbeispiel liefert Hinweise darauf, wie bei der Textproduktion von Studierenden des Grundschullehramts zwischen wissenschaftlichen Theorien – worunter auch das Heranziehen empirischer Beobachtungen gezählt wird – und impliziten alltags- bzw. eigentheoretischen pädagogischen Vorstellungen (Kooperation von KiTa und Grundschule) vermittelt und übersetzt wird. Die Studierenden sind dabei zum einen bemüht, den Anforderungen wissenschaftlicher Texte der Fachdomäne gerecht zu werden, nicht zuletzt um einen Leistungsnachweis zu erbringen, zum anderen lassen sich implizite pädagogische Alltagstheorien identifizieren. In dem präsentierten Fallbeispiel deutet sich an, dass auch – trotz der expliziten Bezugnahme auf wissenschaftliche Referenzen – immer wieder implizite pädagogische alltags- und eigentheoretische Vorstellungen ‚einrasten‘, die offensichtlich dem empirischen Befund widersprechen. Dabei werden offensichtlich die bisweilen neuen und irritierenden Aspekte der wissenschaftlichen Texte (und hier des Befunds) unter das Bekannte der impliziten pädagogischen Alltags- und Eigentheorie subsumiert. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, die Herausforderungen in der (Grundschul)Lehrer(innen)bildung nicht nur unter dem Theorie-Praxis-Problem zu diskutieren, sondern gerade auch bei der schriftlichen Textproduktion die Übersetzungsarbeit zwischen der impliziten pädagogischen Alltags- bzw. Eigentheorie und wissenschaftlicher Theorie in den Blick zu nehmen.

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Torsten Eckermann

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Verhaltensmuster von Studierenden des Lehramts für die Primarstufe Madeleine Kerkhoff

1

Ausgangslage und Fragestellung

Lehrkräfte sind vielfältigen Belastungen und Beanspruchungen ausgesetzt (vgl. van Dick, Wagner & Christ 2004: 39). Aufgaben der Schulentwicklung, Aspekte wie Inklusion und Differenzierung sowie erzieherische Herausforderungen treten immer mehr in den Vordergrund (vgl. Herzog 2014: 85). Diese hohen Anforderungen können letztlich zum Burnout führen (vgl. van Dick et al. 2004: 39). Studien zu Burnout-Gefährdungen bei Lehrkräften weisen auch darauf hin, dass teilweise unrealistische Berufswahlmotive vorliegen und die Anforderungen dieses Berufes unterschätzt werden (vgl. Hillert, Sosnowsky & Lehr 2005: 18). Gerade bei Lehramtsstudierenden, die sich für einen sonder- bzw. inklusionspädagogischen Studienschwerpunkt entscheiden, muss erwartet werden, dass es sich um belastbare, psychisch stabile Personen handelt. Im Rahmen dieses Beitrags wird zunächst der Frage nachgegangen, welche Verhaltens- und Erlebensmuster sich bei Studierenden des Lehramtes Primarstufe zu Beginn des Studiums zeigen. Darüber hinaus wird geprüft, ob und inwiefern sich Studierende des Lehramts für die Primarstufe in ihrer BurnoutGefährdung unterscheiden. Hierzu konnten zwei Gruppen von Studienanfänger(inne)n befragt werden, da an der Universität Potsdam das Lehramt Primarstufe mit und ohne Schwerpunktsetzung auf Inklusionspädagogik studiert werden kann. Wird der Schwerpunkt Inklusionspädagogik gewählt, werden neben den Fächern Deutsch, Mathematik und Bildungswissenschaften bereits 75 Leistungspunkte in Bezug auf die Förderschwerpunkte Lernen, Sprache sowie emotional-soziales Verhalten absolviert. Alternativ zu dieser Schwerpunktsetzung kann aber auch ein grundschuldidaktisches Basiscurriculum studiert werden, das neben der Ausbildung in zwei Hauptfächern insbesondere für den Anfangsunterricht in den verschiedenen Lernbereichen der Grundschule qualifiziert. Ausgangspunkt der Untersuchung ist damit ein quasi-experimentelles Setting, in dem Studierende von zwei Immatrikulationskohorten miteinander verglichen werden. Hypothetisch wird dabei angenommen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Schwerpunktsetzung im Studiengang Primarstufe und der Burn-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_6

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Madeleine Kerkhoff

out-Gefährdung gibt. Insbesondere für Studierende mit dem Schwerpunkt Inklusionspädagogik wird erwartet, dass sie zu Beginn des Studiums keine risikobelasteten Verhaltens- und Erlebensmuster zeigen.

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Forschungsstand

Burnout wird als ein Zustand verstanden, der sich aus Stress, ständigem Energieeinsatz und dem (übermäßigen) Einsatz von Ressourcen entwickelt und schließlich die Motivation und das Verhalten beeinträchtigt (vgl. Litzcke & Schuh 2007: 155). Charakteristisch für die Entwicklung von Burnout ist, dass sich ein anfänglich hohes berufliches Engagement zu psychisch und physischen Abbauerscheinungen wandelt, die sich in Erschöpfung, Reizbarkeit und einer negativen Einstellung gegenüber der Arbeit äußern (vgl. Freudenberger 1974: 159f.). Das Burnout-Syndrom tritt bei einer Vielzahl von Berufsgruppen auf (vgl. Barth 1997), wobei der Lehrer(innen)beruf in besonderer Weise betroffen ist (vgl. Kramis-Aebischer 1996: 42). Mit Hilfe des Fragebogens zur Erfassung des Arbeitsbezogenen Verhaltens- und Erlebensmuster (kurz: AVEM) konnten vier Grundtypen bzw. Muster unterschieden werden:  Das Gesundheitsmuster (Muster G) ist durch ein gesundheitsförderliches Verhalten gegenüber der Arbeit gekennzeichnet (vgl. Schaarschmidt 2005: 24).  Der Mustertyp Schonung (Muster S) verweist auf eine Schonungshaltung, die das Verhältnis gegenüber der Arbeit charakterisiert (vgl. Schaarschmidt & Kieschke 2007: 22).  Das Risikomuster A (Anstrengung) ist nach Schaarschmidt und Kieschke (2007: 22) durch (zu) hohe Anstrengung, die sich nicht in einem positiven Lebensgefühl wiederfindet, gekennzeichnet (vgl. Schaarschmidt & Fischer 2013: 12).  Kennzeichnend für das Risikomuster B (Burnout) sind die geringen Ausprägungen in den Dimensionen der subjektiven Bedeutsamkeit der Arbeit und im beruflichen Ehrgeiz (vgl. Schaarschmidt & Fischer 2013: 13). Schaarschmidt (2005) hat untersucht, inwiefern sich Lehrkräfte von Lehramtsstudierenden und Referendaren unterscheiden. Dazu wurden Lehramtsstudierende ab dem dritten Fachsemester berücksichtigt, die hier als Vergleichsgruppe von Interesse sind. So konnte bereits bei Lehramtsstudierenden eine problematische Musterverteilung festgestellt werden. Bei 25% der befragten Studierenden konnte ein Burnout-Risiko nachgewiesen werden. Das SchonungsMuster nimmt mit 31% den höchsten Anteil ein. Künsting, Billich-Knapp und Lipowsky (2012) konnten die Ergebnisse von Schaarschmidt (2005) für Erstsemester-Studierende replizieren.

Verhaltensmuster von Studierenden des Lehramts für die Primarstufe

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Lehramtsstudierende eine problematische Musterverteilung aufweisen. Ein hoher Anteil des Schonungsund des Burnout-Musters bedeuten Motivationseinschränkungen und sind als ungünstige Ausgangslage zu interpretieren.

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Design

Um zu überprüfen, ob die bereits vor zehn Jahren von Schaarschmidt (2005) festgestellten Befundmuster heute noch Gültigkeit haben, wurden Studienanfänger(innen) der Universität Potsdam befragt. Die Stichprobe setzte sich aus Studierenden des Lehramts für die Primarstufe mit dem Schwerpunkt Grundschulbildung (n=181) und aus Studierenden des Lehramts Primarstufe mit Schwerpunkt Inklusionspädagogik (n=121) zusammen. Die Datenerhebung erfolgte durch den Einsatz des AVEM-Fragebogens, der auch Normtabellen für Lehramtsstudierende zur Verfügung stellt. Während die Items zur Vergleichbarkeit der Ergebnisse ihren Originalwortlaut behielten, wurde die Instruktion zu Beginn des Fragebogens an das Verhalten und Erleben im Studium angepasst („Orientieren Sie sich bitte bei der Beantwortung der Fragen auf Ihre üblichen Verhaltensweisen, Einstellungen und Gewohnheiten im Rahmen Ihres Studiums.“). Die Reliabilität des AVEM liegt zwischen .75 und .83 (vgl. Schaarschmidt & Fischer 2013: 5).

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Ergebnisse

In einem ersten Auswertungsschritt wurden die Ausprägungen der verschiedenen Verhaltens- und Erlebensmuster bei den Lehramtsstudierenden festgestellt: 63 von 181 Studierenden (34,8%) des Lehramts Primarstufe mit Schwerpunkt Grundschuldbildung weisen den Mustertyp Schonung auf. Die nachfolgenden Mustertypen sind das Muster G und das Risikomuster B, die jeweils mit 27,1% (entspricht 49 Studierenden) mit den zweithöchsten Anteil vertreten sind. Bei den Inklusionspädagog(inn)en weisen nur 9,9% das Burnout-Muster auf, während der Typ Gesundheit mit 37,2% und somit 45 Studierenden am stärksten vertreten ist. Die nächst höheren Ausprägungen sind der Typ Schonung (26,4%) und das Risikomuster A (25,6%). Es wird deutlich, dass die Studierenden je nach Schwerpunktsetzung einen unterschiedlichen Mustertyp aufweisen: Bei den Studierenden des Lehramts Primarstufe mit Schwerpunkt Grundschulbildung ist der Anteil des Schonungsund Risikomusters B zusammen höher als der des Musters G und des Risikomusters A. Bei den Studierenden des Lehramts Primarstufe mit Schwerpunkt

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Madeleine Kerkhoff

Inklusionspädagogik ist der Anteil des Musters G und des Risikomusters A zusammen höher als der des Schonungs- und Risikomusters B- Typen. Es gibt einen hochsignifikanten Zusammenhang zwischen dem Studiengang der Inklusionspädagogik und dem Muster Typ „Gesundheit“ und „Risikomuster A“ sowie dem Schwerpunkt Grundschulpädagogik und dem Muster „Schonung“ und „Risikomuster B“ (Chi-Quadrat-Test: χ²(4, N=302)= 25.174 , p 10) Semestern

2. Semester

4. Semester

5. Semester

-

6. Semester

1. oder 2. Studienfach ist Deutsch oder LB Deutsch n

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22

16

14

M

19,34

22,41

23,50

20,14

SD

5,28

5,71

4,72

6,52

Für fachfremde Studierende liegen keine Daten vor.

Besonders die Frage nach dem Unterschied zwischen Fachstudierenden und fachfremden Studierenden ist interessant: Hier zeigt sich, dass die fachfremden Studierenden, die sich alle im Masterstudium befinden, geringeres professionelles Wissen zum basalen Lesen- und Schreibenlernen aufweisen als Fachstudierende im Master, aber auch als Fachstudierende bereits im Bachelor (Tabelle 4). Werden die Mittelwerte zwischen den Fachstudierenden und den fachfremden Studierenden (unabhängig vom gewählten Semester und Studienabschluss) anhand eines t-Tests verglichen, sind die Unterschiede signifikant (t(190) = 4,633, p < 0,001): Fachfremde Studierende, die alle bereits im Masterstudium sind, erzielen durchschnittlich lediglich 16,27 Punkte im Kompetenztest zum basalen Lesen- und Schreibenlernen (n = 30, SD = 4,51). Die Studierenden des Faches Deutsch bzw. des Lernbereichs Deutsch erzielen, obwohl davon mehr als 60 Prozent noch im Bachelorstudium sind, durchschnittlich 21,63 Punkte (n = 162, SD = 6,03). Selbst dieser Unterschied ist signifikant und die Unterschiede

Professionelles Wissen von Lehramtsstudierenden

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zwischen fachfremden Studierenden und Fachstudierenden nehmen mit der fachspezifischen Studienerfahrung zu (gemessen an der Anzahl der Semester).

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Diskussion und Ausblick

Das entwickelte Instrument zur Erfassung des professionellen Wissens von (angehenden) Lehrkräften zum basalen Lesen- und Schreibenlernen hat sich als valide erwiesen. Die vorgestellten Ergebnisse zu Unterschieden in diesem Wissen bei Fachstudierenden und fachfremden Lehramtsstudierenden verweisen darauf, dass das getestete Wissen auch im Rahmen der Lehrer(innen)ausbildung erworben wurde. In einem weiteren Schritt soll mit einem echten Längsschnittdesign die Veränderung des Fachwissens und des fachdidaktischen Wissens zum basalen Lesen- und Schreibenlernen bei den Fachstudierenden zwei Semester später in den Blick genommen werden.

Literatur Baumert, J. (2016): Leistungen, Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen der empirischen Bildungsforschung: Das Beispiel von Large-Scale-Assessment-Studien zwischen Wissenschaft und Politik. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 19 (1), 215–253. Baumert, J. & Kunter, M. (2006): Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9 (4), 469–520. Bernholt, S. & Parchmann, I. (2011): Assessing the complexity of students' knowledge in chemistry. In: Chemistry Education Research and Practice, 12, 167–173. Blömeke, S., Bremerich-Vos, A., Kaiser, G., Nold, G., Haudeck, H., Keßler, J.-U. et al. (Hrsg.) (2013): Professionelle Kompetenzen im Studienverlauf. Weitere Ergebnisse zur Deutsch-, Englisch- und Mathematiklehrerausbildung aus TEDS-LT. Münster: Waxmann. Blömeke, S. & Delaney, S. (2012): Assessment of teacher knowledge across countries: A review of the state of research. In: ZDM – International Journal on Mathematics Education, 44 (3), 223–247. Bortz, J. & Döring, N. (2006): Forschungsmethoden und Evaluation: Für Human- und Sozialwissenschaftler (4. Aufl.). Heidelberg: Springer. Bratsch‐Hines, M. E., Vernon‐Feagans, L., Varghese, C. & Garwood, J. (2017). Child skills and teacher qualifications: Associations with elementary classroom teachers’ reading instruction for struggling readers. In: Learning Disabilities Research & Practice, 32 (4), 270–283. Carlisle, J. F., Correnti, R., Phelps, G. & Zeng, J. (2009): Exploration of the contribution of teachersʼ knowledge about reading to their studentsʼ improvement in reading. In: Reading and Writing, 22, 457–486. Corvacho del Toro, I. M. (2013): Fachwissen von Grundschullehrkräften (Schriften aus der Fakultät Humanwissenschaften der Universität Bamberg, Bd. 13). Bamberg. Großschedl, J., Konnemann, C. & Basel, N. (2014): Preservice biology teachers´ professional knowledge: Structure and learning opportunities. In: Journal of Science Teacher Education, 26 (3), 291–318.

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Kompetenzen stärken und Reflexionen anregen – Beispiele für gelungene Maßnahmen zur Professionalisierung und Transfersicherung im Rahmen der Lehrer(innen)bildung Anne Frey, Julia Kriesche, Madlen Protzel, Elke Döring-Seipel und Kai Nitsche

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Kompetenzerwerb durch Reflexion und Persönlichkeitsentwicklung

Die sich verändernden Herausforderungen des Lehrer(innen)berufs erfordern eine Reaktion in der Ausbildung angehender Lehrer(innen), die sowohl inhaltlich als auch methodisch-didaktisch durch spezielle Angebote zu einer besseren Qualifizierung und Professionalisierung der künftigen Lehrkräfte beitragen kann. Wichtig ist dabei das Zusammenspiel von fundierter theoretischer Grundlegung, der Anwendung des erworbenen Wissens und der dann erfolgenden Reflexion der in der Anwendung gemachten Erfahrung. Neuweg (2005: 221) betont dabei, dass diese Reflexion nur unter Berücksichtigung der eigenen Persönlichkeit erfolgen kann und anschließend wiederum zu einer „Rückübersetzung in neues Handeln und Erfahren“ führen soll. Professionalität zeichnet sich durch die Bereitschaft aus, „seine Handlungspraxis regelmäßig zu analysieren, zu evaluieren und gegebenenfalls zu verändern“ (ebd.). Dies erfordert auf Seiten der (angehenden) Lehrkräfte „wissenschaftlich abgesicherte Wissensbestände“ sowie einen „wissenschaftlich-reflexiven Habitus“ (Helsper 2001: 11f.). Die Wissensbestände dienen dabei als Bezugsrahmen für die Reflexion von Erfahrungen und der reflexive Habitus ist gleichzusetzen mit einer Reflexionskompetenz und umschreibt die Fähigkeit zur „aktiven Distanzierung“ (Häcker & Rihm 2005: 361), zur Vermittlung zwischen konkretem Handeln und dem fachlichen, didaktischen und pädagogischen Wissen. Die Lehrer(innen)bildung braucht also „sukzessiv angelegte und periodisch wiederkehrende Reflexions- und Trainingsangebote“ (Weyand 2012: 115). Als solche Trainingsangebote können Praktika ebenso fungieren wie (stellvertretend) die Arbeit an Fällen, die Analyse videografierten Unterrichts und das Microteaching bzw. Rollenspiele. Auch die KMK (2013: 3) fordert während des Studiums „kontinuierliche bzw. wiederkehrende Angebote zur Selbstreflexion über die Eignung für das Lehramt“. Hier

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_8

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Anne Frey, Julia Kriesche, Madlen Protzel et al.

zeigt sich das in der jüngeren Debatte zur Professionsforschung mehrheitlich vertretene entwicklungsorientierte Verständnis von Eignung (Terhart 2011), denn abgesehen von der Dynamik des Berufsfelds bietet das Studienalter ein nachweislich großes Entwicklungspotential (Robert & Davis 2016; vgl. auch Cramer 2016: 49). Studienorientierungs- und Lehrer(innen)bildungsangebote sollten den angehenden Lehrer(inne)n daher v. a. verdeutlichen, dass es „bei der Eignungsreflexion primär um Entwicklung und Potenzialentfaltung (...) geht“ (Lehberger 2012: 59) und nicht um die „Beschreibung vermeintlich personaler Grundmuster bzw. Konstanten“ (ebd.) und Selektion. Betont werden sollte „der Begriff sowie die Bedeutung von Professionalität und die durch (Aus-)Bildung generier- bzw. entwickelbare Kompetenzen, die professionelles Handeln im Lehrerberuf ermöglichen“ (Mayr 2014: 189). Eignungsentwicklung ist vor diesem Hintergrund als ein Prozess der Professionalisierung zu verstehen, in dem Reflexion mit der Erweiterung fachlicher, didaktischer und persönlicher Kompetenz sowie einer wachsenden Sicherheit in der beruflichen Identität einhergeht. Lehrer(innen)bildung entspricht diesem Ansatz, indem neben der pädagogischen und (fach-)didaktischen Ausbildung frühzeitig Angebote zur Reflexion der Lehrpersonenrolle, zum reflektierten Arbeiten in der Praxis sowie zur Förderung der Persönlichkeit curricular verankert werden (vgl. auch Mayr 2012; Nieskens 2012; Weyand 2012). Der vorliegende Beitrag greift diese Forderungen auf und stellt gelungene Beispiele verschiedener Standorte vor, die zur Stärkung des Kompetenzerwerbs und der Transfersicherung beitragen. Madlen Protzel fokussiert entwicklungsförderliche Haltungen von Mentor(inn)en im Schulpraktikum als Mittel zur Professionalisierung von Lehramtsstudierenden. Kai Nitsche stellt die UNI-Klasse vor, die durch spezielle Kameras die Möglichkeit bietet, Unterricht zu videografieren, um anschließend das Lehrpersonverhalten und die Unterrichtsgestaltung innerhalb eines Seminars gezielt zu reflektieren. Im Beitrag von Elke Döring-Seipel geht es um das Studienelement BASIS, in dem Lehramtsstudierende personale Basiskompetenzen für den Lehrer(innen)beruf reflektieren und in Kompaktseminaren erwerben. Anne Frey und Julia Kriesche thematisieren in ihrem Beitrag ein Seminarkonzept, das einen Fokus darauf legt, Wissenserwerb mit eignungsorientierten Fragestellungen zu verbinden und methodisch durch den Einsatz elaborierter Reflexionsmethoden Lern- und Beratungssettings in der universitären Lehre zu integrieren.

Kompetenzen stärken und Reflexionen anregen

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Mentor-Mentee-Beziehung als Mittel zur studentischen Kompetenzentwicklung

Schulpraktische Studien sind fester Bestandteil der universitären Ausbildung angehender Lehrpersonen, in deren Rahmen die Betreuung der Lehramtsstudierenden hauptsächlich von erfahrenen Lehrer(inne)n (nachfolgend auch: Mentor(inn)en) übernommen wird, die an der jeweiligen Schule tätig sind. Dabei ist die Qualität der Betreuung durch diese Personen für die Erreichung der intendierten Praktikumsziele essentiell (Schubarth et al. 2012). Im Zusammenhang mit der Untersuchung der Betreuungsqualität werden allerdings oftmals kognitive Kompetenzen der Mentor(inn)en wie beispielsweise fachdidaktische Fähigkeiten als relevant erachtet. Affektive Faktoren wie die Beziehungsqualität zwischen Mentor(in) und Studierenden werden in diesem Zusammenhang dagegen selten fokussiert (z.B. Gröschner & Seidel 2012). Vor dem Hintergrund des personenzentrierten Ansatzes der Gesprächspsychotherapie (Rogers 1991) ist jedoch anzunehmen, dass insbesondere die Haltung der betreuenden Lehrperson ein entscheidender Faktor für die positive Kompetenzentwicklung der Studierenden im Rahmen schulpraktischer Studien sein kann. Es ist anzunehmen, dass eine Betreuung, die sich durch Authentizität, Empathie und Wertschätzung (Rogers & Schmid 1998) auszeichnet, die Professionalisierung der Praktikant(inn)en fördert. Ob sich zwischen der Beziehungsqualität von Mentor(in) und Mentee sowie der Kompetenzentwicklung der Studierenden im Rahmen schulpraktischer Ausbildung ein Zusammenhang nachweisen lässt, war Gegenstand einer Studie an der Universität Erfurt. Das Erfurter Praktikumsmodell ist durch eine Vielzahl schulpraktischer Elemente gekennzeichnet, die sich hinsichtlich ihrer Betreuung, Dauer und des Formates unterscheiden und etwa ein Fünftel der universitär verantworteten Ausbildung künftiger Lehrer(innen) umfassen. Das Komplexe Schulpraktikum (KSP) bildet als fünfzehnwöchiges Praxissemester u.a. den Abschluss des letzten Jahres im Masterstudium der zukünftigen Lehrpersonen (Protzel, Dreer & Hany 2017). In diesem Rahmen erleben die Praktikant(inn)en in 15 aufeinanderfolgenden Wochen Schulpraxis. Während dieser Zeit werden die angehenden Lehrpersonen an jeweils vier Tagen pro Woche von erfahrenen Lehrkräften der freigewählten Praktikumsschule betreut. Die Zusammenarbeit von Mentor(in) und Mentee ist im Komplexen Schulpraktikum z.B. von gegenseitigen Unterrichtshospitationen, Auswertungsgesprächen und obligatorisch zu bearbeitenden Lernaufgaben (z.B. Diagnostik von Förderbedarf, Konzeption von Lernzielkontrollen etc.) gekennzeichnet. Dass die Studierenden nach dem Praxissemester Kompetenzen in allen erhobenen Kompetenzdimensionen wie beispielsweise Klassenführung oder Reflexion weiterentwickeln konnten, wurde bereits über mehrere Kohorten hinweg nachgewiesen (Stotzka & Hany 2016; Bock, Hany &

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Anne Frey, Julia Kriesche, Madlen Protzel et al.

Protzel 2017). Die Professionalisierung ausschließlich auf die Praxiserfahrung per se zurückzuführen, erscheint allerdings leichtfertig (Hascher 2012). Vor dem Hintergrund des intensiven Kontaktes zum Mentor bzw. zur Mentorin in dieser Praxisphase und vor allem unter Berücksichtigung des o.g. personenzentrierten Ansatzes scheint auch die Beziehungsqualität zwischen Mentor(in) und Mentee zur Kompetenzentwicklung der Praktikant(inn)en beizutragen. Um einen möglichen Zusammenhang zwischen Betreuungsqualität und studentischer Professionalisierung zu untersuchen, wurden an der Universität Erfurt im Studienjahr 2016/17 im Rahmen der jährlichen Begleitforschung 207 Grund- und Regelschulstudierende mittels eines Paper-Pencil-Tests sowohl vor als auch nach ihrem Komplexen Schulpraktikum um Selbsteinschätzungen in acht Kompetenzbereichen (Umgang mit Heterogenität, Strukturierung von Unterricht, Didaktische Planungskompetenz, Motivierung/Klassenführung, Beurteilen, Erziehen, Innovieren und Reflektieren) gebeten. Wie in vorherigen Jahren konnte auch im Rahmen dieser Kohorte ein differenzierter Kompetenzzuwachs in allen acht erhobenen Facetten (weiterführend dazu: Bock et al. 2017) konstatiert werden. Im Posttest wurden für diese Erhebung die Praktikant(inn)en zusätzlich um die Einschätzung der wahrgenommenen Haltung ihrer Mentorin bzw. ihres Mentors gebeten. Es wurde damit erhoben, ob die Lehramtsstudierenden ihre Mentorin bzw. ihren Mentor an der jeweiligen Praktikumsschule im Sinne des personenzentrierten Ansatzes gemäß der Konstrukte Rogers‘ (1991) als echt, empathisch und wertschätzend wahrnahmen. Auf diese Weise sollten etwaige Zusammenhänge zwischen den Haltungen der Mentor(inn)en und der Kompetenzentwicklung der Studierenden identifiziert werden können. Die Reliabilität der drei Subskalen (Echtheit, Empathie, Wertschätzung) mit jeweils vier Items konnte mit einem Cronbachs Alpha von 0.78 bis 0.90 nachgewiesen werden. Die gepoolte Gesamtskala wies sogar einen Alphawert von 0.94 auf. Im Zuge der weiteren Korrelationsanalysen konnten allerdings keine signifikanten Zusammenhänge zwischen den studentischen Angaben zur wahrgenommenen Haltung der Mentorin bzw. des Mentors und der Kompetenzentwicklung der Studierenden nachgewiesen werden. Obwohl zwischen den affektiven Kompetenzen aufseiten der erfahrenen Lehrpersonen und der Entwicklung der kognitiven Kompetenzen von Praktikant(inn)en kein signifikanter Zusammenhang identifiziert werden konnte, sollte der Transfer des personenzentrierten Ansatzes auf den Bereich der Mentor(in)Mentee-Beziehung und damit der Professionalisierung von Lehramtsstudierenden nicht vollends verworfen werden. So stützen beispielsweise auch andere empirische Erhebungen die Vermutung, dass in zwischenmenschlichen Beziehungen affektive Kompetenzdimensionen vorwiegend Zusammenhänge mit affektiven Facetten aufweisen (z.B. Protzel 2015; Richter, Kunter, Lüdtke, Klusmann & Baumert 2011). In weiterführenden Erhebungen gilt es nun heraus-

Kompetenzen stärken und Reflexionen anregen

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zufinden, ob die wahrgenommene Haltung der begleitenden Lehrperson – die angesichts der Studienergebnisse nicht mit der kognitiven Kompetenzentwicklung der Studierenden korreliert – etwaige Zusammenhänge mit der Haltung der Praktikant(inn)en aufweist. Ob die Qualität der Mentor(in)-Mentee-Beziehung die studentische Kompetenzentwicklung hinsichtlich affektiver Aspekte fördert, wird derzeit in einer weiteren Studie geprüft.

3

Die UNI-Klasse – Unterricht entwickeln, erproben und reflektieren

Auch Filme von Unterricht können als wertvolle Impulsgeber Reflexionen anregen und ein sinnvolles Zusammenwirken theoretischer Inhalte und praktischer Erfahrung fördern, weil sie mehr oder weniger geglückte realisierte Theorie zeigen (vgl. Mühlhausen 2006, 2011; Reusser 2005; Riegel 2013). Neben den theoretischen Studieninhalten und den eigenen Unterrichtsversuchen stellen Filme von Unterricht eine sinnvolle Ergänzung in der Lehrer(innen)bildung dar (Mühlhausen 2011; Grundner 2011). Dabei erscheint es bedeutsam, dass sich die Beobachtenden in den Unterrichtenden hineinversetzen können, um das beobachtete Verhalten auch auf das eigene Handeln zu übertragen. Untersuchungen von Nitsche (2014) zeigen, dass dieses Stellvertreter(innen)-Erleben dadurch begünstigt wird, dass Studierende Filme beobachten, die Unterrichtsversuche von Kommiliton(inn)en ihres Seminars zeigen. Diese Aufzeichnungen erweisen sich für die Reflexion geeigneter als Aufnahmen vom Unterricht erfahrener Lehrkräfte, die den Studierenden nicht bekannt waren (ebd.). Ausgehend von diesen Erkenntnissen wurden an der Ludwig-MaximiliansUniversität sogenannte UNI-Klassen (Videolabore) an Münchner Schulen eingerichtet, in denen Studierende gemeinsam im Seminar Unterricht entwickeln, mit einer Klasse der Schule erproben und im Seminar reflektieren bzw. evaluieren. Die Fähigkeit zur Beobachtung muss dabei genauso geschult werden (Grundner 2011) wie die Fähigkeit, Feedback zu geben (Trautmann & Wischer 2010). Der Unterricht wird in den UNI-Klassen mithilfe ferngesteuerter Kamera- und Mikrofontechnik videografiert und von einem Nebenraum aus von den Studierenden beobachtet. Dies erlaubt ein Verfolgen des Unterrichts über die gesamte Unterrichtsstunde hinweg ohne den Unterrichtsverlauf zu stören. Darüber hinaus kann die Dozentin bzw. der Dozent auf das Unterrichtsgeschehen direkt reagieren und gezielte Beobachtungsaufträge bzw. Erklärungen oder Impulsfragen formulieren. Studierende können so frühzeitig im Rahmen von Seminaren mit Leitfragen zur Selbstreflexion konfrontiert werden und auf der Grundlage theoretischen Wissens begründete Antworten finden auf Fragen wie: Worauf will ich als Lehrer(in) hinaus? Wie komme ich dorthin? Wie wirke ich dabei? (vgl. Kahlert

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Anne Frey, Julia Kriesche, Madlen Protzel et al.

2009). So lautet auch eine Rückmeldung aus der Veranstaltungsevaluation: „Dieses Seminar hat mir die Möglichkeit gegeben darüber nachzudenken, ob der Lehrerberuf wirklich das Richtige für mich ist“. Es sei noch angemerkt, dass die UNI-Klassen inzwischen an mehreren Standorten in Deutschland zur Anwendung kommen (Telekom-Stiftung 2018).

4

Das Studienelement BASIS

Das Studienelement BASIS (personale Basiskompetenzen für den Lehrerberuf) ist ein Beitrag zur Eignungsentwicklung für Lehramtsstudierende an der Universität Kassel. BASIS bietet den Lehramtsstudierenden eine erste – in diesem Fall verordnete – Gelegenheit zu Beginn des Studiums, um sich handlungsorientiert und selbstreflexiv mit Fragen der Eignung auseinanderzusetzen. BASIS ist seit 2008 verpflichtender Bestandteil des Einführungsmoduls im bildungswissenschaftlichen Kernstudium der allgemeinbildenden Lehramtsstudiengänge und wird von circa 600-650 Studierenden jährlich besucht. Es besteht aus einer schriftlichen Reflexion der Berufswahl (Lernbiografie, Motive für die Berufswahl, pädagogische Vorerfahrungen), einer Kompaktveranstaltung (1,5-tägiges Seminar) und einer abschließenden schriftlichen Reflexion. Durch das Angebot soll bei den Teilnehmenden möglichst frühzeitig im Studium ein Prozess der Selbstreflexion und Selbstprofessionalisierung in Bezug auf grundlegende soziale und personale Kompetenzen für den Lehrer(innen)beruf angeregt werden (vgl. Döring-Seipel & Seip 2016). Das Kompaktseminar möchte zunächst Impulse setzen, die bei den Studierenden einen Perspektivenwechsel von der Schüler(innen)- zur Lehrer(innen)perspektive einleiten. Studierende lernen typische Anforderungen des Lehrer(innen)berufs kennen und erfahren, welche Kompetenzen aus dem Bereich sozialer und personaler Kompetenzen für die erfolgreiche Bewältigung der Anforderungen hilfreich sind. Die Teilnehmenden durchlaufen eine Reihe von Handlungssituationen, die charakteristische Anforderungselemente enthalten, in denen sie sich erproben und ihre Kompetenzen anwenden können. Auf diese Weise wird eine erfahrungsbasierte Standortbestimmung ermöglicht, die als Ausgangspunkt für eine zielgerichtete Weiterentwicklung von Kompetenzen genutzt werden kann. Studierende können auf Basis dieser Erfahrungen abschätzen, was sie schon – vielleicht sogar überraschend gut – können und was sie noch weiterentwickeln könnten und möchten. Am Ende der Kompaktveranstaltung erhalten die Studierenden Gelegenheit, selbst über ihre erfahrenen Stärken und Entwicklungsbereiche zu reflektieren. In einem abschließenden Perspektivgespräch, wird diese selbstreflexive Perspektive angereichert und ergänzt durch Wahrnehmungen und Beobachtungen der Seminarleitenden und der Be-

Kompetenzen stärken und Reflexionen anregen

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obachtenden (die Kompaktseminare werden in Gruppen von 12 Teilnehmer(inne)n durchgeführt, die von zwei Seminarleiter(inne)n und zwei Beobachter(inne)n begleitet werden). Außerdem werden im Perspektivgespräch Ziele und nächste Schritte für die weitere Kompetenzentwicklung sowie Motive für die Studien- und Berufswahl thematisiert. Ziel von BASIS ist es, einen selbstregulierten Entwicklungsprozess anzuregen, der mit einer Spezifikation des IstZustands (Was sind die Anforderungen? Wo stehe ich?) beginnt, aus dem wünschenswerte Ziele (Wo will ich hin?) abgeleitet werden, die dann selbstgesteuert realisiert werden können (Hochschulrektorenkonferenz 2018). BASIS wird fortlaufend evaluiert. Die Ergebnisse der Online-Nachbefragung (N = 1713, Studienjahre 2012-2017) belegen, dass BASIS von den Studierenden angenommen wird und dass die Ziele nach Aussagen der Studierenden weitgehend erreicht werden. 90,8 % der Studierenden geben an, das Seminar habe sie zur Selbstreflexion angeregt, 83,3 % empfinden BASIS als hilfreich für ihre persönliche Entwicklung, 87,7 % schätzen BASIS als hilfreich für ihre zukünftige Tätigkeit ein. 88,5 % fühlen sich in ihrer Berufswahl gestärkt, 23,3 % haben ihre Berufswahl durch die Teilnahme an BASIS noch einmal überdacht. Speziell das abschließende Perspektivgespräch wird von 79,9 % der Teilnehmenden als hilfreich für die Definition von Entwicklungsthemen empfunden. 65,7 % berichten über eine Konkretisierung ihrer Entwicklungsziele für das Praktikum im Perspektivgespräch und 64,2 % entwickeln durch das Gespräch Ideen zur Planung nächster Lernschritte (Döring-Seipel & Seip 2016; Seip & Döring-Seipel 2016).

