Geselligkeiten: Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert

Welchen Anteil haben die vielfältigen Geselligkeiten im 18. Jahrhundert an der Transformation von der ständisch struktur

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Geselligkeiten: Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert

Table of contents :
Vorwort
I. Methodische Grundlegung des Geselligkeitsbegriffs
1. Gesellschaft – Gemeinschaft – Geselligkeit: Der Geselligkeitsbegriff in der Forschung
1.1. Die Verfallsthese in der Kulturgeschichte
1.2. Gesellschaftslehre und Soziologie: Geselligkeit als historische Erscheinung oder als anthropologische Konstante?
1.3. Literarische und poetische Aspekte des Geselligkeitsbegriffs in der Literaturwissenschaft
2. Literaturwissenschaft und Mentalitätsforschung
2.1. Strukturen und Brüche in der Geschichte – Der Wandel von Mentalitäten
2.2. Die Rolle der Generation beim Wandel von Mentalitäten
2.3. Mentalitäten in der Literatur
II. Die Geburt eines neuen Gelehrtenideals aus der modernen Verhaltensethik: Thomasius’ ›Discours zu welcher Gestalt man denen Franzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen sollte‹
1. Sozialgeschichtliche und ideengeschichtliche Voraussetzungen von Thomasius’ ›Discours‹
1.1. Geschicklichkeit und Wissenschaftsreform bei Thomasius
1.2. ›Wahre Galanterie‹ und soziale Ausweitung der Gelehrsamkeit
1.3. Adiaphora und Decorum: Einfallstore der Moderne
2. Naturrecht und konversationelle Geselligkeit in Thomasius’ ›Monats-Gesprächen‹
2.1. Journaltheorie und doppelte Gesprächsgeselligkeit in den ›Monats-Gesprächen‹
3. Verhaltensethik und Erzählgeselligkeit in Johann Beers ›Die teutschen Winter-Nächte‹
3.1. Beers Auseinandersetzung mit dem Pikaro-Roman
3.2. Wahre Satire und ›prudentia domestica‹
3.3. Sozialisation durch geselliges Erzählen
III. Die Kleinigkeiten des Glücks: Die Moralischen Wochenschriften ›Der Patriot‹ und ›Der Gesellige‹
1. Die Provokation des Komparativs: ›Der Patriot‹ und die ›Patriotische Gesellschaft‹ in Hamburg
2. Geschichtsoptimismus und Perfektibilität der ›Weltkinder‹: ›Der Gesellige‹
3. Die ästhetische Theorie der ›Kleinigkeiten‹ – Die Herausbildung des Geschmacksurteils in der ›geselligen Ordnung‹
IV. Die Geschichtlichkeit menschlicher Vereinigungen und Staatsformen (1750–1770)
1. Die produktive Provokation: Rousseaus Zivilisationskritik und ihre Folgen für die Geselligkeitsdiskussion um 1750
2. Rousseaus Radikalisierung zeitgenössischer Verhaltens- und Gesellschaftstheorien
3. Rousseaus Geselligkeitsideale: Kleinstaat und Fest
4. Ein ›tournant décisif‹ in der französischen Sozietätsbewegung
5. Das ›sentiment de l’humanité‹ als neue Grundlage der Geselligkeit bei Pluquet
6. Dynamisierung der Geschichtsauffassung: Geselligkeit als prozeßhafte Selbstorganisation der Gesellschaft bei Iselin
7. Die Ausbildung eines neuen Lebensstils – Herders ›Republik für die Jugend‹
V. Patriotische Organisationsversuche um 1770
1. Die ›societas subcriptionum‹ der Gelehrten: Klopstocks Selbstverlagsidee und die ›Deutsche Gelehrtenrepublik‹
2. Nationale Defizienz und Handlungsbegriff
3. Die ›Abschaffung der Trauer‹ – Eine Revolution nicht nur im alltäglichen Umgang
4. Stiftung einer poetischen und nationalen Identität durch Geselligkeit – Das Gemeinschaftserlebnis im ›Göttinger Hain‹
5. Gesellige Gespräche des Autors mit dem Leser (Goethe, La Roche, Wieland)
VI. Krise und Neuorientierung von geselligem Verhalten im Zeichen von deutscher Spätaufklärung und Französischer Revolution
1. Das Rumoren gegen Etikette und Zeremoniell in aufklärerischen Zeitschriften um 1790
2. Die Dialektik von Freimaurerei und Spätaufklärung
3. Die Ambivalenz spätaufklärerischer Umgangslehren: Knigges ›Über den Umgang mit Menschen‹ (1788/90)
4. Frühromantische Neubestimmung des Menschen im Spannungsfeld von Individuation und Geselligkeit: Schleiermachers ›Versuch einer Theorie des geselligen Betragens‹ und ›Reden über die Religion‹
VII. Sozietäre Modelle regionaler Kultur
1. Die Berliner Aufklärergesellschaften und Salons: Ein Generationsbruch in der deutschen Sozietätsbewegung
2. Fürstenerziehung im Gruppenmaßstab: Der Weimarer ›Musenhof‹ der Anna Amalia und Goethes ›Freitagsgesellschaft‹
3. Fragment-Charakter des Menschen und Poetisierung des Lebens als neue Einheitsstiftung – Das gesellige Lebensexperiment und die Theorie einer kulturellen Vielfalt der Jenaer Frühromantiker
4. Neuansätze zu einer politischen Kultur in Deutschland – Mainzer Republik, Regionalismus und Republikanismus-Debatte
VIII. Poetische Geselligkeitsentwürfe um 1800
1. Metamorphosen der Poesie: Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹
2. Gestaltwandel durch Geselligkeit – Goethes ›Märchen‹
3. Die Welt als Chaos – Gesellige Liebe als poetisches Ordnungskonzept bei Friedrich Schlegel
4. Literarische Frontenbildung und Schlegels Poetenrepublik im ›Gespräch über die Poesie‹
IX. Rückblicke und Ausblicke
X. Literaturverzeichnis

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Band 153

Emanuel Peter

Geselligkeiten Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Peter, Emanuel: Geselligkeiten : Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert / Emanuel Peter. - Tübingen : Niemeyer, 1999 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 153) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-484-18153-2

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: pagina G m b H , Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik G m b H , Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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I.

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Methodische Grundlegung des Geselligkeitsbegriffs ι. Gesellschaft - Gemeinschaft - Geselligkeit: Der Geselligkeitsbegriff in der Forschung ι. ι. Die Verfallsthese in der Kulturgeschichte 1.2. Gesellschaftslehre und Soziologie: Geselligkeit als historische Erscheinung oder als anthropologische Konstante? 1.3. Literarische und poetische Aspekte des Geselligkeitsbegriffs in der Literaturwissenschaft 2. Literaturwissenschaft und Mentalitätsforschung

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2.1.

II.

Strukturen und Brüche in der Geschichte - Der Wandel von Mentalitäten 2.2. Die Rolle der Generation beim Wandel von Mentalitäten

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2.3.

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Mentalitäten in der Literatur

Die Geburt eines neuen Gelehrtenideals aus der modernen Verhaltensethik: Thomasius' >Discours zu welcher Gestalt man denen Franzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen sollte
Monats-Gesprächen< 2.1. Journaltheorie und doppelte Gesprächsgeselligkeit in den >Monats-Gesprächen
Die teutschen Winter-Nächte< 3.1. Beers Auseinandersetzung mit dem Pikaro-Roman . . 3.2. Wahre Satire und >prudentia domestica< 3.3. Sozialisation durch geselliges Erzählen

68 70 75 80

III. Die Kleinigkeiten des Glücks: Die Moralischen Wochenschriften >Der Patriot< und >Der Gesellige
Der Patriot< und die Patriotische Gesellschaft in Hamburg 2. Geschichtsoptimismus und Perfektibilität der >WeltkinderDer Gesellige< 3. Die ästhetische Theorie der >Kleinigkeiten - Die Herausbildung des Geschmacksurteils in der >geselligen Ordnung< . .

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IV. Die Geschichtlichkeit menschlicher Vereinigungen und Staatsformen (1750-1770)

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ι. Die produktive Provokation: Rousseaus Zivilisationskritik und ihre Folgen für die Geselligkeitsdiskussion um 1750 . . z. Rousseaus Radikalisierung zeitgenössischer Verhaltens- und Gesellschaftstheorien 3. Rousseaus Geselligkeitsideale: Kleinstaat und Fest . . . . 4. Ein >tournant décisif: in der französischen Sozietätsbewegung j. Das >sentiment de Fhumanité< als neue Grundlage der Geselligkeit bei Pluquet 6. Dynamisierung der Geschichtsauffassung: Geselligkeit als prozeßhafte Selbstorganisation der Gesellschaft bei Iselin . 7. Die Ausbildung eines neuen Lebensstils - Herders >Republik für die Jugend< V.

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116 119 123 129 133 136 14;

Patriotische Organisationsversuche um 1770 ι. Die >societas subcriptionum< der Gelehrten: Klopstocks Selbstverlagsidee und die >Deutsche Gelehrtenrepublik< 2. Nationale Defizienz und Handlungsbegriff

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. .

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3. Die >Abschaffung der Trauen - Eine Revolution nicht nur im alltäglichen Umgang

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4. Stiftung einer poetischen und nationalen Identität durch Geselligkeit - Das Gemeinschaftserlebnis im >Göttinger Hain< .

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5. Gesellige Gespräche des Autors mit dem Leser (Goethe, La Roche, Wieland) . . '.

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VI. Krise und Neuorientierung von geselligem Verhalten im Zeichen von deutscher Spätaufklärung und Französischer Revolution ι. Das Rumoren gegen Etikette und Zeremoniell in aufklärerischen Zeitschriften um 1790 2. Die Dialektik von Freimaurerei und Spätaufklärung . . . . 5. Die Ambivalenz spätaufklärerischer Umgangslehren: Knigges >Über den Umgang mit Menschen< (1788/90) 4. Frühromantische Neubestimmung des Menschen im Spannungsfeld von Individuation und Geselligkeit: Schleiermachers >Versuch einer Theorie des geselligen Betragens< und >Reden über die Religion< VII. Sozietäre Modelle regionaler Kultur ι. Die Berliner Aufklärergesellschaften und Salons: Ein Generationsbruch in der deutschen Sozietätsbewegung 2. Fürstenerziehung im Gruppenmaßstab: Der Weimarer >Musenhofc der Anna Amalia und Goethes >Freitagsgesellschaft< 3. Fragment-Charakter des Menschen und Poetisierung des Lebens als neue Einheitsstiftung - Das gesellige Lebensexperiment und die Theorie einer kulturellen Vielfalt der Jenaer Frühromantiker 4. Neuansätze zu einer politischen Kultur in Deutschland Mainzer Republik, Regionalismus und Republikanismus-Debatte VIII. Poetische Geselligkeitsentwürfe um 1800 ι. Metamorphosen der Poesie: Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewandertem 2. Gestaltwandel durch Geselligkeit - Goethes >Märchen< . . 3. Die Welt als Chaos - Gesellige Liebe als poetisches Ordnungskonzept bei Friedrich Schlegel 4. Literarische Frontenbildung und Schlegels Poetenrepublik im > Gespräch über die Poesie
Der Gesellige< (1748) entwerfen Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier das Ideal eines geselligen Menschen mit den Worten: Ich verstehe unter einem geselligen Menschen, einen solchen, der sich in seiner innern und äussern Einrichtung nicht als einen einzelnen Menschen, sondern im beständigen Zusammenhange mit seinen Nebenmenschen betrachtet, und sich daher in seinen Handlungen so zu verhalten bestrebet, daß er zu dem allgemeinen Wohl so viel möglich beytrage, um des allgemeinen Wohls insbesondere theilhaftig zu werden.

Damit sich der Mensch »als ein Glied in einer Kette (versteht, das), zu dem gemeinen Wesen das Seinige beyträget und beytragen muß«', statten ihn die beiden Herausgeber mit Eigenschaften wie Redlichkeit, Munterkeit, witzigem Scherz, kluger Mäßigung, Bescheidenheit, Verschwiegenheit, Mitleiden, Geduld, Nachsicht, Vertraulichkeit und Behutsamkeit aus. Geselligkeit wird als anthropologische Eigenschaft angesehen, die mit der göttlichen Vorsehung übereinstimmt und dem Menschen die gemeinschaftliche Erfüllung von Pflichten und einen entsprechenden Verhaltenskodex auferlegt. In der Spannung zwischen gesellschaftlichen Pflichten einerseits und der Verheißung von irdischem Glück für den einzelnen andererseits, zwischen zweckbestimmter, handlungsorientierter Sozietät und zweckfreier, ästhetischer Zusammenkunft, zwischen kleinem, vertrautem Zirkel und einer umfassenden >Selbstconstitution der Gesellschaft (Herder) entfaltet sich vom Ausgang des 17. Jahrhunderts bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts unter dem Stichwort Geselligkeit eine der zentralen Debatten, die maßgeblich den Weg in unsere heutige Moderne prägt. Nicht zu Unrecht ist das 18. Jahrhundert deshalb in der Forschung gelegentlich als das >gesellige Jahrhunderfc (Im Hof) par excellence bezeichnet worden. Schon häufiger sind in den letzten Jahrzehnten die vielfältigen Formen der Geselligkeit wie familiäre Feiern, Freundschaftsbünde, Fasnacht und Feste mit ihren unterschiedlichen Symbolen, Riten und Konventionen ' Der Gesellige. Eine Moralische Wochenschrift herausgegeben von Samuel G o t t hold L a n g e und G e o r g Friedrich Meier, neu herausgegeben von Wolfgang Martens, Hildesheim 1987, 6 Bände, Bd. 1, 1. Stück, beide Zitate S. z.

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von der empirischen Kulturwissenschaft, der Soziologie und der Literaturwissenschaft untersucht worden. Die vorliegende Untersuchung stützt sich nach Möglichkeit auf deren Ergebnisse und konzentriert sich bewußt auf den engen Zusammenhang zwischen Gruppenbildung und Geselligkeitsdiskussion im 18. Jahrhundert in Deutschland und Frankreich. Trotz anderer, überzeugender Periodisierungsvorschläge für die Festkultur im Zeitraum 1580 bis 1730 2 liegen die Zeitgrenzen der vorliegenden Studie zwischen dem Ausgang des Dreißigjährigen Krieges und den Napoleonischen Expansionskriegen. Modernes Naturrecht der Geselligkeit, Konzepte der Versittlichung durch Bildung und der >freien Assoziation« stellen einen entscheidenden Schritt in der Ablösung von feudalen Zwangskorporationen dar, die es dem modernen Individuum ermöglichen, zunächst im Schutz einer Gruppe seine Fähigkeiten, Meinungen und Verhaltensweisen gegenüber kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten zu entwickeln und schließlich selbstbewußt und selbstbestimmt Regierungs- und Gesellschaftsformen zu gestalten. Im Zentrum dieser Studien steht deshalb die Rekonstruktion der Debatte über Geselligkeit, die seit der Antike verschiedene und häufig sehr eigenständige Traditionslinien in Bereichen wie Anthropologie, Verhaltensethik, Erkenntnistheorie, Rhetorik, religiöse und weltliche Gruppen- und Gesellschaftstheorie und gesellige Erzählformen besitzt und sich keineswegs auf den wichtigen Impuls, den die Geselligkeit vom modernen Naturrecht seit Hobbes, Grotius und Pufendorff erhält, verkürzen läßt. Vielmehr findet in der Geselligkeitsdiskussion im 18. Jahrhundert eine produktive Anverwandlung der Konzepte aus der Antike und der Renaissance statt, um diese für neue Bereiche und neuformulierte Problemfelder nutzbar zu machen, ζ. B. für die Diskussion über den Geschmack, über gemeinschaftliche und invididuelle Perfektibilität, über Perzeption, über kulturelle Vielfalt und über gesellschaftliche Organisationsformen (Ausdehnung ihrer sozialen Träger, Historizität und naturgemäße Transformation). Den Ausgangspunkt bildet die Frage, welche gesellschaftlichen Prozesse und Erfahrungen die Geselligkeit zu einem der wichtigsten Ordnungskonzepte im 18. Jahrhundert werden lassen. In welchen größeren Zusammenhängen trägt die Diskussion über Geselligkeit zur Transformation feudaler Gesellschaftsstrukturen und zur Selbstbestimmung des Individuums bei? Wie verändern sich Formen, innere Strukturen, weltanschauliche Grundlagen und soziale Träger der geselligen Gruppenbildungen im Laufe des Jahrhunderts? Inwiefern werden durch Geselligkeit Wertvorstellungen überliefert, verändert und neue kulturelle Werte etabliert? Welche Rolle spielen J

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Vgl. Jörg Jochen Berns, Die Festkultur der deutschen Höfe zwischen 1580 und 1730. Eine Problemskizze in typologischer Absicht, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 54 (1984), S. 295—311, besonders S. 296—299.

gesellige Erzählformen und das gesellige Gespräch zwischen Autor und Leser für den Wandel kultureller Werte? Soweit Geselligkeit bisher Gegenstand der Forschung gewesen ist, unterlag sie häufig der eingeschränkten Perspektive der jeweiligen Fachwissenschaft und ihrer spezifischen Fragestellungen. Hier wird der Versuch unternommen, den umfassenden und komplexen Zusammenhängen von Geselligkeit im ι8. Jahrhundert gerecht zu werden. Dies fuhrt zu unterschiedlichen methodischen Zugängen zum Gegenstand, zu Ansätzen einer in der Forschung mittlerweile etablierten Interdisziplinarität, deren Notwendigkeit und Nutzen angesichts der synchronen »Gleichzeitigkeit von unterschiedlich entwickelten und kaum miteinander kommunizierenden Geselligkeitsformen« im 17. Jahrhundert kürzlich Wolfgang Adam betont hat. Dabei bleibt es dem Urteil des Lesers überlassen, ob die Untersuchung zur Geselligkeit im 18. Jahrhundert den weiterentwickelten Ansprüchen von Interdisziplinarität schon entspricht, wie sie Adam formuliert: »Interdisziplinäres Arbeiten wird nicht als Addition von Einzelergebnissen verstanden, sondern als Lösungsversuch übergeordneter Fragestellungen mit unterschiedlichen, auch konkurrierenden Methoden.« 5 Für beide Jahrhunderte gilt jedoch, daß die Untersuchung der praktischen Gruppenbildung und der theoretischen Debatte über Geselligkeit mit einer heuristischen Begriffsbildung beginnen sollte, um eine Arbeitsplattform zu erhalten, die die vielfarbigen und schillernden Facetten der historischen Begrifflichkeit miteinander verknüpfen und ihren inneren Zusammenhang erfassen kann. Sicherlich wird der Leser auch auf Texte von bekannten Autoren und Autorinnen wie Lessing, Sophie LaRoche, Wieland, Goethe und Friedrich Schlegel treffen. Der Reiz des Wiedererkennens könnte darin liegen, sie in die gesellschaftspolitische Diskussion in Zeitschriften aus den zwanziger, vierziger und neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts eingebettet zu finden. Indem Romane, populärphilosophische Zeitschriften und theoretische Werke aufeinander bezogen werden, wird das enge Wechselspiel zwischen theoretischer Reflexion, literarischer Idealisierung und praktischer Gruppenbildung mit so verschiedenen Formen wie Lesegesellschaft, Geheimbund, Dichtergruppe, Jugendbund, Volksgesellschaft, Salon und literarische Werkstatt transparenter. Eine ebenso spannungsgeladene wie intensive Wechselbeziehung hinsichtlich des Geselligkeitsdiskurses besteht zwischen französischen und deutschen Autoren: Französische Hegemonie und deutsche Defizienz auf

' Wolfgang A d a m , Geselligkeit und Gesellschaft ¡m Barockzeitalter. E i n f ü h r u n g in die Konzeption der Tagung, in: ders. (Hrsg.), Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 28), Wiesbaden 1997, 2 Bde., Bd. 1, S. 1 - 1 6 . Die Zitate finden sich auf den Seiten 6 und 7.

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kultureller Ebene, Zentralismus und regionaler Partikularismus auf gesellschaftlicher und staatlicher Ebene heißen die Stichworte, die von der Q u e relle des Anciens et des Modernes< um 1690 bis über die Französische Revolution hinaus in beiden Ländern vorherrschen. In diesem Zusammenhang werden neben Autoren wie Fontenelle, Montesquieu, Rousseau und Diderot auch weniger bekannte Schriften von Buffier und Pluquet in ihrer Bedeutung für die deutsche Diskussion wiederentdeckt. Einen abschließenden Schwerpunkt setzt die Untersuchung mit dem geschichtlichen Nebeneinander verschiedenartiger und miteinander konkurrierender Geselligkeiten um 1790. In der Gleichzeitigkeit des Weimarer Musenhofes, der Berliner Mittwochsgesellschaft, der Mainzer Volksgesellschaften, der Berliner Salons und der Jenaer Geselligkeit der Frühromantiker treten die jeweiligen Eigenarten, Traditionslinien und Konventionsbrüche plastisch hervor und machen deutlich, daß »die« Geselligkeit immer ein Beziehungsgeflecht unterschiedlichster Gruppenformen und Ideale meint.

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I. Methodische Grundlegung des Geselligkeitsbegriffs

Ein allgemeinwissenschaftlicher Begriff von Geselligkeit ist bis heute ein Desiderat in der Forschung. Inhaltliche Bestimmung, zeitliche Ausdehnung und Abgrenzung sind in den einzelnen Fachdisziplinen strittig, der Begriff wird häufig auf die jeweiligen Fragestellungen und Perspektiven des Fachs eingeschränkt. Die folgende Aufarbeitung der Forschungsdiskussion geschieht deshalb mit den Zielen, verschiedene methodische Zugänge zur Erforschung der Geselligkeit aufzuzeigen, den Gegenstandsbereich dieser Studie genauer zu bestimmen und Ansätze zu einem modernen wissenschaftlichen Begriff zu formulieren.'

ι. Gesellschaft - Gemeinschaft - Geselligkeit: Der Geselligkeitsbegriff in der Forschung Bereits bei einem exemplarischen Durchgang durch gängige Fachwörterbücher zeigt sich die Problematik fachspezifischer Beschränkungen. Bühlow (i9Ó9) z stützt sich in seinem Artikel >Geselligkeit auf die Soziologie Simmeis und Vierkandts, indem er die Geselligkeit als > Spielform der Vergesellschaftung< und als ästhetisches Spiel< charakterisiert, die unter soziologischem Aspekt Fragen nach den Formen (Zwanglosigkeit, Konvention, Takt) und nach Quantität und Qualität von Gruppenbildungen aufwirft. Aus philosophischer Sicht unterscheidet Hinrichs' vier Aspekte: den sozial-

' Eine umfassende Begriffsgeschichte der >Geselligkeit< fehlt bis heute. Vorarbeiten finden sich bei Fritz Schalk, Uber Societas und Société, in: D V j S 25 ( 1 9 5 1 ) , S. 387-392 und bei Henry F. Fullenwider, >Sozial< und Sozialität« bei A u g u s t Friedrich Müller ( 1 6 8 4 - 1 7 6 1 ) , in: Neophilologicus 71 (1987), S. 634-637. D a s enorm breite Begriffsfeld unter Ausschluß der Verhaltensethik zeigt für den deutschen Sprachraum Manfred Riedel, Art. G e s e l l s c h a f t , Gemeinschaft«, in: Otto Brunner u. a. (Hrsg.), Geschichtliche G r u n d b e g r i f f e , Stuttgart 1975, Bd. 2, S. 801-862, bes. S. 8 0 1 - 8 1 0 . 2

Art. >Geselligkeit< (Fr. Bühlow); in: Wilhelm Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1969, S. 354-355.

' Art. >Geselligkeit, gesellig« (W. Hinrichs); in: J o a c h i m Ritter (Hrsg.), Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1974, Bd. 3, Sp. 456-458.

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ethisch-ästhetischen (Verhaltensethik), den pädagogischen (Bildungsbegriff), den theoretischen (Konversationstheorie und Gruppensoziologie) und den soziologisch-sozialpsychischen Aspekt (Gesellschaftslehre und Gruppenpsychologie). Während Bühlow und Hinrichs den historischen Bezugsrahmen der Geselligkeit von der Antike über die Renaissance, Aufklärung und Romantik bis zur Gegenwart abstecken, wird von den Herausgebern der Geschichtlichen Grundbegriff« Geselligkeit nicht als eigenständige Kategorie aufgefaßt, sondern in den Artikeln >Gesellschaft, Gemeinschaft (Riedel, 1975) und >Verein< (Hardtwig, 1990) als historisch spezifische Erscheinung des 18. Jahrhunderts behandelt. Aus der Sicht der neuen Vereinsforschung führt Hardtwig 4 das >neuartige Bedürfnis* nach Geselligkeit um 1790 auf einen >Individualisierungsprozeß< und auf die >Entpolitisierungspolitik< deutscher Regierungen seit Beginn der Französischen Revolution zurück. Für ihn steht die frühromantische Geselligkeit im direkten Zusammenhang mit den Gründungen von ausdrücklich unpolitischen VereinenGesellschaft< und ihrer Theorie seit der Antike ein, versteht darunter aber wesentlich den Aspekt der Umgangslehre (Gracián, Rochefoucauld, La Bruyère). Im Unterschied zur modernen Soziologie (Tönnies, Simmel, Luhmann) deutet er sie als rein historische Erscheinung im 17. und 18. Jahrhundert. Insgesamt zeigt sich in den Fachwörterbüchern eine Tendenz zur terminologischen Reduktion der Geselligkeit auf Umgangslehre (Bühlow, Riedel) und zu einer Antinomie von frühromantischer >Privatgeselligkeit< im Gegensatz zu aufklärerischer Öffentlichkeit und zweckbestimmter Gesellschaftsbildung (Riedel, Hardtwig). Selbst im thematisch differenzierten und zeitlich umfangreichen Artikel von Karl-Heinz Göttert wird aus Sicht der Rhetorik die ästhetische Dimension von Geselligkeit nur auf den zwanglosen Umgang bezogen.' Keiner der fünf beispielhaft genannten Artikel reflektiert Geselligkeit als produktions- und wirkungsästhetische Kategorie in der Literatur. Neben einer terminologischen Abgrenzung zu Gesellschaft und Gemeinschaft stellt sich deshalb die Aufgabe, die unterschiedlichen Dimensionen des Begriffs aufzuzeigen. Erste Ansatzpunkte dafür ergeben sich aus den Geselligkeitsbegriffen der einzelnen Fachwissenschaften.

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Art. >Verein. Gesellschaft, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft, Gewerkschaft< (Wolfgang Hardtwig); in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhard K o selleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972, Bd. 6 (1990), S. 789-829. ' Art. >Geselligkeit< (Karl-Heinz Göttert), in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 1 9 9 2 ^ , Bd. 3 (1996), Sp. 907-913.

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i . i . Die Verfallsthese in der Kulturgeschichte In Burckhardts epochemachendem Werk >Die Kultur der Renaissance< (1869) 6 erscheint Geselligkeit als wichtige Bedingung dafür, daß die Entwicklung des modernen Menschen in der Renaissance einen Höhepunkt erlebt. Die Entfaltung menschlicher Individualität, wie sie Castiglione beispielhaft in >11 Cortegiano< dargestellt hat, ist für Burckhardt ohne die >höhere Geselligkeit* undenkbar. Ihre Voraussetzungen sind die Negierung ständischer Schranken, die Abwertung des Geburtsadels zugunsten eines auf Sittlichkeit und Bildung beruhenden persönlichen Verdienstes und der gleichberechtigte Umgang zwischen Adligen und gebildeten Bürgern. Trotz einer mangelnden begrifflichen Unterscheidung von allgemeiner und h ö herer Geselligkeit* erfaßt Burckhardt wesentliche Aspekte: a) den persönlichkeitsbildenden Umgang, zu dem auch Wohnung, Kleidung und Reinlichkeit gehören, b) die Umgangslehre als Lehre von guter Tonart, Takt und Delikatesse im Sinn einer Pflicht zur Geselligkeit (della Casa, Castiglione), c) eine gehobene, einheitliche Sprache als Bedingung gemeinsamer Konversation, d) die ästhetische Dimension von Geselligkeit wie in Boccaccios >DecameroneWechseIwirkung< zwischen den Individuen hervorhebt, verschiebt sich das Forschungsinteresse auf die innere, prozeßhafte Struktur der Geselligkeit und deren Formen Freundschaft, Liebe, E h e und Familie. Aus dieser Sicht erhält auch das schöpferische, ästhetische Strukturprinzip in der D i a l o g f o r m frühromantischer Texte eine neue Deutung.

1.2. Gesellschaftslehre und Soziologie: Geselligkeit als historische Erscheinung oder als anthropologische Konstante? Die These v o m >Geselligkeitsinstinkt< als bewahrendem Element gegenüber dem Verfallsprozeß in der modernen Gesellschaft (Gleichen-Russwurm), die emphatische A u f w e r t u n g und nationalistische Ausdeutung des Gemeinschaftsbegriffes (Nohl), die Opposition von Öffentlichkeit (Gesellschaft) und Privatheit (Geselligkeit) bis in die jüngste Zeit (Riedel, Habermas, Hoffmann-Axthelm) - all diese Theorien finden ihre Grundlage in G e m e i n schaft und Gesellschaft (1887) von Tönnies und belegen den systematischen Einfluß der entstehenden Soziologie auf die Erforschung der Geselligkeit. 1 0 In seiner anthropomorphisierenden Beschreibung der Formen menschlichen Zusammenlebens erhält die Gemeinschaft als ursprüngliche Institution den Vorrang vor der auf Konvention und Naturrecht gegründeten modernen Gesellschaft. E r sieht in den drei Beziehungsformen, der von Mutter-Kind, Mann-Frau und der zwischen Geschwistern, den >Keim< aller Gemeinschaft und ordnet der Verwandtschaft das Haus, der Nachbarschaft das D o r f und der Freundschaft die Stadt zu. Während der B e g r i f f der Gemeinschaft biologische (Blut, Geburt), soziale (gemeinsamer Besitz) und geistige Verbundenheit ausdrückt, ist Gesellschaft durch Tausch, Eigennutz, Schein und latenten Krieg< aller gegen alle charakterisiert. Im systematischen Teil erhält die Geselligkeit ihren wissenschaftlichen Ort unter >Gesellschaft< und trägt alle ihre negativen Merkmale. Im historischen Teil dient der Salon als negatives Extrem für alle gesellschaftlichen Zirkel, die sich von ihren gemeinschaftlichen Ursprüngen und von der Moral entfernt haben. Gesellschaft, Geselligkeit und Salons erscheinen als geschichtliche Verfallsformen einer idealisierten, >ursprünglichen< Gemeinschaft."

Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887. Dieses Standardwerk erlebt bis 1935 acht A u f l a g e n . - K l u c k h o h n begründet seine Begriffssubstitution von Geselligkeit durch Gemeinschaft explizit mit Tönnies (S. 3). " N o h l übernimmt Tönnies' geschlechtsspezifische Z u o r d n u n g von Haus und Markt für die Frauen und der Gesellschaft für die Männer, indem er den Salon als unangemessen für eine >deutsche Frau< bezeichnet (Nohl, Vom deutschen Ideal der Geselligkeit, a.a.O., S. 132).

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In seiner Grundsatzkritik an Tönnies betont dagegen König, daß die Gemeinschaft kein normativer Maßstab für die Gesellschaft sein könne, denn in beiden >sozietären Verhältnissen* existierten Gewalt, Herrschaft und Zwang. Auch kann Tönnies' Antinomie nicht als lineares Entwicklungsmodell angesehen werden, da es keinen >natürlichen Verlauft von der Gemeinschaft zur Gesellschaft gebe. 12 König zieht damit die Konsequenz aus Max Webers Dynamisierung der begrifflichen Opposition bei Tönnies, der an die Stelle von Gemeinschaft und Gesellschaft die Bewegungskategorien >Gemeinschaftshandeln< und >Gesellschaftshandeln< setzt. 1 ' Die >Akte der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung* unterscheiden sich nicht prinzipiell, sondern nur durch den Grad der Komplexität und durch eine >zweckrational gesatzte Ordnung*. Gegen die idyllische Annahme einer ursprünglichen Gemeinschaft bei Tönnies setzt Weber die Auffassung, daß auch die Gemeinschaft ihre Einheit durch Gegensätze und Kampf immer erneut herstellen muß. Parallel zu Webers früher und fundamentaler Kritik an Tönnies erhält die Verfallsthese einen entscheidenden Einbruch durch Simmeis »Soziologie der Geselligkeit« 14 . Er betont die Prozeßhaftigkeit der Interaktion und definiert Geselligkeit als >Spielform der Vergesellschaftung*, die, ausgehend von einem anthropologischen Geselligkeitstrieb im Menschen, zum psychischen Bedürfnis nach Gemeinsamkeit mit anderen Menschen führt und unterschiedliche Formen annehmen kann. Im engeren Sinn bezeichnet Geselligkeit einen >Kunsttriebreine Form* besitzt die Geselligkeit eine relative Eigengesetzlichkeit, indem sie von konkreten Inhalten und von einem unmittelbaren Nutzen abstrahiert. Für das Gelingen der reinen Form müssen die Teilnehmer das >AllerpersönlichsteSozialform< und des Taktgefühls zurückstellen. Mit der formalen Bestimmung der Geselligkeit als >Spielform der Vergesellschaftung* wird sie als anthropologische Grundkategorie etabliert, ihre verschiedenen historischen Ausprägungen im Mittelalter und Ancien Regime haben ihre jeweilige Berechtigung. Damit wird " René König, Die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie ( K F S S ) 7 ( 1 9 ; ; ) , S. 348-420. Max Weber, Uber einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913); in: ders., Soziologie - Universalgeschichtliche Analysen - Politik, hg. von Johannes Winkkelmann, Stuttgart 1973 (5. Auflage), S. 97-150. 14 Georg Simmel, Soziologie der Geselligkeit; in: Verhandlungen des 1. deutschen Soziologentages, Tübingen 1 9 1 1 , S. 1 - 1 6 . Die Beziehungen zwischen Max Weber und Simmel vor dem Hintergrund der Situation in Berlin um 1900 untersucht aus kulturgeschichtlicher Sicht Lawrence A. Scaff, Weber, Simmel und die Kultursoziologie; in: K F S S 39 (1987), S. 255-277.

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der methodische Fehler, eine bestimmte Epoche zum normativen Ideal zu erheben und die weitere Entwicklung als Verfallsgeschichte zu deuten (Burckhardt, Tönnies, Nohl), überwunden. Mit den Merkmalen Zwecklosigkeit und Spielcharakter nimmt Simmel zudem eine Abgrenzung zur Definition der Gesellschaft bei Weber vor, die durch Zweckhaftigkeit, Rationalität und (statuarischer) Strukturiertheit bestimmt ist. Wegweisend grenzt Simmel den Spielcharakter der Geselligkeit vom >leeren Spiel< und >bloßen Spaß< ab, indem er von der symbolischen Bedeutsamkeit der spielerischen Geselligkeit für das gesellschaftliche Leben spricht. Die sozialpsychischen Aspekte Entlastung und Sanktionsfreiheit im Spiel drücken zugleich eine räumliche Distanz und temporäre Außerkraftsetzung von Normen, Regeln und Zwängen der Gesellschaft aus. Daran knüpft Huizinga mit seiner These von der kulturstiftenden Funktion des anthropologischen Spieltriebs an. 1 ' Die Symbolhaftigkeit des Spiels impliziert, daß Geselligkeit keine Flucht aus der Gesellschaft bedeuten muß. Vielmehr befindet sich die Geselligkeit mit ihrer doppelten Bestimmung als >Spielform< und >Vergesellschaftung< in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis zur gesellschaftlichen Realität. In den inneren Gruppenprozessen, im Spiel der Gleichheit werden Verhaltensweisen und Denkformen eingeübt, die als ein »Miniaturbild des Gesellschaftsideals, das man Freiheit der Bindung nennen könnte« (Simmel), wieder auf die Gesellschaft zurückstrahlen. Insofern kann Geselligkeit ein utopisches Element beinhalten, indem sie gegenüber hierarchischen Abhängigkeits- und Zwangsverhältnissen einen gesellschaftlichen Idealzustand antizipiert, den sie aufgrund der Sanktionsfreiheit im Innenraum praktizieren kann. In diesem Sinn unterscheidet Gehring zwischen unmittelbarer und mittelbarer Zweckhaftigkeit der geselligen Kommunikation. In der Literaturwissenschaft hat die Aufdeckung des utopischen Elements in der Geselligkeit die Neubewertung der Bukolik und der Sprachgesellschaften im 17. Jahrhundert (Garber) und der >Moralischen Wochenschriften (Mauser) ermöglicht.' 6 Bei Habermas 17 , für den Geselligkeit ebenso wie Öffentlichkeit und Gesellschaft einem historischen Strukturwandel unterliegt, zeigt sich der uto" Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (E: 1958), Reinbek 1987. »In der Sphäre des Spiels haben die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung.« (S. 21) 16 Axel Gehring, Die Geselligkeit. Überlegungen zu einer Kategorie der klassischen Soziologien in: K F S S 21 (1969), S. 241-255. - Klaus Garber, Arkadien und Gesellschaft. Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopischer Literaturform Europas; in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Utopieforschung, Frankfurt a. M. 1985, Bd. 2, S. 57-81. - Wolfram Mauser, Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialethischen Utopie um 1750; in: Aufklärung 4 (1990), S. 5—36. 17

Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962), Frankfurt a. M. 1984 (15. Auflage).

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pische Aspekt der Geselligkeit, indem sie aus einer >Institution< der absolutistischen Herrschaft zu einem Bestandteil der (bürgerlichen) Gegenöffentlichkeit wird: Die Herausbildung einer eigenständigen aristokratischen Geselligkeit in den Salons und Theatern des Ancien Régime fuhrt zum Verlust der zentralen Stellung des Hofes und untergräbt die moralische und kulturelle Autorität des Absolutismus. Für Habermas stellt die Französische Revolution das normative Ideal dar: Geselligkeit wird auf ihre kommunikative und politische Zweckhaftigkeit für dieses Ideal funktionalisiert, und sozialethisch-utopische und ästhetische Aspekte werden negiert. In der folgenden Verfallsgeschichte wird die >recreatio< zum Merkmal des Niedergangs, wenn »anstelle der literarischen Öffentlichkeit [. . .] der pseudoöffentliche oder scheinprivate Bereich des Kulturkonsums« 18 tritt. Dagegen wertet Elias in seiner Figurationsanalyse des Ancien Régime die Momente der Entspannung und Entlastung als wesentliche Elemente einer als Ambivalenz gedeuteten Geselligkeit auf. Die >höfische Geselligkeit mit ihren Verhaltenslehren ist zum einen geprägt von sozialen Zwängen als Ausdruck konkurrierender sozialer Gruppen, zum zweiten durch den Prozeß der Umwandlung des Fremdzwangs in einen Selbstzwang durch Verinnerlichung, einen sozialpsychischen Vorgang der Selbstdisziplinierung durch Affektkontrolle, Eigen- und Fremdbeobachtung. Der >gesellige Verkehr< bei Hof erhält ein >DoppelgesichtPrivatbürgerBürgertums< als >soziokultureller Prozeß< gedeutet werden, in dem >Selbstbildung< der Mitglieder und Einübung neuer Verhaltensweisen zugleich stattfinden. Parallel zur deutschen Sozietätsforschung untersucht die mentalitätsgeschichtlich arbeitende Historiographie in Frankreich die Transformationsprozesse von Sozietäten im 18. Jahrhundert, z. B. Ausbreitung und Wandel der Bußbrüderschaften des Midi zu Freimaurerlogen, mit der die Veränderung vom christlichen Ideal der >charité< zur weltlichen Tugend der >bienfaisance< einhergeht. 2 ' Im Zusammenhang mit der Neubewertung der Fran" Astrid K ö h l e r , Salonkultur im klassischen Weimar. Geselligkeit als Lebensform und literarisches Konzept, Stuttgart 1996, bes. S. 42 und S. 51. " Art. >Geselligkeit< (Friedrich Vollhardt), in: Werner Schneiders (Hrsg.), L e x i k o n der A u f k l ä r u n g , München 1995, S. 1 5 2 - 1 5 4 , S. 153. Ulrich Im H o f , D a s gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der A u f k l ä r u n g , München 1982, S. 185. 14

Richard van Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer, Frankfurt a. M. 1986. " Maurice A g u l h o n , Pénitents et Francs-Mapons de l'ancienne Provence, Paris 1968.

3

zösischen Revolution als einer umfassenden Kulturrevolution, die fur breite Bevölkerungsschichten zum Bruch mit wichtigen Denk- und Verhaltensmustern führt (ζ. B. Einstellung zu Geburt, Tod, Sexualität, Religion), weitet Vovelle den Begriff der Geselligkeit auf nicht-institutionelle Formen des Zusammenlebens aus. 26 In den Städten werden >cabaret populaire, café, promenade< zu structures et occasions de rencontre< und führen zu einem »nouvel urbanisme«. Vovelles Einbeziehung von volkstümlich-archaischen Formen der Geselligkeit führt zur Aufwertung von Markttagen und bäuerlichen Festen, vor deren Hintergrund die Revolutions feste als neuer Festtypus erkannt werden können. Anknüpfend an diese Forschungen plädiert Reichardt für die geschichtliche Rekonstruktion des >Netzwerkes< von verschiedenen Geselligkeitsformen, das diachron die Traditionslinien und synchron die Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Gruppenbildungen einschließlich der Leitideen und der sozialen Träger berücksichtigt. 27 So nützlich Reichardts Ansatz ist, Idealisierungen einer Form (Symposion, Salon) oder einer Leitidee (>räsonnierende Öffentlichkeit« bei Habermas; >diskurse Geselligkeit bei van Dülmen und Mauser) zu vermeiden, so besteht doch die Gefahr, die Gesellschaft als bloße Summe von diversen Geselligkeitsformen zu verstehen. Dagegen betont die neuere Gruppensoziologie in der Auseinandersetzung mit der Systemtheorie die Spannung zwischen spezifischer Gruppenbildung und dominanten Verhaltens- und Denkmustern im gesellschaftlichen Makrokosmos. Neidhardt deutet Geselligkeit als >System persönlicher Beziehungen«. Im Unterschied zur zweckrationalen Organisation erhält die Individualität der Teilnehmer in der Geselligkeit eine besondere Chance, da der innere Gruppenprozeß maßgeblich von Subjektivität und Gefühlen bestimmt wird: Auswahl von Mitgliedern, ihre >Originalität« im Auftreten und Sprechen und die »Sondersprachen« als gruppenspezifische Codes beruhen auf affektiven Präferenzen und lassen eine >Gefühlskultur< bis hin zu Formen von > Subkultur« entstehen, die die spezifische Geselligkeitsform in ein dialektisches Verhältnis zur vorherrschenden Kultur in der Gesellschaft bringt. Prägnant formuliert Neidhardt:

26 27

14

Michel Vovelle, L a mentalité révolutionnaire, Paris 1985. R o l f Reichardt, Z u r Soziabilität in Frankreich beim Übergang v o m Ancien Régime zur Moderne: Neuere Forschungen und Probleme; in: Etienne François (Hrsg.), Sociabilité et société bourgeoise en France, en Allemagne et en Suisse 1 7 5 0 - 1 8 5 0 , Paris 1986, p. 2 7 - 4 1 . Diesen methodischen Ansatz nimmt beispielhaft auf Otto Dann, Jena: Eine akademische Gesellschaft im Jahrzehnt der Französischen Revolution; in: Helmut Berding (Hrsg.), Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 12), Göttingen 1988, S. 1 6 6 - 1 8 8 . Z u m gesamten K o m p l e x vgl. Reinhart K o s e l leck/Rolf Reichardt (Hrsg.), Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins, München 1988.

Gerade die Abweichung von der Alltagsphilosophie läßt ¡besondere Lebensstile! mit eigenen Symbolisierungen entstehen, die bis zu moralischen Beziehungsmustern von Kumpelhaftigkeit, Kameradschaft, Freundschaft und Liebe führen können."

Entstehung, Form, Denk- und Verhaltensmuster der Geselligkeit stellen allerdings keine autonomen Setzungen dar, sondern sind spezifische >Ubersetzungen< von Umweltbezügen in das persönliche System der Gruppe, sie enthalten eine >Umorganisation von Sinnkriterien< (Neidhardt). Andererseits erfüllt die Geselligkeit für die Teilnehmer Funktionen wie Kompensation für unerfüllte Bedürfnisse, Wünsche, Erwartungen, Entlastung und Sozialisation, denen die Gesellschaft nur ungenügend oder gar nicht nachkommt. Eine Ausstrahlung der Geselligkeit auf die Gesellschaft scheint von zwei Bedingungen abhängig, erstens von der intellektuellen Fähigkeit der spezifischen Gruppe, ihre spezifische Deutung von Ereignissen oder ihren Habitus als Antwort auf ein allgemeines Defizit erscheinen zu lassen, zweitens vom Existieren anderer gesellschaftlicher Gruppen, die eine Art ¡intermediäre S t r u k t u r bilden und die die neuen Ideen und Verhaltensmuster popularisieren helfen. An dieser Stelle wäre Reichardts Konzept des >Netzwerks< eine nützliche Ergänzung. Anhand der rückblickenden Skizze werden die Leistungen der modernen Soziologie für einen wissenschaftlichen Begriff von Geselligkeit deutlich. Seit Max Weber und Simmel wird Geselligkeit als anthropologische Grundkategorie weitgehend akzeptiert, deren vielfaltige Erscheinungen als historische Verwirklichungen des Begriffs >Spielform der Vergesellschaftung! verstanden werden können. Damit können die Verzerrungen durch eine Verfallstheorie und durch Idealisierungen einer geschichtlichen Epoche (Renaissance, Aufklärung) oder einer spezifischen Form (Salon, Verein) oder Funktion (>räsonnierende Öffentlichkeit!) vermieden werden. Die formalen, funktionalen und sozialgeschichtlichen Aspekte der modernen Gruppensoziologie ermöglichen eine Differenzierung und Typologisierung der unterschiedlichen Geselligkeitsformen. Simmeis >Spielform< und Neidhardts >Gegenstruktun als Merkmale von Geselligkeit betonen das Spannungsverhältnis zwischen Normen und Konventionen der Gesellschaft einerseits und den spezifischen Verhaltens-, Denk- und Sprachmustern der Gruppe andererseits. Daraus ergibt sich ein erster Ansatz für einen modernen Begriff der Geselligkeit. In der vorliegenden Studie wird darunter eine Gruppenbildung von Menschen verstanden, die sich hauptsächlich unter subjektiv-af*8 Friedhelm Neidhardt, Themen und Thesen zur Gruppensoziologie; in: K F S S Sonderheft Gruppensoziologie, Opladen 1983, S. 12-34, S. 19. - Zur Kritik an der Systemtheorie vgl. besonders Friedrich H. Tenbruck/Wilhelm A. Ruopp, Modernisierung - Vergesellschaftung - Gruppenbildung - Vereinswesen; in: ebda., S. 65-74. M

fektiven Aspekten zusammenschließen. Die >Verpersönlichung< des Zusammenschlusses äußert sich in Entstehung, Form, inneren Gruppenprozessen und unterscheidet sich damit von hauptsächlich zweckrational bestimmten Vergesellschaftungen (Verein, Partei, Organisation, Gesamtgesellschaft). Als >Gegenstruktur< zur Gesellschaft reflektiert die Geselligkeit ihre spezifisch-historische und soziale Bedingtheit oft mit und enthält häufig eine >Gegenwelthöheren Zweck< von Entitäten wie Volk, Nation und Gott unterzuordnen, ergibt sich die Tendenz zur emphatischen Aufladung des Begriffes im politischen (ζ. B. Volksgemeinschaft bei Nohl) oder im religiösen Sinn (Gemeinschaft mit Gott, mit religiös Gleichgesinnten). Es ist charakteristisch für die historische Entwicklung des Begriffs der Geselligkeit, daß er im historischen Prozeß zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft >oszilliert< und verschiedene Aspekte in sich aufnehmen kann wie Gruppenbildungen mit unterschiedlichen Graden von Strukturiertheit und Zweckbestimmung, Verhaltensethik einschließlich der Traktatliteratur und Gesellschafts- und Staatsphilosophie. Die relative Unscharfe des soziologischen Begriffs von Geselligkeit wird auch durch die Vernachlässigung des ästhetischen Aspekts hervorgerufen, den bereits Simmel mit den Merkmalen >Spielform< und symbolische Bedeutsamkeit< der Form angesprochen hat. Dieses Moment der Geselligkeit soll aus der literaturwissenschaftlichen Diskussion gewonnen werden.

1.3. Literarische und poetische Aspekte des Geselligkeitsbegriffs in der Literaturwissenschaft Tönnies' normatives Ideal der Gemeinschaft führt nicht nur zu einer schleichenden Ersetzung von Gesellschaft durch Gemeinschaft bei Nohl und Kluckhohn, sondern auch dazu, daß in der Germanistik bis 1930 nur die 16

engeren, persönlichen Formen von Gemeinschaft wie Liebe und Freundschaft als literarisches Motiv untersucht werden, während größere Gruppenbildungen wie Clubs und Salons abgewertet oder gar nicht beachtet werden. Dies gilt für die motivgeschichtlichen Untersuchungen von Paul Kluckhohn zur Liebe und von Wolfdietrich Rasch zur Freundschaft und teilweise für Albert Salomons soziologische Studie über Freundschaft. 29 Im Gefolge von Diltheys Begriff der >Erlebnisdichtung< wird Literatur als (aut o b i o g r a p h i s c h e s Abbild realer Liebe oder Freundschaft gedeutet, eine Position, die in neuester Zeit noch Ziegners These von der >geselligen Biographik* bei Tieck prägt.' 0 Rasch geht allerdings über das rein Motivische bei Kluckhohn hinaus, wenn er das Verhältnis von realer Freundschaft und Geselligkeit zum Wandel literarischer Gattungen untersucht, ζ. B. das Verhältnis des Standes- und Tugendideals des Hofmanns zu den galanten Lehrbüchern, das der Reform bürgerlicher Geselligkeit zu den >Moralischen Wochenschriften* und das der >erlebnishaften Freundschaft* zur Odendichtung Klopstocks. Eine Veränderung der engen biographischen Deutung des literarischen Geselligkeitsmotivs findet erst mit Alewyns Begriff des »Gesamtkunstwerkes* für den Barock-Dichter Johann Beer statt. Im Gesamtkunstwerk wird die Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre aufgehoben, Geselligkeit wird tendenziell als poetische Kategorie verstanden, indem Alewyn die gesellige Rahmenerzählung in Beers Dilogie >Die teutschen WinterNächte und kurzweiligen Sommer-Täge* als spannungsvolle Beziehung zwischen Autor und Publikum auffaßt: »Diese Spannung schafft eine zweite Dimension der Erzählung: neben der inneren >Spannung< der Handlung in der Zeit, eine zweite in den gesellschaftlichen Raum hinein.«' 1

29

Paul K l u c k h o h n , Die A u f f a s s u n g der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik ( 1 9 2 1 ) , T ü b i n g e n 1966 (3., unveränderte Auflage). - Wolfdietrich Rasch, Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts: Vom A u s g a n g des Barock bis zur K l o p s t o c k , Halle 1936. - Albert Salomon, D e r Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland: Versuch zur Soziologie einer L e b e n s f o r m (E: 1 9 2 1 ) , aus dem Nachlaß herausgegeben von Richard G r a t h o f f ; in: Zeitschrift für Soziologie 3 (1979), S. 279-308.

,0

T h o m a s G . Ziegner, L u d w i g Tieck - Studien zur Geselligkeitsproblematik: die soziologisch-pädagogische Kategorie der Geselligkeit als einheitsstiftender Faktor in Werk und Leben des Dichters, Frankfurt a. M. 1987. Richard A l e w y n , J o h a n n Beer. Studien zum R o m a n des 17. Jahrhunderts, Leipzig 1932, S. 165. — Alewyns methodische Perspektive des Verhältnisses zwischen der Geselligkeit als poetischem Motiv und als Mittel der Wirkungsästhetik des Autors führt unter sozialgeschichtlicher Fragestellung fort Herbert Singer, Der deutsche Roman zwischen Barock und R o k o k o , K ö l n 1963.

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•7

Der entscheidende Durchbruch in der Erkenntnis der Geselligkeit als poetischer Kategorie vollzieht sich allerdings erst mit der Interaktions- und Kommunikationstheorie in den 70er Jahren, die mit der Bedeutung der sozialen Handlungsdimension auch den Blick für größere Gruppenbildungen freilegt und zu einem >Boom< sozialgeschichtlicher und literatursoziologischer Einzeluntersuchungen über Geselligkeit führt. Modellhaft zeigt Karl Richter Geselligkeit als Kategorie der Wirkungsästhetik am Beispiel der deutschen Rokoko-Lyrik. Geselligkeit ist ihm nicht nur gesellschaftskritische Motivik in der langen Tradition bukolischer Dichtung, sondern der vom Dichter intendierte Einbezug des Lesers in einen »spielerischen wie bewußten Umgang mit Elementen des Gedichts und den Vorgaben literarischer Uberlieferung«.' 2 Geselligkeit als ästhetisch-spielerisches Verhältnis des Autors zum Leser - diesen Ansatz führt Manfred Frank an der frühromantischen Ironie bei Tieck fort." Auch unter gesellschaftskritischem Aspekt erweist sich die >gesellige< Beziehung Autor-Leserpublikum als fruchtbar, wie Gisela Henckmann am Beispiel von Goethe nachweist. In dessen Unterhaltungen deutscher Ausgewandertem dient die Kunst des geselligen Erzählens zur >Rettung und Bewahrung der Humanitär. 54 Diese These wird gestützt durch John A. McCarthy, der im Geselligkeitsideal der deutschen Klassik das Fundament für den Humanitätsbegriff dieser Epoche sieht.35 Im Verlauf des g e selligen Erzählens« antizipieren die Figuren in Goethes >Unterhaltungen< und in Wielands >Rosenhainer Kränzchen< einen Verhaltenswandel, den die Autoren auch ihrem realen Lesepublikum nahelegen. Die literarische Darstellung der Erzählgeselligkeit soll indirekt zu einer realen Verhaltensreform in der Gesellschaft beitragen. Zwar stimmt Segebrecht dieser gesellschaftskritischen Deutung nicht zu, sondern sieht geselliges Erzählen prinzipiell als apologetischen Akt, aber auch er hebt die Geselligkeit als poetisches Mittel der Figurenlenkung und intendierten Wirkung des Dichters auf den Leser hervor.' 6

** K a r l Richter, Geselligkeit und Gesellschaft in Gedichten des R o k o k o ; in: SchillerJahrbuch 18 (1974), S. 245—267, S. 247. " Manfred Frank, Tiecks Phantasus; in: L u d w i g Tieck, Phantasus, hg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M . (Bibliothek deutscher Klassiker) 1985, S. 1 1 4 7 - 1 1 9 3 . H Gisela Henckmann, Gespräch und Geselligkeit in Goethes »West-östlichem DivanKlassenbewußtseinintervenierende

Verhaltensdisposition
symbolische Manifestation« gedeutet, so verweist dies auf die >thick discription< der amerikanischen Kulturanthropologie (Clifford Geertz). 4 ' E s ist deshalb kein Zufall, wenn Georges D u b y die große Bedeutung von Zusammenkünften und Interaktionsformen für die E r f o r s c h u n g von Mentalitäten hervorhebt: E n outre, autant qu'à l'école, l'histoire mentale doit prêter attention à toutes les assemblées, à toutes les occasions de se réunir: foires, pèlerinages, campagnes militaires, caravanes marchandes [. . .]. 42

2. ι. Strukturen und Brüche in der Geschichte - Der Wandel von Mentalitäten Lange Zeit haben Völkerpsychologie und ältere Mentalitätsforschung unter Mentalität eine prälogische, minderwertige Verhaltens- und Denkweise von >Primitiven< oder von Kindern verstanden, die sich als >histoire de la lenteur< (Le G o f f ) der Moderne und ihrer Beschleunigung entgegenstelle. 45 Die A n sicht, bei Mentalitäten handele es sich ausschließlich um die Langzeitgeschichte von unbewußten Gewohnheiten ganzer Gesellschaften und Kulturen, äußert sich in den Studien über Kindheit, Sexualität und Tod bei Philippe Ariès, in L e G o f f s B e g r i f f einer >archéopsychologie< sowie in Foucaults Theorie der Episteme. Innerhalb der französischen Romantikforschung versucht Henri Brunschwig, den Sturm-und-Drang und die Romantik als Ausdruck eines retardierenden, >irrationalistischen Zeitgeistes« zu deuten. Die Romantik sei durch eine mentale Denkweise geprägt, die auf Wunderglauben basiere. 44 41

Hans-Ulrich G u m b r e c h t / R o l f Reichardt/Thomas Schleich, F ü r eine Sozialgeschichte der Französischen A u f k l ä r u n g ; in: Hans-Ulrich Gumbrecht (Hrsg.), Sozialgeschichte der A u f k l ä r u n g in Frankreich, München/Wien 1981, Bd. 1, S. 3 - 5 1 , S. 34. - Volker Sellin, Mentalitäten in der Sozialgeschichte; in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hrsg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Göttingen 1978, Bd. 5, S. 1 0 1 - 1 2 1 , S. 1 1 5 f . - R o l f Reichardt, >Histoire des Mentalités«. Eine neue Dimension der Sozialgeschichte am Beispiel des französischen Ancien Régime; in: I A S L (1978), S. 1 3 0 - 1 6 6 .

41

G e o r g e s D u b y , Histoire des mentalités; in: Charles Samaran (Hrsg.), L'Histoire et ses méthodes, Paris (Encyclopédie de la Pléiade) 1961, voi. 1 1 , p. 937-966, p. 959. Jacques L e G o f f , Les mentalités. Une histoire ambiguë; in: Jacques L e G o f f / P i e r r e N o r a (Hrsg.), Faire de l'histoire, Paris 1974, vol. 3, p. 76-94. — Lucien L é v v - B r u h l , L a mentalité primitive, Paris 1922. - Henri Wallon, L a mentalité primitive et celle de l'enfant, Paris 1928.

4i

44

Henri Brunschwig, Gesellschaft und Romantik in Preußen im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1975, S. 375.

21

Gegenüber diesen pauschalisierenden, die Widersprüche und Veränderungen einebnenden strukturellen Zugriffen auf Mentalitäten entwickelt Duby ein differenziertes Instrumentarium zur gruppen- und milieuspezifischen Analyse von Mentalitäten, das er mit Braudels Modell der drei Zeitebenen verknüpft. Duby ordnet der >micro-histoire< als Geschichte der >événements< und >brusques tumultes< die Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen zu, der mittelfristigen >histoire conjoncturelle< mentale Komplexe wie Interaktion und Kommunikation und der Langzeitgeschichte die >attitudes profondesSociété de pensée< und die aufgeklärten Eliten des 18. Jahrhunderts in Frankreich; in: Hans-Ulrich G u m b recht/Rolf Reichardt/Thomas Schleich (Hrsg.), Sozialgeschichte der A u f k l ä r u n g , a.a.O., S. 7 7 - 1 1 5 .

,0

Robert Darnton, T h e Great Cat Massacre and Other Episodes in French Cultural History, N e w Y o r k 1984. - R o g e r Chartier, Intellektuelle Geschichte und G e schichte der Mentalitäten; in: Ulrich R a u l f f , Mentalitätengeschichte, Berlin 1987,

S. 69-96. - Peter L . Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1969. '' Gumbrecht, Reichardt, Schleich, Sozialgeschichte der A u f k l ä r u n g , a.a.O., S. 49. " Sellin, Mentalitäten in der Sozialgeschichte, a.a.O., S. 106.

2

3

im Begriff der >romantischen Schule< bei Heine, Gervinus und Haym überwinden wollte." Drückt die Generation zunächst die Gemeinsamkeit von intellektuellen Besitzständen* und >Motiven der Weltansicht< aus, so benutzt Dilthey den Begriff später wirkungsmächtig als historischen Ordnungsbegriff, um damit Epocheneinteilungen für den >Verlauf geistiger Bewegung e n vorzunehmen. 54 Gegenüber einem normativ-typologischen Epochenschema bei Dilthey und Petersen betont Alewyn die Widersprüche innerhalb der Geschichte und plädiert für soziale und regionale Differenzierungen." Die Generation kann die Tradierung von Wissen wie die Rezeption neuer Ideen fördern, hemmen oder verhindern. Deshalb ist sie bedeutsam für den sozialen und geistigen Wandel in der Gesellschaft. Aus soziologischer Perspektive stellt Karl Mannheim die Generation in den engen Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Dynamik und unterscheidet zwischen der >Generationslagerung< als dem bloß äußerlichen Zusammenhang desselben historisch-sozialen Raumes und dem >Generationszusammenhang< als >Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen dieser historisch-sozialen EinheitGeburtskohorteerste deutsche Jugendbewegung« mit einer Abkehr von Tradition als positivem Wert wird der Sturm-und-Drang durch gemeinsame Bildungseinflüsse und die Distanz zur Elterngeneration charakterisiert. Quabius vernachlässigt allerdings nicht nur den sozialgeschichtlichen Hintergrund des Sturm-und-Drang, die Krisensituation um 1770. Eine weitere Voraussetzung für das Selbstbewußtsein dieser Jugendbewegung ist ein säkularisierter Zeitbegriff, der mit der modernen Vorstellung vom Individuum als einem autonom handelnden Subjekt verknüpft ist. Gesellschaft und Geschichte erscheinen dem Individuum nicht mehr als gottgegeben oder schicksalsbedingt, sondern als Resultat eigenverantwortlichen Handelns. Deshalb stellen Gumbrecht und Koselleck den Generationsbegriff in den Zusammenhang des neuen Modernitätsbegriffes und der Zeiterfahrung, die sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und besonders durch die Französische Revolution herausbildet. 6 ' A n ihr wird deutlich, daß das G e " Assmann unterscheidet das spezifische >Generations-Gedächtnis< einer G r u p p e mit ihren identitätsstiftenden E r f a h r u n g e n einer häufig persönlich verbürgten, gemeinsam erlebten Vergangenheit v o m symbolisch überlieferten, »kulturellen G e dächtnisErfahrungsraum< und >Erwartungshorizont< - zwei historische Kategorien (E: 1976); in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 349-575, S. 367. 61 Wilfried Barner, Uber das Negieren von Tradition - Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland; in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (Poetik und Hermeneutik, Bd. 12), München 1987, S. 3-52, bes. S. 43. ' ' J a n Dirk Müller, Aporien und Perspektiven einer Sozialgeschichte mittelalterlicher Literatur, a.a.O., S. 63. - Ursula Peters, Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte?; in: Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984, Berlin 1985, Bd. 2, S. 179—198, S. 185. 26

ziale Schichten und kann zur Verfestigung traditioneller Denk- und Verhaltensweisen beitragen, gerade auch in Umbruchszeiten. Wenn die Annahme der Wissenssoziologie richtig ist, daß dem >Rezeptwissen< durch seinen >Orientierungscharakter< eine wesentliche Entlastungsfunktion für das Individuum bei Entscheidungen in neuen Situationen zukommt, 6 4 dann stellt sich die Frage nach der öffentlichen Tradierung des >OrientierungswissensColloquia familiaria< über Castigliones >11 CortegianoDer redliche Mann am Hofe< bis zu Knigges >Über den Umgang mit Menschern, von Beetz als >Interaktionsgrammatiken< bezeichnet und erstmals gattungstypologisch differenziert und in ihrem geschichtlichen Wandel analysiert, 66 drückt ein elementares Bedürfnis nach individuellen und gesellschaftlichen Orientierungsmustern und deren jahrhundertelanger Tradierung aus. In seiner Studie über die französischen Konversationsbücher im 17. Jahrhunderts mit ihrem Ideal der >bienséance< sieht Strosetzki eine ihrer wesentlichen Funktionen darin, dem verunsicherten Adel angesichts seines realen Funktionsverlustes am absolutistischen Hof ein »Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit« zu vermitteln. 67 Die mentalitätsstabilisierende Rolle 64

Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, a.a.O., S. 44. - Schärfer noch formuliert Sellin diese Funktion: »Ohne solche gesellschaftlich vermittelten Orientierungen könnte der Mensch nicht existieren. [. . .] Die fraglose Hinnahme der meisten Geltungen, in denen er (i. e. der Mensch] lebt, erscheint geradezu notwendig im Sinne einer >Entlastung< des Bewußtseins.« Volker Sellin, Mentalität und Mentalitätengeschichte, a.a.O., S. 580.

' ' Tradition wird hier als pragmatische und selektive Weitergabe von Erfahrungen verstanden im Sinne von Berger/Luckmann und Barner. Vgl. Berger/Luckmann, a.a.O., S. 7ζ und Wilfried Barner, Einleitung; in: Wilfried Barner (Hrsg.), Tradition, N o r m , Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen A u f k l ä r u n g , München 1989, S. I X - X X I V , bes. S. X I und S. X V . " Manfred Beetz, Frühmoderne Höflichkeit: Komplimentierkunst schaftsrituale im altdeutschen Sprachraum, Stuttgart 1990. 61

und

Gesell-

Christoph Strosetzki, Konversation: ein Kapitel gesellschaftlicher und literarischer Pragmatik im Frankreich des 17. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1978, S. 1 1 4 .

27

von Literatur benennen ausdrücklich die Barockdichter Birken und Lohenstein in der Vorrede zum >ArminiusAlltagswissens< (Berger/Luckmann) angesehen werden. Sie drückt aus, was Literatur zu einem bestimmten Zeitpunkt gewöhnlich thematisieren und welche Darstellungsform sie benutzen darf. Deshalb kommt den Konventionen von literarischen Gattungen und Erzählmustern eine zentrale Bedeutung für den kollektiven Aspekt in der Literatur zu. Voßkamp deutet Gattungen als das »institutionelle Festwerden* von Habitualisierungsvorgängen der Leser und hebt die Annahme »konstanter Erwartungen* der Rezipienten hervor. Die Geschichte der literarischen Gattungen ist »einerseits entscheidend bestimmt [. . .] durch die normbildenden Werke (Prototypen) und andererseits geprägt [. . .] durch die wechselseitige Komplementarität von Gattungserwartungen und Werkantwortemi,6' Verschiebungen oder Veränderungen im Gattungsgefüge können Hinweise auf einen kulturellen oder sozialen Wandel geben. Die mentalitätsbildende Leistung der Gattung am Beispiel des Minnesangs als »poésie formelle* mit seiner gesellschaftlichen Konzeption des »fin d'amour* zeigt Ursula Peters. 70 In Anlehnung an Febvres und Dubys Kategorie des »outillage mental* dienen laut Jan Dirk Müller »Gattungen, Strukturschemata, Verlaufstypen, rhetorischen Verfahren [. . .] zur Deutung und Aneignung von Welt«. 7 ' Der amerikanische New Historicism leitet den »kollektiven Charakter der literarischen Produktion« sowohl von der Sprache als »Inbegriff einer kollektiven Schöpfung« wie von der Niederschrift eines Textes ab: Denn die Autoren bleiben »kollektiven Genres, Erzählmustern und Sprachkonventionen« letztlich auch unbewußt verpflichtet. 72 Diesen Hypothesen über eine historisch zu präzisierende, kollektive ästhetische Mentalität liegt die zentrale Bedeutung der Sprache für die »gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit* zugrunde, wie sie die Wissenssoziologie formuliert hat. 73 Kulturelle Praktiken im allgemeinen und 68

69

7

Vgl. Wilfried Barner, Barockrhetorik, Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, T ü b i n g e n 1970, S. }86. Wilhelm Voßkamp, Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Z u Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie; in: Walter Hinck (Hrsg.), Textsortenlehre - Gattungsgeschichte, Heidelberg 1977, S. 27-42, S. 30.

° Ursula Peters, Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte, a.a.O., S. 184. ' J a n Dirk Müller, Aporien und Perspektiven, a.a.O., S. 6 ; . 72 Alle Zitate in Stephen Greenblatt, Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Berlin 1990, S. 10. 7 * »Weil Sprache die K r a f t hat, das >Hier und Jetzt* zu transzendieren, überbrückt sie 7

28

Literatur im besonderen beruhen auf der Sprache und ihrem symbolischen Aspekt: Acknowledging language as the medium in which the Real is constructed and apprehended, a new socio-historical criticism takes as its subject that interplay of culture-specific discursive >practices< in which versions of the Real are instantiated, deployed, reproduced - and also appropriated, contested, transformed. 74

Als ästhetisches Sprachwerk prägt die Literatur mit ihren Konventionen für Gattungen und Erzählstrategien das Wirklichkeitsbild von Autor und Lesern, wie sie andererseits auf soziale Wirklichkeit verändernd einwirkt: Current practice emphasizes both the relative autonomy of specific discourse and their capacity to impact upon the social formations, to make things happen by shaping the consciousness of social beings. (8)

Von diesem Ausgangspunkt her will Montrose die Subjekt-StrukturAntinomie von Hermeneutik und Strukturalismus durch eine Interdependenz von >subjectivation and structuration* überwinden. Er betont, daß literarische Texte nicht nur >socially produced*, sondern auch >socially productive* sind: By representing the world in discourse, texts are engaged in constructing the world and in accomodating their writers, performers, readers, and audiences to positions within it. (9)

Der New Historicism hat seinen Anspruch bis jetzt noch nicht eingelöst, die spezifisch ästhetische Qualität von literarischen Texten im Unterschied zu anderen >kulturellen Praktiken* nachzuweisen, und bleibt dem Dekonstruktivismus verhaftet, indem er den Text als >Aktanten der Geschichte* auffaßt und damit den personalen Träger bei der Veränderung von Mentalitäten vernachlässigt. Andererseits betont er gegen jegliche Hypostasierung der >Originalität* des Autors oder Werkes den kollektiven Anteil der wirklichkeitsstrukturierenden Sprache in der Literatur, die sowohl die Produktion des Autors wie die Rezeption der Leser in ihrer Erwartungshaltung prägen. Neben den Gattungskonventionen spielen grundlegende Topoi für das Orientierungswissen der Menschen in einer Epoche eine zentrale Rolle. Hier verbindet sich die Mentalitätsforschung mit Aspekten einer historischen Semantik. Oexle hat davor gewarnt, in Topoi nur Gemeinplätze zu sehen:

74

die verschiedenen Zonen der Alltagswelt und integriert sie zu einem sinnhaften Ganzen.« Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, a.a.O., S. 41. Louis Montrose, Renaissance Literary Studies and the Subject of History; in: English Literary Renaissance, 16 (1986) S. 5 - 1 2 , S. 7. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich, soweit nicht anders angegeben, auf diese Quelle. 2

9

Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit und Sozialmetaphern [. . .] sind nicht bloß leere >TopoiAcadémies et politique au siècle des Lumières Machiavelli trägt seine >Discorsi sopre la prima deca di Tito Livio< und >Dell'arte della guerra< in der 1522 wegen politischer Verschwörung aufgelösten >Accademia degli Orti Oricellaru vor, Faret, Verfasser des >L'honnête homme< (1730), gehört zum geselligen Freundeskreis um Conrart, der um 1730 entsteht und von Richelieu gezwungen wird, sich in eine staatlich kontrollierbare Kulturinstitution zu verwandeln. Faret wird erster Sekretär der neuen Académie Française und entwirft in Anlehnung an seine Verhaltensethik und unter dem Einfluß des Sprachpurismus der italienischen >Accademia della Crusca< (1538) die Statuten der Académie Française. Sowohl Farets Honnête-Homme-Ideal wie auch die Tradition dieser italienischen Akademie mit ihrem Sprachideal, ihren Sinnbildern und den Gesellschaftsnamen prägen nachhaltig die fruchtbringende Gesellschaft und den >Pegnesischen BlumenordenFrauenzimmer-Gesprächsspiele< hervorgehen. Bereits am letzten Beispiel wird der enge Zusammenhang von Verhaltensethik und ästhetischen Idealen sichtbar, die im Begriff der Geselligkeit zusammenfließen. Die vorliegende Arbeit versucht, diese Interdependenz der verschiedenen Aspekte des Geselligkeitsbegriffes darzustellen und die bisherigen Ansätze zu einer Theorie der (literarischen) Gruppenbildung mit ihrer Bedeutung für die Herausbildung von Symbolwelten (Berger/Luckmann; Neidhart; Barner) 94 und für den kulturellen Wandel weiterzuentwikkeln. An zentralen historischen >Schnitten< sollen die Geselligkeiten inhaltlich bestimmt, diachron die Traditionslinien im europäischen Kontext, synchron die konkurrierenden Mentalitäten und Konzepte analysiert werden. Die Grenzen dieser literaturwissenschaftlichen Arbeit liegen in der Komplexität des Gegenstandes und der fachlichen Kompetenz des Verfassers, da hier keine eigenständigen soziologischen, historischen oder philosophischen Analysen entfaltet werden können, sondern nur auf sie zurückgegriffen werden kann. Insofern versteht sie sich als Beitrag zur Mentalitätsforschung der Geselligkeit im 18. Jahrhundert aus der Perspektive eines Literaturwissenschaftlers, der der Ergänzung, Relativierung und Kritik anderer Fachwissenschaften bedarf.

94

56

Aus wissenssoziologischer Sicht betonen Berger/Luckmann die Rolle der Gruppe für die Herausbildung von >SubsinnweltenDie Finsternüß ist nunmehro vorbeyGesellschaftsliedesMeissnischen Nation< jeden Tag ein gutes Dutzend Gelegenheitsgedichte zu verfassen, 1668 unter dem Titel >Der grünenden J u g e n d überflüssige Gedancken* in Leipzig veröffentlicht. 6 1681 wird eine Gesellschaft der >Handlungs-Deputierten< gegründet. A n der Entwicklung des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens in Leipzig, die mit dazu beitragen, daß Leipzig 1682 zum Zentrum der deutschen Buchproduktion wird, 7 lassen sich exemplarisch zwei unterschiedliche Traditionslinien sowie die sozialen und geistigen Diskrepanzen zwischen K a u f leuten, Gelehrten und absolutistischem H o f im 17. Jahrhundert aufzeigen, die Thomasius in seinem >Discours< und in seinen >Monatsgesprächen< reflektiert. Bereits während des Dreißigjährigen Krieges erscheinen in Leipzig die ersten deutschsprachigen Zeitungen: Pörner, der nach einem Publikationsverbot des Hofes um ein ausdrückliches Privileg nachsucht und es 1633 erhält, begründet seinen Antrag mit einer breiten lokalen und überregionalen Leser- und Korrespondentenschaft aus Adligen,

vornehmen

Handelsleuten, Amtspersonen und ganzen Kommunen. 8 Die Interessenallianz von Kaufleuten, Verwaltung und H o f wird zur Legalisierung seiner Zeitung bis zum Einmarsch der Schweden 1642 beigetragen haben, sie zeigt das Bedürfnis dieser sozialen Schichten nach schnellerem Informationsaustausch in deutscher Sprache. 9 Andererseits ist die Geschichte der ersten deutschen Rezensionsschrift mit internationaler Reputation, der >Acta eruditorum< ( 1 6 8 2 - 1 7 7 6 ) , wesentlich mit dem humanistischen Gelehrtenideal und dem kastenmäßig abgeschlossenen, dynastischen Gelehrtenstand in Leipzig verknüpft. Das >gelehr6 1

Barner, Barockrhetorik, a.a.O., S. igóf. Wolfgang von Ungern-Sternberg, Schriftsteller und literarischer Markt; in: R o l f G r i m m i n g e r (Hrsg.), Deutsche Literatur bis zur Französischen Revolution, a.a.O., S. 1 3 3 - 1 8 ; , S. 152.

* Vgl. zum Folgenden die materialreiche Studie von G e o r g Witkowski, Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig, Leipzig/Berlin 1909, S. 15 8ff. 9 Diese Entwicklung kann die sozialgeschichtliche These von G r i m m belegen, daß der Gelehrtenstand am Ende des 17. Jahrhunderts von zwei Seiten her unter D r u c k gerät, durch den Adel und durch den sozialen Aufstieg der Juristen und Kaufleute, vgl. G r i m m , Literatur und Gelehrtenrepublik, a.a.O., S. 356. - A u f die Rearistokratisierung der Verwaltung durch einen mittlerweile gebildeten Adel verweist auch Wilhelm K ü h l m a n n , Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, T ü b i n g e n 1982, S. 354 und S. 3 56f.

39

te< Leben in der Stadt und an der Universität wird über zwei Jahrhunderte hinweg durch zwei streng lutherische Gelehrten-Familien bestimmt, die Carpzovs und die Menckes. Otto Menckes >Acta< orientieren sich am französischen >Journal des Scavans< (ab 1665), die Familie erhält das kurfürstliche Privileg und die finanzielle Unterstützung vom Hof und vom Kaufmann Carpzov. Seine Mitarbeiter findet er in den zwei philologisch-historisch orientierten Leipziger Sozietäten, dem >Collegium Gellianum< (1641) und dem >Collegium Anthologicum< (1665). Die >Acta< publizieren Rezensionen über Neuerscheinungen aus der Naturwissenschaft und Mathematik, enthalten sich jeder >Politik< und bekämpfen mit ihrem gelehrten Sprachideal der >latinitas< Christian Weises deutschsprachige >Reiffe Gedanken/ Das ist/ Allerhand Ehren- Lust- Trauer- und Lehr-Gedichte< (1683). Mit diesem Profil werden die >Acta Eruditorum< für Thomasius zu einem Symbol für den Pedantismus, den er in der Figur ihres Verteidigers, Herrn Benedict, im Januarheft seiner >Monatsgespräche< (1688) verspottet. 10 Prägend für den Werdegang von Weise, Leibniz und Thomasius ist die Auseinandersetzung mit der lutherischen Orthodoxie an der Leipziger Universität. Entgegen dem väterlichen Wunsch studiert Weise ihretwegen hauptsächlich Jurisprudenz. Nach zwei Jahren ist er bereits Magister der Philosophie (1663) und entwickelt in seinen Vorlesungen ein umfassendes Programm im Sinne des neuen >PolitikMonatsgespräche< als Gegenprojekt zu den >ActaActa< hervor, vgl. T h o m a s Woitkewitsch, Thomasius' >MonatsgesprächePoème sur le Siècle de Louis le Grand< vor und löst damit die europäische >Querelle des Anciens et des Modernes< aus. Die rückwärtsgewandte AntikeIdealisierung und das restriktive >aemulatiobawrenstolzen gesellen< Beamte adliger Herkunft attackiert, die »die gelehrten herumbrücken und discipliniren« wollen und sie als Schulfiichse, dem deutschen Wort für Pedant, bezeichnen, selbst aber keine Kenntnisse noch Fähigkeiten besitzen, zitiert nach Kühlmann, a.a.O., S. 566L

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Les manières pédantes tirent leur nom du métier établi pour instruire les enfans à qui il faut imposer par une gravité recherchée, parce qu'ils sont encore incapables d'une raison formée. Ainsi dans la Société civile, un pédant est celui qui avec d'honnêtes gens, prend un air et des manières telles que les maîtres en ont d'ordinaires avec leurs écoliers."

Aus der anfanglich personalen Kritik am gesellschaftlichen Fehlverhalten des Pedanten (defizienter Sprachmodus durch Latinismen; Überheblichkeit des Wissens, das die Kommunikation stört; Lebensuntüchtigkeit; ungeselliges Verhalten) 23 , die sich aus ihren Traditionslinien der italienischen K o mödie und den satirischen Schriften erklärt, entwickelt sich die Pedantismus-Kritik um 1700 zu einer institutionellen Kritik an Bildungseinrichtungen. Der Aristotelismus als Prototyp einer scholastischen Philosophie wird als Hindernis für die gesellschaftliche Anerkennung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse attackiert, symptomatisch in Perraults Kritik an Boileau in der berühmten >Querelle des Anciens et des ModernesLeitbegriff der Epochenrevision< (Kühlmann), weil seiner Opposition von Bücherwissen der Scholastiker und empirischem Wissen aus dem >Buch der Natur< eine grundsätzliche Problemstellung zugrundeliegt: Wie können neue wissenschaftliche Erkenntnisse und die Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften einerseits mit neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen in der Anwendung von Wissen und mit den Folgen für die Träger von Erziehung und Wissen andererseits

" Claude Buffier, Traité de la Société civile et du moyen de se rendre heureux, en contribuant au bonheur des personnes avec qui l'on vit, Paris 1726, S. i 4 j f . - Vgl. zur ursprünglichen Synonymität von >paedagogus< und >pedantGeschicklichkeit< bindet Thomasius Wissenschaft und Gelehrte an eine Gelehrsamkeit, die anthropologisch allen Menschen eigen ist, an die Entwicklung neuer Sozietäten gemäß dem französischen Beispiel, an die Verhaltensethik und an die Debatte über das Geschmacksurteil. Vorbildlich erscheint ihm die neuartige Gelehrsamkeit in Frankreich, weil sie dort in neuartigen Gesellschaften wie der Académie Française und den Salons entwickelt wird. In der Wiedergabe von Bouhours' Aussage, »die gelehrten Versammlungen kluger Leute vermehren sich täglich/ ja er Einleitung

u n d S. 275.

zu der V e r n u n f f t - L e h r e < ( 1 6 9 1 ) ,

zitiert

nach

G r i m m , a . a . O . , S. 566.

45

esprit* des französischen Jesuiten Bouhours. Mit den >Entretiens d'Ariste et d'Eugène< (1671) hatte Bouhours wie kein anderer den französischen Uberlegenheitsanspruch auf den Punkt gebracht und die Superiorität aus der normierten französischen Sprache und aus dem >bel-espritbel espritc a) den traditionellen Gelehrten als Beruf, der aufgrund der Urteilskraft seines Verstandes »geschickt sey alle Sachen wohl zu unterscheiden«, indem er im Unterschied zum Pöbel den Erscheinungen auf den Grund geht, und der seine Gedanken »mit guter manier und Anmuthigkeit fürzubringen wisse« (Vermittlungsproblem) (15); b) der zweite Typus ist zwar nicht studiert, hat aber »durch eine lange Erfahrenheit und Conversation sich die Geschickligkeit zu wege« gebracht. Als weltkluger und gewandter Mensch weiß der bei esprit >in Gesellschaft* angenehm über alle Gegenstände zu reden; c) >zu der letzten und fürnehmsten Art< findet Thomasius keinen adäquaten deutschen Begriff. Aber seine Umschreibung entspricht Bouhours' Definition des >parfait négociant*, der durch eine auf Menschenkenntnis beruhende >habilité* gekennzeichnet ist: Dans les négociations ils se conduisent avec beaucoup d'habilité et d'une manière fort délicate: ils découvrent d'abord les pensées de celui avec qui ils traitent sans se découvrir eux-mêmes. 2 7

In dieser Typisierung des >bel esprit* werden drei soziale Bereiche angesprochen, in denen Weltgewandtheit und Gelehrsamkeit eine zentrale Rolle spielen: die an praktischen Erfordernissen orientierte Schule und Universität, wie sie wohl am ehesten die französischen Akademien im Gefolge der italienischen Akademie-Bewegung der Renaissance und in Deutschland der neue Typus der Ritterakademien verkörpern; die Geselligkeit der vornehmen Salons, auf die Thomasius mit seinem Verweis auf Mlle de Scudéry anspielt, und der gesamte Bereich der höfischen Verwaltung (Kanzleiwesen, Justiz und Diplomatie). Indem Bouhours und Thomasius die >négociations* für den >bel esprit* betonen, zeigt sich eine symptomatische Ausweitung und Verschiebung gegenüber dem >honnête homme*-Ideal Farets (1730), da Aspekte sowohl des diplomatischen Umgangs mit bürgerlichen Fähigkeiten zur Geschäftsführung verknüpft und dem bisherigen Geltungsbereich des Gelehrten und des >Weltmannes* übergeordnet werden. Der von Thomasius neu definierte >bel esprit* wird unter dem Begriff des >parfait homme Säge* zu einer Mittler-Figur zwischen den ständisch voneinander abgegrenzten Welten des Hofes, Adels und Bürgertums, ein Vermittler, der sich aufgrund seiner Kenntnisse wie seines Anstands sowohl in der einen wie der anderen Welt auskennen und bewegen muß. In diesem Sinn lobt Thomasius in sei*7 Zitiert nach Strosetzki, a.a.O., S. 85.

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nen >Monats-Gesprächen< Tschirnhaus, dessen >Medicina mentis< ein Beweis dafür ist, daß man es vom Nicht-Spezialisten zu Gelehrsamkeit und zum >bel esprit< bringen kann: E r seines O r t s h i e l t e d e n H e r r n T s c h i r n h a u s e n f ü r e i n e n w a k e r n g e l e h r t e n M a n n / d e r d u r c h d i e c o n v e r s a t i o n m i t g e l e h r t e n L e u t e n / d u r c h viele E r f a h r u n g e n u n d fleissiges N a c h f o r s c h e n in n a t ü r l i c h e n u n d m a t h e m a t i s c h e n S a c h e n sich e i n e s o l c h e C o g n i t i o n z u w e g e g e b r a c h t / d a ß m a n i h n billich v o n d e r Classe d e r P e d a n t i s c h g e l e h r t e n a u s n e h m e n m ü s s e / w e i l er o h n e allen Z w e i f e l u n t e r d i e g e h ö r e / w e l c h e m a n h e u t i g e s T a g e s m i t G r u n d u n d W a r h e i t b e a u x - e s p r i t s zu n e n n e n p f l e g e . l S

D u r c h den ständeübergreifenden Aspekt in der Neuorientierung der Wissenschaft und des >geschickten Gelehrten« wird es zum einen möglich, daß sich Teile des Adels und Teile des aufstrebenden Bürgertums in Bildung, Verwaltung, Justiz und Handel gemeinsam damit identifizieren können. Beschränkungen in zeitgenössischen Auffassungen über Geschicklichkeit und politische Klugheit« werden überwunden. Verglichen damit wird in Johann Beers Roman >Die Teutschen Winter-Nächte« (1682) Geschicklichkeit noch traditionell als adliges Komplement des idealen H o f m a n n s verstanden, der in sich ritterliche Kampftugenden mit Bildung vereinigt. Castiglione hatte die Synthese von >armae et litterae« idealtypisch und wirkungsmächtig in >11 Cortegiano« entwickelt. Als negatives Beispiel dieses Ideals heißt es bei Beer, daß ein Graf »in keinerlei Ritterspielen noch andern Exercitien erfahren [war], weil zu allen diesen sein Leib und die Glieder ganz indispost und ungeschickt waren. So war er auch von so obscurem Ingenio, daß er kaum recht lesen konnte.« 29 Von Christian Weise wird im Roman >Die drey klügsten Leute« (1675) politische Klugheit als individualethisches Verhalten bestimmt, das dem Individuum bei seinem Streben nach Glück in der Gesellschaft hilft: E r s t l i c h ist d e r k l u g / w e l c h e r sein G l ü c k w o h l b e f ö r d e r n k a n . Z u m a n d e r n ist d e r k l u g / w e l c h e r s e i n e A f f e c t e n w o h l r e g i e r e n k a n . E n d l i c h ist d e r k l u g / w e l c h e r sich v o r seinen F e i n d e n w o h l h ü t e n kan.'°

Christian Thomasius, Schertz- u n d Ernsthaffter/ Vernünfftiger und Einfaltiger G e d a n c k e n / über allerhand Lustige u n d nützliche Bücher u n d Fragen Erster M o n a t h o d e r J a n u a r i u s in e i n e m G e s p r ä c h v o r g e s t e l l e t v o n d e r G e s e l l s c h a f t d e r e r M ü ß i g e n , F r a n c k f u r t h / L e i p z i g 1688, N D F r a n k f u r t a. M . 1 9 7 2 , B d . I ( J a n u a r - J u n i 1688), S. 4 1 5 f . - W e g e n d e r h ä u f i g e n V e r ä n d e r u n g e n d e s T i t e l s d e r Z e i t s c h r i f t i m F o l g e n d e n z i t i e r t als T h o m a s i u s , M o n a t s - G e s p r ä c h e . - A h n l i c h l o b t T h o m a s i u s T s c h i r n h a u s a m E n d e seines >Discourses«, a . a . O . , S. 46/47. J o h a n n Beer, D i e teutschen W i n t e r - N ä c h t e u n d kurzweiligen S o m m e r - T ä g e (E: 1 6 8 2 / 8 3 ) , h g . v o n R i c h a r d A l e w y n , F r a n k f u r t a. M . 1985, S. 165. - Vgl. zu Cas t i g l i o n e s >11 C o r t e g i a n o « A u g u s t B u c k , C a s t i g l i o n e s >Buch v o m H o f m a n n « ; in: D i e S a m m l u n g 15 ( i 9 6 0 ) , S. 494—503. - Vgl. z u r V e r b r e i t u n g dieses R e n a i s s a n c e - W e r k e s m i t ca. 60 A u f l a g e n B e e t z , F r ü h m o d e r n e H ö f l i c h k e i t , a . a . O . , S. io6f. ' " Z i t i e r t n a c h G r i m m , a . a . O . , S. 367.

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Gegenüber Beer und Weise nimmt Thomasius eine markante Verschiebung vor: Semantisch enthält sein Begriff der Geschicklichkeit einen intersubjektiven Aspekt, indem er auf Kenntnisvermittlung und gemeinsamer, vernünftiger Urteilsbildung im geselligen Umgang mit anderen beruht. Der Mensch besitzt zwar eine Anlage zu Gelehrsamkeit und Vernunft, aber er muß sich die Geschicklichkeit erst »durch eine lange Erfahrenheit und Conversation« (16) erwerben. Sie umfaßt Lebenstüchtigkeit, Lebensweisheit durch Umgang mit anderen, Urteilsfähigkeit durch Menschenkenntnis und praktisches Handeln und schließlich in Anlehnung an Castigliones >grazia< auch >gute manieren und anmutigkeitMönchssitten< in Franckes pietistischem >Paedagogium< in Glaucha, weil sich in der Abgeschiedenheit von der übrigen Welt keine sozialethisch fundierte Gelehrsamkeit entwickeln lasse. Durch die Gesprächsgeselligkeit stößt Thomasius verstärkt auf die Vermittlungsproblematik von Inhalten. Die Uberwindung der >latinitas< ist nur ein Teilaspekt davon. Ebenso wichtig ist der psychische Faktor im zwischenmenschlichen Umgang, den Thomasius unter dem Titel >Die neue Erfindung einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen höchstnöthigen Wissenschafft/ Das Verborgene des Hertzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Conversation zu erkennen< als >Gemüterkennungskunst< entwickelt. Seine >neuartige Affektenlehre< (Rüdiger Campe), die mit ihrer >Veredlung< der Leidenschaften eine Traditionslinie bis zur Spätaufklärung und bis zur ästhetischen Theorie der Weimarer Klassik begründet, beinhaltet eine Abkehr von der rhetorischen Lehre der >loci communes< und des äußeren Aptum und trägt durch die Aushöhlung der rhetorischen Affektenlehre zum >Paradigmawechsel< (Georg Braungart) von Rhetorik und Moralistik zur Anthropologie bei: Die hermeneutisch angelegte Gemütserkennungskunst umfaßt physiognomische und psychologische Kenntnisse zur Selbst- und Fremdbeobachtung, die Decorum-Lehre stellt die produktive Anwendung dieses Interaktionswissens in der Gesprächsgeselligkeit dar. Rüdiger Campe spricht deshalb von einer Verdoppelung der alten aristotelischen Dreierformel des Affekts »in eine wissenschaftliche Dualität von Physik und (naturrechtlicher) Moral einerseits und eine praktisch-theoretische Ergänzung von Hermeneutik und Rhetorik (von Physiognomik und Affektenlehre) andererseits«.5' Hinzu kommt, daß Tho-

>' Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck: zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, S. 134. - Vgl. Georg Braungart, Sprache und Verhalten. Zur Affektenlehre im Werk von Christian Thomasius, in: Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Christian Thomasius, a.a.O., S. 365-375. 48

masius mit seiner Weiterentwicklung der aristotelischen Affektenlehre im Widerspruch zur theologischen A u f f a s s u n g von den A f f e k t e n als ungezügelten, triebhaften Leidenschaften steht. Z w a r differenziert er in seinen >Cautelen zur Erlernung Der Rechts=Gelahrtheit< zwischen negativen A f fekten wie »Fressen und Sauffen, Geilheit, Geld=Geitz, Ehrgeitz, Neid, Zorn«. Alle anderen A f f e k t e sind jedoch »in sich weder gut noch böse«' 2 und damit einer Erziehung zur Mäßigung zugänglich. Wurden bisher Tugenden und Laster häufig als struktureller Antagonismus behandelt, so impliziert ein v o m Erbsündedogma befreiter und neutralisierter A f f e k t b e g r i f f eine innere Widersprüchlichkeit im Menschen und konterkariert religiöse Auffassungen von der Frau als Inkarnation für Geschwätzigkeit, Wollust, Hurerei und verbrecherische Intrigen. 3 5 Unabhängig von der Religion kann sich der Mensch durch Selbstdisziplinierung oder durch Hilfe anderer zur Tugend entwickeln. Selbstverantwortlichkeit und Fähigkeit zur Selbsthilfe aber stellen die Kirchen in ihrer Rolle als alleinige moralische Urteilsinstanz in Frage.

1.2. >Wahre Galanterie< und soziale Ausweitung der Gelehrsamkeit Sichert die Affektenlehre den inneren Bereich der Vermittlung neuen Wissens ab, so zielt die Reformulierung des Galanteriebegriffes auf den äußeren Aspekt. Dies wird schon daran deutlich, daß Thomasius sein Ideal des >parfait homme Sâge< an der Eigenschaft des >bon goût< festmacht und damit an Graciáns >gusto< als Kennzeichen für die Vollkommenheit des Weltmanns in >E1 Discreto< anknüpft. Thomasius' sinnliche, verstandesmäßige und ästhetische

Momente

umfassender Geschmacksbegriff

im »homme

de

bon

goust< 34 meint nicht mehr ein höfisch-sozialdistinktives Postulat, sondern er 31

H e r r n Christian T h o m a s e n s [. . .] H ö c h s t n ö t h i g e C A V T E L E N welche ein S T U D I O S U S J U R I S , D e r sich zu E r l e r n u n g D e r R e c h t s = G e l a h r h e i t A u f eine k l u g e und geschickte Weise vorbereiten will, zu beachten hat, Halle 1 7 2 9 (2. A u f l a g e ) , S. 4 7 i f . , zitiert nach B r a u n g a r t , Sprache und Verhalten, a.a.O., S. 369.

" D i e s e k o n s e r v a t i v e F r a u e n i m a g o findet sich in B e e r s >Die teutschen W i n t e r - N ä c h t e u n d kurzweiligen Sommer-Täge< (1682/85) w ' e noch Schnabels »Insel Felsenburg< ( 1 7 3 8 ) . In B e n j a m i n N e u k i r c h s » A n w e i s u n g zu Teutschen Briefen< ( > 7 2 1 ) heißt es: » D a s frauenzimmer ist f ü r alle j u n g e leute g e f a h r l i c h ; dabey ehrgeitzig, neidisch, verschwatzt, e m p f i n d l i c h , hönisch [. . .] es ist lange nicht so schwer, ein weibsbild v o n u n g e m e i n e r Schönheit verliebt zu machen, als der allerheßlichsten wieder loß zu werden.« Zitiert nach C o n r a d W i e d e m a n n ( H r s g . ) , D e r galante Stil 1680—1730, T ü b i n g e n 1969, S. 3 1 . 34

T h o m a s i u s , D i s c o u r s , a.a.O., S. 17. - Sein G e s c h m a c k s b e g r i f f im >Discours< und in den >Monats-Gesprächen< (Julius 1689) sind w i c h t i g e B e l e g e f ü r die f r ü h e deutsche D i s k u s s i o n des G e s c h m a c k s b e g r i f f e s , der mit G r a c i á n s >E1 Discreto< (1646) beginnt und in Frankreich v o n den Verhaltenstheoretikern M é r é , L a R o c h e f o u cauld und B o u h o u r s fortgesetzt wird. D i e deutsche D i s k u s s i o n beginnt nicht erst

49

vermittelt darüber die gesellschaftlichen Bereiche von Hof und Verwaltung, Schule und Wissenschaft und den gesellschaftlichen Umgang zwischen >Privat-Personenpraejudiciatote< Sprache das Weltbild des Lernenden deformieren kann. Bezeichnend für sein Bewußtsein vom Modernisierungsdruck und für seinen Pragmatismus ist, daß Thomasius die an der Umgangssprache orientierte Sprachreform dem Ziel der Verbreitung der Gelehrsamkeit unterordnet und damit v o m Sprachpurismus des 17. Jahrhunderts in der Tradition der italienischen Spätrenaissance abweicht. D i e bewußte Mißachtung der Verdienste barocker Sprachgesellschaften um die deutsche Sprache wie ζ. B. der >Fruchtbringenden Gesellschaft ist die Kehrseite seiner zeitgenössischen Rezeption der französischen Moderne. E r plädiert für den simultanen Gebrauch des Deutschen und Französischen im Unterricht, da letztere Sprache bereits so weit verbreitet ist, »daß an vilen Orten bereits Schuster und Schneider/ Kinder und Gesinde dieselbige gut genung reden« können (29). Den sozialen Aspekt der Sprachreform spricht er im L o b Frankreichs für die zahlreichen Übersetzungen in die Muttersprache an, »denn dadurch wird die Gelehrsamkeit unvermerckt mit grossen Vortheil fortgepflanzet/ wenn ein ieder das jenige/ was zu einer klugen Wissenschafft erfordert wird in seiner Landes Sprache lesen kan« (22). Eine unmittelbare Anwendung findet das neue Gelehrten- und Wissenschaftsideal mit ihrer sozialen Ausweitung in Thomasius' Vorlesungen in Halle, die ab 1687 auch bildungswillige Nicht-Studenten besuchen dürfen.' 7 Thomasius selbst hat entscheidenden Anteil daran, daß die 1680 neugegründete Ritterakademie in Halle 1694 zur brandenburgischen Universität ausgebaut wird. Erst durch die pietistische Intoleranz unter Friedrich Wil-

)6

Sauder betont, daß der B e g r i f f der >curiositas< gegen das religiöse D o g m a der sündlichen Wissenslust verstößt, vgl. Sauder, »Galante Ethica< und aufgeklärte Öffentlichkeit in der Gelehrtenrepublik, a.a.O., S. 222. ' ' G r i m m , a.a.O., S. 586.

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helm I. verliert sie ihren Ruf als modernste Universität. 38 Ihre Ausstrahlungskraft auf die traditionellen Gelehrtenschulen und Universitäten gewinnen die Ritterakademien trotz ihrer begrenzten Bedeutung für den Adel durch ihre Praxisorientierung, einen modernen, an den Realdisziplinen orientierten Lehrplan, einen reformierten Rhetorikunterricht und durch die Betonung der >politischen< Umgangsformen. 59 Das am Modell der Ritterakademie orientierte >Gymnasium Illustre Augusteum< in Weißenfels wird durch Weise, Riemer, Hunold und Bohse zu einer >Pflanzschule der Komplimentierkunst< (Beetz). Damit können sie am Ende des 17. Jahrhunderts zu wichtigen Ausbildungsstätten der neuen Verwaltungsbeamten werden und beeinflussen die Lehrplanveränderungen an anderen Erziehungsinstitutionen.

1.3. Adiaphora und Decorum: Einfallstore der Moderne Thomasius' Postulat einer moderaten Nachahmung der Franzosen verstößt nicht nur gegen das traditionelle Gelehrtenideal, sondern ebenso gegen theologische Auffassungen von den Mitteldingen, wenn es im >Discours< heißt: Eine Nachahmung ist allezeit lobens würdig/ wenn die Sache selbst nichts scheltwürdiges an sich hat/ in Mitteldingen verdienet selbige weder Lob noch Tadel.40

Während die Theologen und Ärzte die >Frantzösischen Sünden und Kranckheiten< behandeln sollen, behauptet er, die »Frantzösischen Kleider/ Speisen/ Haußrath/ Sprachen und Sitten« können »mit nichten als denen Göttlichen Gesetzen zu wieder aufgeruffen werden« (11). Mit dieser scheinbar harmlosen Feststellung entzieht er die Gegenstände der Nachahmung der moraltheologischen Bewertung von Gut und Böse und bezieht in dem Adiaphora-Streit Stellung, der seit dem 16. Jahrhundert geführt wird, im Hamburger Opern-Streit 1681-87 eine Neuauflage erlebt und sich in der Frage von Maskeraden, Festen und Tanzvergnügungen im gesamten 18. Jahrhundert fortsetzt. Generell sind Adiaphora Dinge oder Handlungen, die von Gott oder der Bibel weder ausdrücklich erlaubt noch verboten sind. Seitdem im Mittelalter die neutrale Qualität von Dingen auf menschliche Handlungen übertragen und damit der Adiaphoron-Begriff ausgeweitet wurde, 4 ' kommt es immer Vgl. Düffel, Nachwort, a.a.O., S. 199 und Beetz, Frühmoderne Höflichkeit, a.a.O., S. 84. 39 Barner, Barockrhetorik, a.a.O., S. 377ff. und Kühlmann, a.a.O., S. 349. 40 Thomasius, Discours, a.a.O., S. 10. - Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Quelle. 41 Vgl. Fauser, Das Gespräch, a.a.O., S. 141. - Johannes Gottschick, Art. >Adia-

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wieder zu heftigen Auseinandersetzungen über die Frage, ob es einen religiös indifferenten Spielraum überhaupt geben kann und wie das menschliche Bedürfnis nach Vergnügungen und Muße moraltheologisch zu bewerten ist. Deshalb stehen weltliche Vergnügungen wie Schmuck, Genuß von E s sen und Trinken, Musik, Schauspiel, Tanzen und fröhliche Geselligkeit über das motwendige Maß< hinaus im Zentrum des Streits. Für Thomasius ist diese Auseinandersetzung wesentlich, weil Geselligkeit und Geschmacksurteil sich an den Mitteldingen entwickeln und über die Kategorie der Geschicklichkeit in seinen Wissenschaftsbegriff eingehen. Eine Modernisierung der Wissenschaft hängt entscheidend von ihrer A u tonomie gegenüber theologischen Wertmaßstäben ab. Anders ausgedrückt: Gegenüber dem asketischen Z ü g e n im aufkommenden Pietismus von Anhängern Speners und Franckes, die jeglichen indifferenten Bereich leugnen und die Vergnügungen als Epikurismus und >sündliche Lust< diffamieren, entzieht Thomasius Wissenschaft, Gesprächsgeselligkeit und Verhaltensethik grundsätzlich einer theologischen Beurteilung, um ihre Modernisierung zu ermöglichen. Welche gesellschaftspolitische Brisanz der AdiaphoraStreit Ende des 17. Jahrhunderts enthält, wird an den Positionen von T h o masius und Vockerodt deutlich. Mit naturrechtlichen Argumenten verteidigt Thomasius die Adiaphora-Lehre seines Schülers Brenneysen >De jure Principis circa Adiaphora< (1695) gegen die A n g r i f f e der Hallenser Carpzow und Alberti und fordert die Unterordnung der Kirche unter den >Statu PoliticodecorumTeutsche Sekretariat-Kunst< formulierte. Im Sinne der traditionellen >ordoWeib und Manndecorum< vom >honestum< (Beetz). Hatten Cicero in >De officiis< zwischen der Gerechtigkeit (honestum) und Taktgefühl (decorum) und Bacon zwischen >honestum< für den inneren und >decorum< für den äußeren Frieden (bonitas externa et interna) unterschieden, so entwickelt Thomasius eine Friedensordnung, die tendenziell auf gesellschaftliche Egalität durch Abschaffung des ständisch-hierarchischen Decorums hinausläuft. In Anlehnung an die Naturrechts-Lehren von Grotius und Pufendorff unterscheidet er zwischen dem >natürlichen decorum< als unveränderlichem, universalem Naturrecht und einem politischen decorum< als geschichtlich veränderbarem, teilweise völkerspezifischen Anstand. Durch die Differenzierung erhält der vorgeschichtliche Naturzustand mit seiner >natürlichen< Gleichheit die Funktion einer Kontrastfolie zur gegenwärtigen >Entartung< der ursprünglichen Vollkommenheit. Wenn Tho-

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klärung und Restauration: sozialer Wandel in der deutschen Literatur 1700-1848 (FS Wolfgang Martens), Tübingen 1989, S. 17-47, bes. S. 22f. Zitiert nach Grimm, a.a.O., S. 391, Fußnote 467. - Mit dem materialreichen Nachweis, daß Thomasius' Decorum-Lehre gegenüber dem Prudentia-Konzept des Barock eine zentrale Wende bedeutet, korrigiert Beetz, Frühmoderne Höflichkeit (S. 26 9 ff.) Grimms These vom >Traditionalismus< der thomasischen Decorum-Lehre, vgl. Grimm, a.a.O., S. 351. - Vgl. ferner Ursula Mildner, Art. >DecorumCautelen der Rechts-Gelahrtheit< formuliert, daß die Bedeutung der Etikette in einem Gemeinwesen umso mehr zunimmt, je mehr ihr Vollkommenheitsgrad abnimmt, 46 kann daraus umgekehrt gefolgert werden: Vernünftige Liebe, vertraute Freundschaft und Bildung heben die geschichtlich entstandenen, damit aber auch veränderbaren N o r m e n gesellschaftlicher Ungleichkeit, wie sie sich besonders in der Rangfolge und den PräzedenzRegeln manifestieren, wieder auf. Vertraulichkeit ist das gerade Gegenteil eines sozialdistinktiven Umgangs. Deshalb empfiehlt Thomasius in Opposition zu den Titularien der barocken Epistolarien die A b s c h a f f u n g der Höflichkeitsfloskeln in Freundschaftsbriefen und kritisiert im >Discours< den Gebrauch von Anstandsformeln aus den Brieflehren und Romanen in >verliebten Briefen< (44). Besonders brisant ist, daß Thomasius gegenüber dem Ausschluß des >Pöbels< aus dem Decorum im Barock erstmals ein spezifisches Decorum für Bauern, Tagelöhner und Handwerker, Respekt der Ranghöheren gegenüber Rangniederen und eine neue Beziehung zwischen Herr und Knecht fordert. Direkte Auswirkung hat diese Wende in der Conduite-Auffassung< (Beetz) für sein Wissenschaftsideal, das sich in direkter Anlehnung an Bayles Definition in einer kosmopolitischen Gelehrtenrepublik realisiert: Die Respublica litteraria hat mit denen andern Rebuspublicis wenig Gemeinschafft / sondern sie ist der Societati maximae gentium qua talium nicht ungleich. Sie erkennet kein Oberhaupt/ also die gesunde Vernunfft/ und alle diejenigen/ die darinnen leben/ sind einander gleich/ sie mögen von was Nationen oder Stände seyn was sie wollen.

Bildung und Gelehrsamkeit konstituieren eine ständeübergreifende Gleichheit, die bei Abstimmungen kein Decorum mehr kennt: Die Seele derer votorum bestehet in der Freyheit/ daß man seine Gedancken eröffnet/ wie sie an sich selbsten sind/ und kein Ansehen der Person beobachtet. 4 '

A u c h wenn Thomasius eine Trennung zwischen dem Innenraum der G e lehrtenrepublik und dem Außenraum der Gesellschaft vornimmt, die in Deutschland für die Akademiebewegung und für die Freimaurerei bis um 1780 bestehen bleibt, so ist hier der Egalitarismus von Gottscheds d e u t scher Gesellschaft vorgezeichnet. A n der Entstehung von Gottscheds aufgeklärter Sozietät zeigt sich beispielhaft, welchen Mentalitätswandel die neue Decorum-Lehre von T h o masius und sein Begriff der Geschicklichkeit befördern. K u r z nach seiner A n k u n f t in Leipzig 1724 wird Gottsched durch den Präsidenten Mencke in

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Vgl. Christian Thomasius, Cautelen der Rechts-Gelahrtheit, zitiert nach Beetz, E i n neuentdeckter Lehrer der Conduite, a.a.O., S. 218. Thomasius, Monatsgespräche, a.a.O., Bd. I V (1689), S. 1146. 55

die 1717 gegründete >Deutschübende poetische Gesellschaft eingeführt, zu deren Programm das Verfassen poetischer Texte, die Übung in deutscher Prosa und die Herausgabe eines >Lexicon Critico-Poeticum< gehört. Zusammen mit dem Leipziger Philosophie-Professor May beseitigt Gottsched die enge, poetische Zielsetzung und die auf Männer beschränkte Aufnahme. Zwar ist die >Deutsche Gesellschaft dem Sprachpurismus der barocken Gesellschaften und der Académie Française verpflichtet, doch Gottsched verwirklicht in ihr ansatzweise die neue Frauenimago der »gelehrten Frau< auf der Grundlage einer anthropologischen Disposition zur >GelahrtheitSchriften der deutschen Gesellschaft veröffentlicht May zahlreiche Aufsätze zum Thema, wie ζ. B. sein »Philosophisches Sendschreiben, inwieweit eine Frau gelehrt seyn könneDiscours< (1687), seiner Naturrechtslehre in den >Institutiones jurisprudentiae divinae< (1688) und der Gesprächsform in den >Monatsgesprächen< (1688-90) mehr als ein rein biographischer Zusammenhang in der Schaffensperiode des Leipziger Rechtsprofessors besteht. Das Verbindende besteht in Thomasius' Ideal einer vernunftgeleiteten Gesprächsgeselligkeit, die er modellhaft in den ersten Heften der >Monats-Gespräche< entwickelt. Verglichen mit den Vertretern einer konservativen, christlich fundierten Strömung innerhalb des modernen Naturrechts, repräsentiert durch so unterschiedliche Theoretiker wie Leibniz, Prasch und Alberti, einem der schärfsten Gegner von Pufendorfs Naturrechtslehre und von Thomasius' >Monats-GesprächenInstitutiones< Vernunft und Geselligkeit nicht nur, um daraus eine Pflichtenethik für die Gesellschaft abzuleiten und Geselligkeit mit Frieden und allgemeiner Wohlfahrt zu identifizieren. Vielmehr setzt Thomasius Geselligkeit mit dem Vernunftbegriff selbst gleich, indem er unter Vernunft eine innere Rede versteht. Schneiders betont deshalb: Vernunft ist daher gesellschaftsbezogen oder gemeinschaftsgebunden. Vernunft ist schon als bloße Potenz zu denken eine N e i g u n g zur Kommunikation in der G e sellschaft. Als Kommunikationsvermögen hat sie die Tendenz, das friedliche Z u sammenleben aller als ihre eigene Voraussetzung zu realisieren. Geselligkeit ist ihrem Ursprung nach Vernunftkommunikation.' 2 ,0

Wilhelm Voßkamp, Romantheorie in Deutschland. Von M . O p i t z bis Fr. von Blanckenburg, Stuttgart 1973, S. l o j f f . - Herbert Jaumann, Das Modell der Literaturkritik in der frühen Neuzeit: Z u seiner Etablierung und Legitimation; in: Wilfried Barner (Hrsg.), Literaturkritik - Anspruch und Wirklichkeit ( D F G - S v m posium 1989), Stuttgart 1990, S. 8 - 2 3 . - R o l f Lieberwirth, Die französischen Kultureinflüsse auf den deutschen Frühaufklärer Christian Thomasius; in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Halle 33 (1984), Heft 1, S. 6 3 - 7 3 . - T h o m a s Woitkewitsch, Thomasius' >MonatsgesprächeMonatsgesprächen< als Zeitschrift insgesamt gerecht zu werden.

Vgl. den konzisen Uberblick in Fauser, D a s Gespräch, a.a.O., Abschnitt >Naturrecht und G e s e l l i g k e i t . " W e r n e r Schneiders, Naturrecht und Liebesethik. Z u r Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, Hildesheim 1 9 7 1 , S. 1 1 0 .