5

Professionalisierung und Transfersicherung durch ein integratives Lern- und Beratungskonzept

Im Folgenden wird ein Seminar beschrieben, in dem Lern- und Beratungssettings miteinander verknüpft und verschiedene elaborierte persönlichkeitsfördernde Methoden eingesetzt werden, um die Studierenden in der Entwicklung ihres professionellen Selbst nachhaltig zu fördern. Den inhaltlichen Anker bilden zum einen die Klassenführung als eine für den Lehrer(innen)beruf besonders bedeutsame Kompetenz (Lipowsky 2006; Mayr 2009) und zum anderen die Inklusion als eine der aktuellen Aufgaben nach der Ratifizierung der UN Behindertenrechtskonvention. Ausgangspunkt ist das Klassenführungstraining PAUER (Kiel, Frey & Weiß 2013), dessen Akronym für Präsenz, Aktivierung, Unterrichtsfluss, Empathie und Regeln steht und das für das inklusive Setting weiterentwickelt wurde (PAUERinklusiv). Im Rahmen des Seminars wird die professionelle Beziehungsgestaltung zwischen Lehrkraft und Schüler(inne)n thematisiert, es werden einzelne Klassenführungstechniken konkret geübt und speziell inklu-

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Anne Frey, Julia Kriesche, Madlen Protzel et al.

sive Tools wie beispielsweise „Wissen über Förderschwerpunkte“ und „Unterrichtsplanung mit inklusionsdidaktischen Netzen“ integriert (Kahlert & Heimlich 2014; Rank & Scholz 2017). Als Übungs- und Reflexionsmethoden werden Rollenspiele und Microteaching (Hattie 2009; Havers & Toepell 2002), Einstellungs- und Wertereflexionen, die „Erkenntnis des Tages“ sowie elaborierte Instrumente aus der Persönlichkeitspsychologie und der Beratung eingesetzt wie das Werte- und Entwicklungsquadrat (Schulz von Thun 2007) und das Innere Team (Schulz von Thun 2015). Neben dem Berufsfeldbezug wird beim Einsatz der Übungen und Methoden vor allem darauf geachtet, den Studierenden Raum für Erfahrungen, Austausch und Feedback zu geben sowie Impulse zu setzen, das vermittelte Wissen v.a. auch für sich selbst und die persönliche Professionalisierung zu reflektieren. Bewährt haben sich dafür der Einsatz der Reflexionsimpulse des Online-Beratungstools „SeLF – Selbsterkundung im Lehrerberuf mit Filmimpulsen“ (Kahlert & Kriesche 2014). Kern des Angebotes sind 16 kurze Filme zu einem breiten Spektrum an Aufgaben und Anforderungen im Lehrer(innen)beruf, die anschauliche sowie methodisch und inhaltlich vielfältige Einsatzmöglichkeiten für Seminare und Beratungen bieten sowie auch zur selbstorganisierten Reflexion genutzt werden können (Kriesche & Kahlert in Vorbereitung). Eine beispielhaft skizzierte Seminareinheit kann das Beschriebene veranschaulichen: Ausgehend von dem SeLF-Film über „Inklusion“ kann eine spezifische „Anforderung“ extrahiert werden, für die anschließend ein Inneres Team (Schulz von Thun 2015) erstellt wird. Dabei werden nach einer bestimmten Methode alle inneren Stimmen gesammelt, die sich angesichts dieser Anforderung melden. Dies kann zunächst in der Gruppe geschehen und anschließend im Einzelsetting (Frey & Kriesche im Druck). Die Dozentin bzw. der Dozent wechselt von der Rolle der Wissensvermittlerin bzw. des Wissensvermittlers in die Rolle der Beraterin bzw. des Beraters und identifiziert mit den Studierenden anhand des erstellten Inneren Teams Stärken und Schwächen und unterstützt sie dabei, sich angesichts der geforderten Kompetenz zu positionieren, um darauf aufbauend Möglichkeiten der Kompetenzerweiterung zu entwickeln. Die qualitativen Rückmeldungen von Seiten der Studierenden wie „Das Seminar hat mir die Angst genommen, eine inklusive Klasse zu führen“ und „Man hat eine komplett neue Methode kennengelernt, mit der man sich selbst als Lehrperson reflektieren kann“ werden durch erste quantitative Evaluationsdaten, die mit dem Fragebogen EFI-L (Einstellungsfragebogen zur Inklusion; Seifried 2015) erhoben wurden, gestützt. So ist beispielsweise die persönliche Bereitschaft zum inklusiven Unterrichten bei den Studierenden signifikant angestiegen (Unterskala EFI-L, p 61 Jahre

9

9

0

Schule umfasst für mich… (Auszug) Das Anforderungsprofil an Lehrkräfte ist sehr komplex, weshalb sich viele Lehrer(innen) zwischen dem Wollen, Sollen und Können entscheiden und nicht versuchen, eine Balance aus allen drei Perspektiven herzustellen. Zur weiteren Ausdifferenzierung des Anforderungsprofils dient ein Kompetenzprofil, innerhalb dessen auch die Fortbildungspflicht von Lehrkräften liegt.

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Stephanie Berner und Gerd Schulte-Körne

Tabelle 2: Schule umfasst für mich ... (Angabe in Prozent) Schule umfasst für mich…

Lehrkräfte (N=226)

Lehrende Universität (N=32)

Studierende Universität (N=63)

Diagnostizieren

43

64

33

Bereitschaft zur Reflexion

72

91

76

Verpflichtung zur Fortbildung

52

64

47

Computernutzung Laut einer Studie nutzen alle Studierenden in Deutschland das Internet pro Tag eine Stunde oder länger, jedoch nur 21% der Studierenden übersetzen die private Nutzung digitaler Medien in den Hochschulalltag (Persicke & Friedrich 2016). Die befragten Lehrkräfte gaben an, dass sie den Computer täglich durchschnittlich 138 Minuten, die befragten Lehrenden 176 Minuten und die befragten Studierenden 139 Minuten nutzen. 38% der Lehrenden nutzen den Computer täglich sogar mehr als 5 Stunden. Fortbildung Fortbildungen dienen dazu Lehrkräfte im Wesentlichen durch neue Entwicklungen und wissenschaftliche Erkenntnisse in ihrer Ausübung zu unterstützen und sind ein notwendiger und wesentlicher Bestandteil (Fortbildungsverpflichtung z.B. Bayern). Die befragten Lehrkräfte gaben an in den letzten zwei Jahren zwölf Fortbildungen besucht zu haben. Für 89% der teilnehmenden Lehrkräfte lag der Fokus besonders auf dem Inhalt der Fortbildungen sowie für 70% auf Verbesserung der Berufsausübung. Ähnlich sehen das die befragten Lehrenden und Studierenden. Als Gründe für das Nicht-Besuchen einer Fortbildung wurden vor allem mangelnde Zeit wegen beruflicher Auslastung und fehlende Angebote genannt. Kenntnis e-Learning Laut Kerres (2016) gibt es keinen Bildungssektor, in dem die digitalen Medien nicht zum Einsatz kommen können. Digitale Medien eignen sich für das selbstgesteuerte Lernen und etablieren sich als Form der Wissensaneignung. ELearning kennen 60% der befragten Lehrkräfte, 87% der befragten Lehrenden sowie 46% der befragten Lehramtsstudierenden.

281

Vorbereitung auf ein inklusives Schulsystem

Vorteile E-Learning (Auszug) Die Ortsunabhängigkeit (Lehrkräfte 72%; Lehrende 78% sowie Studierende 58%) und die Verdeutlichung von Inhalten durch Audiodateien, Bilder und Simulationen (Lehrkräfte 43%, Lehrende 47% und Studierende 36%) werden als besondere Vorteile des E-Learning von der Befragten eingeschätzt Anforderung an die Lernplattform PSYCH.e (Auszug) Bei Kindern und Jugendlichen ist oftmals nicht klar, welche Auswirkung schulische Faktoren auf die psychische Entwicklung der Kinder haben und inwiefern schulische Interventionsmethoden wirksam sind (Schulte-Körne 2016). Eine eLearning-Plattform scheint dafür geeignet zu sein, Lehrkräfte für psychische Störungen zu sensibilisieren und wirksame Interventionsmethoden aufzuzeigen. Tabelle 3: Anforderung an eine Lernplattform (Angabe in Prozent) Lehrkräfte (N=119)

Lehrende Universität (N=19)

Studierende Universität (N=40)

Schulische Interventionsmöglichkeiten

78

79

78

Beispielszenarios

78

94

74

Infos zu den Störungsbildern

76

79

83

Überblick über Hilfsangebote

76

67

60

Anleitung zum Umgang mit Krisen

73

83

65

Kenntnis der psychischen Belastungen und Störungsbilder (Auszug) Dabei wurden die abgefragten Störungsbilder in jeweils folgende Bereiche unterteilt, die die geplanten Lernkapitel der e-Learning Module darstellen: Beschreibung des Störungsbildes, Entstehungsmodell, Begleiterscheinungen, Diagnostik, Schulische Förderungsmöglichkeiten, Nachteilsausgleich und Prävention.

282

Stephanie Berner und Gerd Schulte-Körne

Tabelle 4: Beschreibung des Störungsbildes (Angabe in Prozent) Störungsbild

Lehrkräfte (N=129)

Lehrende Universität (N=22)

Studierende Universität (N=42)

Schulische Entwicklungsstörung

30

18

17

Hyperkinetische Störung

20

18

14

Störung des Sozialverhaltens

16

9

12

Angststörung

13

14

17

Tiefgreifende Entwicklungsstörungen

16

5

7

Essstörung

16

14

14

Depressive Störung

10

13

7

Persönlichkeitsstörung

5

9

2

„Eher fundierte Kenntnis“

5 Diskussion und Ausblick Aus den ersten Ergebnissen lassen sich Hinweise darauf ablesen, dass ein hoher Bedarf an den dargestellten Lerninhalten besteht. Die gewählte flexible Vermittlungsmethode des e-Learnings kann möglicherweise die Nutzung erhöhen, da die Zielgruppe die Ortsunabhängigkeit sowie die zeitliche Flexibilität sehr schätzen. Die übersichtliche Gestaltung (absender- und rezipientenorientierte Sichtweise) und die intuitive Handhabung der Lernplattform PSYCH.e sind Aspekte, die ebenfalls die Nutzung beeinflussen werden. Die geplanten Inhalte, wie zum Beispiel Infos zu den Störungsbildern und Beispielszenarios, werden von der Zielgruppe gewünscht. In der geplanten Hauptuntersuchung sollen Lehrkräfte (Primar- und Sekundarstufe) und alle in der Lehrerbildung beteiligten Universitäten sowie Ausbildungsseminare aller Bundesländer zur Beteiligung an der Zielgruppen- und Bedarfsanalyse aufgefordert werden, um eine feingranularere Aufnahme der Bedarfe zu generieren.

Vorbereitung auf ein inklusives Schulsystem

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Literatur Abs, H. J. (2007): Überlegungen zur Modellierung diagnostischer Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern. In: M. Lüders & J. Wissinger (Hrsg.), Forschung zur Lehrerbildung. Kompetenzentwicklung und Programmevaluation (S. 63–84). Münster: Waxmann. Corno, L. & Snow, R. E. (1986): Adapting teaching to individual differences in learners. In: M. C. Wittrock (Hrsg.), Third handbook of research on teaching (S. 605–629). Washington, DC: American Educational Research Association. Digel, S. & Schrader, J. (Hrsg.) (2013): Diagnostizieren und Handeln von Lehrkräften – Lernen aus Videofällen in Hochschule und Erwachsenenbildung. Bielefeld: W. Bertelsmann. Helmke, A. (2009): Unterrichtsforschung. In: Arnold, K.-H., Sandfuchs, U. & Wiechmann, J. (Hrsg.), Handbuch Unterricht (2. Aufl., S. 44-50). Bad Heilbrunn: Klinkhardt Kerres, M. (2016): E-Learning vs. Digitalisierung der Bildung: Neues Label oder neues Paradigma? In A. Hohenstein & K. Wilbers (Hrsg.), Handbuch E-Learning (61. Ergänzungslieferung, o. S.). Köln: Deutscher Wirtschaftsdienst. KiGGS (2014): Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland: Wichtigste Ergebnisse der ersten Folgebefragung (KiGGS Welle 1). Verfügbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Kiggs/Kiggs_w1/KiGGS 1_Ergebnisse_Zusammenfassung.pdf?__blob=publicationFile (Zuletzt abgerufen am: 13.11.2018). Persicke, M. & Friedrich, J.-D. (2016): Lernen mit digitalen Medien aus Studierendenperspektive (Arbeitspapier Nr. 17). Berlin: Hochschulforum Digitalisierung. Palmeri, T. J. & Gauthier, I. (2004): Visual object understanding. In: Nature Reviews Neuroscience, 5 (4), 291–303. Rittle-Johnson, B. & Star, J. R. (2009): Compared to what? The effects of different comparisons on conceptual knowledge and procedural flexibility for equation solving. In: Journal of Educational Psychology, 101 (3), 529–544. Schulte-Körne, G. (2016): Mental health problems in a school setting in children and adolescents. In: Deutsches Ärzteblatt international, 113, 183–190. Seidel, T. & Prenzel, M. (2007): Wie Lehrpersonen Unterricht wahrnehmen und einschätzen – Erfassung pädagogisch-psychologischer Kompetenzen bei Lehrpersonen mit Hilfe von Videosequenzen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Sonderheft 8, 201–218. van Es, E.A. & Sherin, M.G. (2002): Learning to notice: Scaffolding new teachers’ interpretations of classroom interactions. In: Journal of Technology and Teacher Education, 10 (4), 571– 596.

Einstellungen zu Inklusion an Schulen – eine Fallstudie Lena Ohnesorge und Katrin Hauenschild

1 Theoretischer Hintergrund und Forschungsstand Mit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 und der Etablierung einer inklusiven Schule gehen einschneidende Veränderungen im Schulleben einher. Vor dem Hintergrund eines weiten Inklusionsverständnisses tritt neben den vielfältigen Dimensionen von Heterogenität (vgl. Hinz 2009) insbesondere der Umgang mit Kindern mit Beeinträchtigungen und Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung in den Vordergrund. Das Gelingen einer inklusiven Schule hängt dabei in hohem Maße von den einzelnen Akteuren ab, vor allem die Einstellungen von Lehrenden stellen hierbei eine wesentliche Voraussetzung dar (im Überblick Avramidis & Norwich 2002). Einstellungen werden in diesem Forschungsprojekt im Sinne eines Erwartungs-Wert-Ansatzes („Theorie geplanten Verhaltens“, Ajzen 1991) verstanden, wobei Einstellungen jedoch nicht nur ursächlich das Handeln bedingen, sondern sich auch als Folge von Handeln mit den Erfahrungen verändern können. Trotz einer generell hohen Zustimmung ist von einer erheblichen Varianz bei inklusionsbezogenen Einstellungen auszugehen: Bisherige Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die Bereitschaft zur Inklusion auch von der Art der Beeinträchtigung, Kontrollüberzeugungen (Kompetenzvorstellungen und Wirksamkeitserwartungen), Vorerfahrungen oder entsprechenden Aus-, Fort- oder Weiterbildungen (vgl. Sermier Dessemontet, Benoit & Bless 2011) abhängt. Bei Eltern weist die Mehrzahl der vorliegenden Studien darauf hin, dass sie Inklusion tendenziell positiv gegenüber stehen (im Überblick de Boer, Pijl & Minnaert 2010). Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass Eltern die Integration behinderter Kinder überschätzen (Koster, Pijl, Heuten & Nakken 2007). In Bezug auf Kinder fokussieren internationale und nationale Studien neben der Leistungsentwicklung (vgl. Sermier Dessemontet, Benoit & Bless 2011) insbesondere Fragen der sozialen Integration (im Überblick Krull, Wilbert & Hennemann 2014). Einstellungen von Kindern zu Inklusion bzw. zum Thema ‚Behinderung’ sind seltener

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_37

Einstellungen zu Inklusion an Schulen – eine Fallstudie

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untersucht worden (im Überblick de Boer, Pijl & Minnaert 2012). Bisherige Studien zeigen jedoch, dass der gemeinsame Unterricht von Kindern tendenziell positiv gesehen wird (vgl. Schwab 2015). Bei der Analyse von inklusionsbezogenen Einstellungen stellen die Berücksichtigung der Interaktion zwischen den einzelnen Akteuren sowie der Entwicklung und Wechselwirkungen zwischen Einstellungen und praktischem Handeln in längsschnittlichen Formaten ein Forschungsdesiderat dar. Eine umfangreiche Studie wurde 2017 von Werning, Mackowiak, Rothe und Müller veröffentlicht.

2 Zielsetzung und Fragestellung Mit dem Ziel der Identifikation von inklusionsbezogenen Einstellungen geht das von der VolkswagenStiftung geförderte Forschungsprojekt „Inklusion – Denken und Gestalten“ aus grundschuldidaktischer und psychologischer Perspektive der Frage nach, welche Einstellungen sich bei Akteuren an Grundschulen zu Inklusion zeigen und inwiefern sich diese über die Zeit verändern. Ausgehend von der Annahme, dass Einstellungen immer auch unter dem Einfluss spezifischer Bedingungskonstellationen und konkreter Begegnungen in sozialen Interaktionen stehen, werden neben Lehrenden auch Eltern und Kinder befragt.

3 Forschungsdesign Im Kontext des längsschnittlich angelegten Forschungsprojekts mit multimethodalem Design wurden in einer zusätzlichen Fallstudie die Einstellungen und Erfahrungen von Lehrenden, Eltern und Kindern in ihrer Komplexität und Ganzheitlichkeit untersucht. Fallstudien bieten dabei den Vorteil, Phänomene unter Berücksichtigung des realen Kontextes sowie unterschiedlicher Daten an einzelnen ausgewählten Fällen zu untersuchen (vgl. Yin 2018). Auf der Basis zweier Qualifikationsarbeiten wurden sechs Fälle mit dem Ziel einer detaillierten Beschreibung und Rekonstruktion (vgl. Flick 2016) analysiert. In der fallvergleichenden Untersuchungsanlage wurden sechs Lehrerinnen an niedersächsischen Grundschulen sowie jeweils drei Mütter und deren Kinder im Rahmen teilstrukturierter Interviews u.a. zu Inklusionserfahrung und -verständnis, zum Klassenleben, zu sozialer Integration, zum Wohlbefinden sowie zu den Einstellungen zu Inklusion befragt und in Orientierung an der Grounded Theory (vgl. Glaser & Strauss 2010) ausgewertet.

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Lena Ohnesorge und Katrin Hauenschild

4 Ergebnisse Die Ergebnisse lassen sich an zwei kontrastiven Fällen dritter Klassen illustrieren. Die Lehrerin des ersten Fallbeispiels versteht Inklusion als eine „fröhliche Gemeinschaft, die die unterschiedlichen Stärken und Besonderheiten aller annimmt, wie sie sind“. Bei der Gestaltung des Unterrichts sind ihr Transparenz, Rituale, differenziertes Material, das Lernen am gemeinsamen Gegenstand sowie demokratische Strukturen wichtig. Bei der Beschreibung ihrer ‚Inklusionsklasse’ geht sie über die Orientierung an Förderbedarfen hinaus, indem sie von verschiedenen Kindern berichtet. Die Kinder nehmen Vielfalt in Bezug auf unterschiedliche Leistungen und Lernmöglichkeiten wahr und erachten Fehler nicht als schlimm. Seit Beginn der gemeinsamen Schulzeit wurden die speziellen Bedürfnisse in enger Kooperation mit den Eltern im Unterricht und Schullalltag berücksichtigt und dies an alle Eltern kommuniziert. Trotz Kritik an den Rahmenbedingungen berichten sie von guten Erfahrungen in dieser Klasse und stehen Inklusion positiv gegenüber. Die Lehrerin erlebt vor allem die sozialen Aspekte von Inklusion als gelungen, sieht jedoch Einschränkungen beim fachlichen Lernen. Sie betrachtet die Abschaffung der Förderschulen kritisch, da ihr für Kinder mit extremen Schwierigkeiten an der inklusiven Schule Kleingruppen mit intensiver Betreuung fehlen. Inklusiver Unterrichtet biete allerdings die Chance, dass Kinder mit Vielfalt aufwachsen und von anderen Kindern lernen. Als besonders herausfordernd erlebt sie den Förderbedarf bezüglich der sozialen-emotionalen Entwicklung. Es sei ihr aber wichtig, bei Konflikten „nie den Menschen abzulehnen, nur die Tat“. Damit Inklusion gelingen kann, fordert sie die Abschaffung von Vergleichsarbeiten und Noten, mehr Gruppenräume, mehr Stunden für Förderlehrer(innen) sowie mehr Zeit für die von ihr als wichtig erachtete professionelle Zusammenarbeit. Sie selbst hat mehrere Fortbildungen zu Inklusion besucht und ist nach eigenen Worten auch durch persönliche Erfahrungen mit behinderten Menschen sensibilisiert. Das Interview beendet sie mit den Worten: „Wir brauchen eine bejahende Schule und dann geht Inklusion gut“. In der Klasse des zweiten Fallbeispiels unterscheidet die Lehrerin deutlich zwischen verschiedenen Förderbedarfen: Die Anwesenheit von Kindern mit körperlicher Beeinträchtigung hält sie für problemlos. Die Förderung von Kindern mit emotional-sozialem Förderbedarf und Förderbedarf Lernen hingegen sei in der inklusiven Schule alleine aber „einfach nicht [zu] leisten“, da diese Kinder durch die verursachte Unruhe das Klassenklima stören. Die Lehrerin bemüht sich um Differenzierung, doch diese beschränkt sich auf Hausaufgaben und Lernzielkontrollen, da aus ihrer Sicht weitere Differenzierungen im Unterricht nicht leistbar seien. Die Abschaffung von Förderschulen sieht sie sehr kritisch, da kleinere Klassen und mehr Lehrkräfte eine bessere Förderung ge-

Einstellungen zu Inklusion an Schulen – eine Fallstudie

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währleisten können. Sie selbst gibt an, dass der Begriff Inklusion für sie nicht positiv besetzt sei, da Fördermaterial und personelle Unterstützung fehlen. Sie beschreibt Inklusion, „als wenn man alle Kinder in ein Schwimmbecken wirft – ganz gleich, ob sie schon schwimmen können oder noch Schwimmflügel oder ein Kinderbecken bräuchten. Und die Lehrerin steht am Rand, kann nicht rein und denkt oh Gott oh Gott“. Sie selbst erlebt die Situation als belastend und berichtet von Überforderung, Frustration bis hin zu Abstumpfung: „Und irgendwann, ja, also da stumpft man immer mehr ab, also wenn man dann sagt: Okay, ich kann’s halt nicht.“. Insgesamt scheint diese Lehrerin auch durch das Kollegium wenig Unterstützung zu erfahren, außer durch Praktikant(inn)en, die sich – im Sinne eines integrativen Verständnisses – dann um die Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf einzeln kümmern können. Es sei „Quatsch“, dass Inklusion im Klassenverband stattfinden soll, da die Kinder die intensive Betreuung und Ruhe bei einer Einzel- oder Kleingruppenförderung genießen würden. Die Lehrerin gibt an, dass die Kinder durch Vielfalt lernen können, der Gedanke zu „integrieren“ sei also insgesamt ein guter – zumindest bei den Kindern, die dafür geeignet sind. Die Kinder dieser Klasse haben eine neutrale bis positive Haltung zu Vielfalt. Sie sind jedoch nicht aufklärt und erleben Differenzierungsmaßnahmen z.T. als „ungerecht“. Ähnliche Argumentationen finden sich auch bei den Eltern. Diese sind kaum über die Klassensituation informiert und sehen Vor- und Nachteile bei Inklusion.

5 Zusammenfassung Auf Grundlage der Auswertung der sechs Fälle ergeben sich erste Zusammenhangsvermutungen. Alle Lehrerinnen, die an der Fallstudie teilgenommen haben, befürworten allgemein die Idee der Inklusion. Sie nennen alle in unterschiedlichem Ausmaß Vorteile sowie Kritik und Skepsis: Vorteile beziehen sich auf das soziale Lernen; Befürchtungen richten sich auf die Frage nach angemessener Förderung, der sozialen Ausgrenzung oder Ablenkung von Mitschüler(inne)n. Mit verschiedenen Begründungen sprechen sie sich deshalb alle für die Beibehaltung der Förderschule aus. Bei Lehrerinnen mit einer eher positiveren Einstellung zeigen sich Tendenzen hinsichtlich eines Zusammenhangs mit einem weiten Inklusionsverständnis, dem Besuch von Fortbildungen und einem positiven Erleben dieser, einem nach eigenen Angaben gelungenen Unterricht, einer Orientierung der Unterrichtsgestaltung an inklusionsbezogenen Prinzipien (Prengel 2013), einer engeren Kooperation mit dem Kollegium sowie mit Förderlehrer(inne)n, internaler Verantwortungsattribution, höheren Selbstwirksamkeitserwartungen und persönlichen Erfahrungen. Eltern mit einer eher positiveren Einstellung sehen die Umsetzung in der Klasse gelungen. Bei einer stärker

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Lena Ohnesorge und Katrin Hauenschild

skeptischen Einstellung scheint der Fokus vermehrt auf störende Kinder gelegt zu werden. Sie nennen eher Probleme und Schwierigkeiten im Umgang mit Heterogenität. Eltern, die Einblicke in die Klasse und den Unterricht haben, haben in der Tendenz eine etwas positivere Einstellung gegenüber Inklusion und ein eher weiteres Inklusionsverständnis. Bei den Kindern lässt sich insgesamt eine neutrale bis positive Einstellung gegenüber Vielfalt vermuten. Wenn sie sich kritisch äußern, muss sich das nicht unbedingt auf Beeinträchtigungen beziehen, sondern kann auch andere Aspekte wie Verhalten, Sprache o.ä. betreffen. Wenn die Kinder informiert und aufgeklärt sind, nehmen sie Vielfalt wahr, zeigen eher Verständnis für die Situation, akzeptieren dies und können adäquat damit umgehen.

6 Diskussion und Ausblick Die Ergebnisse zeigen die Bedeutsamkeit von Kommunikation und Transparenz zwischen Lehrenden, Eltern und Kindern auf, wobei die Lehrenden eine Schlüsselrolle einnehmen. Dass diese sowohl Vor- als auch Nachteile von Inklusion sehen, entspricht nicht nur weiteren Studien, sondern auch den Ergebnissen der quantitativen Teilstudie. Die in der Fallstudie aufgezeigte Tendenz eines Zusammenhangs zwischen Einstellung und Selbstwirksamkeitserwartung bei den Lehrenden entspricht allerdings nicht den Ergebnissen der quantitativen Teilstudie im Projekt. Befunde aus einer Pilotstudie geben Hinweise darauf, dass vielmehr spezifische Kontrollüberzeugungen bedeutsam sein könnten (vgl. Greve, Hellmers, Hauenschild, Götz & Schüle 2015). Die Fallstudien zeigen jedoch, dass die Konfrontation mit pädagogischen Herausforderungen, für die man sich subjektiv nicht ausreichend kompetent fühlt, als Belastung erlebt werden kann. Eine längsschnittliche Betrachtung der Fälle wird ggf. Aufschluss darüber geben, wie die Lehrerinnen diese bewältigen und inwiefern sich dies auf ihre Einstellung und ihr Engagement auswirkt. Wenngleich die beschriebenen Tendenzen zunächst auf die konkreten Fälle beschränkt bleiben und einen hypothetischen Charakter haben (vgl. Fatke 2013), können die Ergebnisse jedoch nicht nur als Beitrag zur theoretischen Diskussion des Einstellungskonstrukts interessante Hinweise geben, sondern aus den gewonnen Erkenntnissen können auch Ableitungen für die praktische Anwendung übertragen werden (ebd.). Des Weiteren sollen die Ergebnisse aus der differenzierten Untersuchung der Dynamiken inklusionsbedingter Herausforderungen und Schwierigkeiten Hinweise für die Fort- und Weiterbildung von Lehrenden und insbesondere für eine gezielte Vorbereitung von Lehramtsstudierenden in grundschuldidaktischen Bildungs- und Ausbildungskontexten geben.

Einstellungen zu Inklusion an Schulen – eine Fallstudie

289

Literatur Ajzen, I. (1991): The theory of planned behavior. In: Organizational Behavior and Human Decision Processes, 50 (2), 179–211. Avramidis, E. & Norwich, B. (2002): Teachers’ attitudes towards integration/inclusion: A review of the literature. In: European Journal of Special Needs Education, 17 (2), 129–147. de Boer, A., Pijl, S. J. & Minnaert, A. (2010): Attitudes of parents towards inclusive education: a review of the literature. In: European Journal of Special Needs Education, 25 (2), 165– 181. de Boer, A., Pijl, S.J. & Minnaert, A. (2012): Students attitudes towards peers with disabilities: a review of the literature. In: International Journal of Disability, Development and Education, 59 (4), 379–392. Fatke, R. (2013): Fallstudien in der Erziehungswissenschaft. In: B. Friebertshäuser, A. Langer & A. Prengel (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (4. durchgesehene Aufl., S. 159–172). Weinheim: Beltz Juventa. Flick, U. (2016): Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung (7. Aufl.). Reinbek: Rowolth. Glaser, B. G. & Strauss, A. (2010): Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung (3. Aufl.). Bern: Huber. Greve, W., Hellmers, S., Hauenschild, K., Götz, J. & Schüle, C. (2015): „Mit etwas gutem Willen ...“ – Inklusionsbezogene Einstellungen von Lehrenden als Bedingung und Folge von Erfahrungen. In: R. Krüger & C. Mähler (Hrsg.), Gemeinsames Lernen in inklusiven Klassenzimmern. Prozesse der Schulentwicklung gestalten (S. 121–132). Köln: Carl Link. Hinz, A. (2009): Inklusive Pädagogik in der Schule – veränderter Orientierungsrahmen für die schulische Sonderpädagogik!? Oder doch deren Ende?? In: Zeitschrift für Heilpädagogik, (5), 171–179. Koster, M., Pijl, S. J., Heuten, E. & Nakken, H. (2007): The social position and development of pupils with SEN in mainstream Dutch schools. In: European Journal of Special Needs Education, 22 (1), 31–46. Krull, J., Wilbert, J. & Hennemann, T. (2014): Soziale Ausgrenzung von Erstklässlerinnen und Erstklässlern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Gemeinsamen Unterricht. In: Empirische Sonderpädagogik, 6 (1), 59–75. Prengel, A. (2013): Inklusive Bildung in der Primarstufe. Frankfurt a. M: Grundschulverband. Schwab, S. (2015): Einflussfaktoren auf die Einstellung von SchülerInnen gegenüber Peers mit unterschiedlichen Behinderungen. In: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 47 (4), 177–187. Sermier Dessemontet, R., Benoit, V. & Bless, G. (2001): Schulische Integration von Kindern mit einer geistigen Behinderung – Untersuchung der Entwicklung der Schulleistungen und der adaptiven Fähigkeiten der Mitschüler sowie der Lehrereinstellungen zu Integration. In: Empirische Sonderpädagogik, 3 (4), 291–307. Werning, R., Mackowiak, K., Rothe, A. & Müller, C. (2017): Inklusive Grundschule – Eine empirische Analyse von Gelingensbedingungen und Herausforderungen. In: Empirische Pädagogik, 31 (3), 323–339. Yin, R. K. (2018): Case study research and applications. Design and methods (6. Aufl.). Los Angeles, CA: Sage.

Die soziale Partizipation von Schüler(inne)n in Lerngruppen der inklusiven Grundschule Rebecca Schmitt

1

Forschungshintergrund

Nationale und internationale Studien zur sozialen Partizipation belegen mehrheitlich, dass besonders Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf und schlechten Schulleistungen von sozialer Ausgrenzung in ihren Lerngruppen in inklusiven Schulen betroffen sind (u.a. Huber & Wilbert 2012). Dass wenige Studien zu einem konträren Ergebnis gelangen, wird in der empirischen Bildungsforschung damit begründet, dass national regionale Unterschiede in der Diagnostik des sonderpädagogischen Förderbedarfs bestehen, was sich in der Örtlichkeit der Stichprobenziehung widerspiegelt (Henke et al. 2017). Ebenso differieren international Definitionen und somit auch Erfassungsweisen spezifischer Förderschwerpunkte. Auch werden in den verschiedenen Forschungsprojekten unterschiedliche sonderpädagogische Förderschwerpunkte berücksichtigt, was einen Vergleich der Ergebnisse erschwert (Grütter, Meyer & Glenz 2015). Je nach Anwendung unterschiedlicher Maße der sozialen Partizipation kann es ebenfalls zu variierenden Befunden kommen, was die Relevanz einer umfassenden Operationalisierung der Variable hervorhebt (ebd.). Kulawiak und Wilbert (2015) systematisieren die soziale Partizipation in die Dimensionen Gruppenakzeptanz bzw. -ablehnung, soziale Position, soziale Interaktionen sowie Beteiligung an Netzwerkbeziehungen (Cliquen). Gruppenakzeptanz bzw. -ablehnung umfasst, die eigene Haltung gegenüber den einzelnen Klassenmitgliedern sowie in umgekehrter Weise, welche Haltung jene gegenüber der eigenen Person hegen (ebd.). Die soziale Position gibt Auskunft, inwiefern ein(e) Schüler(in) in der Klassengemeinschaft beliebt ist und welche Stellung sie/er in der sozialen Hierarchie einnimmt (ebd.). Soziale Interaktionen beinhalten, ob ein Kind zu einem anderen Kontakt aufnimmt oder selbst von anderen Mitschüler(inne)n soziale Impulse erhält (ebd.). Stößt die Kontaktaufnahme auf gegenseitiges Interesse, entstehen wechselseitig Interaktionen, welche in der Soziometrie als Freundschaften bezeichnet werden. Gehen mehr als zwei Mitglieder der Lerngruppe untereinander reziproke Beziehungen und Interaktionen ein, kommt es zur Cliquenbildung (soziale Netzwerke) (ebd.).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_38

Die soziale Partizipation von Schüler(inne)n in Lerngruppen der inklusiven Grundschule

291

Faktoren, die im Zusammenhang der sozialen Partizipation von Kindern in ihren Lerngruppen stehen, sind noch nicht hinreichend erforscht. So werden vor allem individuelle Persönlichkeitsmerkmale (z.B. soziale Kompetenz und Schulleistungsperformanz) der Kinder, aber auch Aspekte der Unterrichts- und Klassenebene (z.B. Organisationsform) sowie Lehrkraftmerkmale (z.B. Lehrkraftfeedback) als relevante Variablen diskutiert (Henke et al. 2017). Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Fragestellung der sozialen Partizipation von Kindern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in Lerngruppen der inklusiven Grundschule unterschiedlicher Organisationsform.

2

Forschungsdesign

2.1 Projekteinbettung der Zielstellung Die Zielstellung des Beitrags ist Bestandteil des Dissertationsprojekts „Die soziale Partizipation von Schüler_innen in Lerngruppen der inklusiven Grundschule – Über den Zusammenhang von sozialer Partizipation der Schüler_innen, Einstellungen der Lehrkräfte zur Inklusion und Lehrkraftfeedback“. Die Studie verfolgt das Ziel, das verbale Lehrkraftfeedback in Lerngruppen der inklusiven Grundschule für überdurchschnittlich und unterdurchschnittlich im Klassenverbund sozial teilhabende Kinder zu erfassen und in Bezug zu den Einstellungen der Lehrkräfte zur Inklusion zu setzen. 2.2 Beschreibung der Stichprobe An drei inklusiven Grundschulen unterschiedlicher Organisationsform des Kölner Nahraums wurden zu zwei Messzeitpunkten im Schuljahr 2016/17 und 2017/18 in je vier Lerngruppen (Schule 1: jahrgangsbezogene Klassen; Schule 2: jahrgangsgemischte Klassen der Stufen eins und zwei; Schule 3: jahrgangsübergreifende Klassen der Stufen eins bis vier) die soziale Partizipation der Kinder erfasst. Die Stichprobengröße der Schüler(innen) variierte zwischen den Schulen von 85 bis 101 Kinder. Die durchschnittliche Klassengröße erstreckte sich an den jeweiligen Schulen von 21,3 bis 25,3 Schüler(innen). Die Geschlechterverhältnisse gestalteten sich nahezu ausgewogen. Der Anteil der Kinder mit (vermutetem) sonderpädagogischen Förderbedarf, die an der Erhebung teilnahmen, betrug an Schule 1 13,8% (14 Kinder), an Schule 2 8,5% (acht Kinder) und an Schule 3 17,6% (15 Kinder). Da nicht bei allen Förderschwerpunkten zu diesem frühen Entwicklungszeitpunkt der Kinder in NRW AO-SFVerfahren eingeleitet werden, wurden die Klassenlehrkräfte und sonderpädagogischen Lehrkräfte in einem Fragebogen zur Einschätzung des Förderbedarfs

292

Rebecca Schmitt

aller Kinder in „kein erhöhter Förderbedarf“, „erhöhter Förderbedarf“ und „sonderpädagogischer Förderbedarf“ unter Angabe der Diagnostikinstrumente gebeten. 1.3 Erhebung und Auswertung der sozialen Partizipation der Schüler(innen) Die soziale Partizipation der Kinder wurde mittels soziometrischer Einzelbefragungen der Schüler(innen) in einem unbegrenzten Wahlverfahren erhoben. Mit Unterstützung durch ein Klassenfoto wurden den Kindern die folgenden Fragen gestellt (vergleiche auch Grütter et al. 2015): 1. 2. 3. 4.

Neben welchen Kindern aus deiner Klasse möchtest du am liebsten sitzen? Mit welchen Kindern aus deiner Klasse möchtest du am liebsten bei einer Gruppenarbeit zusammen arbeiten? Mit welchen Kindern aus deiner Klasse spielst du oft in der Pause? Mit welchen Kindern aus deiner Klasse spielst du oft nach der Schule?

Es wurden die Maße Gruppenakzeptanz, soziale Präferenz, Freundschaften und Netzwerkbeteiligung in Form von Triaden gemäß der, bei Kulawiak und Wilbert (2015) beschriebenen, Verfahrensweisen ausgewertet. Hierfür wurden lediglich Akzeptanznennungen genutzt. Auf Ablehnungsnominationen wurde aus forschungsethischen Gründen verzichtet. Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse zu den Fragen eins bis drei in der Gegenüberstellung der sozialen Situation der Gesamtheit aller Kinder einer Schule und denen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im schulischen Vergleich bezogen auf den Messzeitpunkt der Schuljahresmitte 2016/17 präsentiert.