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Mit dieser Gleichsetzung von Geselligkeit und Vernunftkommunikation nimmt Thomasius eine Position des historischen Umbruchs ein, nicht die einer vermittelnden, logischen Zwischenstellung. A n seiner Theorie zeigen sich traditionelle Einflüsse des Christentums, aber auch die eines neuzeitlichen, diesseitigen Naturrechts. Einerseits geht er von einem übergeordneten >jus Dei< als ungenannter Voraussetzung des neuzeitlichen Naturrechts aus und unterscheidet sich von der strikten Diesseitigkeit in Grotius' Naturrecht. Andererseits fuhrt sein Versuch einer systematischen Trennung von Theologie und Philosophie, Offenbarung und Vernunft zu einer Diesseitigkeit der Geselligkeit, die von der orthodoxen Strömung im Naturrecht als Vernachlässigung der menschlichen Pflichten gegenüber Gott kritisiert wird." Trotz einer pietistischen Zwischenphase behält Thomasius seine Auffassung von der zentralen Bedeutung der konversationeilen Geselligkeit bis in die Spätzeit bei. In seiner Schrift >Kurtzer Entwurf der Politischen Klugheit< (1710) bestimmt er den Menschen anthropologisch als geselliges Tier, der aus dieser von Gott empfangenen Eigenschaft Gesellschaften bildet. Ihre Grundlage bildet die Kommunikation: »Der Mensch ist ein Zahmes und geselliges, nicht aber ein wildes noch zur Einsamkeit geschaffenes Thier. Der Grund aller Gesellschaften ist die Conversation [. . .]«.54 In dieser anthrophologischen Fundierung der Geselligkeit zeigt sich, was Verhaltensethik, Lehre von der Privatklugheit, Naturrechtslehre und die Darstellungsform der >Monats-Gespräche< miteinander verbindet: Geselligkeit ist der anthropologische Ausgangspunkt für die Gesellschaftsbildung, Zielvorstellung einer idealen, friedlichen Gesellschaft und des zwischenmenschlichen Verhaltens in ihr. Darüber hinaus ist sie erkenntnistheoretisches Medium für die Herausbildung der menschlichen Vernunft, nicht im geschichtsphilosophischen Sinn der Entwicklung der Menschheit, wohl aber im didaktisch-moralischen Sinn der Entwicklung des Individuums. Einerseits leitet sich die Vernunft nicht wie bei den Cartesianern aus einer mathematischen Deduktion her, sondern sie bildet sich durch gesellige Gespräche intersubjektiv heraus. Andererseits ermöglicht die Kommunikation erst die Entwicklung der anthropologischen Geselligkeit von einer Disposition zu einer realen Verhaltensweise des Menschen. Thomasius greift damit " V g l . Schneiders, S. 68f. und yzf. 14 Christian Thomasius, Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit für sich selbst und andern in allen Menschlichen Gesellschafften wohl zu rathen/ und zu einer gescheiden Conduite zu gelangen [. . .], Franckfurt/Leipzig 1710, N D Frankfurt a. M. 1971, S. 108. - Im Monats-Gespräch Januar 1688 beruft sich Augustin in der Diskussion über den Nutzen politischer Bücher ausdrücklich auf die »Meynung des Meisters Aristotelis«, der Mensch sei von Natur her ein gesellschaftliches Wesen (Monats-Gespräche, a.a.O., S. 66).



auf die französische Konversationstheorie im 17. Jahrhundert zurück. Charlesme ( 1 6 7 1 ) hatte die Konversation als Gelegenheit bezeichnet, »qui contribue le plus à rendre les hommes sociables, et que c'est elle, qui fait le plus grand commerce de la v i e « . "

2.1. Journaltheorie und doppelte Gesprächsgeselligkeit in den >Monats-Gesprächen< Signifikant wird der Wechselbezug von Gesprächsgeselligkeit und Vernunft in der Darstellungsform der >Monats-GesprächeMonats-Gespräche< einen neuartigen Zeitschriftentypus dar, der sich von den wichtigsten zeitgenössischen Journalen im In- und Ausland (Menkkes >Acta EruditorumJournal des ScavansNouvelles de la République des LettresBibliothèque universelleZwang zum Experimentiere™ sind Herbert Jaumann zufolge die Spezifika einer Umbruchssituation, in der Thomasius seine >Monats-Gespräche< publiziert.' 6 Durch die A u f w e r t u n g des >iudiciums< seines intendierten Lesepublikums

besitzen die meinungsbildenden

>Monats-Ge-

spräche< im Unterschied zu bloßen Rezensionszeitschriften die Funktion eines Vermittlers zwischen sozialständisch abgeschlossenen Gesellschaftskreisen und fördern die Herausbildung einer neuen >bürgerlichen< Öffentlichkeit. >Bürgerlich< meint hier das Eintreten für Urteils- und Kritikfähigkeit, Wahrheit, Aufrichtigkeit und Vernunft, die unabhängig von der Standeszugehörigkeit zu allgemeinen N o r m e n für Verhaltensethik und sprächspragmatik

erhoben werden,

um

eine partnerschaftliche,

Ge-

gleich-

berechtigte Konversation zu gewährleisten. Thomasius benutzt in den >Monats-Gesprächen< Januar und Februar 1688 die Fiktion einer doppelten Einbettung, um die inhaltlichen Aussagen in doppelter Weise zu relativieren: Die fiktive Verfassergesellschaft der G e s e l l schaft der Müßigem gibt eine Zeitschrift heraus, deren Inhalt die Gespräche einer Reisegesellschaft sind. Die Reisegesellschaft besteht aus dem weitgereisten Kavalier Augustin, dem >Handels-Herrn< und Meinungsföhrer " Charlesme, L ' H o m m e de qualité, ou les moyens de vivre en homme de bien et en homme du monde, Amsterdam 1 6 7 1 . Zitiert nach Strosetzki, Konversation, a.a.O., S. 13. i6 Herbert Jaumann, Bücher und Fragen: Z u r Genrespezifik der >MonatsgesprächeiudiciumMonats-Gespräche< Neugier erwecken, den Leuten »durch eine kurtze relation das Maul wässrig« machen (234), damit sie das Buch vollständig lesen. Auf der Beziehungsebene illustriert die Gesprächsgeselligkeit Thomasius' Ideal einer intersubjektiven Urteilsbildung. Modellhaft werden dem realen Leser an der fiktiven Reisegesellschaft die vielfältigen Aspekte eines Problems mit dem Ziel vorgeführt, daß er nicht die vorgegebene Meinung angeblicher Autoritäten ungeprüft übernimmt, sondern deren Positionen kritisch untersucht und sein eigenes Urteil entwickelt. " Thomasius, Monats-Gespräche, a.a.O., Vorrede zum Januar 1688, Bd. 1, unpaginiert, S. 1 1 .

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Die Gesprächsform der >Monats-Gespräche< ist kein beliebiges Akzidens, sondern in ihr manifestiert sich eine philosophische Programmatik, die neben dem Vernunfturteil der Leser die Unparteilichkeit des Autors gewährleisten und seine Überheblichkeit verhindern soll. Beispielhaft zeigt sich diese Funktion der Darstellungsform bei der Erörterung der Theorie für ein >Teutsches Journal< im >Monats-Gespräch< Februar (1688) durch die Reisegesellschaft. Unter Berufung auf die Gesprächsform im >Journal des Scavans< fordert der Gelehrte Benedict die Darstellung der »einfältigen als vernünfften/ Judicia«, repräsentiert durch »einen oder ein Paar alberne Kerl«, die »ihr einfältig Bedencken mit vortrügen, die andern aber mit vernünfftigen Ursachen ihre Meinung vorbrächten/ iedoch solcher Gestalt/ daß sie meistentheils/ dieselben mehr per modum objectionum, als eines judicii decisivi setzten. Denn auff diese Weise dürffte man dem Autori nicht Schuld geben/ daß er sich anmasse in República Literaria, da alles Gelehrten gleich zu achten/ über dieselben Richter zu seyn«.' 8 Im Folgenden wird Benedicts Meinung ergänzt durch den Einwurf des Handelsherrn Christoph, nach niederländischem Vorbild auch Juristen für die Mitarbeit am Journal zu gewinnen. Diese inhaltlichen Positionen spiegeln exakt Zusammensetzung und Gesprächsform der Reisegesellschaft wieder. Die dargestellte Reisegesellschaft demonstriert dem realen Leser, wie sich die verschiedenen Meinungen unterschiedlicher Berufsgruppen ergänzen, sich gegenseitig relativieren und sich ein vorläufiges Urteil im Hin und Her der Positionen erst langsam herauskristallisiert. Thomasius' >Teutsches Journal< will ein öffentliches Forum verschiedener, ja entgegengesetzter Meinungen sein, deren Wahrheit sich dem Urteil der kritischen Öffentlichkeit aussetzt. Provokativ bietet er deshalb an, die >refutation< gegenteiliger Meinungen in seiner Zeitschrift zu publizieren. Durch die Darstellungsform entsteht zugleich ein Spiel im Spiel, in dem sich der fiktive Berichterstatter der Gesellschaft der Müßigen< mit schmunzelndem Seitenblick auf die realen Leser Ende Februar der Reisegesellschaft entledigen kann, um im >Monats-Gespräch< März 1688 eine neue Gesprächsgeselligkeit am Hofe Polydors entstehen zu lassen, deren Figuren und Konstellation des öfteren auf die gerade beginnende >Querelle des Anciens et des Modernes< und auf die gesellige Darstellungsform in Perraults Vergleichsschrift anspielen und ein beredtes Zeugnis für deren früheste Rezeption in Deutschland geben. 59 Mit der in der Journaltheorie enthaltenen Erkenntnis' ' T h o m a s i u s , Monats-Gespräche, a.a.O., Bd. 1, S. 245, Originalhervorhebung. " Die A u f f a s s u n g von Peter K . Kapitzka, E i n bürgerlicher K r i e g in der gelehrten Welt (München 1 9 8 1 , S. 2 ; ) , in Thomasius' >Monats-Gesprächen< finde keine Rezeption der französischen Querelle statt, ist unbedingt zu revidieren. E s lohnte sich, Thomasius' durchgängigen Anspielungen auf die Querelle systematisch nachzugehen. Hier nur einige Belege auf die durch Perraults Gedicht v o n 1687 her61

theorie und Wirkungsästhetik stellt Thomasius theologische Streitformen wie die jesuitische >ars disputando und den Syllogismus der Scholastik in Frage, die nur eindeutige, abschließende Urteile über richtig und falsch 2uließen. Den philosophischen Hintergrund für die Aufwertung des >iudicium< im Medium der Gesprächsgeselligkeit bildet sein antidogmatischer, eklektischer Wahrheitsbegriff. Wie Borgstedt herausgearbeitet hat, befindet sich Thomasius durch sein Hohelied des Eklektizismus im Widerspruch zur zeitgenössischen Scholastik und religiösen Orthodoxie, aber auch in Differenz zu Lohenstein. 6 ° Noch in seiner späten >Einleitung zur Hoff-Philosophie< (1712) fordert Thomasius, daß ein Leser »alles und jedes was wahr und gut ist/ in die Schatz=Kammer seines Verstandes sammlen müsse« und fordert die vernünftige Abwägung verschiedener Standpunkte und deren Ergänzung durch das eigene Urteil. 6 ' Die wesentliche Intention der modellhaften Gesprächsgeselligkeit in den ersten >Monats-Gesprächen< besteht demnach in der wechselseitigen Relativierung der Ansichten der fiktiven Teilnehmer an den Gesellschaften, damit sich der reale Leser ein eigenes Urteil und die Vernunft für das >gemeine Leben< bildet. Der Eklektizismus stellt kein defizitäres philosophisches System dar, sondern ist programmatischer Bestandteil des erkenntnistheoretischen Polyperspektivismus und des prozeßhaften Vernunftbegriffes bei Thomasius. Diesen grundlegenden Intentionen entsprechen Thomasius' ironische Attacken gegen Pedanterie und Präzedenz. Mehrmals betont er, daß sich die Pedanten darüber ärgern werden, daß die drei Verfasser seiner Gesellschaft der Müßigen< und damit auch ihr >stylus< wechseln werden. 62 Als Gegenpol vorgerufene, erneuerte >QuerelleClélie< gegenüber Ciceros >Laelius< (Januar 1688, S. 49); b) die historische Unvergleichbarkeit der Satire als Gattung in der Antike bei Lucilius und Horaz einerseits und in der Moderne bei Boileau andererseits (Febr. 1688, S. i89f.); c) im Monats-Gespräch März kritisiert Nicanor die Schmeichelei Varillas auf den Sonnenkönig unter Anspielung auf Perrault, »da andere Frantzosen ihren K ö n i g mit denen vornehmsten Helden zuvergleichen suchen« (März 1688, S. 290). — Die Monats-Gespräche Februar und März 1690 mit ihrer ungeklärten Verfasserschaft bringen dann »Perrault Vergleichung der alten und neuen Scribenten«, worauf in der Forschung schon Witkowski (S. zijf.) und Lieberwirth (S. 65) hingewiesen haben. 60

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Vgl. T h o m a s Borgstedt, Reichsidee und Liebesethik. E i n e Rekonstruktion des Lohensteinschen Arminiusromans, T ü b i n g e n 1992, S. 3 i f f . Christian Thomasius, Einleitung zur Hoff-Philosophie, Oder/ Kurtzer E n t w u r f f und die ersten Linien v o n der Klugheit zu Bedencken und vernünfftig zu schliessen, Berlin/Leipzig 1 7 1 2 , S. 50. Vorrede Januar 1688, Monats-Gespräche, Bd. 1, S. 13. — In der Vorrede an den >Ungeneigten und geneigten Leser< zum Monat März 1688 geht Thomasius direkt auf den neuartigen Charakterstil ein: »Ich bin gleicher Gestalt/ Vorhabens in die-

zu den sozialständisch normierten Gattungsstilen der drei >genera dicendi< entwickelt er einen neuen, charaktertypologischen Stilbegriff. Mit der Auflösung der antiken Tradition des Gattungsstils durch einen Charakterstil trägt er zur allgemeinen Tendenz am Ausgang des 17. Jahrhunderts bei, die schriftlichen Gattungen am mittleren Stilideal der mündlichen Konversation zu orientieren, 6 ' und bereitet mit diesen beiden Aspekten den Typenstil der späteren Moralischen Wochenschriften vor. Die neue Stilauffassung ist Bestandteil einer umfassenden Gesprächspragmatik, die in den >Monats-Gesprächen< entwickelt wird. Denn Thomasius ist sich bewußt, daß Rezeption und gesellschaftliche Verbreitung von Wissen von gemeinsamen >Umgangsformen< für die Konversation abhängen. Wie einigt man sich auf ein gemeinsames Thema? Kann man ohne Imageverlust von einer früheren Meinung abgehen und seinen Irrtum eingestehen? Welches sind Gegenstand, Nutzen und Grenzen von Kritik und Satire? Im >Monats-Gespräch< Januar 1688 wird der pedantische Schulmann David scharf kritisiert, weil er voll Ungeduld ein hartes und voreiliges Urteil über den Anfang einer Predigt und deren Autor Abraham a Santa Clara fällt. Im Februar-Gespräch sieht Benedict den Irrtum seiner bisherigen Meinung ein und gibt ihn öffentlich zu, ohne dabei an Ansehen zu verlieren. Innerhalb der höfischen Gesprächsgeselligkeit (März 1688) muß sich Clarindo von Polydor den Vorwurf einer überzogenen Kritik gefallen lassen, Beispiel dafür, wie Thomasius seine Ansicht von einem >gerechten< Urteil mit dem Postulat der Mäßigung verbindet. Mit der Beziehungsebene werden zentrale Aspekte einer Gesprächspragmatik vorgeführt, die in dem historischen Moment notwendig werden, wo nicht mehr der soziale Rang und die Präzendenz-Regeln über Rederecht, Unterbrechung, Themenwahl und Länge eines Beitrages bestimmen, sondern diese Modalitäten von den (gleichberechtigten) Gesprächspartnern erst ausgehandelt werden müssen: In der vernünftigen Konversation werden elementare Regeln der Demokratie eingeübt, die als verinnerlichte Verhaltensmodi im Laufe des 18. Jahrhunderts von der Gesprächs fuhrung auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen werden. Voraussetzung dafür ist die von Mauser und Sauder festgestellte signifikante Verschiebung von der Staats- zur Privatklugheit bei Thomasius, im Rahmen derer die Geselligkeit zum Modell für eine >freie Assoziation< werden kann.64

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sen Gesprächen unterschiedene Personen au ff das tapet zu bringen/ und werde also auch nach dererselben character meine Redens Arten abwechseln müssen.« (S. 266) Vgl. Strosetzki, Konversation, a.a.O., S. 63. Vgl. Mauser, a.a.O., S. 1 1 . - Gerhard Sauder, >Galante Ethica< und aufgeklärte Öffentlichkeit in der Gelehrtenrepublik; in: R o l f G r i m m i n g e r , Deutsche A u f k l ä rung, a.a.O., Bd. 1, S. 219—258.

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Stilideal und Gesprächspragmatik erleichtern die Vermittlung der expandierenden wissenschaftlichen Erkenntnisse an ein neues, >curiöses< Publikum, das Thomasius aufgrund seines anthropologischen Bildungs- und Vernunftbegriffes potentiell auf vernünftige Soldaten, Landleute, Edelleute, Kaufleute, Handwerker und Bauern ausweitet. 6 ' Betrifft die Gesprächspragmatik die innere Strukturiertheit von Kommunikation, so wird mit der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse die Frage nach der gesellschaftlichen Macht über Wissen und Kommunikation tangiert, indem sie ihren exklusiv-gelehrten Charakter verliert und bewußt als Relais zwischen den Spezialdiskursen von Gelehrten und den neuen Wissensbedürfnissen eines sozial ausgeweiteten Publikums eingesetzt wird. In diesem Sinn besteht Jaumann zufolge die Aufgabe des >neuen< Kritikers am Ende des 17. Jahrhunderts in seiner Vermittlungsfähigkeit, der Kritiker muß dem Publikum zu einem >konsensfahigen< Urteil verhelfen. 66 Welche soziale Bedeutung die Akzeptanz eines Urteils für das gesellschaftliche Ansehen des Urteilenden hatte, bringt Bellegarde in seinen >Modèles de conversation pour les personnes polies< (1697) zum Ausdruck: Les hommes sont faits pour la société: Les affaires, les bienséances, la nécessité du commerce les obligent à se voir souvent et à se parler. [. . .] On decide du mérite d'un homme sur la manière dont il se tire d'une Conversation. 67

Bei Thomasius übernimmt die modellhafte Gesprächsgeselligkeit die Rolle eines kollektiven Kritikers. Die Gemeinschaftlichkeit der Vermittlung und Kritik garantiert einen relativen Schutz des Einzelurteils vor Nachstellungen durch den kritisierten Autor, durch das Publikum oder Zensurinstanzen.

6i

Diese sozialen Träger gibt Thomasius in der von ihm geschriebenen >Vorrede< zur ersten deutschen Ausgabe von Hugo Grotius' >De jure belli ac pacis< (1707) an. Vgl. Hugo Grotius, De jure belli ac pacis. Libri tres. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens. Paris 162; nebst einer Vorrede von Christian Thomasius zur ersten deutschen Ausgabe des Grotius vom Jahre 1707, neuer deutscher Text und Einleitung von Walter Schätzel, Tübingen 1950, S. 27. " J a u m a n n zufolge besteht die Vermittlungsposition des neuen Kritikers Ende des 17. Jahrhunderts darin, daß er die »Divergenz zwischen den einem Text eingeschriebenen Erwartungen und Normen und denen des Publikums« überbrücken, >übersetzensociété< im Französischen deutlich (>affaires, bienséance, commercecuriosität< genannt, die besonders in pietistischen Schriften als >seelenverderbend< denunziert wird. 68 Thomasius versteht darunter eine >Lust< nach >neuem zuwissen< und dessen Befriedigung, er untermauert und modifiziert das traditionelle Horazsche >prodesse et delectare< durch eine anthropologische Affektentheorie: »Es ist wahr/ alle Menschen sind curieus, und die satisfaction dieser Gemüths Neigung ist eine Belustigung.« (Monats-Gespräche, Bd. 1, S. 237) Damit erklärt er die Neugier zu einer sinnlichen Lust, die durch neues Wissen eine intellektuelle Befriedigung erfährt. Diese Argumentation verstößt bis in die Wortwahl gegen das theologische E r b sünde-Dogma, das der menschlichen Neugier und Wahrheitssuche im Sinnbild v o m Weisheitsbaum und der Vertreibung aus dem Paradies enge Schranken setzt. 69 Die >Monats-Gespräche< nehmen Teil an einer sich untergründig vollziehenden kulturellen Revolution um 1700, die sich in Deutschland an der Bewegung der >Galanten< und in Frankreich am Organ des >ModernesMercure GalantGalanterie< offensichtlich. Wie Vincent betont, dient die Fiktion des Pariser Briefschreibers an eine in die Provinz abgereiste Dame wesentlich dazu, ihr im wöchentlichen >commerce< die Neuigkeiten mitzuteilen, die »capables de nourrir la curiosité des plus illustres de la province« (Vorrede 167z), 7 0 d. h. den kulturellen Abstand zwi" D a s widerspruchsvolle Verhalten des Halleschen Pietismus hat Martens herausgearbeitet: »Polemik gegen die Curiositas, die seelenverderbende Begierde nach >neuen ZeitungenCorrespondentz< und bringt seit 1708, im Waisenhaus gedruckt, dreimal wöchentlich, die >Hällischen Zeitungen< heraus.« Wolfgang Martens, Hallescher Pietismus und Rhetorik. Z u Hieronymus Freyers >OratoriaCuriosität< zu den vier A f f e k t e n , mit denen er die Romanlektüre gegen kirchliche A n g r i f f e rechtfertigt: »Curiosität [ist] nicht böse: den darum haben wir eine vernünfftige Seele/ daß wir viel lernen [. . .]«. Zitiert nach Voßkamp, Romantheorie, a.a.O., S. 99.

,0

Zitiert nach Monique Vincent, L e Mercure Galant et son public féminin; a.a.O., S. 77.

65

sehen Provinz und Metropole zu überwinden und damit die Lesekultur eines weiblichen, ländlichen Publikums zu unterstützen. Indem sich das Journal speziell an ein weibliches Publikum richtet und ab 1677 Artikel über Mode, bemerkenswerte Frauen, Nachrichten über aktuelle Schlüsselromane und >faits divers< sowie eingeschobene Erzählungen anbietet, fördert es eine kulturelle Umwälzung, die sich unter der Losung der >Galanterie< gegen die militärische Eroberungspolitik von Louis X I V richtet. 7 ' In den >Monats-Gesprächen< äußert sich der kulturelle Wertewandel neben der Rezeption der modernsten französischen Theorien im Bewußtsein von Thomasius, in einer Zeit des Umbruchs zu leben. Sein Postulat, offen für Veränderungen zu sein, manifestiert seine Distanz zu zeitgenössischen barocken Lebenseinstellungen. Bereits im >Discours< hatte er den Geschichtspessimismus derjenigen angegriffen, die »ein geändertes Leben bloß wegen der Aenderung tadeln«72 wollen. Im >Monats-Gespräch< Februar 1688 werden Fatalismus und allegorisierende Denkformen des Barock verspottet, wie sie noch zwanzig Jahre vorher für Grimmelshausens >Simplicissimus< (1668) prägend gewesen sind. Thomasius läßt den Schulmeister David als Vertreter einer stoizistisch-fatalistischen Position auftreten, wenn er sein zufälliges Unglück allegorisch deutet: Mit Anspielung auf die pietistische Verurteilung von Satiren glaubt er, seine >sündhafte< Verteidigung von Satiren bereuen zu müssen, als ihm eine Katze auf der Flucht vor einem Hund auf den K o p f springt und ihn zerkratzt. Erschrocken darüber, fühlen sich auch die anderen Teilnehmer der Reisegesellschaft an die >Gebrechligkeit des menschlichen Lebens< erinnert. David deutet das Geschehen als >göttliches Zeicheniudiciumprodesse et delectare< entspricht. 76 Schließlich dient sie der journalistischen Funktion der Textkohärenz der jeweiligen (Monats-)Stücke und schützt den realen Autor vor Verfolgung. Diese vielfältigen Funktionen unterscheiden die Gesprächsform der >Monats-Gespräche< qualitativ von früheren Verwendungen, etwa in Erasmus >Colloquia familiaria11 CortegianoFrauenzimmer Gesprächsspielen< und Rists >MonatsgesprächenGeselligkeit in Walchs Philosophischem Lexicon< belegen. 77 Die Modellfunktion der geselligen Konversation in den >Monats-Gesprächen< für das gesamte 18. Jahrhundert zeigt sich beispielhaft am späten Lob eines anonymen Autors auf sie: Man widerspricht, und wird widersprochen, ohne Empfindlichkeit zu äußern: und so entstehen Aufklärung und Berichtigung von Ideen, das Reiben von Köpfen an Köpfen, das fur [i. e. >vorDie teutschen Winter-Nächte< In unmittelbarer zeitlicher, räumlicher und geistiger Nachbarschaft zu Thomasius in Leipzig und Christian Weise in Weißenfels verfaßt Johann Beer, Hofkapellmeister und Leiter der Bibliothek von Herzog August zu HalleWeißenfels-Querfurt, 79 die anonym erschienene und 1930 von Alewyn wie76

Die Selbständigkeit der Rahmenhandlung in den >Monats-Gesprächen< 2eigt sich u. a. daran, daß der fiktive Chronist Davids pedantische, latinisierende Aussprache von >Polus< für Boileau gegenüber dem Leser lächerlich macht (Febr. 1688, i8of.). 77 Johann Georg Walch, Philosophisches Lexicon, Leipzig 1775 (4. Auflage), Bd. 1, Sp. 1658-59. Anonym, Etwas über geheime Verbindungen; in: Stats-Anzeigen, hg. von August Ludwig Schlözer, 8 (1785), S. 257-293, S. 280. 79 Zur Biographie von Johann Beer vgl. Richard Alewyn, Johann Beer, a.a.O., S. 5-59. - Dieter Gutzen, Johann Beer; in: Harald Steinhagen/Benno von Wiese (Hrsg.), Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, Berlin 1984, S. 772—797. — Gutzen bezieht in seine Charakteristik die 1963 entdeckte Autobiographie Beers mit ein. 68

d e r e n t d e c k t e D i l o g i e >Die teutschen W i n t e r - N ä c h t e u n d die Sommer-Täge
Discours< u n d d e n >Monats-Gesprächen< e b e n s o wie die A n s ä t z e zu einer m o d e r n e n p o e t i k in B e e r s D o p p e l r o m a n . thropologie

Gemeinsam

und Naturrecht verankerte

Roman-

ist i h n e n , d a ß s i e e i n e i n

Geselligkeit

An-

als e i n K o n z e p t

zur

M o d e r n i s i e r u n g a u f f a s s e n . D a r ü b e r hinaus t r e f f e n sich ihre A n s i c h t e n in d e r A u f w e r t u n g des R o m a n s , in ihrer V o r l i e b e f ü r d e n satirischen R o m a n in einer u m f a s s e n d e n R e z e p t i o n d e r m o d e r n e n e u r o p ä i s c h e n

D a m i t b e f i n d e n sich beide im W i d e r s p r u c h z u m a u f k o m m e n d e n

Pietis-

m u s m i t d e s s e n k a t e g o r i s c h e r A b l e h n u n g aller R o m a n e , i n s b e s o n d e r e denen mit satirischer Tendenz.

Vockerodt,

und

Literatur.82

zuerst K o n r e k t o r

des

von

lutheri-

s c h e n G y m n a s i u m s in H a l l e , d a n a c h R e k t o r des G y m n a s i u m s in G o t h a , m i t dem

sich B e e r

später o f f e n w e g e n

seiner ästhetischen

Musikauffassung8'

streitet, breitet in > M i ß b r a u c h d e r f r e y e n K ü n s t e < ( 1 6 9 7 ) das g e s a m t e A r s e nal pietistischer V o r b e h a l t e g e g e n R o m a n e aus: Wenigere nicht wären als unchristlich zu meiden alle die B ü c h e r / die man R o manen/ L i e b e s = und H e l d e n = G e s c h i c h t e nennet/ w o d u r c h die G e m ü t h e r der J u gend/ unter zierlichen Worten/ und mit V e r t u s c h u n g der gar g r o b e n Z o t e n / d o c h zu nichts als Eitelkeit und B r u n s t angeleitet w e r d e n / item, alle ärgerliche R e i m e n und Poesien/ alle satyrische S c h r i f f t e n / darauß sich nicht zu bessern/ sondern nur an E n t d e k u n g der Fehler bey H o h e n und N i e d e r n zu kützeln/ u n d die edle Z e i t mit unnützem L e s e n zu v e r d e r b e n / dann dieses ist alles je so arg o d e r noch ärger/ als die unnützen Worte/ w o f ü r m a n am jüngsten T a g R e c h e n s c h a f f t geben soll.' 4 ,0

J o h a n n B e e r , D i e teutschen W i n t e r - N ä c h t e und D i e kurzweiligen S o m m e r - T ä g e , hg. v o n R i c h a r d A l e w y n , F r a n k f u r t a. M . 1 9 8 ; . Zitiert w i r d nach der leicht zugänglichen T a s c h e n b u c h a u s g a b e , die mit der zuerst erschienenen I n s e l - A u s g a b e v o n 1963 seitenidentisch ist. - D i e f o l g e n d e A n a l y s e konzentriert sich auf die >Winter-Nächte< mit ihrer Erzählgeselligkeit.

*' A r n o l d Hirsch bezeichnet die letzten Jahrzehnte des 17. J a h r h u n d e r t s als »Epoche des Übergangs< u n d macht diese T h e s e besonders am starken A u f s c h w u n g der P r o d u k t i o n der R o m a n e u n d der T r a n s f o r m a t i o n ihrer Wertvorstellungen fest. Vgl. A r n o l d H i r s c h , B a r o c k r o m a n u n d A u f k l ä r u n g s r o m a n ; in: E t u d e s G e r m a n i ques, 9 (1954), S. 9 7 - 1 i l · Vgl. zur R o m a n p o e t i k v o n Christian T h o m a s i u s Wilhelm V o ß k a m p , R o m a n t h e o rie in Deutschland. V o n M . O p i t z bis Fr. v o n B l a n c k e n b u r g , Stuttgart 1 9 7 5 , S. 103 ff. ' ' B e e r b e k ä m p f t e V o c k e r o d t s V e r d a m m u n g s u r t e i l g e g e n die M u s i k in seinen beiden 1697 geschriebenen Schriften >Ursus murmurat< und >Ursus vulpinatur< mit d e m Z i e l , d e m M u s i k p u b l i k u m ein ästhetisches V e r g n ü g e n einzuräumen, vgl. G u t z e n , J o h a n n Beer, a.a.O., S. 774. G o t t f r i e d V o c k e r o d t , M i ß b r a u c h der freyen K ü n s t e / insonderheit der Music/ nebenst a b g e n ö t h i g t e r E r ö r t e r u n g der F r a g e : Was [. . .] v o n O p e r n und C o m ö d i e n zu halten sey? F r a n c k f u r t 1697; zitiert nach W o l f g a n g Martens, Hallescher Pietismus und schöne Literatur, a.a.O., S. 92.

69

Das Roman-Verdikt gilt noch einmal verschärft für Satiren, die nach pietistischer Uberzeugung wegen der möglichen Unruhe gegen die Obrigkeit das Gebot der Nächstenliebe verletzen und ein sündhaftes >weltliches Lachem hervorrufen. Beer formuliert dagegen im >Unterricht an den geneigten Leserc »Ein tugendliebender Mensch ist frei von Sorgen, fröhlich im Geist, und was er trägt, trägt er mit Lust. >Dulce jugum amor est*.« (8)

3.1. Beers Auseinandersetzung mit dem Pikaro-Roman In Beers Roman, am abrupten Ende einer neunjährigen, äußerst produktiven schriftstellerischen Produktion verfaßt, zeigt sich der Ubergangscharakter der Periode um 1680 im Nebeneinander verschiedener Romankonzeptionen und im Bemühen, einem nicht-höfischen Lesergeschmack zu entsprechen. Ausdrücklich wendet sich Beer im Titel seines anonymen Romans an »alle Liebhaber der zeitverkürzenden Schriften, wes Standes oder Condition dieselben sein mögen« 8 ' und verspricht ihnen die >Lebens-Geschicht< seines Ich-Erzählers Zendorius, die >seltsame Begebenheiten, curiose Liebes-Historien und merkwürdige Zufälle etlicher von Adel und anderer PrivatPersonen< enthalten soll. Anhand der Hauptfigur Zendorius als autobiographischem Erzähler verknüpft Beer nicht nur die einzelnen Figuren und Episoden des Romans, sondern er integriert in dessen >Entwicklung< unterschiedliche Romantraditionen des 17. Jahrhunderts. E r ist nicht der >reine Erzähle« ohne jegliche Nebenabsichten, zu dem ihn Alewyn (1932) stilisiert hat und dessen literaturwissenschaftliche Entdeckung und dessen Fehlurteil sich in der Forschung bis zu Jacobs (1983) durchziehen. 86 Beers zeituntypische Fabulierlust und -kunst beruht keineswegs auf einer >intuitiven InventionMomentanen< und >ImpressionistischenWelt-Kucker< (1677-79) findet eine soziale Ausweitung des von Beer intendierten Lesepublikums statt: »Meine Schrifften haben allezeit dahin geziehlet/ damit sie jedermänniglich/ es seye gleich hohes oder niedriges/ Bürger oder Bauren/ Junges oder Altes/ Groses oder Kleines/ und so fort an/ die klare Warheit unter Augen legen möchten.« (zitiert nach Gutzen, Johann Beer, a.a.O., S. 777/78) *6 Richard Alewyn, Johann Beer, a.a.O., bes. S. 224. Alewyns literaturwissenschaftliches Verdienst soll durch diese Kritik in keiner Weise geschmälert werden. Jürgen Jacobs, Der deutsche Schelmenroman, Zürich 1983, bes. S. (>ηί. "7 Vgl. Alewyn, Johann Beer, S. 1 ;6f. - Grundlage fur dieses Fehlurteil von Alewyn ist dessen Intention, in Beer eine erste Verkörperung des modernen Künstlertums zu sehen, wie es der Barock mit seinem >Gesamtkunstwerk< hervorbringe (130).



man häufig in langen exkursartigen >Digressionen< dargestellt werden, in die Romanhandlung selbst zu integrieren und seine theoretischen Positionen geschickt in Nebensätzen zu verstecken. Wie stark sich Beer des zeitgenössischen Lesergeschmacks bedient, 88 um eigene Absichten zu verfolgen, zeigt sein Rückgriff auf den aus der spanischen Tradition stammenden Picaro-Roman, der in den >Winter-Nächten< mit seinen wichtigsten europäischen Vertretern aufgeführt wird: Im >Literatur-Kanon< aus Ludwigs Gymnasialzeit werden Heads >Jan PeruFrancion< und Grimmelshausens >Simplicissimus< genannt. Beers Bezugnahme auf das zeitgenössische Gattungsbewußtsein vom Pikaro-Roman 8 9 manifestiert sich in der Form des Romans als fiktiver Autobiographie von Zendorius. Seine angebliche niedere soziale Herkunft als sozial verachteter Schindersohn bestimmt seine Wanderschaft als armer Philosophie-Student. Der Roman beginnt >medias-in-resFortuna< prägt Zendorius' weiteren Lebenslauf. Als seine heimliche Heirat mit der tugendhaften Caspia vorerst scheitert, begibt er sich wie seine literarischen Vorbilder auf die Suche nach der >Fortun< in der Welt und irrt nach dem vermeintlichen Tod Caspias in der Welt umher, bis er zufällig von ihrem Uberleben auf Ludwigs Schloß hört. Auch Isidoros Bruder Ergasto ist von zweifelhafter Herkunft, da er als Findelkind von einem frommen Gärtner aufgezogen wurde, zum Liebhaber Veronias wird, bis er aufgrund der Lebensbeichte von Isidoros Mutter auf dem Sterbebett und eines geheimen >Zeichens< (gemeinsames Nasenbluten) als Bruder wiedererkannt und in die bunte Gesellschaft der Landadligen aufgenommen wird. Züge des PikaroModells finden sich in der Lebensgeschichte eines Studenten wieder wie auch im Aufruf zur religiösen Umkehr am Schluß des Romans, der auf das >Adieu WeltSimplicissismus< anspielt. Die zahlreichen Bezüge auf das Pikaro-Modell erscheinen bei Beer aber in einer distanzierten Brechung. Denn die Figuren tragen durch >vanitas< und >Illusion< eine Mitschuld an ihrem wechselhaften Schicksal. Das Auf-und-Ab ihres Lebensweges ist nicht mehr allein einer göttlichen Providentia, sondern maßgeblich dem eigenen >Wahn< geschuldet: " Beer versucht mehrmals, v o m zeitgenössischen Lesergeschmack für den E r f o l g seiner eigenen Romane zu profitieren, indem er bereits im Titel auf die jeweiligen Romantypen anspielt, so mit >Jucundus Jucundissimus< (1680) auf den >Simplicissimus< (1668) und mit dem Politischen Bratenwenden und dem Politischen Feuermäurer-Kehrer< (beide 1682) auf den von Christian Weise geschaffenen Typus des »politischem Romans. ' ' Vgl. Jacobs, Schelmenroman, S. 10.

71

So gar ist der Mensch der Eitelkeit unterworfen, daß er auch in seiner allergrößten Glückseligkeit nicht vollkommen vergnüget sein kann, sondern es hänget ihm stets eine Makel an, die ihm durch seine eigene Einbildung verdrüßlich wird. (96)

Zendorius' Glaube an seine Außenseiterrolle als Schindersohn geht auf den Aberglauben seines Vaters zurück. Sein erster Auszug in die Welt erfolgt aufgrund seiner Einbildung, er sei Caspias nicht würdig, und mündet in einer Kritik am Postulat endogamer Heiraten. Sein erneuter Auszug in die Welt nach Caspias angeblichem Tod führt zu einer harschen Kritik an der Einsiedelei. Grundlage aller Schwankungen in Zendorius' Lebenslauf ist keineswegs mehr die Fortuna, Allegorie für die religiöse Auffassung von der Wechselhaftigkeit alles irdischen Glücks, sondern mangelnde Affektkontrolle und fehlende Vernunft. Grimmelshausen läßt seinen Simplicissimus am Ende von dessen >elender Pilgerfahrt im Selbstgespräch ein pessimistisches Résumé seines Lebens ziehen, daß für ihn »kein Leben gewesen, sondern ein Tod; deine Tage ein schwerer Schatten, deine Jahre ein schwerer Traum, deine Wollüste schwere Sünden, deine Jugend eine Phantasei und deine Wohlfahrt ein Alchimistenschatz, der zum Schornstein hinausfahrt und dich verläßt, eh du dich dessen versiehst!« 9 " Der Rückzug seines pikaresken Helden aus der >schnöden, argen Welt< und vor dem >stinkenden, elenden Fleisch< führen zu Reue, Einkehr und einsiedlerischer Buße. Diametral entgegengesetzt ist Beers Einstellung zum Diesseits und zur Einsiedelei, die er als psychische Folge enttäuschter Liebe deutet. Nachdem Zendorius seine Caspia tot glaubt, will er aus Melancholie in eine >abscheuliche Wüstenei* ziehen. Dort lebt er >in großem Elend und langweiliger Einsamkeit*. Er hat zwar genug Ursachen, »die Eitelkeit der Erden zu fliehen«,9' aber das selbstgewählte Mönchtum erweist sich in doppelter Hinsicht als Irrtum. Zum einen ist die Einsamkeit widernatürlich, sie widerspricht der anthropologischen Bestimmung des Menschen zur Gesellung. Vor der Einsamkeit scheuen sich selbst die Tiere, so daß sich Zendorius vernunftlos >gleich einem wilden Vieh< vorkommt. Zweitens, und das in diesen Zeiten wohl singulär, widerlegt Beer die Einsiedelei mit dem psychologischen Argument: »Diese Einöde hält deinen Leib verborgen, aber sie vermag nicht auszuschließen die widrige Gedanken, so dich ohne Unterlaß peinigen.« 92 Das barocke Fortuna-Konzept und 90

Zitiert wird nach der leicht zugänglichen Taschenbuchausgabe Hans J a k o b Christoffel von Grimmelshausen, D e r abenteuerliche Simplicissimus (E: 1 6 7 1 ) , Frankfurt a. M . 1983, 5. Buch, 23. Kapitel, S. 583.

' ' Beer, Winter-Nächte, a.a.O., S. 1 1 3 . Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich darauf, soweit nicht anders vermerkt. 92 Beer, Winter-Nächte, a.a.O., S. 1 1 4 t . - Beers Auseinandersetzung mit der Einsiedelei und dem Mönchtum liegt strukturell dem gesamten zweiten Teil der Dilogie, >Die kurtzweiligen Sommer-TägeBegierlichkeit und Frewde/ Furcht unnd Schmertzen< verursacht werden, auf die Beer im lateinischen Zitat Ergastos anspielt. A u f g r u n d seiner Wahnvorstellungen ist der Mensch schon bei Lipsius mitverantwortlich für sein Schicksal. Eine Flucht - bei Lipsius vor dem K r i e g , bei Beer vor einem persönlichen Schicksalsschlag - erweist sich als Illusion, da der Mensch seinem Unglück und seinen falschen Vorstellungen durch einen Ortswechsel nicht entkommen kann. Vielmehr stellt sich das Problem der vernünftigen Einsicht, Standhaftigkeit und Eigenverantwortung des Menschen für sein diesseitiges Schicksal, das auch nicht durch die Providentia aufgehoben wird. Denn Lipsius unterscheidet zwischen der Providentia als göttlicher Gesamtordnung und dem Fatum als einer Notwendigkeit im Einzelding. Diese Differenz ermöglicht es ihm, gegenüber einem antiken, fatalistischen Stoizismus der menschlichen Willensfreiheit innerhalb der Gesamtordnung mehr Raum zu geben und an die Selbsttätigkeit zu appellieren: " Die mehrfach thematisierte >Beständigkeit< findet sich zentral anläßlich von Zendorius' Melancholie angesichts von Caspias angeblichem Tod. Isidoro ermahnt ihn: »Bruder Z e n d o r i o , du bist ein Mensch von schlechter Beständigkeit, wenn du dich nicht weißt zu schicken in das allergrausamste Unglück, so dir widerfahren mag.« ( 1 0 9 ) - D e r Neostoizismus der miederländischen Bewegung< mit seiner ersten Phase durch Lipsius und seiner zweiten Phase durch Groitus hat einen entscheidenden Anteil sowohl an einer diesseitigen Moral wie an der Begründung der Traditionslinie des neueren Naturrechts. Vgl. dazu die Studien von Gerhard Oestreich, Politischer Neostoizismus und niederländische B e w e g u n g in E u r o p a und besonders in Brandenburg-Preußen; in: Walther Hubatsch (Hrsg.), Absolutismus, Darmstadt 1973, S. 561—435. — Ders., Das politische Anliegen von Justus Lipsius' >De Constantia [. . .] in publicis malis< (1584); in: Festschrift für Hermann Heimpel, hg. von Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Göttingen 1 9 7 1 , Bd. i, S. 618-638.

73

Dann von wem hastu jemals gehöret/ das das Fatum eintzig und allein wircke/ ohn alle andere mittel und helffende Ursachen? [. . .] Wann du hinein in den Port oder Hafe kommen wilt/ so mustu die Hand an die Riemen legen/ und das Sigel auffziehen/ und nicht müssig sitzen und warten/ biß der Wind aus der hellen See wehet.' 4

Das Handlungskonzept in den >Winter-Nächten< knüpft an die relative Freiheit des Willens und Handelns an und benutzt Lipsius' constantia-Begriff, um unter gleichzeitiger Berufung auf das moderne Naturrecht (Grotius, Pufendorff) das standhafte Handeln gegen das pessimistische Weltbild der Gegenreformation zu wenden, das bei Guevara, Albertinus und Grimmelshausen spürbar ist.95 Für das Handlungskonzept des Romans folgt daraus, daß sich niedere soziale Herkunft und Unglück seiner Romanfiguren nur als vorübergehender >Wahn< erweisen: Entgegen aller ursprünglichen Annahmen sind Zendorius wie Ergasto adliger Herkunft, Faustus hat anstelle einer vermeintlichen Bauernmagd eine Adlige geheiratet. Da besonders die enttäuschte Liebe Ursache für die Unbeständigkeit von Zendorius und dessen weiterem Lebensweg ist, führen die Heirat und das eheliche Glück mitsamt der Vaterschaft zu seiner >KlugheitKlugheit< könnte zunächst eine Ubereinstimmung Beers mit pietistischen Positionen vermutet werden, wie sie August Hermann Francke in >Idea Studiosi Theologiae, oder Abbildung eines der Theologie Beflissenem (1712) gegen alle Formen der weltlichen Geselligkeit formuliert: E r hütet sich für allem ausschweiffendem Wesen/ und gewöhnet sich nicht zum Müßiggang/ ζeitverderbender Gesellschaft/ unnützen Reiset?/ und anderen dem Christlichen und äußerlichen Beruf hinderlichen Dingen. Sonderlich meidet er alle Trunkkenheit/ Saufferey und Schmauserey/ alle unnützliche und Zeitverbringende Ge94

Justus Lipsius, Von der Bestendigkeit (De Constantia); Faksimile der deutschen Übersetzung von Andreas Viritius, nach der zweiten Auflage von 1601, hg. von Leonhard Forster, Stuttgart 1965, S. 68 Lf. " Beer sind die Auffassungen der Gegenreformation bekannt. In den >Winter-Nächten< nennt er explizit Guevara (273), auf dessen Philosophie das >Adieu-WeltSimplicissimus< beruht. - Die Anschauungen der Gegenreformation prägen die deutsche Übertragung (1615) von Alémans >Guzman de Alfarache< so stark, daß Jacobs davon spricht, der Übersetzer Aegidus Albertinus habe aus dem spanischen Original eine »allegorische Büßergeschichte< gemacht. Vgl. Jacobs, Schelmenroman, S. 40. - Zu den Differenzen von Grimmelshausen und Albertinus vgl. Peter Triefenbach, Pikarischer und satirischer Roman; in: Horst Albert Glaser, Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 3, Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus und Barock, hg. von Harald Steinhagen, Reinbek 198;, S. 338-35;, bes. S. 345f. und S. 349.

74

sellschaft/ allerley A r t h von Spielen/ als die zum wenigsten das Gemüthe von G O t t divertiren oder abkehren [. . .).' 6

Mit seiner aktiven Lebensbewältigung relativiert Beer nicht nur das pessimistische >Adieu-Weltprudentia domestica< Neben wesentlichen Merkmalen des Picaro-Roman beziehen sich Beers >Winter-Nächte< mit dem Horazschen >ridendo dicere verum< auf Traditionen der klassischen Satire' 8 und spielen mit diesem Topos für das gebildete Lesepublikum seiner Zeit auf Barclays >Satyricon< und auf Christian Weises Politischen Näscher< an. Der fiktive Herausgeber bezeichnet sich als Ubersetzer eines alten Originals aus der >Canzeley eines adligen Schlosses< und steuert die Lesererwartung damit, daß er sein Werk im Gegensatz zum Wahrheitsanspruch der höfisch-historischen Romane mehr als >Satyra< denn als >Histori< verstanden wissen w i l l . " D e r umgangssprachliche, derb-realistische Stil reicht bis zur Stilparodie eines jüdischen Wucherers. Wie schon in >Das Narrenspital< wendet sich Beer in den >Winter-Nächten< gegen den

,6 97

Zitiert nach Martens, Officina Diaboli, a.a.O., S. 35. Herv. Ε . P. »Manche wollen eine Comödie gern als ein bequemes Mittel ansehen, die Leute zu bessern; und den Willen so wol zur Tugend anzumahnen, als v o n Lastern abzuschrecken: es wäre aber viel besser gethan, wenn man mit solcher unbefugten (!) Bekehrungsmethode, hinter welcher insgemein ein Pelagianischer Sinn steket, nur zu Hause bliebe und dies wichtige Werk der einfaltigen Predigt des Evangelii überließe.« Hieronymos Freyer, Oratoria in tabulos compendiarías redacta (E: 1 7 1 1 ; zitierte A u f l a g e 1745)> zitiert nach Martens, Hallescher Pietismus und schöne Literatur, a.a.O., S. 98. - Der Pelagianismus-Vorwurf bezieht sich nicht nur auf K o m ö d i e n , sondern auf alle moraldidaktische Kunst, insbesondere auch auf Satiren mit deren Anspruch, durch Darstellung v o n Fehlern und Lastern die Tugend zu fördern.

'* Z u den Kennzeichen der klassischen Satire und ihrer Tradition im 17. Jahrhundert vgl. J ü r g e n B r u m m a c k , Art. >Satiresozial< als S y n o n y m für »gesellig* verstehen läßt. Henry F. Fullenwider, >Sozial< und »Sozialität* bei A u g u s t Friedrich Müller ( 1 6 8 4 - 1 7 6 1 ) ; in: Neophilologus 71 (1987), S. 634-637. "*> Vgl. z u diesem Traditionsstrang Rosmarie Zeller, Spiel und Konversation im Barock. Untersuchungen zu Harsdörffers >Gesprächs-Spielengrausamen Raserei* überstürzt mit einer Bauernmagd verheiratet, erzählt der Irländer zwei >Novellen< mit tragischem Ausgang als Exempel für die Blindheit der Liebe. Seine Erzählungen enthalten eine pragmatische Lebenshilfe, indem sie vor ähnlichen Entwicklungen warnen und zur Bewältigung des Lebens ermutigen sollen. D e n Morallehren werden die erzählten Lebensläufe subsumiert, die die groben und gefährlichen Possen der Kindheit und J u g e n d (Ludwigs Brandanschlag) aus der vernünftigen Distanz der Retrospektive darstellen. Merkmal der Vernunft ist die Reflexion der Figuren, die ohne Rekurs auf religiöse Moral zu gesellschaftlichen Fragen Stellung nehmen. A m schlechten Beispiel seiner >Kinderzucht< plädiert L u d w i g für die m i t t lere Straßgrößere Verschwiegenheit< praktizieren und die Schicklichkeit nicht durch Zoten verletzen. Neuigkeit, K o m i k und Dezenz sind die Merkmale für Angemessenheit und Wirkung des E r zählens. Die Sozialethik wird deutlich, wenn beim Erzählen gegenseitiger Respekt gefordert und der grobianische L u d w i g zurechtgewiesen wird: Gleichheit der Rechte und Pflichten für Männer und Frauen beim Erzählen implizieren das Zuhören und Ausreden lassen, sie verbieten beleidigende Äußerungen gegenüber Gesprächsteilnehmern. Für das Erzählen wie für das alltägliche Leben gilt das Postulat der >mediocritas< zwischen zu großer Vertraulichkeit und mönchischem Schweigen. Wesentlich ist jedoch, daß alle Lebensläufe und Erzählungen der Urteilsbildung der Teilnehmer dienen und in der dynamischen Erzählgeselligkeit zur gegenseitigen Relativierung ihrer Meinungen führen. Beer stimmt mit Thomasius' Forderung in dessen Lohenstein-Rezension überein, die R o manlektüre solle dem Leser zur Entwicklung eines vernünftigen Urteils dien e n . " 4 Noch stärker bezieht er sich auf Lipsius' Begriff des Wahns: Aus dem A n Lohensteins >Arminius und Thusnelda< lobt Thomasius ausdrücklich, »daß der Herr von Lohenstein mehrentheils/ nachdem er eine Sache auff beyderlei Recht erwogen/ nichts determiniret, sondern dem Leser dasselbige zuthun überlast«. Thomasius, Monats-Gespräche, Julius 1689, a.a.O., Bd. I V , S. 668.

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egozentrischen >nosce te ipsum< bei Guevara und Grimmelshausen (>SimplicissimusWahn< und die daraus resultierenden Fehler lassen sich durch wechselseitiges Erzählen vermeiden: Man kann von anderen lernen, ein Haus zu löschen, ohne das eigene erst abbrennen zu müssen. Unter der Voraussetzung, daß der Erzähler die individual- und sozialethischen Aspekte des Erzählens beachtet, kommt diesem letztlich eine gesellschaftsstiftende und humanisierende Funktion zu. Im Anschluß an die Reaktualisierung der aristotelischen Freundschaftslehre in der Nikomachischen Ethik durch Johannes von Felden und seine >amicitia ordinata* (1664) stiftet Erzählen die Freundschaft zwischen Zendorius und Isidorius. Durch das wechselseitige Erzählen ihrer Abenteuer bemerken sie, daß »unsere A f fecten in einem Model gegossen« 11 ' waren. Als Zendorius die Lebensgeschichte des vermeintlichen Jägers Ergasto hört, erkennt er in ihm seinen Befreier aus dem Gefängnis; durch die Lebensbeichte von Isidorius' Mutter auf dem Sterbebett erweist sich Ergasto als Isidorius' leiblicher Bruder. Schließlich begründet die Lebensgeschichte des vermeintlichen Seilfahrers Caspar die Liebe des adligen Fräuleins Kunigunde zu ihm. Jedoch demonstriert Beer mehrmals die Gefahren, die sich aus der Nichtbeachtung von Regeln beim Erzählen ergeben können: Durch übertriebene Familiarität und Geschwätzigkeit entlarvt sich Ludwig als Betrüger eines Wechseljuden. Der Leichtsinn der adligen Caspia entlockt ihr ein ungewolltes Liebesgeständnis gegenüber Zendorius. Auffällig ist, daß in Beers Roman das Erzählen nicht nur zwischenmenschliche Bande knüpft, sondern in seiner liebesstiftenden Funktion sogar die Ständeschranken zwischen Adligen und Rangniederen (SchinderSohn und Seilfahrer) zunächst einreißt, auch wenn im späteren Romanverlauf die adlige Herkunft von Zendorius und Caspar ans Tageslicht kommt. Die Vertraulichkeit des wechselseitigen Erzählens und die Ansicht, Liebe als natürliche, ständeunabhängige >Inclination< aufzufassen, bedingen sich gegenseitig." 6 In seinen Ansichten zu Freundschaft, Liebe und Erzählgesellig" ' Beer, Winter-Nächte, a.a.O., S. 40. - Schon Aristoteles bezeichnet die Wechselseitigkeit der G e f ü h l s r e g u n g und des Charakters als Bedingungen für die Freundschaft und sieht in der Geselligkeit ein Merkmal und eine Ursache für das Fortbestehen einer Freundschaft. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt und hg. von Franz Dirlmeier, Stuttgart 1969, Bücher V I I I und I X . - Z u r Freundschaftslehre v o n Johannes von Felden vgl. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik, a.a.O., S. 141 ff. " ' B e e r s Ubereinstimmung mit Lohensteins neuer A u f f a s s u n g einer vernünftigen Liebe und seine scharfe Kritik an der endogamen Liebesheirat durchziehen den gesamten R o m a n . Stellvertretend für weitere Stellen: »Wahr ist es, daß die Inclination allezeit freistehe und sich nicht leichtlich an etwas zwingen lasset, so tu-

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keit erscheinen Natürlichkeit, Gleichheit und G e f ü h l als neue Werte, die entgegen seiner strikten Moralauffassung ähnliche Tendenzen in der Galanterie vorwegnehmen und auf poetischem Gebiet das naturrechtliche Geselligkeitskonzept verstärken, das Thomasius auf philosophischem Gebiet in seinem >Discours< und in den >Monats-Gesprächen< verkündet. Thomasius und Beer orientieren ihr Geselligkeitskonzept auf die pragmatischen Erfordernisse des Alltags, Angehörige verschiedener Stände und Männer und Frauen sollen lernen, ungezwungen miteinander umzugehen. Die Gelehrsamkeit spielt eine entscheidende Rolle für das >iudicium< und für die Dezenz. Diese frühaufklärerischen Anschauungen unterscheiden sich deutlich von denen der europäischen >res publica litterarialatinitasAccademia della Cruscai Die Normativität des literarischen und sprachlichen Urteils werden durch soziale Exklusivität, thematische Begrenzungen, geschlossene Strukturen der Institutionen und durch eine vorwiegend schriftliche Konversation innerhalb der Akademien abgesichert." 7 D e m setzen Thomasius und Beer den Vorrang der mündlichen Konversation vor der schriftlichen, die Unterwerfung des Wissens unter eine gemeinsame Urteils- und Konsensbildung der nicht-gelehrten K o n versationsteilnehmer und die Ansicht entgegen, daß Erkenntnis als ein unabgeschlossener Prozeß, der Erfahrungen aus allen Ständen einbeziehen kann, anzusehen ist. Damit untergraben sie wichtige Konventionen höfischrepräsentativer Geselligkeit und deren Institutionen und entwerfen das M o dell einer ständeübergreifenden Geselligkeit, die durch erfahrungsgesättigtes Erzählen und vernunftgemäße Konversation den Menschen hilft, ihr Leben unabhängig von religiösen und weltlichen Autoritäten selbst zu bewältigen.

1,7

gendreich auch dasselbe zu sein scheinet. [. . .] Man sieht keine Inclination einen schlimmem A u s g a n g nehmen, als die entweder gar zu unverständig oder mit Z w a n g unterfangen werden.« (Beer, Winter-Nächte, a.a.O., S. 93) Vgl. Martin Bircher/Ferdinand van Ingen (Hrsg.), Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen: Arbeitsgespräch in der Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel 28.-30. J u n i 1977, H a m b u r g 1978. - Sebastian Neumeister/Conrad Wiedemann (Hrsg.), Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1987. - K a r l F. Otto, Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1972. - Christoph Stoll, Sprachgesellschaften im Deutschland des 17. Jahrhunderts, München 1973. - Albrecht Schöne, Kürbishütte und K ö n i g s b e r g : Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte am Beispiel Simon Dachs, München 1975.

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III. Die Kleinigkeiten des Glücks: Die Moralischen Wochenschriften >Der Patriot< und >Der Gesellige
Patrioten< und dem Halleschen >GeselligenDer Patriot< und die Patriotische Gesellschaft in Hamburg 1720 schildert Erdmann Neumeister, Hamburger Hauptpastor von St. Petri und orthodoxer Lutheraner, in einem Brief den scharfen Konflikt zwischen Kirche, Bürgerschaft und Rat in dieser Stadt, der erst 1686 und 1699, dann 1705-08 Züge eines Bürgerkrieges angenommen hatte und im Hauptrezeß 1 7 1 2 mit einem Machtverlust der Kirche endete: In diesen beiden Worten, daß wir hier viel Thomas und Thomasianer haben, ist unser ganzer Zustand begriffen. Da gelten keine beschworenen Rezesse, keine Kirchenordnungen usw. Es sollen nur zwei Stände sein, Obrigkeit und Untertanen. Das reimet sich zu Hamburg wie Speck zu einem Fiedelbogen. 1 ' Zitiert nach Ernst Fischer, Patrioten und Ketzermacher. Z u m Verhältnis von Aufklärung und lutherischer Orthodoxie in Hamburg am Beginn des 18. Jahrhunderts; in: Wolfgang Frühwald/Alberto Martino (Hrsg.), Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur 1700-1848 (FS Wolfgang Martens), Tübingen 1989, S. 17-47, S. 37. - Zum geschichtlichen Hintergrund vgl. Franklin Kopitzsch, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona, Hamburg 1982, S. 148f. 86

Die mangelnde Frömmigkeit ist ihm zufolge den >Politici< und dem >blossen Commercium< der Handelsleute geschuldet, deren philosophisches Glaubensbekenntnis das Naturrecht von Thomasius darstelle. Wie Fischer in seiner konzisen Studie über die Auseinandersetzung zwischen Patrioten und religiösen Ketzermachern nachweist, stehen die Moralische Wochenschrift >Der Patriot< (1724-26) und der aktivste Teil des Stadtrates um Brockes und Richey in vorderster Front in dieser weltanschaulichen Auseinandersetzung und provozieren einen umfangreichen Flugschriftenstreit. Deshalb vermutet Neumeister die anonymen Verfasser des >Patrioten< als Urheber eines Urteils gegen Edzardi, A u t o r von 14 der 31 Streitschriften gegen den >PatriotenDer Patriot« und die Patriotische Gesellschaft« in Hamburg nur schwer vorstellbar, wie seine Vor- und Nachgeschichte zeigen. Kopitzsch weist darauf hin, daß die Entstehungsgeschichte der P a t r i o tischen Gesellschaft« deutliche Z ü g e einer generationsmäßigen Gruppenbildung mit ähnlicher Sozialisation (Jurastudium in Leipzig/Halle oder in Leiden) und gemeinsamen Wertvorstellungen wie Freundschaft, ständeunabhängiger Bildung, Muttersprache, nüchternem Arbeitsethos trägt. Bereits 1 7 1 5 - 1 9 bilden Fabricius ( 1 6 6 8 - 1 7 5 6 ) , Hübner ( 1 6 6 8 - 1 7 3 6 ) und Richey ( 1 6 7 8 - 1 7 6 1 ) , drei mit einander befreundete Lehrer, eine Herausgebergemeinschaft für die >Hamburgische

Bibliotheca

histórica«,

aus der

die

>Teutsch-übende Gesellschaft« ( 1 7 1 5 - 1 7 1 7 ) hervorgeht. Diese >Lehrbegierige Conference« besteht aus zu »wahrer Freundschaft qualificirten Freunden«, die

* Zitiert nach Fischer, Patrioten und Ketzermacher, a.a.O., S. 46.

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sich wöchentlich am Samstag treffen, um Fragen der deutschen Sprache und eigene Veröffentlichungen zu diskutieren. Sie haben ein Statut, führen über ihre Sitzungen Protokoll und unterteilen ihre Zusammenkünfte in einen gelehrsamen und einen geselligen Teil mit Wein und Konfekt, Ausdruck einer genauen Abgrenzung zwischen Muße und Arbeit und eines neuen Bildungsideals und Arbeitsethos. Ihnen schließen sich König (1688-1744) und Brockes (1680—1747) an. Letzterer hatte mit seinem Studienfreund Feind 1700-02 in Halle bei Stryk, Thomasius und dessen Schüler Ludovici Vorlesungen in Jura gehört, bevor er 1704 an der für den Neostoizismus bekannten Universität Leiden das Lizentiat beider Rechte erwirbt; 5 Richey entwirft um 1704 eine >naturrechtlich fundierte PoetikTeutsch-übende Gesellschaft* zerfallen ist, bildet sich um Fabricius, Brokkes, Weichmann und Richey ein Freundeskreis, der sich als Patriotische Gesellschaft* konstituiert. Sechs der elf Mitglieder der Verfassergesellschaft sind Juristen, fünf gehören dem Rat der Stadt Hamburg an, einige werden später sogar Bürgermeister. In der Nachfolge der ersten Moralischen Wochenschrift in Hamburg, Matthessons >Der Vernünfftler< ( 1 7 1 3 - 1 4 ) , fassen sie 1723 den Plan, anonym den >Patrioten< herauszugeben, Kopitzsch zufolge das erste bedeutsame Dokument der Aufklärung in Hamburg. In der Rechtfertigung ihres öffentlichen Auftretens manifestiert sich das wachsende Selbstbewußtsein einer neuen Generation, die in einer weltlichen, überkonfessionellen Klugheits- und Sittenlehre den entscheidenden Garanten dafür sieht, durch Religionsstreits verursachte Kriege wie den Dreißigjährigen Krieg und den Bürgerkrieg in Hamburg (1688-1712) zu beenden und eine Friedensordnung zu stiften, in der individuelle und allgemeine Glückseligkeit sich im Einklang befinden. Die Autoren des Patrioten* gehen davon aus, daß man den >Weg des Friedens* mithilfe eines naturrechtlich und anthropologisch bestimmten Vernunftbegriffs findet und appellieren an den Bürger, entschieden zu handeln: »Inzwischen hat die Republick nicht nur frommer, sondern zugleich kluger und gescheidter Bürger vonnöthen.« 4 Deshalb versteht sich die fiktive Verfasserfigur mit ihrer Welterfahrenheit und ihrer >Begierde zu lernen* als kosmopolitischer Patriot, der objektiv über allen Religionen, Ständen und Einzelstaaten steht und der »die gantze Welt, als sein Vaterland, ja als eine eintzige Stadt, und sich selbst als ' Den starken Einfluß der Ideen von Thomasius auf die Dichtung von Brockes betont mehrfach Hans-Georg Kemper, Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß: problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung, Tübingen 1981, 2 Bde., Bd. 1, S. 248 und S. 256. 4 >Der Patriot*; Reprint der Originalausgabe 1724-26 in drei Textbänden und einem Kommentarband kritisch herausgegeben von Wolfgang Martens, Berlin 196g, Bd. ι, 4. St., S. 27. - Im Folgenden wird im Text die Nummer des jeweiligen Stücks nach dieser Ausgabe angegeben. 88

einen Verwandten

oder Mit-Bürger

jedes andern

Menschen,

ansiehet«

(i. Stück). Lipsius' Vaterlandsbegriff in >De Constantia< wird hier gegen die Intoleranz einer Konfession gewendet, die sich durch den Grundsatz >Cuius regio - eius religio< als moralische Richterin und gesellschaftliche Ordnungsmacht behauptet. In seiner Klugheits- und Sittenlehre ist der rechtschaffene Patriot< geprägt von den sozialen und moralischen Werten der Kaufleute, Verwaltungsund Bildungselite (Juristen, Lehrer), deren individuelle Interessen mit dem >gemeinen Besten< ihrer Stadt übereinstimmen. Im B e g r i f f der >Republicknatürlichen Sitten=Lehreeigene Cur< verlangen (4. Stück). Entsprechend den zeitgenössischen Kräfteverhältnissen wird sie moderat eine >nutzbare Dienerin< für die christliche >Moral-Theologie< genannt und ergänzt diese als gleichberechtigte Partnerin. Nach dieser Rückversicherung wird die Vernunft zum » G e g e n = G i f f t des Aberglaubens, der Schwärmerey, der unnöthigen Spaltungen« (89. Stück) erhoben, während die >Moral-Theologie< auch Christen nicht vor Irrtümern schützt. Allein die Vernunft mit ihrem göttlichen Ursprung unterscheidet den Menschen als >moralisches Wesen< v o m Tier, macht ihn zur Gesetzgebung fähig und zeigt ihm den richtigen Gebrauch der Adiaphora in der >Lehre von dem unschuldigen Vergnügens D a die neue Sittenlehre besonders in der Kindererziehung angewandt werden soll, von der das »Wohl einer gantzen Republick« maßgeblich abhängt, verteidigt der >Patriot< in der Tradition der A u f w e r t u n g der weiblichen G e lehrsamkeit bei Thomasius vehement die Lektüre für Frauen, »wenn nur solche Schrifften gelesen werden, die zugleich ergetzen und nützen, indem sie auf eine anmuthige Art die herrlichsten Lehren in sich fassen« (4. Stück).

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In seiner grundlegenden Studie über die Moralischen Wochenschriften betont Martens das Gemeinsame, oft Stereotype dieses Zeitschriftentypus, um dessen Gattungsmerkmale herauszuarbeiten. Diese These ist mit dem Verlust in der Beobachtung von zeitspezifischen Frontenbildungen und regionalen Bezügen einzelner Wochenschriften erkauft und hat in der nachfolgenden Forschung oft dazu gefuhrt, Aktualität und Radikalität der Auseinandersetzungen zu verkennen oder die Zeitschriften als unterwürfig zu bezeichnen, wie dies dem >Patrioten< von Scheibe unterstellt wird. 5 Für die Zeitgenossen am Beginn des 18. Jahrhunderts besteht das Unerhörte darin, daß sich eine Gruppe beliebiger Privatpersonen und eine Zeitschrift anmaßen, Richter über gesellschaftliches Verhalten zu sein. >Der Patriot< bezeichnet es gegenüber den traditionellen kirchlichen und weltlichen Autoritäten als sein selbstgewähltes >Amtnatürliche Sitten=Lehre< sei für den Alltag >brauchbarer< (89. Stück). Die naturrechtliche Geselligkeitslehre wird vom >Patrioten< systematisch zu einer umfassenden Gesellschafslehre und Handlungspragmatik ausgebaut, indem erstmals in der deutschen Sozietätsbewegung Angehörige nicht-adliger Schichten nach dem Vorbild der römischen Antike die »Aufsicht über die Sitten und das häußliche Betragen der Einwohner« (1. Stück) für sich beanspruchen. Damit wird der Ende des 17. Jahrhunderts aufgewertete >iudiciumPatriot< will »Irrthümer, Mißbräuche und üble Gewohnheiten« zumindest »nach ihrer lächerlichen oder gefährlichen Wirckung vor Augen stellen« und dadurch die »Aufführung der Menschen [. . .] in gewisse Grentzen« setzen (1. Stück). Mit der aus dem Naturrecht legitimierten Fähigkeit des Menschen, sich Gesetze zu geben, kündigt sich in diesem Postulat des >Patrioten< an, wie die öffentliche Meinung allmählich die Gestalt einer dritten Gewalt in der Gesellschaft gewinnt.

' J ö r g Scheibe, Der >Patriot< (1724-1726) und sein Publikum. Untersuchungen über die Verfassergesellschaft und die Leserschaft einer Zeitschrift der frühen Aufklärung, Göppingen 1973, S. 169 und 182. 6 Der Patriot, 1. Stück, Herv. E . P. - Vgl. zu dieser Selbsternennung auch Martens, Botschaft, a.a.O., S. 142.

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Mit der Veränderung des iudicium-Begriffes erhält die Konversation als Bestandteil der Geselligkeit Offentlichkeitscharakter und fuhrt zum Dialog zwischen der fiktiven Herausgeberfigur und den Lesern. Daraus entwickelt sich ein wirkungsmächtiges Potential, wie Martens und Scheibe betonen. 7 Entsprechend der A u f f o r d e r u n g der Herausgeber enthalten die Originalblätter des >Patrioten< am A n f a n g oder Schluß Leserzuschriften. In der K o r respondenz zwischen der fiktiven Verfasserfigur und dem anonym auftretenden Leser brauchen ständische Konventionen nicht beachtet zu werden, so daß in der schriftlichen Kommunikation die Gleichheit durchgespielt werden kann, die in der >face-to-facePatriot< sogar eine wertvolle >Gedächtniß=Müntze< als Preis für den brauchbarsten Aufsatz< eines Lesers aus, nach Martens das erste Preisausschreiben in einer deutschen Zeitschrift. Damit wird eine Verhaltensweise eingeführt, die dazu beigetragen hat, daß bei späteren Akademie-Preisausschreiben auch Nicht-Akademiker Arbeiten einsenden. A u c h wenn Scheibe nachgewiesen hat, daß die Patriotische Assemblee< von Merseburg und die Patriotische Gesellschaft zu Christian-Stadt< eine besonders »raffinierte Spielart der von der Leserschaft übernommenen Verfasserfiktion« gewesen sind und nie existierten, 9 ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß sich solche Diskussionszirkel bildeten und Stücke des >Patrioten< gemeinsam gelesen, beurteilt und Briefe geschrieben haben. Martens urteilt darüber: Die Bildung derartiger Zirkel zur A u f n a h m e einer Wochenschrift ist wirkungsgeschichtlich bedeutsam, zumal sie offenbar ohne Z u t u n des >Patrioten< erfolgt ist. Die Beteiligung des Publikums fuhrt hier über die Einsendung v o n Beiträgen und Briefen hinaus zu Formen gemeinschaftlicher Rezeption und gemeinschaftlicher Mitarbeit. 1 0

' D a s Folgende ist verpflichtet Martens, Botschaft, a.a.O., S. 154Í. und Scheibe, D e r Patriot, a.a.O., S. 5çff. und S. i i 6 f f . ' Die Herausgeber der Zeitschrift >Der Gesellige* bezeichnen die Anonymität des Briefwechsels mit unbekannten Personen als eine »blosse Bekanntschaft der Geister«. Die anonyme Korrespondenz ermögliche ein reines Vergnügen und eine Gleichheit der Stände, denn: » E s fallt hier alles äusserliche weg.« >Der Gesellige*, eine moralische Wochenschrift von Samuel Gotthold L a n g e und G e o r g Friedrich Meier, neu herausgegeben von Wolfgang Martens, Hildesheim 1987, 6 Bände, Bd. ι , ι . Stück, S. Patriot< ( 1 7 2 4 - 1 7 2 6 ) und sein Publikum, a.a.O., S. 60. ' " M a r t e n s , Botschaft, a.a.O., S. 159.

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Indem der >Patriot< in den Stücken 36 und 59 darüber berichtet, hat dies eventuell die Bildung weiterer Gesprächszirkel angeregt. Martens vermutet, daß diese kleinen Zirkel mit ihren Briefen potentielle Verfassergremien< neuer Wochenschriften gewesen sind, wie dies am Beispiel des >Patrioten< mit seinen Nachfolgezeitschriften belegbar ist." Damit wird der Keim für die späteren Lesegesellschaften und insbesondere die Lesekabinette mit ihrer gemeinsamen Rezeption gelegt. 12 Die soziale Zusammensetzung der Herausgeber, die Dauer von drei Jahren und der enorme Erfolg von bis zu 6.000 Exemplaren machen den >Patrioten< zu einem untypischen Beispiel für die Gattung der Moralischen Wochenschriften. Ahnliches scheint für die Abfassung der Texte zu gelten, beruhen doch die 156 Stücke auf Gesprächsergebnissen der Hamburger Patriotischen Gesellschaft«, die sich auch noch nach der Einstellung des >Patrioten< (1726) bis 1748 weiter trifft und wirksamen Einfluß auf die Stadtpolitik (ζ. B. auf die neue Armenordnung 1726; Mädchenerziehung; Reform des Leichenbegängnisses) ausübt. 1 ' Trotzdem bewirkt der >Patriot< durch Form und Inhalt der Zeitschrift Verhaltensänderungen und stiftet neue kulturelle Werte: E r erzieht sein neues Lesepublikum dazu, regelmäßig Zeit und Geld für Lektüre aufzubringen, bisher sozialdistinktives Kennzeichen einer gelehrten oder adligen Minderheit. Die Urteilsbildung von Lesern über die Artikel in Form von Briefen mit Kritiken und Anregungen bilden das Souterrain, auf dem sich die literarische Gattung des Briefromans in Deutschland achtzig Jahre lang einer großen Beliebtheit erfreut. Zudem gewöhnt der >Patriot< sein Publikum daran, sich mit eigenen Stellungnahmen in tagespolitische Fragen (Erziehung, öffentliche Leichenbegängnisse) einzumischen.

" Ebda., S. 160. - D e r Hallesche >Gesellige< verteidigt im 234. Stück ausdrücklich die Ausweitung des gesellschaftlichen Lesens< auf andere Publikationen, auch wenn es den Absatz des Verlegers mindert: »Was kan vernünftigen Wesen anständiger seyn, als in eine Gesellschaft zu treten, welche zur Absicht hat, lehrreiche, erbauliche und angenehme Schriften auf gemeinschafliche Unkosten zu lesen? Man kan unmöglich fodern, daß ein jeder, welcher durch Lesen der Schriften seinen Geist samt seinem Herzen bilden will, sich alle dazu dienliche Schriften selbst kaufen soll. Wir wünschen demnach, daß dieser Gebrauch in Absicht auf mehrer Schriften eingeführt würde.« (Der Gesellige, 234. Stück, a.a.O.) " Vgl. zur Differenz v o n Lesezirkeln, Lesegesellschaften und Lesekabinetten Marlies Prüsener, Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert. E i n Beitrag zur Lesergeschichte, Sonderdruck >Archiv für Geschichte des Buchwesens«, 13 (1972), S. 369-594, bes. S. 390-394. '' Vgl. J ü r g e n Rathje, Geschichte, Wesen und Offentlichkeitswirkung der Patriotischen Gesellschaft von 1724 in H a m b u r g ; in: R u d o l f Vierhaus (Hrsg.), Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften (4. Wolfenbüttler Symposium 1977), München/Wolfenbüttel 1980, S. 5 1 - 6 9 , S. 65. - Fischer, a.a.O., S. 4 1 .

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In der weltoffenen Handels- und Hansestadt Hamburg tragen der English Court, einige Kaffeehäuser' 4 und die erste Freimaurerloge Deutschlands zur schnellen Rezeption englischer Ideen bei, wie Kopitzsch ausführlich belegt. 1 ' Übersetzungen von Texten Alexander Popes und James Thomsons durch Mitglieder der Patriotischen Gesellschaft< bezeugen dies. Trotzdem zeigt sich an der »Patriotischen Gesellschaft< und ihrem Organ die Eigenständigkeit der deutschen Sozietätsbewegung gegenüber dem (Modellfall* England (Habermas). Verglichen mit den englischen Clubs, die in Deutschland erst um die Jahrhundertmitte einige Nachahmung finden,'6 bevorzugt der >Patriot< die konversationeile Geselligkeitskonzeption von Thomasius. Sind in den englischen Clubs Frauen ausgeschlossen, so behandelt der >Patriot< auch Themen wie Kindererziehung, Haushaltsführung und gibt Hinweise für eine nützliche Lektüre für Frauen, um deren Bildung und Konversationsfähigkeit zu fördern. Insgesamt führen die Moralischen Wochenschriften ihr Publikum an philosophische Ideen heran, die bisher einem äußerst kleinen Kreis vorbehalten waren. Ihrem nicht-gelehrten, aber wißbegierigen Publikum bietet dieser Zeitschriftentypus einen philosophischen Eklektizismus, der sich im Fall des >Patrioten< aus der constantia-Lehre von Lipsius, dem aristotelischen Freundschaftsbegriff Feldens, den Ansichten von Thomasius zur Geselligkeit und zur vernünftigen Liebe und der Respektierung der christlichen Ethik zusammensetzt. Diese Elemente verschmelzen zu einer neuen Semantik von >WelterfahrenheitDer Gesellige«, a.a.O., 1. Stück, S. 5, Herv. E. P. - Im Folgenden wird bei Zitaten die Nummer des jeweiligen Stücks angegeben. 94

Die Wirkung dieser weltlichen Moral ist umso größer, als sie über Jahrzehnte hinweg unter Beteiligung ganzer Generationen von aufgeklärten Schriftstellern als Herausgeber oder Mitarbeiter erfolgt. 20 Wenn Martens vertritt, daß man bei den Moralischen Wochenschriften keine Darstellung eines in sich kohärenten philosophischen Systems erwarten darf, sondern die wöchentlichen Stücke nur »Elemente, Bausteine, Teilstücke eines neuen weltanschaulichen Hauses« beinhalten 2 ', so erweist sich dieser gattungsspezifische Eklektizismus als wichtige Bedingung der fiktiven Verfassergesellschaft, deren Modell Thomasius mit seiner Gesellschaft der Müßigen< eingeführt hatte: Die fiktive Gesellschaft der Geselligem kann vom Leser als idealisierte Form einer realen Gesprächsgeselligkeit aus mehreren, gleichberechtigten Personen angesehen werden, die ihre spezifischen beruflichen Fähigkeiten oder lebenspraktischen Kenntnisse zum Mosaik des sich bildenden, gemeinsamen Weltbildes beitragen und damit unterschiedliche Lebensbereiche und Interessen in der Leserschaft abdecken. Dementsprechend dienen im >Geselligen< die an barocken Usus erinnernden Namen der Chloris von Tugendheim, Phillis, Amalia, Doris, Climene von Wohlgezogen und Daphne dazu, neue Themen und gesellschaftliche Bereiche (Brautzeit, Ehe, Liebe, >Kinderzucht Spezialistinnen einzuführen. Dies gilt auch für die Männerriege aus Herrn Schlichter (Jurist), Herrn Redlich (Kaufmann), dem Poeten Musidor, Philander Holdernst (Umgang), dem Hofmeister Wohlrath, dem Philosophen Freymund und dem Geistlichen Frommhold, deren sprechende Namen eine für ihren Beruf wichtige Tugend bezeichnen. Obwohl die fiktive Arbeitsteilung kaum der realen Autorschaft entspricht, 22 verkennt Martens' abwertende Charakterisierung der Verfassergesellschaft als ein >bloßes konturenloses moralisierendes Ich< deren identitätsstiftende Funktion. Erstens impliziert sie eine fiktive Einordnung des einzelnen in die Gesellschaft und seine Unterordnung unter ein gemeinsames, von Stand, Rang und Geschlecht unabhängiges Verhaltensideal der Geselligkeit, das sich im Typologischen der Moralischen Wochenschriften ausdrückt, deren Titel schon Programm verheißt: >Der BiedermannDie " V g l . Martens, Botschaft, a.a.O., S. 124t. - Hinzu kommen die späteren Buchausgaben der Moralischen Wochenschriften, die im Fall des Hamburger >Patrioten< bis vier Ausgaben (1728/29; 1737/58; 1747 und 1765) ausmachen, im Fall des G e s e l ligem eine. " E b d a . , S. 170. " A u f g r u n d von Recherchen können dem >Philosophen< Meier 107 Stücke, dem >Theologen< L a n g e 1 5 1 Stücke, Langes Frau >Doris< das 40. Stück, dem Protektor des >GeselligenDer Gesellige^ a.a.O., S. 4 0 1 - 4 3 1 , S. 404.

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vernünftigen TadlerinnenDer PatriotDer MenschDer Glückselige< verkünden ein neues, ständenegierendes Menschenbild und eine Tugendlehre, die Anspruch auf Normativität erhebt. Zweitens erscheinen dem Leser die Artikel als Resultat und Konsens einer diskursiv-rationalen Geselligkeit, zu der jeder Teilnehmer des Verfasserkollektivs durch seine Vernunft und Erfahrung etwas beiträgt. Wie schon bei Thomasius ist der Eklektizismus Ausdruck der Unabgeschlossenheit und Offenheit der Erkenntnis und Wahrheit. Deshalb wird der Leser mithilfe der Metapher >Piquenique des Geistes< aufgerufen, seine Erfahrungen in die Tugendlehre einzubringen. Drittens schützt eine Verfassergesellschaft die Zeitschrift vor staatlicher und religiöser Zensur, indem von verschiedenen Autoren entgegengesetzte Positionen veröffentlicht werden: Während der eine wortradikal einen f ö r m lichen Aufstand< für eine wahre Republik mit vollkommener Gleichheit initiieren will (12. St.), wettert der andere gegen die Schwärmer, die »allen Unterschied der Stände und der Güther vernichten« wollen (46. St.). Der Schutz vor Zensur ist in Halle als pietistisches Zentrum besonders wichtig und äußert sich in der großen zeitlichen Verzögerung, mit der hier Moralische Wochenschriften erscheinen. 2 ' Die von dem Theologen Lange und dem Philosophen Meier herausgegebene Zeitschrift >Der Gesellige« (1748-50), im Laufe von 1 1 Jahren gefolgt von den Moralischen Wochenschriften der beiden Herausgeber >Der MenschDas Reich der Natur und der Sitten< und >Der Glückselige«, ist geprägt von der eigentümlichen Position und Opposition der Herausgeber gegenüber dem Pietismus. A u f sie trifft - trotz aller traditionellen Elemente wie der religiösen Metaphorik und der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung - Neumeisters religiöse Kritik am Reduktionismus einer rein weltlichen Moral (1724) zu, »daß ein grosser Haufe sich in den Irrthum verwikelt, daß Christus ein Spiegel der Tugenden sey, und man auf dem Sitten=Wege in das ewige Leben eingehen müsse«. 24 Sein impliziter Pelagianismus-Vorwurf wird von Lange und Meier höhnisch ins Gegenteil verkehrt, wenn sie ihren religiösen Gegnern im Stück 271, dem letzten, dafür danken, daß sie ihnen unfreiwillig ein größeres Publikum verschafft hätten: Hätten sie nicht bedenken sollen, daß man einer Schrift Leser verschaffe, wenn man sagt, sie sey freygeisterisch, und gebe den Weltkindern Gründe an die Hand, weltlich gesinnet zu seyn! (Herv. Ε. P.)

Mit der mehrfachen Anspielung auf den Begriff >Weltkinder< verweisen die Herausgeber für die Zeitgenossen und insbesondere für die Halleschen Leser des >Geselligen< auf die pietistische Opposition >Kinder Gottes< - >Kin-

2

' Vgl. Martens, Hallescher Pietismus und schöne Literatur, a.a.O., S. 78. Zitiert nach Fischer, a.a.O., S. 42.

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der der Welfc, die nach Franckes Verdikt »keine wahre Gemeinschafft« untereinander haben dürfen. In seiner Schrift >Der große Ernst des thätigen Christenthums< (1719), in Franckes Waisenhausverlag publiziert, hatte Collin aus der Sicht des Pietismus diesen Gegensatz programmatisch in 14 Punkten ausformuliert und unter dem B e g r i f f des >Welt=Kindes< unter anderem folgende Laster aufgelistet: »Freude an kurtzweiligen Geschichten, Eulenspiegel=Büchern«, »Freude über Scherz und Narrentheidung [. . .] wie an liederlichen Spatzier=gehen«, »Freude über [. . .] Tantzen und Gauckeln beyderley Geschlechts«, »Freude an weltlichen unnützen Gesellschafften«. 1 5 A u f diese Position, die Lange und Meier, wenn nicht über den Unterricht in Franckes Paedagogium, so doch über das religiöse Elternhaus bekannt gewesen sein dürfte, spielt das letzte Stück an und markiert den wohl wichtigsten Kontrahenten des >Geselligenglückseligkeit, reichthumb, ehre, wollust, freude und begierden< (Spener) wendet. Die Treffen lassen sich nur als privater Zusammenschluß gegen enge Kirchenordnungen und gegen staatliche Obrigkeit

Friedrich Eberhard Collin, D e r große Ernst des thätigen Christenthums ( 1 7 1 g ) ; zitiert nach Martens, Hallescher Pietismus, a.a.O., S. n 6 f . 16

Diese weltanschauliche Opposition trägt zudem Merkmale eines Generationskonfliktes mit den Eltern: Samuel Gotthold war der Sohn des strengen und streitbaren Pietisten J o a c h i m L a n g e , bekannt durch seine Gegnerschaft mit Christian Wolff und durch unzählige Streitschriften, die er als Theologieprofessor in Halle veröffentlichte (Vgl. A D B , Bd. 17, S. 6 3 4 - 6 3 ; und S. 6 5 1 - 6 5 3 ) . Meiers Vater war D o r f pfarrer bei Halle und ließ seinen Sohn zunächst im Franckeschen Waisenhaus von Halle, dann krankheitshalber durch den Oberdiakon Christoph Semler, dem wichtigsten Schüler Siegmund J a c o b Baumgartens, erziehen (Vgl. N D B , Bd. 16, S. 649-651).

17

»Die bis zur Methode gesteigerte Verdammung jeder Untätigkeit, jeder Zeitvergeudung wirkte nachhaltig auf die bürgerliche Geselligkeitskultur, die totale Ausrichtung auf das Arbeitsprinzip vernichtete das Streben nach L u x u s und selbstzweckhaften Umgangsformen.« Fauser, Gespräch, a.a.O., S. 125.

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durchsetzen und werden unter Berufung auf das urchristliche Gemeinschaftsideal zu einer alternativen Geselligkeit^ der Martin Brecht revolutionären Charakter beimißt: Revolutionär war potentiell die dabei wahrgenommene Versammlungsfreiheit, potentiell ohne Beteiligung der Institution, auch wenn abwiegelnd lediglich von Privat· Versammlungen gesprochen wurde. Revolutionär war ferner, daß Laien Auslegungs- und Weisungsautorität wahrnahmen. Nicht zuletzt wurden die Schranken des Geschlechts, der Bildung, des Vermögens, des Berufs und der sozialen Stellung zugunsten einer Gleichberechtigung durchbrochen. ' '

Einerseits steht die pietistische Geselligkeit in der Tradition eines antihierarchischen Laienpriestertums, das sich im Calvinismus und im französischen Hugenottentum ausgebildet hatte.29 Andererseits darf Brechts Betonung der revolutionären Züge in der pietistischen Geselligkeit nicht über deren ambivalenten Charakter hinwegtäuschen, den Walter Sparn in der grundsätzlichen >Finalisierung< und Unterordnung der Geselligkeit unter die Ziele einer >vita Christiana< sieht.30 Die Ambivalenz pietistischer Geselligkeit zeigt sich besonders in ihrer Weiterentwicklung bei August Hermann Francke, dessen Auffassung von Geselligkeit sich in seine grundsätzliche Dichotomie von Bekehrten und Νicht-Bekehrten einordnet. Seine >Collegia philobiblicum< (ab 1686) und die späteren Gruppenformen dienen einer zweiten Bekehrung ihrer Teilnehmer in einem stufenweisen Prozeß, der durch Selbstbeobachtung und wechselseitige, kontrollierende Fremdbeobachtung gekennzeichnet ist und eine fortschreitende innere Abkehr von der äußerlichen Welt zum Ziel hat.' 1 Im engen thematischen Rahmen der Bibellektüre und Auslegung kommt dem Gespräch mit seinen therapeutischen und kathartischen Aspekten (Fauser) eine dominante Rolle in der Geselligkeit zu. Indem Francke die Affekte für die Wirkung des Bibel'* Martin Brecht, Pietismus als alternative Geselligkeit, in: Wolfgang Adam (Hrsg.), Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 28), Wiesbaden 1997, 2 Bde., Bd. 1, S. 261-273, S. 267. Dort auch das vorangegangene Zitat von Spener. 19 Vgl. Ingrid und Klaus Brandenburg, Hugenotten. Geschichte eines Martyriums, Leipzig 1990, besonders S. 21, 24 und 33. JO Im Unterschied zur Förderung der Geselligkeit im Luthertum betont Sparn die grundsätzlich andere Legitimation von Geselligkeit im prohibitiven Calvinismus, die auch fur den Halleschen Pietismus zutrifft: Diese Art der Geselligkeit »bietet nicht etwa andere Normen für ein sittlich gutes Leben auf, sondern finalisiert dieses irdische Leben auf das ewige Leben hin, affirmiert und relativiert es also zugleich.« Walter Sparn: Christ-löbliche Fröhlichkeit. Naturrechtliche und offenbarungstheologische Legitimationen der Geselligkeit in der frühen Neuzeit, in: Wolfgang Adam (Hrsg.), Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, a.a.O., Bd. ι, S. 71-92, S. 83. 51

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Martin Brecht, August Hermann Francke und der Hallische Pietismus, in: ders. (Hrsg.), Geschichte des Pietismus, Göttingen 1993, Bd. 1, S. 440-540, S. 442ff.

Wortes betont, p r ä g t er die nachempfindende L e k t ü r e und die Ansicht einer gefühlsmäßigen G e m e i n s c h a f t sympathetischer Seelen, die zur B i l d u n g v o n religiös überhöhten Freundschafts- und Dichterbünden beiträgt und empfindsame

Tendenzen in der D i c h t u n g fördert. D u r c h die A u f w e r t u n g der

G e f ü h l e und der affektiven Identifikation mit anderen rücken in den pietistischen K o n v e n t i k e l n Mitteilungen über persönliche E r f a h r u n g e n und über psychische V o r g ä n g e im B e k e h r u n g s p r o z e ß an die Stelle v o n gelehrten, hermeneutischen Disputen, so daß auch M ä g d e an den Gesprächen teilnehmen, sicherlich ein wichtiger Schritt zur aktiven Partizipation v o n Frauen auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. D i e detaillierte O f f e n l e g u n g der individuellen L e b e n s f ü h r u n g im G r u p p e n g e s p r ä c h erfordert die R e f l e x i o n des eigenen Lebens, Selbstdisziplinierung und freiwillige U n t e r w e r f u n g unter G r u p p e n n o r m e n , die durch Selbstwertsteigerung und das G e f ü h l des A u s erwähltseins kompensiert werden, indem Francke den >Wiedergeborenen< ein M o n o p o l für die richtige Bibelauslegung und die E i n h a l t u n g der zehn G e b o t e zuschreibt. D i e daraus resultierenden K o n f l i k t e mit den kirchlichen Institutionen bestätigen und erhöhen noch das einfühlende N a c h e m p f i n d e n v o n Christi L e i d e n s w e g . 3 2 D o c h die pietistische A b k e h r v o n einer weltlichen L e b e n s f ü h r u n g und die sich g e g e n außen abschottende pietistische Geselligkeit bedeuten keineswegs eine A u f g a b e v o n gesellschaftsreformerischen Absichten: Franckes universaler Missionarismus impliziert eine >umfassende B i l d u n g s - und Gesellschaftsreform< (Martin Brecht), die er 1 7 0 1 im >Project. Z u einem Seminario Universali oder A n l e g u n g eines Pflantz-Gartens, v o n welchem man eine reale Verbesserung in allen Ständen in und außerhalb Teutschlandes, ja in E u r o p a und allen Theilen der Welt zugewarten< entwirft und zu deren D u r c h s e t z u n g er eine spezifische Allianz v o n >Preußentum und Pietismus< e i n g e h t . ' ' A n Franckes K o n z e p t i o n und umfassendem A n spruch pietistischer Geselligkeit zeigt sich die eigenständige Traditionslinie einer zweckrationalen, religiös legitimierten Geselligkeit seit Maimonides, die parallel und in K o n k u r r e n z zu ihrer naturrechtlichen Legitimation verläuft. Wie K e m p e r nachweist, gehen die religiösen ordo-Vorstellungen v o n der ontologischen Andersartigkeit v o n G o t t und Mensch und v o n der A n nahme aus, daß der Mensch ohne G o t t in der Einsamkeit nicht überlebensfähig ist, daß G o t t den Menschen zur geordneten Vereinigung mit seinesgleichen anleiten muß. Von daher wird das G e w i c h t des G e s p r ä c h s mit G o t t im Pietismus verständlich, aber auch der gesellschaftsreformerische Impetus, kann doch die K o r r e k t u r weltlicher und die Restitution religiöser G e selligkeit im Diesseits als Werk der N a c h a h m u n g der göttlichen S c h ö p f u n g s o r d n u n g betrachtet werden. 5 4 Vgl. dazu Brecht, A. H. Francke, a.a.O., S. 4Ó8f. und S. 497^ " Vgl. Brecht, A. H. Francke, a.a.O., S. 480 und S. 45 3 ff. H Vgl. zu dieser komplexen Traditionslinie Hans-Georg Kemper, Gottebenbildlichkeit, a.a.O., S. joff. 99

Im Unterschied zur Förderung der säkularen Geselligkeit im Luthertum in der antiken Tradition der >cura animorum< basiert die strikte Ablehnung der weltlichen Geselligkeit im Pietismus, wie die aktuelle Forschung übereinstimmend betont, auf der Negierung der Adiaphora. Aus dér Perspektive der pietistischen Geselligkeitsauffassung müssen die Titel der 271 Stücke des >Geselligen< mit ihren häufigen Motti >heidnischer< Autoren (Horaz, Vergil, Terenz, Juvenil, Cicero, Ovid) im pietistischen Halle, aus dem noch 1723 Wolff verjagt wird, deshalb als Provokation empfunden werden: Von der geselligen Fröhlichkeit (12. St.), Von der Geselligkeit der Schönen (16. St.), Vom Scherzen (21. St.), Lob der jetzigen Welt, und des Herrn von Sauer Klage (30. St.), Gegen die Ungeselligkeit unter dem Vorwand der Religion (34. St.), Von witzigen Einfallen (42. St.). Im Kontext der traditionellen Metapher, Geselligkeit sei eine Arznei gegen Melancholie," wird Horaz als der >geselligste Mann< gepriesen (13. St.) und steht gleichberechtigt neben Moses und Christus, die zu religiösen Vorbildern der Geselligkeit erklärt werden. Das Toleranz-Postulat des >geselligen Christentums< umfaßt ausdrücklich den Umgang >mit gottlosen Leuten< (Stücke 34 und 85). Im Unterschied zum nüchternen Arbeitsethos und zur Zeitökonomie in Thomasius' >Monats-Gesprächen< und im Hamburger >Patrioten< trägt diese Geselligkeit epikureische Züge. Dies zeigt sich in der provokativen Berufung auf Epikur als >Ertzvater des Geselligem (77. St.) und in der Pflicht zur Fröhlichkeit, Ausgelassenheit und Lebenslust, die auf der epikureischen Auffassung von Lust als Freiheit von Schmerz und als Seelenruhe (Ataraxie) beruhen.®6 Deshalb werden pietistische >Einwürfe< widerlegt, »daß wir durch das Christenthum zu unaufhörlichen Thränen verpflichtet wären« (12. St.). Im Verhältnis zur Religion macht sich die geistesgeschichtliche Wende im >Geselligen< an der radikalen Umdeutung des Christentums in eine lebensfrohe, rationalistische Tugendlehre bemerkbar. Eingeleitet durch ein Motto von Grotius, 37 erklärt der Verfasser im 24. Stück die Misanthropen und religiösen Eiferer zu den >zwey Classen< >finstrer Seelengeselligste WesenVorwand des Christenthums< die >bitterste Tadelsucht< und einen unerträglichen Richtgeist< ausüben und selbst ihr Gebet zur >Musterung der Fehler ihres Nächsten< benutzen: E i n a u f g e r ä u m t e s Wesen lassen sie [i. e. die E i f e r e r ] denen ü b e r , die sie sehr liebreich mit dem N a m e n der Weltkinder beehren. [. . .] Sie sind hauptsächlich U r s a c h e , daß das Christenthum f ü r ein trauriges, finsteres und menschenscheues Wesen ausgeschrien ist. (24. St.)

Diese >heiligen Lästeren sind selbst die ungeselligsten Menschen und gefährlich, weil sie »die Geselligkeit, die sie unter dem Namen der Menschengefälligkeit, der Eitelkeit, der Weltliebe, herunter machen, zu zerstöhren suchen« (ebda.). Mit diesen Ansichten treibt >Der Gesellige< aktiv den >merkwürdigen Generationsbruch< im Pietismus voran, der seit dem Tod von August

Hermann

Francke zu einer >Ubergangstheologie
Discours< wertet Müller die weltliche Vollkommenheit als Eigenschaft des >Politicus< auf und rechtfertigt sie vor-



H u g o Grotius, D e Jure belli ac pacis Libri tres, a.a.O., S. 34. - Vgl. >Der Gesellige^ a.a.O., 73. Stück.

102

sichtig gegenüber der Ablehnung durch die Kirchen, die die Vollkommenheit nur G o t t 2ugestehen und das menschliche Streben danach als Eitelkeit verurteilen: E s ist an d e m , daß alle zeitliche Vollkommenheit in betrachtung der höhern geistlichen und e w i g e n Vollkommenheit nur stückwerck zu nennen. D o c h ist auch dieses gewiß, daß gleichwie alle Vollkommenheit nichts anders ist, als der höchste grad einer ieden sache in suo genere, also auch der höchste g r a d der geschickligkeit, den ein iedweder mensch nach p r o p o r t i o n der ihm verliehenen zeitlichen g a b e n , und der kürtze seines lebens, zu b e f ö r d e r u n g seiner w a h r e n glückseligkeit erlangen kan, eine w a h r h a f t e Vollkommenheit zu nennen. 4 '

Mit dieser Argumentation transformiert Müller das adlige virtuoso-Ideal bei Castiglione, Gracián und Shaftesbury in ein allgemeines Vollkommenheitsstreben, das unabhängig von Stand und angeborenen Anlagen jedem Menschen eine ihm gemäße, individuelle Vollkommenheit zuspricht. Im >Geselligen< werden Glückseligkeit und physische, psychische und intellektuelle Vervollkommnung gleichgesetzt. Die Perfektibilität ist nicht nur ein Ziel, sie beinhaltet zugleich den Prozeß der Vervollkommnung, der sich auf die Entwicklung des einzelnen oder auf die der gesamten Menschheit beziehen kann. Deshalb wendet sie der Verfasser des >Geselligen< unter Bezug auf Montesquieu auf die Geschichte der Menschheit in ihrer Entwicklung von den >wilden und barbarischen Völker< zu den Urbanen Nationen an und nimmt mit dieser Geschichtsphilosophie wichtige Ideen von Iselins Geschichtsphilosophie der Geselligkeit vorweg. D e r einzelne kann die Perfektibilität durch ein gleichberechtigtes Geben und Nehmen erreichen: Ich kan überhaupt das gesellige L e b e n ein wechselweises G e b e n u n d E m p f a h e n nennen, deren eines sich so genau auf das andere beziehet, daß keines o h n e das andere seyn kan. (46. St.)

Diesem Ziel dient das Ideal einer diskursiven Republik: Wir wollen eine w a h r e R e p u b l i k in dem geselligen L e b e n errichten. [. . .] Wir w o l l e n , es soll keine andere G e s e l l s c h a f t seyn, als zu welcher ein jeder in v o l l k o m mener Gleichheit das Seine b e y t r a g e n kan. (2. St.)

41

A u g u s t Friedrich M ü l l e r , Balthasar G r a c i á n s O r a c u l , D a s m a n mit sich f u h r e n , und stets bey der hand haben kan, L e i p z i g 1 7 1 ; ( B a n d 1), L e i p z i g 1 7 1 7 und 1 7 1 9 ( B a n d 2 und 3). E i n e zweite A u f l a g e der v o l u m i n ö s e n drei B ä n d e mit spanischem Originaltext, deutscher Ü b e r s e t z u n g und u m f a n g r e i c h e n K o m m e n t a r e n zu jeder M a x i m e G r a c i á n s erschien 1 7 3 5 . D a s Z i t a t befindet sich B d . 1 , S. 4of. 103

3- Die ästhetische Theorie der >Kleinigkeiten< Die Herausbildung des Geschmacksurteils in der >geselligen Ordnung< Die Verheißung einer diesseitigen Vollkommenheit stellt für Meier und Lange ein entscheidendes Movens dar, ihre neue Lehre von der geselligen Ordnung zu etablieren, mit der alle Kleinigkeiten des Alltags erfaßt und geordnet werden sollen. Wurden die traditionellen Konzepte des Decorum und der Prudentia sozialdistinktiv begründet und blieben vorwiegend auf den Hof ausgerichtet, so stellt sich Mitte des 18. Jahrhunderts die Aufgabe, ein neues, ständeübergreifendes Schicklichkeitsideal zu entwickeln, um dem wachsenden gesellschaftlichen >commercium< zwischen den Ständen gerecht zu werden. Symptomatisch markiert der neue Umgang zwischen höfischen Verwaltungsbeamten, Kaufleuten, Juristen, Ärzten, Pfarrern, Offizieren und Schulmeistern in den Lesegesellschaften den Umbruch, der sich als Ablösung der ständischen, regelbetonten decorum-Lehre durch ein sensualistisches, egalisierendes Geschmacksurteil vollzieht. 42 Wird von Gegnern des neuen Leitbegriffes >Geschmack< das Argument der Beliebigkeit des Geschmacks in der scholastischen Tradition der lateinischen Redensart »De gustibus et coloribus non disputandum« behauptet, so entwickeln die Vertreter der Moderne als Replik zwei Argumentationen, zum einen den Rückbezug des individuellen Geschmacksurteils auf die vernünftige Konversation als Medium der Konsensbildung und der Intersubjektivität, zum zweiten die Fundierung des sensualistischen Geschmacksempfindens in der objektiven Schönheit der Natur. 4 ' Dabei können die deutschen Modernen an die italienische Renaissance anknüpfen. In Castigliones >11 Cortegiano< gelten individueller Geschmack und Urteilsvermögen als wesentliche Eigenschaften des Hofmanns und zeigen sich in der >grazia< und >sprezzaturaGeschmack< (Karlheinz Stierle u. a.); in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1974, Bd. 3, Sp. 444-456. - Alexander von Bormann, Vom Laienurteil zum Kunstgefühl, Tübingen 1974, Einleitung, S. 1—16. — Hans-Jürgen Gabler, Geschmack und Gesellschaft, Frankfurt a. M./Bern 1982.

104

schmack als Konzept des modernen Individuums begründet. D e r Gedanke der Autonomie gegenüber der normsetzenden Académie Française und die Ausbildung einer kulturellen Identität unabhängig vom Hof

prägen

die

breite

französische

Debatte

über

absolutistischen den

Geschmack

(1680—1750). Das >beau relatif: setzt die Ansicht eines geschichtlich veränderlichen Geschmacks frei und wird in den Salons der >modernes< zum Markstein für die Befreiung v o m aemulatio-Postulat. Im öffentlichen Streit um die Pariser Kunstausstellungen (1737) findet diese Entwicklung mit der Proklamation des sinnlich-spontanen Geschmacksurteils einen Höhepunkt. Müssen sich der italienische und der französische Geschmacksbegriff gegen fürstliche Bevormundung und staatlich verordnete Kunstdoktrinen durchsetzen, so ist es eine Besonderheit der deutschen Debatte, daß sich der Geschmacksbegriff vor allem gegen theologische Moralurteile wehren muß. Thomasius' Geschmacksbegriff im >Discours< und der >AdiaphoraOraculo Manual< und seiner Scharfsinnigkeitslehre. Der Gracián-Kommentar von August Friedrich Müller, von der Forschung seit der maßgeblichen Schopenhauer-Ubersetzung zu Unrecht vernachlässigt, 44 ist für die weitere deutsche Debatte wegweisend. In Müllers metaphorischem Geschmacksbegriff zeigen sich die zwei Ursprünge des Begriffs aus der antiken Rhetorik und aus der Moralistik (Gabler). Seine A b sicht ist es, die neuen Theorien von Mlle de Scudéry und Thomasius für sein von der Galanterie-Bewegung geprägtes Ideal des >weltklugen mensche™ praktikabel zu machen. U m das Geschmacksurteil vom möglichen Makel des >gemeinen geschmacks des pöbels< und dessen unkontrollierter Sinnlichkeit zu reinigen, soll die »sinnliche empfindung durch einen wohl urtheilenden verstand verbessert, und des kützels irraisonnabler affecten, durch langwierige Übung im guten, gnugsam entwohnet« werden (277). In einer für die deutsche Aufklärung charakteristischen Weise verbindet Müller den philosophischen Aspekt von sinnlichem Empfinden und Verstandesurteil mit einer sozialen Abgrenzung gegenüber dem Pöbel. Trotz der sozialen Distinktion findet durch die A u f w e r t u n g der sinnlichen E m p f i n d u n g eine

44

Z u r Mißachtung dieses wichtigen Werkes der deutschen Frühaufklärung (nicht nur für die Thomasius-Rezeption) hat sicherlich das vernichtende Urteil Schopenhauers in seinem >Vorwort des Ubersetzersc beigetragen, Müllers Werk sei »heutzutage schlechterdings unlesbar« und »kann nur für eine Paraphrase gelten«. Vgl. Gracián, Handorakel, übersetzt und herausgegeben von Arthur Schopenhauer; Stuttgart 1954, S. 5. - Eine Ausnahme stellt die Beachtung Müllers bei Gabler, Geschmack und Gesellschaft dar. - Z u r Argutia-Lehre bei Gracián vgl. Volker K a p p , Art. >Argutia-Bewegungkluge conversation wird bei ihm zum Medium einer intersubjektiven Konsensbildung, denn die mutzbaren lehren< findet man nicht in vorgefertigten Lehren (thesi), sondern »vielmehr nur (in hypothesi) an lebendigen exempeln so wohl geschickter als ungeschickter leute«.51 In seiner Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen< (1746) mißt der Mitherausgeber des >GeselligenAnfangsgründen aller schönen Wissenschaften werden

1748-50, 2. Theil (Halle 1749), 2. Abschnitt »Von der Aufmerksamkeit« (§ 2 8 3 - 3 1 1 , S. 48-114). Die zweite Auflage erschien 1754-59. - Vgl. zum Verhältnis von Georg Friedrich Meier und Alexander Gottlieb Baumgarten auch den Eintrag in der N D B , Bd. 16 (1990), S. 649-651. w König, Untersuchung von dem guten Geschmack, a.a.O., S. 418. Thomasius, Monats-Gespräche, a.a.O., Bd. IV, Monats-Gespräch Juli 1689, S. 646-686, bes. S. 653. '' Müller, Graciáns Oracul, a.a.O., Bd. 1, S. 72-76. 52

Georg Friedrich Meier, Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen in Absicht auf die schönen Wissenschaften, Halle 1746. Das Zitat befindet sich auf Seite 7.

108

neben der Lektüre von Romanen und Geschichtsbüchern das »Reisen und der häufige U m g a n g mit vielen Leuten und grossen Gesellschaften« als Mittel zur E r h ö h u n g der Aufmerksamkeit genannt, »weil man auf tausend D i n g e Achtung zu geben genöthigt ist«. Dies gilt insbesondere für Frauen: »Belinde geht in eine zahlreiche Gesellschaft, und sie giebt auf alle Kleinigkeiten Achtung.« 5 5 N o c h sechzig Jahre später hebt Delille im Vorwort zu seinem Gedicht >La Conversation ( 1 8 1 2 ) die Bedeutung der geselligen K o n versation als Ort für die Wahrnehmung von Kleinigkeiten hervor. In seiner idealisierten, zwanglosen »société de personnes spirituelles et polies, réunies pour s'entretenir ensemble et s'instruire« zählt jedes Wort, jede Geste, jeder Blick. Ihre nur scheinbare Natürlichkeit muß jeden denkbaren A f f r o n t , jede Beleidigung oder Verletzung vermeiden, um das fragile Gleichgewicht zwischen den Teilnehmern zu wahren, »assurant à la société l'équilibre des prétentions et des vanités rivales«.' 4 Mit der in der Gesprächsgeselligkeit erworbenen Fähigkeit zur Wahrnehmung, zur Selbstbeherrschung und zur Beachtung aller >Kleinigkeiten kann die >schule der gelehrsamkeit< zur Verhaltenssicherheit in der großen G e sellschaft beitragen. In Anlehnung an Müllers B e g r i f f der >klugen wahl< zeigt sich für K ö n i g der gute Geschmack »in der Wahl unsrer Gesellschafften, eines Freundes, eines Liebsten, eines Lehrmeisters, eines Bedienten«. Besonders aber herrscht der schlechte oder gute Geschmack »fast über alle Handlungen des Menschen, bis auf die geringsten Kleinigkeiten; von der ersten K u n d t bis auf das letzte Handwerck«, so in der Ausübung eines Berufs, in Moden, Zeitvertreiben, Gebärden, Körperhaltung, Einrichtung von Haus und Garten, E m p f a n g von Gästen und selbst in der Wahl eines Tischtuches." Neben der Gesprächsgeselligkeit in den neuen >bürgerlichen< Sozietäten gehören die Moralischen Wochenschriften zu den wichtigsten schriftlichen Medien der Geschmacksschulung, weil gerade sie für ihre neuen Leserschichten die praktischen Aspekte einer Alltagsästhetik thematisieren. In Anlehnung an das englische Vorbild >Spectator< erhoffen sich Bodmer und Breitinger vom Lesepublikum der »Discourse der MahlernGeselligen< erweitert die auf Tugend einge60

Zitiert nach Strosetzki, Konversation, a.a.O., S. 51, Fußnote 386. '" Die neue Qualität der Freundschaft zu Beginn des 18. Jahrhunderts und ihre Bedeutung für die Epistolographie ist in der Forschung unbestritten. Dies gilt aber nicht für ihre Charakterisierung und ihre sozialgeschichtlichen Grundlagen. Vgl. Albert Salomon, Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland: Versuch zur Soziologie einer Lebensform (E: 1921), aus dem Nachlaß herausgegeben von Richard Grathoff; in: Zeitschrift für Soziologie 3 (1979), S. 279-308. - Wolfdietrich Rasch, Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts: Vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock, Halle 1936. — Eckhardt Meyer-Krentler, Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur, München 1984. - Wolfram Mauser/Barbara Becker-Cantarino (Hrsg.), Frauenfreundschaft Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert, Tübingen 1991.

112

schränkte Freundschaft durch die Betonung des sinnlichen Empfindens, das auch Grundlage des Geschmacksurteils ist: D i e Freundschaft, welche von den meisten bloß fur eine Tugend gehalten wird, ist 2ugleich auch eine Leidenschaft. Alle Leidenschaften sind etwas Sinnliches; man fühlt sie: sie zu erhalten muß etwas Sinnliches angewendet werden. (72. St.)