3

Ergebnisse

3.1 Soziale Präferenz von Kindern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf 3.1.1 Beliebtheit als Sitzpartner(in) Schule 3 weist die größten Anteile an sozial teilhabenden Kindern (durchschnittliche und überdurchschnittliche Beliebtheit) bezogen auf das Maß der sozialen Präferenz auf. 74% aller Schüler(innen) sind in Schule 3 durchschnittlich und 15% überdurchschnittlich beliebt. Mit 11% Anteil weist die Schule ebenfalls am geringsten unterdurchschnittlich beliebte Kinder auf. An Schule 2

Die soziale Partizipation von Schüler(inne)n in Lerngruppen der inklusiven Grundschule

293

besteht ebenfalls mit 66% eine breite Basis an durchschnittlich beliebten Kindern. Die Schule besitzt vergleichbar große Anteile an über- und unterdurchschnittlich als Sitzpartner(innen) beliebten Kindern (16-18%). An Schule 1 ist das Ergebnis polarisierender: Es bestehen größere Anteile an unterdurchschnittlich und überdurchschnittlich beliebten Kindern mit 23% bzw. 20%. Daher gestaltet sich an Schule 1 das Ausmaß an durchschnittlich beliebten Kindern mit 57% am geringsten. Betrachtet man die Beliebtheit als Sitzpartner(in) der Kinder mit SPF separat, so wird deutlich, dass sie überwiegend unterdurchschnittlich bis durchschnittlich beliebt sind (Schule 1: 50% unterdurchschnittlich beliebt, 50% durchschnittlich beliebt; Schule 2: 25% unterdurchschnittlich beliebt, 75 % durchschnittlich beliebt; Schule 3: 27% unterdurchschnittlich beliebt, 60% durchschnittlich beliebt). An Schule 3 gestaltet sich die soziale Präferenz für Kinder mit SPF am höchsten, dicht gefolgt von Schule 2. Hier bestehen die größten Anteile an durchschnittlich bzw. an Schule 3 an durchschnittlich und überdurchschnittlich beliebten Kindern und somit die geringsten Anteile an unterdurchschnittlich beliebten Schüler(inne)n. Schule 3 ist die einzige Schule, an der Kinder mit SPF zu den überdurchschnittlich beliebten Kindern mit 13% Anteil gehören. An Schule 1 sind die Anteile unter- und durchschnittlich beliebter Kinder gleich groß. 3.1.2 Beliebtheit als Arbeitspartner(in) Im Vergleich der Daten mit der Beliebtheit als Sitzpartner(in) fällt auf, dass sich die Beliebtheit als Arbeitspartner(in) an den Schulen sowohl für die Gesamtheit aller Kinder als auch für jene mit SPF ähnlich gestaltet. 3.2 Freundschaften von Kindern mit und ohne SPF im Pausenkontext An allen drei Schulen verfügen die Kinder überwiegend über eins bis zwei Freundschaften im Pausenkontext. Im Vergleich der Schulen wird ersichtlich, dass an Schule 2 und 3 ähnliche Relationen an Freundschaftsverhältnissen herrschen: 13-14% der Kinder verfügen über keine Freundschaften, 70-71% über eine bis zwei Freundschaften und jeweils 16% über drei oder mehr Freundschaften. Bei Schule 1 besteht in der Gegenüberstellung zu den beiden anderen Schulen mit 20% ein größerer Anteil an Kindern, die keine Freundschaften aufweisen sowie solche mit 23% Anteil, die über drei oder mehr Freundschaften verfügen. Daher besitzt Schule 1 mit 57% einen geringeren Anteil an Schüler(inne)n, die eine/n bis zwei Freundinnen bzw. Freunde im Pausenkontext haben. Für Kinder mit SPF gestalten sich die Freundschaftsbeziehungen quantitativ am günstigsten an Schule 1. Hier bestehen die größten Anteile an Kindern,

294

Rebecca Schmitt

die über eine bis zwei (70%) und drei oder mehr Freundschaften (15%) verfügen. 15% der Schüler(innen) mit SPF besitzen dennoch keine Freunde. An Schule 2 und 3 herrscht eine ähnliche Verteilung der Kinder hinsichtlich der Anzahl der Freundschaften, wobei sich an Schule 3 die soziale Partizipation bezüglich dieses Maßes etwas höher gestaltet (33-37,5% der Kinder: keine Freundschaften; 50-54%: eine bis zwei Freundschaften; ca. 13% drei oder mehr Freundschaften). 3.3 Netzwerkbeteiligung von Kindern mit und ohne SPF in Form von Triaden An allen drei Schulen gehören mehr als die Hälfte der Schüler(innen) keinen Cliquen in Form von Triaden an. Wenn Kinder sich an Netzwerken beteiligen, dann sind sie überwiegend einer Triade zugehörig. Kinder mit SPF sind noch seltener Mitglieder in Cliquen.

4

Diskussion der Ergebnisse

Insgesamt betrachtet verfügt Schule 3 bei den unterschiedlichen Maßen der sozialen Partizipation über die größten Anteile an Kindern, deren Werte auf eine hohe soziale Partizipation in ihren Lerngruppen schließen lassen. Am zweithöchsten gestaltet sich die soziale Teilhabe an Schule 2. An Schule 1 herrscht hingegen eine stärkere Polarisierung: Es gibt im Vergleich zu den beiden anderen Schulen anteilsmäßig mehr Kinder, die Extrempositionen einnehmen, d.h. hohe oder geringe Werte in den unterschiedlichen Dimensionen der sozialen Partizipation aufweisen. An allen drei Schulen nimmt der größte Anteil der Schüler(innen) eine durchschnittlich beliebte soziale Position als Sitz- oder Arbeitspartner(in) ein (Spannbreite 51-74%). Der Großteil der Kinder verfügt an allen drei Schulen über eine bis zwei Freundschaften im Pausenkontext. Für mehr als die Hälfte aller Schüler(innen) an den teilnehmenden Schulen hat die Cliquenzugehörigkeit keine Bedeutsamkeit. Wenn Kinder sich an Netzwerken beteiligen, dann sind sie überwiegend einer Triade zugehörig. Im Vergleich der Kinder mit und ohne SPF wird deutlich, dass an allen Schulen Schüler(innen) mit SPF niedrigere Mittelwerte in allen dargestellten Maßen der sozialen Partizipation aufweisen. Hinsichtlich der Beliebtheit als Sitz- und Arbeitspartner(innen) erhalten Kinder mit SPF die höchsten Werte an den jahrgangsgemischten Schulen (Schule 2 und 3). Bezogen auf Freundschaften im Pausenkontext gestalten sich die Werte für Kinder mit SPF an Schule 1 (jahrgangsbezogen) quantitativ am umfangreichsten. Die Mehrheit der Kinder mit SPF gehört keinen Cliquen an.

Die soziale Partizipation von Schüler(inne)n in Lerngruppen der inklusiven Grundschule

295

Diese Ergebnisse stimmen mit dem derzeitigen Forschungsstand zur sozialen Partizipation überein, dass Kinder mit SPF weniger als Kinder ohne SPF in ihren Lerngruppen sozial teilhaben. Dennoch ist auch erkenntlich, dass ein Großteil der Kinder mit SPF durchschnittlich und an Schule 3 sogar ein geringer Anteil überdurchschnittlich beliebt ist. Auch verfügen die meisten Kinder mit SPF über mindestens eine Freundschaft im Pausenkontext, auch wenn, bis auf an Schule 1, die Anzahl an Spielkamerad(inn)en im Vergleich zu Kindern ohne SPF deutlich geringer ausfällt. Da die Proband(inn)en mehrheitlich der Jahrgangsstufen eins und zwei angehören, könnte es aufschlussreich sein, die Daten nach dem Alter der Kinder auszuwerten, um festzustellen, ob entwicklungsbedingt die Zugehörigkeit zu Cliquen mit zunehmendem Alter ansteigt und deshalb die Triadenzugehörigkeit für Kinder mit und ohne SPF in der Studie kaum relevant ist. Die schulspezifische Analyse der verschiedenen Maße der sozialen Partizipation verdeutlicht, dass sowohl Kinder mit als auch ohne SPF höhere Werte an den jahrgangsgemischten Schulen erhalten, im Besonderen bei der Organisationsform der Jahrgangsmischung eins bis vier. Lediglich hinsichtlich des Maßes der Freundschaften im Pausenkontext gestalteten sich die Ergebnisse der jahrgangbezogenen Schule am höchsten für Kinder mit SPF. Ob die noch größere Heterogenität der Schüler(innen)schaft an den jahrgangsgemischten Schulen die soziale Partizipation der Kinder begünstigt, wie in der Theorie argumentiert (Huber 2009) und auch in manchen empirischen Forschungsstudien belegt werden konnte (u.a. Grütter et al. 2015), lässt sich mit dem Design der vorliegenden Studie nicht klären. Diesbezüglich wären weiterreichende Untersuchungen notwendig, in welchen eine größere Stichprobe an Schulen unterschiedlicher Organisationsform einfließt. Ebenfalls ist es sinnvoll, weitere Faktoren der Schulebene als potentielle Prädikatoren der sozialen Akzeptanz zu prüfen.

Literatur Grütter, J., Meyer, B. & Glenz, A. (2015): Sozialer Ausschluss in Integrationsklassen: Ansichtssache? In: Psychologie in Erziehung und Unterricht, 62 (1), 65–82. Henke, T., Bosse, S., Lambrecht, J., Jäntsch, C., Jaeuthe, J. & Spörer, N. (2017): Mittendrin oder nur dabei? Zum Zusammenhang zwischen sonderpädagogischem Förderbedarf und sozialer Partizipation von Grundschülerinnen und Grundschülern. In: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 31 (2), 111–123. Huber, C. (2009): Soziale Ausgrenzung in der Integration von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf: Zusammenhang von Persönlichkeit, Gruppenheterogenität und sozialer Ausgrenzung. In: Empirische Sonderpädagogik, 23 (2), 170–190. Huber, C. & Wilbert, J. (2012): Soziale Ausgrenzung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf und niedrigen Schulleistungen im gemeinsamen Unterricht. In: Empirische Sonderpädagogik, 4 (2), 147–165. Kulawiak, P. R. & Wilbert, J. (2015): Methoden zur Analyse der sozialen Integration von Schulkindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht. In: Empirische Sonderpädagogik, 7 (3), 241–225.

Soziale Kompetenz und Integration von Grundschulkindern mit besonderem pädagogischen Förderbedarf. Erste Ergebnisse aus der KOMENSKI-Studie Christian Elting, Bärbel Kopp und Sabine Martschinke

1

Theoretisch-empirischer Hintergrund und Fragestellung

Inklusion in der Grundschule für alle Kinder ist in einem weiten, partizipativen, ökosystemischen Verständnis als konstruktiver Umgang mit Heterogenität in all ihren Facetten (z.B. Migrationshintergrund, soziale Herkunft, besonderer Förderbedarf) zu denken (z.B. European Agency 2010). Soziale Kompetenz und soziale Integration können dabei als bedeutsame Gradmesser gelungener Inklusion gelten, die im Sinne eines kompetenten Miteinanders über räumliches Beisammensein hinausgeht (partizipativ). Anders als eine individuumszentrierte Förderung setzt eine ökosystemische Förderung hierbei insbesondere an klimatischen Aspekten des Settings an (z.B. Feedback, Beziehungsqualität, Partizipationsgelegenheiten). Obwohl Theoriebestände (z.B. Deci & Ryan 1993) sowie Ergebnisse der Unterrichts- (z.B. Klieme, Lipowsky & Rakoczy 2006) und Inklusionsforschung (z.B. Grütter, Meyer & Glenz 2015) auf die Bedeutsamkeit eines solchen Förderansatzes verweisen, ist die Wirkung der genannten klimatischen Aspekte und Heterogenitätsmerkmale auf die soziale Kompetenz und Integration nicht hinreichend erforscht (ebd.). Diesen Desiderata widmet sich die KOMENSKI-Studie1 mit ihrer Hauptfragestellung nach der Entwicklung der sozialen Kompetenz und der sozialen Integration der Schüler(innen) in Abhängigkeit von deren Heterogenitätsmerkmalen (Migrationshintergrund, soziale Herkunft, besonderer pädagogischer Förderbedarf) und klimatischen Aspekten des Settings (Feedback, Beziehungsqualität, Partizipationsgelegenheiten). Auch wird geprüft, ob es ‚Optimalklassen‘ gibt, in denen trotz einer herausfordernden 1

KOMENSKI: KOmpetentes Miteinander. ENtwicklung Sozialer Kompetenz und Integration von Grundschulkindern in heterogenen Settings der dritten Jahrgangsstufe (Projektleitung: Christian Elting & Prof. Dr. Bärbel Kopp; Förderung: Sonderfonds für wissenschaftliche Arbeiten an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg)

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_39

297

Soziale Kompetenz und Integration von Grundschulkindern

Klassenkomposition eine überdurchschnittliche Entwicklung der sozialen Kompetenz und Integration gelingt und welche klimatischen Aspekte diese Klassen auszeichnen. Vor dem Hintergrund des skizzierten Inklusionsverständnisses ist der durch Lehrkräfte wahrgenommene, besondere pädagogische Förderbedarf (BPF, siehe zum Begriff Tab. 1) des einzelnen Kindes bedeutsam, für dessen grundschulpädagogische Handlungsrelevanz es empirische Hinweise gibt: Belegt sind zunächst Wechselwirkungen von sozialer Kompetenz, sozialer Integration und Leistung, wobei Wirkrichtungen und Effektstärken teils ungeklärt sind (zsf. Martschinke & Frank 2015; Huber & Wilbert 2012). Für Schüler(innen) mit BPF konnten Huber und Wilbert (2012) zeigen, dass sie sowohl in der Selbstsicht als auch in der Fremdsicht ihrer Mitschüler(innen) weniger sozial integriert sind als Schüler(innen) ohne BPF. Angesichts der aufgezeigten Wechselwirkungen liegt die Vermutung nahe, dass Schüler(innen) mit BPF auch über geringere soziale Kompetenzen verfügen, einschlägige Befunde hierzu liegen jedoch bislang nicht vor. Zudem variiert der Zusammenhang von Förderbedarf und sozialer Integration zwischen den Klassen. Neben der Studie von Huber und Wilbert konnten auch andere Studien die Bedeutung klimatischer Aspekte des Settings für die soziale Integration belegen (zsf. ebd.). Tabelle 1: Begriffliche Gegenüberstellung sonderpädagogischen und besonderen pädagogischen Förderbedarfs Sonderpädagogischer Förderbedarf

Besonderer pädagogischer Förderbedarf

Beeinträchtigungen in Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten, die sonderpädagogische Unterstützung erforderlich machen (KMK 1994)

Beeinträchtigungen in Bildungs-, Entwicklungsund Lernmöglichkeiten, die besondere pädagogische (ggf. auch sonderpädagogische) Unterstützung erforderlich machen (z.B. Vernooij 2007, 2004)

formal attestiert (sonderpädagogisches Gutachten)

informell diagnostiziert (Lehrkrafteinschätzung)

primär sonderpädagogisch handlungsrelevant

(grund-)schulpädagogisch handlungsrelevant

enges Inklusionsverständnis

weites Inklusionsverständnis

298

Christian Elting, Bärbel Kopp und Sabine Martschinke

Insgesamt zeichnet sich ein Forschungsdefizit ab: Es fehlt an (grundschulpädagogischen) Studien, die sich anstelle des attestierten am besonderen Förderbedarf orientieren und soziale Kompetenz und soziale Integration multiperspektivisch und längsschnittlich erfassen. Oftmals wird die Selbstsicht der Schüler(innen) nicht erhoben, was insbesondere hinsichtlich der Erfassung wahrgenommener sozialer Integration problematisch erscheint. An diesen Desiderata setzt KOMENSKI an. Der vorliegende Beitrag verfolgt die Teilfragestellung der KOMENSKI-Studie, ob sich Grundschulkinder mit und ohne BPF (Lehrkrafteinschätzung) hinsichtlich der Entwicklung ihrer sozialen Kompetenz und Integration (Lehrkraft- und Selbsteinschätzung) unterscheiden.

2

Datengrundlage und Methode

Die Gesamtstichprobe umfasst N = 441 Schüler(innen) (n1 = 318 ohne BPF, n2 = 123 mit BPF; Alter: M = 8.60, SD = 0.45; Geschlecht: ♀ = 48 %) in 30 dritten Klassen an 15 Schulen eines großstädtischen bayerischen Schulamtsbezirks. Der Anteil an Kindern mit BPF fällt mit 28 % deutlich höher aus als in der oben zitierten Studie von Huber und Wilbert (2012; BPF-Anteil = 20 %) und streut dabei erheblich zwischen den Klassen (MIN = 0 %, MAX = 69 %). Die Stichprobe ist insofern pädagogisch vergleichsweise herausfordernd, dabei jedoch auch beachtlich heterogen, was Klasseneffekte vermuten lässt. Der BPF der Schüler(innen) wurde über die Lehrkrafteinschätzung dichotom erfasst (liegt vor / liegt nicht vor). Die Entwicklung der sozialen Kompetenz und der sozialen Integration wurde im Längsschnitt (t1: Anfang, t2: Mitte, t3: Ende des Schuljahres 2016/17) anhand parallelisierter Fragebögen für Lehrkräfte und Schüler(innen) erfasst (siehe Tab. 2). Je nach Subskala und Perspektive fallen Cronbachs α und die mittleren Trennschärfen r zu t1 moderat bis hoch aus, was zeigt, dass die Skalen für den Zweck der Studie (Gruppenvergleiche im Persönlichkeitsbereich; siehe zur Auswertungsmethode Kap. 3) verwendet werden können.2

2

Cronbachs α und r fallen zu t1-t3 sehr ähnlich aus.

299

Soziale Kompetenz und Integration von Grundschulkindern

Tabelle 2:

Konstrukte

Überblick über den Fragebogen zur sozialen Kompetenz und Integration (Adaption nach Frey 2013; Venetz, Zurbriggen & Eckhart 2014; Kennwerte zu t1) Subskalen

Beispielitems

#

Perspektivenübernahme Soziale Kompetenz

Empathie

Die Gefühle anderer kann ich gut erkennen. Es bedrückt mich, wenn jemand ausgelacht wird. Wenn andere traurig sind, kann ich sie gut trösten. Ich helfe anderen oft freiwillig. Ich gehe gerne in die Schule. Ich habe sehr viele Freunde in meiner Klasse.

Schüler(innen) r

α

r

4

.72

.51

.91

.80

4

.68

.46

.89

.75

.91

.80

.85

.70

.94

.85

.88

.74

.94

.86

Regulation der 4 .72 .51 Gefühle anderer Prosoziales 4 .62 .40 Verhalten Emotionales 4 .87 .72 Integriertsein Soziale Soziales 4 .70 .50 Integration Integriertsein LeistungsIch lerne sehr schnell. 4 .68 .47 motivationales I. Likert-Skala: 1: stimmt gar nicht, 2: stimmt eher nicht, 3: stimmt eher, 4: stimmt genau

3

Lehrkräfte

α

(Schüler(innen)version)

Ausgewählte Ergebnisse

Anhand der Liniendiagramme in Abbildung 1 kann die Entwicklung der sozialen Kompetenz und Integration der Schüler(innen) mit BPF und ohne BPF aus der Selbstsicht der Schüler(innen) (links) und der Fremdsicht der Lehrkräfte (rechts) nachvollzogen werden3: Soziale Kompetenz und soziale Integration der Schüler(innen) mit und ohne BPF sind gemessen am theoretischen Mittelwert der vierstufigen Skala insgesamt mehrheitlich positiv ausgeprägt (M > 2.50) – sowohl zu Beginn als auch am Ende der dritten Klasse, sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdsicht. Die Lehrkrafteinschätzungen fallen dabei generell niedriger aus als die Selbsteinschätzungen, insbesondere jedoch niedriger als die der Schüler(innen) mit BPF. Die Prüfstatistik in Abbildung 1 zeigt die Ergebnisse multivariater Varianzanalysen mit Messwiederholung (unabhängige Variable: BPF; abhängige Variablen: Subskalen der sozialen Kompetenz bzw. Integration zu t1-t3): Schüler(innen) mit und ohne BPF nehmen im Laufe des Untersuchungszeitraums einen leichten bis moderaten Abfall ihrer sozialen Kompetenz wahr, die Lehrkräfte hingegen einen leichten bis moderaten Aufwärtstrend (sign. Haupteffekte 3

Abbildung 1 zeigt lediglich die Ergebnisse zur sozialen Kompetenz. Die Ergebnisse zur sozialen Integration fallen etwas deutlicher, jedoch tendenziell identisch aus, weshalb auf eine gesonderte Abbildung an dieser Stelle verzichtet werden kann.

300

Christian Elting, Bärbel Kopp und Sabine Martschinke

des MZP). Schüler(innen) mit BPF schätzen sich selbst als etwas weniger sozial kompetent und integriert ein, werden jedoch seitens ihrer Lehrkräfte als deutlich weniger sozial kompetent und integriert eingeschätzt als Schüler(innen) ohne BPF (sign. Haupteffekte des BPF). Die Schüler(innen) entwickeln sich ihrer Selbsteinschätzung zufolge nicht unterschiedlich aufgrund ihres BPF (kein sign. Interaktionseffekt BPF x MZP). Aus Sicht der Lehrkräfte hingegen entwickeln sich die soziale Kompetenz und die soziale Integration von Schüler(inne)n ohne BPF signifikant positiver als die soziale Kompetenz und die soziale Integration von Schüler(inne)n mit BPF (sign. Interaktionseffekt BPF x MZP). Nimmt man die Klassenzugehörigkeit als Kovariate in das Modell auf, verstärken sich die Interaktionseffekte in der Lehrkraftperspektive noch, während in der Schüler(innen)perspektive weiterhin keine signifikanten Interaktionseffekte vorliegen.

(Gesamtskala)

Soziale Kompetenz

Selbstsicht der Schüler(innen)

4,0

4,0

3,5

3,5

3,0

3,0

2,5

2,5 t1 t2 kein BPF

MANOVA

Fremdsicht der Lehrkräfte

t3 BPF

t1 t2 kein BPF

t3 BPF

Wilks λ

F

p

η²

Wilks λ

F

p

η²

BPF

0.965

3.91

.004

.035

0.802

27.0

.000

.198

MZP

0.952

2.71

.006

.048

0.938

3.58

.000

.062

BPF x MZP

0.974

1.41

.188

.026

0.952

2.69

.007

.048

Abbildung 1:

4

Entwicklung sozialer Kompetenz von Schüler(inne)n mit und ohne BPF

Diskussion und Ausblick

Die Befunde zur geringeren Selbsteinschätzung der sozialen Integration von Kindern mit BPF gehen konform mit bisherigen Befunden. Die Erweiterungen um die Lehrkraftperspektive, die soziale Kompetenz und die längsschnittliche

Soziale Kompetenz und Integration von Grundschulkindern

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Betrachtung ergänzen die Befundlage. Zusammenfassend kann dabei festgehalten werden: In der Selbstsicht der Schüler(innen) finden sich ein Abwärtstrend der sozialen Kompetenz und Integration, kleine bis moderate Nachteile der Schüler(innen) mit BPF, jedoch kein Interaktionseffekt. In der Perspektive der Lehrkräfte finden sich hingegen ein moderater Aufwärtstrend, deutliche Nachteile und ein signifikanter Interaktionseffekt zuungunsten der Schüler(innen) mit BPF, die sich somit als potenzielle ‚Risikokinder‘ erweisen. Die gefundenen Wahrnehmungsunterschiede geben Anlass zur Diskussion der Vergleichbarkeit der Akteursperspektiven: In einer pädagogisch weniger optimistischen Lesart wäre es denkbar, dass die Lehrkräfte Unterschiede zwischen Schüler(inne)n mit und ohne BPF wahrnehmen, die für die Schüler(innen) in dieser Deutlichkeit (noch) nicht existieren, aber im weiteren Zeitverlauf produziert werden könnten. Die Ergebnisse könnten dann als Ausdruck einer womöglich drohenden Stigmatisierung interpretiert werden, was Anlass zur Schärfung eines vorurteilsfreien Bewusstseins gäbe. Die Auswertungen erlauben jedoch keine Rückschlüsse auf derartige Kausalzusammenhänge. Zudem wäre eine pädagogisch optimistischere Lesart ebenso denkbar: Vielleicht bestehen tatsächlich deutliche Nachteile der Schüler(innen) mit BPF, für die Schüler(innen) jedoch weniger sensibilisiert sind als Lehrkräfte. Die Ergebnisse könnten dann als Ausdruck professioneller diagnostischer Kompetenz interpretiert werden. In Ermangelung eines objektiven Außenkriteriums bleibt jedoch offen, ob es sich bei den Einschätzungen der Schüler(innen) und der Lehrkräfte um ‚gleichwertige‘ Wahrnehmungen ein und desselben Konstrukts handelt oder einer der Perspektiven ein ‚privilegierter Gültigkeitsanspruch‘ zukommt. Die gefundenen Wahrnehmungsunterschiede zeigen jedenfalls den Mehrwert einer multiperspektivischen Betrachtung sozialer Kompetenz und Integration, an der in der weiteren Auswertung festgehalten werden soll. Bislang erfolgten die Analysen lediglich innerhalb der Heterogenitätsdimension Förderbedarf. In der weiteren Auswertung soll auch intersektionalen Zusammenhängen nachgegangen werden. Da von Klasseneffekten auszugehen ist (.04 ≤ ICC ≤ .23, je nach Perspektive und Subskala), wird die hierarchische Struktur der Daten rechnerisch Berücksichtigung finden. Auch soll ein genauerer Blick auf Unterschiede zwischen den Klassen geworfen werden, um ‚Optimalklassen‘ zu identifizieren, in denen trotz einer herausfordernden Klassenkomposition eine überdurchschnittliche Entwicklung der sozialen Kompetenz und Integration gelingt, und um aufzudecken, welche klimatischen Aspekte diese auszeichnen und hieraus Handlungsempfehlungen für die Professionalisierung von Lehrkräften abzuleiten. Erste Zwischenergebnisse entsprechender Clusteranalysen verweisen auf die Bedeutsamkeit von Partizipationsgelegenheiten und Beziehungsarbeit für die Förderung der sozialen Kompetenz und Integration einer heterogenen sowie herausfordernden Schülerschaft.

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Christian Elting, Bärbel Kopp und Sabine Martschinke

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Formatives Assessment in der inklusiven Grundschule im Spannungsfeld von Wissenschaft und Transfer Katrin Liebers, Christin Schmidt, Ralf Junger und Annedore Prengel

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Einleitung

Formatives Assessment kann als unterrichtsimmanentes Handeln aufgefasst werden, das gekennzeichnet wird durch einen transparenten Umgang mit Lernzielen und Bewertungskriterien, eine kontinuierliche Aufmerksamkeit für die Entwicklung von Lernleistungen, u.a. anhand alltagsnaher diagnostischer Instrumente, ein differenziertes Feedback und eine aktive Schülerbeteiligung (Schmidt & Liebers 2015: 134). Formatives Assessment hat seine Ursprünge in der Praxis, insbesondere in Schulen, die sich dem Unterricht in heterogenen Lerngruppen positiv zugewendet haben und Formen differenzierten Arbeitens praktizieren. Diese Ansätze wurden von der Forschung aufgegriffen und weiterentwickelt. Die Bedeutung für den inklusiven Unterricht in der Grundschule wird schon seit längerem diskutiert (Prengel, Riegler & Wannack 2009), zugleich haben die Befunde internationaler Studien diesen Diskussionen neue Argumente geliefert (Schmidt 2018). Formative Beurteilungsformen werden dabei von Lehrkräften zwar ideell befürwortet, jedoch sehr schnell auch in das Spannungsfeld verordneter Regelungen zur summativen Benotung gestellt. Sollen Lehrkräfte darin unterstützt werden, vermehrt formative Assessments im Unterricht umzusetzen, bedarf es also auch einer Klärung, wie diese mit dem weiteren Anspruch einer bilanzierenden und prognostischen Beurteilung einhergehen können (Widmer 2017). Zwischen den unterschiedlichen Forschungsbefunden und einem umfassenderen Transfer in unterrichtliche Praxisfelder in allen Fächern und Lernbereichen liegt jedoch ein weites Feld konzeptioneller Entwicklungsarbeiten, bei dem erziehungswissenschaftliche, pädagogisch-diagnostische und fachdidaktische Bezüge noch weiter interdisziplinär verknüpft und konzeptualisiert werden müssen. Zugleich bedarf es transfertheoretisch fundierter Entwicklungsarbeiten, in denen in Interdependenz zu den bisherigen Erfahrungen Materialien und Professionalisierungsstrategien zur Unterstützung der Praxis geschaffen, erprobt und evaluiert werden.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_40

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Katrin Liebers, Christin Schmidt, Ralf Junger und Annedore Prengel

Im Symposium wurden im Klafki´schen Sinne (1963) Theorie, Empirie und Praxis unter der Fragestellung gebündelt, wie ‚gutes‘ formatives Assessment in der inklusiven Grundschule aussehen und wie dessen intensiverer Transfer in den Unterricht unterstützt werden kann. Im nachfolgenden Beitrag erfolgt zunächst eine theoretische Klärung zu formativem Assessment und seiner Verbreitung in der Grundschulpraxis bevor in zwei weiteren Beiträgen über neue Möglichkeiten des Transfers mithilfe von Digitalisierung sowie über formatives Assessment als ureigenste Kompetenz des Lehrerberufs informiert wird.

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Formatives Assessment in der Selbsteinschätzung von Grundschullehrkräften (Christin Schmidt)

2.1 Theoretischer Hintergrund und Fragestellung Gegenwärtig ist wenig darüber bekannt, in welchem Ausmaß Grundschullehrkräfte Strategien formativen Assessments im Unterricht verwirklichen. Die diagnostische Praxis an Grundschulen scheint insgesamt heterogen auszufallen (Inckemann 2008; Racherbäumer 2009; Solzbacher, Behrensen, Sauerhering & Schwer 2012). Kompetenzraster, Portfolios oder Lerntagebücher sind zwar stellenweise zu finden, aber noch wenig verbreitet (Smit & Engeli 2017; Solzbacher et al. 2012) und lernförderliche Rückmeldungen werden selten gegeben (Solzbacher et al. 2012). Es überwiegen offenbar Praktiken, die sich einer situativen, wenig gezielten (Eckerth 2013) und eher traditionellen (James & Pedder 2006; Solzbacher et al. 2012) Diagnostik zuordnen lassen. Wobei mit Smit und Engeli (2017) auch eine Studie vorliegt, in der die Gruppe der Lehrkräfte, die Aspekte formativer Beurteilung häufiger berücksichtigen, größer ist als die Gruppe mit traditionellem Nutzungsverhalten. Formatives Assessment lässt sich primär auf der Ebene der Mikroadaptionen von Unterricht (Klieme & Warwas 2011; Martschinke 2015) verorten und es wird davon ausgegangen, dass die „Verzahnung von diagnostischen und darauf aufbauenden didaktischen Eingriffen“ (Ingenkamp & Lissmann 2008: 22) hier besonders eng ausgeprägt ist (Kaiser, Praetorius, Südkamp & Ufer 2017; Prengel 2016). Einige empirische Belege stützen diese Annahme bereits (Beck et al. 2008; Brühwiler 2017; Smit & Engeli 2017), dennoch wird die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen zur Klärung der Rolle von diagnostischen Aktivitäten für das adaptive Unterrichten betont (Smit & Engeli 2017). In der FormAG-Studie wird unter anderem der Frage nachgegangen, in welchem Ausmaß Grundschullehrkräfte formative Assessment-Strategien im Unterricht verwirklichen und ob die Nutzung formativer Assessments einen positiven Effekt auf die Differenzierungspraxis der Lehrkräfte hat.

Formatives Assessment in der inklusiven Grundschule

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2.2 Methode In der querschnittlich angelegten quantitativen Studie wurden Daten von Grundschullehrkräften in Sachsen mittels Fragebogen erhoben. Es liegen N = 338 Fragebögen von Lehrkräften, die in der dritten Klassenstufe das Fach Deutsch unterrichten, vor. Der Großteil der Befragten war weiblich (94 %) und verfügte zum Befragungszeitpunkt über mehr als 26 Jahre Berufserfahrung (63 %). Der Fragebogen beinhaltet Skalen mit geschlossenen Items zu elf AssessmentStrategien sowie weitere Skalen (u.a. Tendenz zur aufgabenbezogenen Differenzierung; Greb, Poloczek, Lipowsky & Faust 2011). Die Antwortskala ist sechsstufig (1 = trifft überhaupt nicht zu, 6 = trifft voll zu). Zur Beschreibung der formativen Assessment-Praxis wurden die Daten deskriptiv ausgewertet und latente Profilanalysen angewendet (Geiser 2011). Die Analyse der Zusammenhänge zwischen den Assessment-Skalen und der Tendenz zur Differenzierung erfolgte mittels Strukturgleichungsanalysen in Mplus. 2.3 Ergebnisse Beim Vergleich der Ausprägung der einzelnen formativen Assessment-Skalen zeigt sich, dass die Assessment-Strategien aus Sicht der befragten Lehrkräfte überwiegend im Unterricht angewendet werden. Insbesondere ein transparenter Umgang mit Beurteilungskriterien (M = 5.58, SD = 0.48) und die Aktivierung der Schüler(innen) zur Verantwortungsübernahme für ihr Lernen durch die Vermittlung von Lernstrategien (M = 5.28, SD = 0.69) scheinen zur gängigen Praxis im Deutschunterricht der Grundschule zu gehören. Ebenfalls eher hoch ausgeprägt sind der Einsatz von lernförderlichen Rückmeldungen im mündlichen Kontext (M = 4.84, SD = 0.68), der transparente Umgang mit Lernzielen (M = 4.81, SD = 0.60) sowie die Verwendung informeller diagnostischer Methoden (M = 4.86, SD = 0.67), wie die Beobachtung. Demgegenüber sind formelle bzw. high-cost Methoden und Verfahren (z.B. Kompetenzraster, Portfolios, Lerntagebücher) verhältnismäßig wenig etabliert (M = 2.71, SD = 0.97). Self- und Peer-Assessments werden etwas häufiger eingesetzt (M = 3.99, SD = 0.92). Auch das Potenzial schriftlichen Feedbacks wird vergleichsweise wenig ausgeschöpft (M = 2.98, SD = 1.17). Diagnostische Informationen werden in erster Linie zur allgemeinen Unterrichtsplanung und für Feedback an die Eltern verwendet. Insgesamt überwiegt die Gruppe von Lehrkräften, die den Einsatz aller formativen Assessment-Strategien in ihrem Unterricht auf mittlerem Niveau einschätzen (3-Klassenlösung, n = 181). Nur rund ein Sechstel der Lehrkräfte wird der Gruppe mit einer sehr geringen Nutzung formativer AssessmentStrategien zugeordnet (n = 61). Knapp ein Drittel der Lehrkräfte beurteilt den

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Katrin Liebers, Christin Schmidt, Ralf Junger und Annedore Prengel

Einsatz formativer Assessment-Strategien in ihrem Unterrichtshandeln als sehr ausgeprägt (n = 95). In den latenten multiplen Regressionsanalysen zeigt sich, dass von allen Assessment-Strategien lediglich die Nutzung informeller diagnostischer Methoden einen bedeutsamen positiven Effekt auf die Tendenz zur Differenzierung hat (ß = .35, p < .05). Es ist also anzunehmen, dass die Feststellung individueller Lernstände und -verläufe mittels Beobachtung und Fehleranalysen zu einem differenzierten Unterricht beiträgt, der die unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der Schüler(innen) berücksichtigt. 2.4 Diskussion Bei zwei Dritteln der Lehrkräfte deutet sich ein Entwicklungspotenzial insbesondere hinsichtlich des Einsatzes formeller diagnostischer Verfahren (z.B. Kompetenzraster, Portfolio, Lerntagebücher), Self- und Peer-Assessments sowie lernförderlicher Rückmeldungen an (Schmidt 2018). Diese Bereiche können als wichtige Entwicklungsfelder der professionellen Kompetenz von Grundschullehrkräften und als Ansatzpunkte für Maßnahmen der Lehrer(innen)bildung angesehen werden. Insbesondere die Nutzung informeller diagnostischer Methoden (z. B. Beobachtung) geht mit einem differenzierten Unterricht einher. Hingegen können die diagnostischen Informationen aus formellen diagnostischen Verfahren offenbar nicht so gut genutzt werden, um Unterricht adaptiver zu gestalten. Die Befunde verdeutlichen die Notwendigkeit, diagnostische Verfahren dahingehend weiterzuentwickeln, dass sie passend zu den Kompetenzständen der Schüler(innen) Vorschläge zu didaktischen Maßnahmen unterbreiten, um Lehrkräfte dabei zu unterstützen, die diagnostischen Informationen angemessen in didaktisches Handeln umsetzen zu können.