Die Anwendung manifestiert sich in der >Geschicklichkeit< des Umgangs mit Freunden, bei einer Trennung vom Freund in >geselligen Freundschaftsreisen« und >freundschaftlichen Briefen«. In letzteren fehlt es »nie an Kleinigkeiten, die wichtig genug sind, uns zu rühren; Kleinigkeiten, die die Welt nichts angehen, aber doch stark genug sind, einen Freund, an den sie geschrieben sind, zu reizen. Weil das Herz sie aus der E m p f i n d u n g hervor bringet: so wirken diese Kleinigkeiten auf ein jedes Herz, das zur freundschaftlichen E m p f i n d u n g aufgelegt ist.« (72. St.) Exemplarisch wird das G e f ü h l aufgewertet und von der Sphäre der >Staatsklugheit< abgegrenzt, die Gleichgestimmten finden und erkennen sich in einer >Geselligkeit der Seelen« wieder. Durch

ihre

Abgrenzung

von

>galanten
Freundschaftsbriefe< einen engen Zusammenhang mit der >empfindsamen< Brieflehre Gellerts. 6 2 Nach Ansicht des >Geselligen< werden die freundschaftlichen Briefe dem Schreiber v o m Herzen, von der Natur und von den Empfindungen in die Feder diktiert: D i e Munterkeit, die vertrauliche Ungezwungenheit, die zuversichtliche Dreistigkeit, der Scherz, und die Verbannung grosser Titel und der Ceremonien, bringen ein Leben in die Schreibart, welches die Mutter des wahren Witzes ist. (72. St.)

Das qualitativ Neue des Stilideals der Natürlichkeit besteht darin, daß das >PrivateHerzens< zu einem patriotischen Ideal, das im Göttin-

6

' Vgl. dazu Wilfried Barner, »Beredte Empfindungen«. Über die geschichtliche Position der Brieflehre Gellerts; in: Eberhard Müller (Hrsg.), >. . . aus der anmuthigen Gelehrsamkeit«: T ü b i n g e r Studien zum 18. Jahrhundert (FS Dietrich Geyer), Tübingen 1988, S. 7 - 2 3 .

Ii?

ger Hain und im Sturm-und-Drang eine Fortsetzung findet. >Thirsis und Damon's freundschaftliche Lieder< von Lange und Pyra, 1745 von Bodmer herausgegeben, und >Der Gesellige< fördern die Mentalität eines empfindsamen Freundschaftskults, der über Klopstock und Hölderlin auf viele Generationen wirkt und die feindliche Haltung des Pietismus zur Freundschaft und Geselligkeit zurückdrängt. Mitte des 18. Jahrhunderts wird die naturrechtliche Konzeption der Geselligkeit durch ihre Anbindung an das Telos einer individuell verstandenen Vervollkommnung auf Fragen des Alltagsverhaltens ausgerichtet. In der Diskussion über das Geschmacksurteil, die Perzeptionslehre und die Aufwertung der Gefühle in der empfindsamen Freundschaft werden strikt säkulare und eudämonistische Ziele verfolgt und die Geselligkeit von den Themen und den sozialen Trägerschichten entscheidend ausgeweitet. Die von Shaftesbury und den englischen Wochenschriften vertretene »moralsenseungelehrteTribunal< errichten und die Autorität der tatsächlichen Gerichte von Hof und Kirche untergraben. Dies läßt sich an der Hamburgischen Patriotischen Gesellschaft mit ihrer Zeitschrift, an der Moralischen Wochenschrift >Der Gesellige< und an den ersten Lesezirkeln belegen. In »Discourse der Mahlern< der Schweizer Bodmer und Breitinger lobt eine fiktive Briefschreiberin, daß diese Zeitschrift ihr »erstes weltliches Buch« gewesen sei und ein >curiöses< Verlangen nach weiterer Lektüre geweckt habe ( X I X . Discours). Im Unterschied zu dem auf die Ästhetik eingeengten Geschmacksbegriff in Frankreich werden in der deutschen Diskussion zunächst noch der moralische und der ästhetische Aspekt des Geschmacksbegriffs gleichwertig behandelt. Dies ist die Voraussetzung, unter der die neuen sozialen Zielgruppen über ihren unmittelbaren Erfahrungsbereich hinaus für kulturelle und ästhetische Fragestellungen interessiert werden können. Die »Bibliothek für Frauenzimmer< (»Discourse der MahlernGeselligen< zur Odentheorie, zur empfindsamen Brieflehre, zu Klopstock und Wieland markieren diese schwierige Vermittlungsaufgabe. Mentalitätsbildend über Generationen hinweg wird von den Moralischen Wochenschriften und den neuen Sozietäten eine thematisch ausgreifende Diskussion über Geschmack und Geselligkeit geführt, die den Grundstein für den kulturellen Wertewandel in der Gesellschaft und für das Programm der »ästhetischen Erziehung< des Menschengeschlechts in der Weimarer Klassik am Ausgang des 18. Jahrhunderts legt. 114

IV. Die Geschichtlichkeit menschlicher Vereinigungen und Staatsformen (17 5 0-1770)

Drei Überzeugungen ebnen den Weg für die Applikation der Perfektibilitätsidee auf den historischen Prozeß der Menschheit und sind elementare Bestandteile der Geschichtsphilosophie im 18. Jahrhundert: die anthropologische Dispositon zur Vernunft und zur Geselligkeit, unabhängig von Stand, Konfession und Geschlecht; die Vernunft als empirisches Resultat einer prozeßhaften Erkenntnis durch geselligen Meinungsaustausch und Urteilsbildung; die Geselligkeit als Bedingung und Medium für die Vervollkommnung des einzelnen wie der menschlichen Gattung. Trotzdem gehen die produktivsten Fragen oft von den Theoretikern aus, die diese Grundannahmen nachhaltig bezweifeln. U m die Mitte des 18. Jahrhunderts vollzieht sich ein tiefgreifender Wandel in der eng verzahnten deutsch-französischen Diskussion über Geselligkeit, indem der Begriff von der anthropologischen und verhaltensethischen Ebene nachhaltig in den Bereich der Gesellschafts- und Staatstheorie verlagert wird. Enthält der Begriff der Perfektibilität bereits eine immanente Vorstellung von Entwicklung, so trägt die Geschichtsphilosophie zwei neue Elemente zur Geselligkeitsdiskussion bei. Sie fragt nach dem geschichtlichen Grad der Vollkommenheit des Menschen und nach den Staats- und Regierungsformen, die der Vervollkommnung förderlich oder hinderlich sind. Staatsformen und ihre Transformationen werden damit unter einem geschichtlichen Blickwinkel als abstrakte Form unabhängig von der Person des Herrschers analysiert. Z u d e m verdrängt die geschichtsphilosophische Reflexion die Vollkommenheitstypen der traditionellen Verhaltensethik und ersetzt sie durch Personengruppen. Ermöglichte die naturrechtliche Diskussion eine soziale Ausweitung vom Adel auf Teile des aufstrebenden, gelehrten Bürgertums, unterstützte die anthropologische Annahme von Vernunft und Gelehrsamkeit aller Menschen zumindest theoretisch die Einbeziehung von Frauen in die neuen Gruppenformen, so treten um 1750 der >Bürgerstand< (Iselin) und die >Jugend< (Herder) als neue Träger der Geselligkeit auf.

ι. Die produktive Provokation: Rousseaus Zivilisationskritik und ihre Folgen für die Geselligkeitsdiskussion um 1750 Rousseaus Provokation im >Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommesi, dem mouveau livre contre le genre humain< (Voltaire), - hier aus dem speziellen Blickwinkel seiner Position zur >sociabilité< betrachtet - besteht in dem Paradoxon, den optimistischen Glauben an einen linearen Fortschritt der Menschheit durch Vernunft, Aufklärung und Bildung und das neuere rationalistische Naturrecht mitsamt seiner Annahme einer anthropologischen Geselligkeit radikal in Frage zu stellen, aber gerade dadurch den Blick für eine geschichtsphilosophische Betrachtung menschlicher Vereinigungen von den Hirtenvölkern bis zum modernen Staat mit seiner Gewaltenteilung freizulegen und eine >Genealogie der Soziabilität zu entwickeln.' Indem er den Prozeß der menschlichen Gesellschaft in ihrer immanenten Widersprüchlichkeit analysiert, radikalisiert er den bisherigen Skeptizismus in der französischen Aufklärung. Die den Menschen vom Tier unterscheidende >faculté de se perfectionner wird von ihm als >source de tous les malheurs de l'homme* angeklagt. 2 Jeder Entwicklungsschritt des Menschen über das >Goldene Zeitalten hinaus, das er als »juste milieu entre l'indolence de l'état primitif et la pétulante activité de notre amour propre« ansieht, enthält eine scheinbare Vervollkommnung des einzelnen bei gleichzeitigem Verfall der menschlichen Gattung: L'exemple des Sauvages qu'on a presque tous trouvés à ce point semble confirmer que le Genre-humain étoit fait pour y rester toujours, que cet état est la véritable jeunesse du Monde, et que tous les progrès ultérieurs ont été en apparence autant de pas vers la perfection de l'individu, et en effet vers la décrépitude de l'espèce. (p- 1 7 O

Gegenüber der Annahme einer anthropologischen Geselligkeit im modernen Naturrecht geht Rousseau provokativ vom »homme solitaire* im Naturzustand aus,' dem zwei der Vernunft des modernen Naturrechts vorgängige Prinzipien zu eigen sind: zum einen Wohlergehen und Selbsterhaltung (amour de soi), zum zweiten die >commisération< oder >pitié< (Mitleid). 4 Aus 1

1

Heinrich Meier, Rousseaus Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen; in: J e a n Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Paderborn 1984, S. I X - L X X X V , S. L X V . Rousseau, Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes (2. Discours; 1 7 ; 5); in: ders., Œuvres Complètes, Paris (Bibliothèque de la Pléiade) 1964, Bd. I l l , p. 1 0 9 - 2 2 3 , p. 142. - Im Folgenden zitiert als Rousseau, 2. Discours. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Quelle.

' Z u m >Perspektivwechsel< Rousseaus bezüglich des »homme solitaire* vgl. Meier, Rousseaus Diskurs, a.a.O., S. L X I I . 4 Rousseaus Opposition gegen das neuere Naturrecht macht sich besonders an der 116

diesen beiden anthropologischen Anlagen des Menschen entspringen für ihn alle natürlichen sozialen Verhaltensweisen. D o c h erst durch die Notwendigkeit, sich angesichts von Naturkatastrophen mit anderen dauerhaft zu verbinden, tritt der ihomme naturel· in den Zustand der Gesellschaftlichkeit ein und verliert seine ursprüngliche Freiheit, die für Rousseau in der Unabhängigkeit des isolierten »agent libre< von anderen Menschen besteht; ihr entspricht auf zwischenstaatlicher Ebene die Unabhängigkeit des (Klein-)Staats von anderen Staaten. Wesentlich für Rousseaus Dialektik ist, daß er in enger Anlehnung an Montesquieu den Wechsel in den historischen Formen der Gesellschaftlichkeit mit der geschichtlichen Transformation grundlegender psychischer Dispositionen des »homme naturel· verknüpft: Die ursprüngliche >bonté< wird unter dem Einfluß der Vernunft zur »vertuvanité< und »amour propre*); die (physische) Liebe des Naturzustands bringt unter den Bedingungen der Gesellschaft Eifersucht, Rache oder die Pflicht zur »éternelle fidelité< hervor. 5 Schließlich wirken unter diesen historischen Voraussetzungen auch Wissenschaften und Künste, so Rousseaus Gegenwartsanalyse im Discours >Si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les moeurs< (1750), als Katalysatoren im Prozeß des menschlichen Verfalls eine Provokation angesichts der enormen A u f w e r t u n g der Wissenschaften und Künste in der kurz vorher ausgetragenen »Querelle des Anciens et des Modernes*, in der sie in Perraults Gedicht auf Louis X I V . zum Symbol für den Fortschritt in der Monarchie erhoben worden waren. Folgt man Schlobachs Studie über die verschiedenen Funktionen der geschichtlichen Zyklentheorie im Frankreich des 18. Jahrhunderts, so kann Rousseaus Kulturkritik im 1. Discours als impliziter A f f r o n t gegen Voltaires modifizierte Zyklentheorie gelesen werden. Im G e f o l g e von Perrault hatte Voltaire in »Siècle de Louis XIV< (1739) und im Gedicht »Le mondaine Annahme einer Vernunft als Ursprung der Geselligkeit im Naturzustand fest. Im Fortgang des Zitats heißt es: »C'est du concours et de la combinaison que nôtre esprit est en état de faire de ces deux Principes, sans qu'il soit nécessaire d'y faire entrer celui de la sociabilité, que me paroissent découler toutes les régies du droit naturel; régies que la raison est ensuite forcée de rétablir sur d'autres fondemens, quand par ses développemens successifs elle est venue à bout d'étouffer la Nature.« (Rousseau, Œuvres Complètes, Bd. I l l , p. 116, Herv. E . P.) ' Die D e n k f i g u r , daß sich psychische Eigenschaften des Menschen grundlegend verändern können, findet sich in Montesquieus »Les lois naturelles*, wird hier aber noch nicht auf gesellschaftliche Mechanismen zurückgeführt, sondern auf das den Menschen v o m Tier unterscheidende Merkmal der Suche nach dem Überfluß. Montesquieu, Essai touchant les lois naturelles et la distinction du juste et de l'injuste (ca. 1725); in: ders., Œuvres Complètes, ed. par G e o r g e s Vedel, Paris 1964, p. 1 7 5 - 1 8 1 ; p. 176.

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die eigene Gegenwart als ein relatives Maximum, als ein >paradis terrestre< in der bisherigen Menschheitsgeschichte bezeichnet und die zunehmende >perfectiblité< an den Künsten festgemacht. 6 Rousseau durchbricht die von den >modernes< verfestigte Gleichung, eine Monarchie führe zur Blüte von Wissenschaften und Künsten, indem er in der Gegenwart ein relatives Minimum des Fortschritts sieht. Unter diesen Prämissen verwundert es nicht, daß der im Naturrecht positiv besetzte Begriff >sociable/sociabilité< bei ihm zunächst zum Synonym für den Niedergang der menschlichen Gattung wird, nicht zuletzt deshalb, weil er im neueren Naturrecht an eine vorgängige Vernunft gekoppelt ist. Verglichen mit zeitgenössischen Positionen besteht das qualitativ Neue bei Rousseau in seiner engen Verknüpfung von Sozialethik und Institutionen, er wandelt die traditionelle Kritik am personalen Typus des Pedanten bei Montaigne, Marivaux und Buffier in eine Kritik an gesellschaftlichen Institutionen um und spielt sprachlich mit der Mehrdeutigkeit von >sociabilité< als traditionell juristischem Begriff in der Bedeutung von >Gesellschaftlichkeit, Gesellschaftern (socialitas, justitia) und als verhaltensethischem Begriff mit der Konnotation von >commerce< (Kommunikation, Umgang) und dessen Wortfeld (>bienséance, équitésauvages< über die Familie als einer Gesellschaft im Kleinen mit ersten Bequemlichkeiten, Streitigkeiten und Kämpfen und durch Sitten und Konventionen geeinte Völkerschaften (nations) bis zur modernen Gesellschaft erstreckt. Die geschichtsphilosophische Darstellung Rousseaus mündet zwar ähnlich wie bei Hobbes in die Ansicht, die Gesellschaft sei ein Zwangs' Jochen Schlobach, Pessimisme des philosophes? La théorie cyclique de l'histoire du 18 e siècle; in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Oxford ι ; 5 (1976), p. 1971-1987, p. 1977. 7 Vgl. zur französischen Wortgeschichte die Einträge >commerciumsociabilissocialis< und >societas< in Walther von Wartburg (Hrsg.), Französisches Etymologisches Wörterbuch, Basel, Bd. 2 (1946), S. 952 und Bd. 12 (1966), S. 1 6 - 2 1 . Art. >commerce< in der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonnée des sciences, des arts et des métiers, éd. d'Alembert, Diderot (E: 1751-1780), N D der Erstausgabe, Stuttgart 1966, Bd. 3, S. 690-700, S. 690. - Zahlreiche Belege fur den >commercel'inégalité d'institution< führen.8

2. Rousseaus Radikalisierung zeitgenössischer Verhaltens- und Geselligkeitstheorien Rousseaus Gesellschafts- und Zivilisationskritik knüpft an die breite französische Diskussion über die Neubegründung der Gesellschaft durch ein >bonheur général· an, insbesondere an die Positionen von Buffier und Montesquieu. Im >Traité de la Société civile et du moyen de se rendre heureux< nimmt der von Voltaire geschätzte Jesuitenpater Buffier eine programmatische Abwertung der Offenbarungsreligionen gegenüber einer auf das eudämonistische Glück und das Allgemeinwohl ausgerichteten, vernunftgeleiteten Moral vor: Les lumières surnaturéles, toutes divines qu'elles sont, ne nous montrent rien, par raport à la conduite ordinaire de la vie, que les lumières naturéles, n'adoptent par les réflexions exactes de la pure Philosophie [ . . . ] '

Wird die Moral mithilfe der menschlichen Vernunft zunächst vom theologischen Richterstuhl losgelöst, kann Rousseau unterstellen, daß dem >homme naturel· im Naturzustand jegliche Moral unbekannt ist, diese also das geschichtliche Produkt der Gesellschaftlichkeit ist. Mit dem Telos des diesseitigen Glücks verschiebt Buffier die traditionelle Hierarchie der dreigeteilten Pflichtenlehre (Pflichten gegenüber Gott, sich selbst und seinen Nächsten). Anstelle einer rationalistisch-universalistischen Begründung der Ethik wird das Individuum mit seinen Gefühlen zum Aus8

»Pour comprendre la nécessité de ce progrès il faut moins considérer les motifs de l'établissement du Corps Politique, que la forme qu'il prend dans son exécution et les inconveniens qu'il entraîne après lui: car les vices qui rendent nécessaires les institutions sociales, sont les mêmes qui en rendent l'abus inévitable [ . . .]«. (Rousseau, 2. Discours, a.a.O., p. 187, Herv. E. P.) ' Claude Buffier, Traité de la Société civile ou du moyen de se rendre heureux, en contribuant au bonheur des personnes avec qui l'on vit, Paris 1726, S. 12. - Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Quellenangabe. - Zur Biographie und ideengeschichtlichen Stellung von Buffier vgl. den Eintrag in Berthelot u. a. (Hrsg.), La Grande Encyclopédie, Paris 1885-1902, Bd. 8, S. 371. 119

gangspunkt der Gesellschaftstheorie, denn nur im »moi et non dans l'esprit des autres« ist das Glück zu finden (i7f.)· Die Vernunft erhält die Funktion, zwischen den widerstreitenden Glücksversprechen zu vermitteln. Sie unterdrückt die Leidenschaften nicht mehr, sondern verschiebt die Bedürfnisse nur auf einen späteren Zeitpunkt, um deren Befriedigung umso vollständiger und dauerhafter zu machen. Damit verliert die Vernunft ihre dominante Stellung, die sie im rationalistischen Naturrecht innehatte, und nimmt gegenüber den aufgewerteten >passions< eine untergeordnete Bedeutung ein. Buffier unterstreicht die gravierende Verschiebung dadurch, daß erst die Gefühle die >douceur du commerce< ausmachen (66f.). Damit entsteht jedoch das Problem, wie der Zusammenhalt der Gesellschaft begründet werden kann. Buffier leitet es vom Interesse des einzelnen an der Dauerhaftigkeit des Glücks ab. Ausgehend von Grotius' Prinzip der Wechselseitigkeit modifiziert er die antike Billigkeitsmaxime entsprechend der neuen Diskussion so pointiert, daß sie der >EncyclopédieSociété< wortgetreu übernimmt: J e veux être heureux; mais je vis avec les hommes qui comme moi, veulent être heureux également chacun de leur côté: cherchons le moyen de procurer le leur, ou du moins sans y jamais nuire. 10

Aus diesem für die menschlichen Gesellschaften aller Zeiten gültigen Prinzip folgt die Verurteilung der ungezügelten Durchsetzung von Partikularinteressen und die der Laster im Namen des Allgemeinwohls: »Ainsi lors qu'un particulier s'éloigne des règles de la Vertu et de la Morale, c'est, pour ainsi dire, autant de diminué sur le bonheur commun.« (27) Damit bereitet Buffier den Boden für Rousseaus strikte Unterordnung der Partikularinteressen (>volonté de tousvolonté généraleContrat Social*. Für die Ablösung der neueren Geselligkeitstheorien in Frankreich vom rationalistischen Naturrecht und seinem Ausgangspunkt der >imbecillitas< ist das Argument der Bedürfnisbefriedigung am wirkungsmächtigsten. Diese Neubegründung ist wegweisend für die Transformation einer auf korporativen Regeln beruhenden Gesellschaft in einen Zusammenschluß, der auf freiwilliger Basis und wechselseitiger Unterstützung bei der Befriedigung von eigenen materiellen Interessen erfolgt. Einleitend heißt es bei Buffier: »Les hommes ne subsistent que par le commerce qu'ils entretiénent ensemble, et par le besoin mutuel qu'ils ont les uns des autres.« (1) Gestützt auf die biologische Hypothese, daß sich äußere, materielle Bedürfnisse und inIO

Buffier, Traité de la Société civile, a.a.O., S. 15. — Art. >Société< in der Encyclopédie, a.a.O., Bd. 15, S. 252-259, S. 252. Der Encyclopédie-Artikel enthält keinen Hinweis auf Buffier, jedoch wird in ihm wortgleich wie bei Buffier dieses allgemeine Prinzip zur Basis der >toute l'économie de la société humaine< erhoben.

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nere Organe wechselseitig bedingen und sich ausdifferenzieren, definiert Diderot in der >Encyclopédie< Bedürfnis als ein unangenehmes G e f ü h l des Mangels an einem materiellen oder geistigen Objekt. U m ein Verlangen zu befriedigen, schließen sich Menschen mit ihresgleichen zusammen. Die ambivalenten Bedürfnisse »ont donné lieu à la formation de la société, à tous les avantages qui l'accompagnent, et à tous les désordres qui la troublent«. 1 1 Diderot bezieht sich mit dieser Definition und seiner Opposition von >besoin - talent< explizit auf Montesquieu, der in seinem parallel zum >De l'Esprit des Lois< verfaßten >Essai touchant les lois naturelles< (ca. 1725) ebenso wie B u f f i e r die Verhaltensethik aus dem Glücksstreben des einzelnen und aus dem >amour qu'on a pour soi-même< begründet, 1 2 die Rousseaus Unterscheidung in den positiven »amour de soi< und in den negativen »amour propre< vorbereitet. Montesquieus Intention, in seiner Definition des Naturrechts Christentum und Philosophie miteinander zu vermitteln, führt zur These, daß die physische Selbsterhaltung und die Selbstliebe des Menschen mit dem göttlichen Interesse an der >conservation< der menschlichen Gattung identisch sind. Die physische Selbsterhaltung ist verbunden mit dem mechanischen G e f ü h l der >compassion< gegenüber anderen Lebewesen, die sich zum Beispiel in der zärtlichen Fürsorge und Erziehung der Kinder durch die Eltern äußert. Unter dem beginnenden Einfluß der englischen Empfindsamkeit bezeichnet sie Montesquieu als »merveilleuse sympathie< und »Religion de l'instinctsympathie< gegenüber der Vernunft noch gering bewertet, gibt ihr Diderot eine materialistische Grundlage, und Rousseau entwickelt seinen logisch und geschichtlich der Vernunft vorausgehenden und ihr überlegenen Begriff der ursprüngli-

" Denis Diderot, Art. >Besoinbesoin< und >organe< in Diderots materialistischem Sensualismus Denis Diderot, L e R ê v e de d'Alembert; in: ders., Œuvres philosophiques, éd. de Paul Vernière, Paris 1964, p. 257—385, p. 308. 12

Montesquieu, Essai touchant les lois naturelles et la distinction du juste et de l'injuste; in: ders., Œuvres Complètes, éd. par G e o r g e s Vedel, Paris 1964, S. 1 7 5 - 1 8 1 . S. 178.

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Dieser Kerngedanke bestimmt das Handlungskonzept im fiktiven Briefroman »La Religieuse< von Diderot. Denis Diderot, L a Religieuse; in: Œuvres, E d . par André Billy, Paris (Bibliothèque de la Pléiade) 1 9 5 1 , ρ· 2 3 5 - 3 9 3 , Ρ- 34 2 ·

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chen >commisération< und >pitiéfaiblesse naturelle< des Individuums. Hinzu kommt jedoch, daß sich dessen >beaux talents< erst in der Gesellschaft wirklich entfalten. An diesem Punkt greifen bei ihm Aspekte der Verhaltensethik, seine Erfahrungen als Teilnehmer zahlreicher Salons und seine christlich geprägte Gesellschaftstheorie ineinander: »Enfin, hors de la Société, il n'a y qu'ennui et que férocité; la crainte ne m'abandonne jamais, tout me manque: et secours et consolations.« (180) Die Aufwertung des Gesetzesbegriffes, die in Rousseaus Konstitutionsakt des souveränen und vereinigten >peuple< ihren theoretischen Höhepunkt findet, wird durch Montesquieus These vorbereitet, eine Gesellschaft könne nur dann dauerhaft bestehen, wenn sie auf Gesetzen beruht. Der Unterschied zu Rousseau besteht darin, daß bei Montesquieu allein Gott die menschlichen Maximen in Gesetze verwandeln kann. Ihre (weltliche) Qualität als Gesetze mißt er daran - so sein deutlicher Seitenhieb gegen die absolute Monarchie in Frankreich - , daß sie von der >utilité publique< und nicht vom >avantage d'un particulier< ausgehen. Andererseits werden alle aus dem Naturrecht abgeleiteten rationalen Gesetze, die der Aufrechterhaltung der Menschengattung und dem Glück des Individuums dienen, zur >Loi divineContrat Social< und die Verfassungsschriften zu Korsika und Polen auf politischer Ebene, den >Emile< auf pädagogischer' 9 und die >Lettre à d'Alembert< auf kulturpolitischer Ebene. Seine Umkeh11

Für die Befriedigung der physischen Bedürfnisse reichen Mimik und Gestik aus. Erst die moralischen Bedürfnisse bringen die konventionelle, veränderliche Sprache der Menschen hervor, die ihn qualitativ v o m Tier unterscheidet. Jean Jacques Rousseau, Essai sur l'origine des langues (entstanden 1759, posthum veröffentlicht 1 7 8 1 ) , in: ders., Œuvres Complètes, a.a.O., Bd. V (1995), S. 3 7 1 - 4 2 9 . Vgl. die Einleitung von Jean Starobinski, ebda., S. C L X V - C C I V .

'* Christoph Martin Wieland, Über die von J . J . Rousseau vorgeschlagenen Versuche, den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken nebst einem Traumgespräch mit Prometheus (1770); in: Wielands Werke (Akademie-Ausgabe), Berlin 1 9 1 1 , Bd. I, 7, S. 392-416, S. 395ff. - Vgl. zur zeitgenössischen Rousseau-Rezeption K a r l S. G u t h k e , Z u r Frühgeschichte des Rousseauismus in Deutschland; in: Zeitschrift für deutsche Philologie 77 (1958), S. 384-396. 19

Vgl. zum anthropologischen Gehalt des >Emile< Robert Spaemann, Rousseau Bürger ohne Vaterland. Von der Polis zur Natur; München/Zürich 1992, K a p . 4, Rousseaus >Emilepoint de réunion< vorschlägt. Wenn sich die Staatsbürger mit den Institutionen als ihren nationalen Einrichtungen identifizieren - so die These in der Polen-Schrift - , können diese eine sittenbildende Aufgabe erfüllen und zur Transformation bisheriger Laster beitragen: Wurde die (individuelle) Eitelkeit (>vanitéamour propre< moralisch verdammt, so wird sie nun als >amour de l'ordre< in den Vaterlandsstolz umgewandelt. 21 Grundlage für die Ambivalenz der Gefühle sowie für die Dia" Rousseau, Projet de Constitution pour la Corse (E: 1763); in: ders., Œuvres Complètes, Bd. III, a.a.O., p. 899-950, p. 903/904. - Vgl. auch Rousseau, Considérations sur le Gouvernement de Pologne et sur sa R é f o r m e projettée (E: 1770/71); in: ebda., S. 9 5 1 - 1 0 4 1 . 21 »On peut donc rendre un peuple orgueilleux ou vain selon le choix des objets sur lesquels on dirige ses jugemens.« Rousseau, Corse, a.a.O., p. 938. - D i e A u f f a s sung v o n der moralischen Neutralität der G e f ü h l e , die erst durch das Objekt des Verlangens moralisch G u t oder Böse werden, geht auf Montesquieus >Les lois naturelles< zurück.

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lektik des Verhältnisses von Moral und Institution ist die antike Denkfigur, daß jedes Übel bereits sein Heilmittel in sich enthalte. So kann auch die Geselligkeit, einst Ursprung aller Übel, unter den Bedingungen eines neuen Gesellschaftsvertrages zum Heilmittel für die gesellschaftlich bedingten Laster werden, »efforpons-nous de tirer du mal même le remède qui doit guérir; par de nouvelles associations réparons le vice interne de l'association générale« 22 . Die Umkehrung der bisher kritisierten Gesellschaftlichkeit in ein Heilmittel gegen den moralischen Verfallsprozeß entwickelt Rousseau systematisch im >Contrat Sociale Dabei kann er allerdings nicht erklären, wie die durch die Gesellschaft verdorbenen Menschen plötzlich tugendfördernde Institutionen entwickeln können. Aber unter dem neuen Vorzeichen eines zum >souverain< versammelten Volkes und seiner Gesetze, die der >volonté générale< entsprechen, fordert er explizit den Ausschluß aller Menschen als >insociableprofession de foi purement civile< der idealen Republik nicht schwören wollen. 2 ' >Sociabilité< bekommt die juristische und moralische Semantik, positiver Ausdruck des sich selbst bestimmenden Volkes und der Zugehörigkeit zu ihm zu sein; sie ist ein Band, das die Mitglieder des Gemeinwesens untereinander verpflichtet - aber erst auf der Basis der wiederhergestellten Freiheit und des engagement réciproques 2 4 Wie Fetscher nachgewiesen hat, ist Rousseaus republikanisches Kleinstaat-Ideal maßgeblich von der >pitié< abhängig und unterstreicht bei ihm die Vorrangigkeit der Moral vor der Politik. Rousseau zufolge >verdünnt< sich das energetisch verstandene Mit-Leiden mit anderen mit der zunehmenden Menge von Menschen in einem Gemeinwesen und mit zunehmender Größe des Staates. Umgekehrt wirkt das gesellige Band umso stärker, je direkter der Kontakt zwischen den Menschen ist. Deshalb entsprechen der republikanische Kleinstaat wie auch die möglichst direkte Form der Demokratie den sozialen Verhaltensweisen, die in den Gefühlen der >pitié< und der >bonté naturelle< ihren Ausgangspunkt haben, am besten. Andererseits ist sich Rousseau der außenpolitischen und militärischen Schwäche kleiner Republiken bewußt. Aus diesem Grund vertritt er im Gegensatz zum rationalistischen Kosmopolitismus, aber in enger Anleh" Rousseau, Fragments politiques; in: ders., Œuvres Compi., vol. III, a.a.O., p. 4 7 1 - 5 6 0 , p. 479. *> Rousseau, D u Contract Social; ou, Principes du Droit politique; in: ders., Œuvres Complètes, Bd. III, a.a.O., p. 347-470, p. 468. - In seiner Korsika-Schrift hatte er den A k t der Konstitution des Gesellschaftsvertrages mit Eidesformel in den F r a g ments séparés< formuliert; vgl. Rousseau, Corse, a.a.O., p. 94jf· !4 Vgl. den 6. Brief seiner >Lettres écrites de la MontagneContrat Social« dienen: Rousseau, Lettres écrites de la montagne; in: ders., Œuvres Complètes, Bd. III, p. 685-897, p. 807.

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nung an Montesquieus >De l'Esprit des loisvolonté générale< lehnt Rousseau jegliche Organisationsform ab, die auf partikularen Interessen beruht und die sich nicht dem Allgemeinwohl unterordnet oder in diesem aufgeht. Sein harmonistisches Gesellschaftsideal, dem sprachlich die organologische Körpermetaphorik entspricht, führt zur schroffen Opposition gegenüber Gruppenbildungen und Sozietäten, da diese bestenfalls Ausdruck der >volonté de tousLoi Chapelier< (1791) mit ihrem Verbot jeglicher Assoziationen, Arbeiterorganisationen und Streiks und die Unterdrückung autonomer Frauenorganisationen (1793/94) haben in der Verabsolutierung des Allgemeinwohls bei Montesquieu und Rousseau ihren theoretischen Ursprung. Die dem geselligen Band der >volonté générale< und der >pitié< am besten entsprechende Sozietätsform ist das Fest, das gegenüber den bis dahin bevorzugten sozietären Idealen der Liebe oder Freundschaft eine Aufwertung durch Rousseau erfährt. Ausgehend von seinen prägenden Kindheitserlebnissen in GenP 7 durchzieht die Idee des Festes unter freiem Himmel als Ort 11

Vgl. Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie; (3., überarbeitete Auflage), Frankfurt a. M. 1988, S. 180. Dort wird Rousseaus Konzept und seine Anlehnung an Montesquieu belegt. - In der älteren Forschung hat auf die Bedeutung des Kleinstaat-Ideals hingewiesen Eduard Sieber, Die Idee des Kleinstaats bei den Denkern des 18. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland (Diss. Basel), Freiburg 1920. In der neueren Rousseau-Forschung betont Stelling-Michaud den Zusammenhang der Konföderations-Idee mit Rousseaus Rezeption und Herausgabe der Schriften des Abbé Saint-Pierre, besonders dessen Schrift über den ewigen Frieden, die zentral auf Kants Schrift wirkt. Sven Stelling-Michaud, Ecrits sur l'Abbé de Saint-Pierre; in: Rousseau, Œuvres Complètes, a.a.O., Bd. III, p. C X X CLVIII, p. C X L .

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Vgl. Vovelle, La mentalité révolutionnaire, a.a.O., p. 197. Jean Starobinski, Jean-Jacques Rousseau: La transparence et l'obstacle. Suivi de

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einer mystischen Versöhnung des entfremdeten Menschen mit der Natur und als Akt einer religiösen Gemeinschaft der Menschen untereinander zahlreiche Schriften Rousseaus (Verfassungsprojekte zu Korsika und Polen; Lettre à d'Alembert; Essai sur l'origine des langues). Wie Starobinski nachgewiesen hat, erhält Rousseaus Festkonzeption ihre systematische Entfaltung und ihren Höhepunkt im Weinfest im Briefroman >La Nouvelle Héloïsesociété très intime< von Ciarens beruhen auf einer Vertrautheit, die von jedem störenden Einfluß einer empfindsamen Leidenschaft gereinigt ist und auf dem Schein einer ideellen Gleichheit und Harmonie der sympathetischen Seelen beruht. Das Weinfest bindet Landadlige und abhängige Weinbauern gleichermaßen in der genießenden Fröhlichkeit an das Resultat der Arbeit zurück, »accumuler l'abondance et la joye autour d'eux, et faire du travail qui les enrichit une fête continuelle«. Im Schein der sozialen Gleichheit stellt es die Einheit des Menschen mit der Natur wieder her, »mais la douce égalité qui règne ici rétablit l'ordre de la nature, forme une instruction pour les uns, une consolation pour les autres et un lien d'amitié pour tous«. 28 In den >saturnales< des Weinfestes kommt es zu einer >ouverture des cœursSuffisance économique< und >unanimité morale< entsprechen sich wechselseitig. Mit der Aufhebung der Trennung von >acteur< und >spectateurvolonté générale< im Gesellschaftsvertrag, bildet dieser Mikrokosmos das Vorbild für die Gesamtgesellschaft: Dans l'ivresse de la joie publique, chacun est à la fois acteur et spectateur; on reconnaît aisément la double condition du citoyen après la conclusion du contract: il est à la fois >membre du souverain< et >membre de l'Etat«, il est celui qui veut la loi et celui qui obéit à la loi.' 9

Ohne die von Chartier zurecht kritisierte »absolue linéarité du cours de l'histoire« zu vertreten,' 0 kann die Herausbildung des neuartigen Typus sept essais sur Rousseau, Paris 1 9 7 1 , S. i iyf. - Das Folgende stützt sich auf Kapitel V von Starobinskis Studie, >La Nouvelle Héloïse° Unter dem E i n f l u ß von Foucaults Kritik an Mornets >Les Origines intellectuelles de la Révolution française« (1933) kritisiert Chartier Teleologie und Determinismus

>Nationalfest< (Düding) im Verlauf der Französischen Revolution auf Rousseaus Verknüpfung von Gesellschaftsvertrag und Festtheorie bezogen werden. In den Revolutionsfesten werden eine >unanimité nationale^ die >Seele< des in seine Rechte eingesetzten, wiedervereinigten Volkes, und die W i e dergeburt der ehemals zerrissenen Nation zelebriert. Allerdings erschöpfen sich die Revolutionsfeste weder in einer bloßen Umsetzung von Rousseaus Theorie in die Wirklichkeit, noch sind sie hauptsächlich als ideologisch gesteuerte Massenveranstaltungen anzusehen.' 1 Vielmehr verschränken sich in den unzähligen Festen in Paris und in den Provinzen unterschiedliche Festtraditionen, die vor der Revolution existierten und jetzt grundlegende Transformationen erfahren, zu einem >amalgame< (Ozouf). Unter sozialem Aspekt vermischen sich in den bäuerlich-anarchischen >wilden Festen< (Ozouf) Elemente der spontanen Revolte gegen die Grundherrschaft mit heidnischen Fruchtbarkeitsriten beim Pflanzen des symbolbeladenen >arbre de maiorigines< reduziert. Vgl. Roger Chartier, Les Origines culturelles de la Révolution française, Paris 1990, p. 13 f. — Innerhalb der deutschen Forschung hat Gumbrecht die Linearität von Aufklärung und Revolution nachdrücklich bezweifelt, vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht, Skizze einer Literaturgeschichte der Französischen Revolution; in: Jürgen von Stackelberg (Hrsg.), Europäische Aufklärung, Wiesbaden 1980, Bd. III, S. 269-528, S. 2 y ι f. '' Es ist das Verdienst von Ozouf, die Vielschichtigkeit der Revolutionsfeste und die Transformation der traditionellen Feste gegenüber einer rein ideologischen Deutung herausgearbeitet zu haben. Vgl. Mona Ozouf, La Fête révolutionnaire (1789-1799), Paris 1976, bes. S. }8f. und S. 148. - Vgl. auch Michel Vovelle, La mentalité révolutionnaire, a.a.O., S. 157-168 und Walter Haug/Rainer Warning (Hrsg.), Das Fest (Poetik und Hermeneutik, Bd. 14), München 1989, besonders die Beiträge von Karlheinz Stierle und Gerhart von Graevenitz. — Emanuel Peter, Revolution als Fest - das Fest als Revolution. Zur Rezeption der französischen Revolution in der deutschen Frühromantik und ihrer Geselligkeitstheorie; in: Eitel Timm (Hrsg.), Geist und Gesellschaft. Zur deutschen Rezeption der Französischen Revolution, München 1990, S. 107-124. 128

negative Kreisbewegung v o m vertragslosen Naturzustand zum Despotismus mit seiner Usurpation aller Macht als rnouvel Etat de Nature< gibt, kann man mit Starobinski von einer neugewonnenen politischen Einheit, einer geschichtlich-eschatologischen >Wiedergeburt< als »Ergebnis der s o zialen Kunst«< sprechen, die im neuen National-Fest zum Symbol gerinnt,' 2 da es Ausdruck der wiederbelebten >Urversammlung der Menschheit, also einer unmittelbaren Demokratie werden soll.

4. Ein >tournant décisif< in der französischen Sozietätsbewegung D e r hier nur kurz anzudeutende sozialgeschichtliche Hintergrund für Rousseaus Radikalisierung der Verhaltens- und Gesellschaftstheorien ist in einem Mentalitätswandel zu sehen, der mit der Preisverleihung der Akademie von Dijon an seinen ersten Discours (1750) offen zutage tritt 55 und den Mornet und nach ihm Vovelle als >tournant décisif: in der Geschichte Frankreichs im 18. Jahrhundert bezeichnet haben. 54 Eine Ursache für den tiefgreifenden Mentalitätswandel liegt im A u f s c h w u n g der Periodika, die in den Jahren 1 7 4 0 - 1 7 4 9 mit 90 Neugründungen einen Höhepunkt erleben und sich gleichzeitig von wissenschaftlichen Gelehrtenpublikationen zu populären Herausgeberzeitschriften wandeln; viele orientieren sich an den englischen Moralischen Wochenschriften. 5 ' Sie werden in den Cafés, L o g e n , Salons und Gesellschaften gelesen und debattiert. Diese sozietären Formen erfassen zwar nicht alle sozialen Schichten, stellen aber im Gegensatz zur absoluten Monarchie mit ihren höfisch-repräsentativen und zu den religiösen Geselligkeiten eine A r t >sociabilité démocratique< (Furet) dar und bilden mit ihren untereinander konkurrierenden Gruppenformen ein neues Netz gesell)!

J e a n Starobinski, Musik und Gesellschaftlichkeit bei Rousseau; in: Neue Hefte fiir Philosophie 29 (1989), S. 59-59, S. 47.

" V g l . K u r t Weigand, Einleitung zu J . J . Rousseau - Schriften zur Kulturkritik; H a m b u r g 1978 (3. A u f l a g e ) , S. V - L X X X V I I , S. X V und S. X V I I I . - Indirekt gestützt wird Weigands These durch Daniel Roche, daß in den Jahren 1 7 1 5 - 1 7 6 0 das Selbstbewußtsein der Provinzakademien gegenüber den Pariser Hegemonieversuchen so stark gestiegen ist, daß man v o n einem >provinzialen Partikularismus< sprechen könne. Vgl. Daniel Roche, >Sociétés de pensée< und die aufgeklärten Eliten des 18. Jahrhunderts in Frankreich; in: Hans-Ulrich Gumbrecht (Hrsg.), Sozialgeschichte der A u f k l ä r u n g in Frankreich, München/Wien 1 9 8 1 , Bd. i , S. 7 7 - 1 1 5 , S. 82. 34

Michel Vovelle, L a mentalité révolutionnaire, Paris 1 9 8 ; . - Daniel Mornet, Les Origines intellectuelles de la Révolution française, Paris 1953.

" Vgl. R o g e r Chartier, Les Origines culturelles de la Révolution française, Paris 1990, bes. Cap. V I I , Une nouvelle culture politique.

129

schaftlicher Kommunikation und Sozialisation aus.36 Die Freimaurerei, 1725 in Frankreich begründet und sich sozial hauptsächlich aus Kaufleuten, Händlern und Handwerkern rekrutierend, erlebt um 1750 einen Höhepunkt, indem sie in Städten aller Größenordnungen bis zum >bourg< vertreten ist. Sie trägt zum Wandel der christlichen Idee der >charité< in den säkularisierten, vom Abbé de Saint-Pierre geprägten Begriff der >bienfaisance< bei, von Vovelle als Ausdruck eines Wandels im Sozialverhalten gedeutet, 57 Gesellschaftstheoretiker wie Montesquieu, d'Alembert und Rousseau sind wie die philosophische und literarische Elite Frankreichs - Fontenelle, Fénelon, Marivaux, Diderot, Raynal und Melchior Grimm, um nur wenige Namen zu nennen - Stammgäste (>höte principal, >habituébesseren< Gesellschaft eine Art >école de culture< (Picard) darstellen, ein Ort literarischer und philosophischer Fehden und Theoriebildung, eine Schule des Anstands mit eigenen >kulturellen Praktiken< (Chartier), ein Publikumsersatz für Autoren im Fall von Ächtung und Verbot, eine internationale Begegnungsstätte der europäischen r é publique des gens de lettres< mit einer wechselseitigen Beeinflussung ihrer Ideen und nicht zuletzt ein Treffpunkt politischer Opposition in den letzten Jahren des Ancien Régime.' 8 Ihre Bedeutung erhalten die Salons zum einen dadurch, daß sie die durch Ständeordnung und Wertvorstellungen voneinander abgeschütteten höheren Schichten zusammenführen. In seiner Eintrittsrede in die Académie Française hebt Abbé Voisin den >mélange des hommes de Cour et des gens de lettres< für Bildung, geselligen Umgang und verständliches Sprechen her36

François Furet, Penser la Révolution française, Paris 1978, S. 68. - Eine zusammenfassende Darstellung der vielfaltigen Formen der Sozietätsbewegung im Frankreich des 18. Jahrhunderts fehlt m. W. bis heute. Wichtige Einzeluntersuchungen mit Ausnahme der im Folgenden zum Salon zitierten liegen vor mit a) Maurice Agulhon, Pénitents et Francs-Maçons de l'ancienne Provence, Paris 1968; b) Ran Halévi, Les Loges maçonniques dans la France d'Ancien Régime aux origines de la sociabilité démocratique, Paris 1984; c) Etienne François (Hrsg.), Sociabilité et société bourgeoise, a.a.O.; d) Daniel Roche, >Sociétés de penséec, a.a.O. " Vovelle, La mentalité révolutionnaire, a.a.O., S. 48f. - Z u m Abbé de Saint-Pierre vgl. Stelling-Michaud, Ecrits sur l'Abbé de Saint-Pierre, a.a.O. )8 Roger Picard, Les Salons littéraires et la Société française 1610-1789, New York 1942. - Irene Himburg-Krawehl, Marquisen, Literaten. Revolutionäre. Zeitkommunikation im französischen Salon des 18. Jahrhunderts, Osnabrück 1970. - Die Funktion des Protektionismus der Salons für die emporgekommenen >gens de lettre< bei gleichzeitiger scharfer Abgrenzung zu den hauptsächlich in den Cafés versammelten >Literaten der Gosse< zeigt plastisch am Beispiel von Suard auf Robert Darnton, Literaten im Untergrund. Lesen, Schreiben und Publizieren im vorrevolutionären Frankreich, Frankfurt a. M. 1988, S. i j f f .

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vor. Daneben spielt insbesondere der Salon der Mme de Lambert die Rolle eines >Königsmachersjour fixe< von Mme de Lambert vorentschieden worden, so daß Chartier zusammenfassend für die neuere Forschung schreibt: Participer à la sociabilité des salons est donc une nécessité pour qui veut faire carrière. C'est là que peuvent s'obtenir protections et pensions, emplois et gratifications [. . . ] . "

Die Ablösung der normgebenden, höfisch gebundenen Akademien durch die neuen Ideale und kulturellen Werte der Salons erreicht 1754 mit der Wahl d'Alemberts einen Höhepunkt, weil mit ihr die Eroberung der Akademie durch die >philosophes< offenbar wird. Parallel dazu vollzieht sich ein innerer Wandel der Salons von den mondänen >Grands Nuits de Sceaux< (1714) zu Salons mit nützlicher philosophischer und literarischer Gelehrsamkeit und einer konversationellen Streitkultur. Symptomatisch dafür ist der philosophische Salon des Baron d'Holbach um 1760. Seinen exemplarischen Charakter bezeichnen Kors und Roche mit dem Begriff >coteriecomplot< im politischen Sinn noch als völlige Ubereinstimmung des >encyclopédisme< mit dem Materialismus d'Holbachs gedeutet werden. Aber das, was seinen über zwanzig Jahre bestehenden Salon aus der bisherigen Geschichte der französischen Salons heraushebt und zu einem Wendepunkt werden läßt, ist ein neuartiger Diskussions- und Lebensstil, der sich in der Trennung zwischen dem größeren Salon und dem >jour de synagoge< des engeren Zirkels niederschlägt, der zu einem >vrai laboratoire de l'Encyclopédie< (Picard) wird und die intellektuelle Kühnheit einer neuen Generation verkörpert. Ermutigt durch den Aufschwung der Sozietätsbewegung, können die Herausgeber d'Alembert und Diderot die >Encyclopédie< (1751-1780) als wirkliches >Ouvrage d'une société de Gens de Lettres< feiern. Darnton sieht in ihr einen Wandel in der " C h a r t i e r , Les Origines culturelles, a.a.O., p. 1 9 1 . - Den Protektionismus der Salonnièren für die Wahl zur Académie (und damit zur Zugehörigkeit zur >mondeDiscours préliminaire< ihren vorläufigen theoretischen Höhepunkt. Doch sind die Salons der 70er Jahre nicht nur ein Ort für die Rezeption ausländischer Ideen und für die Kreierung und Verbreitung neuer literarisch-philosophischer Strömungen, wie sich das an der Gemeinschaftslektüre von Rousseaus >Nouvelle Héloïse< im Salon der Marschallin von Luxembourg, der den Erfolg der französischen Empfindsamkeitsbewegung markiert, zeigt. Häufig wird der Salon zum geistigen Geburtsort von literarischen Werken wie im Fall von Diderots >La Religieuses Die Strategien der >conversation< und >causerie< prägen in seinem dreiteiligen >Le Rêve de d'Alembertdigressions< bei den Themen mit den zunächst naiven, dann pikanten philosophischen Fragen der >Haushälterin Mlle de l'Espinasse spiegeln in diesem Werk Diderots etwas von der Atmosphäre des philosophischen SalonsDiskurses. Gleichzeitig geht Diderot über die Absicht einer bloßen Popularisierung philosophischer Ideen wie in Fontenelles >Entretiens sur la pluralité des mondes< weit hinaus. Sein rhapsodischer Dialogstil drückt seine Ablehnung einer systematischen und mathematisch-mechanistischen Philosophie ebenso aus wie seine naturwissenschaftliche Kritik an einer deterministischen Präformationslehre. Der Sprunghaftigkeit in der dynamischen Entwicklung des organischen Lebens entspricht die plötzliche Bewegung im Denken und das traumhafte Verknüpfen von Phänomenen, deren innerer Zusammenhang sich im strengen Sinn noch nicht empirisch beweisen läßt. Erst das >Ineinandergreifen von Traum und Ratio< (Galle) hebt die jeweiligen Restriktionen in der Erkenntnis auf und ermöglicht eine ganzheitliche, vitalistische Ansicht von der Natur, mit der Diderot noch zentrale Denkansätze von Goethe und Friedrich Schlegel prägt. Diese zentrale Bedeutung der Salons für den >tournant décisif; zeigt sich auch an den seit 1737 regelmäßig stattfindenden Kunstsalons mit ihren Katalogen, die eine öffentliche Kritik, Geschmacks- und Urteilsbildung in einem sozial ausgeweiteten Publikum fördern und mit ihren konträren Urteilen nicht nur die Autorität der Akademien, sondern die des Absolutismus 4

' Denis Diderot, Le Rêve de d'Alembert; in: ders., Œuvres philosophiques, éd. de Paul Vernière, Paris 1964, p. 257-38;. - Vgl. zur Entwicklung des Dialogstils bei Diderot Roland Galle: Diderot - oder die Dialogisierung der Aufklärung; in: Jürgen von Stackelberg (Hrsg.), Europäische Aufklärung III, Wiesbaden 1980 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 15), S. 209-247.

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infragestellen. Denn mit der von Schlobach nachgewiesenen zeitgenössischen A u f f a s s u n g v o m Parallelismus in der geistigen und politischen Entwicklung 4 2 konnte die >kulturelle< Revolution 4 3 , die in und mittels der Salonkultur große Teile der gehobenen Gesellschaft, selbst Teile des niederen Klerus erfaßt, den Legitimations- und Handlungsspielraum des Ancien Regime entscheidend einschränken. Die Salons erhalten im 18. Jahrhundert ihre spezifische Sonderrolle in Frankreich gerade dadurch, daß sie zu G e geninstitutionen eines zentralistischen Hofes mitsamt seiner Kulturpolitik werden.

5. Das >sentiment de l'humanité< als neue Grundlage der Geselligkeit bei Pluquet 1767 veröffentlicht A b b é Pluquet ( 1 7 1 6 - 1 7 9 0 ) , Lehrer für Moralphilosophie am Collège de France, seine Schrift >De la Sociabilités D e r ehemalige H o f meister und Schützling des A b b é von Choiseul, dem späteren Erzbischof von Albi und Cambrai, nimmt eine eigenartige Zwischenstellung in der zeitgenössischen Philosophie ein. So lehnt er einerseits eine Mitarbeit an der Encyclopédie ebenso ab wie eine Tätigkeit als regierungsamtlicher Zensor für den Bereich der Schönen Künste. Andererseits ist er mit Fontenelle, Montesquieu und Helvétius befreundet. 44 Seiner Schrift >De la Sociabilité< kommt in mehrfacher Hinsicht eine Brückenfunktion in der Geselligkeitsdiskussion zu. Erstens markiert das zweibändige Werk einen theoretischen Höhepunkt in dieser Debatte und benutzt den Begriff für ein gesellschaftspolitisches Programm, allerdings ohne in den philosophischen Grundlagen konsistent zu sein. Zweitens reflektiert der A b b é den anhaltenden innerfranzösischen Streit über Rousseaus Entdeckung der immanenten Widersprüchlichkeit in der Entwicklung der Menschheit. Drittens strahlt dieses »Sous Louis X I V , la floraison culturelle de l'âge classique était considérée naturellement comme allant de pair avec l'apogée politique du règne. [. . .] Constater une décadence, ne serait-ce dans le domaine limité de la littérature, n'était-ce pas déjà une certaine mise en cause indirecte de l'universalité de la monarchie française?« Schlobach, Pessimisme, a.a.O., p. 1979. 43

Die durch die Salons initierte dévolution des moeurs, du goût, des esprits< beschreibt Picard mehrfach und zitiert Duelos, der die Revolution kultureller Werte in ihrer Bedeutung für das Gleichheitsideal mit der politischen Revolution in England gleichsetzt: »[. . .] les mœurs font à Paris ce que l'esprit de gouvernement fait à Londres, elles confondent et égalisent dans la société les rangs qui sont distingués et subordonnés dans l'Etat«. Zitiert nach Picard, a.a.O., p. 148.

44

Z u r Bibliographie des A b b é Pluquet und seiner geistesgeschichtlichen Stellung vgl. Mauzi, L ' I d é e du Bonheur, a.a.O., bes. S. 255 und den Eintrag in Berthelot u. a. (Hrsg.), L a G r a n d e Encyclopédie, Paris 1 8 8 5 - 1 9 0 2 , vol. 26, p. 1 1 4 1 .

ι??

Werk auf die deutsche Diskussion über Geselligkeit bei Iselin, Mendelssohn, Wieland und Herder aus. Kurz vor Pluquets Werk begründet der Artikel >Sociabilité< in der >Encyclopédie< diese gleichrangig aus dem Willen Gottes und aus dem Gefühl der Menschen und macht sie zur Basis aller Gesellschaften: »Du principe de la sociabilité découlent toutes les lois de la société.«4' Pluquet untermauert diese Ansicht durch Anleihen bei der sensualistischen Theorie Humes, der vertritt, daß die Neigungen ihren Ursprung in der Sensibilität des menschlichen Körpers haben und diese der Ausgangspunkt für seinen Kontakt mit der Umwelt sind. Da sie ihre Eindrücke in der Seele hinterlassen, entwickelt der Mensch ein Mitleid, das ihn an der Gewalt gegenüber anderen hindert: »Ainsi la sensibilité produit dans l'homme une répugnance naturelle à faire du mal.«46 Der natürliche Hang zum Wohlwollen gegenüber den Mitmenschen steht im Rahmen einer durchgängigen Irenik bei Pluquet, der Hobbes' Gesellschaftstheorie als absurd bezeichnet, weil die Gewalt allein das Naturgesetz der Raubtiere ist, während die Menschen durch »l'amour et l'attachement réciproque« verbunden sind (23). Pluquet will damit nachweisen, daß die Natur selbst die Menschen zu Frieden und Glück führt »qu'elle leur destine par les principes de Sociabilité«, während die Vernachlässigung der Gesellschaftlichkeit zu Verwirrung, Disharmonie und gefährlichen Leidenschaften wie zu Haß gegen die Mitmenschen, Verbrechen und Kriegen führt (Vorwort, xv). Daraus folgert er, daß die Sensibilität zu einem gesellschaftspolitischen Instrument der Schwachen gegen die Mächtigen wird, »par elle la Nature soumet l'homme qui veut abuser de ses forces« (80). Die Sensibilität bringt schließlich das auf der natürlichen Gleichheit beruhende >sentiment de l'humanité< hervor, das die Furcht des Menschen im Naturzustand in das allgemeine Wohlwollen und in die Nächstenliebe transformiert und den zufälligen Gesellschaftsformen der Menschen Dauerhaftigkeit verleiht. Systematisch entwickelt Pluquet die Bedürfnistheorie von Montesquieu, Buffier und Diderot weiter, indem er zugleich den anthropologischen Dualismus< Rousseaus (Fetscher) benutzt, um zwischen den instinktiven Bedürfnissen (Hunger, Fortpflanzung, Neugier) und den vom Denken geleiteten Bedürfnissen zu unterscheiden. Auch wenn bereits der Hunger und die Furcht vor wilden Tieren die Menschen zeitlich begrenzt in >ligues< und >troupes< zusammenführt, wird dieser >état de crainte et de besoin< erst durch die Vernunft zu einem »état de calme où le sentiment de l'humanité se développe« (109). Und unter ihrer Ägide wird das vorreflexive >sentiment de 41 46

Art. >Sociabilitéassociationassocié< entsprechend seinen K r ä f t e n und Fähigkeiten zum allgemeinen Glück beitragen soll. »Cette réunion est ce que l'on nomme société. L a société a donc essentiellement le besoin pour principe, le bonheur commun pour objet, et la subordination générale pour moyen.« (2) Jedoch wird eine Gesellschaft erst beständig, wenn sie wie in Rousseaus »Contrat Social< auf dem gleichen Interesse ihrer Mitglieder beruht. Physische Schwäche und Intelligenz ermöglichen den Menschen, »à former une société durable, fondée sur un intérêt égal, sur un attachement réciproque, qui rend à chaque homme la vie d'un autre homme agréable et précieuse« (21). Neben diesen modernen Elementen der Gesellschaftstheorie, die auf die zweckorientierte

Vereinsbewegung

des

19. Jahrhunderts

vorausweisen,

bringt Pluquet ein starkes religiöses Element in die menschlichen Zusammenschlüsse hinein, die in der sakralen Überhöhung der revolutionären Geselligkeitsformen von 1 7 8 9 - 1 7 9 9 einen Widerhall finden. S o trägt das Gemeinschaftsmahl aller Völker zu allen Zeiten Pluquet zufolge eucharistische Z ü g e und bildet das Modell für eine egalitäre Urgemeinde oder Familie, in der »toutes les distinctions d'institutions et de préjugés« verschwinden und das G e f ü h l der Brüderlichkeit Ausdruck der >égalité naturelle< ist (29). A u c h in der Liebe zwischen Eltern und Kindern zeigt sich ein »sentiment religieux, une espece de culte< (39). Ihm zufolge entsteht die Religion aus der Reflexion des Menschen über sich selbst, verstärkt die Geselligkeit und verwandelt ihre Prinzipien in heilige Gesetze ( m ) , eine deutliche Adaptation der Unterscheidung Montesquieus zwischen menschlichen Maximen und göttlichen Gesetzen, die Pluquet weitertreibt zur Idee des Höchsten Wesens, »qui a formé le monde, changé en loix tous les sentiments d'humanité et de bienfaisance qu'il reçoit de la nature« (270). D e r wesentliche Unterschied zwischen Rousseau und Pluquet besteht darin, daß Rousseau trotz aller (antiken) Ideale die Gesellschaftsformen wie Montesquieu von den spezifischen Bedingungen eines jeden Volkes abhängig macht und jede normative Allgemeingültigkeit (und damit auch den Kosmopolitismus) ablehnt, während Pluquet wie die >Encyclopédie< auf1

35

grund der anthropologischen Annahme einer instinktiven Soziabilität zu normativen Prinzipien der Gesellschaftsform kommt, die auf der gesamten Erde gelten sollen. Zwischen den beiden Polen Universalität einerseits und nationaler und historischer Eigentümlichkeit andererseits vollzieht sich die deutsche Diskussion über Geselligkeit bis zum Ende des Jahrhunderts.

6. Dynamisierung der Geschichtsauffassung: Geselligkeit als proaeßhafte Selbstorganisation der Gesellschaft bei Iselin 1783 lobt der künftige Schwager Goethes, Johann Georg Schlosser, in seiner >Rede auf Isaak Iselin< den Schweizer Philosophen in den Termini der Empfindsamkeit als >heiligen, ersten Stifter< der 1762 entstandenen patriotischen >Helvetischen Gesellschaft und als Autor von Beiträgen zur Erziehung, zum Staatshaushalt und zur Geschichtsphilosophie. 47 Bereits 1767 hatte Mendelssohn Iselins Schrift >Uber die Geschichte der Menschheit« als »gründlichste Widerlegung der Rousseauschen Meinungen« gefeiert und dazu beigetragen, daß dieses Buch innerhalb von 27 Jahren sieben Auflagen erlebt und zur tonangebenden geschichtsphilosophischen Abhandlung« (Im Hof) 4 ' wird. Dies gilt für die Göttinger Universität, an der Heyne lehrt und die Brüder Schlegel studieren, ebenso wie für die individuellen Rezeptionen durch Wieland, Novalis und Herder. Letzterer erhebt Iselins Werk im J o u r nal meiner Reise im Jahre 1769« zum Modell, um die Psychologie zur Grundlage aller Wissenschaften zu machen und um seinen Plan zu einem >Buch über die menschliche Seele< zu entwickeln. 1772 bezeichnet er die von Zeitgenossen als erste Geschichtsphilosophie angesehene Schrift bereits als >klassischGeschichtsphilosophie< (U. Dierse/G. Scholtz); in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörter136

Die unmittelbare Wirkung des Werks beruht sicherlich auch auf Iselins Mitgliedschaft in der >Helvetischen Gesellschaft*, einer Sozietät, die Im H o f zufolge entscheidend zum neuen Schweizer Nationalbewußtsein um 1750 beiträgt. Die breite Beteiligung von Angehörigen der Mittel- und Oberschicht aus allen Kantonen und von Mitgliedern beider Konfessionen macht diese Sozietät zu einer Art inoffizieller Nationalversammlung*, die neben Montesquieus L o b der Schweiz als Urbild der Freiheit in den >Lettres Persannes< wesentlich dazu beigetragen hat, daß die >Schweizer Republik< für die kontinentale Intelligenz über die Französische Revolution hinaus zum Modell politischer Freiheit werden konnte.' 0 So fließen in die zweibändige Abhandlung nicht nur seine Erfahrungen als Teilnehmer verschiedener literarischer Gruppen

ein. Vielmehr

befinden sich die >Geschichte

der

Menschheit* und die >Helvetische Gesellschaft* in einer engen Wechselbeziehung, deren Gemeinsamkeit in einer neuartigen, handlungsorientierten und reformatorischen Gesellschafts- und Geschichtsauffassung des >Bürgerstandes< zu sehen ist, im »Eyfer

Gutes

erhabene Bestreben nach der wahren

Vollkommenheit«^.

Im Zentrum

thun, und nützlich %u werden; das

seiner >geschichtsphilosophischen

Neuorientierung*

(Im

H o f ) stehen eine neue Semantik der Geselligkeit und eine historische Syntax der Geselligkeitsformen, die ihren Ausgangspunkt in Iselins kategorialer Unterscheidung des Begriffs >Geselligkeit< in den anthropologischen Trieb des Menschen zu >geselligen Empfindungen* einerseits und in den Gesellschaften als den je verschiedenen geschichtlichen Realisierungen und Resultaten dieses Triebs andererseits hat. Schwach und dunkel würde dieser Trieb wol eine Anzahl Menschen, wie eine Heerde zusammendrängen; er würde aber unter ihnen noch keine wahre Gesellschaft erzeugen; welche da statt hat, w o gemeinsame Absichten eine Vereinigung beseelen. (Bd. ι , S. 156)

Stützt sich Iselin mit dem Begriff der >geselligen Empfindungen*, der Mitfreude und dem Mitleiden als Ausdruck der sympathetischen Seele* im Menschen auf Pluquets >sentiment de l'humanité* und auf die englische >moral-sense*-Theorie, so entwickelt er diese Vorstellungen weiter zu einer

,0

buch der Philosophie, Darmstadt 1974, Bd. 3, Sp. 4 1 6 - 4 3 9 , Sp. 4 1 8 f f . - Art. »Geschichte* (Horst Günther/Reinhart Koselleck); in: Brunner u. a. (Hrsg.), G e schichtliche G r u n d b e g r i f f e , a.a.O., Bd. 2, S. 5 9 3 - 7 1 7 , bes. S. 647ff. Ulrich Im H o f , D a s gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der A u f k l ä r u n g , München 1982, S. 163. - Z u r Idealisierung der »Schweizer Republik* im 18. Jahrhundert vgl. Harro Zimmermann, F. G . Klopstock als historischer Dichter und Denker, Heidelberg 1987, bes. S. io2f.

" Isaak Iselin, Uber die Geschichte der Menschheit (E: 1764), Basel 1779 (4., verbesserte A u f l a g e ) , Bd. 2, S. 474. Im Folgenden werden Band- und Seitenzahlen im Text angegeben und beziehen sich auf diese Quellenangabe.

137

für Deutschland neuartigen Sozietätstheorie, die die Gruppenbildung als Resultat von Willensakten freier Individuen auf der Grundlage gemeinsamer Bedürfnisse und Interessen ansieht, die Gesellschaft als zweckrationalen Zusammenschluß (Max Weber) versteht und damit die begriffliche Unterscheidung zwischen absichtsloser Geselligkeit und zweckgebundener Vereinigung ab 1800 vorbereitet. Methodisch verbindet Iselin Elemente der traditionellen Affektenlehre mit Aspekten der exakten Naturwissenschaften und beeinflußt mit der Verknüpfung von beobachtender, empiristischer und historischer Vorgehensweise nachhaltig Geschichtswissenschaft, Kriminalistik und Poetik. 52 Sein Werk etabliert die Psychologie als Grundlagenwissenschaft für Philosophie und Politik, die gemeinsam an der Glückseligkeit des Menschen arbeiten. Die Entwicklung des Individuums, die eines Volkes und die der gesamten Menschheit werden durch psychische Kategorien charakterisiert und mit der innerhalb der >Querelle< entwickelten Metapher der Lebenszeitalter als historische, teleologische Abfolge der Menschheitsgeschichte verstanden: Die Sinnlichkeit entspricht dem Kind und dem Kindheitsalter der Menschheit, die Einbildung der Jugend und die Vernunft dem Mann ( X X ) . Je nach Vorherrschaft einer der drei psychischen Merkmale befindet sich ein Volk im >Stande der EinfaltBarbarei< oder der Zivilisation (Bd. 1, 139f.)• Unverkennbar ist, daß Iselin an der teleologischen Perfektibilität der Aufklärung festhält, indem sein dreistufiges Modell von einer progressiven Vervollkommnung der Menschheit ausgeht. Seine widersprüchliche Rousseau-Rezeption, sicherlich auch unter dem Eindruck seiner persönlichen Begegnung mit ihm 1751 in Paris, zeigt sich einerseits an der Ablehnung rousseauistischer Axiome des »homme solitaireStände< von Völkern kommen (Bd. i, 382 und Bd. 2, 4of.). Die unzähligen Reiseberichte über Gesellschaftsformen, Sitten und Bräuche >pri'' Auch wenn Erhart die umfassende Bedeutung von Iselins Geschichtswerk verkennt, ist es sein Verdienst, unter der Überschrift »Poetik der >Geheimen Geschichten auf die poetischen Auswirkungen der modernen Psychologie insbesondere bei Wieland und Schiller hingewiesen zu haben, vgl. Walter Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands >AgathonWohlfahrtPolicierung< durch Tugend aus. E r sieht in der Synthese von Monarchie und Republik die beste Staatsform und verstärkt damit eine Linie, die sich in der deutschen Staatstheorie über Novalis bis zum preußischen Staatsminister Hertzberg durchzieht: Jeder wohldenkende Fürst sollte sich also gute Republicaner zu Unterthanen, jede Republic sollte ihren Vorstehern den Geist eines guten Fürsten wünschen. Also wiederum, wenn Weisheit und Güte die Menschen beherrschen, so ist die Form ziemlich gleichgiltig, unter deren es geschieht. (Bd. 2, 387)

Die These von der Relativität aller Regierungsformen und der Abbruch seiner historischen Analyse ist geknüpft an das zeitgenössische Krisenbewußtsein, »daß Europa sich nun in einer weit größeren Crisis befinde, als es jemals seit dem Anfange seiner Policierung sich befunden hat« (Bd. 2, 467). Es indiziert die Brüchigkeit des Fortschrittsoptimismus seit Rousseau und enthält deutliche Anspielungen auf den Siebenjährigen Krieg und seine Folgen, indem er in den Kriegen der Gegenwart >Uberreste der Barbarei< entdeckt, da ihnen das Recht des Stärkeren zugrunde liegt und sie wahre Humanität und Geselligkeit verhindern. Wissenschaften und Künste und deren institutionelle Formen stellen ein Gegengewicht zu dieser Entwicklung dar: Akademien, gelehrte Gesellschaften und (englische) Moralische Wochenschriften haben schon viel zur Verbreitung des guten Geschmacks, des g e selligen Umgangs< und zur Milderung der Sitten beigetragen. Um 1700 sei »zwischen den bessern Geistern aller Nationen und aller Stände« eine k o s t bare Brüderschaft entstanden, die einen Aufschwung der Landwirtschaft, der ökonomischen Wissenschaften und des Patriotismus hervorgerufen habe. Iselin, der neben seinem Engagement fur die 1760 in Basel gegründete >Helvetische Gesellschaft bereits 1756 einen >Entwurf einer Gesellschaft der Wissenschaften und Künste< verfaßte,' 6 benennt in dieser Reflexion über die bisherigen Fortschritte der Sozietätsbewegung die entscheidenden Schlag" Iselin, Geschichte der Menschheit, a.a.O., Bd. 2, S. 293. - Der Novalis unterstellte Katholizismus in seiner >EuropacathoIú< ab und ist keinesfalls mit der zu Novalis' Zeiten existierenden katholischen Institution gleichzusetzen. Auch Novalis' ambivalente Auffassung von der kulturfördernden Rolle der Kreuzzüge im Ofterdingen-Roman könnte sich auf Iselin stützen. Letzterem zufolge bringen sie die Ritter »mit mannigfaltigen lieblichen und rührenden Gegenständen« anderer Völker in Kontakt und fuhren zur Troubador-Dichtung (ebda., Bd. 2, 323f.), auf die auch Novalis anspielt. '' Im Hof, Spätaufklärung, a.a.O., S. 59.

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worte der patriotischen Gesellschaften der siebziger Jahre: Patriotismus und ökonomische Reformen, besonders in der Landwirtschaft. Seine kritische Bestandsaufnahme der Gegenwart mündet in die H o f f n u n g auf die neuartigen Sozietäten, deren Ziele sich notfalls auch ohne Unterstützung der Fürsten durchsetzen lassen. Mit dem >selbstbewußten Individuum< (Dick) als Ausgangspunkt einer harmonischen gesellschaftlichen Ordnung können Sozietätsbewegung und Geschichtsphilosophie bei Iselin einen engen K o n n e x eingehen. Vergleicht man sein theoretisches Werk mit den Zielen der >Helvetischen Gesellschaft^ 5 7 so enthalten beide eine Ermutigungsstrategie für eine >Selbstorganisation< des Bürgertums (van Dülmen), unabhängig von fürstlicher Protektion. Sie knüpfen zwar an die frühe Tradition des Hamburger >Patrioten< an, sind aber qualitativ neu in ihrem Selbstbewußtsein und drücken einen tiefen Mentalitätswandel im gehobenen Bürgertum seit Beginn der 70er J a h re über die Schweiz hinaus aus. Werden Iselins Positionen 1755 v o m Großen Rat der Stadt Bern noch als >englisch< verlacht und wird 1765 ein staatliches Darlehen für ein ökonomisches Privatunternehmen mit der Begründung abgelehnt, die >Schinznacher< (d. h. die >HelvetischeHelvetische Gesellschaft^ sie sei keine praktische R e f o r m b e w e g u n g (S. 74), kann in dieser Pauschalität nicht zugestimmt werden, vgl. dazu Im H o f , Das gesellige Jahrhundert, S. 142. " Dietrich Naumann, Politik und Moral. Studien zur Utopie der deutschen A u f klärung, Heidelberg 1977, S. 318F. 60 Vgl. Art. >Republik< (Wolfgang Mager); in: Brunner u. a. (Hrsg.), Geschichtliche G r u n d b e g r i f f e , Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 5 4 9 - 6 5 1 , S. 584.

H3

und durch Kriege, kann nicht durch den trinkenden und zechenden Adel mit seiner Mißachtung der städtischen >urbanitas< überwunden werden, sondern allein durch den >Bürgerstand< mit seiner sittlich-ästhetischen Geselligkeit. Während bisher der >Gelehrtenstand< mit dem Geburtsadel lediglich um seine intellektuelle Anerkennung gerungen hatte, bietet Iselin dem zeitgenössischen Bürgertum erstmals eine historische Legitimation für autonomes Handeln (Kampf zur Uberwindung von Barbarei und Krieg) an. Historische Perspektive und Ablösung der >gelehrten< Vernunft durch das vorrationale Gefühl erweitern sozial und geschichtlich die Träger der patriotisch-gemeinnützigen Gesellschaften. Darin unterscheidet sich Iselin sowohl von den sozialen und intellektuellen Beschränkungen der >GelehrtenrepublikNeuem Deutschen Museum< die traditionelle Funktion der Trauerrede in eine >Ermahnungsrede< für die nachfolgenden Regenten um, in der das Volk diese daran erinnert, was sie zu tun haben, wenn sie zukünftig als >gute Regenten< angesehen werden wollen. 62 Vgl. Ulrich Dzwonek/Claus Ritterhoff/Harro Zimmermann, bürgerliche Oppositionsliteratur zwischen Revolution und Reformismus< - F. G. Klopstocks d e u t sche Gelehrtenrepublik< und Bardendichtung als Dokumente der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; in: Lutz Bernd (Hrsg.), Deutsches Bürgertum und literarische Intelligenz 1750-1800 (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaft 5), Stuttgart 1974, S. 277-328, S. 286. Rosemarie Hurlebusch/Karl Ludwig Schneider, Die Gelehrten und die Großen. Klopstocks Wiener PlanJournal meiner Reise im Jahre 1 7 6 ^ und in seiner Streitschrift >Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit

(1774) seine Kritik an der teleologischen Perfektibilität als

Paradigma eines aufklärerischen Geschichtsbildes. Sein Postulat nach einer >Historie der Völker< radikalisiert das selbstbewußte Auftreten des Bürgerstandes auf der Bühne der Historiographie: Man sieht, daß hier nichts von unsrer Geschichte bleibt: keine Reihe von K ö n i g e n , Schlachten, Kriegen, Gesetzen, oder elenden Charakteren; alles nur aufs Ganze der Menschheit, und ihrer Zustände, Völkerwanderungen und Einrichtungen, Religionen, Gesetze und Denkarten, Sprachen und K ü n s t e - lauter Hauptbegriffe. 6 '

Diese Perspektive erfordert eine neue philosophische Grundlage, die Herder und Iselin aus der Individualpsychologie gewinnen. Innerhalb einer anthropologisch verstandenen Laufbahn des Lebens mit geometrischer Progression, die die exzentrische Laufbahn in Hölderlins >Hyperion< präfiguriert, erhält jeder Lebensabschnitt eigene psychische und erkenntnistheoretische Merkmale, deren Nichtbeachtung oder Unterdrückung zu lebenslangen Schädigungen des Individuums führt. Geistige und seelische Verkümmerung und vorzeitige Alterung wären die Folgen, die Herder im >Journal< für das Individuum prophezeit. In >Auch eine Philosophie< überträgt er mithilfe der Metapher der Lebenszeitalter die Entwicklungsstufen des Individuums auf die Geschichte der Menschheit und parallelisiert wie Iselin die einzelnen Entwicklungsstufen mit historisch sich wandelnden >RegimentsformenRegimentsform< die seit Rousseau vorherrschende semantische Verschiebung der Geselligkeit zur Gesellschafts- und Staatstheorie. Bei Herder nimmt sie die spezifische Form des Verhältnisses von Republik und Jugend an, die für den Sturm-und-Drang und die Geselligkeitsdiskussion bis 1800 wegweisend wird. Gestützt auf das entwicklungspsychologische Argument von der prägenden Kraft der ersten sinnlichen Erfahrungen für das gesamte Leben, erhält die Jugend unter den vier Lebensaltern (Kindheit, Jugend, Mannesalter, Greisentum) einen privilegierten Platz und wird schließlich zum normierenden Ausgangspunkt seiner Gegenwartskritik. Zunächst führt die enorme Aufwertung der Jugend zur Umwertung der bis dato gültigen Lebensaltershierarchie. Bereits seit Anfang des 18. Jahrhunderts waren die Galanterie-Bewegung, die Hamburgische Patriotische Gesellschaft und einige Autorenvereinigungen bei den Moralischen Wochenschriften in Deutschland wesentlich Gruppenbildungen von Jugendlichen. Jedoch war um diese Zeit das christlich-tugendhafte Weltbild noch so dominant, daß sich - wie Martens nachweist - die zumeist jugendlichen Verfasser der Wochenschriften als lebenserfahrene, weise Greise darstellen mußten. Die jugendliche Leidenschaft, so wird an den Protagonisten Zendorio in Johann Beers >Winter-Nächten< und an Albertus Julius und seinem Enkel Eberhard in Schnabels >Insel Felsenburg< demonstriert, bedarf der Mentor-Funktion der Vernunft, wie sie Fénelon wirkungsmächtig im >Telemach< gestaltet hat. In der rationalistischen Geschichtsphilosophie ist Jugend ein gefährliches und gefährdetes Durchgangsstadium auf dem Weg zu männlicher Reife, Mäßigung, Disziplin, Lebensklugheit und Weisheit, Respekt vor weltlicher und göttlicher Ordnung. Noch in Iselins dreiteiliger >Geschichte der Menschheit wird der Stand der Wildheit als Fall in die > feurigen Unordnungen der Jugend< bezeichnet, weil dort noch nicht die vernünftige Erfahrung des >hohen Alters< vorherrscht. Mit der Aufdeckung der inneren Widersprüchlichkeit geschichtlicher Prozesse und der Eigenwertigkeit jeder geschichtlichen Epoche, mit der Aufwertung sinnlicher, empirischer Erfahrungen gegenüber den abstrakten '"· Vgl. Jürgen Brummack, Einfuhrung zu >Auch eine Philosophie< in: Johann Gottfried Herder, Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt a. M. ( B D K ) 1994, S. 816-855. _ Ulrich Gaier, Herders >Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts und GoetheLebensreformbewegungen< in G a n g gesetzt hat, indem J u g e n d zum S y m b o l für Modernität und zu einem zentralen gesellschaftlichen Leitbild wird. Dieser E n t w i c k l u n g ebnet Rousseau im 2. Discours den Weg, indem sein »homme natureh mit E i g e n s c h a f t e n wie G e f ü h l , natürlicher M o ral und Leidenschaft zum A u s g a n g s p u n k t einer säkularisierten Menschheitsgeschichte wird, durch die zugleich J u g e n d und Frauen (bisher Inkarnationen aller fleischlichen Laster) v o m theologischen Vorbehalt des christlichen E r b s ü n d e - D o g m a s befreit werden. D e n f r a g w ü r d i g e n Fortschritten der Z i vilisation setzt er das Zeitalter der >sauvages< als >jeunesse du monde< entgegen. 6 7 D i e zivilisationskritische Perspektive verstärkt die neuen Ideale Natürlichkeit, Einfachheit, G e n i e , Spontaneität der G e f ü h l e , K r a f t und Naivität, die im Bild der J u g e n d fokussiert werden und v o n den selbstbewußten F i g u r e n in den S t u r m - u n d - D r a n g - D r a m e n und v o n jugendlichen R o m a n protagonisten wie Werther (Goethe), A r d i n g h e l l o (Heinse), Florentin ( D o rothea Schlegel), Wilhelm Meister (Goethe), L o v e l l und Sternbald (Tieck) mit unterschiedlichen A u s p r ä g u n g e n , aber vehement v o r g e t r a g e n werden. Bereits in der Zeitschrift >Der Jüngling< ( 1 7 4 7 - 4 8 ) der >Bremer Beiträgen Cramer, G i s e k e und E b e r t wird die Jugendlichkeit zum P r o g r a m m erhoben, die M a s k e des weltgereisten und lebensgewandten Mentors abgelegt, so daß Beck in diesem Verfasserkollektiv die >erste Jugendgeneration< mit einer spezifischen G r u p p e n k u l t u r entdeckt. 6 8 Z u dieser U m w ä l z u n g der Lebensaltershierarchie trägt Herder im >Journal< bei, indem die J u g e n d E i g e n s c h a f t e n wie N e u g i e r , Phantasie, Liebe und Enthusiasmus für Freundschaft verkörpert, sie übertrifft den M a n n und den

" ' A u f die neue Jugendkultur um 1800 bei Stark, Fries, Arndt und Görres weist Hardtwig hin, ohne auf deren theoretische Ursprünge und sozietäre Modelle näher einzugehen. Vgl. Wolfgang Hardtwig, Studentische Mentalität - Politische Jugendbewegung - Nationalismus. Die Anfänge der deutschen Burschenschaft; in: Historische Zeitschrift 242 (1986), S. 581-628, bes. (¡ozi. - Vgl. insgesamt zur neuen Jugendforschung Michael Mitterauer, Sozialgeschichte der Jugend, Frankfurt a. M. 1986, und Thomas Koebner/Rolf-Peter Janz/Frank Trommler (Hrsg.), >Mit uns zieht die neue Zeit< - Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 198;. 61 Rousseau, 2. Discours, a.a.O., p. 171. 68 Angelika Beck, >Der Bund ist ewigBürgern der Republik< werden. Den gesellschaftsreformatorischen Impetus betont Herder unter Bezug auf die Vorbilder Lykurg und Solon durch sein Ideal einer >Republik für die JugendEyfer für das Menschliche Beste, Größe einer Jugendseele, Vaterlandsliebe, Begierde auf die würdigste Art unsterblich zu seynJugend der menschlichen Seele< wiederherzustellen, äußert sich seine Kritik an der Entfremdung der Menschheit durch den utilitaristischen »Commerz-, Finanz- und BildungsgeistAuch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit< unterstreicht Herder das neue Leitbild durch eine geschichtsphilosophische Grundlegung, indem in dieser vorbildlichen Geschichtsepoche Griechentum und Jugend Synonyme sind:

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' Herder, Journal meiner Reise, a.a.O., S. 386.

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Die schönste Blüthe des Menschlichen Geistes, des Heldenmuths, der Vaterlandsliebe, des Freiheitsgefühls, der Kunstliebhaberei, des Gesanges, des Tons der Dichtung, des Lauts der Erzählung, des Donners der Beredsamkeit, des A u f bruchs aller Bürgerlichen Weisheit, wie es jetzt ist, ist ihr. 70

In der >Jünglingszeit< der Menschheit bilden Geist und Körper noch eine Einheit, es entwickelt sich der gemeinschaftliche Geisfc, der die verschiedenen griechischen Völker vereinigt, so daß >Einheit und Mannichfaltigkeit< das >schönste Ganze< bilden. Trotz der Unwiederholbarkeit dieser Epoche leben die Ideale in der Menschheit fort. Im >Journal< erhält Herders Begriff der Jugend innerhalb der europäischen Defizienz-Diskussion zudem eine nationale Bedeutung. Für ihn zeigt die zeitgenössische französische Philosophie Anzeichen einer Erstarrung, indem sie die Aufklärung aus einem Prozeß in ein Telos verwandelt und zu Originalwerken kaum noch fähig ist. Die französische Galanterie mit ihrem konventionellen Geschmack und mit der >Etiquette des Umgangsc ist der >barokste Geschmack< und tötet alle natürlichen Empfindungen, Genie, Wahrheit, Stärke und Tugend. Dagegen haben die Deutschen die Möglichkeit, >eine schöne mitlere Laufbahn< zwischen der französischen Oberflächlichkeit und der englischen Ubertreibung zu wählen. Die Jugend wird damit zum Repräsentanten für den neuen Genie-Kult. Denn die Erziehungsreform macht aus der Jugend ein >Original-VolkVerjüngung< zu ästhetischen Symbolen für die Überwindung einer deutschen Defizienz, deren Ursachen nicht allein in ausländischen Einflüssen, sondern in der Erstarrung der eigenen Denkart liegen. Dies ist ein Konflikt, den Goethe unter dem starken Eindruck der Straßburger Begegnung mit Herder programmatisch im >Werther< gestaltet. Das nachfolgende >Werther-Fieber< drückt einen gesellschaftlichen Mentalitätswandel 71 aus: Aufbruch durch Aufhebung der beschränkten >Sphären< (Herder) und »Bestreben, alle Begrenzungen zu durchbrechen« (Goethe) heißen die Losungen. Personaler Träger ist die Jugend, die die Innovation durch Verjüngung des Denkens und Fühlens repräsentiert und damit die bisherigen Vollkommenheitstypen durch eine die sozialen Unterschiede negierende Altersgruppe (Beitritt der 70

71

Herder, A u c h eine Philosophie, a.a.O., S. 562. Diese A u f f a s s u n g hält Herder auch später aufrecht, vgl. seinen 72. Humanitätsbrief. Vgl. dazu Horst Flaschka, Goethes >Werthernaturgemäß, kraftvoll, tugendhaft aufgewertet. Geschichtliches Vorbild für die Republik ist die griechische Antike mit ihren Kleinstaaten. Bekanntlich mündet Heinses ArdinghelloRoman (1787) 72 in die Utopie einer rousseauistischen Kleinstaat-Republik und identifiziert unter deutlichen Anspielungen auf die >volonté générale< und den 2. Discours die Republik mit Demokratie. Heinses Staatsutopie der glückseligen Inseln< verkörpert am Vorabend der Französischen Revolution mit ihren Romanfiguren Ardinghello und Benedikt sowie der Gestalt des weisen Gesetzgebers Demetri wichtige Aspekte einer neuen Philosophie und Ästhetik: Die sinnliche Jugendlichkeit des Kraft- und Tatmenschen Ardinghello, der mit seinem Freund Benedikt, verbunden in einem empfindsamen >Todesbund ewiger Freundschaft, die neue Einheit von Sinnlichkeit und Verstand repräsentiert. Neben der Verknüpfung von republikanischem Staatsideal mit dem Generationsbewußtsein der Jugend tritt hier mit aller Schärfe eine neue Kunstauffassung hervor, die die Überlegenheit der Moderne gegenüber der Antike an der Kategorie der Bewegung festmacht und die mit der neuplatonischen Auffassung von der Kunst als Neuschöpfung das Nachahmungspostulat endgültig verabschiedet. Andererseits zeigt sich an Herder ebenso exemplarisch die Ambivalenz des neuen Jugendkultes des originalen Genies, neigt sie doch entweder zu einem religiös verklärten Gemeinschaftskult mit charismatischen Führern (Klopstock) oder zur Auflösung von gesellschaftlichen Bindungen und Strukturen wie auch von Gruppenzusammenhängen. Denn obgleich der Mensch anthropologisch ein >geselliges Thier< ist, bleibt der Begriff der Geselligkeit und der >Regimentsform< in Herders Frühschriften, soweit es um die Probleme der Gegenwart geht, vage. Die eigentümliche Dialektik von Verhaltensreform und Reform der Institutionen bei Rousseau geht bei Herder verloren, da er in seiner Theodizee dem aktiven Menschen aus re71

Wilhelm Heinse, Ardinghello oder die glückseligen Inseln (E: 1787); hg. von Max L. Baeumer, Stuttgart 1975· - Den zahlreichen Parallelen von Wielands >Goldnem Spiegel< und Heinses Roman (Strukturen und Funktionen der beiden Utopien; Figur des Psammis-Demetri etc.) kann hier nicht nachgegangen werden.

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ligiösen und erkenntniskritischen G r ü n d e n nur eine minimale Rolle zugesteht: »Was, o einzelner Mensch, mit deinen N e i g u n g e n , Fähigkeiten und Beitrage bist du? - und willt, daß sich an dir allseitig die Vollkommenheit erschöpfe?« 7 3 G l e i c h w o h l ist gerade seine A u f f a s s u n g v o m Fragmentcharakter des individuellen L e b e n s , ein wichtiger Ansatzpunkt für die neuen J u gendbünde der 70er und besonders der 90er J a h r e des 18. Jahrhunderts in Deutschland.

" Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, a.a.O., S. 584.

V. Patriotische Organisationsversuche um 1770

Die Vielfalt der Sozietätsformen, die Anzahl der Neugründungen und die regionale Verbreitung der Lesegesellschaften, der Freimaurer und der patriotisch-gemeinnützigen Gesellschaften machen die siebziger Jahre zu einem Höhepunkt in der deutschen Sozietätsbewegung, 1 deren Rückgrat drei gleichzeitige Prozesse bilden: Auf theoretischer Ebene die Ermutigung des Bürgerstandes als Träger des Fortschritts in der Geschichtsphilosophie, auf gesellschaftlicher Ebene die Mobilisierung und Politisierung breiter Bevölkerungsschichten im Siebenjährigen Krieg (Dipper), auf sozialer Ebene die Agrarkrise mit ihren Folgen und die größeren Bedürfnisse der aufgeklärtabsolutistischen Staaten nach einem modernen Verwaltungsapparat mit qualifizierten Beamten (Wehler). Das Ideal einer anthropologischen Disposition aller Menschen zur Geselligkeit, Ausgangspunkt dieses umfassenden Prozesses, wird in den verschiedenartigen patriotischen Sozietätsgründungen auf qualitativ neue Weise in gesellschaftliches Handeln umgesetzt. Ahnlich wie in der Geschichtsphilosophie eine an Personen geknüpfte Ereignisgeschichte durch eine von abstrakten Prinzipien getragene Geschichtsphilosophie ersetzt wird, wird der Begriff Patriotismus von den Landesfürsten und der Geschichte eines Einzelstaates abgelöst und als umfassendes theoretisches Konzept entwickelt. Die Programmatiken und Zeitschriften der patriotischen Bewegung gehen zwar noch wie Mosers N ü t z liche Beylagen zum Osnabrückischen Intelligenz-BlatteZiel einer patriotischen Aufklärung* begründet Herder 1788 seine >Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands* und modifiziert Leibniz' Vorschlag einer >Teutschen Akademie*, indem sein Institut keine K o p i e der bestehenden Akademien sein soll, sondern ein >VereinigungspunctNational-WolfahrtJournal von und für Deutschland* mit dem eingeschränkten Informationsfluß in Deutschland: K e i n L a n d ist ä r m e r an N a c h r i c h t e n v o n den L e b e n s u m s t ä n d e n seiner m e r k w ü r d i g e n M i t b ü r g e r als D e u t s c h l a n d . [. . .] J e d e A n e k d o t e , jede edle, g r o ß m ü t h i g e , uneigennützige H a n d l u n g von noch lebenden oder schon verstorbenen Personen, wird mir Freude machen. Nachrichten von Unterdrükungen,

Ungerechtigkeiten,

H o c h m u t h der G r o ß e n etc. u n d d e m g a n z e n u n z ä h l b a r e n H e e r e v o n L a s t e r n und N a r r h e i t e n , w e r d e n m i r z w a r das B l u t w i e g e w ö h n l i c h in W a l l u n g b r i n g e n , aber d e n n o c h w e r d ich es g e r n sehen, w e n n m a n m i r s o l c h e mittheilen will, da ö f f e n t -

!

G e o r g U r b a u N a t h a n a e l Beltz, D e r T e u t s c h e P a t r i o t in etlichen

Physikalischen

V o r s c h l ä g e n z u m g e m e i n e n B e s t e n . M i t einer V o r r e d e Sr. H o c h w o h l g e b o r n . des H e r r n B e r g - R a t h s v o n J u s t i begleitet, B e r l i n 1 7 6 2 , V o r r e d e B l . iv;

zitiert nach

H e i n r i c h B o s s e , P a t r i o t i s m u s und Ö f f e n t l i c h k e i t ; in: U l r i c h H e r m a n n

(Hrsg.),

V o l k - N a t i o n - V a t e r l a n d , H a m b u r g 1996, S. 6 9 - 8 8 . - V g l . n e b e n d i e s e m C o l l o q u i u m s b a n d f ü r die ältere F o r s c h u n g Werner K r a u s s , D i e f r a n z ö s i s c h e A u f k l ä r u n g im S p i e g e l der d e u t s c h e n L i t e r a t u r des 18. J a h r h u n d e r t s , B e r l i n 1 9 6 3 , E i n l e i t u n g , S. X V - X X X V I I I . ' H e r d e r , Idee z u m ersten patriotischen Institut f ü r den A l l g e m e i n g e i s t

Deutsch-

lands ( E : 1788); in: H e r d e r , S u p h a n , B d . 16, S. 6 0 0 - 6 1 6 .

53

liehe Ausstellung das einzige ist, wodurch ein Privatmann etwas pro satisfactione publica thun, und Andere von der Nachfolge abhalten kann.4

Die patriotische Zeitschrift auf Subskriptionsbasis versteht sich als öffentliches moralisches Tribunal und stellt den Bürgern aus allen deutschen Staaten die Rubriken >Anfragen< und >Auszüge aus Briefen< zur Verfügung. Das umfassende Sozietätsnetz ist der Resonanzboden für den wachsenden sozialen und politischen Kommunikationsprozeß, der sich immer wieder einer obrigkeitlichen Kontrolle entziehen kann, wie Göckingk stolz betont: »Das Lesen solcher Nachrichten kann man in einem Lande zwar verbieten, aber doch zum Glück nie ganz hindern [. . .].«' Während sich die neuere Sozietätsforschung auf institutionell verfaßte Gruppenbildungen konzentriert, kommt daneben der Subskriptionsbewegung eine wichtige Rolle für das Selbstverständnis und die Selbstorganisation des Bürgertums zu. Mit dieser überregionalen Sammlungsbewegung bürgerlicher Schichten, die die gegenseitige Verständigung, Solidarität und Politisierung befördert, werden bereits vor der Französischen Revolution in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wichtige Reformen durchgesetzt. Patriotismus, Subskriptionsbewegung und Reformanstrengungen gehen eine enge Beziehung ein. Mit seinem Vorschlag, in Weimar ein Totenhaus zu errichten und für die Finanzierung eine Subskription zu organisieren, kann der Jenaer Medizinprofessor und spätere preußische Staatsrat Hufeland 1790 auf eine erfolgreiche Tradition der Subskription zurückblicken: »Aber wer soll die Anstalt machen, wer die Kosten tragen? Dazu würde ich den Weg der Subscription vorschlagen, der schon so manches gemeinnützige Gute realisirt hat.« Bereits ein Jahr später meldet er in Wielands >Neuem Teutschen Merkur< den Erfolg seines Vorschlags, da die Subskription »nicht nur bey den höhern Ständen, sondern auch bey der Bürgerschaft (gewiß ein schöner Beweis vernünftiger und allgemeiner Aufklärung, dessen sich vielleicht manche größere Stadt nicht rühmen könnte) so reichliche Beyträge erhielt«.6

4

Leopold Freiherr Günther von Goeckingk, Plan zum gegenwärtigen Journale vom 8ten May 1783; in: Journal von und fur Deutschland, 1784, Bd. 1, unpaginiert, S. 7 - 1 6 , S. i i f . ! Goeckingk, Vorbericht 1784, S. 2; in: ebda. 6 Christoph Wilhelm Hufeland, Neuere Beyspiele von der Möglichkeit, auch in unsere Zeiten lebendig begraben zu werden; und Nachricht von der nun wirklichen Errichtung eines Leichenhauses zu Weimar; in: Neuer Teutscher Merkur, 1791, Bd. 3., S. 1 2 5 - 1 3 8 , S. 136. - Das erste Zitat findet sich bei Hufeland, Die Ungewißheit des Todes und das einzige untrügliche Mittel, sich von seiner Wirklichkeit zu überzeugen und das Lebendigbegraben unmöglich zu machen; in: Neuer Teutscher Merkur, 1790, Bd. 2, S. 1 1 - 3 9 , S. 58. - Zur Biographie Hufelands vgl. A D B , Leipzig 1881, Bd. 13, S. 286-296.

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Zu den Merkmalen der neuartigen Subskriptionsbewegung gehören: a) den Anlaß bilden häufig ein erkennbarer und überwindbarer Mangelzustand oder eine Fehlentwicklung in Staat oder Gesellschaft, die durch einen in Ziel und Zeit begrenzten Zusammenschluß von Individuen überwunden werden sollen; b) Ziele können die Herausgabe einer Schrift, die Abschaffung einer Verhaltensweise oder die Einrichtung einer Anstalt von gemeinschaftlichem Interesse sein. Zumeist verwirklichen die Assoziierten untereinander den Idealzustand, den sie durch die Aufhebung des Mangels vom Gesetzgeber allgemein einfordern, die selbsttätige Handlung und die Appellfunktion an die Obrigkeit werden miteinander verknüpft; c) die Subskription stellt eine spezifische Form des Zusammenschlusses zwischen Initiatoren und ihren Unterstützern dar, indem auf einen öffentlichen Aufruf zur Subskription hin die Unterstützer sich durch eine schriftliche Selbstverpflichtung für das begrenzte Ziel untereinander verbinden und nach Erreichen des Ziels keine weitere Verbindung einzugehen brauchen. Dennoch bildet die Erfahrung einer erfolgreichen Subskription oft den Anstoß, an einer Sozietät mit weitergehenden Zielen teilzunehmen. Insofern stellen die Subskriptionen ein wichtiges Bindeglied zwischen Individuen und verfaßter Sozietätsform dar; d) verglichen mit dem lokal begrenzten und statuarischen Charakter vieler Sozietäten ist der Zusammenschluß wesentlich lockerer und ermöglicht eine überregionale Ausdehnung. Damit kann die Subskriptionsbewegung einen vereinheitlichenden, nationalen Charakter annehmen und sich tendenziell der obrigkeitlichen Kontrolle und Zensur, wie sie bei den Sozietäten möglich und üblich ist, entziehen. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts entwickelt sich die Subskription von einem finanziellen Hilfsmittel zu einem wichtigen demokratischen Instrument; e) die Subskriptionsbewegung führt dazu, daß sich der Begriff der Geselligkeit immer mehr in den öffentlich-gesellschaftlichen Bereich verlagert, und verstärkt wegen der Zweckorientiertheit der Subskription die semantische Verschiebung des Begriffs der Geselligkeit hin zum abstrakten Begriff der Gesellschaft. Sozietäts- und Subskriptionsbewegungen drücken die wachsende Autonomie des Bürgertums von der höfischen Gesellschaft aus. Dieser in den siebziger Jahren offen zu tage tretende Prozeß fördert die Verselbständigung der Dichtung von Mäzenatentum und gelehrtem Diskurs. Häufig sind jugendliche Gruppierungen (Sturm-und-Drang und Göttinger Hain) die Protagonisten auf der Autorenseite, Frauen als Leserinnen die Protagonistinnen auf der Rezipientenseite, soweit nicht einige von ihnen erstmals selbst als Autorinnen auftreten.

M?

ι. Die >societas subscriptionum< der Gelehrten: Klopstocks Selbstverlagsidee und die >Deutsche Gelehrtenrepublik< Auf Anregung seines Förderers Bodmer entschließt sich Klopstock 1773, seine >Deutsche Gelehrtenrepublik< auf Subskription erscheinen zu lassen und diesen Plan mit der kulturpolitischen Idee einer ständigen Subskriptions- und Selbstverlagsgemeinschaft von Autoren zu verbinden, um den Raubdrucken entgegenzutreten und die Verlagsbuchhändler auszuschalten.7 Klopstock geht in seinem Plan weit über bisherige Subskriptionen hinaus, die häufig von Lesegesellschaften benut2t wurden, um sich die Kosten für die Anschaffung teurer Bücher oder Zeitschriften zu teilen. E r stützt sich auf Leibniz' Idee, der 1716 gegen die Abhängigkeit der Gelehrten von den Verlegern eine >societas subscriptionum< nach englischem Beispiel vorschlug, 8 um die Bücher >beßer, saubrer und wohlfeiler< drucken zu lassen. Gewinninteresse der Verlagsbuchhändler und schlechte Qualität der Raubdrucke bedingten einander. Wenn sich >inhaber der Bibliotheken und liebhaber< mit den Gelehrten zusammenschlössen, so Leibniz, sei beiden Seiten gedient: Durch einen gesicherten Absatz könnten die Bücher billiger abgegeben, die Autoren ein höheres Honorar erhalten und könnte das Druckbild qualitativ verbessert werden - alle Argumente tauchen in Klopstocks >Subskriptionsplan vom 8. Juni ι η η γ wieder auf, der zum Teil gekürzt in acht Zeitschriften veröffentlicht wird und auf Verlegerseite heftige Reaktionen in Form von Streitschriften hervorruft. Zusätzlich stützt er sich auf die sehr erfolgreiche Subskription der Homer-Ubersetzung von Pope in England (1716) sowie auf seine negativen Erfahrungen mit mehrmaligen Nachdrucken des >MessiasGelehrtenrepublik< deuten die Subskription als patriotische Handlung. Der Gymnasialdirektor Frömmichen in Hildesheim läßt eine eigene Anzeige drucken, in der er rühmt, Klopstock habe »zur Ehre Deutschlands einen patriotischen Subskriptionsplan« entwickelt. E r sammelt 107 Unterschriften und gehört neben Heinrich Christian Boie (Mitglied des Göttinger Hains mit 414 Subskribenten) zu den erfolgreichsten Förderern. Ähnlich wie Frömmichen argumentiert Klopstocks enger Freund und Mitstreiter für eine Bardendichtung Michael Denis in einer Anzeige in der Wiener >Kayserlich-Königlichen RealzeitungNachricht von der Subskription< vom 30. Juli 1773 alle Unterschriftensammler mit Namen, Titel- und Ortsangabe veröffentlichen und betont dadurch den patriotischen Zusammenschluß über geographische und ständische Grenzen hinweg: 134 > Correspondentes zählt er auf, die besonders dem Professorenstand ( 1 5 % ) , den Geistlichen (14,4%) und Rektoren (9,8%) angehören und sich regional vom Baltikum bis nach Wien verteilen. Damit gelingt es Klopstock, die breite Unterstützung von deutschen Gelehrten und Dichtern wie Gleim, Herder, Wieland, Lessing auf die ehemaligen >Bremer Beiträgen Gärtner, Zachariä und Schmid, den gesamten Göttinger Hain und auf die >Liebhaber und Liebhaberinnen der Wissenschaften wie zum Beispiel auf den Klopstock-Kreis am Darmstädter Hof auszuweiten. Insgesamt hat die >Deutsche Gelehrtenrepublik< 3.480 Subskribenten, die 3.655 Exemplare erwerben. Dzwoneks soziologischer Analyse zufolge stellen unter den Subskribenten bürgerliche Verwaltungsbeamte, beamtete Erzieher und niederer Klerus die größten Gruppen. Mit diesem phänomenalen Erfolg war der praktische Beweis für eine Selbstorganisation über alle Grenzen hinweg erbracht und das Selbstbewußtsein in breiten Schichten gestärkt worden, obwohl sich bei der anschließenden Lektüre des Werkes Ernüchterung und Enttäuschung zeigten.

2. Nationale Defizienz und Handlungsbegriff Sicherlich beruht Klopstocks Erfolg mit der >Gelehrtenrepublik< zu einem nicht unerheblichen Teil auf seinem Ruf als Verfasser des Nationalepos >Der MessiasBremer Beiträgern< in ihrer Zeitschrift >Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes< publiziert und vom Halleschen Ästhetik-Professor Georg Friedrich Meier in seiner >Beurtheilung des Heldengedichts, des Meßias< (1749) hoch gelobt wurde. Jedoch darf 11

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Zitiert nach Pape, Klopstocks Autorenhonorare, a.a.O., S. 1 1 3 und S. 116.

nicht verkannt werden, daß Klopstock mit seinem Subskriptionsvorhaben Argumente und Interessen unterschiedlicher Gruppen bündelt. Mit der Unabhängigkeit des Autors vom Verleger spricht er Gelehrte und Dichter an. Das Argument des materiellen und geistigen Eigentums am Text setzt die Anerkennung der eigenständigen schöpferischen Leistung des Autors durch und ersetzt die bisherige Auffassung von der gelehrten und poetischen Berufung durch die vom Autor als Beruf mit vertragsmäßiger Entlohnung. Die nationale Organisation der Subskription, unabhängig von höfischer Gunst und Billigung, baut auf öffentlichem Engagement, Mut zur Selbsttätigkeit und dem Willen zur Uberzeugung anderer Personen auf und spricht den Reformwillen von aufklärerischen Verwaltungsbeamten an, die für ihre gemeinnützige Aufklärung ähnliche Publikationsabsichten hegen. Klopstocks Opposition gegen eine höfisch-klassizistische Kultur mit französischer Sprache, wie sie für ihn die Berliner Akademie repräsentiert, drückt schon der Titel der >Deutschen Gelehrtenrepublik< aus und findet besonders bei jugendlichen Dichtern Resonanz, weil er ihren Wunsch nach einer nationalen Kultur artikuliert, die sich aus eigener Kraft entwickelt und einen eigenen historischen Ursprung aufweisen soll. In seiner Ode >Der Hügel und der Hain< (1767) 12 formuliert er programmatisch den Versuch, dem zersplitterten Deutschland durch einen fiktionalen Ursprungsmythos eine nationale Identität und geschichtlich begründete Daseinsberechtigung zu geben, die innerhalb der deutschen Poetik in Widerspruch zu Gottscheds Vorbildfunktion der griechischen Antike und zur Regelpoetik der Nachahmung steht. Trotzdem klafft ein tiefer Widerspruch zwischen den praktischen Zielen und Trägern der Subskriptionsbewegung und dem theoretischen >Organisationsmodell< (Dzwonek) der >Deutschen GelehrtenrepublikDeutschen Gelehrtenrepublik< ist in der Forschung (Hurlebusch/Schneider; Dzwonek/Ritterhoff/Zimmermann) hingewiesen worden. Ebenso wie dieser praktische Reformvorschlag, veröffentlicht als Widmung an den Kaiser in seinem Bardiet >Hermanns SchlachtGelehrtenrepublik< den nationalen Zusammenschluß aller Gelehrten. Die vierstufige Hierarchie aus unwissendem Pöbel, Volk (mittelmäßige Auto" Z u r Opposition von griechischer Antike (Hügel) und germanischer Mythologie (Hain) in diesem Gedicht und ihrer Ausstrahlung auf die G r ü n d u n g des Göttinger Hain 1773 vgl. sehr konzis A l f r e d Kelletat, >Der B u n d ist ewig*. Gedanken zur poetischen Topographie des Göttinger Hains; in: ders. (Hrsg.), D e r Göttinger Hain, Stuttgart 1967, S. 4 0 1 - 4 4 6 , S. 408. 1

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ren), elf nach akademischen Fächern gebildeten Gelehrten-Zünften und den aus den Zünften gewählten >AldermännernLandtage< mit autonomer Gesetzgebung bilden, steht mit ihren Prinzipien Wissen, Leistung und Nützlichkeit der Bildung für die Gesellschaft im Gegensatz zum ständischen Geburtsprinzip in der realen Gesellschaft. Der rationalistische Wissenschaftsbegriff wird von Klopstock noch verstärkt, indem die übergeordneten >Landtage< die Bereitschaft der Gelehrten zu beständiger Innovation und Anwendbarkeit des Wissens kontrollieren, gleichzeitig aber die materielle und geistige Freiheit der Gelehrten durch ihre Gesetzgebung schützen. Während Rationalität, Originalität und Entdekk u n g des Neuen zu den gelehrten Tugenden gehören, werden Nachahmung, Stolz und Eitelkeit als Laster bestraft. Insgesamt wird das Konzept einer universalistischen Vernunft, wie sie noch Bayles kosmopolitische r é p u b l i que des gens de lettre< auszeichnete, auf eine nationale Perspektive verengt. Nationale Besonderheit und Kosmopolitismus stehen nicht mehr in einem komplementären, sich befruchtenden Verhältnis zueinander wie ζ. B. noch bei Shaftesbury und Thomasius, sondern in einer Opposition, die antihöfische und antiabsolutistische Z ü g e trägt. Entgegen ihrem Autonomieanspruch erhält Dichtung die pragmatische Funktion, dem übergeordneten Patriotismus zu dienen und ihm entsprechende politische Verhaltensweisen zu erzeugen. Unter Geselligkeit versteht Klopstock einerseits eine alle Unterschiede negierende, gefühlsmäßige Einheit gemäß der Losung >Einer für Alle, und Alle für Einenaltes liebes Gesez von der brüderlichen Eintracht der Gelehrten< ausdrücken soll. Andererseits enthält die religiös geprägte Gemeinschaftsidee durch das Postulat, die nationale Einheit wiederherzustellen, auch im Unterschied zu Herders P a t r i o t i s c h e m Institué ausgrenzende Merkmale. Denn Klopstocks patriotische Gelehrtengemeinschaft stiftet Identität durch Abschottung gegen alles >Fremde< und durch Überlegenheit des Deutschen gegenüber anderen Nationen: Wozu wir uns, laut des wiedergefundnen, und wieder aufgenommenen Gesezes, [. . .] wo%u wir uns auf recht gut deutsch vereinigen sollen? [. . .] Da%u sollen wir uns, laut der alten Felsenschrift, vereinigen, daß B>ir die andern Nationen übertreffen.,J

Widersprüchlichkeit und Übergangscharakter von Klopstocks Ansichten über Gesellschaft und Geselligkeit zeigen sich an seinem neuartigen, wirkungsästhetisch begründeten Begriff von patriotischer >HandlungVon den Grundsätzen der Republik< heißt es:

'' Friedrich Gottlieb Klopstock, Die deutsche Gelehrtenrepublik, hg. von RoseMaria Hurlebusch (Hamburger Klopstock-Ausgabe, Werke, Bd. 7), Berlin 1975, S. 217.

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Handeln und Schreiben ist weniger unterschieden, als man gewöhnlich glaubt. Wer handelt und wer schreibt, bringt Wirkungen hervor. Diese sind auf beiden Seiten sehr mannigfaltig. Die das Herz angehn, sind die vorzüglichsten.' 4

Wie sich an der ambivalenten Rezeption der >Gelehrtenrepublik< ablesen läßt, ist es gerade dieser Handlungsbegriff, in dem sich die Aufbruchsstimmung der jungen Dichtergruppen konzentriert. In der Emphase der Handlung werden in den >vaterländischen Gedichten< (1765) und in der d e u t schen Gelehrtenrepublik< Leistung und Innovation als gelehrte Tugenden einerseits, mit schöpferischer Phantasie als poetischer Eigenschaft andererseits verklammert. Unter Handlung versteht Klopstock nicht mehr allein die (vollendete) Tat, sondern sie entsteht mit der inneren Motivation der Tat und umfaßt auch die Psyche der Figuren: Handlung besteht in der A n w e n d u n g der Willenskraft zu Erreichung eines Z w e k s . E s ist ein falscher Begrif, den man sich von ihr macht, wenn man sie vornämlich in der äusserlichen That sezt. Die Handlung fangt mit dem gefasten Entschlüsse an, und geht (wenn sie nicht gehindert wird) in verschiednen Graden und Wendungen bis zu dem erreichten Z w e c k e fort. Mit der Leidenschaft ist wenigstens beginnende Handlung verbunden. 1 '

Mit dieser Definition wird das gesellschaftliche Ansehen von Gelehrten und Dichtern enorm aufgewertet, da ihre auf Denken und G e f ü h l e gerichtete Tätigkeit als Ausgangspunkt aller menschlichen Handlungen verstanden werden kann. Modellhaft fuhrt er seinen wirkungsästhetischen Handlungsbegriff in seinem Bardiet >Hermannsschlacht< vor, indem die auf einer Mauer versammelten Barden die in der Schlacht Handelnden anfeuern, wodurch der Schlachtausgang entscheidend beeinflußt wird. 1 6 Die Barden antizipieren auf der Bühne, wie sich Klopstock patriotisches Handeln auch in der Gesellschaft wünscht. Mit den Barden als Repräsentanten seines Handlungsbegriffes knüpft er direkt an die altgermanischen Studien von Gottfried Schütze an, der in seiner >Abhandlung von den Freidenkern oder so genannten starken Geistern unter den Alten Deutschen und Nordischen Völkern< (1748) in der Tradition von Montesquieus altgermanischem Freiheitsideal 17 die hohe Kulturstufe der Germanen gegen den traditionellen 14

K l o p s t o c k , Gelehrtenrepublik, a.a.O., S. 22, Herv. Ε . P. " Klopstock, Gelehrtenrepublik, a.a.O., S. 1 7 1 . ' 6 In einem Brief an Herder (5. Mai 1773) verteidigt Klopstock diesen neuen Handlungsbegriff: »Die Personen in der >Hermannschlacht< handelten nicht in der Schlacht, sondern außerhalb der Schlacht in Absicht auf die Schlacht. A u c h die Barden sind handelnde Personen; denn sie helfen siegen.« Briefe von und an K l o p stock, hg. von J . M . Lappenberg, Braunschweig 1867, S. 249^ - In der Forschung haben Dzwonek/Ritterhoff/Zimmermann erstmals auf die Bedeutung von K l o p stocks Handlungsbegriff hingewiesen. 17

Vgl. Harro Z i m m e r m a n n , Freiheit und Geschichte, a.a.O., S. io2ff. - Z u m Bardenkult in der älteren Forschung vgl. Heinz Stolpe, Die A u f f a s s u n g des jungen Herder v o m Mittelalter, Weimar 1955, S. 355ff.