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Digitalisierte Erhebung der Lernausgangslage in der Grundschule mit ILeAplus Deutsch (Katrin Liebers und Ralf Junger)

3.1 Einleitung Angesichts einer vor allem im Kontext von Inklusion ausgeprägten Heterogenität in Grundschulklassen ist es von zentraler Bedeutung, individuelle Lernstände von Schüler(inne)n kontinuierlich zu erfassen, um so passfähige Lernangebote bereitstellen zu können. Formatives Assessment kann hierbei der Optimierung von Lehr- und Lernprozessen in inklusiven Settings dienen, indem die individu-

Formatives Assessment in der inklusiven Grundschule

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elle Lernausgangslage der Schüler(innen) im alltäglichen Unterricht beachtet wird und die pädagogischen Angebote auf die Lernvoraussetzungen abgestimmt werden (Schmidt & Liebers 2015). Die gewonnenen diagnostischen Informationen werden so primär zur Adaption der pädagogischen Angebote und zur individuellen Rückmeldung an die Schüler(innen) genutzt. Lehrkräfte gelangen bei der Adaption von inklusiven unterrichtlichen Angeboten an den Könnensstand der Schüler(innen) oftmals an diagnostische und didaktische Grenzen. Darum bedarf es in Forschung und Lehre einer deutlich stärkeren Verknüpfung von vielfältigen fachspezifischen, fachdidaktischen, pädagogischen und psychologischen Perspektiven (Beck et al. 2008). Zudem zeigt sich in der Praxis, dass ein Teil der Lehrkräfte zu wenig Zeit findet, formative Handlungspraxen in den alltäglichen Unterricht zu integrieren und Schwierigkeiten benennt, aus den Befunden der genutzten Verfahren Schlussfolgerungen für die Planung von Unterricht zu ziehen (Kuhl & Sheik 2008). Ein Teil der Lehrkräfte ist auch von einem eher traditionellen Verständnis von Assessment (z.B. Klassenarbeiten) geprägt (Schmidt 2018). 3.2 Chancen und Grenzen der Digitalisierung von Assessments Eine Digitalisierung von Assessments bietet Chancen, pädagogisch-diagnostische Verfahren objektiver und zeitökonomischer zu gestalten, da unter anderem Testleitereffekte während der Durchführung, Auswertung und Interpretation weitgehend reduziert werden können und eine probandenbestimmte inhaltliche Passung, Bearbeitungszeit bzw. -geschwindigkeit mit sofortiger Testwertbestimmung ermöglicht wird (Maier 2015). Zudem bieten digitalisierte Assessments die Möglichkeit, die Testfairness zu steigern, indem perspektivisch allen Schüler(inne)n in inklusiven Settings, unabhängig von sprachlichen, sensorischen oder motorischen Barrieren, der Zugang zu diesen ermöglicht werden könnte und Stereotype Threats (Martiny & Götz 2011) durch für alle Schüler(innen) gleiche digitale Anweisungen, ohne äußere negative Einflüsse (z. B. Zuweisung von negativen Stereotypen) in der Testsituation, vermieden werden können. Allerdings entstehen gleichzeitig neue diagnostische Herausforderungen, die bei der Verfahrensentwicklung sorgsam zu prüfen sind (Liebers, Kanold & Junger 2018). Insgesamt ist zu bedenken, dass digitalisierte Assessmentverfahren eine unterstützende Funktion erfüllen und fehlendes professionelles Handlungswissen sowie soziale Interaktionen nicht ersetzen können (Zierer 2017).

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Katrin Liebers, Christin Schmidt, Ralf Junger und Annedore Prengel

3.3 Entwicklung, Erprobung und Normierung von ILeAplus Deutsch Im Projekt ILeAplus erfolgt gegenwärtig eine Überarbeitung und Digitalisierung der traditionellen ILeA-Verfahren zur Erfassung der individuellen Lernstände am Schuljahresanfang. Dies erfolgt unter Berücksichtigung der neuen, inklusiv orientierten Rahmenlehrpläne des Landes Brandenburg, die sich an einem Modell gestufter Bildungsstandards orientieren (Liebers et al. 2018). Die Aufgabenpakete von ILeAplus Deutsch umfassen Aufgaben zur Erfassung früher Literalität (Paket A, Schulanfang) sowie für die Jahrgangsstufen 2 bis 6 jeweils Aufgaben zur Erfassung der Leseflüssigkeit und des Leseverständnisses sowie zur Erfassung des Rechtschreibkönnens. Inhaltliche Bezugspunkte für die Aufgabenpakete stellen die Niveaustufen A bis D des Rahmenlehrplans dar. Zugleich werden Auswertungsoberflächen entwickelt, die nicht nur die individuellen Lernstände der Schüler(innen) dokumentieren, sondern diese auch mit modularisierten Förderhinweisen für die Hand der Lehrer(innen) sowie altersgerechten Rückmeldungen für die Hand der Schüler(innen) verbinden. Die technische Umsetzung erfolgt durch das LISUM und weBBschule. Im Teilprojekt 1 (Projektleitung Micheal Ritter, Team Uni Halle) wurden die Aufgabensets für die Aufgabenpakete A bis D (A/Frühe Literalität zusammen mit Team Leipzig) entwickelt und pilotiert. Im Teilprojekt 2 (Projektleitung Katrin Liebers, Team Uni Leipzig 1) erfolgte im Schuljahr 2017/2018 die onlinebasierte Erprobung der digitalisierten Aufgabenpakete in 10 Grundschulen mit insgesamt 60 Klassen und mehr als 1 000 Schüler(inne)n. Ziel war eine Prüfung der praktischen Handhabbarkeit sowie eine Prüfung der Konstrukt-, Skalen- und Itemqualität. Dazu kamen Lehrer(innen)- und Schüler(innen)feedbackbögen, Beobachtungsprotokolle sowie diverse standardisierte Paralleltests zur Erfassung von Lese- und Rechtschreibleistungen zum Einsatz. Im Ergebnis konnten Aufgabensätze zusammengestellt werden, die den grundlegenden testdiagnostischen Anforderungen genügen und zu validen Aussagen führen (Liebers et al. 2018). Im Teilprojekt 3 (Projektleitung Brigitte Latzko, Team Uni Leipzig 2) erfolgte zum Schuljahresbeginn 2018/2019 die Durchführung der Normierungsund Validierungsstudie mit den finalen Aufgabenpaketen in den Jahrgangsstufen 1 bis 6. Die Normierung fand in 80 Grundschulen im Land Brandenburg unter Einbezug von ca. 5 400 Schüler(inne)n onlinebasiert statt. Im Rahmen der Validierung kamen zudem in 15 Schulen wiederum Parallelinstrumente zur Prüfung der Konstruktvalidität in den Bereichen früher Literalität, Lesen und Rechtschreiben sowie zur Kontrolle der kognitiven Leistungsfähigkeit zum Einsatz. Zugleich wurden die digital erzeugten Rückmeldebögen für Lehrkräfte erprobt und hinsichtlich der praktischen Bewährung für die Unterrichtspraxis evaluiert. Die Daten werden gegenwärtig ausgewertet.

Formatives Assessment in der inklusiven Grundschule

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Zur relationalen Qualität von didaktisch-diagnostischen Rückmeldungen (Annedore Prengel)

4.1 Differente Perspektiven diagnostischer Zugänge Praxisbezogene und wissenschaftliche Perspektiven setzen sich auf unterschiedliche Weise mit ihrem gemeinsamen Erkenntnisgegenstand Grundschulpädagogik auseinander. Für professionelles Lehrer(innen)handeln sind formativ ausgerichtete diagnostische Perspektiven zentral: Die Mikroperspektive erschließt im Unterricht Tag für Tag unmittelbare Einblicke in die individuellen Lernwege mit ihren je konkreten geistigen Operationen (Prengel et al. 2009). Ziel für Lehrpersonen ist, dass sie individuell passende pädagogische Interaktionen und Angebote mit Materialien, Erläuterungen und Anleitungen bereitstellen. Die ökosystemische Perspektive (Bronfenbrenner 1994) bezieht sich beim Diagnostizieren vor allem auf die schulischen und außerschulischen Beziehungen der Lernenden, um förderliche Handlungsmöglichkeiten im Umfeld des Kindes zu entwickeln. 4.2 Didaktische Diagnostik für die obligatorischen und fakultativen Säulen der inklusiven Didaktik Inklusive Diagnostik bezieht sich auf Lerninhalte, die im Kontext von zwei curricularen Säulen angeeignet werden. Das obligatorische Kerncurriculum dient in allen Lernbereichen der kulturellen Teilhabe aller Kinder. Es geht über die eindimensionalen Formen von Regel- oder Mindeststandards hinaus. Es benennt gestuft alle Kompetenzen aller Domänen, sodass jedem Kind, jedem/ jeder Jugendlichen – also von allen vorkommenden Leistungsständen aus – ein passgenauer Einstieg möglich ist. Dazu dient didaktisch die Freiarbeit. Die andere Säule, das fakultative Kinder- und Jugendcurriculum, erfordert, dass in individuellen oder kollektiven Projekten Freiräume für Themen und Interessen der Lernenden eröffnet werden. Diagnostisch werden im Hinblick auf die Säule des obligatorischen Kerncurriculums Kompetenzraster benötigt. Diese Raster benennen sehr differenziert die geistigen Lernschritte, die Kinder vollziehen müssen. Wenn die Lehrperson den gestuften Kompetenzaufbau in ihrem Fach kennt, offenbart ihr jede mündliche und schriftliche Äußerung, jedes Produkt, jedes Handeln der Kinder die Kompetenzstufe, die ein Kind erreicht hat. Für die fakultative Säule des Curriculums werden offene Dokumentationsformen, wie freie Texte oder Fotos, auch Portfolios, verwendet. Dabei geht es auch darum, dass Kinder und Lehrpersonen ermitteln, welche Materialien und Medien für die Arbeit an den Kinderthemen benötigt werden und dass sie diese Dinge bereitstellen.

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Katrin Liebers, Christin Schmidt, Ralf Junger und Annedore Prengel

Gespräche mit Schüler(inne)n und mit Eltern sowie Fallbesprechungen im Team sind unerlässlich, um diagnostisch die ökosystemischen Aspekte zu berücksichtigen. 4.3 Zur inklusiven Qualität nicht etikettierender diagnostischer Zugänge Die täglichen Veränderungen bilden eine wesentliche Bedingung und einen zentralen Fokus des inklusiven formativen Assessment. Geeignete diagnostische Instrumente zeichnen sich dadurch aus, dass sie Merkmale der Lernenden nicht identifizierend festschreiben. Sie werden so entworfen, dass sie die alltägliche Entwicklungsdynamik erfassen und die folgenden Lernschritte grundsätzlich zeitnah antizipieren und ermöglichen. So vermeiden sie diagnostische Etikettierungen weitgehend (Prengel 2016). Die Ausformulierung von alltagstauglichen, entwicklungsoffenen und zugleich kind- und fachgerechten Kompetenzrastern in allen Bildungsbereichen stellt eine unabschließbare fachdidaktische, fachwissenschaftliche, psychologische und erziehungswissenschaftliche Forschungsaufgabe dar. Die Kenntnis der systematisch aufeinander aufbauenden Kompetenzzonen im studierten Fach bildet eine ureigenste professionelle Kompetenz des Lehrer(innen)berufs. Das inklusive Lehrer(innen)wissen um die aufeinander aufbauenden Lernstufen umfasst die elementarsten bis zu den ausdifferenzierten Fähigkeiten in allen Schulfächern. Die Lehramtsausbildung hat die unverzichtbare Aufgabe, didaktisch-diagnostisches Wissen und Wissen um die Bedeutung der Anerkennung der individuellen Fähigkeiten eines jeden lernenden Kindes zu vermitteln (Prengel 2013).

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Zusammenfassende Diskussion

Formative Strategien werden von einer Vielzahl von Lehrkräften in der Grundschule zunehmend genutzt. Dennoch zeigen sich Schwierigkeiten, diese in die alltägliche Unterrichtspraxis zu integrieren und auf der Mikroebene des Unterrichts wirksam werden zu lassen. Dazu bedarf es eines vertieften Zusammenspiels fachlicher, fachdidaktischer und diagnostischer Kompetenzen. Digitalisierte Tools können Lehrkräfte unterstützen, aber pädagogische Kompetenzen nicht ersetzen. Um den Unterricht entsprechend formativer individueller Ziele ausrichten zu können, bedarf es zudem gestufter Standards in den Curricula sowie Kompetenzraster in den Fächern, die eine adaptive Planung sowie lernförderliche Rückmeldungen an die Schüler(innen) unterstützen. Zugleich ist es für Lehrkräfte leichter, Formen formativer Assessments anzuwenden, wenn sie im Hinblick auf das Zusammenspiel dieser Formen mit der summativen Beurtei-

Formatives Assessment in der inklusiven Grundschule

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lung Handlungssicherheit gewinnen können (Widmer 2017). Auch hierzu sind weitere Entwicklungs- und Forschungsarbeiten notwendig.

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Katrin Liebers, Christin Schmidt, Ralf Junger und Annedore Prengel

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7. Elementarbereich und Übergang in die Grundschule

WEGE in die Grundschule. Zur Perspektive von Kindern auf Entwicklungsaufgaben im Übergang in die Grundschule Anna Katharina Hein und Henrik Streffer

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Einführung

Das Projekt WEGE in die Grundschule (Wissen, Erwartungen und Gefühle von Kindern im Elementarbereich im Übergang in die Grundschule) befasst sich im Rahmen des Forschenden Lernens mit der Perspektive von Kindern im letzten Kita-Jahr und im ersten Schuljahr. Im vorliegenden Beitrag werden zunächst der theoretische Rahmen und Forschungsstand, in die sich das Projekt einbettet, vorgestellt und das Forschungsdesign erläutert. Im Fokus stehen quantitative Inhaltsanalysen von Kinderinterviews im Winter des letzten Kindergartenjahres. Kinder im Transitionsprozess in die Grundschule setzen sich bereits früh – häufig mit Beginn des letzten Kindergartenjahres – mit ihrer zukünftigen Rolle des Schulkindes auseinander. Zahlreiche und auch teilweise komplexe Veränderungen intensivieren sich in dieser Phase und werden von jedem Kind individuell und ko-konstruktiv mit der Umwelt verhandelt (Griebel & Niesel 2017). Für Grundschullehrer(innen) stellt sich insbesondere in der Gestaltung des Übergangs sowie des Anfangsunterrichts die Aufgabe, Kinder in ihren individuellen Entwicklungs- und Bildungsprozessen anschlussfähig zu fördern. Durch die Erneuerung des Lehrer(innen)ausbildungsgesetzes in NRW rückt die Bedeutung des Übergangs von Kindern vom Elementar- in den Primarbereich für die Gestaltung eines anschlussfähigen Anfangsunterrichts in den Fokus des Studiums für das Lehramt an Grundschulen.

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Relevanz des Themas und Forschungsstand

In der Grundschulforschung hat die Berücksichtigung der Kinderperspektive innerhalb der letzten Jahre zunehmend an Bedeutung gewonnen. Dabei lassen sich solche Projekte, die Anpassungsverläufe von Kindern im Übergang in den Blick nehmen (Beelmann 2006), von denen unterscheiden, die unmittelbar die Kinderperspektive beispielsweise durch Interviews erforschen (Petillon 1993;

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_41

WEGE in die Grundschule

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Kordulla 2016). Erkenntnisse zu Letzteren, in denen sich auch das WEGEProjekt verortet, deuten darauf hin, dass Kinder den Übergang als Statuswechsel erleben (Seddig 2014). Kinder äußern größtenteils Vorfreude auf das schulische Leben und Lernen, obwohl sie sich gewissen Einschränkungen durch die zunehmende Strukturierung des Alltags bewusst sind. Besondere Beachtung erhalten kindergartenähnliche Strukturen, wie beispielsweise die Pause als sogenannte „Insel der Kindheit“ (Griebel & Niesel 2017), ebenso wie Veränderungen und der Erhalt von Freundschaften (Kordulla 2016). Bisherige empirische Studien verlagern dabei mittlerweile die Ausrichtung des Diskurses um eine gelingende Übergangsgestaltung von der Sorge um sog. Übergangskrisen hin zur Anschlussfähigkeit kindlicher Entwicklungs- und Bildungsprozesse. Solch zentrale Themen des Transitionsdiskurses finden ihren Weg allerdings kaum in das Studium angehender Grundschullehrkräfte. Henkel und Neuß (2015) stellen im Vergleich z.B. der Erzieher(innen)-Ausbildung mit dem Studium für das Lehramt an Grundschulen heraus, dass Übergangsthemen kaum verankert sind und qualitativ eher schlecht bewertet werden. Daher fokussiert das WEGE-Projekt unter anderem das Ziel, den Übergang von der Kita in die Grundschule zu einem für Studierende relevanten Thema zu machen, indem es sie in den Forschungsprozess miteinbezieht.

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Theoretischer Rahmen – Transitionsansatz

Im Sinne des Transitionsansatzes von Griebel und Niesel (2017) hat sich der Blick auf Übergänge als langfristige Prozesse des Kindes in Ko-Konstruktion mit seiner sozialen Umwelt etabliert. Veränderungen werden dabei als Diskontinuitäten beschrieben, die für das Kind als Entwicklungsaufgaben hervortreten, mit denen sich es auseinandersetzen muss, um ein entstandenes Ungleichgewicht zwischen ihm und seiner Umwelt wieder auszubalancieren. Der Übergang in die Grundschule beginnt zumeist dann, wenn sich das Kind erstmals mit der neuen Institution und dem damit verbundenen Identifikationswandel auseinandersetzt. Als abgeschlossen lässt er sich dann beschreiben, wenn sich das Kind als Schulkind identifiziert, Schule als selbstverständlichen Teil seines Lebens beschreibt, Lerngelegenheiten für sich ausschöpfen kann und sich in der Schule wohlfühlt. Entwicklungsaufgaben im Übergang lassen sich im Sinne des Transitionsansatzes auf drei Ebenen beschreiben: Die individuelle Ebene fasst beispielsweise die Veränderung der Identität des Kindes, seiner emotionalen Bewältigung und Zugehörigkeit ins Auge. Auf der interaktionalen Ebene werden die Veränderungen (in) der sozialen Bezugsgruppe oder Verluste und Entwicklungen von alten und neuen Freundschaftsbeziehungen sowie Bezugspersonen im familiären

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Anna Katharina Hein und Henrik Streffer

und institutionellen Kontext beschrieben. Auf der kontextuellen Ebene verorten sich Unterschiedlichkeiten, die durch den Wechsel der Institutionen sichtbar werden, wie ein nunmehr verbindliches Curriculum, stärkere Strukturierungen des Alltags oder möglicherweise erwartete Leistungsbewertungen (Griebel & Niesel 2017). Erkenntnisse darüber, mit welchen Herausforderungen sich Kinder im Übergang besonders auseinandersetzen und wie sie diese subjektiv wahrnehmen und bewerten, stellen sich mit Blick auf die Aspekte eines gelungenen Übergangs als besonders relevant dar. Solche Erkenntnisse ermöglichen nicht nur eine optimale Gestaltung des letzten Kindergartenjahres, sondern auch eines anschlussfähigen Anfangsunterrichts.

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Forschungsdesign des Projekts „WEGE in die Grundschule“

Aus den vorangegangenen Überlegungen resultieren drei leitende Fragestellungen, welche die Kinder im Transitionsprozess in den Mittelpunkt stellen: Über welches Wissen über schulisches Leben und Lernen verfügen sie? Welche Erwartungen an die Grundschulzeit und an das „Grundschulkind-Sein“ gehen damit einher? Mit welchen Gefühlen über die anstehende Grundschulzeit und die Veränderungen, die der Übergang mit sich bringt, setzen sich Kinder auseinander? In diesem Beitrag liegt der Fokus zunächst darauf, welche Veränderungen Kinder im letzten Kindergartenjahr bewusst wahrnehmen und inwiefern sich besonders bedeutsame Entwicklungsaufgaben identifizieren lassen. Im forschungsmethodischen Zentrum des Projekts steht die Perspektive der Kinder. Dazu werden seit 2016 bis 2018 Leitfadeninterviews mit Kindern zu unterschiedlichen Zeitpunkten im letzten Kindergartenjahr und im ersten Schuljahr durchgeführt und mittels Qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) ausgewertet. Auswertungskategorien wurden deduktiv-induktiv auf der Datengrundlage einer vorangegangenen Explorationsstudie (2015-2016) ermittelt. Die Durchführung der Kinderinterviews, die Transkription und Codierung wird von Studierenden des Lehramts Grundschule im Rahmen des Forschenden Lernens im Modul Elementarbildung realisiert. Voraussetzung ist dabei die Teilnahme an inhaltlich-bezogenen Seminaren und methodischen Schulungen. Während Studierende zuvor in der Explorationsphase allein jeweils ungefähr sechs Kinderinterviews durchführten und mittels induktiv gebildeter Kategorien auswerteten, werden Interviews in der aktuellen Hauptstudie durch Teams aus drei Studierenden (davon ein(e) Interviewer(in)) und mit Hilfe vorstrukturierter Instrumente und verpflichtender Methodenschulungen organisiert. Die Explorationsstudie zeigte ebenfalls, dass kurz vor der Einschulung verstärkt sogenannte „Schnuppertage“ in der Schule durchgeführt werden und Kinderaussagen vor

WEGE in die Grundschule

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diesem Hintergrund berücksichtigt werden sollten. Entsprechend wurden für die Hauptstudie drei Interviewzeiträume im letzten Kindergartenjahr (November 2016, März und Juli 2017) sowie drei Phasen im ersten Schuljahr (November 2017, Februar und Juni 2018) festgelegt. Für den vorliegenden Beitrag konnten 302 kodierte Kinderinterviews der ersten beiden Erhebungszeiträume des letzten Kindergartenjahres (November 2016 und März 2017 aus der Hauptphase) herangezogen werden. Aufgrund der großen Stichprobe ist es möglich, über das zentrale Anliegen des Projektes hinaus, qualitative Einzelfallstudien zu erörtern, auch quantitative Inhaltsanalysen durchzuführen. So kann ein erster Überblick über die Verteilung von Kategorien über alle Interviews ermöglicht werden, vor dem sich möglicherweise weitere qualitativ angelegte Fragestellungen entfalten. Durch die deduktiv-induktive Kategorienbildung konnten Subkategorien identifiziert werden, aus denen ersichtlich wird, mit welchen Entwicklungsaufgaben sich Kinder im Übergang aktiv auseinandersetzen.

5

Ergebnisse

Auf der individuellen Ebene zeigt sich, dass sich fast die Hälfte aller Kinder bereits mit ihrer aktuellen Rolle als Vorschulkind auseinandersetzt (44%). Dabei lassen sich nur wenige Aussagen über notwendige schulnahe Kompetenzen finden, etwa über das ‚Stillsitzen und Zuhören‘ oder, dass Kinder sich in der Schule konzentrieren müssen. Konkreter sind Aussagen darüber, inwiefern sie bereits über lernzielnahe Kompetenzen wie das Lesen, Rechnen oder Schreiben verfügen (57,3%) oder noch nicht (42,7%). Obwohl sich hier eher klassische Vorstellungen von Schule widerspiegeln, lesen sich Kinderaussagen dahingehend, dass Kinder anscheinend bereits sehr sensibel für vorhandene wie nicht vorhandene basale Fähigkeiten innerhalb dieser Domänen sind (z.B. „Was kannst du gut?“). Besonders häufig werden Aussagen zur Bewältigung positiver Emotionen identifiziert (88,4%), deutlich mehr im Vergleich zu negativen Emotionen (45,7%). Ein Einblick in kodierte Textpassagen macht dabei deutlich, dass positive Aussagen zwar mehrheitlich vorhanden sind, jedoch grundsätzlich eher ein generelles Gefühl beschreiben (z.B. „Wie fühlst du dich, wenn du an die Schule denkst?“ – „Gut.“). Ausdrücke von negativen Gefühlen verdeutlichen sich stärker an spezifischen Erwartungen, wie dem Verlust bestimmter Freund(inn)e(n) oder möglichen Konflikten mit älteren Kindern (z.B. „Gibt es etwas, über das du dir Sorgen machst, wenn du an die Schule denkst?“). Hinsichtlich möglicher Veränderungen auf der interaktionalen Ebene zeigt sich, dass der Verlust der Erzieher(in) der Kita ein halbes Jahr vor der Einschulung (noch) keine Rolle spielt (0,3%). Auch ein Bezug auf die neue Lehrkraft

318

Anna Katharina Hein und Henrik Streffer

wird von Kindern eher wenig hergestellt (16,9%). Etwa ein Viertel der Kinderinterviews (23,5%) zeigt aber, dass Kinder bereits den Verlust von Freundschaften thematisieren. Deutlich häufiger finden sich jedoch Aussagen über die Aufnahme neuer Beziehungen zu Kindern (54,6%). Bezüglich des Wiedersehens bekannter oder befreundeter Kinder und in der Grundschule, wozu sich die meisten Kinder äußern (82,8%), lohnt ein qualitativer Einblick in die kodierten Passagen: Dabei fällt besonders auf, dass Erwartungen entweder sehr spezifisch auf einige, teilweise einzelne Freundschaften gerichtet werden („Gehen denn auch einige Freunde jetzt mit dir zusammen auf die Schule?“ – „Ja.“ – „Viele?“ – „Felix und noch mehr.“), während anderen Kindern vor allen Dingen wichtig ist, dass generell befreundete Kinder in der neuen Schule sind („Wie würdest du dir deine Lieblingsschule zaubern?“ – „Weiß ich nicht. Nur voller meiner Freunde.“). Deutliche Unterschiede zwischen Subkategorien fallen auf der kontextuellen Ebene auf. Aussagen zur Leistungsbewertung in der Schule (5,3%) oder zur Unterscheidung zwischen Vormittagsunterricht und Offenem Ganztag (8,3%) werden nur wenig identifiziert. Dem Großteil der Kinder ist ihre Schule als Institution namentlich bekannt und sie können äußere Merkmale (Schulgebäude, Klassenräume etc.) beschreiben (89,4%). Kenntnisse über das verbindliche Curriculum der Schule beziehen sich fast ausschließlich auf das Lernen der Kulturtechniken Lesen, Rechnen und Schreiben und werden von fast allen Kindern verbalisiert (93,4%). Weitere Tätigkeiten lassen sich als ‚Inseln der Kindheit‘ beschreiben, die auf bereits vertraute Aktivitäten aus der Kita verweisen (74,8%), insbesondere in der Pause. In der Unterscheidung von Kita und Grundschule finden sich bei mehr als der Hälfte der Kinder Äußerungen zu erwarteten Einschränkungen (60,3%), die sich einerseits in der Gegenüberstellung von ‚Spielen‘ vs. ‚Lernen‘, andererseits in der Art der Äußerungen abbilden. So fällt in den kodierten Passagen auf, dass Kinder grundsätzlich Tätigkeiten in Kita und Grundschule durch die Unterscheidung zwischen ‚können‘ oder ‚dürfen‘ entgegen ‚müssen‘ hervorbringen („Was glaubst du ist wirklich anders als im Kindergarten?“ – „Im Kindergarten kann man so rumlaufen und spielen, aber in der Schule muss man lernen.“).

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Fazit und Ausblick

Die dargestellten Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalysen mittels der Strukturierung von Entwicklungsaufgaben nach Griebel und Niesel (2017) fügen sich in bisherige Forschungsergebnisse ein. Ein Großteil der Kinder verbalisiert grundlegendes Wissen zur Schulstruktur sowie zu curricular geprägten Inhalten und verweist auf damit einhergehende Einschränkungen. Dennoch überwiegen

WEGE in die Grundschule

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positive Aussagen zur anstehenden Schulzeit. Die Veränderung von Freundschaften spielt bereits zu einem frühen Zeitpunkt vor der Einschulung eine ebenfalls große Rolle. Die quantitative Inhaltsanalyse der Kinderinterviews bietet allerdings nur einen Überblick über die unterschiedlichen Kinderaussagen. Die Individualität des kindlichen Erlebens von Transitionsprozessen macht qualitative Auswertungen erforderlich. Insbesondere in der Gegenüberstellung von positiv vs. negativ konnotierten Aussagen sowie in der Erwartung zum Wiedersehen befreundeter Kinder zeigen sich wesentliche qualitative Unterschiede, die es zu berücksichtigen gilt. Gleichzeitig müssen Limitationen des Forschungsdesigns aufgrund der großen Zahl von Projektteilnehmer(inne)n, weniger Stichprobenkriterien und der Methode des Leitfadeninterviews berücksichtigt werden. Die qualitative Auswertung von ausgewählten Interviews steht aus diesem Grund nach wie vor im Fokus des WEGE-Projekts. Teilstudien, die im Rahmen des Forschenden Lernens entwickelt wurden, spiegeln neben interessanten Themen das hohe Interesse und Engagement der angehenden Lehrkräfte wider. Somit leistet das Projekt bereits in frühen Phasen des Studiums einen Beitrag, Transitionsthemen bedeutsam werden zu lassen und die Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis zu stärken. Insbesondere für die Gestaltung eines anschlussfähigen Anfangsunterrichts werden Interviewergebnisse der nun eingeschulten Kinder erwartet.

Literatur Beelmann, W. (2006): Normative Übergänge im Kindesalter. Anpassungsprozesse beim Eintritt in den Kindergarten, in die Grundschule und in die weiterführende Schule. Hamburg: Kovač. Griebel, W. & Niesel, R. (2017): Übergänge verstehen und begleiten. Berlin: Cornelsen. Henkel, J. & Neuß, N. (2015): Die Verankerung der Transitionsthematik in Studium und Ausbildung. In: Frühe Bildung, 4 (1), 25–32. Kordulla, A. (2016): Peer-Learning im Übergang von der Kita in die Grundschule. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. Mayring, P. (2015): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken (12., überarbeitete Aufl.). Weinheim: Beltz. Petillon, H. (1993): Das Sozialleben des Schulanfängers. Die Schule aus der Sicht des Kindes. Weinheim: Beltz. Seddig, N. (2014): "In der Schule lernt man was und im Kindergarten nicht". Vorstellungen und Bilder von Kindern über Kindertageseinrichtung und Grundschule vor und nach der Einschulung. In: K. Fröhlich-Gildhoff, I. Nentwig-Gesemann & N. Neuß (Hrsg.), Forschung in der Frühpädagogik VII. Schwerpunkt: Profession und Professionalisierung (Materialien zur Frühpädagogik, Bd. 15, S. 307–326). Freiburg: FEL.

Anschlussfähige Gestaltung des Übergangs in die Grundschule am Beispiel literacy-bezogener, analoger Lerngelegenheiten (Projekt „LibelLe“) Vanessa Henke

1 Zur anschlussfähigen Förderung von Kindern im Übergang Die Bedeutung einer frühen Förderung von Kindern im Elementar- und Primarbereich konnten nationale und internationale Quer- und Längsschnittstudien (z.B. Faust 2013; NICHD ECCRN 2004) zeigen. In der Transitionsforschung wird in dem Zusammenhang diskutiert wie Anschlussfähigkeit zwischen Kita und Grundschule gestaltet werden kann. In der Fachdiskussion haben sich zwei unterschiedliche Perspektiven zur Gestaltung von Anschlussfähigkeit herausgebildet. Zum einen die Perspektive der Kontinuität, in der Unterschiede eher reduziert und Kontinuitäten erhöht werden sollen. Zum anderen wird die Perspektive der Diskontinuität berücksichtigt, in der Unterschiede als gegeben und als Entwicklungsanregungen verstanden werden (Roßbach & Kluczniok 2013: 303f.). Außerdem werden für die Gestaltung von Anschlussfähigkeit vier Ebenen unterschieden: 1. eine subjektbezogene und systemische Ebene; 2. eine institutionelle bzw. strukturelle Ebene; 3. eine inhaltlich-curriculare bzw. konzeptionelle Ebene und 4. eine professionsspezifische Ebene (von Bülow 2011: 41–51). Diese wurden in den letzten Jahren in unterschiedlichen (Modell-)Projekten mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen auch bezogen auf die Förderung von Kindern an der Schnittstelle von Kita zur Grundschule genauer untersucht (z.B. Pyramide-Projekt in mehreren Bundesländern, vgl. Kammermeyer, Roux & Stuck 2014). Dabei konnte für die inhaltlich-curriculare, bzw. konzeptionelle Ebene (Ebene 3) gezeigt werden, dass sich verschiedene Förderansätze positiv auf die Bildungsprozesse der Kinder in unterschiedlichen Bildungsbereichen auswirken können (Kammermeyer, Roux & Stuck 2014: 17–23). Außerdem gilt es bei der Gestaltung von Anschlussfähigkeit zu berücksichtigen, dass Erzieher(innen) und Grundschullehrkräfte institutionell bedingt zwei unterschiedlichen Professionsgruppen angehören, die teilweise unterschiedliche ‚bildungsbereichs-didaktische‘ Schwerpunkte setzen. In der Studie von Smidt

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_42

Anschlussfähige Gestaltung des Übergangs in die Grundschule

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(2013: 79) im Rahmen des BiKS-Projektes wird beispielsweise deutlich, dass schriftsprachliche Aktivitäten eher eine untergeordnete Rolle in der vorschulischen Förderung im Kindergartenalltag einnehmen, die wiederum im Anfangsunterricht der Grundschulzeit bedeutsam sind. Zudem konnte in einer weiteren Studie des BiKS-Projektes gezeigt werden, dass Erzieher(innen) die Förderung mathematischer und schriftsprachlicher Vorläuferfähigkeiten als deutlich weniger bedeutsam einschätzen als die Förderung der Bereiche Ausdrucksfähigkeit und Selbstständigkeit der Kinder (Wehner & Kratzmann 2013: 90f.). Als wichtigstes Ziel der Schulvorbereitung nannten Erzieher(innen) im Rahmen einer Online-Befragung des nifbe in Niedersachen die Stärkung der Persönlichkeit beispielsweise durch „die Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen“ oder „das Selbstbewusstein stärken“ (Sauerhering & Solzbacher 2013: 8ff.). In einer weiteren Studie des nifbe wurde untersucht, in welchen Bereichen Grundschullehrkräfte eine besondere Vorbereitung durch die Kita erwarten. Am häufigsten nannten sie ähnlich wie die Erzieher(innen) die „Förderung sozialer Kompetenzen“, aber auch die „sprachliche Förderung“ (ebd.). In dem Zusammenhang kommen Pohlmann-Rother und Wehner (2012: 39– 41) in ihren Studien zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit der befragten Erzieher(innen) und Grundschullehrkräfte dem Kindergarten nur in begrenztem Maße die Aufgabe der Schulvorbereitung zuschreiben, mehr als ein Drittel der Erzieher(innen) diese Aufgabe aber eindeutig in der Verantwortung des Kindergartens sehen.

2

Das Projekt „LibelLe“

2.1 Die Fortbildungsreihe In diesem Kontext wurde über einen Zeitraum von sieben Monaten eine Fortbildungsreihe mit insgesamt vier Workshops von der Projektleitung durchgeführt. An dieser nahmen 13 Pädagog(inn)en (Kita: 8 und GS: 5) teil. In dieser entwickelten Erzieher(innen) und Grundschullehrkräfte gemeinsam vor dem Hintergrund einer anschlussfähigen Förderung zwischen Kita und Grundschule in Gruppen mit beiden Professionen literacy-bezogene, analoge Lerngelegenheiten. Dabei soll der Begriff analog auf die in den Lerngelegenheiten genutzten pädagogisch-didaktischen und ‚bildungsbereichsdidaktischen‘ Merkmale zwischen Kita und Grundschule verweisen. Zudem werden die Lerngelegenheiten dem Bildungsbereich „Literacy“ zugeordnet. Die Durchführung der Lerngelegenheiten fand später getrennt voneinander in den jeweiligen Einrichtungen statt. Im Rahmen der Fortbildungsreihe wurden einzelne Inhalte bezogen auf den Übergang, wie die Gestaltung von Anschluss-

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Vanessa Henke

fähigkeit im Sinne der beiden oben genannten Perspektiven und die Förderung im Bereich „Literacy“ zu den Schwerpunkten „Umgang mit Bilderbüchern“ und „Umgang mit Buchstaben und Lauten“, thematisiert. 2.2 Die qualitative Studie Die im Projekt verankerte qualitative Studie hatte das Ziel, Merkmale zur Gestaltung von Anschlussfähigkeit vor dem Hintergrund der Perspektive der Kontinuität und der Perspektive der Diskontinuität zu identifizieren. So konnten insgesamt 26 Lerngelegenheiten (Kita: 17/GS: 9) videographiert und im Sinne der genannten Zielstellung mit der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) ausgewertet werden (vgl. Teilergebnisse Henke 2018). In Ergänzung zu den videographierten Lerngelegenheiten wurden beide Professionsgruppen in leitfadengestützten Interviews zu unterschiedlichen Aspekten, wie „Gestaltung von Anschlussfähigkeit in den Lerngelegenheiten“, „Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Lerngelegenheiten und pädagogischem Alltag“, „Chancen und Grenzen der Lerngelegenheiten“ befragt. Im Anschluss wurden die Interviews mit der Methode der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2016) und Mayring (2015) ausgewertet. Eine weitere Frage war, welche Ziele die Lerngelegenheiten aus der Perspektive der Teilnehmer(innen) der Fortbildungsreihe verfolgen. Diese Frage wurde offen, d.h. ohne Vorgaben an die Projektteilnehmer(innen), gestellt. Auf der Basis von 11 Interviews mit Erzieher(inne)n (n=7) und Grundschullehrkräften (n=4) konnte diese Kategorie ausgewertet werden. Die Ergebnisse werden im Folgenden dargestellt.

3

(Teil-)Ergebnisse der Interviews

Insgesamt benennen die befragten Erzieher(innen) und Grundschullehrkräfte sieben verschiedene Ziele, die in einer Rangliste nach absoluten Häufigkeiten zusammengefasst werden:

323

Anschlussfähige Gestaltung des Übergangs in die Grundschule

Tabelle 1:

Nennung von Zielen der Lerngelegenheiten aus der Perspektive beider Professionsgruppen in absoluten Häufigkeiten

Rang

Unterkategorie

Häufigkeiten

1

Gestaltung von Anschlussfähigkeit (Kontinuität und Diskontinuität)

11 von 11 (Kita: 7 von 7/GS: 4 von 4)

2

Stärkung der gemeinsamen Kooperation von Kita und Grundschule

9 von 11 (Kita: 6 von 7/GS: 3 von 4)

3

Förderung im Bildungsbereich Literacy

4

Abbau von Ängsten

5

Förderung des Selbstkonzeptes

7

Gegenseitige Abgrenzung

8 von 11 (Kita: 4 von 7/GS: 4 von 4) 7 von 11 (Kita: 5 von 7/GS: 2 von 4) 5 von 11 (Kita: 4 von 7/GS: 1 von 4) 3 von 11 (Kita: 2 von 7/GS: 1 von 4)

Alle Erzieher(innen) und Grundschullehrer(innen) nannten als Ziel der Lerngelegenheiten eine anschlussfähige Gestaltung des Übergangs, wobei besonders die Perspektive der Kontinuität von den Professionsgruppen berücksichtigt wurde (vgl. Tab. 1, Rang 1). Als weiteres zentrales Ziel wird aus der Perspektive der Erzieher(innen) und Grundschullehrkräfte die Stärkung der gemeinsamen Kooperation genannt, welche besonders in Form von gemeinsamen Anknüpfungspunkten, wie beispielsweise durch den Austausch von gemeinsamen Materialien, benannt wurde (vgl. Tab. 1, Rang 2). Die Förderung im Bildungsbereich „Literacy“ konnte als dritthäufigstes Ziel festgestellt werden und wurde tendenziell eher von den Lehrkräften als den Erzieher(inne)n formuliert (vgl. Tab. 1, Rang 3). Als weiteres Ziel der Lerngelegenheiten nannten beide Professionsgruppen den Abbau von Ängsten. Fast immer wurde dies auf den Abbau von Ängsten auf Seiten der Kinder formuliert, nur einmal erklärte eine Kitafachkraft, dass Ängste auch von Seiten der Eltern durch die Lerngelegenheiten abgebaut werden könnten. Die Förderung des Selbstkonzeptes als Ziel der Lerngelegenheiten wurde eher von den Erzieher(inne)n als von den Grundschullehrkräften genannt. Interessant ist, dass das Ziel einer individuellen Förderung (allgemein) nur von drei der sieben Erzieher(inne)n, allerdings von keiner Lehrkraft formuliert wurde. Zudem ist das letzte Ziel von Bedeutung, durch welches drei Pädagog(inn)en

324

Vanessa Henke

darstellten, dass ihnen eine gewisse Form der Abgrenzung zwischen Kita und Grundschule in den Lerngelegenheiten wichtig ist (vgl. Tab. 1, Rang 4-7).

4

Fazit und Ausblick

Insgesamt wird deutlich, dass die beiden Professionsgruppen sowohl gleiche als auch verschiedene Ziele der Lerngelegenheiten benennen. Vor dem Hintergrund der Fortbildungsreihe mit dem Schwerpunkt im Bildungsbereich „Literacy“ und dem Ziel einer anschlussfähigen Gestaltung des Übergangs, scheint dies nachvollziehbar. Allerdings lassen sich die Ergebnisse auch bezogen auf die beiden Professionen deuten, da wie oben beschrieben teilweise ähnliche und unterschiedliche Schwerpunktsetzungen bei der Förderung von Kindern im Übergang vorgenommen werden. Gleichzeitig ist für einige Pädagog(inn)en die Abgrenzung der beiden Institutionen voneinander von Bedeutung. Im Zuge weiterer Analysen des Promotionsvorhabens zeigen sich zusätzlich interessante Ergebnisse im Vergleich zwischen den beiden Professionsgruppen. Zudem werden die Ergebnisse der Interviews mit Ergebnisse der Videographien in Beziehung gesetzt.

Literatur Faust, G. (Hrsg.) (2013): Einschulung. Ergebnisse aus der Studie „Bildungsprozesse, Kompetenzentwicklung und Selektionsentscheidungen im Vorschul- und Schulalter (BiKS)“. Münster: Waxmann. Hanke, P. & Hein, A.-K. (2010): Der Übergang zur Grundschule als Forschungsthema. In: A. Diller, H. R. Leu & T. Rauschenbach (Hrsg.), Wie viel Schule verträgt der Kindergarten? Annäherung zweier Lernwelten (S 91–110). München: DJI. Heger, B., Liebers, K. & Prengel, A. (2015): Pädagogische Diagnostik auf dem Weg zur Schrift. In: U. Geiling, K. Liebers & A. Prengel (Hrsg.), Handbuch ILEA T. Individuelle LernEntwicklungs-Analyse im Übergang (S. 37–61). Halle-Wittenberg: Martin-Luther Universität. Henke, V. (2018): Anschlussfähigkeit im Übergang zur Grundschule am Beispiel literacybezogener, analoger Lerngelegenheiten (Projekt ‘‘LibelLe“). In: S. Miller, B. HollerNowitzki, B. Kottmann, S. Lesemann, B. Letmathe-Henkel, N. Meyer et al. (Hrsg.), Profession und Disziplin. Grundschulpädagogik im Diskurs. Jahrbuch Grundschulforschung (Bd. 22, S. 197–202). Wiesbaden: Springer VS. Kammermeyer, G., Roux, S. & Stuck, A. (2014): Abschlussbericht zum BMBF-Forschungsprojekt Förderung von Schriftspracherwerb und Mathematik in Kindergarten und Grundschule mit dem Pyramide-Ansatz. Campus Landau: Universität Koblenz Landau. Kuckartz, U. (2016): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung (3.; überarbeitete Aufl.). Weinheim: Beltz Juventa. Mayring, P. (2015): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken (12., überarbeitete Aufl.). Weinheim: Beltz.

Anschlussfähige Gestaltung des Übergangs in die Grundschule

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NICHD ECCRN (National Institute of Child Health and Human Development Early Child Care Research Network) (2004): Multiple pathways to early academic achievement. In: Harvard Educational Review, 74 (1), 1–29. Pohlmann-Rother, A. & Wehner, F. (2012): Fördereinstellungen von Erzieher/-innen und ihre Relevanz für die Bewältigung des Schuleintritts. In: S. Pohlmann-Rother & U. Franz (Hrsg.), Kooperation von KiTa und Grundschule. Eine Herausforderung für das pädagogische Personal (S. 32–43). Köln: Carl Link. Roßbach, H.-G. & Kluczniok, K. (2013): Institutionelle Übergänge in der Frühpädagogik. In: L. Fried & S. Roux (Hrsg.), Handbuch Pädagogik der frühen Kindheit (3. Aufl., S. 298– 311). Berlin: Cornelsen. Sauerhering, M. & Solzbacher, C. (2013): Übergang KiTa-Grundschule (Nifbe-Themenheft Nr. 14). Osnabrück: Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung. Smidt, W. (2013): Vorschulische Förderung im Kindergartenalltag. In: G. Faust (Hrsg.), Einschulung. Ergebnisse aus der Studie „Bildungsprozesse, Kompetenzentwicklung und Selektionsentscheidungen im Vorschul- und Schulalter (BiKS)“ (S. 69–82). Münster: Waxmann. von Bülow, K. (2011): Anschlussfähigkeit von Kindergarten und Grundschule. Rekonstruktion von subjektiven Bildungstheorien von Erzieherinnen und Lehrerinnen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Wehner, F. & Kratzmann, J. (2013): Einstellungen von Eltern und Erzieherinnen zur Förderung von Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren. In: G. Faust (Hrsg.), Einschulung. Ergebnisse aus der Studie „Bildungsprozesse, Kompetenzentwicklung und Selektionsentscheidungen im Vorschul- und Schulalter (BiKS)“ (S. 83–96). Münster: Waxmann.

Kooperationen zwischen KiTa und Grundschule in der Praxis: Eine Studie zur interaktionalen Ebene des Übergangs Mirja Kekeritz

1

Hintergrund und Fragestellung

Der bildungspolitisch initiierte Dialog zwischen Elementar- und Primarbereich zur Sicherung von Kontinuität und Anschlussfähigkeit brachte eine gewachsene Zahl an Übergangsforschungen mit sich, doch die Großzahl der Forschungsprojekte fokussiert auf die Faktoren für einen ‚erfolgreichen, idealen‘ Übergang. Gleichermaßen hinterfragen die wenigen Studien zu Kooperationen zwischen KiTa und Grundschule vorrangig die Wirksamkeit der Kooperationsmaßnahmen zur Übergangsbewältigung (vgl. u.a. Arndt & Kipp 2016; Müller 2014; Faust, Kratzmann & Wehner 2012); Studien, die den sozialen Praktiken und der interaktionalen Ebene der Kooperationsmaßnahmen nachgehen, sind bislang kaum auszumachen (vgl. Blaschke 2012; Kordulla 2017). Auch die Forschungslandschaft um das Thema der Lernwerkstätten ist durch eine sehr schmale Basis empirischer Studien geprägt (vgl. Nentwig-Gesemann, Wedekind, Gerstenberg & Tengler 2012). Das didaktisch-methodische Konzept der Lernwerkstatt ist zwischen den Größen von Eigenaktivität und Instruktion aufgespannt. Doch wie sich dieses Verhältnis – auch auf Mikroebene zwischen Pädagoge oder Pädagogin und Kind – in der Praxis gestaltet, wurde bislang empirisch nicht untersucht. An diese Desiderata anschließend wurde eine Lernwerkstatt, die von einem Kindergarten und einer Grundschule gemeinsam als Kooperationssetting gegründet wurde, als ethnographisches Forschungsfeld gewählt. In der kooperativen Lernwerkstatt kommen KiTa- und Grundschulkinder, pädagogische Fachund Lehrkräfte wöchentlich für neunzig Minuten zusammen. Im Rahmen eines zirkulären Forschungsprozesses wurde die Frage fokussiert, wie sich die Interaktionen zwischen Pädagog(inn)en und Kindern in diesem Setting gestalten.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_43

Kooperationen zwischen KiTa und Grundschule in der Praxis

2

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Forschungsdesign

Gemäß dem methodologischen Anspruch der Ethnographie (Amann & Hirschauer 1997) sowie der pädagogischen Ethnographie (Zinnecker 2000) war die beobachtende Teilnahme am institutionellen Praxisalltag strategischer Ausgangspunkt der Forschung und die videographisch gestützte Beobachtung stand im Kern der Datenerhebung. Nebst Videographien, Feldnotizen und Beobachtungsprotokollen wurden informelle wie auch teilnarrative Leitfaden-Interviews mit den Professionellen des Feldes geführt. Der Grounded Theory folgend wurden in einem zirkulären Forschungsprozess die Datengewinnung und -analyse sowie die theoretische Auseinandersetzungen eng miteinander verschränkt (vgl. Glaser & Strauss 1998) und die Daten durch Segmentierungsanalysen nach Dinkelaker und Herrle (2009) in Verbindung mit einem offenen Kodierverfahren (Strauss & Corbin 1996) ausgewertet.

3

Ergebnisse

Einen der drei Ergebnisbereiche bilden fünf rekonstruierte Interaktionsmuster didaktischer Interaktionen zwischen Pädagog(inn)en und Kind(ern). Gemäß der interaktionistischen Fundierung dieser Arbeit sind Interaktionsmuster als Strukturen auf Mikroebene zu verstehen, die es ermöglichen, bestimmte Ordnungen zu rekonstruieren: Sie fragen nach der „Einheit des Geschehens“ (Breidenstein 2010: 875), nach dem, was die Begegnung von Kindern und Pädagog(inn)en im Forschungsfeld strukturiert (vgl. Kekeritz 2017: 181ff). Exemplarisch werden die Interaktionsmuster Drehscheibe und per Anhalter vorgestellt und im Kontext von Selbstständigkeit und der Materialität offener Lernsettings diskutiert. 3.1 Das Interaktionsmuster Drehscheibe – Gewährleistung selbstständigen Arbeitens Das Interaktionsmuster Drehscheibe ist durch den schnellen Wechsel verschiedener Interaktionsdyaden, jeweils bestehend aus einem Pädagogen oder einer Pädagogin und einem Kind, gekennzeichnet. Peer-Interaktionen sind hierbei nebengeordnet. Den Einstieg in eine neue Interaktionsdyade bildet das Zeigen eines Kindes: es fordert den Pädagogen oder die Pädagogin dazu auf, seine Objekte zu betrachten und fragt nach Aufmerksamkeit. Diese Aufforderung wird durch das körperliche Zuwenden und das Staunen der Professionellen beantwortet und daran knüpfen aufmerksamkeitsstiftende Fragen des Pädagogen oder der Pädagogin an. Das Kind beschreibt nun sein Objekt, demonstriert oder erklärt sein

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Mirja Kekeritz

Vorgehen. Anschließend bringt der Pädagoge oder die Pädagogin verständnisorientierte Fragen ein, die über die reine Beobachtung oder Beschreibung des Objekts oder der Tätigkeit hinausgehen, denn das Klären des Sachverhaltes steht im Vordergrund. Abschließend werden handlungsorientierte Aufforderungen an die Kinder gestellt, häufig wird in dieser Endphase auch zur Dokumentation aufgefordert. Erst ein Klären der Sache und die Gewährleistung weiteren selbstständigen Arbeitens – bezeichnet als ‚Minimalsicherung‘ – lässt zu, dass der Pädagoge oder die Pädagogin anderen Kindern entgegnet, die ebenfalls durch Zeigen die Aufmerksamkeit des Pädagogen oder der Pädagogin einfordern. Dieses repetitive Element in der Reihung dyadischer Interaktionen charakterisiert das Interaktionsmuster Drehscheibe (vgl. Abb.1).

Abbildung 1: Repetitives Element des Interaktionsmusters (Quelle: Autorin; vgl. Kekeritz 2017: 195ff.)

3.2 Das Interaktionsmuster per Anhalter – Justierungen zur ‚Vereindeutigung‘ Beim Interaktionsmuster per Anhalter werden spielerische Interaktionen von Kinderpaaren oder -gruppen um ein Objekt von Interesse zum Ausgangspunkt. In diesen Momenten hoher Phänomenorientierung steigt der Pädagoge oder die Pädagogin nach kurzer Beobachtung durch eine an die Kinder gerichtete Frage unmittelbar in die Peer-Interaktionen ein. Die pädagogische Fach- oder Lehrkraft bringt im Folgenden ein kleinschrittiges Unterstützungsverhalten an: Eine Vielzahl an Fragen regen ein systematischen Vorgehen an und dienen der Markierung und dem Ausschluss des offensichtlich Nicht-Pädagogischen. Erst mit einer adäquaten Antwort der Kinder werden die Frageketten beendet. Adäquat bedeutet hierbei, dass die Kinder ihr Wissen rund um den Sachverhalt nicht nur demonstrieren, sondern auch verbalisieren können. Der Pädagoge oder die Pä-

Kooperationen zwischen KiTa und Grundschule in der Praxis

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dagogin zieht sich dann wieder zurück und die Kinder setzen ihre Auseinandersetzungen spielerisch fort. Für dieses Muster ist der Wechsel zwischen unverbindlichen und offenen Sinngebungsprozessen (Langeveld 1968: 143) kennzeichnend: Die Kinder nähern sich den Dingen mit assoziativ-spielerischen Handlungsformen: Da wird ein rostiger Nagel zum Raumschiffflügel oder ein Magnet zum Rennwagen. Doch diese unverbindlichen Sinngebungen befinden sich nicht immer im Einklang mit den didaktischen Absichten oder den konventionellen, also offenen Sinngebungen (ebd.). Mit dem Interaktionseinschub seitens der Professionellen findet ein Wechsel von explorativ-spielerischen Formen hin zu einem gerahmten, didaktisch gerichteten Modus statt (vgl. Kekeritz 2017: 233ff.). Die Kinder versuchen in der Schnittmenge von Peer- und institutioneller Ordnung ihren eigenen Handlungsraum aufrecht zu erhalten und sich von den Forderungen der pädagogischen Fach- und Lehrkräfte abzugrenzen. In diesen dynamischen Aushandlungen und Grenzziehungen nimmt das Kind die Rolle des Peers, aber auch des Lernenden ein.

4

Diskussion

Vor dem Hintergrund des Transitionsmodells nach van Gennep (2005) ist das kooperative Setting als „Zwischenraum“ (ebd.: 14) zu charakterisieren: Die „Trennungsphase“ anstoßend und der „Schwellen- und Umwandlungsphase“ Raum gebend (vgl. ebd.: 239). Im Setting sind Merkmale der Mehrdeutigkeit, der Unstrukturiertheit und auch des Paradoxen auszumachen; obwohl hier weder die Interaktionsordnungen der Institution KiTa noch die der Grundschule gänzlich geltend gemacht werden kann, mündet diese Mehrdeutigkeit doch nicht in einer Orientierungslosigkeit, sondern wird durchaus konstruktiv gewendet. Die didaktischen Interaktionsmuster verdeutlichen, wie die Akteur(inn)e(n) auf unterschiedliche Weise Herausforderungsmomente einbringen und bearbeiten (vgl. Kekeritz 2017: 328ff.). Des Weiteren stellt das Setting einen Interaktionsraum des Übergangs dar, in welchem sich transitionsbedingte „Entwicklungsaufgaben“ (Griebel 2006: 37) an die Kinder stellen. Also Herausforderungen, die das Erlernen, Anwenden und Reorganisieren von neuen Fähigkeiten, Strategien und Verhaltensweisen verlangen. Griebel und Niesel (2005) bezeichnen in ihrem Transitionsansatz das Kind als „Bewältiger“ (ebd.: 148) und die pädagogischen Fach- und Lehrkräfte des Übergangs als „Moderatoren“ (Griebel, Niesel & Wörz 2004), doch die Ergebnisse zeigen, dass über dieses Bild in zwei Punkten hinausgegangen wird: Die Entwicklungsaufgaben werden von den Pädagog(inn)en und dem Setting an das Kind herangetragen. Beispielsweise werden sie adressiert, sich als ‚Kompetente‘ in ihrem Können und Wissen zu zeigen.

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Diese Anforderungen werden – wie die Interaktionsmuster exemplarisch aufzeigten – nur temporär relevant gemacht und durch vertraute Elemente aufgelöst. Aber die Adressierungen der Pädagog(inn)en werden interpretativ reproduziert (vgl. Corsaro 2012: 488), also kreativ angepasst, weiterentwickelt oder auch außer Kraft gesetzt. Das Kind beeinflusst den Prozess des Übergangs eigenaktiv und ist somit ‚aktiver Gestalter‘. Ferner wird insbesondere an den Interviewdaten deutlich, dass es für die Pädagog(inn)en „zur kooperationsbedingten Entwicklungsaufgabe (…) auf kontextueller Ebene“ (Kekeritz 2017: 322) wird, systembedingte Differenzen zu überwinden und zwei Institutionskulturen zu integrieren. Mit ihrem durch das Kooperationssetting vergrößerten Aktionsradius werden die Professionellen zu Akteur(inn)en des Übergangs mit eigenen Entwicklungsaufgaben. Zwischen institutioneller Ordnung, Peer-Ordnung und Ordnung des Settings müssen von allen Akteur(inn)en immer wieder ‚Balanceakte‘ ausgeübt werden. Ein Orientierungspunkt ist dabei die Selbstständigkeit der Kinder: Einerseits wird das Kind zur Selbstständigkeit aufgefordert und dazu, seinen Lernprozess selbst zu steuern, andererseits werden gewisse Rahmungen gesetzt. Die Interaktionsmuster zeigten die „Justiermechanismen“ (Kekeritz 2017: 337) der Pädagog(inn)en, die ihren eigentlichen Aufforderungen zum Selbstständigen mitunter konträr gegenüberstehen. Die Widersprüchlichkeit der Fremdaufforderung zur Selbsttätigkeit schlägt sich unter anderem in inszenierter Selbstständigkeit und ‚verschleierten‘ pädagogischen Einflussnahmen der Pädagog(inn)en nieder. Zudem offenbart sich die große Unsicherheit der Professionellen, inwiefern ein direktes Einwirken auf das Kind und damit ein instruktives Verhalten im Setting überhaupt legitim ist. Dies wird auch auf räumlich-materieller Ebene deutlich. Während die Kinder vor allem über spielerische Formen Zugang zu den Phänomenen dieser Lernwerkstatt finden und diese als eigene Erfahrungsund Peerräume nutzen, stoßen die Professionellen immer wieder eine systematische Auseinandersetzung mit den Dingen an. Die rekonstruierten Interaktionsmuster bilden das Wechselspiel, aber ebenso die Transformation kindlicher Weltzugänge zu jenen Formen des Lernens ab, die im Übergang bedeutsam werden. Hierbei zeichnet sich auch ab, wie die Professionellen die Dinge „vereindeutigen“ (Neumann 2012: 169), ihnen nur die pädagogische intendierte Funktion zuschreiben und den darüber hinaus gehenden Aufforderungscharakter ausschließen und auch in den Interviews nicht reflektieren. Festzuhalten ist, dass die Rekonstruktionen dieser Studie darlegen, wie in den didaktischen Interaktionen der gemeinsame Sinn dieses kollektiven Rahmens von Kindern und Pädagog(inn)en ausgehandelt wird. Die Ergebnisse zeugen von den Bearbeitungsprozessen dieser Sinnkonstituierung im Rahmen bipolarer Orientierungspunkte, die sich in diesem offenen Setting im Übergang aufspannen.

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Perspektiven des Transfers von Forschungsbefunden im Übergang Kindergarten-Grundschule Ulrike Beate Müller, Anja Seifert, Petra Arndt, Petra Büker, Ursula Carle, Ulrike Graf, Christa Kieferle, Agnes Kordulla, Nicole Sturmhöfel und Franziska Wehner

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Thematische Hinführung (Ulrike Beate Müller und Anja Seifert)

In den Jahren nach der PISA-Studie 2000 wurden in Deutschland bezüglich des Übergangs vom Elementar- zum Primarbereich vielfältige Projekte initiiert, in denen Forschungserkenntnisse gewonnen und eine Fülle an Materialien erarbeitet wurden. Die Übergangsforschung als Teil der Grundschulforschung hat dabei grundlegende Erkenntnisse für die Grundschulpädagogik gewonnen und die Praxis mitgestaltet. Inzwischen sind fast 20 Jahre vergangen. Da der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule etwas aus dem Fokus der Aufmerksamkeit von Politik und Forschung geraten zu sein scheint, ist es vor dem Hintergrund verschiedener Projekterfahrungen als eine Art Bilanzierung interessant zu betrachten, inwieweit der Transfer von Befunden in die Theorie der Grundschulpädagogik und Übergangsforschung bzw. in die Übergangs- und Unterrichtspraxis derzeitig vorgesehen ist und welche Möglichkeiten und Grenzen des Transfers bestehen.

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Anforderungen und Auswirkungen der Kooperation im „Bildungshaus 3 – 10“ auf pädagogische Fach- und Lehrkräfte (Nicole Sturmhöfel und Petra A. Arndt)

Modellprojekte strebten in den 2000er Jahren mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den Institutionen Kindergarten und Grundschule an. Eines dieser Modellprojekte ist das „Bildungshaus 3 – 10“, das zwischen 2007 und 2015 an 33 Standorten in BadenWürttemberg umgesetzt und wissenschaftlich begleitet wurde.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_44

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2.1 Leitlinien des „Bildungshaus 3 – 10“ Kernelement des Modellprojekts sind Spiel- und Lernangebote für Kindergarten- und Grundschulkinder, die von pädagogischen Fach- und Lehrkräften gemeinsam entwickelt, durchgeführt und reflektiert werden. Auf Basis der unterschiedlichen professionsspezifischen Ansätze soll eine gegenseitige Unterstützung und Bereicherung erreicht werden. Es wird davon ausgegangen, dass der Austausch über inhaltliche Schwerpunkte, pädagogische Einstellungen und die didaktische Gestaltung zu einer Erweiterung der professionsspezifischen Perspektive führen und Reflexionsprozesse über das eigene pädagogische Handeln anregen kann (Drexl & Höke 2016). Die intensivierte Zusammenarbeit bringt jedoch auch eine Fülle an neuen Aufgaben und Anforderungen mit sich (Schneider, Nagler, Krakow & Kipp 2016). Die Umsetzung der Bildungshausidee erfordert folglich ein hohes Maß an Engagement und macht ein Kooperationsniveau im Sinne der Ko-Konstruktion notwendig (Hanke, Backhaus & Bogatz 2013). 2.2 Studiendesign Die wissenschaftliche Begleitung des Modellprojekts durch das ZNL Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen, Universität Ulm, untersuchte – gefördert vom BMBF und ESF (Förderkennzeichen 01NVB85031) – die Bedingungen und Auswirkungen der Projektumsetzung und ging dabei u.a. folgenden Fragestellungen nach: ‐ Welchen Themen und Anforderungen kommt im Rahmen der interinstitutionellen Zusammenarbeit besondere Bedeutung zu? ‐ Wie wirkt sich die (Zusammen-)Arbeit im „Bildungshaus 3 – 10“ auf die berufliche Belastung und Zufriedenheit der pädagogischen Fachund Lehrkräfte aus? Zur Beantwortung der Fragestellungen wurden qualitative und quantitative Daten erhoben. Erkenntnisse zu Themen und Anforderungen basieren auf Daten einer kontinuierlichen, fragenkatalogorientierten Prozessdokumentation (2008– 2012) an den Modellstandorten. Das Datenmaterial wurde komprimiert, inhaltsanalytisch ausgewertet (MAXQDA) und für sechs Zeiträume (vgl. Abb. 1) mit dem regelgeleiteten Filterinstrument „Verdichtete Dokumentation“ analysiert (Koslowski & Arndt 2016). Die berufliche Belastung und Zufriedenheit der pädagogischen Fach- und Lehrkräfte (z.B. Arbeitsüberforderung, Selbstwirksamkeitserleben) wurde im Zeitraum 2010/11 bis 2013/14 einmal jährlich per Fragebogen in den Modell-und Kontrolleinrichtungen (N=657) erhoben.

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2.3 Ergebnisse Die Ergebnisse der Prozessdokumentation (Koslowski & Arndt 2016) machen deutlich, dass die Erarbeitung von Strukturen und die Gestaltung kooperativer Interaktionen spezifische Herausforderungen für die Modellstandorte darstellen. Der Themenbereich Kooperation (vgl. Abb.1), welcher die Gestaltung, Überprüfung, Sicherung und Anpassung der Kooperationsstrukturen an sich ändernde Bedingungen umfasst, bleibt über den gesamten Zeitverlauf relevant. Der Themenbereich Pädagogik, welcher im wissenschaftlichen Diskurs in der Regel Vorrangstellung hat, ist in der praktischen Umsetzung strukturellen Fragen nachgeordnet. Dabei steht die konkrete Pädagogik in den gemeinsam gestalteten Angeboten im Zentrum, während unterschiedliche Sichtweisen und Haltungen in der Regel implizit und nur in bestimmten Kontexten (z.B. pädagogischen Tagen) explizit thematisiert werden. Offensichtlich kommt es in diesem Bereich zu keiner abschließenden ‚Lösung‘ oder Übereinstimmung. Auch die Logistik (z.B. die Organisation der Wege der Kinder zwischen den Einrichtungen, die Bereitstellung von Räumen und Material) spielt dauerhaft eine Rolle und wird mit dem Einbezug größerer Altersspannen und der Ausweitung der Angebote aufwändiger. Eine bildungshausbezogene Qualitätsentwicklung sowie Mehrwerte der interdisziplinären Zusammenarbeit gewinnen erst spät(er) im Prozess an Bedeutung.

Abbildung 1:

Themen der interinstitutionellen Zusammenarbeit im Zeitverlauf (nach Koslowski & Arndt 2016: 57)

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Wie die Befragungen zeigen, ergeben sich trotz der vielfältigen Anforderungen positive Effekte auf die im Bildungshaus involvierten pädagogischen Fach- und Lehrkräfte. Sie berichten u.a. eine höhere Arbeitszufriedenheit als pädagogische Fach- und Lehrkräfte in der Kontrollgruppe. Zudem erleben sie sich zu späteren Messzeitpunkten als selbstwirksamer und weniger kontrolliert. Die Effekte stehen in mittlerem bis schwachem Zusammenhang mit verfügbaren Zeitressourcen (Schneider et al. 2016). 2.4 Diskussion und Praxistransfer Pädagogische Fach- und Lehrkräfte werden im „Bildungshaus 3 – 10“ als verantwortliche Gestalter(innen) einer selbstgesteuerten Praxis betrachtet. Die Umsetzung der Bildungshausidee erfordert von ihnen Durchhaltevermögen und die beständige Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen und die gemeinsame Arbeit weiterzuentwickeln. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Erfahrungswerten der pädagogischen Fach- und Lehrkräfte im Rahmen des Modellprojekts ermöglicht die Ableitung von Gelingensfaktoren (z.B. Entlastungsstunden, räumliche Ressourcen) sowie Rückschlüsse auf zentrale Themen einer intensivierten Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Grundschule. Die Ausrichtung eines Teils der qualitativen Analyse hat zudem die Möglichkeit eröffnet, der Praxis anwendbare Materialien zur Verfügung zu stellen: ‐ Handreichung: Die Modellstandorte absolvierten bei der Umsetzung der Intensivkooperation ähnliche Schritte. Es konnte abgeleitet werden, dass Themen wie Verbindlichkeit, Verantwortung, Kompatibilität und Anerkennung in allen Bildungshäusern – wenngleich in unterschiedlicher Intensität und zu unterschiedlichen Zeitpunkten – Bedeutung zukam. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse wurde eine Handreichung mit zehn zentralen Themen einer gelingenden Intensivkooperation erstellt (Koslowski 2015). ‐ Reflexionsbogen: Aus den Dokumentationen zur Überprüfung und Anpassung der Kooperationsstrukturen an den Standorten konnten erfolgreiche Vorgehensweisen abgeleitet werden. Diese wurden in einem Reflexionsinstrument zur Weiterentwicklung der Kooperation – auch außerhalb des Bildungshaussettings – aufbereitet. Die zusammengestellten Anregungen und Empfehlungen können Kindergärten und Grundschulen, die eine Fortentwicklung ihrer Kooperation intendieren, bei der Auseinandersetzung mit damit verbundenen Voraussetzungen, Zielen und Herausforderungen unterstützen.

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Entwurf eines empiriebasierten Qualitätsrahmens für die Gestaltung der pädagogischen Praxis im Übergang (Agnes Kordulla)

Das Modellprojekt 'Paderborner Kinderbildungshaus' ist eines von mittlerweile zahlreichen Projekten, in denen die beiden Systeme Kita und Grundschule netzwerkartig zusammenarbeiten. Das Herzstück der Kooperation bilden rhythmisierte, in den pädagogischen Alltag fest implementierte Lernwerkstätten, in denen Kinder in ihrem letzten Kindergartenjahr zusammen mit Schulanfänger(inne)n im ersten Schulbesuchsjahr in alters- und institutionenübergreifenden Gruppen gemeinsam lernen (vgl. Büker, Bührmann & Kordulla 2013). Trotz der seit 2007 zunehmenden Verbreitung von sogenannten Bildungshäusern in Deutschland (derzeit 33 Standorte in Baden-Württemberg, zwei in NordrheinWestfalen und neun Modellstandorte in Niedersachsen), hat sich bislang weder eine eindeutige Definition des Begriffs „Bildungshaus“ etabliert noch sind Bildungshauskonzepte durch evidenzbasierte Qualitätskriterien geschützt, aus denen sich Implikationen für die Planung, Gestaltung und Evaluation der pädagogischen Praxis im Übergang ableiten lassen. Damit Einrichtungen nach dem Wegfall der wissenschaftlichen oder kommunalen Begleitung nicht hinter die erreichten Standards zurückfallen, sind Instrumente zur Qualitätssicherung und entwicklung dringend erforderlich. Der in diesem Beitrag vorgestellte Entwurf eines Qualitätsrahmens versucht diese Lücke zu schließen, indem er unter besonderer Berücksichtigung der Kinderperspektive Anforderungen an die Gestaltung altersgemischter Lernsettings im Übergang formuliert. Er basiert auf den empirischen Befunden einer Teilstudie aus der auf drei Jahre angelegten wissenschaftlichen Begleitung des Paderborner Modellprojektes (2010-2013). Das Ziel dieser Studie war, zentrale Gelingensfaktoren zu identifizieren, die bei der Planung und Gestaltung altersgemischter Lernsettings beachtet werden müssen, um Kindern optimale Startbedingungen am Schulanfang zu ermöglichen (Kordulla 2017). 3.1 Studiendesign Unter Anwendung der Videorecall-Methode kam ein perspektiven- und methodentrianguliertes qualitatives Forschungsdesign zum Einsatz, in dem die Methoden Beobachtung und Befragung zusammengeführt wurden. Die Annäherung an die kindliche Perspektive erfolgte in zweifacher Weise. Peer-Interaktionen in altersgemischten Lerngruppen (n = 26, darunter 14 Kindergarten- und 12 Schulkinder) wurden videogestützt beobachtet und ihre handlungsleitenden Orientierungen und modi operandi aus den beobachteten sozialen Praktiken rekonstru-

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iert. Mithilfe der erziehungswissenschaftlichen Videoanalyse (Dinkelaker & Herrle 2009) identifizierte und analysierte Schlüsselszenen bildeten via Videorecall wiederum die Grundlage für die Befragung der Akteure (n = 25, darunter 12 Kindergarten- und 13 Grundschulkinder). Ergänzend zur Kinderbefragung wurden ebenfalls die Sichtweisen der beteiligten Erzieherinnen (n=3) und Lehrkräfte (n=6) zu den entsprechenden Videosequenzen sowie zu ihren Beobachtungen und Erfahrungen hinsichtlich der Nutzung der Lernangebote durch die Kinder im Rahmen einer Gruppendiskussion erhoben. Die Auswertung der Befragungen erfolgte mithilfe der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2008) in deduktiver und induktiver Form der Kodierung des Datenmaterials. Das inhaltsanalytische Gütekriterium der Intercoder-Reliabilität der Interviews fand in Form der konsensuellen Validierung statt (vgl. ebd.). Unter Beachtung der Besonderheiten der Kinderforschung ist in der konzeptionellen Planung der Befragung auf eine Kombination aus einem leitfadengestützten und einem fokussierten Interview (vgl. Friebertshäuser & Langer 2013) zurückgegriffen worden. Entsprechend dem Transitionsmodell (Griebel & Niesel 2004), das mit seinen drei Ebenen der Übergangsbewältigung den theoretischen Rahmen dieser Studie bildet, liegen der Befragungssituation drei zentrale Befragungsschwerpunkte zugrunde: 1.

Kontextuelle Ebene: Verständnis vom Kinderbildungshaus, Präferenz von Aufgaben, Aufgabenschwierigkeit, Wünsche an die Gestaltung altersgemischter Lernsettings.

2.

Interaktionale Ebene: Erfahrungen, Erwartungen und Wünsche in Bezug auf das Peer-Learning in altersgemischten Lerngruppen, Präferenz von Lernpartner(inne)n.

3.

Individuelle Ebene: Antizipation des Übergangs; unterstützende Faktoren beim Übergang.

3.2 Ergebnisse Systematisiert nach individueller, interaktionaler und kontextueller Ebene (Griebel & Niesel 2004) wurden zentrale Befunde dieser Studie in Qualitätskriterien transformiert. Sie beschreiben sowohl die Voraussetzungen auf Lernerseite als auch die entsprechenden Anforderungen an altersgemischte Lernsettings im Übergang. Damit wird ein Entwurf eines empiriebasierten Qualitätsrahmens für die Gestaltung der pädagogischen Praxis im Übergang vorgestellt (Abb. 2).

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Abbildung 2:

Ulrike Beate Müller, Anja Seifert, Petra Arndt et al.

Auszug aus dem Peer-Learning-Prozess-Modell KiGs (Kordulla 2017)

Individuelle Ebene: Die unter Berücksichtigung der o.g. Faktoren konzipierten Lernsettings sind daraufhin zu überprüfen, ob und inwieweit: ‐ Kindern bewusst ist, wo sie Entscheidungs- und Handlungsspielräume haben. ‐ Kinder Vorerfahrungen mit offenen Arbeitsaufträgen haben. ‐ Kinder aufgrund der Öffnung eine spezielle Begleitung oder Unterstützung benötigen und wie diese realisiert und sichergestellt werden kann.

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die Begleitung und Unterstützung wiederum die Handlungsfähigkeit der Kinder einschränkt?

Interaktionale Ebene: Die unter Berücksichtigung der o.g. Faktoren konzipierten Lernsettings sind daraufhin zu untersuchen, ob und inwieweit: ‐ sie sicherstellen können, dass jedes Kind seinen Platz in der Gruppe findet und sich im Rahmen seiner Fähigkeiten einbringen kann. ‐ sie Kindern (Frei-)Räume bieten, in denen sie ihre Themen und ihr Wissen einbringen können sowie ihre Sichtweisen aushandeln können. ‐ sie sicherstellen, dass Kinder in ihrer Rollen- und Identitätsklärung professionell begleitet und unterstützt werden. Kontextuelle Ebene: Die unter Berücksichtigung der o.g. Faktoren konzipierten Lernsettings sind daraufhin zu untersuchen, ob und inwieweit: ‐ die Lerninhalte den Interessen sowie dem Lern- und Entwicklungs niveau der Kinder angemessen sind. ‐ die Kinder die zur Bearbeitung der Aufgaben erforderlichen Fähigkeiten, Kompetenzen und Techniken beherrschen. ‐ differenzierende Maßnahmen zur Bearbeitung der Lernarrangements möglich sind und ob sie zwischen Schul- und Kindergartenkindern festzulegen sind. 3.3 Transfermöglichkeiten Dieser im Rahmen der vorliegenden Studie vorgestellte Entwurf eines empiriebasierten Qualitätsrahmens für die Gestaltung der pädagogischen Praxis im Übergang von der Kita in die Grundschule kann für die Praxis als Raster zur Planung und Gestaltung von Lernsettings dienen und für die Forschung als ein theoretisch fundierter und empiriebasierter Qualitätskriterienkatalog zur Erfassung der Kooperationsqualität. Ob qualitativ hochwertige Übergangsprojekte, die sich an den individuellen Lernvoraussetzungen und Bedürfnissen der Kinder orientieren, dazu beitragen können, Schulbereitschaft sowie Schulfreude zu fordern und fördern, muss in weiteren Praxisprojekten erprobt und in begleitenden Studien untersucht werden. Die Erfassung der Tragweite des Qualitätsrahmens als Pla-nungs-, Gestaltungs- und Evaluationsgrundlage in Praxis- und Forschungskontexten steht noch bevor.