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Barbarenvorwurf nachzuweisen versucht. Seiner wirkungsmächtigen These zufolge waren die Barden die Dichter-Sänger der Druiden und von ihren Stammesfürsten hochgeschätzt, weil sie in den Schlachten die Kämpfenden anfeuerten und in den Friedenszeiten die Geschichte und Gesetze aufzeichneten. 18 Von den Zeitgenossen, den Vertretern der aufklärerischen Popularphilosophie einerseits und dem beginnenden Sturm-und-Drang andererseits, wird der patriotische Handlungsbegriff sehr unterschiedlich aufgenommen. Herders Verlobte Caroline Flachsland ist über Klopstocks Oden und die programmatische Opposition gegen die griechische Antike aus Gründen der Wirkungsästhetik begeistert und beeinflußt damit Herders Rezension der Bardendichtung in Nicolais Allgemeiner Deutscher Bibliothek< (1772). 1 9 Herder zufolge ist alles Handlung, was Wirkung hervorbringt. 20 Demgegenüber polemisieren Goethe (1769), Nicolai (1771) und Wieland (1773) vor dem Hintergrund des Siebenjährigen Kriegs und seiner sozialen Folgen unisono gegen den martialischen Gestus in der Bardendichtung. 21 Wieland wirft dem > kriegerischen, blutdurstigen Geist< sogar vor, die Fürsten zu weiteren Kriegen und Soldatenverkäufen zu ermuntern, und hält einer Poetik der Kriegsverherrlichung eine an Iselin gemahnende Poetik des Friedens und der allgemeinen Geselligkeit« entgegen. 22 Trotzdem prägt der neuartige 19

Vgl. Zimmermann, Freiheit und Geschichte, a.a.O., S. 1 1 3 f f . »Mich dünkt, die Thaten unserer Väter, die Menschen waren, müßten mehr auf uns würken als alle Götter des Olymps.« (Brief Carolines an Herder vom 30.12.1771) - Herders Re2ension von Kretschmanns Bardendichtung in Nicolais >Allgemeiner Deutscher Bibliothek« 1772 lobt unter den vorzüglichen neuern Barden« Gleim, Gerstenberg und Klopstock, »der die nordische Einbildung mit dem wärmsten Herzen und großer Kraft der Deutschen Sprache vereint, dieser Dichtart am meisten Welt zu geben, den Deutschen Hain dem Griechischen Parnassus entgegen zu setzen«. Vgl. Herders Sammelrezension >Der Gesang Rhingulphs des Barden [...]< u.a.; in: ders., Sämmtliche Werke, Suphan, Bd. V, S. 334-337, S. 337.

20

In Herders Preisschrift >Uber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten« (1778) lobt er die alten nordischen Völker: »Wir kommen hier wieder in ein lebendiges Feld der Dichtkunst, wo sie würkte, wo sie lebendige That schuf. [. . .] So zogen sie nach Süden, und nichts konnte ihnen widerstehen: sie fochten mit Gesänge wie mit dem Schwert.« (Herder, Suphan, Bd. VIII, S. 334-436, S. 388f.). " Goethe schreibt an Friederike Oeser: »Ich dencke so vom Rhingulff [i. e. Kretschmanns Gedicht] wie von allen Gesängen dieser Art. Gott sey Dank, daß wir Friede haben, zu was das Kriegsgeschrey.« (Brief Goethes vom 13.2.1769 in Goethe, Weimarer Ausgabe, Bd. IV, 1, S. 188-202, S. 197.). - Nicolai schreibt an Herder: »Wir suchen menschenfreundliche Gesinnungen fortzupflanzen, und unsere Gedichte sollten wie >Hermannsschlacht< eine kriegerische Tapferkeit respiriren, die selbst für unsere jetzigen Soldaten zu rauh ist?« (Brief an Herder; zitiert nach Stolpe, Die Auffassung des jungen Herder, a.a.O., S. 410). 22

Wieland, Anmerkungen und Zusätze des Herausgebers (des >Teutschen Merkur«)

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Handlungsbegriff Klopstocks entscheidend die emphatische Rezeption von Goethes >Götz von BerlichingenKönigsbergischen gelehrten und politischen Zeitungen< feiern Goethe als >Dolmetscher des Shakespeärischen Genieso E r hat dieses mit den Briten gemein, daß seine Charaktere originell und aus der Natur hergenommen sind; er läßt nichts erzählen, sondern verwandelt alles in Handlung [. . ,]/ 4

1773 hält J a k o b Michael Reinhold Lenz vor der Straßburger >Société de philosophie et des belies lettres< einen Vortrag >Uber G ö t z von Berlichingennormalen< Menschen und dessen Eingebundensein »in die große Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufte nennen«, G ö t z als Verkörperung einer G o t t ebenbürtigen, nach Freiheit strebenden und selbständigen Existenz< entgegenstellt. Absicht Goethes mit der Darstellung »dieses antiken deutschen Mannes« sei es, »daß handeln, handeln die Seele der Welt sei, nicht genießen, nicht empfindein, nicht spitzfundeln, daß wir dadurch allein G o t t ähnlich werden [ . . . ] , daß die in uns handelnde K r a f t , unser Geist, unser höchstes Anteil sei«. 2 ' Die Verknüpfung des Handlungsaspektes mit dem Problem der nationalen Defizienz tritt noch stärker in Justus Mosers Götz-Rezension ( 1 7 8 1 ) zutage, die er gegen die Verurteilung von Goethes Stück durch Friedrich II. in >De la littérature allemande< (1780) verfaßt. Hatte Friedrich II. aufgrund seines v o m französischen Klassizismus geprägten normativen Kunstbegriffes und seiner Ansicht von der aristotelischen Regelpoetik den >Götz< in die Tradition der >abscheulichen Stücke von Shakespeare gestellt und als Inbegriff des schlechten deutschen Geschmacks verurteilt, so ergreift Moser vehement Partei für die Entwicklung einer Nationalliteratur, »ob wir nicht selbst unsre Eichen also ziehen können [. . .] oder ob wir solche von einem französischen Kunstgärtner zustutzen und aufschnitzeln, und unsre Wälder in einen regulären Sternbusch verwandeln lassen sollen?«. Ausgehend von der historischen und geographischen Relativität aller K u n s t fordert er, »unsre >Götze von Berlichingen< [. . .] zu der ihrer Natur eignen Vollkommenheit aufzuziehen«. E r deutet >Götz< als »eine Sammlung von Gemälden aus dem zu: >Über den gegenwärtigen Zustand des deutschen Parnasses< (E: Teutscher Merkur II ( 1 7 7 3 ) , S. 1 6 8 - 1 8 6 ) ; in: ders., Akademie-Ausgabe I / 2 1 , S. 2 7 - 5 1 , S. j j f . In Anlehnung an den Bardenchor in der >Hermannsschlacht! benutzt Goethe im >Götz< Klopstocks erweiterten Handlungsbegriff unter anderem für die 13. Szene im 3. Akt. Zitiert nach: Goethe, Sämtliche Werke (Münchner Ausgabe), a.a.O., Bd. 1 . 1 , S. 969. J a k o b Michael Reinhold Lenz, Uber G ö t z von Berlichingen (E: 1773); in: Heinz Nicolai (Hrsg.), Sturm und Drang. Dichtungen und theoretische Texte, Darmstadt 1 9 7 1 , Bd. ι , S. 831—834. 163

National-Leben unsrer Vorfahren«. Indem er Friedrich II. wie allen Hofleuten abspricht, den deutschen Kunst-Geschmack zu repräsentieren, bezieht er den >Götz< direkt auf Klopstocks >BardietAufwartung mit Essen und Trinken< und Geschenke an die Trauergäste werden strengstens untersagt. Während der Pforzheimer Magistrat sich mit einer sachlichen Aufzählung begnügt, enthält die >Leiningische Leichen- und Trauerordnung* mit ihren 37 Paragraphen v o m Januar 1788 eine ausführliche Begründung der im K e r n gleichen Anordnungen. Mit dieser Verordnung, die die Individualisierung des Gefühls betont, sollen die »Anhänglichkeit an ein durch Vorurtheil verjährtes Herkommen« und die »prunkvolle Eitelkeit, als nachtheiligen Folgen in des a u f g e k l ä r t e n Absolutismus* bis in die kleinsten Aspekte des zwischenmenschlichen U m g a n g s durch einen strengen Verhaltenskodex zementiert hat, hat dargestellt Manfred Beetz, Frühmoderne Höflichkeit, a.a.O., bes. S. i 2 i f f . Berlinische Monatsschrift ( B M ) 1785, Bd. 5, S. 80-95, S. 80. - Dies ist der einzige Artikel in der B M , der auf diese Debatte direkt Bezug nimmt. 30

»Leichenordnung in der Stadt Pforzheim vom 1 1 . Dez. 1786 durch den Magistrat*; in: »Journal von und für Deutschland*, a.a.O., 1788, 4. Stück, S. 579—81. .65

Rücksicht auf das Vermögen und den Nahrungsstand der hinterlassenen Familien der Verstorbenen« bekämpft werden.' 1 Noch schärfer argumentiert die Brandenburgisch-Onolzbachische Verordnung, die im Januar 1789 die alte Trauerverordnung von 1733 ersetzt.' 2 Angesichts der »unserem gegenwärtigen Zeit=Alter angemessenen Aufklärung und Wohlfahrt unserer getreuen Diener und Unterthanen« will sie den »eingerissenen Unordnungen, dem kostspieligen Übermaß und unnöthigen Aufwand« begegnen. Exemplarisch werden drei zentrale Motive sichtbar, die zur Reform der Trauerordnungen führen: Das soziale Argument der notwendigen >Ersparnis< bei Ausgaben für Trauerkleidung, Särge, Kränze, Geschenke für Gäste und für die Ausstattung der Dienstboten. Die hinterbliebene Familie soll nicht mit Ausgaben belastet werden, die sie neben dem persönlichen auch in ein finanzielles Unglück stürzen könnte. Das gesundheitliche Argument, die >Ausdünstungen< der Leiche könnten die Trauergäste gefährden; deshalb werden Bestattungen nur noch auf dem >freien Gottesacker< und nicht mehr in der Kirche zugelassen. Das aufklärerische Argument, die aufwendige Ausstattung der Toten und der >Leichenschmaus< seien ein altes, unzeitgemäßes Vorurteil. In der Kritik an der teuren Ausstattung der Leiche, der Särge und der Kleidung der Trauernden, die nur der Eitelkeit und Prunksucht dienen, werden traditionelle Momente des christlichen Kampfes gegen die weltliche >vanitas< sichtbar. In diesem Sinn hatten Schlözers >Stats-Anzeigen< bereits 1782 drei Artikel publiziert. Ein anonymer Verfasser aus dem Mainzischen plädiert, wie drei Jahre später Gedike in der berlinischen Monatsschrift, aus medizinischtheologischen Gründen für die Verlegung der Kirchhöfe außerhalb der Stadt. 53 Als Beispiel für Verschwendung und Luxus veröffentlicht Schlözer eine Liste der 1656 bei einem Leichenschmaus verzehrten Speisen und Getränke, mit denen »90 Herrn und Vornehme, und ungefer eben so viel Diener und Aufwärter, 4 Tage gespeißt worden« sind. Anlaß ist der Tod der Gräfin von Anhalt-Schaumburg. 54 Außerdem zitiert Schlözer das persönliche Testament des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm von 1740, das das Bestattungszeremoniell mitsamt der Rangordnung enthält. 5 ' Diese Polemik '' Carl Friedrich Wilhelm, Graf zu Leiningen und Dagsburg >Leiningische Leichenund TrauerordnungJournalBrandenburg-Onolzbachische Verordnung die Abstellung verschiedener Mißbräuche bey Trauerfallen und Beerdigungen betreffs; datiert: 19.1.1789; in: >JournalTrauerkleidung, ein überflüssiger, schädlicher, und resp. törichter Aufwand< veröffentlicht er als Vorbild vier fürstliche Erlasse zur Trauerordnung (Bamberg-Würzburgische Verordnung, 1785; Salzburgische StolOrdnung, 1784; Württembergische Verordnung,

1784; Hohenlohe-Neuensteinische

Verordnung

von

17 84), die aus Gründen der Zeit- und Geldökonomie eine Einschränkung von >Mißbräuchen< vornehmen.' 6 Unter der Überschrift >Trauerkleidung, verboten oder a b g e s c h a f f t führt er 1787 mit zwei individuellen Beiträgen und zwei Verordnungen seine Pressekampagne f o r t . " Die gesellschaftspolitische Brisanz der neuen Trauerordnungen spricht am deutlichsten die >Pfalz=Sulzbachische Trauerordnung< vom März 1790 aus.' 8 Sie gilt für »jedermann ohne Ausnahme und Rücksicht des Standes, Alters und Vermögens« und stellt nicht nur eine Gleichheit her, sondern greift juristisch in bestehende Testamente ein. Das Verbot für Trauerkleidung, Geldgeschenke, Leichenschmaus etc. gilt auch dann, wenn es als letzter Wille den Hinterbliebenen vorgeschrieben ist - die Erben werden ausdrücklich der Pflicht enthoben, diesem Willen nachzukommen. Und wegen der gesundheitlichen G e f a h r wird »künftighin niemand ohne Unterschied des Standes, Vermögens, Freundschaft« in der Kirche, sondern nur noch auf dem Friedhof begraben. Man könnte in der Gleichheit vor dem Tod und im K a m p f gegen die Eitelkeit durchaus die Tradition des religiösen >memento mori< vermuten, wie sie in der Traktatliteratur und Dichtung des Barock zu finden ist. Unter der L o s u n g der Vergänglichkeit wird dort aller irdische Prunk kritisiert, exemplarisch etwa in der Dichtung Simon Dachs. A n der Wende zur Frühaufklärung übt Johann Beers R o m a n >Die teutschen Winter-Nächte< eine scharfe Kritik an falschen Motiven des >LeichengehensReputationsgang< (um »ein offenes Zeichen des Rangs und Vorganges« zu geben), der >anschmeichelnde Gang< und die religiöse Heuchelei (>Gleisnereizuwider und conträr< abgelehnt. Die Teilnahme an der Beerdigung soll allein als christliches Werk< verstanden werden.' 9 Die Gemeinsamkeit der strikt religiösen Argumentation bei Beer mit der aufklärerischen A r gumentation der Gesetzes-Texte um 1780 erweist sich jedoch bei näherem Hinsehen als oberflächlich: Prunk und Eitelkeit werden von der Aufklärung 56 Stats-Anzeigen, 1786, Bd. 9, S. 4 6 0 - 4 7 1 . " Stats-Anzeigen, 1787, Bd. 10, S. 2 1 0 - 2 1 5 . '* Churfurstlich Pfalz-Sulzbachische Regierung >General=Verordnung, die Pfalz= Sulzbachische Trauerordnung betr.JournalPrunk< der Leichenbegängnisse gegeben. Nachdem >Der Patriot* im 79. Stück eine scharfe satirische Kritik am Leichenpomp des Eitelhard Books-Beutel geübt hatte, kam es 1729 zur Abschaffung des Glockengeläuts und Glockenspiels, der Sarg sollte nur noch einfach verziert und die Zahl der dem Leichnam folgenden Kutschen, Leuchten und Leuchtenträger beschränkt werden. 41 Doch offensichtlich sind Gewohnheit und die Macht der Kirche stärker als die >vernünftige< Argumentation dieser von Mitgliedern 40

>Der Patriot*, Reprint nach der Originalausgabe 1 7 2 4 - 2 6 in drei Textbänden und einem Kommentarband kritisch herausgegeben v o n Wolfgang Martens, Berlin 1969, Bd. 1 (Jg. 1724) N o . 4 1 , S. 347. 4 ' >Der Patriot*, (79. St.), a.a.O., Bd. 2, S. 224ff. - Eine wertvolle Darstellung der Hamburger Diskussion enthält K a r l K o p p m a n n , Die Leichenbegängnisse im 18. Jahrhundert; in: ders., A u s Hamburgs Vergangenheit, Hamburg/Leipzig 1885, S. 2 5 5 - 2 7 7 , hier S. 260. Die von ihm angeführten D o k u m e n t e zeigen, daß die Wünsche der fiktiven F i g u r Eitelhard Books-Beutel keineswegs überzogen sind! — E i n e späte Nachwirkung dieser Auseinandersetzung findet sich unter dem Eintrag >Bocksbeutel* noch 1860 im >Deutschen Wörterbuch*, hg. von J a c o b und Wilhelm G r i m m , Leipzig i860, Reprint München 1984, Bd. 2, S. 206. 168

der Hamburger Patriotischen Gesellschaft herausgegebenen Moralischen Wochenschrift gewesen, so daß im großen Kompromiß zwischen »Tageleiche< und >Abendleiche< um 1770 Schülergesang, Glockengeläut und -spiel sowie die »Folgee mit vier Kutschen wieder akzeptiert werden und jeder Todesfall für die Hinterbliebenen enorme Kosten verursacht. 42 Aus Kostengründen bestimmt deshalb die >Leiningische Leichen- und Trauerordnung< (1788) ausdrücklich, daß der öffentliche Trauermarsch, das Singen und Läuten und Leichenreden ebenso verboten werden wie die Beteiligung von Zünften und Schulklassen am Trauermarsch. 45 Der Tod verliert aus dieser >vernünftigen< Perspektive seine beherrschende Kraft über das irdische Leben - das diesseitige Wohl der Hinterbliebenen steht jetzt im Vordergrund. Mit der »Abschaffung der Trauen verliert aber auch die Kirche einen Teil ihrer gesellschaftlichen Funktion als religiöse Ordnungsmacht. Dies zeigt sich in aller Schärfe an der >Sachsengothaischen Verordnung wegen der Hochzeiten und Tänze und öffentlichen Lustbarkeiten in der Adventszeit< des Herzogs Ernst von Sachsen von 1787. 44 War in Beers Roman dem Adligen Isidoro mit seiner > frischen Trauen vom Priester das Tanzen verboten worden und schreibt noch die »Erneuerte Castellische Verordnung< des Fürsten C. F. Carl zu Hohenlohe von 1787 ein ausdrückliches Verbot des Tanzens an Sonn- und Festtagen sowie während der Fasten- und Adventszeit vor, 41 so hebt Herzog Ernst von Sachsen die >kasimirische Kirchenordnungvoraufklärerische< Zeiten die Beseitigung der öffentlichen Demonstration der Trauer zugunsten der Trauer als einem individuellen Gefühl. Die gesetzlichen Trauerordnungen mit ihrer strikten Diesseitigkeit, Individualisierung des Gefühls, Ökonomie des Geldes und der Zeit werden im »Journale und in den >Stats-Anzeigen< begleitet von zahlreichen populär42

Vgl. K o p p m a n n , a.a.O., S. z66f. ' »Leiningische VerordnungDenkungsArt< kenne, schlägt er eine Unterschriftensammlung unter Privatpersonen vor, die sich gegenseitig verpflichten, bei sich und bei Verwandten die Trauer ganz abzuschaffen. Ihre Unterschrift trage den Charakter eines >unverbrüchlichen Gesetzeszur größten Ehre des Hamelnschen Publici< von Lüders' Erfolg: Nicht nur die Unterschriften sind von einem breiten sozialen Spektrum unterstützt worden, auch die Selbstverpflichtung hatte erste praktische Folgen.47 Es ist durchaus möglich, daß der Erlanger Geschichtsprofessor Meusel in seinem Artikel >Nachricht von der Abschaffung der Trauer in Erlangen< im >Journal< die Debatte aus den >Stats-Anzeigen< aufgreift und weiterführt. Meusel berichtet von seiner >Pro Memoria< Anfang 1788, mittels Unterschriftensammlung unter >Patrioten und Biedermännern< die Trauerregeln durch individuelle, gegenseitige Verpflichtung abzuschaffen. Neben den Unterschriften der meisten >Honoratioren< bekommt er die Unterstützung des Senats der Universität, stößt aber beim Adel auf >unerwartete Schwierigkeiten^ Da die Landesregierung auf den Vorschlag bisher nicht reagierte, wendet er sich mit dem Appell zur Nachahmung jetzt an das aufgeklärte Publicumc Im Vertrauen auf diese günstigen Umstände, und da ich es fur rühmlich halte, auch ohne obrigkeitliche Befehle oder Gesetze vernünftig und weise %u handeln, nehme ich mir die Freyheit, jeden unter uns lebenden Patrioten zur Unterschreibung folgender Puñete einzuladen [. . .]. 4 ' 46 47

48

Stats-Anzeigen, 1786, Bd. 9, S. 466-471, S. 469. »Schon den 15 Maj dieses Jars, hatten 99 Personen, darunter MagistratsPersonen und Bürger, Gelehrte und Unstudirte, Vornemere und Geringere, besonders auch viele Handwerker von allerhand Zünften [. . .] durch ihre NamensUnterschrift sich verpflichtet, statt der bisher üblich gewesenen kostbaren Trauer, sich auf die vorgeschlagene simple einzuschränken. Vier Familien hatten damals auch die Übereinkunft bereits erfüllt, und Eltern und Frauen auf gedachte Art betrauert.« (ebda., S. 470). Johann Georg Meusel, Nachricht von der Abschaffung der Trauer in Erlangen; in: >JournalPro Memoria< zu befolgen. Da bei der Unterschrift die Rangfolge (Präzedenz) nicht mehr zähle, unterschreibt Meusel provokativ als erster. Im selben Stück des >Journal< berichtet Weppen >Von einigen guten Anstalten im Hannöverischem, womit er im vorsichtigen Tonfall die Beseitigung der >kleinen Mißbräuche< anspricht, die »einige minder erhebliche Gegenstände der Aufklärung« 49 betreffen. Dazu gehören die Abschaffung der Titularien in freundschaftlichen Briefen, die Ersetzung der lästigen >Trauer-Notifications-Briefe< durch öffentliche Anzeigen, die Aufhebung des >Ceremoniells< mit ihrer strikten Rangfolge beim >Gesundheitstrinken< und die Abschaffung der Trauerkleidung: »Nicht durch landesherrliche Verordnungen, sondern durch freywillige Associationen sind die schwarzen Trauerkleider« in vielen niedersächsischen Städten abgeschafft worden, denn diese »tyrannische Mode< stürzte manche arme Wittwe in tuntilgbare Schuldem. 50 Der Verfasser schließt seinen Artikel mit der rhetorischen Frage: »Sollten diese guten Beyspiele der Aufklärung nicht noch irgendwo Nachahmung finden?« An diesen Beispielen zeigt sich ein tiefgreifender Mentalitätswandel: Entstanden als Mittel, um dem breiten Lese- und Informationsbedürfnis eines neuen, sozial über den Gelehrtenstand hinausgehenden Publikums Rechnung zu tragen, wird aus dem rein ökonomischen Zweck der Subskription bei Zeitschriften und Büchern ein demokratisches Instrument, geistige Freiheiten und Verhaltensreformen durchzusetzen. Die Unterschrift drückt ein selbstbewußtes Handeln, eine gegenseitige und öffentlich kontrollierbare Verpflichtung und eine Art demokratisches Votum aus, mit denen die naturrechtliche Idee der gegenseitigen Verpflichtung der Menschen in einem selbstbestimmten Gesellschaftsvertrag praktisch erprobt wird. Diese neue Mentalität wird zunächst als Verhalten innerhalb einer Sozietät praktiziert, bevor sie um 1790 im Kontext der Französischen Revolution aus dem moralischen >Innenraum< der Sozietät in den politischen >Außenraum< (Koselleck) der Gesamtgesellschaft tritt und das antizipiert, was als Verfassungsreform im Großen erhofft wird, aber Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland noch nicht durchgesetzt werden kann. Für diese weitreichende Interpretation spricht ein Artikel von Franz Wilhelm Jung, ehemaliger Freimaurer und Illuminât, Freund von Hölderlin und Sinclair und seit 1786 Hofrat 5 1 , der das demokratische Mittel einer " J o h a n n August Weppen, Von einigen guten Anstalten im Hannöverischen; in: >Journal° Ebda., S. 376, Herv. E. P. - Das folgende Zitat findet sich auf S. 377, Herv. Ε. P. '' Zur Biographie von Franz Wilhelm Jung vgl. N D B , Bd. 10, S. 672-674. - Gerhard Kurz, Die Freiheit und das Übel auf Erden. Franz Wilhelm Jung: Hofrat, Republikaner, Liberaler; in: Christoph Jamme/Otto Pöggeler (Hrsg.), Mainz - »Cen-

171

freiwilligen Verpflichtung für allgemeine gesellschaftliche Verhaltensänderungen einsetzen will. In der >Nachricht von der in Homburg vor der Höhe freywillig abgeschafften Trauen 5 2 berichtet er von seiner Initiative zu einer vom Fürsten gebilligten Unterschriftensammlung im Juli 1789, mit der sich die Einwohner >wechselseitig verbinden^ die Trauerkleidung abzuschaffen. Daß es J u n g nicht nur um Gründe der Bequemlichkeit und der Verarmung geht, zeigt sich an seiner Verallgemeinerung des Prinzips der freiwilligen Verpflichtung: »Uberhaupt sollte man sichs, wie ich glaube, zur freudigen Angelegenheit machen über jeden nützlichen Gegenstand jener Art die Stimmen seiner Mitbürger zu sammeln.« (437) Seine weitergehenden politischen Intentionen werden an der abschließenden Argumentation besonders deutlich: Große Staatsumwälzungen liegen vor der Hand ausser den Grenzen unsrer Verfassung, unsers Nationalcharakters, und vielleicht auch unsrer wahren Glückseligkeit. [. . .] Aber jetzt, da es in allen Köpfen licht und heller wird, sollten wir durch einmüthige Verbindungen - die geheimen waren bisher fruchtlos! lernen und beweisen, daß es ein schönes und hohes Gefühl sey aus eigener Kraft und Eintracht an

kleinen Dingen sich für größere geübt und gestärkt

haben.« (439; Herv. Ε. P.)

Für eine ähnliche Ausweitung der Unterschriftensammlung plädiert auch Stille in seinem Artikel >Über den Mißbrauch des Freundschafts=Kusseselenden Mode< fordert. Sie lasse sich ganz beseitigen, »wenn wir, wie bey Abschaffung der Trauer um die Verstorbenen, die Gründe unsers Verhaltens bekant machen, und dann fest vereinigt handeln«." Die radikale Reform der Verhaltensethik, die immer weitere Aspekte des Alltagslebens besonders der >Mittelschichten< erfaßt, schlägt bei Karl Reinhard, Freund Bürgers und Mitglied von dessen Dichterbund in Göttingen, seit 1789 Hofmeister der jungen Grafen zu Stolberg-Wernigerode, in die Idee um, für eine >neue Ordnung des gesellschaftlichen Tons< Gesellschaften zu gründen.' 4 Ihm zufolge gibt es zwei Ursachen für die >Mißbräuche und Vorurtheile durch gesellschaftliche Verbindungen : Die Verschwendungssucht bei >Gastereyen< (Verlobungen, Hochzeiten, Kindstaufen) und »das tralort des Reiches«. Politik, Literatur und Philosophie im Umbruch der Revolutionszeit, Stuttgart 1986, S. 122-137. - Weder die N D B noch Kurz nennen diesen Artikel. >JournalPolizey-Ordnungen< möglich war. Mit den von Reinhard und anderen vorgeschlagenen neuen Sozietäten soll eine grundlegende Reform wesentlicher Aspekte der traditionellen Sozialethik erreicht und eine größere >Staatsumwälzung< vorbereitet werden (Franz Wilhelm Jung). Dieser Zusammenhang einer Reform der Sozialethik und Sozietätsbewegung um 1780 wird in der deutschen Literatur um 1795 reflektiert: Von Goethes >Unterhaltungen deutscher Ausgewanderte» über Tiecks >Die gelehrte Gesellschaft und >William Lovell< bis zu Hölderlins Reflexion über den >Bund der Nemesis< im >Hyperion< und zu Friedrich Schlegels Spiel mit den Anredeformen >Du - Sie< in der >LucindeJournalJournalphilosophes< hauptsächlich auf globale Veränderungen zielende Theoriediskussionen über Staats- und Agrarreformen geführt werden, betonen die deutschen Sozietäten stärker praktische Reformen im Kleinen. Eine der wichtigsten Intentionen bei diesen Reformen ist die Beseitigung von Vorurteilen und Konventionen, die eine ungezwungene Geselligkeit zwischen den Menschen, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu Nation, K o n f e s sion, Stand und Beruf, verhindern. Zugleich etabliert der theoretische und praktische A u f s c h w u n g der deutschen Sozietätsbewegung neue kulturelle Werte und Standards. Allerdings scheint die Französische Revolution die Argumentation gegen Zeremoniell und Titularwesen und das Mittel der Unterschriftensammlung zu radikalisieren. Waren Unterschriften zur Subskription von Büchern und Zeitschriften wie auch bei der G r ü n d u n g von Lesegesellschaften seit längerem üblich, so erhalten sie in der Patriotismus-Debatte der 70er Jahre die neue Bedeutung einer gegenseitigen Verpflichtung zu autonomem, öffentlichem Handeln »ohne obrigkeitliche Befehle oder Gesetze« (Meusel). Wie brisant einige Fürsten die Unterschriftensammlungen ansehen, kann man daran abgelesen, daß sie 1789 kollektive Beschwerden nach dem französischen Modell der >Cahiers de Doléance< verbieten. 60 Eine deutliche Nachwirkung findet die patriotische Subskriptionsbewegung, als im Frühjahr 1797 die Patrioten um Görres mithilfe einer öffentlichen Unterschriftensammlung das Pariser Direktorium zu überzeugen versuchen, auf linksrheinischem Gebiet eine autonome cisrhenanische Republik zu fördern. 6 ' Beides belegt nicht nur die Transformation des Instruments der Subskription, sondern auch den damit verbundenen Mentalitätswandel von Teilen der Bevölkerung vor 1789.

io

6

A m 7. September 1789 erläßt K a r l Friedrich, M a r k g r a f zu Baden und Hochberg, eine »Warnung der Badischen Regierung v o r A u f r u h r « , die jede F o r m von >Zusammenlauf oder Aufruhr< strengstens verbietet. Darunter fallen auch gemeinschaftliche Beschwerden: »Wir dermahlen wahrnehmen, daß hie und da Gemeinden sich eigenmächtig versammeln, und vorgebliche Beschwerden in einer Schrift zusammen tragen, worin sie alles dasjenige, was Ihnen an der zum Theil seit langen Jahren bestehenden Einrichtung unangenehm oder beschwerlich dünkt, zu einer von Uns verlangenden Ä n d e r u n g vorbringen wollen, welches nicht nur gegen jenes Verbot der Gemeinds- und Bürgerversammlungen verstößt, sondern auch ein E i n g r i f f und Antastung Unsers obrigkeitlichen A m t s und Würde ist [. . .]«. In: Journal von und für Deutschland 9. St. (1789), S. 289-292. - Z u r Bedeutung der >Cahiers de doléances< vgl. R o g e r Chartier, Kulturelle Ebenen und Verbreitung der A u f k l ä r u n g im Frankreich des 18. Jahrhunderts: die >cahiers de doléancesDer Hügel und der Hain< (1767) eine grundsätzliche Richtungsänderung in Literatur und Ästhetik. Angeregt durch die Wirkung der vermeintlich authentischen Gedichte Ossians, unternehmen die Hain6) 64

,M

Wieland, zitiert nach Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, a.a.O., S. 37. Christian Friedrich Daniel Schubart, Teutsche Chronik vom Dez. 1774, zitiert nach Goethe, Die Leiden des jungen Werther; in: ders., Sämtliche Werke, Münchner Ausgabe, a.a.O., Bd. 1.2., D o k u m e n t e zur Wirkungsgeschichte, S. 791. Vgl. Beck, a.a.O., S. 45.

177

bündler die Suche nach einem autochthon germanischen Ursprungsmythos. Das Bedürfnis nach nationaler Identität, nicht zuletzt durch die Erfahrung des Siebenjährigen Krieges verstärkt, paart sich mit der Suche nach einem kollektiven, nationalen Ursprungsmythos und nach einer eigenen Volksdichtung. Dem entsprechen eine produktive Wiederentdeckung, das Experimentieren und Modernisieren von volkstümlichen Stoffen und Formen der Poesie durch Bürger, Voß, Herder und Goethe, die Kelletat als poetisches Merkmal der Gruppe hervorhebt. Die Einordnung des Individuums geschieht auf Basis eines rigiden ästhetischen Moralismus, der für den Göttinger Hain in schroffem Gegensatz zur adligen Nachahmung der höfischen Kultur des französischen Absolutismus steht und der in der Dichtung Kretschmanns und dessen sittenreformierender Aufgabenbestimmung des >BardietsWollustsänger< und Verherrlicher des >Sündenpfuhls Paris< hinwegfegen wollen, 67 bedarf keiner philosophischen oder wissenschaftlichen Ableitung und Rechtfertigung mehr - sie wird allein aus der neudefinierten, patriotischen Rolle der Dichtung gewonnen. Die Hainbündler bedienen sich einer bereits bestehenden Zeitschrift, um ihre neue Poesie zu veröffentlichen. Orientiert am französischen Vorbild des >Almanach des Muses ou Choix de Poésies fugitives< (Paris, 1765), erhält der Göttinger Almanach unter der Redaktion von Voß ab 1772 eine organisierende Funktion für die neue Literaturströmung, indem er 1773 neben Gedichten des >Hains< auch solche von Goethe, Bürger, Klopstock, Herder und Claudius aufnimmt und damit eine Brückenfunktion zur zweiten Jugendgruppierung dieser Jahre, dem Sturm-und-Drang, erfüllt. In seiner umfassenden Studie gibt Quabius als Merkmale des >Sturm-und-Drang< dessen Generations- und Sendungsbewußtsein und den solidarischen Zusammenhalt der um 1745 Geborenen untereinander an.68 Auch sie bilden einen Gruppenzusammenhang mit eigenem Jargon (Anrede als >Junge< und das >GoethisierenBremer Beiträgern< und beim >Göttinger Hain< ist die poetisch-kritische Gemeinschaftsproduktion das wesentliche Merkmal der Gruppe, das Goethe rückblickendharmonisierend in >Dichtung und Wahrheit< am Beispiel gemeinsam verfaßter Rezensionen für die >Anzeigen< beschreibt. 6 ' 66

Vgl. zu Kretschmanns moralischer Dichtungsauffassung Stolpe, Der junge Herder, a.a.O., S. 364. 67 Kelletat, a.a.O., S. 4 1 3 f . " Quabius, a.a.O., S. 73 und S. 169. 69 In diesem literarischen Verein< »hatte (jeder) in seinem Fach historische und theoretische Kenntnisse genug, und der Zeitsinn ließ diese Männer nach E i n e m Sinn 178

Charakteristisch für beide Gruppenbildungen ist, daß die zumeist aus protestantischen Pfarrfamilien stammenden Jugendlichen ihren Protest gegen das rigorose, elterliche Bildungsethos als generationsmäßigen VaterSohn-Konflikt auffassen und austragen: Rationalistische, akademische Aufklärung und protestantisches Elternhaus verschmelzen für sie zu einem Feindbild und führen dazu, daß die Wissenschaft mit ihrem Organisationsmodell der >Gelehrtenrepublik< für sie keine ideale Form zwischenmenschlicher Kommunikation mehr sein kann, weil sie Gefühl, Spontaneität, Natürlichkeit, Individualität im Sinne von Originalität und nationaler Eigentümlichkeit verhindert. An die Stelle der Gelehrtenrepublik tritt die nachempfindende, sich versenkende Lektüre, die sich wie bei Klopstock oft aus pietistischen Quellen speist und bei vielen Dichtern im jungen Alter zu einer Art religiösem Erweckungserlebnis führt. 70 Im Unterschied zu Klopstock ist für die Hainbündler, Dichter zu sein, kein (bürgerlicher) Beruf, sondern eine Berufung. Deshalb ersetzen sie das institutionalisierte Lernen durch das Selbststudium im Gruppenzusammenhang - dies meint ihre Opposition von Philister/Bürger und Dichter (Carl Friedrich Cramer) und ihre feste Absicht, mit ihrem abgebrochenen Theologiestudium Dichter zu werden. 7 ' Sozialgeschichtlich kann dies als Reaktion auf die Modernisierungswelle nach dem Siebenjährigen Krieg gedeutet werden. Sie wird als >Rationalität< in allen Lebensbereichen (Wehler) und in besonderem Maß für die Intelligenz spürbar, denn das neue, einheitliche Prüfungssystem unter staatlicher Kontrolle führt zu einer >existenzbestimmenden Verknüpfung< von Studium und B e r u f 2 für die sozial abhängigen Schichten, die in Studium und Leistungswissen die einzige Chance für ihren sozialen Aufstieg sehen. Es ist deshalb kein Zufall, daß Göttingen zum sozialen Ort für den neuartigen Jugendprotest wird. Im Bildungsbereich verkörpert die moderne Universität Göttingen durch ihren Wissenschaftsrigorismus jene Rationalität, die einen Albrecht von Haller seine berühmte Jugenddichtung (>Die Alpenheiligen Poesie< mit dem Dichter als religiösem >Mittler< bei Klopstock verweist Beck, a.a.O., S. 52f. und S. 6i{. - Z u r frühen K l o p s t o c k - L e k t ü r e bei Goethe, Schubart, Wieland, Schiller u. a. vgl. Richard Quabius, Klopstock und die J u g e n d ; in: Acta Germanica 7 (1972), S. 1 9 - 3 7 .

" Vgl. Beck, a.a.O., S. 73. " Wolfgang Hardtwig, Krise der Universität, studentische R e f o r m b e w e g u n g ( 1 7 5 0 - 1 8 1 9 ) und die Sozialisation der jugendlichen deutschen Bildungsschicht; in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 1 5 5 - 1 7 6 , S. 163.

*79

ren läßt.7s Hier dominiert das englische Gentleman-Ideal und wird Adam Smiths >Wealth of Nations< am frühesten rezipiert, der Philologieprofessor Heyne schließt Voß und Hölty aus seinen Seminaren aus. 74 Die ablehnende Reaktion vieler Professoren und Autoren wie Bertuch gegen die Hainbündler indiziert das >Auseinandertreten der Altersgruppen* (Quabius) und das Bewußtsein von generationsmäßigen Zusammenschlüssen bei Jugendlichen wie bei >PhilisternGelehrtenrepublik< gehören, existiert eine gespannte Distanz der Göttinger zu Klopstock, indem sie wie Herder einerseits den antiabsolutistischen Bardenkult zum Gruppenritual stilisieren, andererseits die Wissenschaftseuphorie der >Deutschen Gelehrtenrepublik< mit ihrem permanenten Innovationspostulat ablehnen. Insofern läßt sich mit den Hainbündlern erstmals im 18. Jahrhundert ein Gegensatz zwischen autonomer Poesie und rationalistischer Wissenschaft feststellen, der die tendenzielle >Dissoziierung< innerhalb der deutschen Gelehrtenrepublik signalisiert.75 Zwar hatte es in der deutschen Gelehrtenrepublik schon manche philosophische und literarische Fehde gegeben. Aber mit dem Göttinger Hain sowie dem Sturm-und-Drang wird der aufgeklärte Konsens über den pragmatischen Nutzen der Dichtung für die gesellschaftliche oder individuelle Glückseligkeit öffentlich sichtbar aufgesprengt, 76 Dichtung wird zum Selbstzweck, zum gemeinschaftlichen, empfindsamen >Erlebnis< evoziert und der >prosaischen< Berufswelt und den gesellschaftlichen Zwängen entgegengesetzt. Programmatisch drücken Goethe in >PrometheusPrüfungen der Vorsehung< nicht von der >geraden Bahn der Tugend< abkommen. Trotz Wielands Abwertung der ästhetischen Form des Romans in seiner Vorrede befindet sich La Roche dort in Ubereinstimmung mit ihm, wo sie als Voraussetzung für die Dauerhaftigkeit von Tugend und Glück eine Reform der >Denkensartangebaut< werden muß, um >Früchte< zu ernten. Diese Auffassung entspricht dem Tugendideal vieler patriotisch-gemeinnütziger Sozietäten. Die Nähe zu ihnen zeigt sich besonders an der neostoizistischen Auffassung der Selbsthilfe, die jedem Schicksal trotzt. Liebe und Übung der Tugend und Wissenschaften, so läßt La Roche Sophies Vater propagieren, geben dem Menschen eine vom Schicksal unabhängige Glückseligkeit und machen ihn durch seine Taten zu einem >moralischen Wohltäter an seinen Nebenmenschen< (40). Sophies unbändiger Lebensmut und ihre selbstlose Hilfe gehen, wie BeckerCantarino betont, weit über das zeitgenössische Frauenideal hinaus. 8 ' Ent89

Barbara Becker-Cantarino, Nachwort; in: La Roche, Sternheim, a.a.O., S. 3 8 1 - 4 1 5 ,

188

gegen der These v o m sozialen Konservatismus< des Romans (Hohendahl) verkörpert Sophie mit ihren Geldspenden, ihrem Lebensplan für eine verarmte Familie, ihrer Einrichtung eines Gesindehauses für arme Mädchen mit Unterstützung ihrer reichen englischen Lady und schließlich mit der Erziehung von Derbys Tochter das selbstbewußte Handeln vieler gemeinnützig-patriotischer Gesellschaften, die sich in den 70er Jahren schwunghaft entwickeln. Die bürgerliche Programmatik einer >Hilfe zur Selbsthilfe< wird zur ausgleichenden Gerechtigkeit dafür, daß die gesellschaftlich dominierenden Schichten, H o f und Adel, den Weg ihrer natürlichen sittlichen Bestimmung< verlassen haben und damit die gesellschaftliche Theodizee gefährden. Innerhalb der Theodizee meint der poetische Charakterbegriff von L a Roche das entbehrungsreiche Finden der anthropologischen Bestimmung des Menschen auf dem verschlungenen Pfad des Individuums, das die Entwicklung seiner Gattung repräsentiert. Wie in Iselins Geschichtsphilosophie stehen den Hofleuten als charakterlosen Figuren< (69), denen es an >Originalität< mangelt, die mutigen Bürger und Bürgerinnen gegenüber. Literatur erhält bei L a Roche die Funktion, das verhaltensethische Ideal der Harmonie von Eigen- und Nächstenliebe und die Praktikabilität gesellschaftlicher Reformen idealtypisch darzustellen, damit sie von den Rezipienten in die Realität umgesetzt werden. Ihr R o m a n enthält eine Ermutigung zum gesellschaftlichen Handeln, wie es Herders Rezeption ausdrückt: D e r Absicht der Verfasserin aber nach, um zu zeigen wie die wohlthätige Seele sich blos durch Activität aus dem erschrecklichsten Fall erhole, ist, glaub' ich, der zweite Theil der schönre [. . .] in diesem Allem ist sie für mich einzig und weit mehr als Ciarisse mit allen ihren herausgewundenen Situationen und Thränen. 9 0

Mit dieser Ermutigungsstrategie wirkt der Roman insbesondere auf die jüngere Dichtergeneration (Goethe, Herder, Lenz) und fördert das selbstbewußte öffentliche Auftreten von Frauen. Mit ihrer zweckorientierten, pragmatischen Ansicht von

Geselligkeit

wird für L a Roche die poetische Geselligkeit des Briefromans zweitrangig. Z w a r lobt Sulzers Rezension noch die Polyperspektivik durch die Fiktion S. 4 i o f . - Bovenschen sieht in diesem Publikumserfolg das Paradigma des empfindsamen Weiblichkeitstypus im 18. Jahrhundert, der durch Wielands Herausgeberschaft zur Identifikation v o n Autorin und Romanprotagonistin beigetragen hat. Vgl. Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a. M. 1979, S. i9off. ,0

Herders Brief an J o h a n n Heinrich Merck v o m Juli 1 7 7 1 ; in: K a r l Wagner (Hrsg.), Briefe an J o h a n n Heinrich Merck von G ö t h e , Herder, Wieland und anderen Zeitgenossen, Darmstadt 1835, Bd. 1, S. 24-30, S. 29. - Vgl. die D o k u m e n t e zur Wirkungsgeschichte im A n h a n g des R o m a n s in der angegebenen Ausgabe, S. 363-380.

189

von mehreren Briefschreibern im Roman. 9 ' Verglichen mit >Werther< wird die Authentizität der Briefe durch das Fehlen von Anrede, Ort und Datum wesentlich eingeschränkt. Wirkung und Charakter ihres Briefromans beruhen auf der Vorbildlichkeit der Hauptfigur, der Briefroman wird zur Biografie, um »das geheiligte Andenken der Tugend und Güte einer Person« (19) darzustellen, der die Leserinnen nach der Gemeinschaftslektüre in Lesegesellschaften nacheifern sollen. Die dortige Geselligkeit und die in den patriotisch-gemeinnützigen Sozietäten wird zum sozialen Ort der gegenseitigen Ermutigung und Ertüchtigung zum gesellschaftlichen Handeln und fördert neue kulturelle Werte wie die empfindsame, selbstlose Wohltätigkeit, die in Henriette Herzens Tugendbund ebenso wie in den Wohltätigkeitsvereinen des 19. Jahrhunderts ihre sozietäre Form findet. Wielands abwertendes Lob von La Roches Roman - wegen seines moralischen Nutzens und als >Frucht der bloßen Natur< könne er einer künstlichen Form< und ästhetischer Regeln entbehren (14) - läßt sich charakterisieren als eine Kritik an der Vorrangstellung der verhaltensethischen vor der ästhetischen Geselligkeit, daran, daß La Roche ihre moralischen Lehren den intendierten Lesern mittels antizipierender Leserlenkung und Selbstentlarvung (Lord Derbys) direkt aufdrängt, anstatt sie diese Konsequenzen durch eine künstlerische Form selbst entdecken zu lassen. Wieland fällt sein Urteil über La Roches Roman und Blanckenburgs Romanpoetik aus der Perspektive einer genauen Kenntnis der Geselligkeitsdebatte und der Entwicklung des vielleicht wichtigsten theoretischen und praktischen Beitrages zur poetischen Geselligkeit. Den Hintergrund dafür bilden seine >verspätete< Rousseau-Rezeption (Tubach)92 in den Jahren 1770-1777, die eigene Romanproduktion (>Der Goldne SpiegelTeutschen Merkur< (1773). Als profundem Kenner Rousseauscher Schriften9® ist ihm mit Iselin, Mendelssohn und Blanckenburg der Versuch gemeinsam, mithilfe von Shaf'' Vgl. Sulzers Rezension in Nicolais >Allgemeiner Deutscher Bibliothek< (1772); in: La Roche, Fräulein von Sternheim, a.a.O., S. 368-371. Frederic C. Tubach, Perfectibilité: der zweite Diskurs Rousseaus und die deutsche Aufklärung; in: Etudes Germaniques ι ; (i960), S. 1 4 4 - 1 5 1 . - Unter dem Obertitel >Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit faßt Wieland fünf Schriften über Rousseau zusammen: K o x k o x und Kikequetzel, eine Mexikanische Geschichte; Betrachtungen über J . J . Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen; Uber die von J . J . Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken nebst einem Traumgespräch mit Prometheus; Uber die Behauptung, daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung schädlich sey; Uber die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts. 9J

Wieland nennt Emile, Nouvelle Héloi'se, Lettre à d'Alembert, Contrat Social und die beiden Diskurse. Vgl. Wieland, Über die von J . J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche, Akademie-Ausgabe, a.a.O., Bd. I/7, S. 392-416, S. 395. - Zur Bedeutung Shaftesburys fur Wieland vgl. Herbert Grudzinski, Shaftesburys Einfluss auf

190

tesbury Rousseaus These der Dissoziation von anthropologischer Bestimmung und geschichtlicher Entwicklung des Menschen zu widerlegen. Wie Mendelssohn kritisiert Wieland in seinen fünf Rousseau-Schriften den Widerspruch Rousseaus, die Isolation des >homme naturel< einerseits als natürlich zu bezeichnen und ihm andererseits einen D r a n g zur Geselligkeit zuzuschreiben. Für die Annahme eines anthropologischen sympathetischen Triebes< sprechen laut Wieland auch die empirischen Beweise in Form von Reiseberichten über den >truppenweisen< Zusammenschluß bei den Wilden. Zwischen Natur- und Gesellschaftszustand kann also kein unüberbrückbarer Widerspruch bestehen, sondern nur eine graduelle Differenz in der Entwicklung des Menschen. In Wielands Geselligkeitsauffassung wird die empfindsame

Sympathie-Lehre durch eine rationalistische Pflichtenethik in der

Tradition von Cicero ergänzt; beide geben die Grundlage für die evolutionäre Entwicklung des Menschengeschlechts und für die Geselligkeit des Individuums zum Nächsten und zur Natur ab. Wie durch eine >süße Gewalt< genötigt, zeige die >empirische ErfahrungAraspes und Panthes< und Shaftesburys >SoliloquyFortschritt< in den ästhetischen Diskurs überführt und die Erkenntnis der Widersprüchlichkeit in eine Theodizee einbindet, innerhalb derer Philosophie und Poesie arbeitsteilige Funktionen erhalten. Während die aufklärerische Philosophie die Seelen >erleuchtetgetreue Gehülfinnen der Philosophie< die komplementäre Aufgabe, die Seelen zu >erwärmentraumähnlichen Täuschungen*, sei es beim »großen HaufenOffenbarung< nicht zu erkennen vermag, sei es bei den Fürsten, die ihre Selbsttäuschung an der Erkenntnis hindert, daß die Opferung ihrer Privilegien zugunsten des »allgemeinen Besten* »ihr eignes höchstes Interesse« i s t . " Aufgabe der Poesie ist also nicht nur, das über die Natur ausgegossene Schöne wieder zu einem idealen »Urbild* zusammenzusetzen, sondern sie soll zur Destruktion der Selbsttäuschungen und Verblendungen beitragen. Die erkenntnistheoretische Funktion der Poesie ist für Wieland unvereinbar mit einem belehrend-moraldidaktischen Verhältnis zwischen Autor und Publikum. Vielmehr soll der Autor den Leser mittels Ironie dazu anregen, die eigenen >Denkensarten< in Zweifel zu ziehen, da jegliche Form von Schwärmerei und Aberglauben die Entwicklung zur vollkommenen Ordnung und Harmonie hemmt. 100 Mit dieser induktiven Methode der Uberzeugung steht Wieland in der Traditionslinie von Montesquieus >De l'Esprit des Lois< und von Shaftesburys Kritik an der (religiösen) Schwärmerei als Hemmnis für die Theodizee. Wieland zufolge sind die Grundübel der Menschheit »die Tyranney des Aberglaubens und willkührlich ausgeübte Staatsgewalt«.' 0 1 Angesichts der psychischen Widersprüche im Menschen (menschliche Natur als >GewebeIrrthumSeelenkrankheit* deutet, zum Anlaß, nach Mitteln für seine Heilung zu suchen, eine ästhetische Denkfigur, die von Goethe als »Schule des Irrtums* in den »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten* fortgeführt wird. Aufgrund seines neuplatonischen WahrheitsbeVgl. den Eintrag »Wieland* in Lennhoff/Posner, Freimaurer-Lexikon, a.a.O., Sp. 1701-1703. " Wieland, Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens, a.a.O., S. 226. lo ° Erharts These von der Destruktion jeglicher Sinnteleologie bei Wieland verkennt die positive Funktion der neuplatonisch geprägten Vorstellung vom »Zweifel* bei Wieland, der auf die Realisierung der Theodizee abzielt. Vgl. Erhart, Entzweiung, a.a.O., S. 242. ""Wieland, Betrachtungen über J . J . Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen (1770); in: Akademie-Ausgabe, Bd. I/7, a.a.O., S. 567-392, S. 390. - Bereits Montesquieu benutzt einen metaphorischen Begriff von Tyrannei: »II y a deux sortes de tyrannie: une réelle, qui consiste dans la violence du gouvernement; et une d'opinion, qui se fait sentir lorsque ceux qui gouvernent établissent des choses qui choquent la manière de penser d'une nation.« Montesquieu, De l'Esprit des Lois; in: ders., Œuvres Complètes, a.a.O., S. 641 (Kap. 19, Abs. 5). - Vgl. zu Shaftesburys Kritik an der Schwärmerei Shaftesbury, Die Moralisten, a.a.O., S. ,3,f. '93

griffs lehnt Wieland das zeitgenössisch vorherrschende Literaturmodell der Leseridentifikation mit einem tugendhaften Protagonisten wie in La Roches Sternheim-Roman ab und bevorzugt stattdessen eine poetische Geselligkeit, die dem langsamen, widersprüchlichen Erkenntnisprozeß des Lesers durch Selbsterfahrung und Selbstdenken am besten entspricht und dem »Weg des sanftesten Unterrichts und eines guten Beispiels« (>Goldner SpiegelGoldnen Spiegels< (1772) sichtbar. Die Mischung aus Fürstenspiegel, Staatsroman und Charakterdarstellung (Jaumann) enthält durch Herausgeber- und mehrfache Übersetzerfiktionen, durch die Erzählgeselligkeit des schlaflosen Schach Gebal mit seiner gelehrten Mätresse Nur-hamal und dem schwärmerischen Philosophen Danischmend und dem erzählten >Geschichtsbuch< des fiktiven Nachbarreiches Scheschian mehrere Erzählebenen, die dem Leser nahelegen, verschiedene Perspektiven zum Inhalt einzunehmen. 102 Der poetische Polyperspektivismus ermöglicht vielfaltige Intentionen. Ironie und Satire sollen den Leser motivieren, Zweifel am Wahrheitsgehalt von Figurenaussagen zu entwickeln und über die vertretenen Theorien nachzudenken, bevor der »gemeine Leser« »eine Anwendung [i. e. der Ideen des Buches] auf sein eigen Vaterland« macht (734). Indem die Aussagen der Figuren mit ihren Verhaltensweisen oder mit der Realität konfrontiert werden, werden ihre Irrtümer und Schwärmereien entlarvt, so daß eine unmittelbare Identifikation des Lesers mit einem >Helden< verhindert wird: Der wankelmütige, heuchlerische, absolute Herrscher Gebal wird als angeblicher Wohltäter seines ihm unbekannten Volkes bloßgestellt, und Danischmends Utopien werden am Metermaß der Realität vermessen. Wenn im fiktiven Manuskript des >Geschichtsbuchs< plötzlich eine angebliche >Lücke< über die Frage der Religion auftaucht (118), wird an die >Imagination< des Lesers appelliert, der durch sein Ausfüllen der >Lücke< zum Mitautor wird. Mit den Erzählintentionen, dessen Herausgeber- und Ubersetzerfiktionen teilweise durch Schnabels > Insel Felsenburg< und durch die Moralischen 102

Christoph Martin Wieland, Der goldne Spiegel (E: 1772). Zitiert wird nach der leicht zugänglichen historisch-kritischen Ausgabe von Herbert Jaumann: Christoph Martin Wieland, Der goldne Spiegel und andere politische Dichtungen, München (1979), S. 5-329. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Quelle. — Zur Abgrenzung Wielands von bisherigen Gattungskonventionen des Fürstenspiegels (u. a. Fénelons >TelemachRetter< (Tifan) mündet, der in sich Geburts-, Tugend- und Seelenadel vereinigt.' 0 6 Innerhalb der geschichtlichen Dynamik ist das qualitativ Neuartige seines Romans die Transformation der Utopie in eine Uchronie: Beschrieben die philosophischen und literarischen Utopien bisher einen idealen Gegenentwurf innerhalb des Raumes, der wie in Schnabels >Insel Felsenburg< nur denkbar war, indem die Ausweitung oder Übertragung dieser Robinsonade in die reale Welt bis Mitte des 18. Jahrhunderts als irreal angesehen wurde, ,0)

Schneiders These, der Inhalt der politischen Utopie im >Goldnen Spiegel· sei gegenüber der poetischen F o r m zweitrangig, wird der Tatsache nicht gerecht, daß Wieland mehrere intendierte Adressaten hat. Vgl. Helmut J . Schneider, Staatsroman und Fürstenspiegel; in: Glaser, Deutsche Literatur - Eine Sozialgeschichte, a.a.O., Bd. 4, S. 1 7 0 - 1 8 4 , S. 182.