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Partizipation von Kindergarten- und Grundschulkindern an Übergangsgestaltung, Übergangsforschung und am Transfer in optimierte Praxis: Erfahrungen aus der Kinderbefragungsstudie „buddY“ (Petra Büker)

In den letzten Jahren zielten zahlreiche Forschungs- und Praxisinitiativen zum Übergang vom Kindergarten in die Grundschule auf die Optimierung kindlicher Bildungsbiografien sowie die Professionalisierung von Fachkräften und Institutionen (im Überblick: Höke et al. 2017). Allerdings stellt der systematische Einbezug der Perspektiven von Kindern noch immer eine Seltenheit dar (Kordulla 2017). Dies kann nicht allein aus pädagogischen und didaktischen Gründen, sondern auch mit Blick auf das in der UN-Kinderrechtskonvention verbriefte Recht des Kindes auf Mitbestimmung in allen das Kind tangierenden Angelegenheiten als großes Manko bezeichnet werden (Büker, Hüpping, Mayne & Howitt 2018). An diesem Desiderat setzt ein durch den buddY e.V1. initiiertes Modellvorhaben zur Persönlichkeitsstärkung von Kindern im Übergang an. Acht regionale Kooperationsnetzwerke aus Kindergärten und Grundschulen in Nordrhein-Westfalen wurden im Zeitraum 2013-2015 durch Fortbildungen, Prozessbegleitung und Coaching darin unterstützt, innovative Formen der Partizipation von Kindern an einer optimierten Übergangsgestaltung zu entwickeln und diese in den Professionalisierungsprozess der Institutionen und Professionen einzubringen. Ein besonderer Fokus lag auf der Etablierung eines buddY2Prinzips („Kinder unterstützen Kinder im Übergang“). Der Begleitforschungsstudie oblag die Erhebung der rückblickenden Bewertung der pädagogischen Angebote und der Partizipationsmöglichkeiten im Rahmen der Übergangsgestaltung durch die Kinder sowie die Erfassung ihrer übergangsrelevanten Bedürfnisse und Ideen (Büker & Bethke 2014). In diesem Forschungssetting stellte sich in dreifacher Weise die Frage des Transfers der Befragungsergebnisse: So ging es (1) um den Transfer der aus Forscher(innen)sicht interpretierten Befunde an die Kinder, (2) um den Transfer der von den Kindern validierten und in ‚ihrer Sprache‘ formulierten Forschungsergebnisse an die pädagogischen Fachund Lehrkräfte und (3) um die Einbindung der Resultate in den weiteren Entwicklungsprozess der Kooperationsnetzwerke. Im nachfolgenden Beitrag werden am Beispiel der buddY-Studie methodologische Fragen und Probleme desTransfers von Kinderforschung in optimierte Praxis aufgezeigt und abschlie-

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buddY e.V. ist ein von der Vodafone Stiftung Deutschland gegründeter Verein mit Sitz in Düsseldorf, der sich die Etablierung einer „neuen Lernkultur“ zum Ziel gesetzt hat. Im Jahr 2016 erfolgte eine Umbenennung des buddY e.V. in die Bezeichnung: „Education Y“. buddy (engl.) bedeutet: guter Freund, Kumpel und ist namensgebend für ein auf gegenseitige Verantwortungsübernahme zielendes peer learning-Prinzip

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ßend mit Blick auf die künftige Gestaltung transfer- und partizipationsorientierter Forschungssettings reflektiert. 4.1 Studiendesign und Transferkonzept Das als „buddY Übergang“ bezeichnete Modellvorhaben verfolgt den Leitgedanken der Entwicklung von Demokratiefähigkeit als Schlüsselkompetenz für gesellschaftliche Teilhabe (Franzen 2016). Konsequenterweise sollten die Kinder partizipativ in die in Kita-Grundschul-Netzwerken zu entwickelnden pädagogischen und didaktischen Angebote zur Übergangsbewältigung und Übergangsgestaltung wie auch in deren Evaluation einbezogen werden. Im Rahmen einer qualitativen Handlungsforschungsstudie wurden zunächst n = 26 Kinder aus drei verschiedenen Netzwerken im letzten Kindergarten- und ersten Grundschuljahr in vier Gruppendiskussionen leitfadengestützt und unter Berücksichtigung aktueller ethischer Standards der Kinderforschung befragt. Das Erkenntnisinteresse bezog sich auf die empfundenen Partizipationsmöglichkeiten an den zuvor erlebten Angeboten wie Schulerkundung, Patenmodell und gemeinsame Lernwerkstattarbeit. Darüber hinaus wurden die Kinder gebeten, retroperspektivisch über ihre Strategien der Partizipationsgestaltung in peer learningKontexten zu berichten und Ideen sowie Verbesserungsvorschläge zu formulieren. Basierend auf einer partizipations- und transitionstheoretischen Rahmung (Büker & Bethke 2014) wurden nach inhaltsanalytischer Auswertung der Kinderaussagen 15 Gelingensbedingungen formuliert, die auf der inhaltlichen, methodischen, sozialen und organisatorischen Ebene der Übergangsgestaltung für die befragten Kinder besondere Relevanz besitzen. In einem ersten Transferschritt wurden diese aus Sicht der erwachsenen Forscherinnen formulierten Ergebnisse einer kommunikativen Validierung unterzogen. Dazu bedurfte es einer adressatengerechten und damit insbesondere sprachlichen Modifikation und Adaption der Ergebnisse. Im Rahmen der buddY-Studie wurde ein spezielles Erhebungsinstrument entwickelt, welches die gefundenen Gelingensbedingungen in Form kindgerecht formulierter Items, visuell unterstützt durch Piktogramme wie auch durch Smiley-Skalen zur Hierarchisierung der Wichtigkeit der Items, für Kinder rezipierbar aufbereitete. Beispielsweise wurde die Gelingensbedingung „Sicherstellung von Aufgabenqualität: Die zu lösenden Lernaufgaben im Rahmen einer Übergangsaktivität sollten der Heterogenität der Ausgangslagen durch innere Differenzierung gerecht werden“ im Kinderinstrument umformuliert zu: „Wenn Kindergartenkinder und Grundschulkinder etwas zusammen machen, sollen die Aufgaben so sein, dass sie für jedes Kind etwas schwierig, aber auch zu lösen sind“ (vgl. Büker & Bethke 2014: 39). In einer zweiten Erhebungsphase wurden vier Erstklässler(innen) der ersten Kohorte kurz nach Eintritt in die Grundschule via Einzelinterviews mit diesem Instru-

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ment befragt. Hieraus ergaben sich Korrekturen im Sinne von Akzentverschiebungen und Ausdifferenzierungen der Items, sodass dezidiert formulierte ‚Qualitätskriterien für einen gelingenden Übergang aus Kindersicht‘ entwickelt werden konnten. Für den nächsten Transferschritt, die Rückmeldung an die pädagogischen Fach- und Lehrkräfte, wurden diese in eine ‚Kinderdeklaration zur Übergangsgestaltung‘ transformiert. Die besondere Herausforderung dieser Disseminationsphase bestand darin, die Stimmen der Kinder als Professionalisierungsimpulse wirksam werden zu lassen. Daher wurde der Rahmen einer öffentlichen Rückmeldeveranstaltung gewählt, in der sowohl den Akteuren aus den beteiligten Kooperationsnetzwerken wie auch Multiplikator(inn)en aus Kita- und Schulaufsicht die Kinderdeklaration in Form einer Papierrolle mit dem Titel: ‚Der Auftrag der Kinder an uns‘ überreicht wurde. Im Sinne der Nachhaltigkeit fanden die Kinderaussagen im nächsten Schritt Eingang in ein Selbsteinschätzungsinstrument zur Kooperation im Übergang KitaGrundschule3, welches 2017 als Grundlage für ein Weiterbildungsprogramm entwickelt wurde. 4.2 Diskussion des Designs Die Ergebnisse der Studie, die hier aus Platzgründen nicht vorgestellt werden können, geben detaillierte Einblicke in die Bedürfnisse und Wünsche der Kinder in Bezug auf die Übergangsgestaltung (vgl. Büker & Bethke 2014). Im Folgenden sollen unter Berücksichtigung der eingangs aufgeworfenen Fragen grundlegende methodologische Aspekte einer beteiligungs- und transferorientierten Forschung mit Kindern diskutiert werden. Das buddY-Modellvorhaben verfolgt das Ziel innovativer Praxisentwicklung und Professionalisierung durch Impulse aus der wissenschaftlichen Begleitforschung. Parallel sollen die Befunde auch zur Theorieentwicklung der Elementar- und Grundschulforschung beitragen. Diese Ziele können nur erreicht werden, wenn geeignete Strukturen für die Übertragung wissenschaftlich gewonnener Erkenntnisse auf Praxis und Forschungskontexte gefunden werden. Der in der deutschen Forschungslandschaft erst in Ansätzen eingelöste Anspruch, Kinder nicht nur als Adressat(inn)en sondern als Subjekte partizipativ an Praxisentwicklung und -evaluation zu beteiligen, beinhaltet den expliziten Einbezug der Kinder in einen solchen Transferprozess. Hieraus ergeben sich komplexe Anforderungen an die Gestaltung wissenschaftlicher Begleitforschung: So geht es beim Transfer um die Verbindung 3

Das als „Paderborner Qualitätsstern“ bezeichnete und von Julia Höke, Petra Büker und ThorstenBührmann 2017 entwickelte Instrument steht nach Registrierung zum Download zur Verfügung unter: https://blogs.uni-paderborn.de/paderborner-qualitaetsstern/ (Zuletzt zugegriffen am: 05.10. 2018).

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verschiedener Wissensformen (Forschungswissen, Erfahrungswissen der Fachund Lehrkräfte, Erfahrungswissen der Kinder), welche über eine jeweils adressat(inn)engerechte Sprache einschließlich je-adäquater Kommunikationswege (Gräsel 2010: 9) hergestellt werden muss. Indem die Forscher(innen), wie am Beispiel der buddY-Studie gezeigt, ‚ihre‘ Wissenschaftssprache in eine für Kinder verständliche sowie für Praxisakteure gut in Handlung umsetzbare Sprache übersetzen, erfolgt eine Erweiterung der traditionellen Aufgabe der Datenerhebung, -auswertung und -präsentation. Gleichzeitig verschärft jede Adaption das Risiko von Subjektivität und persönlicher Einflussnahme auf den Forschungsprozess. Eine „Pluralisierung der Rollen“ (Schrader & Goeze 2011: 68) von Wissenschaftler(inne)n ergibt sich darüber hinaus auch im Rahmen der konsequenten Umsetzung des Kinderrechtes auf Partizipation in der Forschung, welches sich nicht auf reine ‚Anhörung‘ der Kindermeinungen reduzieren lässt, sondern das Recht auf einen durch Erwachsene begleiteten, bewussten Lernund Erfahrungsprozess zum Erwerb von Partizipationskompetenz umfasst (vgl. Büker et al. 2018: 113). Eine solche didaktisch-methodische Komponente in Form von Überlegungen, wie Kinder im Sinne einer verstehenden Mitwirkung befähigt werden können, ihre Sichtweisen in der Transferphase von Forschungsprojekten selbst zu äußern und aktiven Einfluss auf die Entwicklung künftiger Maßnahmen und Handlungsschritte zu nehmen, ist für den Kontext der Forschung neu (vgl. ebd.). In partizipationstheoretischer Reflexion des entwickelten Transferkonzeptes im buddY-Projekt muss kritisch konstatiert werden, dass bezüglich Mitwirkung und Grad der aktiven Einflussnahme der Kinder auf den sich anschließenden Professionalisierungsprozess ‚Luft nach oben‘ bestand. Hier öffnet sich ein weites, weithin unbearbeitetes Feld, für welches in künftigen Modellprojekten insbesondere in Kooperation von Wissenschaft, Praxis und partizipativ zu involvierenden Kindern Qualitätsstandards für den Transfer von Forschungsergebnissen in Theorie- und Praxisentwicklung geschaffen werden müssen.

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Das Forschungsprojekt VELP – Kompetenzstände der Kinder in Deutsch und Mathematik im Transfer von der Forschung in die Schule (Ulrike Beate Müller)

Dieser Beitrag analysiert die Phase des Transfers von Zwischenergebnissen aus der wissenschaftlichen Begleitung an eine Schule im Rahmen des Forschungsprojektes Verzahnung von Elementar- und Primarbereich (VELP; Müller 2014). 5.1 Vorstellung des Forschungskontextes 5.1.1 Theorie Einen theoretischen Bezug des Forschungsprojektes stellt die ökosystemische Theorie Bronfenbrenners (1979) dar. Veränderungen und Übergänge werden nach Bronfenbrenner leichter bewältigt, wenn ein Mensch diese gemeinsam mit seinem Umfeld und auf vertrauensstiftende Weise erlebt. Im Zentrum des Projektes steht eine Einrichtung, in welcher Grundschule und eine einjährige Vorschule unter einem Dach vereint sind. Eine institutionelle Verzahnung von Kindergarten und Grundschule unter einem Dach kann im Sinne Bronfenbrenners Vertrauen insbesondere für angehende Schulkinder stiften. Vertrauen wird in der genannten Einrichtung durch den gemeinsamen Schuleintritt und das Bekanntsein der schulischen Spiel-, Lern- und Arbeitskontexte gestiftet. 5.1.2 Forschungsstand und Forschungsbedarf Es kann zwischen drei Formen von Zusammenarbeit zwischen Elementar- und Primarbereich unterschieden werden: intensive Zusammenarbeit von örtlich prinzipiell getrennten Einrichtungen, Vorschulprogramme in Kindergärten und einer an der Grundschule integrierte Vorschule. Internationale Befunde sprechen dafür, dass eine intensive Zusammenarbeit von Kindergarten und Grundschule die Lern-entwicklung der Kinder begünstigt (Ahtola et al. 2011). Die Teilnahme an Vorschulprogrammen zeigte sich in deutschen Studien als förderlich für schriftsprachliche und arithmetische Kompetenzen (Pohlmann-Rother, Kratzmann & Wehner 2010). Zu an Grundschulen integrierten Vorschulen liegen folgende Erkenntnisse vor: Elternbefragungen zur schwedischen Vorschulklasse weisen (u.a.) auf einen Lernvorteil der Kinder hin (Johansson 2002). Auswertungen der Schweizer Basisstufe ergaben einen höheren Lernzuwachs bei Kindern in den ersten beiden Jahren in Deutsch und Mathematik in verzahnten Einrichtungen (Zumwald & Vogt 2011). Während es in einigen Ländern Verzahnungen von Elementar- und Primarbereich (dauerhaft) unter einem Dach gibt, existiert eine derartige Form in Deutschland nur vereinzelt und an nicht-

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staatlichen Einrichtungen, sodass hierzu in Deutschland auch nahezu keine Forschungsbefunde existieren. 5.1.3 Methodik und Ergebnisse Ausgehend von dem genannten Forschungsdesiderat wurde im VELP-Projekt (u.a.) darauf fokussiert, wie sich Erstklässler(innen) mit Besuch einer an der Grundschule integrierten Vorschule von Erstklässler(inne)n ohne derartige Teilnahme hinsichtlich ihrer Kompetenzstände in Deutsch und Mathematik unterscheiden. An der Studie waren insgesamt 11 Klassen mit 171 Kindern an drei privaten Grundschulen im Land Brandenburg von 2007 bis 2010 beteiligt. Die quantitativen Erhebungen wurden (u.a.) in Form von Lernstandsanalysen (Kroner et al. 2008, Geiling et al. 2008) vorgenommen. Zur Auswertung der Daten wurden multiple Regressionen mit Alter, Geschlecht und elterlicher Unterstützung (Fläming & Wörner 1977) als Kontrollvariablen gerechnet. Als Ergebnis zeigte sich, dass Kinder mit Vorschule deutlich bessere Kompetenzstände in Deutsch (Schriftsprache: Beta .426**; Phonologische Bewusstheit: Beta .209*) und gleich gute Kompetenzstände in Mathematik aufwiesen wie Kinder ohne Vorschulteilnahme (Müller 2014). 5.2 Transfer von Forschungsbefunden in die Schule Die im vorangegangenen Teil aufgeführten Befunde wurden in Form eines schriftlichen Zwischenberichts (Müller, Prengel & Uhlendorff 2011) und in einem gemeinsamen Gespräch an den Schulträger und die Schulleitung transferiert, Pädagog(inn)en und Eltern waren an dem Gespräch nicht beteiligt. Als Reaktion auf die Forschungsergebnisse initiierten der Schulträger und die Schulleitung mathematische Fortbildungen der am Übergang beteiligten Kolleg(inn)en und regten die Pädagog(inn)en zur Erarbeitung eines mathematischen Übergangskonzeptes an. Auf Forscher(innen)seite wurden basierend auf dem Transfergespräch vertiefende, qualitative Erhebungen in Form von teilnehmenden Beobachtungen und Interviewgesprächen vorgenommen, um die quantitativ ermittelten Daten vertiefend analysieren zu können. 5.2.1 Transferaspekt: Mathematisches Übergangskonzept Anhand der teilnehmenden Beobachtungen in der Vorschule und der Interviewgespräche mit Erzieher(inne)n und Lehrer(inne)n wurde offensichtlich, dass sich die Pädagog(inn)en in den untersuchten Vorschulgruppen zu Beginn der Untersuchung kaum ausgetauscht haben und dass der Umgang mit mathematischen Inhalten auf sehr unterschiedliche Weise gestaltet wurde. Während in der einen

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Gruppe Mathematik ganzheitlich mit den Kindern erlebt wurde, wurde mit den Kindern der anderen Gruppe starr lehrgangsorientiert gearbeitet. Der Befund, dass eine gewisse Struktur, aber auch insbesondere ein kontinuierlicher, ganzheitlicher Bezug des Mathematischen für die Kinder für frühes mathematisches Lernen hilfreich ist, wurde an die Schule zurückgemeldet. Auf diese Weise hat das Pädagog(inn)en-Team eine konkrete Analyse und Lösungsvorschläge zur weiteren Verbesserung des kindgerechten mathematischen Lernens erhalten und es konnte seine Sichtweise im Austausch mit dem Forscher(innen)-Team einbringen. Auf dieser Basis kann der Transfer als gelungen für beide Seiten bewertet werden. 5.2.2 Transferaspekt: Kommunikation zwischen Forscher(inne)n und Pädagog(inn)en Nachdem das Transfergespräch zwischen dem Forscher(innen)team und der Schulleitung/dem Schulträger stattgefunden hat, wurde von Seiten des Forscher(innen)teams eine veränderte Kommunikation wahrgenommen. Die Forscher(innen) empfanden einen unfreundlicheren Umgangston, weniger Bereitschaft zur Flexibilität und Verweigerungen von Hospitationen. Ein möglicherweise kritischer Punkt des Transfers ist, dass in dem Transfergespräch keine Pädagog(inn)en anwesend waren, sodass diese nur indirekt über die Forschungsbefunde informiert wurden. Das könnte zu Missverständnissen geführt haben. Eine Möglichkeit, sowohl die Praxis als auch die wissenschaftlichen Prozesse zu verbessern, könnte die Offenheit des Forschungsprozesses für Anliegen der Schule darstellen. Zentrale Fragestellungen könnten dabei sein: Wie kann das pädagogische Team eingebunden werden, ohne Forschungsergebnisse zu beeinflussen? Wie stellt sich die Schule eine Verbesserung ihrer Arbeit und Lehr-/Lernprozesse vor? Wie können Ergebnisse verständlich und für die Praxis gewinnbringend aufgearbeitet werden? Die stärkere Einbindung der Praxis wird Ressourcen kosten, allerdings tragen diese vermutlich zu einer nachhaltigen Verbesserung von Lehr- und Lernprozessen bei und sind demzufolge sehr sinnvoll angelegt. 5.3 Ausblick auf zukünftige Forschungsfragen Offene Forschungsfragen, welche sich aus dem vorliegenden Teilbeitrag ableiten lassen, können folgende sein: Wie kann es gelingen, dass der Transfer von Forschungsbefunden für die Praxis verbessert wird? Wer kann in welcher Funktion (Wissenschaftler(innen), Politiker(innen), Schulleitungen, Pädagog(inn)en) dazu beitragen? Welche Formen der Systematisierung von Transferprozessen

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kann es geben? Schließlich sollte es Ziel der schulbezogenen Forschung sein, dass Forschungsbefunde der Entwicklung von Schule auch hilfreich sind.

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Die Wahrnehmung von Schule aus Elternsicht am Übergang vom Kindergarten in die Grundschule (Franziska Wehner)

6.1 Hintergrund Der derzeit im deutschsprachigen Raum meist verwendete theoretische Ansatz zur Betrachtung von Bildungsübergängen in der frühen Kindheit ist der Transitionsansatz. Der Schuleintritt wird in diesem Zusammenhang als ein ökologischer Übergang gesehen, an dem verschiedene Umwelten beteiligt sind. Dabei wird der Übergang als Prozess aufgefasst, an dem die Akteure als „KoKonstrukteure“ zusammenwirken und für die betroffenen Individuen Veränderungen auf drei Ebenen stattfinden (individuell, interaktional, kontextuell; Griebel & Niesel 2011). Ausgehend vom Transitionsansatz nehmen Eltern beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule verschiedene Positionen ein. Sie müssen den Übergang selbst als Individuen bzw. Familie bewältigen, sind gleichzeitig Begleiter(innen) ihrer Kinder, Kooperationspartner(innen) für die Institutionen sowie Entscheidungsträger(innen). Aufgrund dieser ‚Schnittstellenposition‘ erhalten sie Informationen über Prozesse, transportieren Informationen und Vorstellungen weiter. Insbesondere die Vorstellungen und Einstellungen in Bezug auf Schule und das Bildungssystem scheinen in diesem Zusammenhang wichtige Aspekte zu sein. In den bisherigen Forschungsergebnissen stellt sich die Haltung der Eltern zur Schule ambivalent dar. Einerseits sehen Eltern die Schule als einen Ort, an dem Kinder individuell gefördert und spielerisch an das Lernen geführt werden. Andererseits verbinden sie damit auch still sitzen, hohen Leistungsdruck und den oft angeführten ‚Ernst des Lebens‘ (Liebers 2011; Bellenberg, Hovestadt & Klemm 2005). 6.2 Datenbasis Die Ergebnisse stammen aus einer qualitativen Teilstudie der Forschergruppe Bildungsprozesse, Kompetenzentwicklungen und Selektionsentscheidungen im Vorschul- und Schulalter (Wehner 2015). Die Teilstudie beschäftigte sich mit der Entstehung der Übergangsentscheidung von Eltern vor dem Hintergrund einer möglichen Zurückstellung. Dazu wurden 20 Eltern zu zwei Zeitpunkten vor der Einschulung anhand von qualitativen Leitfadeninterviews befragt. Die Auswertung der Interviews erfolgt anhand der strukturierenden Inhaltsanalyse

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nach Mayring (2012). Dabei wurden sowohl übergreifende Aspekte hinsichtlich der Bildungsentscheidung als auch differenzierende Ausprägungen herausgearbeitet. 6.3 Ergebnisse Neben bekannten Aspekten, wie individuelle Fähigkeiten der Kinder oder institutionelle Förderung, ist die Wahrnehmung von Schule aufseiten der Eltern ein bedeutsamer Aspekt beim Übergangsprozess und der Einschulungsentscheidung. Unter der Wahrnehmung von Schule lassen sich die Vorstellungen über Unterricht, das Bildungssystem im Allgemeinen und der damit zusammenhängende Bildungsbegriff fassen. In Bezug auf die Entscheidung zwischen fristgerechter und verspäteter Einschulung lassen sich Unterschiede in der Wahrnehmung von Schule bei den Eltern feststellen. Für die fristgerecht einschulenden Eltern geht der Schulbeginn mit der Möglichkeit für Förderung und Weiterentwicklung des Kindes einher. Im Gegensatz dazu verbinden zurückstellende Eltern mit der (Grund)Schule hohe Leistungsanforderungen und ein gleichschrittiges Lernen der Kinder, was individuelle Entwicklungen stark einschränkt. Kritik an der Grundschule und dem Bildungssystem lassen sich in beiden Elterngruppen finden, wobei die verspätet einschulenden Eltern inhaltlich mehr Aspekte ansprechen. Benannt werden die gering und zu spät einsetzende Beratung vonseiten der Grundschule sowie das unflexible und stark altersfixierte Einschulungsverfahren. Bezogen auf die Entscheidung zwischen einer fristgerechten oder verspäteten Einschulung hat die elterliche Wahrnehmung von Schule in der Passung mit der Wahrnehmung der Fähigkeiten des Kindes Einfluss auf die Erfolgserwartung zu Schulbeginn. Liegen beispielsweise die kindlichen Fähigkeiten nach Einschätzung der Eltern unter den von ihnen wahrgenommenen Anforderungen von Schule, so verbinden sie mit der fristgerechten Einschulung eine negative Erfolgserwartung und ziehen eine Zurückstellung vor. Weiterhin wirkt sich die Wahrnehmung von Schule auf die Vorstellungen über Schulfähigkeit und deren Förderung aus. Während Eltern mit einem Verständnis von Schule als Förderort kaum über Veränderungen in den Fördermaßnahmen berichten, geben Eltern mit einem eher kritischen und leistungsorientierten Bild von Schule an, vermehrt Förderangebote zu nutzen und auch die häusliche Förderung zu steigern. Eine zunehmende Förderung belastet in Einzelfällen sowohl das Kind als auch das Familienleben. Dies zeigt sich beispielsweise an Angstzuständen des Kindes oder einer angespannten familiären Situation.

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6.4 Diskussion Die dargestellten Ergebnisse zeigen auf, dass die Wahrnehmung der Schule einen Einfluss auf den Übergangsprozess und die Bildungsentscheidung hat. Betrachtet man die Ergebnisse vor dem Hintergrund des Transitionsansatzes, erscheint die Wahrnehmung der Eltern einerseits im Blick auf die Bewältigungsprozesse der Kinder und andererseits in Bezug auf die Ko-Konstruktion, im Sinne einer Zusammenarbeit mit den Institutionen, von Bedeutung. Bezogen auf die kindlichen Bewältigungsprozesse werden Eltern als konstante Begleiter(innen) angesehen. Aufgrund von bestimmten Erwartungshaltungen können sich Rollenveränderungen auch problematisch gestalten. Buse (2017) konnte dahingehend Zusammenhänge zwischen der Unsicherheit der Eltern und einem als problematisch charakterisierten Übergang des Kindes in die Grundschule feststellen. Dass die Vorstellungen der Eltern beeinflussen, zeigt sich anhand der Präkonzepte der Kinder über Schule, welche vor allem durch Aussagen der Eltern geprägt werden (Kasanmascheff & Martschinke 2016). Dennoch bleibt die genaue Wirkung von elterlichen Einstellungen und ihrem Handeln auf die Übergangsbewältigung der Kinder unklar und ein Forschungsdesiderat. Bezogen auf die Ko-Konstruktion beim Übergang wird die Zusammenarbeit zwischen den Institutionen und den Eltern als wichtig erachtet, um sowohl den kindlichen Bewältigungsprozess als auch den Bewältigungsprozess der Eltern zu unterstützen (vgl. u.a. Griebel, Wildgruber, Schuster & Radan 2017). Bisherige Studien zur Kooperation von Kindergarten und Grundschule verdeutlichen jedoch, dass Maßnahmen unter Einbezug der Eltern am wenigsten vorkommen, weniger wichtig eingeschätzt werden und Eltern sich nicht ausreichend in den Übergangsprozess involviert fühlen (Carle & Samuel 2006; Faust, Wehner & Kratzmann 2012; Hanke, Backhaus & Bogatz 2013). Dies ist kaum überraschend, denn während die Kooperation zwischen Eltern und Kindergärten bereits über einen längeren Zeitraum besteht, muss eine Zusammenarbeit mit den Schulen erst aufgebaut werden. Schule wird im Vergleich zum Kindergarten vielmehr mit formalisierten Abläufen und formal konstruierten Beziehungen zu den Lehrkräften in Verbindung gebracht. Diese Differenz kann bei Eltern auch zu Verunsicherungen führen, die sich wiederum in der Bewältigung und Begleitung des Übergangsprozesses niederschlagen kann (Kuger, Große, Kluczniok & Roßbach 2014). Für einen ‚gelungenen‘ Übergang sowohl bei Kindern als auch bei Eltern und einer anschlussfähigen Bildung sollte ein transferierender Austausch über die Perspektiven und Erwartungen der beteiligten Akteure stattfinden. Der Diskurs über den Übergang vom Kindergarten in die Grundschule bleibt daher aktuell, sollte aber unter den bestehenden Bedingungen und Er-

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kenntnissen kritischer betrachtet werden. In Bezug auf die Mehrfachfunktion der Eltern bleibt offen, welche Unterstützungsmaßnahmen pädagogische Fachkräfte leisten müssen, um Eltern in ihrer Rolle als Begleiter(innen) des Kindes, aber auch bei der eigenen Übergangsbewältigung zu unterstützen. Da die meisten Untersuchungen nur eine oder zwei Perspektiven vertieft in den Blick nehmen, lassen sich aus bisherigen Forschungsergebnissen nur vage Zusammenhänge formulieren. Wichtig erscheint, dass die Zusammenarbeit im Prozess des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule vor dem Hintergrund der Heterogenität von Kindern, Eltern und auch Einrichtungen betrachtet werden sollte. Damit geht gleichzeitig aber auch die Frage einher, ob zum Übergang überhaupt ‚allgemeine Aussagen‘ getroffen werden können.

7 Komparative Studien im Kontext der EECERA – Welche Transfermöglichkeiten bieten internationale Forschungsprojekte für die nationale Übergangsforschung? (Anja Seifert und Christa Kieferle) In diesem Beitrag soll zum einen analysiert werden, welche Themen und Zugänge aus dem Bereich der Übergangsforschung sich für vergleichende Fragestellungen eignen, wo Transfermöglichkeiten bestehen und wo sich methodisch bzw. methodologische Schwierigkeiten und Grenzen zeigen. Zum anderen soll ein konkretes internationales Forschungsprojekt vorgestellt werden. 7.1 Zum Forschungsstand der vergleichenden Übergangsforschung Obgleich derzeit an allen deutschen Hochschulen und Universitäten im Zuge der (System-)Akkreditierungen neuer und alter Studiengänge, wie der Bachelorund Masterstudiengänge der Kindheitspädagogik und der Grundschulpädagogik, Internationalisierungsstrategien (vgl. Binder 2016) initiiert werden, sind Forschungsprojekte mit internationaler Ausrichtung bislang eher selten zu finden. Gleichzeitig kann festgestellt werden, dass ein Ausbau der Forschungsaktivitäten zum ersten Bildungsübergang und seinen inhärenten Schwierigkeiten in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat (vgl. z.B. Dockett, Griebel & Perry 2017; Perry, Dockett & Petriwskyj 2014; Dunlop & Fabian 2010; Ledger, Smith & Rich 1998; Margetts & Kienig 2013). Das Verhältnis der deutschen Übergangsforschung zur internationalen lässt sich insgesamt als ein ambivalentes beschreiben, da insbesondere in der quantitativen Forschung Ergebnisse der internationalen Übergangsforschung rezipiert werden, wie z.B. die der englischen Studie „Effective Preschool and Primary Education” (EPPE), die durch die EPPSE-Studie (Effective Preschool, Primary & Secondary Education, erweitert

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wurde und die größte Studie zum Übergang vom Elementar- zum Primarbereich darstellt (vgl. Melhuish 2013; Sylva et al. 2003). Zudem liegen im Bereich der qualitativen Forschung zum Übergang ausgewiesene Arbeiten aus einer international-vergleichenden Perspektive zum Schulanfang und zur Institutionalisierung des Übergangs in die Schule vor (vgl. Huf & Panagiotopoulou 2011; Hummrich & Rademacher 2013; Rademacher 2009). Versteht man vergleichende Forschung als eine Forschung, die sich vergleichend mit einem anderen Bildungssystem als dem eigenen beschäftigt, dann wird indes das Forschungsdesiderat komparativer Studien im Bereich der Übergangsforschung deutlich. Exemplarisch sind hier die Arbeiten von Rademacher (2009) zum Schulanfang in einer deutsch-amerikanischen Vergleichsperspektive sowie die ethnographischen Studien zur deutsch-englischen bzw. finnischen Vergleichsperspektive von Huf und Panagiotopoulou (2011) zu nennen. Studien aus dem Bereich der qualitativen Bildungsforschung im Elementar- und Primarbereich (z.B. Heinzel & Panagiotopoulou 2010), die kulturvergleichend angelegt sind bzw. sich mit der Rekonstruktion anderer Schul-, Unterrichts- und Berufskulturen beschäftigen, arbeiten hierbei primär mit ethnographischen und rekonstruktiven Methoden (z.B. Huf 2010; Hortsch 2010). Das Feld der sog. Comparative Studies stellt insgesamt ein Desiderat dar. 7.2 International-vergleichende Übergangsstudien im Kontext der EECERA In der internationalen Übergangsforschung zum Übergang vom Elementar- zum Primarbereich nehmen Übergangsforschungsprojekte, die bi- oder multilateral angelegt sind, zwar zu, dennoch dominieren nationale Studien. Deutlich wird dies etwa bei den Tagungen der European Early Childhood Education Research Association. Beispielhaft für die wenigen multilateralen Projekte ist hier das von Garcia (2016) zu nennen, das sich mit Übergangsverfahren in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern im Vergleich zu England beschäftigt. Andere Vergleichsarbeiten (z.B. Urban & Rubiano 2015) befassen sich zentral mit der Frage nach der Reproduktion von Ungleichheit in verschiedenen Bildungssystemen beginnend mit der frühen Bildung. Vor allem die skandinavische Übergangsforschung (vgl. z.B. Broström et al. 2014; Johansson & Sandberg 2010) bezieht sich auf mehr als ein nordeuropäisches Land, nicht zuletzt aufgrund der jeweils niedrigen Gesamtbevölkerung in Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland und Island und der in den letzten Jahrzehnten gewachsenen kooperationsbezogenen Forschungs- und Theorietradition. In den seit 2011 laufenden Teilstudien des Forschungsnetzwerkes, das sich im Kontext der EECERA bildete und aus Wissenschaftler(inne)n aus Dänemark, Schweden, Russland, Lettland, Griechenland, Australien und Deutschland

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besteht, wird in einem Mixed-Method-Ansatz (z.B. Siraj-Blatchford 2010) an der gemeinsamen Fragestellung gearbeitet, wie (angehende) pädagogische Fach- und Lehrkräfte sowie Leitungen von Kindertageseinrichtungen Lernen bzw. Lernprozesse von Kindern beschreiben. In Comparative Studies wird damit nach den epistemologischen Überzeugungen, ihren berufsbezogenen Haltungen und Einstellungen gefragt, um diese länderübergreifend vergleichen zu können. In den quantitativen Teilen der Studie wurde mit standardisierten und teilstandardisierten Fragen im Rahmen von Fragebogenerhebungen und im qualitativen Teil mit Focus-Group-Interviews gearbeitet, die inhaltsanalytisch ausgewertet wurden. Ziel der internationalen Untersuchung als vergleichende Forschung ist, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der erhobenen Daten feststellen zu können. Nach den Teilstudien „Children’s Perspective on Learning – A Comparative Study in Denmark, Estonia, Germany, and Sweden” (Sandberg et al. 2015) und „Preschool Teachers’ View on Children`s Learning. An International Perspective” (Broström et al. 2014), wurden in der aktuellen Teilstudie „Teacher Students‘ View on Children’s Learning“ die Einstellungen und Orientierungen von Studierenden in einer quantitativen Fragebogenerhebung in Schweden, Dänemark, Australien, Russland, Lettland und Deutschland/Bayern erhoben und mit SPSS ausgewertet. Bei der Konstruktion des eingesetzten standardisierten Fragebogens fand eine Orientierung an (sozial-)konstruktivistischen Lerntheorien (vgl. Vygotsky 1978; Liegle 2010) in Hinblick auf die Itembildung statt. Der Transfergehalt der Teilstudien zeigt sich dabei auf unterschiedlichen Ebenen: Auf der internationalen Vergleichsebene interessiert, ob und wie sich die Antworten der angehenden pädagogischen Fach- und Lehrkräfte ähneln und was daraus abgeleitet werden kann. Im nationalen Transferbezug interessieren zudem auch der Vergleich verschiedener Gruppen oder Kohorten. Hier zeigt sich im Vergleich der bayrischen Daten aus den jeweiligen Teilstudien 2011 und 2016, dass in einem Zeitraum von sechs Jahren keine erkennbaren Unterschiede im Antwortverhalten der Erzieher(innen) vorhanden sind.

8 Schlussbetrachtung (Ulrike Graf und Ursula Carle) Anliegen der sechs Beiträge des Symposiums war, verschiedene Perspektiven auf den Transfer von Forschungsbefunden zum Übergang vom Elementar- zum Primarbereich vorzustellen. Dabei galt es, Übergangsforschung als Teil der Grundschulforschung in den zwei Transferbereichen Theorie der Grundschulpädagogik und Übergangsforschung sowie Übergangs- und Unterrichtspraxis zu berücksichtigen. Im Folgenden fassen wir zusammen, wo die vorgestellten Projekte Anknüpfungsmöglichkeiten für einen Transfer anbieten oder Transfer-

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erfolge vorweisen. Theoriebezogen ist zu fragen, ob das jeweilige Projekt sich auf aktuelle grundschulpädagogische Theorien bezieht und grundschulpädagogische (Übergangs-)Theorien weiterentwickelt. Ist das Ziel ein Transfer in die pädagogische Praxis, dann ist einerseits nach praxisbezogener Relevanz zu fragen und andererseits, inwiefern das Projekt Praxisveränderungen anstößt (Carle & Peschel 2017). Alle Projekte beziehen sich theoretisch auf ökosystemische Annahmen und häufig explizit auf den Transitionsansatz. Das Paradigma des Ko-konstruktiven hat sich hinsichtlich der untersuchten Fragestellungen durchgängig als handlungsleitend gezeigt – sowohl auf der Ebene der Projekte als auch bei den Forschungszugängen. Das wird in den vier Beiträgen, die sich Kooperationsprojekten am Übergang (Sturmhöfel & Arndt, Kordulla, Büker, Müller) widmen und Ergebnisse aus wissenschaftlicher Begleitforschung berichten, ebenso deutlich wie in den beiden Beiträgen zur Wirkung elterlicher Einstellungen auf Übergangsentscheidungen (Wehner) bzw. zu Entwicklung interkulturell sensibler Methodologie in der international vergleichenden Übergangsforschung (Seifert & Kieferle). Innerhalb des ökosystemischen Paradigmas wurden dabei professionsbezogene (Sturmhöfel & Arndt), didaktisch-methodische (Kordulla) und domänenbezogene Kompetenzperspektiven (Müller) eingenommen, ergänzt um Perspektiven handlungsleitender Orientierungen (Wehner) und epistemologischer Hinsichten (Seifert & Kieferle). Die beiden Beiträge von Büker sowie Seifert und Kieferle fokussieren zwei zentrale methodologische Entwicklungsfelder: Büker reklamiert ein Partizipationsdefizit im Bereich der Kinderrechte, denn Kinder werden in sie betreffenden Forschungszusammenhängen ungenügend beteiligt. Durch ein beteiligungsorientiertes Design zeigt das Projekt, dass und wie Kinder an der sie betreffenden Forschung beteiligt werden können. Seifert und Kieferle richten ihren Blick auf unterbelichtete Potenziale interkulturell vergleichender Forschung, für die methodologische Arbeit zur Entwicklung valider Instrumente zu investieren ist, damit vergleichende Erkenntnisse national transferiert werden können. Sowohl methodologisch, fachlich als auch mit Blick auf die Weiterentwicklung grundschulpädagogischer Theorie bieten die Projekte somit auch untereinander Anknüpfungsmöglichkeiten. Welche Ergebnisse stehen aufgrund der vorgestellten Befunde zur Verfügung? Für die Weiterentwicklung einer Theorie der Grundschulpädagogik und der Übergangsgestaltung wurde die weiterhin einzulösende Partizipation von Kindern in sie betreffende Forschungs- und Transferprozesse auf die Agenda gesetzt. Die vergleichende Grundschulforschung am Übergang wurde aus ihrer eher national bzw. föderal vergleichenden Perspektive weiter auf das internationale Parkett gelockt. Für die Übergangs- und Unterrichtspraxis stehen Handreichungen für eine gelingende Kooperation (Sturmhöfel & Arndt) zur Verfügung, es mangelt jedoch an Ressourcen für Übergangsgestaltung, sollen Selbstwirksamkeit und

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Arbeitszufriedenheit steigen. Ebenso kann für eine übergangsbezogene Lernwerkstattarbeit ein empiriebasierter Qualitätsrahmen genutzt werden, an dem bereits eine höhere Beteiligung von Kindern sowohl im Forschungs- wie Transferprozess eingelöst worden ist (Kordulla; Büker). Besonders bei den Partizipationsanliegen, nicht nur dem der Kinder, auch dem der Pädagog(inn)en bleiben, so Müller, Fragen zu klären: Auf welche Weise kann die Beteiligung so gesichert werden, dass Forschungsergebnisse nicht beeinflusst werden? Und welche Formen der Teilhabe von Kindern können mit Kindern entwickelt werden, was immer auch ein Entwickeln „für“ sie ist, da die Notwendigkeit eines begleiteten Prozesses aufgrund der kindlichen Entwicklungstatsache einer besonderen Balancierung bedarf. Eher ungeklärt blieben in den Beiträgen Fragen der Weiterentwicklung eines Transferbegriffes, wie zum Beispiel: Inwiefern ist der Transferprozess ebenso ein ökosystemisch zu verhandelnder, in dem es Hierarchien zu berücksichtigen wie abzubauen gälte? – hier stünde beispielsweise das Konzept der Community-of-Practice zur Verfügung (Hart et al. 2013) –, in dem die Logiken der Wissensgenerierung und Handlungsnotwendigkeiten im Praxisfeld berücksichtigt und methodologische Fragen der Übertragbarkeit gestellt werden – einschließlich der damit verbundenen Notwendigkeit vorgesehener Zeitressourcen in Projekten, um die Logiken ,ineinander zu übersetzen‘. Insgesamt führen die besprochenen Ergebnisse die Nach-PISA-Dekade intensiver Übergangsforschung weiter und bieten Themen, welche die Transferforschung bzw. den Transfer von Forschungsergebnissen in allen grundschulpädagogischen Feldern bereichern können. Nicht fehlen darf der Hinweis, das Partizipationsanliegen auf die Bandbreite der Heterogenitätsdimensionen auszuweiten.

Literatur Ahtola, A., Silinskas, G., Poikonen, P.-L., Kontoniemi, M., Niemi, P. & Nurmi, J.-E. (2011): Transition to formal schooling. Do transition practices matter for academic performance? In: Early Childhood Research Quarterly, 26 (3), 295–302. Bellenberg, G., Hovestadt, G. & Klemm, K. (2005): Selektivität und Durchlässigkeit im allgemein bildenden Schulsystem. Rechtliche Regelungen und Daten unter besonderer Berücksichtigung der Gleichwertigkeit von Abschlüssen. Frankfurt a. M.: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Binder, U. (2016): Logiken und Funktionsweisen von hochschulischen Internationalisierungsstrategien. In: Zeitschrift für Pädagogik, (2), 282–296. Bronfenbrenner, U. (1979): The ecology of human development. Experiments by nature and design. Cambridge, MA: Harvard University Press. Broström, S., Johansson, I., Frøkjær, T. & Sandberg, A. (2014): Preschool teachers view on learning in Denmark and Sweden. In: European Early Childhood Research Association Journal, 22 (5), 590–603. Bührmann, T. & Büker, P. (2015): Organisationsentwicklung und multiprofessionelle Teamarbeit im Kinderbildungshaus – eine systemische Perspektive. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, (2), 149–165.

Perspektiven des Transfers von Forschungsbefunden im Übergang Kindergarten-Grundschule

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Sprachbildungsorientierte Zusammenarbeit von Eltern und pädagogischen Fachkräften in Kinderund Familienzentren im Sozialraum Tamara Schubert, Susanna Roux und Jutta Sechtig Zunehmende Anforderungen an Kindertagesbetreuung machen die Professionalisierung frühpädagogischer Fachkräfte nicht nur bildungspolitisch zu einem zentralen Thema (u.a. Blossfeld & Roßbach, 2012). Im Projekt „Sprachentwicklung und Mehrsprachigkeit in Kinder- und Familienzentren stärken“, durchgeführt im Rahmen des Programms Sag‘ mal was der Baden-Württemberg Stiftung, wird die zentrale Rolle der Weiterbildung im Professionalisierungskontext durch die Begleitung von Kinder- und Familienzentren fokussiert. Im Mittelpunkt stehen Zwischenergebnisse der formativen Evaluation aus der ersten Projektphase, bezogen auf die Unterstützung von Sprache und Mehrsprachigkeit im Alltag sowie die sprachbildungsbezogene Zusammenarbeit mit Eltern.

1

Forschungsstand und theoretischer Hintergrund

Es ist unbestritten, dass die Familie der entscheidende Bildungsort für Kinder ist (u.a. Minsel, 2007; Pekrun, 2002). Vielfältige Befunde verweisen auf die Bedeutsamkeit familialer Bildungsleistungen (u.a. Kluczniok et al., 2013; Schmerse et al., 2018) gerade für die langfristige Sozialisation von Kindern (u.a. Melhuish, 2013). Um die Potentiale der Familie hinsichtlich der Sozialisationsaufgaben – insbesondere der sprachlichen Sozialisation – zu stärken, ist ein Anspruch an Kindertagesbetreuung, die Zusammenarbeit mit Eltern (Qualität, Umfang) zu intensivieren. Es geht um die Stärkung des Bildungsortes Familie durch die Stärkung des Bildungsortes Kita. Anders und Roßbach (2014, S. 344) schätzen die Auswirkungen frühkindlicher, institutioneller Bildung dahingehend ein, dass „eine zumindest moderate Qualität der Anregungsbedingungen in der Familie eine Voraussetzung dafür zu sein scheint, dass Kinder von einer hohen Prozessqualität im Kindergarten profitieren können“. Parental involvement – verstanden als kontinuierliche, die Bildungsbegleitung von Kindern in den Blick nehmende Zusammenarbeit von Fachkräften und Eltern – kann als „Kernstück“ (Jeynes, 2003) von Erziehungsund Bildungsprozessen und als „Schlüssel“ zur vorschulischen Entwicklung von

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Sprachbildungsorientierte Zusammenarbeit

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Kindern sowie ihrer weiteren schulischen Leistungsentwicklung (Hara & Burke, 1998) angesehen werden. Der Institution „Kinder- und Familienzentrum“ (u.a. Engelhardt, 2015) wird in diesem Kontext das besondere Potenzial zugesprochen, die zentrale Forderung nach niederschwelliger Familienbildung zu erfüllen (u.a. Büchner, 2013). Die Evaluation des Bundesprogramms „Elternchance ist Kinderchance“ zeigte, „dass Familienbildung zunehmend auch in Einrichtungen der frühen Bildung stattfindet“ (Müller et al., 2015, S. 170). Die geforderte Niederschwelligkeit wurde hier z.B. über Offene Treffs/Gesprächskreise, Einzelgespräche oder auch Einzelberatung erreicht. Als Ausgangspunkt für Kontakte zwischen Fachkräften und Eltern bedarf die niedrigschwellige Familienbildung einer besonderen Aufmerksamkeit im Kontext der Weiterbildung. Kuger et al. (2012, S. 191f.) betonen hinsichtlich kompensatorischer Effekte, dass die Qualifizierung pädagogischer Fachkräfte insbesondere für die sprachliche Bildung in Kita (und Familie) eine Schlüsselstelle einnehmen solle. In diesem Weiterbildungskontext ist Sprachenvielfalt als Ressource einzubeziehen: Denn Mehrsprachigkeit als ungesteuerte kindliche Mehrsprachigkeit ist längst zu einer frühpädagogischen Realität geworden (u.a. Andresen & Hurrelmann, 2013).

2

Das Projekt „Sprachentwicklung und frühe Mehrsprachigkeit in Kinder- und Familienzentren stärken“

Am Projekt „Sprachentwicklung und frühe Mehrsprachigkeit in Kinder- und Familienzentren stärken“, das von der Baden-Württemberg Stiftung im Rahmen des Programms Sag‘ mal was durchgeführt wird (Projektträger: Landesinstitut für Schulentwicklung), sind vier Kinder- und Familienzentren in BadenWürttemberg beteiligt. Der Förderzeitraum umfasst drei Jahre. Die Pädagogische Hochschule Weingarten verantwortet die wissenschaftliche Begleitung mit einer formativen Evaluation, um gelingende Modelle zur Etablierung sprachentwicklungsstärkender und familienorientierter Sprachbildungsangebote im sozialräumlichen Kontext sowie hinderliche Faktoren und Unterstützungsbedarfe bei der Durchführung solcher Maßnahmen zu eruieren. Das Projekt umfasst drei Phasen: In der ersten Phase werden Ausgangsbedingungen sowie Bedarfe aller beteiligten Akteure erhoben. Die Qualifizierung in der zweiten Phase zielt u.a. Literacy-Aktivitäten an, fußt auf der methodischen Grundlage des situierten Lernens (u.a. Rank et al., 2011) und schließt Coachinggespräche ein. In Zusammenarbeit mit den Einrichtungen werden - ausgehend von vorhandenen Ressourcen - Angebote für Eltern sowie solche zur weiteren sozialräumlichen Vernetzung (weiter-)entwickelt und formativ evaluiert. In der

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dritten Phase erfolgen die Ableitung von Best-Practice-Beispielen und die Vorbereitung des weiteren Transfers.

Abbildung 1: Phasen des Projekts „Sprachentwicklung und Mehrsprachigkeit in Kinderund Familienzentren stärken“ im Rahmen des Programms Sag‘ mal was der BadenWürttemberg Stiftung (2016-2019)

3

Methode(n)

Die wissenschaftliche Begleitung folgt als formative Evaluation einem MixedMethods-Ansatz. Als Erhebungsverfahren kommen Gruppendiskussionen (Team, Eltern und Netzwerkpartner(innen)), qualitative Interviews (Leitungskräfte) sowie standardisierte Befragungen (Gesamtteams, Eltern, sonstige Teilnehmer(innen) der Gruppendiskussion) zum Einsatz (vgl. Abb. 1). Dieser Beitrag fokussiert die Ausgangsbedingungen der beteiligten Einrichtungen im Hinblick auf bestehende sprachbildungsrelevante Strukturen, Ressourcen, Angebote sowie Vernetzungsaktivitäten, um Ansatzpunkte für die Qualifizierung der Fachkräfte zu finden und für die einrichtungsbezogene Weiterentwicklung fruchtbar zu machen. Im Frühsommer 2017 (t1) wurden mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens, neben Strukturmerkmalen und allgemeinen Aufgaben von Kinder- und Familienzentren, Angebote in den Bereichen Unterstützung von Sprache und Mehrsprachigkeit im Alltag, Zusammenarbeit mit Eltern und zur Vernetzung im nahen Umfeld erhoben (in Anlehnung an u.a. BMFSFJ, 2016; Klaudy & Stöbe-Blossey, 2014; MFKJKS NRW, 2011;

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Schwertfeger, 2016; Tschöpe-Scheffler et al., 2014; Zumwald et al., 2015). Außerdem wurde die Zufriedenheit in diesen drei Bereichen erfragt.

4

Erste Ergebnisse der standardisierten Fachkräftebefragung zu Projektbeginn (t1)

Von den insgesamt 101 Mitarbeiter(innen) in den beteiligten vier Einrichtungen haben N= 54 Fachkräfte an der Befragung teilgenommen. Diese sind mit 66,7 % überwiegend jung (< 40 Jahre). Rund 20% der Fachkräfte (Leitungs- und Fachkräfte mit Projektverantwortung) sind direkt in die Zusammenarbeit mit der wissenschaftlichen Begleitung eingebunden und als Multiplikatorinnen in den jeweiligen Kinder- und Familienzentren tätig. Der überwiegende Teil (87%) der Fachkräfte (n= 53) spricht in der eigenen Familie Deutsch. Über alle Einrichtungen hinweg sprechen die Kinder 36 unterschiedliche Familiensprachen. Mit der Umsetzung der drei Kernthemen der Projektinitiative sind die befragten Fachkräfte zu Projektbeginn weitgehend zufrieden (vgl. Abb. 2).

Abbildung 2: Selbsteinschätzung der Fachkräfte zur Zufriedenheit mit den Projektschwerpunkten (t1)

Betrachtet man neben der Gesamteinschätzung die einzelnen Aktivitätsbereiche, so sieht man, dass die Fachkräfte konkrete Inhalte zu Bildungsmöglichkeiten

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von Eltern mit Zuwanderungsgeschichte bisher kaum realisieren, dagegen die Kitas bereits Elternaktivitäten veranstalten wie z.B. Elterncafés, die zum kurzen Verweilen von Eltern in der Kita einladen. Die aktive Einbindung von Eltern in den pädagogischen Kita-Alltag findet aus Sicht der Befragten noch kaum statt: Eltern lesen bislang eher nicht in einer anderen Sprache in der Kita vor (M= 2,25). Auch nutzen die Fachkräfte bspw. bei der Begrüßung der Kinder eher nicht deren Muttersprachen (M= 2,46). Allerdings geben die Fachkräfte an, Eltern bzw. Kindern Anregungen rund um das Thema Sprache, Sprechen und Lesen für zu Hause mitzugegeben, wie z.B. Brettspiele und Bilderbücher. Zudem gibt ein Großteil der Befragten an, Eltern darin zu bestärken, mit ihren Kindern in der Muttersprache zu sprechen, schreiben und zu lesen (M= 3,89).

Abb. 3: Ausgewählte Ergebnisse zu konkreten Inhalten der Zusammenarbeit (je höchste und niedrigste Einschätzungen der Fachkräfte, t1)

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Diskussion

Mit Blick auf die Bedeutung der Familie als Bildungsort und ihren Einfluss auf die kindliche Entwicklung werden im Projekt die Möglichkeiten der Institution Kinder- und Familienzentrum in den Mittelpunkt gestellt (Schubert et al., in Vorb.; Stöbe-Blossey et al., 2008). Durch eine längerfristige Qualifizierung frühpädagogischer Fachkräfte zur Unterstützung von Sprache und Mehrspra-

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chigkeit im Alltag, zur Zusammenarbeit mit Familien wie auch zur Vernetzung im nahen Umfeld wird langfristig das Ziel verfolgt, die für den institutionellen Kontext in der Qualifizierung erarbeiteten Inhalte (z.B. dialogisches Lesen, literacy-orientiertes Rollenspiel) ins Team der Einrichtung und an die Eltern der Kinder weiterzutragen. Voraussetzung dafür ist der direkte und wertschätzende Kontakt mit Eltern. Die Zwischenergebnisse (t1) der formativen Evaluation zeigen eine weitgehend hohe Zufriedenheit der beteiligten Fachkräfte in den drei Kernbereichen. Dass in der Zusammenarbeit mit Eltern klassische Angebote wie Offene Treffs und Elternveranstaltungen zu pädagogisch relevanten Themen bereits zum Standardrepertoire gehören, zeigt sich auch in anderen Kontexten (z.B. Müller et al., 2015, S. 145). Offen bleibt, von wem diese Angebote genutzt werden. Da (bisher) an spezifische Zielgruppen (Eltern mit Zuwanderungsgeschichte, mehrsprachige Eltern) weniger Angebote gemacht werden, muss dieser Weiterentwicklungsaspekt im Blick bleiben – sowohl hinsichtlich der Möglichkeiten, diese Familien zu erreichen, als auch im Hinblick auf die Gestaltung passgenauer, bedarfsorientierter Angebote für sie (z.B. Faas et al., 2017, S. 191). Im Entwicklungsprozess gilt es, diesen Aspekt weiterhin zu beleuchten und Methoden auszuloten, wie Fachkräfte und Eltern mit verschiedenen Sprachen über niederschwellige Initiativen langfristig in einen intensiv(er)en – auch sprachbildungsbezogenen – Austausch kommen können. Während die Stichprobe nur einen geringen Anteil an mehrsprachigen Fachkräften ausweist, findet sich bei den Kindern und Eltern eine große Vielfalt an Sprachen. Im Hinblick auf konkrete Angebote zur Unterstützung von Sprache und Mehrsprachigkeit im Alltag geben die Fachkräfte an, sowohl familienpädagogische (hier: praktische sprachbildungsbezogene Anregungen) als auch spracherwerbstheoretisch (hier: Förderung der Muttersprache) relevante Aspekte bereits umzusetzen (vgl. Abb. 3). Im Rahmen der Weiterentwicklung kommt der Einbindung der Familiensprachen in den pädagogischen Alltag eine zunehmend wichtige Rolle zu: Eltern können motiviert werden, die Familiensprache (z.B. über das Vorlesen) in die Einrichtung zu bringen. Jedem Kind kann eine Wertschätzung seiner Erstsprache entgegengebracht werden (z.B. durch mehrsprachige Bilderbücher, Beschriftungen oder individuelle Begrüßungen). Einschränkend bleibt anzumerken, dass es sich bei den hier berichteten Zwischenergebnissen um Selbsteinschätzungen von pädagogischen Fachkräften handelt, die keine Aussagen zur Intensität und Qualität der bestehenden Angebote ermöglichen. Im Rahmen der formativen Evaluation sind diese Aspekte aber zentraler Inhalt der Qualifizierungen und Coachinggespräche (Phase 2).

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In einem nächsten Schritt ermöglicht der gewählte Mixed-Methods-Ansatz, die standardisiert erfassten Informationen zum Ist-Stand in den Einrichtungen mit den aus den Gruppendiskussionen inhaltsanalytisch identifizierten Ressourcen, Bedarfen und hinderlichen Faktoren in Verbindung zu setzen. Für die Weiterentwicklung der beteiligten Einrichtungen werden hier konkrete einrichtungsspezifische Ansatzpunkte erwartet, Sprache und Mehrsprachigkeit im pädagogischen Alltag über den Einbezug der Familien und anderer Netzwerkpartner stärker als bisher zu fördern und Best Practice Beispiele abzuleiten, die einen Transfer über die Projektlaufzeit hinaus sowie über die Einrichtungsgrenzen hinweg erlauben.

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8. Fächerspezifische Zugänge

Metasprachliche Kompetenzen von Grundschulkindern. Einschätzungen von Erstklässlern zu pragmatischen Aspekten von Kommunikation Maria Bergau

1 Theoretische Grundlagen zur Metasprache und Pragmatik Metasprachliche Kompetenzen werden hier als Fähigkeit definiert, sich auf Sprache beziehen und Beiträge über Sprache im Dialog einbringen zu können (vgl. Stude 2014: 96f.). Sprachreflexion kann in der Grundschule über Sprachspiele, die Thematisierung von Sprache im Unterricht und begleitend zum Schriftspracherwerb erfolgen (Andresen 2011: 23f.). In metasprachlichen Beiträgen im Bereich Pragmatik beziehen Kinder im Gegensatz zu Sequenzen mit formalen oder semantischen Aspekten „den konkreten Verwendungskontext von Sprache als Gegenstand des metasprachlichen Diskurses ein“ (Stude 2014: 116). Forschungsbedarf besteht zur Frage, inwieweit Kinder pragmatische Kompetenzen im Vorschul- bzw. Schulalter entwickeln und welche Faktoren ihnen bei diesem Erwerbsprozess helfen (Meibauer 2013: 33f.). Die Initiierungen von metasprachlichen Äußerungen im Feld Pragmatik in Gesprächen mit Vorschulkindern gehen fast ausschließlich von Erzieher(inne)n aus (86,7%) (Stude 2014: 147f.). Es ist daher wichtig, pädagogische Fachkräfte für diese Thematik zu sensibilisieren, damit sie ihren Einfluss im Bereich Metasprache aktiv steuern und effektiv einsetzen können.

2 Ziel und Fragestellungen der Studie MetaPra Die in der Analyse fokussierten Fragestellungen lauten: a. Welche Aspekte werden von Erstklässler(inne)n zur Einschätzung der pragmatischen Güte einer Äußerung benannt? b. Ist eine Entwicklung in den thematisierten Aspekten im Verlauf des ersten Schuljahres festzustellen?

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_46

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Maria Bergau

3 Design und Methoden der Studie MetaPra Es kam ein von der Autorin 2014 aus dem Amerikanischen übertragenes Testinstrument zum Einsatz1. Die in diese Studie eingeflossenen Testteile beinhalten Items, bei denen die Kinder für in einem Bilderbuch dargestellte pragmatische Problemsituationen zunächst verbal adäquate Lösungen finden (Hauptfragen) sowie anschließend ihre eigenen Lösungsansätze bewerten und begründen mussten (PE-Fragen = Metasprache Pragmatik). Die Themen der Hauptfragen betreffen personen- und situationsbezogene Sprache, Führung von Gesprächsthemen, Missverständnisse, Durchsetzung von Absichten, Einbezug von Beiträgen sowie nonverbale Kommunikation. Das Kind erörtert in den PE-Fragen, wie es zu seiner sprachlichen Lösung gekommen ist (Erklärungslogik der Antwort2), wie effektiv diese Antwort in einem Dialog sein könnte (Überzeugungskraft der Antwort3) und welche Lösungen für kommunikative Zusammenbrüche (Antwortalternativen4) möglich sind. Die Aussagen von 50 Kindern aus fünf Grundschulen wurden zu zwei Erhebungszeitpunkten in Klassenstufe 1, nämlich im ersten Halbjahr (EZP1) und erneut im zweiten Halbjahr (EZP2), aufgenommen.5 Als Auswertungsmethode für die Transkripte wurde die Grounded Theory (Kuckartz 2014: 46, 67) angewendet und als Tool für die Datenanalyse das Programm MaxQDA gewählt. In der Analyse kristallisierte sich in induktiver Herangehensweise an das Material ein Kategoriensystem mit fünf Dimensionen (Code-Sets z.B. Nonverbale Aspekte Dialog), zehn Konzepten (Oberbegriffe von Kategorien, z.B. Gestik eines Dialogpartners) und vierundzwanzig Kategorien (kleinste Bedeutungseinheit, z.B. Gestik Hörer vs. Gestik Sprecher) heraus.

1 2 3 4 5

Original: Phelps-Terasaki, D. & Phelps-Gunn, T. (2007): TOPL2. Test of Pragmatic Language Second Edition (2. Aufl.). Austin, TX: Pro-Ed. PE-Fragen: Warum hat sie es auf diese Weise gesagt? Wie kommt er darauf, dass die älteren Kinder ihn mitspielen lassen werden? PE-Fragen: Wodurch weißt du, dass das Dinge wieder in Ordnung bringen wird, was Katharina sagt? Wodurch weißt du, dass das funktionieren könnte, was sie sagt/sagen? PE-Fragen: Wie kann er bessere Geschichten erzählen? Wie kann er das Problem (zwischen ihnen) lösen? Beide Erhebungszeitpunkte sind Teil der Längsschnittstudie KoPra (Bergau & Liebers 2015), dort EZP4+6, Merkmale der Stichprobe: EZP 4 (Nov/Dez 2014, N=59, Durchschnittsalter: 6,10), EZP 6 (Jun/Jul 2015, n=60, Durchschnittsalter: 7,5); Datenbasis dieser Analyse: N=50 mit Daten für beide EZPs

369

Metasprachliche Kompetenzen von Grundschulkindern

4 Ergebnisse und Interpretation der Befunde In Abbildung 1 werden die prozentualen Anteile der fünf Dimensionen in den Kindsantworten und die Entwicklung von EZP1 zu EZ2 aufgezeigt6: 33

35

30

30

25

25

20

20 15

12

15

19 12

10

10

24

5 0 Dialogexterne Aspekte

Keine Wertung

Bewertung Dialog

Anteil zu EZP1 in % Abbildung 1:

Nonverbale Aspekte Dialog

Verbale Aspekte Dialog

Anteil zu EZP2 in %

Dimensionen Metasprache Pragmatik 1. Klasse (n=1190)

Auffällig ist, dass der Anteil der Bewertungen des Dialogs von den Kindern der Stichprobe im zweiten Halbjahr der 1. Klasse doppelt so häufig (20%, n= 119) im Vergleich zum ersten Halbjahr (10%, n= 58) angeführt wird. Weiterhin werden Nonverbale Aspekte des Dialogs im 2. Halbjahr in geringerem Maße adressiert (12%, n= 72) als im 1. Halbjahr (19%, n=115). Die Verteilung der zehn ermittelten Konzepte in den Kindsantworten gestaltet sich folgendermaßen über beide Erhebungszeitpunkte hinweg (EZP1: n=590, EZP2: n=600):

6

EZP1= 590 Kindsbeiträge, EZP2= 600 Kindsbeiträge; Keine Wertung = Keine Antwort (Kopfschütteln, Schulterzucken oder Blick senken bzw. wegschauen) oder Keine Begründung (verbal Nichtwissen signalisieren/allgemein gehaltene Bemerkungen z.B. Paraphrasierungen Instruktion); Verbale Aspekte = Form und Effekt von Sprache; Dialogexterne Aspekte = Perspektive Kind, Dritte Person(en), Kontext des Dialogs; Nonverbale Aspekte Dialog = Mimik, Gestik, Emotion, Eigenschaft oder (Nicht-)Handlung der Gesprächspartner(innen); Bewertungen Dialog = Gewinn, Verlust oder Aufgabe der Gesprächspartner(innen)n

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Maria Bergau

35 30 25 20 15 10 5 0

33

12

30

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15 9 8

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Anteil zu EZP1 in % Abbildung 2:

3 2

2 2

4

6 1

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Anteil zu EZP2 in %

Konzepte Metasprache Pragmatik 1. Klasse (n=1190) 

Die Aufgabe von Gesprächspartner(inne)n (Verantwortung Sprecher(in) oder Hörer(in)) wird im 1. Halbjahr fast gar nicht genannt (1%, n=7) und steigt im 2. Halbjahr auf ein anerkennungswürdiges Niveau an (12%, n=69). Schaut man genauer auf diese Veränderung innerhalb des Konzeptes, dann wird deutlich, dass die Kategorie Verantwortung von Hörer(inne)n im 2. Halbjahr von den Kindern wesentlich häufiger angesprochen wird (80%, n=55) als im 1. Halbjahr (29%, n=2).7 Parallel fällt auf, dass die Kategorie (Nicht-)Handlungen von Sprecher(inne)n8 innerhalb des Konzeptes (Nicht-)Handlungen der Gesprächspartner(innen) im 2. Halbjahr fast gar nicht mehr thematisiert wird (18%, n=2) gegenüber der vergleichsweise häufigen Nennung im 1. Halbjahr (86%, n=32). Die meisten Kinder beziehen sich in ihrer Antwort auf die Sprachform des Sprechers (18%, n= 219; Formulierung/Modus einer Äußerung bzw. Ansprache eines Themas9). Des Weiteren ist die Kategorie Perspektive Kind erwähnenswert (10%, n=121), bei der das Kind in seiner Begründung auf ein früheres Erlebnis bzw. einen Erfahrungswert eingeht oder seine eigenen Ansichten her-

7 8 9

Beispiele: „Indem er Entschuldigung sagt und sagen, was er eigentlich machen wollte.“; „Weil sie erst aufräumen muss und dann hat sie Zeit.“ Beispiele: „Indem er wieder zurück geht.“; „Indem sie ihm hilft.“; „Dass er nicht wieder aufsteht.“ Beispiele: „Weil die so lieb fragt.“; „Weil der den am Telefon anbrüllt.“; „Weil er lügt.“

Metasprachliche Kompetenzen von Grundschulkindern

371

vorhebt10. Die Ergebnisse der MetaPra-Studie können folgendermaßen interpretiert werden: Die Kinder zeigen eine sprecherbezogene Gesprächsperspektive und orientieren sich an eher subjektiven Normen des Gesprächsverhaltens. Bei Kindern im zweiten Halbjahr der 1. Klasse entwickelt sich ein Bewusstsein dafür, dass der/die Adressat(in) ein Gespräch maßgeblich beeinflusst.

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10

Beispiele: „Der muss sich mal ausruhen und beruhigen. Ich war auch schon mal so wütend und da hab ich mich ausgeruht und bin auch wieder so geworden.“; „Ja, weil ich das so schön und gut finde. Höflich.“

Orthographisches Wissen von rechtschreibstarken und -schwachen Zweitklässler(inne)n Anna-Katharina Widmer (geb. Hanisch)

1 Theoretischer Hintergrund Wortschreibungen entstehen entweder auf einem direkten Weg, indem sie aus dem inneren orthographischen Lexikon abgerufen werden können, oder auf einem indirekten Weg, indem die Schreibung auf Basis gespeicherten Rechtschreibwissens eigenaktiv konstruiert wird (Zwei-Wege-Modell nach ScheererNeumann 2004). Dieses Rechtschreibwissen teilt sich nach Ossner (2010) in Anlehnung an Mandl, Friedrich und Hron (1986) in vier Arten auf: 1) deklaratives Wissen, 2) prozedurales Wissen, 3) Problemlösewissen und 4) metakognitives Wissen. Deklaratives Wissen umfasst das orthographische Fachwissen, das Definitionen und Rechtschreibregeln beinhaltet, beispielsweise die Unterscheidung zwischen Konsonanten und Vokalen oder Regeln zur Groß- und Kleinschreibung. Prozedurales Wissen meint im Hinblick auf das Rechtschreiben das automatisierte Können, also das routinierte Schreiben, welches implizit verankert ist (Fay & Berkling 2013). Bei der dritten Wissensart, Problemlösewissen, handelt es sich um Problemlösestrategien, welche eine(n) Schreiber(in) dazu befähigt, eine Wortschreibung herzuleiten, z. B. mithilfe der Strategie des Verlängerns oder Ableitens eines Wortes. Als letzte Wissensart führt Ossner (2010) das metakognitive Wissen an. Dies bedeutet im orthographischen Kontext, dass der/die Schreiber(in) die eigenen Fehlerschwerpunkte und die eigenen rechtschriftlichen Fähigkeiten einschätzen kann und Wissen über hilfreiche Lernund Korrekturstrategien (z. B. Umgang mit dem Wörterbuch) erworben hat. Das Orthographiewissen eignen sich die Schüler(innen) im Laufe ihres Orthographieerwerbs auf implizitem und explizitem Weg durch Unterricht, aber auch in externen Situationen, selbst an. Eichler (1991) spricht von einer inneren Regelbildung, die sich aus der individuellen Auseinandersetzung mit der Schrift entwickelt. Dabei handelt es sich um ein individuell konstruiertes Regelsystem, welches vorwiegend unbewusst als eine Art Monitoring bei der Verschriftung eines Wortes fungiert, jedoch nicht zwingend gegenstandsangemessen sein muss (Risel 2011) und eher unterschiedlichen Präkonzepten gleicht, wie unter ande-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Donie et al. (Hrsg.), Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer, Jahrbuch Grundschulforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26231-0_47

Orthographisches Wissen von rechtschreibstarken und -schwachen Zweitklässler(inne)n

373

rem die Ergebnisse der Schüler(innen)interviews von Eckert und Stein (2004), Ruberto, Daigle und Ammar (2016), Wildemann (2013) und Valtin (1986) zeigen. Dies trifft vor allem auf rechtschreibschwächere Schüler(innen) zu. Der Schreibprozess dieser Leistungsgruppe wird oft von inadäquaten Strategien gesteuert (Scheerer-Neumann 2000). Häufig wird suggeriert, unterschiedliche orthographische Phänomene (durch deutliches Sprechen) hören zu können; andere Begründungszusammenhänge, z. B. die Wortverwandtschaft beruhend auf dem morphematischen Prinzip, werden meist wesentlich seltener genannt.

2 Forschungsfragen Der Schwerpunkt der Untersuchungen zum orthographischen Wissen liegt häufig auf der Erschließung der Begründungen der Schüler(innen) für die eigenen Wortschreibungen. Wie jedoch im vorherigen Kapitel dargelegt wurde, umfasst das orthographische Wissen viele Facetten. Für den Beitrag wurde das metakognitive Wissen herausgegriffen, sodass die folgende Forschungsfrage beantwortet werden soll: Inwieweit verfügen rechtschreibstarke und rechtschreibschwache Zweitklässler(innen) über metakognitives Rechtschreibwissen? Zudem wurde untersucht, welche Präkonzepte sich bei rechtschreibstarken und rechtschreibschwachen Zweitklässler(inne)n finden lassen. Oftmals sind die Untersuchungen zum orthographischen Wissen erst in höheren Klassen angesiedelt. Für den Beitrag wurden Präkonzepte für das morphematische Rechtschreibprinzip ausgewählt.

3 Methode Die Untersuchung zum orthographischen Wissen von Zweitklässler(inne)n ist im Projekt ‚Kognitive Aktivierung im Rechtschreibunterricht‘ (Hanisch 2018) eingebettet. Im Rahmen dieses Projekts wurden von der Autorin Rechtschreibinterviews (Hanisch 2014) zu zwei Messzeitpunkten mit je N = 32 Schüler(inne)n aus acht zweiten Klassen durchgeführt. Die Auswahl der Schüler(innen) erfolgte auf Grundlage der Ergebnisse aus der HSP 2+ (May 2014): Aus jeder Klasse wurden zwei rechtschreibstarke und zwei rechtschreibschwache Schüler(innen) für die leitfadengestützten Interviews ausgewählt. Der durchschnittliche Prozentrang (PR) der rechtschreibstarken Schüler(innen) lag über alle Teilbereiche (richtige Wörter, Graphemtreffer, alphabetische Lupenstellen, orthographische Lupenstellen und morphematische Lupenstellen) bei PR = 70.3, bei den rechtschreibschwachen Schüler(inne)n bei PR = 17.6, sodass es sich um einen deutlichen Leistungsunterschied zwischen den beiden Gruppen handelt.

374

Anna-Katharina Widmer (geb. Hanisch)

Die Rechtschreibinterviews beinhalteten Fragen zu allen Wissensarten nach Ossner (2010). Das metakognitive Wissen wurde ermittelt, indem die Schüler(innen) nach ihren Ressourcen zur Unterstützung des Schreibprozesses befragt wurden. Zudem schätzten sie bei Wörtern den Schwierigkeitsgrad sowie ihr eigenes orthographisches Können ein. Daneben mussten beispielsweise deutsche Wörter, aber auch Pseudowörter, von den Schüler(inne)n verschriftet und anschließend die Schreibung begründet, vorgelegte Wortschreibungen hergeleitet, Fehlschreibungen entdeckt und bekannte Rechtschreibregeln und -strategien formuliert werden. Zur Erfassung der morphematischen Präkonzepte wurden alle Aussagen, die aufgrund dieser Leitfrageimpulse entstanden sind, codiert. Die Auswertung der Interviews erfolgte mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2016). Deduktive Kategorien ergaben sich durch den zuvor erstellten Leitfaden, induktiv wurden in einem zweiten Codierdurchlauf Unterkategorien gebildet, die sich aus dem Datenmaterial ergaben. Im Folgenden werden exemplarisch Ergebnisse aus diesen Analysen vorgestellt.

4 Ergebnisse 4.1 Metakognitives Rechtschreibwissen Die Auswertung der Kategorie ‚Selbsteinschätzung‘ ergab, dass 13 der 32 befragten Schüler(innen) ihr eigenes orthographisches Können angemessen, d. h. in Anlehnung an den durchschnittlich erreichten HSP-Prozentrang, einschätzen konnten. Dies gelang rechtschreibstarken Schüler(inne)n häufiger (Nstark = 8 vs. Nschwach = 5). Eine unangemessene Einschätzung war nur in der Gruppe der Rechtschreibschwachen zu verzeichnen: Vier der 16 rechtschreibschwachen Schüler(innen) gingen davon aus, dass sie über gute bis sehr gute orthographische Fähigkeiten verfügten (K29schwach: „Ich weiß, wie Wörter, was wie man die schreibt.“). Weiterhin wurde untersucht, wie gut die Schüler(innen) den Schwierigkeitsgrad von Wörtern einschätzen können, also welche Herausforderungen beim Verschriften möglich sind ( und ) bzw. welches Wort schwieriger zu schreiben ist ( oder ). In dieser Kategorie sind deutliche Gruppenunterschiede erkennbar. Rechtschreibstarke Schüler(innen) machten insgesamt 84 Aussagen, rechtschreibschwache Schüler(innen) 69. Dabei verwiesen Rechtschreibstarke deutlich häufiger auf mögliche Probleme bei der Zuordnung einzelner Phoneme zu Graphemen (z. B. Verwechslung und oder fällt ins Wort< Halt son kleiners (1) Bötchen, wie en Kahn. (25) Malte: Ja, en Kahn vielleicht. En Boot is ja (.) en Boot is ja beziehungsweise nur was nur was aus (.) Holz gebaut is. (26) Pepe: >fällt ins Wort< Nicht immer.

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Matthea Wagener und Daniela Jähn

(27) (28) (29) (30)

Malte: Und en Rand hat Pepe: // Malte: und was man rudert. >schreibt< Pepe: Solche großen es gibt auch andere Boote, wie Kreuzfahrtboote. Das sind auch Bar// Boote, heißt nur Schiffe. (31) Malte: Ja ja Kreuzfah:rt (2) (32) Pepe: Boote. (2) …

Nachdem Malte die Aufgabe vorgelesen hat, äußern beide Jungen spontan eine erste, übereinstimmende Lösung (ein Boot als Möglichkeit, Dinge und Personen über das Wasser zu transportieren). Diese Lösung scheint begrifflich für beide so naheliegend zu sein, dass sie nicht in Frage gestellt und daher auch nicht inhaltlich verhandelt wird. Malte beginnt die Idee als ‚Lösungswort‘ auf dem Arbeitsblatt zu fixieren, obwohl dies von der Aufgabenstellung her nicht gefordert ist. Nachträglich bezeichnet Pepe diese erste Idee als „eine Möglichkeit“, wodurch er einen Denk- bzw. Verhandlungsraum eröffnet, der im Sinne der KoKonstruktion zum Weiterdenken motiviert. Scheinbar tritt Malte in diesen Denkraum ein und entwickelt einen zweiten Lösungsvorschlag, während er schreibt: Es ist auch möglich, ein Schiff als Wasserfahrzeug in Betracht zu ziehen. Diesen Lösungsvorschlag schwächt er von vornherein ab bzw. stellt ihn zur Diskussion („vielleicht“) und verwirft ihn sofort selbst wieder („nee… ist auf jeden Fall zu groß“), ohne dass Pepe zu dieser Idee Stellung bezogen hat. Wir vermuten, dass Malte an dieser Stelle ‚laut denkt‘. Da er sofort eine Begründung nennt, die ihn zum Verwerfen der Idee geführt hat, lässt sich an dieser Stelle eine Reflexion hinsichtlich des Kontextes vermuten – ein großes Schiff passt nicht durch einen schmalen Spreewaldkanal. Malte nimmt Blickkontakt mit seinem Lernpartner auf (Aufrechterhalten des Denkraumes), woraufhin er der Begründung zustimmt und sie zum weiteren Entwickeln von Ideen nutzt. Im Anschluss findet eine Aushandlung statt, die sich auf die Größe eines geeigneten Wasserfahrzeuges bezieht. Die beiden Jungen versuchen, eine ‚Definition‘ zu erarbeiten, indem sie über Fakten verhandeln. Maltes Behauptung, ein Boot bestünde aus Holz, darf Pepe widersprechen. Malte äußert sich zu diesem Widerspruch allerdings nicht. Es bleibt offen, ob Malte den Einwand nicht wahrgenommen hat oder ihn sofort angenommen hat. Man kann vermuten, dass für Pepe das Merkmal ‚besteht aus Holz‘ schon bekannt oder irrelevant für die Begriffsbestimmung des Bootes ist. Malte führt seinen Gedankengang weiter und fügt die Merkmale „was einen Rand hat“ „und was man rudert“ an. Diese beiden Eigenschaften bleiben scheinbar unverhandelt. An dieser Stelle muss offenbleiben, ob Pepe durch seine eigenen Überlegungen, die sich noch einmal rekursiv auf die Begrifflichkeiten Boot – Schiff beziehen, ‚abgelenkt‘ ist und daher Maltes Wortbeitrag nicht weiterverfolgt oder ob ihm die angebrachten Definitionsmerkmale sinnvoll erscheinen und er sie daher ohne Rückmeldung

Sachgespräche in jahrgangsgemischten Lerntandems

419

unhinterfragt annimmt. Denkbar ist auch, dass Pepe die Diskussion anregen und zu weiteren Merkmalen und begrifflichen Abgrenzungen hinsichtlich einer Definition finden möchte. Malte hingegen bezieht sich auf Pepes Äußerung „es gibt auch andere Boote, wie Kreuzfahrtboote. Das sind auch Boote, heißt nur Schiffe“ mit einer Zustimmung, die nicht weiter argumentativ expliziert wird. Dies deuten wir als eine Beteiligung an einem ko-konstruktiven „Definitionsversuch“. An diesem Ausschnitt lässt sich eine sehr anspruchsvolle Ko-Konstruktion anhand des gemeinsamen Arbeitens mit Begriffen und Zusammenhängen herausstellen. Beide Lernpartner verfolgen das selbst gestellte und gemeinsam entwickelte Ziel, zu einer Definition zu finden. Dies gilt für Pepe (erstes Schulbesuchsjahr) ebenso wie für Malte (zweites Schulbesuchsjahr).

6 Fazit und Ausblick Betrachtet man den wechselseitigen Austausch zwischen den beiden Jungen, so zeigt sich die Praxis kollektiver Argumentation als Erfahrungsgegenstand und zugleich als Bedingung der Möglichkeit von Lernen (vgl. Miller 1986: 27). Unabhängig vom Jahrgang bringen beide Jungen ihr Wissen ein, das sie aufgrund einer als positiv zu wertenden Lernbeziehung fachlich verhandeln können. Mit Blick auf die Dimensionen ko-konstruktiven Lernens (vgl. Barron 2000: 403) zeigt sich deutlich die Reziprozität zwischen den beiden Jungen, die sich im Formulieren und Verwerfen von Ideen sowie im Benennen von Fakten und Widersprüchen gestaltet. Gemeinsam fokussieren die beiden Kinder die Aufgabe mit einer sich entwickelnden Zielsetzung. Die Aushandlungsprozesse können unter verschiedenen Perspektiven betrachtet werden: Das fachliche Lernen sowie die soziale Beziehung zwischen den Peers sind als sich wechselseitig bedingend zu betrachten. Wie lassen sich diese Erkenntnisse für die Unterrichtspraxis nutzen? Die mikroskopische Betrachtung einer Unterrichtssequenz ermöglicht, sozusagen in Zeitlupe, das Lernen von Kindern nachzuvollziehen und damit sensibel für die Perspektive von Kindern zu werden. So werden beispielsweise Erwartungen an die Aufgabenbearbeitung irritiert: Bevor ein Wasserfahrzeug erfunden wird, setzen sich die Kinder mit der Begriffsbestimmung (Boot, Schiff) auseinander. Dies erfordert nicht nur eine hohe kognitive Anstrengung, sondern ist darauf ausgerichtet, gemeinsam geteilte Deutungen herzustellen. Damit wird deutlich, welches Lernpotential in Sachgesprächen zwischen Kindern liegen kann, in das Lehrkräfte nicht immer Einblick gewinnen. Diese Potentiale gilt es zu nutzen und zu intensivieren, was voraussetzt, dass das Arbeiten in Lerntandems möglich ist. Denkbar wäre, in Form einer Anschlusskommunikation den Kinder zu

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Matthea Wagener und Daniela Jähn

ermöglichen, ihre Aushandlungen in den Lerntandems der Klassenöffentlichkeit zu präsentieren und ihre Fachsprache weiterzuentwickeln. In Bezug auf die pädagogischen Begründungen der Jahrgangsmischung wird auszudifferenzieren sein, ob oder inwiefern die Kinder selbst die Differenz zwischen dem Älter- bzw. Jüngersein herstellen.

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Brücke(n) zwischen Praxis und Forschung – Eine explorative Sachunterrichtsstudie zu Schüler(innen)vorstellungen zum Thema „Brücken – und was sie stabil macht“ René Schroeder

1 Ausgangspunkte zwischen Forschung und Praxis Der insgesamt hohen praktischen Bedeutsamkeit technischer Bildung für Kinder in einer technisierten Welt (vgl. GDSU 2013) steht eine insgesamt eher unbefriedigende Forschungslage zu Effekten früher technischer Bildung für die Entwicklung von Kindern gegenüber (vgl. Mammes & Zolg 2015: 145). Einzelne Studien zeigen dabei zwar, dass die Bearbeitung komplexer technischer Probleme durch Kinder im Grundschulalter prinzipiell leistbar ist (vgl. bspw. Beinbrech 2005; Möller 1991), jedoch finden sich in der Praxis hierzu eher ungünstige Rahmenbedingungen aufgrund einer nur unzureichenden Qualifizierung der Lehrkräfte sowie einer mangelnden Ausstattung der Schulen für die Vermittlung technischer Bildung (vgl. Möller, Tenberge & Ziemann 1996). Ebenso ist diese ein eher marginalisiertes Thema in den Lernplänen, wenngleich ihr Stellenwert in den letzten Jahren gestiegen ist (vgl. Mammes & Schäffer 2014). Umso notwendiger erscheint es, exemplarische Themen zur Vermittlung technischer Bildungsinhalte zu bestimmen, die darin durch lebensweltliche Nähe, motivationale Anreize und Implikationen zur Handlungsorientierung (vgl. Möller, Lemmen & Zolg 2009) helfen, geeignete Zugängen zur technischen Perspektive des Sachunterrichts (vgl. GDSU 2013) zu eröffnen. Das Thema Brücken – und was sie stabil macht kann hierin durch seine zentrale Verankerung im Perspektivrahmen unter der genannten Zielstellung exemplarische Bedeutung erhalten, zumal bereits verschiedene, didaktisch gut ausgearbeitete Vorschläge zur Umsetzung vorliegen (vgl. z.B. Möller et al. 2009; Lambert & Reddeck 2007). Fachlich lassen sich an der Thematik entlang der unterschiedlichen Konstruktionstypen (z.B. Balkenbrücke, Fachwerkbrücke, echte Bogenbrücke etc.) Grundlagen der Statik (vgl. Mehlhorn, Hoshino & Guido 2014), wie die Herstellung eines stabilen Gleichgewichts über den Ausgleich von auftretenden Druck- und Zugkräften erarbeiten (vgl. z.B. Möller et al. 2009; Lambert & Reddeck 2007). Gleichwohl fehlen bisher Befunde zu

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Schüler(innen)vorstellungen bzw. Präkonzepten zu diesem Bereich, an denen sich sachunterrichtliches Planungshandeln orientieren könnte.

2 Die Brücke in die Forschung – der Projektkontext Zentraler Ausgangspunkt des Projekts ist die leitende Forschungsfrage nach den Vorstellungen (Präkonzepten) von Kindern im Grundschulalter zur Stabilität von Brücken und wie sich diese Vorstellungen durch eine erste unterrichtliche Auseinandersetzung verändern. Ziel ist es, hieraus zentrale (Prä-)Konzepte zu bestimmen und mögliche Niveaustufenunterschiede zwischen den einzelnen Schüler(innen)vorstellungen herauszuarbeiten. Hierzu wurde ein exploratives Prä-Post-Design mit drei dritten Klassen aus drei verschiedenen Bielefelder Grundschulen mit Gemeinsamem Lernen realisiert. In der Vorerhebung wurden die Kinder (n = 61) zu ersten Fragen, gegenstandsbezogenen Schüler(innen)vorstellungen und Vorerfahrungen paarweise interviewt. Daran schloss sich die Durchführung des Unterrichts durch die zuvor vom Projektteam fortgebildeten Lehrkräfte an, wobei für die Durchführung des Unterrichts 9 bzw. 11 Stunden verwandt wurden. Nachfolgend wurden die Kinder (n = 58) erneut paarweise zu ihren zweiten Fragen und den veränderten gegenstandsbezogenen Schüler(innen)vorstellungen interviewt. Die Interviews waren zwecks Vergleichbarkeit in Vor- und Nacherhebung sehr ähnlich angelegt und es wurde sich in der Umsetzung an zentralen Erkenntnissen zur Forschung mit Kindern (vgl. Heinzel 2013) orientiert. So wurden Brückenfotos als Gesprächsimpulse ebenso eingesetzt wie eine freie Konstruktionsaufgabe und spezielle diagnostische Aufgabenformate (vgl. Engelen, Jonen & Möller 2002) zur Erfassung der kindlichen (Prä-)Konzepte. Die Auswertung erfolgte mittels qualitativstrukturierender Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2014) unter Einbezug einer QDA-Software, um kategorial zentrale Konzepte und darin erkennbare mögliche Niveaustufenunterschiede heraus zu arbeiten. Nachfolgend sollen daher zunächst fallübergreifend wesentliche Befunde dargestellt werden, um diese entlang eines Fallbeispiels zu konkretisieren.

3 Stabilität von Brücken – ausgewählte Forschungsbefunde Entlang der kategorialen Auswertung der transkribierten Interviews lassen sich zunächst Teilkonzepte zu den einzelnen Konstruktionselementen in ihrer stabilitätsförderlichen Wirkung herausarbeiten, indem hierfür auf Stützpfeiler, Bogen, Tragbalken, Auskragung, Widerlager, Auflager, Tragwerk, Seile, Pylone oder das Prinzip des stabilen Dreiecks in der Argumentation zur Stabilität von Brücken verwiesen wird. Die Argumentationen und damit verbundene Konzepte der

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Kinder lassen sich über die einzelnen stabilitätsrelevanten Brückenelemente hinweg analytisch auf drei Niveaustufen abbilden (vgl. Abb. 1). Auf dem Niveau A Bauelement wird das jeweilige Bauelement zwar als stabilitätsrelevant benannt, jedoch erfolgt die Argumentation lediglich über das Vorhandensein des Elements ohne weitere Bedingungen anzuführen. Die Argumentation mit weiteren Stabilitätsfaktoren, wie etwa der Position des Bauelements, der Anzahl der Elemente oder deren Durchmesser, lässt sich dann dem Niveau B Stabilitätsfaktoren zu ordnen. Eine differenzierte Argumentation über den Ausgleich der auftretenden Druck- und Zugkräfte über die Konstruktionselemente findet sich dem Niveau C Kraftverteilung zugeordnet, das jedoch in der Stichprobe nur von wenigen Kindern sowohl in Prä- wie auch Posterhebung erreicht wird. Daneben lassen sich dem Niveau X solche Argumentationsmuster zuordnen, bei denen die Stabilität der Brücke noch nicht mit stabilitätsförderlichen Konstruktionselementen für die Ableitung von Druck- und Zugkräften bestimmt wird. Typisch treten hier Vorstellungen zur Stabilität hervor, die diese über Kleben und Haften bzw. Verschrauben erklären oder Stabilität als Materialeigenschaft hervorheben. Diese Befunde im Entwicklungsverlauf zwischen Prä- und Posterhebung sollen nun an einem Fallbespiel aus der Studie veranschaulicht und konkretisiert werden. Hierzu wird das Schülerinnenpaar Elisabeth und Patricia1, beide 8 Jahre alt, ausgewählt, die zu beiden Erhebungszeitpunkten gemeinsam interviewt wurden. Zu Beginn des ersten Interviews berichten beide Mädchen nur über einzelne Vorerfahrungen (9) zum Thema Brücken aus ihrer Lebenswelt. Vorerfahrungen sind primär an die Realbegegnung mit Brücken gebunden und befinden sich auf der Ebene alltagsweltlicher Erfahrungen. In der Vorerhebung begründen sie die Stabilität von Brücken auf dem Niveau X mit dem Kleben und Haften (4) der einzelnen Komponenten oder deren Materialeigenschaft (1), gleichzeitig werden aber auch Seile (3), Tragbalken (1) oder die Auskragung (1) als stabilitätsförderliche Konstruktionselemente auf dem Niveau A bestimmt sowie an einzelnen Stellen im Interview Einflussfaktoren auf die Stabilität der Brücke durch die Anordnung der Stützpfeiler (3) oder die Ausgestaltung des Tragbalken (1) benannt, die dem Argumentationsniveau B zugeordnet werden können. In der Nacherhebung lässt sich hingegen eine Veränderung in den Argumentationsmustern und damit vermutlich auch in den fachlichen Konzepten feststellen. So werden nun mit der Auskragung (4), dem Tragbalken (3), dem Tragwerk (2), Widerlagern (2), dem Bogen (1), Auflager (1), Pylonen (1), Seilen (1), der Traglast (1) und dem Leonardobrückenprinzip (1) sehr viel mehr verschiedene stabilitätsrelevante Konstruktionselemente auf dem Niveau A benannt. Jedoch nicht nur die Quantität an bedeutsamen Elemente nimmt zu, sondern mit dem Bogen 1

Die Namen wurden an dieser Stelle zur Sicherstellung der Anonymität verändert.

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(2), dem Lehrgerüst (1), Seilen und dem Leonardobrückenprinzip (1) tauchen neue Argumentationsmuster und Teilkonzepte für die Stabilität der Brücke auf, mit denen variierend auf dem Niveau B begründet wird. Das Konstruktionsprinzip der Bogen- und der Leonardobrücke treten als neu angeeignete Konzepte in der Argumentation über Druck- und Zugkräfte hervor. Allerdings, und dies spricht für fragmentierte Teilkonzepte, erfolgt die Argumentation häufiger als in der Vorerhebung über die Materialeigenschaft (5), wohingegen die zuvor dominante Argumentationsfigur Kleben und Haften (1) kaum mehr auftritt. Zusammenfassend lässt sich bei den beiden befragten Mädchen damit eine deutliche Erweiterung der Vorstellungen zur Konstruktion von Brücken, insbesondere um das Konzept der Bogenbrücke, erkennen, wenngleich eine differenzierte Argumentation über die Kraftverteilung (Niveau C) noch nicht stattfindet.

Abbildung 1: Niveaustufenmodell Stabilität von Brücken (eigene Darstellung)

Fallübergreifend lassen sich demnach aus dem Interviewmaterial verschiedene Niveaustufen der Konzeptentwicklung identifizieren und bei den befragten Kindern nachweisen (vgl. auch Schroeder 2017). Auf der Ebene der Wahrnehmung, die einer konzeptionellen Auseinandersetzung vorgelagert scheint, wer-

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den Bogen, Stützen und die Nutzung der Brücke (z.B. Autoverkehr) als charakteristische Bestimmungsmerkmale identifiziert. Anknüpfend finden sich die Alltagskonzepte, wonach die Stabilität der Brücke zentral durch das Kleben bzw. Haften der Elemente, die Stützen oder die Materialeigenschaft bestimmt wird. Weiterhin finden sich im empirischen Material als partialisierte bzw. fragmentierte Teilkonzepte für die einzelnen Konstruktionstypen fachliche Argumentationsmuster über die stabilitätsrelevante Bedeutung der Bauelemente (Niveau A), Faktoren zur Optimierung der Stabilität (Niveau B) bis zu einer differenzierten Kraftverteilung im Ausgleich von Druck- und Zugkräften (Niveau C). Die Entwicklung eines generalisierten Konzeptes zur Stabilität von Brücken, bei dem der Ausgleich von Druck- und Zugkräften in Verbindung mit Konstruktionselementen und Materialeigenschaft (Aufnahme von Druck- und Zugkräften durch das Material) erklärt wird, konnte nicht nachgewiesen werden. Zu klären wäre demnach, ob dies durch das Alter der Schüler(innen) bedingt ist oder der angebotene Unterricht nicht genug Lernunterstützung beinhaltete, um diesen Entwicklungsschritt zu vollziehen.

4 Forschung und Praxis überbrücken – einige Schlussfolgerungen Ausgehend von dem zentralen Befund, dass Grundschulkinder grundsätzliche Konstruktionsprinzipien zur Stabilität verstehen und mit diesen teils differenzierter argumentieren können, lassen sich Implikationen unter Perspektive von Forschung und Praxis bestimmen. So verweist die große Heterogenität der kindlichen Vorstellungen und Vorerfahrungen in den Interviews auf die Notwendigkeit einer weitergehenden Forschung zur Konzeptentwicklung mit dem möglichen Ziel, diese in einem empirisch fundierten Kompetenzentwicklungsmodell abzubilden. Insbesondere den feststellbaren Diskontinuitäten und Fragmentierungen in den kindlichen Vorstellungen wird darin verstärkte Aufmerksamkeit zu schenken sein, um Entwicklungsprozesse nicht nur beschreiben, sondern auch Bedingungen für ihre Veränderung deutlicher herauszuarbeiten. Demnach gilt es für die Praxis, lernwirksame Aufgabenformate zur Weiterentwicklung tragfähiger Stabilitätskonzepte zu identifizieren. Für eine gezielte Lernunterstützung im Prozess der Konzeptentwicklung bedürfen Lehrkräfte eines Orientierungsrahmens, der in den empirisch bestimmten Niveaustufen in Ansätzen bereits vorliegt, jedoch valider zu einem echten Kompetenzentwicklungsmodell auszudifferenzieren wäre. Gleichzeitig zeigen die Befunde, dass offene Konstruktionsaufgaben und diagnostische Aufgabenformate auch für den Unterricht

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Möglichkeiten bieten, den notwendigen Zugang zu den Präkonzepten der Kinder zu erlangen, um Lernprozesse gezielter zu unterstützen. Problemorientierte Gesprächssituationen analog zum Interviewkontext bergen dabei das Potential nicht nur Vorstellungen diagnostisch zu erfassen, sondern durch stattfindende kognitive Aktivierung eine Konzeptveränderung anzustoßen.

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Die Relevanz schulischer Kompositionsmerkmale für die Entwicklung mathematischer Kompetenzen am Ende der Grundschulzeit Mario Vennemann, Birgit Eickelmann, Wilfried Bos und Heike Wendt

1 Ausgangslage, theoretischer Hintergrund und forschungsleitende Fragestellungen dieses Beitrages 1.1 Ausgangslage Empirische Schulleistungsstudien haben wiederholt herausgestellt, dass die mathematischen Kompetenzen von Grundschulkindern in substantieller Weise von individuellen Faktoren der Lernenden abhängig sind. In den letzten Jahren hat die Schuleffektivitätsforschung jedoch zusätzlich darauf hingewiesen, dass bei der Erforschung der Determinanten schulischer Kompetenzen ebenfalls Kompositionseffekte zu berücksichtigen sind. Diese sind „dann zu konstatieren, wenn die leistungsmäßige, soziale, kulturelle und lernbiografische Zusammensetzung der Schülerschaft (...) die Leistungsentwicklung (…) beeinflusst“ (Maaz, Baumert & Trautwein 2009: 30). Studien, welche die Relevanz von Kompositionseffekten bei der Entwicklung mathematischer Kompetenzen in der Grundschule untersuchen, sind in Deutschland nicht vorhanden. Mit der Studie ADDITION (A Dynamic Effective Knowledge Base for Quality in Education; Creemers et al. 2013) liegt nun eine Untersuchung vor, mit der die mathematischen Kompetenzen von vierten Klassen mithilfe einer Messwiederholung untersucht wurden. Daher bearbeitet der vorliegende Beitrag die vorstehend genannte Forschungslücke. 1.2 Theoretischer Hintergrund und Einblick in den Forschungsstand Für das Ziel von ADDITION, Faktoren für den Lernzuwachs in Mathematik auf Schüler(innen)-, Klassen- und Schulebene zu untersuchen, wurde für die theoretische Grundlegung der Studie – und so auch für die dieses Beitrages – ein aktuelles Schulwirksamkeitsmodell gewählt: das Dynamic Model of Educational Effectiveness (DMoEE, Creemers & Kyriakides 2008). Das DMoEE ist in dem Sinne als integriertes Modell schulischer Wirksamkeit zu sehen, als dass es auf

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Mario Vennemann, Birgit Eickelmann, Wilfried Bos und Heike Wendt

der Individualebene sowohl psychologische (z.B. Motivation) als auch soziologische Konstrukte (z.B. die soziale Lage der Familie) berücksichtigt. Da bereits vorliegende Befunde auf die substantielle Bedeutung der Unterrichtsqualität aufmerksam machen, wird der Lehrperson auf der Klassenebene des Modells besondere Aufmerksamkeit zuteil. Diesem Verständnis folgend ist es die Lehrkraft, die z.B. durch eine gelungene Strukturierung der Lerninhalte starken Einfluss auf die Unterrichtsqualität ausübt. Auf der Schul- und Kontextebene verorten die Autoren des DMoEE zwei Faktoren, die sich inhaltlich darauf beziehen, a) ob Richtlinien, die sich auf die Unterrichtsqualität oder auf bestimmte Aspekte des Schullebens (z.B. Schüler(innen)absentismus) beziehen, vorhanden sind und b) ob diese Strategien bzw. Richtlinien auch evaluiert werden. 1.2.1 Merkmale der Leistungskomposition und mathematische Kompetenzen in der Grundschule Insgesamt widmen sich nur wenige Studien der leistungsbezogenen Komposition von Grundschulen. In diesem Zusammenhang weisen die Befunde darauf hin, dass ein leistungsfähiges Schulumfeld sich positiv auf künftige schulische Leistungen auswirkt. Diese Beobachtung kann z.B. in den Vereinigten Staaten (Hanushek, Kain & Markman 2003) oder den Niederlanden (De Fraine, Van Damme, Van Landeghem, Opdenakker & Onghena 2003) gemacht werden. 1.2.2 Die soziale Schüler(innen)zusammensetzung und mathematische Kompetenzen in der Grundschule In Untersuchungen zur Relevanz der sozialen Schüler(innen)zusammensetzung wird untersucht, ob der Anteil an Lernenden aus weniger privilegierten Elternhäusern mit der schulischen Leistungsentwicklung in Zusammenhang steht. Die Relevanz der sozialen Schüler(innen)zusammensetzung ist in den USA (Ker 2016) und einigen europäischen Gebieten bzw. Ländern, z.B. Flandern (Belfi, Haelermans & De Fraine 2016) oder den Niederlanden (Driessen 2002), zu beobachten. Während soziale Kompositionseffekte in diesen Ländern bereits erforscht wurden, liegen für Deutschland lediglich Hinweise vor (vgl. Vennemann 2018). Vor diesem Hintergrund werden im vorliegenden Beitrag die folgenden forschungsleitenden Fragestellungen bearbeitet: 1. 2.

Zeigen sich in Bezug auf die mathematische Kompetenzentwicklung am Ende der Grundschulzeit Effekte der leistungsbezogenen oder sozialen Komposition? Welche kompositionsbezogenen Schulmerkmale zeigen auch unter Kontrolle von Schüler(innen)hintergrundmerkmalen einen Effekt?

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2 Stichprobe, Instrumentierung und Analysemethode In ADDITION wurden die mathematischen Kompetenzen von Grundschulkindern zu zwei Messzeitpunkten (MZP) am Anfang und am Ende der vierten Jahrgangsstufe erhoben (Creemers et al. 2013). Die Stichprobe ist als mehrstufig stratifizierte Klumpenstichprobe angelegt worden. In diesem Beitrag werden die Leistungsdaten in Mathematik (beide MZP) sowie die Angaben aus dem Schüler(innen)fragebogen verwendet, mit dem Angaben zum Geburtsland der Eltern und zum kulturellen Kapital erhoben wurden. Neben diesen Angaben werden weiterhin leistungsbezogene und soziale Merkmale der Schüler(innen)zusammensetzung berücksichtigt. So stellt sich das allgemeine Leistungsniveau einer Schule zu MZP I als schulspezifischer Mittelwert der erreichten Testleistungen sowie die Leistungsheterogenität in Mathematik als schulspezifische Standardabweichung dar. Weiterhin stehen als Indikatoren der sozialen Komposition der Anteil der Lernenden mit mehr als 100 Büchern (kulturelles Kapital), die einen Migrationshintergrund aufweisen und deren Eltern einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen (SES), zur Verfügung. Die mathematischen Kompetenzen der Lernenden am Ende der vierten Klasse (MZP II) wurden dabei als Zielvariable in den Regressionsmodellen modelliert. Insgesamt werden für diesen Beitrag die Testleistungen und Hintergrundinformationen von N = 1.117 Grundschulkindern verwendet, die sich nahezu homogen auf beide Geschlechter verteilen (49.4% Mädchen und 50.6% Jungen) und im Median das Geburtsjahr 2000 angeben. Für die Auswertung der Daten wurden Mehrebenenregressionsmodelle gewählt. Diese erklären vorliegende Varianz einer Zielvariablen durch eine oder mehrere Prädiktoren, berücksichtigen jedoch, dass mehrere Beobachtungseinheiten (Lernende) zu denselben Level-2-Einheiten (Schulen) gehören (Raudenbush & Bryk, 2002). Im Rahmen dieses mehrebenenanalytischen Vorgehens wurde ein zweischrittiges Vorgehen gewählt, um die oben angeführten Forschungsfragen zu bearbeiten. In einem ersten Schritt wurde ein sogenanntes Nullmodell ohne Prädiktoren spezifiziert, um den Varianzanteil in den mathematischen Leistungen zu bestimmen, der durch individuelle oder schulische Merkmale erklärt werden kann. Anschließend wurden die individuellen Merkmale der Lernenden und die kompositionsbezogenen Merkmale der Schulen zusammen modelliert. Fehlende Werte wurden in diesem Zusammenhang durch die in der Analysesoftware Mplus 7 standardmäßig implementierte Full Information Maximum Likelihood Prozedur (FIML) modellbasiert imputiert.

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3 Ergebnisse: Kompositionseffekte beim Erwerb mathematischer Kompetenzen in der vierten Klasse 3.1 Schulische Merkmale und mathematische Kompetenzen im letzten Jahr der Grundschule Die Analysen ohne Prädiktoren zeigen, dass ein großer Teil der Unterschiede in den mathematischen Testleistungen der Viertklässler(innen) durch Schulmerkmale erklärt werden kann. Die Intraklassenkorrelation beträgt ρMathe = .178. In Mathematik kann also etwa 18 Prozent der Varianz in den Leistungen der Lernenden am Ende der vierten Klasse durch Merkmale der Schule erklärt werden. Damit sind jedoch in der Art einer Maximalschätzung sämtliche Schulmerkmale angesprochen. Da jedoch Kompositionsmerkmale lediglich ein Schulmerkmal sind, wird im Folgenden untersucht, inwieweit diese relevant sind, wenn sie unter Kontrolle individueller Merkmale modelliert werden. 3.2 Effekte der Schülerzusammensetzung und Effekte individueller Merkmale im Vergleich Ohne die Kontrolle von Kovariaten auf der Schulebene (Modell 1) zeigen der Migrationshintergrund (b = -10.1; p < .05) sowie das kulturelle Kapital der Lernenden (b = 9.2; p < .10) einen Einfluss auf die mathematischen Kompetenzen am Ende der vierten Klasse (MZP II). Weiterhin hängen die mathematischen Leistungen am Ende der vierten Klasse – durchaus erwartbar – mit den Leistungen der Schüler(innen) am Anfang der vierten Klasse zusammen (b = 0.6; p < .05). Dieser signifikante Zusammenhang wird sowohl durch die Höhe des Regressionsgewichtes als auch durch die erklärte Gesamtvarianz deutlich. In Modell 2 werden die individuellen Merkmale der Lernenden sowie die leistungsbezogenen Merkmale der Schüler(innen)komposition simultan modelliert. Hier zeigt sich, dass auf der Individualebene die gleichen Prädiktoren einen signifikanten Beitrag zur Erklärung der Varianz in den mathematischen Testleistungen der Lernenden leisten, wie auch in Modell 1. Zusätzlich kann auf der Schulebene das mittlere Niveau der mathematischen Leistungen am Anfang der vierten Klasse als signifikanter Prädiktor identifiziert werden (b = 0.2; p < .05). Die Leistungsheterogenität in Mathematik weist in diesem Modell keinen Zusammenhang mit den mathematischen Kompetenzen am Ende der vierten Klasse auf. In einem letzten analytischen Schritt wurden zusätzlich zu den individuellen Merkmalen und den leistungsbezogenen Indikatoren der Schule Merkmale der sozialen Schüler(innen)zusammensetzung berücksichtigt (Modell 3). Hier ist unter Kontrolle der vorgenannten Variablen zu beobachten, dass auf der Individualebene lediglich der Migrationshintergrund der Lernenden in ei-

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nem negativen Zusammenhang steht (b = -10.4; p < .05) und weiterhin, dass das mathematische Vorwissen einen signifikanten Zusammenhang mit den mathematischen Kompetenzen am Ende der vierten Klasse beibehält (b = 0.6; p < .05). Betrachtet man die Merkmale der Schüler(innen)zusammensetzung, so ist zu beobachten, dass einzig das mittlere Leistungsniveau der Schule am Anfang der vierten Klasse einen signifikanten Zusammenhang mit den mathematischen Kompetenzen am Ende der vierten Klasse aufweist. Im Vergleich zu den leistungsbezogenen Schulmerkmalen zeigen sich allerdings keine Effekte der sozialen Komposition (z.B. Anteil der Lernenden mit Migrationshintergrund).

4 Diskussion Insgesamt unterstreichen die Ergebnisse der Analysen, dass den individuellen Hintergrundmerkmalen von Grundschulkindern beim Erwerb mathematischer Kompetenzen eine große Bedeutung zukommt. So stellt sich der Migrationshintergrund der Grundschulkinder als signifikanter Prädiktor für mathematische Kompetenzen am Ende der vierten Klasse heraus. Gleichzeitig weisen die Befunde für den mathematischen Kompetenzbereich auf die Relevanz des Vorwissens hin: Das mathematische Vorwissen der Grundschulkinder hat sich als Prädiktor herausgestellt, der die Leistungen am Ende der vierten Klasse signifikant vorhersagen kann. Über diesen Effekt hinaus zeigt sich das Vorwissen jedoch auch auf der Schulebene als bedeutsam, und zwar als allgemeines Leistungsniveau in Mathematik, welches über das individuelle Vorwissen hinaus einen Effekt ausübt. In der Zusammenschau bedeutet dies aber auch, dass es Schüler(innen)gruppen gibt, die in diesem Zusammenhang als doppelt benachteiligt angesehen werden können. Gerade vor dem Hintergrund einer gestiegenen Flüchtlingsmigration sind es ebendiese Lernenden, die sowohl von einem Effekt des Migrationshintergrundes als auch von dem Effekt des Vorwissens benachteiligt werden. Ein positiv zu bewertender – und nicht auf den ersten Blick erwartbarer – Befund ist, dass in Mathematik die Leistungen der Grundschüler(innen) am Ende der vierten Klasse weder durch die Leistungsheterogenität noch durch die soziale Zusammensetzung der Schüler(innen)schaft vorhergesagt werden können. Einschränkungen bestehen in der vorliegenden Untersuchung beispielsweise in der Operationalisierung des SES. Hier wurde als Indikator der berufliche Status der Eltern zu Grunde gelegt. In künftigen kompositionsbezogenen Untersuchungen wird es hier darauf ankommen, schon auf der Individualebene validere Instrumente zu administrieren, um nicht nur die Existenz, sondern auch die zugrundeliegenden Mechanismen von Kompositionseffekten genauer untersuchen zu können.

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Mario Vennemann, Birgit Eickelmann, Wilfried Bos und Heike Wendt

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