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Wieland droht den lasterhaften Regenten, unter denen Mätressen- und Günstlingswirtschaft mit katastrophalen A u s w i r k u n g e n für Nation und Bevölkerung herrschen, indirekt mit geschichtlichem >Vergessennamenlosen K ö n i g e n macht (39).

" " Dies ist das Resultat von Wielands fünfter Rousseau-Schrift >Uber die vorgebliche A b n a h m e des menschlichen Geschlechts< (1777); in: ders., A A I/7, S. 438-457. '°6 Daran zeigt sich der enge gedankliche Zusammenhang des Romans mit Wielands Rousseau-Schriften, denn dieses Staatsideal entwickelt er bereits in seinen B e trachtungen über J . J . Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschern (1770).

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so verwirft Wieland in seinem Roman diese rousseauistisch geprägte Form von Utopie als >i. Talutopie< (Jaumann), indem sie als ungefährliche >Schäferwelt< gedeutet wird. Demgegenüber entwickelt die reflektierende Diskussion von Gebal und Danischmend über den märchenhaften Aufstieg des idealen Monarchen Tifans, durch den Philosophen Dschengis in einer Harmonie von Natur und Tugend in einem eingeschlossenen Tal aufgezogen, eine neue Dimension der Gegenwelt. Denn die Erziehungsutopie verwandelt sich in der fiktiven Geschichte Scheschians in Wirklichkeit, indem Tifan nach seiner Wahl durch das zur Nation versammelte Volk (238) als tugendhafter Monarch regiert, der sich wie Friedrich II. als Diener und Erfüller des für alle gültigen >Buches der Pflichten und Rechte< (287) begreift und grundlegende Reformen durchführt. In der Diskussion kritisiert Gebal die Erzählung, weil sie ein >Märchen< sei - Danischmend entgegnet ihm zweideutig unter ironischer Anspielung auf Rousseaus Definition des >état de natureo Tifan ist kein Geschöpf der Phantasie; es liegt dem ganzen Menschengeschlechte daran, daß er keines sei. Entweder er ist schon gewesen, oder, wenn er (wie ich denke) nicht unter den itzt Lebenden ist, wird er ganz gewiß künftig einmal sein.'07

Gegenüber dem bisherigen Nachahmungspostulat realer Geschichte in historischen Romanen bei gleichzeitiger Verdammung von literarischen Utopien als irreal, atheistisch und unpoetisch (Leibniz, Zedier)108 erhält die literarische Utopie bei Wieland die neue Dimension, andersartige gesellschaftliche Zustände zu antizipieren. Durch die Transformation der Utopie in eine Uchronie (Koselleck) wird die bisher vollkommen irreale Utopie in die wahrscheinliche Welt hereingeholt; sie in der Zukunft möglich zu machen, hängt vom Willen und Handeln der Menschen, von ihrem »Glauben an die innere Realität«10' der literarischen Fiktion ab. Poesie sammelt nicht nur die 107

,c8

105

Wieland, Goldner Spiegel, a.a.O., S. 254. - Wieland verkehrt in seiner Textmontage die temporale Struktur von Rousseaus Definition des >état de nature< bei gleichzeitiger Umkehrung der inhaltlichen Aussage vom >probablement jamais< zu einer Glaubensgewißheit. Rousseau definiert den Begriff >Etat de Nature», »qui n'existe plus, qui n'a peut-être point existé, qui probablement n'existera jamais«. Rousseau, 2. Discours, a.a.O., p. 123. Die Ausgrenzung von Utopien aus der rationalistischen Theodizee wie aus der anerkannten Literatur bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts anhand des poetologischen Möglichkeitsbegriffes belegt Hans-Joachim Mähl, Die Republik des Diogenes. Utopische Fiktion und Fiktionsironie am Beispiel Wielands; in: Wilhelm Voßkamp, Utopieforschung, a.a.O., Bd. 3, S. 50-85, bes. S. 56f. Seiner Kritik an der Transformation der Utopie in die Uchronie (Koselleck) wird hier nicht gefolgt. Noch 1791 begründet Wieland den Publikumserfolg seines Romans damit, daß die Leser einen >Glauben an die innere Realität» des Romans gehabt hätten, »daß die in diesem Buche vorkommende, auf Humanität und Moral gegründete Staatskunst

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geschichtlich verstreuten Teile der Schönheit zu einem >Urbild< aus historischer Vorzeit, sondern sie kann das ideale Urbild auch in die Z u k u n f t vorverlegen, indem die poetische Geselligkeit die Reflexion der kompetenten Leser über den Möglichkeitsstatus der erdichteten, zukünftigen Welt herausfordert. Damit überwindet er nicht nur das eindimensionale Rezeptionsmodell zeitgenössischer Lesegesellschaften, deren Utilitarismus von der beispielhaften Vergangenheit als Modell für die Gestaltung der Gegenwart ausgeht. Wielands Geselligkeitskonzept dagegen ermöglicht es dem Leser, zum Mitautor eines neuen Textes und zum Mitgestalter einer zukünftigen Welt zu werden. Trotz ihrer scheinbar sekundären Funktion wird Literatur durch das Geselligkeitskonzept zu einer anschaulicheren und überzeugenderen Art zu philosophieren. Mit dieser Position trägt er zum Paradigmawechsel von der Philosophie zur Literatur und Ästhetik der 90er Jahre bei. Seine poetische Geselligkeit steht allerdings im scharfen literarischen G e gensatz zum zeitgenössischen Patriotismus, zum >Bardenkult< Klopstocks und zum Göttinger Hain. D e r G r u n d dafür ist weniger politischer, als vielmehr erkenntnisphilosophischer und ästhetischer Natur. A u s Wielands Perspektive verhindert die schwärmerische >Vaterlandsliebe< der Barden mit ihrer (nationalen) Einseitigkeit die gesellige Polyperspektivik: D e r Fortschritt zur Wahrheit, zur vollkommenen Ordnung und Schönheit läßt sich weder über religiöse noch über säkulare D o g m e n verkünden, sondern ergibt sich aus den Teilwahrheiten verschiedener, kosmopolitischer Perspektiven.

des Philosophen Danischmend, und der Scheschianische K ö n i g T i f a n mit seiner neuen Gesetzgebung und unerhörten Staatsverwaltung - als wachende Träume eines philosophischen Dichters oder dichterischen Philosophen - nicht ohne Vergnügen, aber ungefähr mit eben so viel Glauben an die innere Realität derselben, als an irgend ein Feenmährchen der G r ä f i n Daunoy, in Teutschland ziemlich allgemein gelesen worden war.« W.[ieland], E r k l ä r u n g des Herausgebers über die im 6ten Monatsstück des T . Merkurs 1791 auf der lezten Seite befindl. Note (Neuer Teutscher Merkur; Okt. 1 7 9 1 , Bd. }, S. 1 1 5 - 1 4 9 ) . x

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VI. Krise und Neuorientierung von geselligem Verhalten im Zeichen von deutscher Spätaufklärung und Französischer Revolution

Von Habermas (1962) bis Hardtwig (1990) hält sich in der historischen Forschung beharrlich die Ansicht von der >Entpolitisierung< der zahlreichen Sozietäten und der in ihnen gepflegten Geselligkeit ab 1790. In der Literaturwissenschaft erhält sie Unterstützung durch Jauss' These von der ästhetischen Wende nach 178g< und vom >Gegensatz zwischen dem Politischen und Ästhetischen^ die er im Rahmen der Debatte über die Epochenschwelle vertritt. 1 Beide Positionen werden weder dem tiefen Bedeutungswandel des Politik-Begriffes 2 im Zusammenhang mit der Französischen Revolution gerecht, noch halten sie einer eingehenden Prüfung der deutschen Sozietätsbewegung und ihrer Geselligkeitsauffassungen stand. Wie unter der Oberfläche einer scheinbar festgefugten feudalen Ständeordnung neue Bevölkerungsschichten den moralischen >Innenraum< verlassen, die Initiative ergreifen und ihrer Ausgrenzung aus der Sphäre höfischer Kabinettspolitik bewußt entgegentreten, zeigt bereits die wirkungsmächtige Subskriptionsbewegung der 70er Jahre. Gegen eine Abnahme politischer Aktivität sprechen die große Zunahme von Leserzuschriften in den >teutschen< Zeitschriften, die breite Palette deutscher und ausländischer Zeitschriften zur Ausleihe in den zahllosen Lesegesellschaften und die sprichwörtliche Angst vieler Fürsten, »in den Schlözer zu kommen« (gemeint sind Schlözers >Stats-Anzeigen< 1782-93), ein Widerhall auf die öffentliche Wirkung, die die >Cahiers de Doléance< für den Beginn der Französischen Revolution gespielt haben. Traditionelle und innovative Elemente in den Geselligkeitsauffassungen können besser erkannt werden, wenn man von einem weiten Staats- und Politik-Begriff ausgeht. 1

Hans-Robert Jauss, Kunst als Anti-Natur. Zur ästhetischen Wende nach 1789; in: Henning Krauß (Hrsg.), Folgen der Französischen Revolution, Frankfurt a. M. 198g, S. 162-195, bes. S. lójf. 2 Vgl. grundlegend Art. >Politik< (Volker Sellin); in: Brunner u. a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 789-874, bes. S. 84;. - Für einen weiten Politik-Begriff setzt sich auch Möller ein: »Ein angemessener Begriff des Politischen im 18. Jahrhundert muß sowohl den Anspruch der Aufklärer, die Grundsätze der Vernunft öffentlich auf die Gegenstände der Gesetzgebung und des Regierungshandelns anzuwenden, als auch die politische Funktionalisierung der >Gelehrtenrepublik< und ihrer öffentlichen Diskussion berücksichtigen.« (Horst Möller, Vernunft und Kritik, a.a.O., S. 301.) 198

Auch wenn die Französische Revolution nicht als Epochenschwelle für den deutschen Geselligkeitsdiskurs angesehen werden kann, so wirkt sie in doppelter Weise als Katalysator. Zum einen durch den Modernisierungsdruck, den sie auf Deutschland ausübt. Zum zweiten durch die Transformation wichtiger Geselligkeitsformen in Frankreich, die auf die Diskussion in anderen Ländern ausstrahlt. Die Revolution radikalisiert traditionelle Konzepte des Gesellschaftaufbaus und der Gruppenformen und wandelt sie zu modernen Institutionen um: die Ständeversammlung in die Nationalversammlung, die volkstümlich-archaische und die monarchisch-repräsentative Festkultur in die Revolutionsfeste, die Clubs und Salons in die politische Parteibildung (ζ. B. Jakobiner, Girondisten). In vielerlei Hinsicht bedeuten diese Veränderungen einen Bruch. Im öffentlich-gesellschaftlichen Bereich wird das vertikal-hierarchische Prinzip der Ständeordnung durch ein potentiell horizontal-demokratisches Prinzip freier Assoziationsbildung ersetzt. Im Kontext der Amerikanischen Revolution und der Menschenrechtserklärung etabliert sich in Frankreich erstmals eine Republik in einem großen Flächenstaat und durchbricht das traditionelle Paradigma in der aristotelischen Staatstheorie von der großflächigen Monarchie und der kleinstaatlichen Republik. Für den >citoyen< greift die Revolution durch die Festlegung neuer Maße und Gewichte, durch den Dekaden-Kalender, durch neue Verwaltungsstrukturen und zentrale Marktorte sowie durch die Abschaffung des Heiratsverbotes in der Advents- und Fastenzeit tief in das Alltagsleben ein, so daß die neuere französische Revolutionsforschung von einer umfassenden >Kulturrevolution< (Vovelle, François) spricht, die sich nicht auf die politische >Verfassungsrevolution< verkürzen läßt. Sieht die französische Historiographie eine wesentliche Bedeutung der Revolution mittlerweile gerade in grundlegenden Veränderungen von mentalen Strukturen und Verhaltensweisen, so betont die neuere deutsche Geschichtsschreibung die Funktion der Revolution als >Modernisierungsschub< für die deutsche Entwicklung. Verglichen mit einer möglichen Revolution erscheint Wehler zufolge im historischen Längsschnitt die Reformpolitik für den Umbau der Agrar- zur Industriegesellschaft als der >Normalfalk.' Die Antinomie von Reform und Revolution, so Berding/François/Ullmann, hat bisher den Blick der Forschung für »die komplementären Beziehungen zwischen revolutionärem und reformerischem Wandel«4 verstellt, sowohl für die Reformen innerhalb des Revolutionsdezenniums in

' Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, München 1987, Bd. 1, S. 5 39f. 4 Helmut Berding/Etienne Franpois/Hans-Peter Ulimann, Vorwort; in: dies. (Hrsg.), Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution, Frankfurt a. M. 1989, S. 7. 199

Frankreich wie für die revolutionären Aspekte der >Reformen von oben< in Deutschland, wie sie Wehler herausarbeitet.' Gegenüber der Französischen Revolution als idealisiertem Maßstab für die deutsche Entwicklung 6 und den darauf bezogenen Thesen von der >Entpolitisierung< und der ästhetischen Wende< nach 1789 sind als eigenständige Rahmenbedingungen deutscher Gesellschafts- und Staatstheorien um 1790 drei wesentliche Aspekte zu berücksichtigen. Mit dem Tod von Friedrich II. (1786), verstärkt durch den Tod des Reformkaisers Joseph II., setzt eine Krise des aufgeklärten Absolutismus in Preußen mit Ausstrahlung auf andere deutsche Staaten ein, die sich in den Erfahrungen der Zeitgenossen als Gefahr eines eklatanten Rückschritts der Aufklärung darstellt. Das Religions- und Zensuredikt des preußischen Staatsministers Woellner (1788) wird als Angriff auf grundlegende Bedingungen der Aufklärung wie Meinungs- und Pressefreiheit (Wieland) und Bildung freier Assoziationen gedeutet, weil es mit dem Verbot von Geheim- und Lesegesellschaften und der Verfolgung ihrer Mitglieder ab 1785 verbunden ist, nachdem sich die Freimaurerei durch ihren ersten Großmeister Friedrich II. in Preußen einer ungehinderten Ausdehnung erfreuen durfte. 7 Dieser Bedrohung durch äußere, staatliche Maßnahmen entspricht eine Krise der Theoriebildung von innen, signifikant in der bekannten Aufklärungsdebatte ab 1784, hat doch die Aufklärung vielfach nicht die gesellschaftlichen Schichten und Kreise erreicht, deren Versittlichung und Bildung ihr erklärtes Ziel gewesen ist. Der Prozeß der Aufklärung droht, wie nicht nur Herder feststellt, in Erstarrung überzugehen. Innerhalb der Aufklärung setzt ein Methoden- und Richtungsstreit ein, der sich zunächst als Popularisierung (Berlinismus) und Radikalisierung (Illuminatismus) äußert, um von der Frühromantik in neuen, synthetischen Konzeptionen wie ζ. B. einer fiktiven Einheit von K ö nig und Volk (Novalis, >Glauben und LiebeÄltestes SystemprogrammEmpedoklesZuhörer aller Stände u n d alles A l t e r s o » O f f i z i e r e , G e h e i m e R ä t h e , K a u f l e u t e , K ü n s t l e r , Geistliche, o b e r e S c h u l m ä n n e r , G e s a n d t e n , G r a f e n , R e n teniere, junge J u d e n , selbst Minister sitzen durcheinander; und einige V o r l e s u n g e n w e r d e n auch v o n F r a u e n z i m m e r n besucht. [. . .] In solcher G e s e l l s c h a f t , die so g e m i s c h t hier z u s a m m e n k ö m m t , wie zur G o t t e s v e r e h r u n g in einer K i r c h e , hat jeder A c h t u n g v o r dem andern. D e r Stolz der S t ä n d e schleift sich durch s o ein gemeinschaftliches B a n d etwas g e g e n e i n a n d e r ab.« B M 1784, 16. B r i e f , S. 4 6 9 - 4 7 5 , S. 474Í. " » E s giebt u n g e m e i n gescheute L e u t e unter B ü r g e r n , H a n d w e r k e r n und Soldaten, die scharf u n d richtig nachdenken, und sich sehr treffend a u s d r ü k k e n . E s ist eine L u s t , mit diesen L e u t e n zu sprechen, nicht bloß über ihr G e w e r b e , sondern auch über M o r a l , R e l i g i o n und Politik. D a s macht der U m g a n g mit allerlei M e n s c h e n , der g u t e M u t h und die hier herrschende Freiheit.« ( B M , 8. B r i e f , a.a.O., 1784, S. 4 9 - 5 2 , S. 5of.)

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gen für eine Popularisierung von vorurteilsfreiem Denken und Wissen in allen Bevölkerungsschichten. Damit kann Geselligkeit zum Synonym für einen weit gefaßten Bildungsbegriff werden, der naturwissenschaftliche, literarische, künstlerische und musische Aspekte umfaßt und diese Kenntnisse und Fähigkeiten mit Gewandtheit und Lebenserfahrung verknüpft. Knigge zählt deshalb in seiner Umgangslehre in Anlehnung an Castigliones Auffassung vom Hofmann und an den französischen Begriff der >arts d'agréments< Musik, Poesie, Schauspielkunst und Malerei zu den >geselligen Künsten^ Berücksichtigt man die lange Tradition der ursprünglich höfischen Tugenden Geschicklichkeit und Virtuosität, wird die Heftigkeit der Diskussion über das Tanzen verständlich, die auf eine exemplarische Aufhebung aller Rangunterschiede durch das zwanglose Vergnügen und auf eine Befreiung von Bevormundung durch weltliche und kirchliche Obrigkeiten zielt. Vor dem Hintergrund der Diskussion über das religiöse Verdikt gegen das unsittliche Tanzen, die auch in der deutschen Literatur geführt wird (Grimmelshausens >Simplicius SimplicissimusTeutsche Winter-NächteFräulein von SternheimWertherArdinghelloErneuerte Castellische VerordnungLustbarkeiten< trifft. A n Sonn- und Festtagen sowie während der Fasten- und Adventszeit bleibt das Tanzen wegen des »ungesitteten Jauchzen und Schreyen« verboten. Spiele einschließlich der heftig umstrittenen Lotterie sind nur erlaubt, »wenn es ohne Zeit und Berufsversäumniß, bloß zur unschuldigen Ergötzlichkeit, mithin nicht aus Gewinnsucht geschiehet, noch zur Leidenschaft ausartet«.'7 Während Knigge mit seiner 16

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Kurfürst Maximilian Friedrich, Kurkölnische Verordnung, die Aufhebung der, das Tanzen hiebevor verbietenden Verordnung, betreffend; in: Stats-Anzeigen, 1782, ι. Bd., S. 240—41. C. F. Carl Fürst zu Hohenlohe, Erneuerte Castellische Verordnung, wie es bey

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Warnung vor dem Tanzen als einem Rauschzustand, »in welchem die G e müter die Verstellung vergessen« und »die Vernunft nicht mehr Meister der Sinnlichkeit« ist,' 8 noch einmal traditionelle Argumente vorträgt, setzen sich in der öffentlichen Debatte über das Tanzen in Zeitschriften und literarischen Werken andere Ansichten durch. Die A u f f a s s u n g vom unschuldigen Tanzvergnügen bei Kindern wird unterstützt von der Position, im Tanz ein Zeichen für Natürlichkeit und Harmonie des Körperausdrucks zu sehen (Lotte in Goethes >WertherErnst und Falk< zunächst Gespräche >für Freymäuren, so wenden sie sich mit der Durchbrechung des Geheimnisses auch an Nicht-Eingeweihte, über die konstitutiven >Übel< des Staats nachzudenken und sie zu überwinden, indem sie das gesellige Öffentlichkeitsmodell verwirklichen helfen. Lessings egalitäres Verhaltens- und Sozietätsideal gewinnt am Ende des Gesprächs Konturen, wenn der Name >Freimaurer< etymologisch aus dem deutschen Wort >masony< hergeleitet werden soll. Angeblich wurde die g e schlossene, vertraute Tischgesellschaft zum Muster für die englische Freimaurerei. Deshalb erhält diese >deutsche Sitte«, »die wichtigsten Dinge am Tisch zu überlegen« (406), innerhalb der europäischen Defizienz-Debatte Vorbildcharakter. D e r >runde TischLiteraturbriefen< entwickelt: »Alle Wissenschaften reichen sich einander Grundsätze dar, und müssen entweder zugleich, oder eine jede mehr als einmal getrieben werden.« 5 ' Diesen Wechselbezug der Wissenschaften untereinander betont Falk am Ende des 5. Gesprächs. Mit Bezug auf die >Societät der Wissenschaften« von '' Lessing, 10. Literaturbrief, a.a.O., S. 23.

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Wren, dem Begründer der englischen Freimaurerei, tritt er für eine spannungsreiche Dialektik zwischen bürgerlichem Leben* und >speculativischen Wahrheiten* ein und präfiguriert die Idee der >Entgrenzung< alles Vordergründigen, Scheinhaften und geschichtlich Zufalligen in der Sympoesie und Symphilosophie der Frühromantik. Insgesamt ergibt sich das Bild einer Geselligkeitsreform in konzentrischen Kreisen, das sich entgegen Michelsens These keineswegs auf die Freundschaft beschränkt: Ausgehend vom vertrauten Gespräch zwischen Freunden weitet sich das vorurteilsfreie und duldsame Miteinander und Denken über die Form der >runden Tafel< schließlich bis zur herrschaftsfreien Gesamtgesellschaft aus. Im Kontrast dazu entwickeln einige Radikalaufklärer die Auffassung von der Reformulierung der Freimaurerei als Institution moralischer Erziehung. Rückblickend auf den Wilhelmsbader Freimaurer-Kongreß (1782) veröffentlicht Schlözer in den >Stats-Anzeigen< den Artikel >Etwas über geheime Verbindungen* eines anonymen Autors, der angesichts der Vermischung von politischen, religiösen und moralischen Absichten in der Freimaurerei ihre Konzentration auf die ursprüngliche moralische Erziehung einfordert. 32 Programmatischen Charakter erhält der Artikel dadurch, daß der Verfasser eine Reformulierung des (moralischen) Zwecks von Geheimgesellschaften aus den Mängeln der großen >bürgerlichen< Gesellschaft vornimmt, eine neubegründete Geheimgesellschaft stellt für ihn ein Bindeglied zwischen Individuum und Gesamtgesellschaft dar. E r lobt die Freimaurerei wegen der unverkennbaren Folgen ihrer Wohltätigkeit und »des von ihr begünstigten Triebes zur Geselligkeit«, die »die Einseitigkeit im Denken, die Intoleranz in speculativen Meinungen, und Verachtung der verschiedenen Stände« beschränkt und die Bekanntschaft mit Fremden durch den gastfreundschaftlichen >WechselBrief der Geselligkeit* befördert hat. Entscheidend für den neuen, nach außen gerichteten Zweck der Freimaurerei, die sich bisher auf den >moralischen Innenraum* beschränkte, ist die Funktionsbestimmung von Geheimgesellschaften. Entsprechend der naturrechtlichen Auffassung des Verfassers ist den Menschen ein anthropologischer Trieb zur Geselligkeit eigen, die sich am besten in kleinen Zirkeln verwirklichen lasse. Denn je größer der gesamtgesellschaftliche Zusammenschluß wird, desto lockerer wird zwischen den Menschen das Band von gesellschaftlichen Pflichten. Diesem Mangel an Verbindlichkeit wirken Geheimgesellschaften entgegen, indem sie den Menschen bei seiner Neugier packen und ihn für eine neue Selbstverpflichtung zu gesellschaftlichen Tugenden gewinnen. Als Reaktion J2

Anonym, Etwas über geheime Verbindungen; in: Stats-Anzeigen, a.a.O.; 8 (1785), Heft 31, S. 257-293. - Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf diesen Artikel, soweit nicht andere Quellen genannt werden. Die eigenwillige Schreibweise seiner Zeitschrift wird beibehalten, um Schlözers Absicht einer orthographischen Reform nicht zu verleugnen.

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auf die aufklärerische Kritik am Arkanum transformiert der Verfasser das Geheimnis in eine Motivations- und Reizlehre: Durch das Geheime bekommen solche Verbindungen einen sehr anziehenden Reiz. [. . .] Die BewegungsGründe zum Handeln können aber dem Menschen nicht nahe genug seyn: nur die besondere Pflicht macht oft die meisten thätig, in Fällen, w o die allgemeine wirkungslos seyn würde. (28;)

A u s diesem G r u n d verteidigt er Initiation und >ReceptionsRitual< in G e heimgesellschaften, »weil durch sie die Menschen zu sanften, erhabenen Gefühlen gestimmt werden, sie durch diese neuen Mut, neue Stärke, edel zu handeln, und ihre beschwerlichen Pflichten zu erfüllen, erlangen« (285/86). Die Geselligkeit der Geheimgesellschaften wird für pädagogische Zwecke funktionalisiert und der hierarchischen Ordnung im absolutistischen Staat untergeordnet. D e r >kleine Zirkel< der Geheimgesellschaft wird zum Bindeglied zwischen Bürger und Gesamtgesellschaft: Wo das Individuum die gesellschaftlichen Pflichten nur noch ungenügend wahrnimmt, übernimmt es die Geheimgesellschaft, die Bürger zur Erneuerung ihrer gesellschaftlichen Pflichten zu gewinnen und damit das Auseinanderfallen des gesellschaftlichen Bandes einzudämmen. Mit dieser Argumentation befindet sich der anonyme Autor in Übereinstimmung mit der Apologie des Illuminatenordens durch seinen Gründer A d a m Weishaupt, Aufklärung und Geselligkeit als Synonyme anzusehen. Das gemeinsame Handeln der Mitglieder fuhrt zur moralischen Erneuerung der Gesellschaft, nachdem im Innern der >Ubungsschule der Tugend< die Mitglieder

durch

Selbstkontrolle,

gegenseitige

Gewissenserforschung,

Schuldbekenntnis und Besserungsgelöbnis einem moralischen Rigorismus unterzogen worden sind: Wem es an Behutsamkeit in seinem Betragen mangelt, der lerne sie hier in dieser Schule, wo er unter so vielen strengen Richtern und Aufsehern nichts unbemerkt unternehmen kann."

Der Staat ist aufgrund der Trennungen der Menschen durch Religion, Nation und Ständeordnung weder in der Lage, die Einhaltung einer allgemeinverbindlichen Pflichtenethik noch die Vervollkommnung des Individuums

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A d a m Weishaupt, Pythagoras oder Betrachtungen über die geheime Welt= und Regierungs=Kunst, Frankfurt/Leipzig 1790, S. 4 1 0 . - Z u m Illuminatenorden vgl. Norbert Schindler, Aufklärung und Geheimnis im Illuminatenorden; in: Peter Christian Ludz (Hrsg.), Geheime Gesellschaften (Wolfenbüttler Studien zur A u f klärung V / i ) , Heidelberg 1979, S. 2 0 3 - 2 3 0 . - Hans-Jürgen Schings, Die Uluminaten in Stuttgart. A u c h ein Beitrag zur Geschichte des jungen Schiller; in: D V j S 1 ( 1 9 9 2 ) , S. 4 8 - 8 7 . - W. Daniel Wilson, Z u r Politik und Sozialstruktur des Illuminatenordens. Anläßlich einer Neuerscheinung von Hermann Schüttler; in: I A S L 19/1 (1994), S. 1 4 1 - 1 7 5 -

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zu garantieren. Anstelle des Staates übernehmen deshalb die Sozietäten die Aufgabe der moralischen Erziehung: Geheime Verbindungen sind noch überdies das kräftigste Mittel, den U m g a n g und die Gesellschaft vernünftiger und für die Tugend unschädlicher zu machen. Jeder Mensch wird, was er ist, durch den U m g a n g und die Gesellschaft, durch die B e g r i f f e , welche hier in U m l a u f sind, durch die Muster, welche hier vorgestellt werden [. . .] (434).

Von David Hume übernimmt er eine sensualistische Reiztheorie, die die menschlichen Leidenschaften nicht mehr bekämpft, sondern für die Vernunft nutzen will. 34 E r empfiehlt deshalb den Regierungen, anstelle von Verboten sich des Hangs der Bevölkerung nach geselligen Sozietäten zu bedienen, »um bei ihren Untergebenen den Reiz zur Ausübung bürgerlicher Pflichten zu verstärken« (27). Noch weit nach dem Verbot der Illuminaten verfolgt die Bonner Lesegesellschaft diese Ziele, um »gemeinnützliche Kenntnisse jeder Art unter jede Klasse des Volkes« zu bringen. Gemäß ihrem Motto >Die Geselligkeit der Glieder ist die Seele einer jeden Gesellschaft will diese Sozietät durch »eigene, immer wieder dringende Fortschritte auf dem Wege des Lichts, durch wechselseitige Beihülfe mit vereinten Kräften das Gute bewirken«. 35 Die zitierten Positionen markieren eine grundsätzliche Neubestimmung im Selbstverständnis einiger Sozietäten. Aufklärerische Sozietäten, zuerst eine Selbstorganisation tugendhafter Individuen zwecks moralischer Reform und allgemeiner Glückseligkeit, werden zum idealen Gegenbild für einen defizitären Staat, sie antizipieren und praktizieren in ihrem >Innenraum< neue Verhaltensmuster. Ihr Mikrokosmos wird zum gesellschaftlichen Modell, indem sie anstelle des Staates das geschichtliche Mangelwesen Mensch erziehen und an ihren moralischen Werten auch das Handeln des Staates im Außenraum messen. Der Staat wird danach beurteilt, inwieweit er die moralische Vervollkommnung des Individuums fördert oder hemmt. Vergli>4 D i e >bisherigen Theorien< »scheinen mir ihre Forderungen darinn zu übertreiben, daß sie gegen den ganzen G a n g des menschlichen Herzens, durch einen Sprung auf einmal fodern, was nur stuffenweis geschehen kann. [. . .] Die Leidenschaft selbst muß benuzt werden, um der Vernunft die Oberherrschaft zu verschaffen.« (262) — D a v i d H u m e hatte 1742 die These entwickelt, man müsse v o m E g o i s m u s der Menschen ausgehen, wolle man sie für das öffentliche Wohl gewinnen: »[. . .] every man ought to be supposed a knave, and to have no other end, in all his actions, than private interest. B y this interest we must govern him, and, by means of it, make him, notwithstanding his insatiable avarice and ambition, co-operate to public good.« Zitiert nach Sellin, Politik, a.a.O., S. 834. " M a x Braubach, E i n publizistischer Plan der Bonner Lesegesellschaft aus dem Jahre 1789. E i n Beitrag zu den A n f ä n g e n politischer Meinungsbildung (E: 1954); in: ders., Diplomatie und geistiges Leben im 17. und 18. Jahrhundert, B o n n 1969, S. 764-782. 216

chen mit der absolutistischen Staatstheorie geht mit der Ausweitung des Geltungsbereiches der Moral v o m zwischenmenschlichen U m g a n g auf den staatlichen Bereich eine folgenschwere Umkehrung im Verhältnis von Staat und Individuum einher, indem der Staat aus der Perspektive des Individuums einen instrumentalen Charakter für Bildung und Glückseligkeit des einzelnen erhält. D e n Wandel zu einer instrumentalen Staatsauffassung und zu einer anti-institutionellen Geselligkeit befördert maßgeblich Sulzers M o ralphilosophie, die Lessings Überordnung der individuellen Glückseligkeit über den Staat genauso prägt wie Humboldts liberale Staatsauffassung in den 90er Jahren. In strikter Opposition zur aristotelischen A u f f a s s u n g v o m >zoon politikón< und v o m Staat behandelt Sulzers Theorie der menschlichen Pflichten den Menschen »in dem bloßen Stand der Natur, ohne alle zufallige und bürgerliche Verbindungen« und faßt ihn »als ein zur Glückseligkeit bestimmtes Wesen« auf. 3 6 Die A b w e n d u n g von der normativen Pflichtenethik der Frühaufklärung, die Trennung 2wischen Religion und Kirche innerhalb des Pietismus und die von der deutschen Freimaurerei geprägte Gesellschaftsauffassung, Staat und Regierungsform seien nur eine >Hülle< für den wahren, tugendhaften K e r n der Menschheit, mithin (historisch) relativ 57 , tragen nicht nur zum Anti-Institutionalismus der frühromantischen Geselligkeit bei. Diese Denkweise kann auch als eine der wesentlichen Ursachen dafür angesehen werden, warum es in Deutschland zu keiner politischen Revolution gekommen ist und warum eine moralisch-kulturelle Revolution einer politischen übergeordnet wurde. Die vermeintliche >Entpolitisierung< erweist sich als Politisierung von Moral und Kultur und beantwortet die Krise in der spätaufklärerischen Gesellschaft auf eine spezifisch deutsche Weise.

3. Die Ambivalenz spätaufklärerischer Umgangslehren: Knigges >Uber den Umgang mit Menschen< (1788/90) Angesichts der Verflachung, die das Werk des ehemaligen Freimaurers und Illuminaten K n i g g e im 19. Jahrhundert bis in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts durch seine bruchstückhafte Rezeption als Anstandskompendium und >Benimmbuch< erfahren hat, ist die Schärfe der Zeitkritik bei gleichzeitiger Widersprüchlichkeit der Argumentation sowie der Verhaltens,6

11

J o h a n n G e o r g Sulzer, Kurzer B e g r i f f aller Wissenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit, worin jeder nach seinem Inhalt, Nuzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird (E: 1745), 2., ganz veränderte und sehr vermehrte Auflage, Leipzig 1759, § 219, S. 1 7 1 . Vgl. dazu Koselleck, Kritik und Krise, a.a.O., S. n i .

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ratschlage in dieser >Kunstlehre< des Umgangs heute kaum noch nachvollziehbar. Daß der Autor in Deutschland wie seinerzeit della Casa mit dem >Galateo< in Italien schnell zum Gattungsbegriff geworden ist, verdankt das Buch sicherlich nicht seinem Verbot, sondern seiner spezifischen Stellung in der langen Tradition von Texten über Tischsitten, Komplimente, Konversationslehren und Verhaltensmaßregeln.38 Die Krise des verhaltensethischen Geselligkeitskonzepts zeigt sich bei Knigge in drei Aspekten: im Vollkommenheitstyp, im Aufbau seiner neuartigen Umgangslehre und in ihrer Stellung in der praktischen Moralphilosophie. Verglichen mit der thematischen und publizistischen Aufsplitterung der Verhaltensethik in zahllose Artikel der >Moralischen Wochenschriften^ in Romane, Lebens- und Reisebeschreibungen unternimmt Knigge den Versuch einer Bündelung von Umgangsregeln, um »Vorschriften für den Umgang mit allen Klassen von Menschen«59 zu entwickeln. Damit bezieht er sich auf die soziale und regionale Ausbreitung des Sozietätsnetzes seit den 70er Jahren in Deutschland, die den möglichen Kontakt mit Menschen aus anderen Regionen und Ständen erhöht und das Bedürfnis nach Orientierungshilfen verstärkt hat. Seinen bewußten Bezug auf den gesellschaftlichen Wandel und auf die lange Tradition der Traktatliteratur verbindet er mit einem doppelten Perspektivwechsel. Hatten Thomasius und von Loen wie ihre Vorgänger ihre Verhaltensideale noch als ständeübergreifenden Kompromiß zwischen Adel und aufstrebendem Bürgertum formuliert, 40 so zeichnet sich Knigges Werk durch die moralische Kompromißlosigkeit der mittleren Stände< und ihrer (angenommenen) Wertvorstellungen gegenüber Adel und Klerus aus. Die Radikalität seiner Position, die Elemente der Hofkritik und des Topos vom idealen Fürsten in Fénelons >TelemachGoldnem Spiegek und in der Schrift >Regierungsform und Herrschafterpflichten< von Friedrich II. aufnimmt, besteht im Affront, daß man von den Großen, Reichen und den Hofleuten nichts mehr lernen könne, geschweige denn, daß ihr gegenwärtiges Verhalten für andere gesellschaftliche Stände beispielgebend sein könne. Geschichtsphilosophisch durch Iselins Ermutigung des Bürgerstandes vorbereitet und mit verhaltensethischen

Diese Traditionslinien hat in der Forschung zuerst aufgedeckt Barbara Zaehle, Knigges Umgang mit Menschen und seine Vorläufer, Heidelberg 1933. " Knigge, a.a.O., S. 12. - Auch die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diese leicht zugängliche Ausgabe. 4

° Vgl. Joachim Schmitt-Sasse, Johann Michael von Loen und Adolph Freiherr Knigge. Bürgerliche Ideale in den Schriften deutscher Adliger; in: ZfdtPh 106 (1987), S. 169-183. - Rolf Reichardt, Der >Honnête homme< zwichen höfischer und bürgerlicher Gesellschaft. Seriell-begriffsgeschichtliche Untersuchungen von >Honnêtetébürgerlichen< Menschen sein Ethos aus Leistung, Arbeit und Charakter: »Sei streng, pünktlich, ordentlich, arbeitsam, fleißig in Deinem Berufe!« (43) Eine Folge ist, daß K n i g g e in Ubereinstimmung mit der Ablehnung vollkommener Charaktere in Blanckenburgs Romanpoetik und in neueren Romanen bewußt auf einen ständeübergreifenden Vollkommenheitstyp in der Tradition des >honnête homme< verzichtet, der mit seinen Varianten 150 Jahre lang die Traktatliteratur geprägt hat. Vielmehr entwirft er ein Verhaltensideal, das sich trotz aller Anspielungen auf die große naturrechtliche Tradition nicht mehr als verbindliche Pflichtenethik, sondern lediglich als Ratschlag für die >mittleren Stände< versteht. Der >innere Wert< dieser Stände soll maßgebend und vorbildlich für das Verhalten der Großen sein, die sich durch unmoralisches und ungeselliges Verhalten diskreditiert haben. Sulzers Perspektivwechsel in der Moralphilosophie und die rousseauistische Kulturkritik der Moderne, wonach der >homme civil< maßgeblich von der Wertschätzung anderer abhängig ist, führen bei K n i g g e zu einer stoisch geprägten >Kultur des Ich< (1. Buch, 2. Kapitel), die mit ihrem Glauben an sich selbst zur Grundlage für das Verhalten gegenüber anderen wird: Die »Größe ist unabhängig von Menschen, Schicksalen und äußerer Schätzung. Sie beruht auf innerem Bewußtsein, und ihr G e f ü h l verstärkt sich, je weniger sie erkannt wird« (86). Merkmale der >inneren Würde< sind Selbständigkeit, Selbstvertrauen, Charakterfestigkeit, Unabhängigkeit von anderen und deren Wohltaten, Mäßigung und Aufrichtigkeit bei den Tugenden. Die »Großen der Erde, Fürsten, Vornehme und Reiche« verhalten sich wie »verzogene Schoßkinder des Glücks« (298), die meisten von ihnen sind »ungesellig, kalt, unfähig zum echten Freundschaftsbande und schwer zu behandeln« (284). Sollte ein Angehöriger der >mittleren Stände< mit ihnen in Kontakt kommen, so empfiehlt K n i g g e : »Bestärke die Großen nicht in den Grundsätzen von angebohrenen Vorzügen, von Herrscherrechten, von G e salbtheit und dergleichen Grillen.« (292) Ermöglicht es die Situation, die Gunst eines Reichen zu erlangen, vermeidet man alle Schmeicheleien und hält ihnen eine ernüchternde Predigt mit Warncharakter im Stile Mentors gegenüber Idomeneus (Fénelon, Telemach), indem man jetzt allerdings mit den Idealen rousseauischer Volkssouveränität und Sozialkritik

argumen-

tiert. 4 '

*' »Stimme ihnen nicht bei, wenn sie je vergessen wollen, daß sie, was sie sind und mas sie haben, nur durch Ubereinkunft des Volks sind und haben; daß man ihnen diese Vorrechte wieder nehmen kann, wenn sie Mißbrauch davon machen; daß unsre Güter und unsre Exi-

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Trotzdem ist Knigges Werk alles andere als ein appellatives Pamphlet zum Umsturz. Es versucht vielmehr, in bewußter Abkehr von der >großen Welt< ein Verhaltensideal des >ehrlichen Biedermanns< für ein selbstgenügsames Leben in »friedlicher häuslicher Eingezogenheit« (315) zu formulieren, und steht mit dieser Abkehr vom Hof in der Tradition literarischer Verhaltensideale wie in Gellerts Schwedischer Gräfin< und in LaRoches >Fräulein von Sternheim< - sieht man einmal von Knigges konservativem Frauenbild (»ihre Existenz schränkt sich ein auf den häuslichen Zirkel«: 81) ab. Seine resignative Wendung zur häuslichen Innerlichkeit, sicherlich auch biographisch erklärbar nach dem Scheitern aller Geheimbündelei, tritt selten so deutlich hervor wie in seiner Begründung des Ziels: Seine >Regeln< »zielen dahin, den Umgang leicht, angenehm zu machen und das gesellige Leben zu erleichtern«. Dementsprechend modifiziert er in charakteristischer Weise den allgemeinen Grundsatz der aristotelischen Pflichtenethik: »Wir sollen daher so billig sein, von niemand zu fordern, daß er sich nach unsern Sitten richte, sondern jedermann seinen Gang gehn lassen [. . .]« (79). Damit wird die Verbindlichkeit der auf Konsens und Naturrecht beruhenden Pflichtenlehre transformiert in Ratschläge für Personen, die über ihren häuslichen Bereich hinaus mit Menschen anderer Stände in Kontakt kommen und in der Öffentlichkeit >ungeschickt< sind. Obwohl Knigge einen anthropologischen Geselligkeitstrieb annimmt, erscheint die Geselligkeit als notwendiges Übel, als sekundäre Ergänzung zum Ideal einer (ländlichen) Häuslichkeit und zur individuellen Glückseligkeit. Gegenüber der machiavellistischen und jesuitischen Tradition der Menschenfuhrung, die Fehler anderer geschickt für das eigene Fortkommen am Hof auszunutzen, bezieht er sich in seiner Definition der >geselligen Tugenden* unverkennbar auf Castigliones >sprezzatura< und auf Thomasius' »Geschicklichkeit* - »eine gewisse Geschmeidigkeit, Geselligkeit, Nachgiebigkeit, Duldung, zu rechter Zeit Verleugnung, Gewalt über heftige Leidenschaften, Wachsamkeit auf sich selber und Heiterkeit des immer gleich gestimmten Gemüts«. Im Unterschied zu ihnen dienen die geselligen Tugenden hier lediglich dazu, mangelnde Welterfahrung und Gewandtheit zu verbergen, um nicht unangenehm aufzufallen. Sie stellen ein passives Verhaltensideal dar, das die Gesellschaft in ihren sozialen, politischen, religiösen und erzieherischen Unterschieden beläßt. Der >weise Bürger* (Zaehle) wird aufgefordert, sich in die Zersplitterung hineinzufinden, »sich nach Sitten, Ton und Stimmung andrer zu fügen« (32).

stetig nicht ihr Eigentum, sondern daß alles, was sie besitzen, unser Eigentum ist, weil wir dafür alle ihre und der Ihrigen Bedürfnisse befriedigen und ihnen noch obendrein Rang und Ehre und Sicherheit geben und Geiger und Pfeifer befahlen [. . .]«. Knigge, Umgang, a.a.O., S. joof.

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Das neue Weltbild des sich selbst genügenden >Biedermanns< drückt sich schließlich in der neuen Dreiergliederung des Werkes in der zweiten Auflage von 1790 aus. 42 Verglichen mit der traditionellen Dreiteilung der aufklärerischen Umgangslehren in Pflichten gegenüber Gott, gegenüber sich selbst und gegenüber den Mitmenschen nimmt K n i g g e eine ebenso radikale wie ambivalente Verschiebung vor. Nach einer den Maximen Graciáns anempfundenen Einleitung, die v o m menschlichen Ich und dessen vier verschiedenen Charakteren in der Tradition der Temperamentenlehre LaBruyères und Lavaters ausgeht, folgen im zweiten Teil der U m g a n g mit anderen Menschen nach deren natürlichen oder verwandtschaftlichen Beziehungen (Alter, Familie). Erst im dritten Buch folgt der gesellschaftliche, außerhäusliche Umgang mit anderen Ständen und mit verschiedenen Berufen. Diese konzentrische Erweiterung des häuslichen Ich in immer weitere Bereiche verletzt die soziale Ständehierarchie und das oberste Postulat religiöser Pflichten des Menschen gegenüber Gott. Ebenso verstößt K n i g g e mit dem >Universalitätsanspruch< seiner Umgangslehre (Pittrof) gegen das Selbstverständnis der praktischen Philosophie seit Christian Wolff, in der die Lehre v o m Umgang nur einen kleinen Teilbereich der allgemeinen Sittenlehre ausmachte. 43 K n i g g e s Vielfalt empirischer Erfahrungen unterminiert die der systematischen Moralphilosophie inhärente Ordnungsvorstellung und macht im G e f o l g e von Sulzer das aller ständischen und religiösen Bindungen entkleidete Ich zum Ausgangspunkt und Zentrum der Welt. Andererseits enthält das völlig säkularisierte Weltbild K n i g g e s mit dem Ich als strukturellem K e r n auch die Möglichkeit zum Rückzug: So radikal das neue Selbstbewußtsein als subjektive N o r m in der Theorie ausfallen mag, so stark wirkt die Betonung der > Häuslichkeit des Biedermanns in der Praxis. Dementsprechend wird dieser Typus von den Romantikern Tieck, Novalis, Eichendorff und Brentano zum Philister stilisiert und heftig kritisiert. Die innere Ambivalenz von K n i g g e s Umgangslehre hat bereits bei Zeitgenossen zu heftigen Diskussionen geführt und den Boden für die spätere selektive Rezeption als >Anstandsbuch< bereitet. In der polemischen Kritik der Früh-

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D a r a u f macht aufmerksam Barbara Zaehle, K n i g g e s U m g a n g mit Menschen und seine Vorläufer, Heidelberg 1953, S. 176. - Die zahlreichen Veränderungen K n i g ges in den A u f l a g e n zwischen 1 7 8 8 - 1 7 9 6 macht zum systematischen Ausgangspunkt seiner Analyse T h o m a s Pittrof, K n i g g e s A u f k l ä r u n g über den U m g a n g mit Menschen, München 1989.

4!

Vgl. dazu Pittrof, K n i g g e s A u f k l ä r u n g , a.a.O., bes. S. 77ff. - Z u r Moralphilosophie Wolffs vgl. die Aufsätze von A n t o n Bissinger, Hanns-Martin Bachmann, Christoph Link und Marcel T h o m a n n in Werner Schneiders (Hrsg.), Christian Wolff: 1 6 7 9 - 1 7 5 4 . Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung, H a m b u r g 1983, S. 148-202.

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romantiker kündigt sich eine qualitativ andere Verhaltensethik als Antwort auf die Krise spätaufklärerischer Positionen an. Die Berliner Salons, deren Zusammensetzung quer zu den Ständen wie zu den beruflichen und gesellschaftlichen Sphären stattfindet, und Schleiermachers >Versuch einer Theorie des geselligen Betragens< stellen eine Uberwindung von spätaufklärerischen Verhaltenslehren dar.

4. Frühromantische Neubestimmung des Menschen im Spannungsfeld von Individuation und Geselligkeit: Schleiermachers >Versuch einer Theorie des geselligen Betragens< und >Reden über die Religion< Seit der Wiederentdeckung und der eindeutigen Feststellung der Autorschaft durch Nohl gilt Schleiermachers anonym im >Berlinischen Archiv der Zeit und des Geschmacks< erschienener >Versuch< (1799) in der Forschung (Nohl, Simmel, Seibert) als Höhepunkt der Geselligkeits-Theorie im 18. Jahrhundert. In den >Versuch< gehen Erfahrungen und Reflexionen Schleiermachers mit verschiedenen Formen menschlichen Zusammenlebens (Brüdergemeinde Herrnhut, >Ehe< mit seinem Freund Friedrich Schlegel, Freundschaft zu Henriette Herz und Teilnehmer ihres Salons) genauso ein wie seine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Geselligkeitsauffassungen (Garve, Kant, Knigge). Sein Bruchstück gebliebener Artikel hebt sich von anderen Texten der Frühromantiker ab, weil er die frühromantischen Geselligkeitskonzepte in ihren verschiedenen Ausprägungen (Novalis, Tieck, Friedrich Schlegel) wie auch die Lebens- und Arbeitspraxis (in Berlin und Jena) verarbeitet und zu einer allgemeinen Handlungspragmatik weiterentwickelt. Zum Höhepunkt wird der >Versuch< durch seinen von der Forschung ungenügend beachteten Ausgangspunkt. Schleiermacher will das theoretische Defizit der realen Geselligkeiten um 1800 durch eine komplexe Theoriebildung überwinden und damit reformierend in die bestehende Praxis der Gruppenbildung eingreifen. Denn in den bestehenden Formen des >geselligen Lebens< herrschen »Ungeschicktheit und Frevel der Einzelnen« (4); die Virtuosen der Geselligkeit sind zu einer allgemeinen Theoriebildung unfähig; allein durch >Nachahmung bewährter Muster oder aus einem eigenen Gefühl< läßt sich das notwendige Ideal nicht entwickeln. Durch seine Programmatik sollen die vielfältigen Sozietätsformen ein gemeinsames, übergreifendes Ideal erhalten, dem sie sich progressiv annähern.44 44

»Übrigens liegt es im Wesen der Theorie [ . . . ] , daß die darin aufgestellten Ideen Ideale sind, welchen sich die Ausübung nur nähern soll.« Friedrich Schleierma-

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Neben einer expliziten Kritik an der »formlosen Sammlung< von Verhaltensregeln in K n i g g e s >Umgang< 4 ' wird Schleiermachers Schärfe gegen dieses Kompendium durch die positive Bestimmung des Zwecks der Geselligkeit sichtbar. Sie wird zum Medium für eine doppelte Transzendierung des Individuums: seine >Entgrenzung< von einer nur fragmentarischen Verwirklichung in Beruf und häuslicher Sphäre hin auf die Bestimmung der Gattung und zweitens die Entgrenzung seiner endlichen Existenz hin auf die Unendlichkeit eines höheren Daseins. Gibt K n i g g e dem Individuum, das sich bei aller inneren Würde äußerlich an die herrschenden Konventionen anpassen soll, Verhaltensratschläge für verschiedene Situationen, Stände und Berufe, so geht es Schleiermacher um die Uberwindung dieser Beschränkungen, um die Entgrenzung des in Sphären befangenen Individuums zum Ideal eines ganzheitlichen Menschen. Die »freie, durch keinen äußeren Z w e c k gebundene und bestimmte Geselligkeit« soll als Ergänzung zu den beschränkten >Sphären< des Berufes und des »häuslichen Daseins< den endlichen Menschen mit den »mannigfaltigen Anschauungen der Menschheit und ihres Tuns« bekannt machen und von »seinem eigenen Grenzpunkte« aus »die Aussicht in eine andere und fremde Welt« gewähren (3). Die K a tegorie des bestimmten, »äußeren Zwecks< dient als implizite Abgrenzung zu den aufklärerischen Sozietäten, die er - im Gegensatz zur späteren soziologischen Definition von Tönnies und Weber - als »Gemeinschaften* bezeichnet, während die »vollkommene Geselligkeit* zweckfrei ist. Vom Ideal der Ganzheitlichkeit her ist keineswegs eine Zwecklosigkeit gemeint, sondern die Überwindung eines begrenzten Zwecks, »denn es liegt in dem Prädikat der Freiheit, daß hier von einem einzelnen und bestimmten Zweck gar nicht die Rede sein kann« (9). Mit der Bestimmung der Geselligkeit »um ihrer selbst willen« (8) konstituiert Schleiermacher die Autonomie der Geselligkeit und bezieht sich mit dem Gegensatz von zweckbestimmter, begrenzter Sphäre und zweckfreier, unendlicher Freiheit auf die zeitgenössische Diskussion des SphärenBegriffes bei Rousseau, Herder, Goethe, Fichte und Hölderlin. 46 Ausgehend

41

46

eher, Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (E: 1799), in: ders., Werke. Auswahl in vier Bänden, hg. von Otto Braun, Leipzig 1927-28, Bd. 2, S. i - j 1, S. 31. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf diese Ausgabe. - D o r t finden sich Nohls »Vorbemerkung* und Auszüge aus Schleiermachers Tagebuch S. X X I I I - X X X . In der Tagebuchnotiz N r . 106 lautet die Rechtfertigung seiner Theorie: » E s giebt in der guten Lebensart nur soviel Praxis als es Theorie giebt; den einzelnen Beobachtungen fehlt es immer an bestimmten Gesichtspunkten und Beziehungen.« (S. X X V I ) Vgl. Schleiermacher, Versuch, a.a.O., S. 7. - In seiner Tagebuch-Notiz Nr. 96 heißt es: » K n i g g e behandelt die absoluten Widersprüche wie einen Handel, w o jeder etwas abläßt.« (S. X X V ) Vgl. zum Sphärenbegriff bei Hölderlin Helmut Bachmaier, Der Mythos als G e -

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von der Zerrissenheit des modernen Individuums wird in diesem ambivalenten Begriff das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, bzw. von Individuum und Gattung thematisiert. Einerseits ist die Sphäre bei Fichte wesentliche Bedingung für die Konstitution des Ich gegenüber dem NichtIch, für die Selbstbestimmung und Selbsterkenntnis des Individuums. 47 Im >Versuch< heißt es: »Jeder Mensch hat als ein endloses [endliches] Wesen seine bestimmte Sphäre, innerhalb der er allein denken und handeln, und also auch sich mitteilen kann.« ( n ) Andererseits erscheint die Menschheit in abgegrenzte Sphären der Individuen aufgeteilt. Versucht Fichte die gleichberechtigten Individuen durch freie Wechselwirkung miteinander in Beziehung zu setzen (> Coordination statt Subordination), um Besonderheit (Individuum) und Allgemeinheit (Gattung) zu vermitteln, so wird bei Schleiermacher die Vermittlungsproblematik auf der synchronen Ebene zum Kristallisationspunkt seines Geselligkeits-Konzepts. >Wahre Geselligkeit< und durchgängige Wechselwirkung< sind für ihn Synonyme, die durch eine psychologisch inspirierte, handlungsorientierte Reiztheorie näher bestimmt werden. Wechselwirkung ist »ein freies Spiel der Gedanken und Empfindungen, wodurch alle Mitglieder einander gegenseitig aufregen und belehren« (10). Aus der Sicht des Individuums stellt sich Geselligkeit als Schnittpunkt der je besonderen Sphären dar und ermöglicht seine ontologische Bestimmung zur Geselligkeit durch das »Bilden und Unterhalten der Gesellschaft«: E s muß also einen Zustand geben, der diese beiden [i. e. Beruf und häusliches Leben, E . P.] ergänzt, der die Sphäre eines Individui in die L a g e bringt, daß sie von den Sphären Anderer so mannigfaltig als möglich durchschnitten werde, und jeder seiner eigenen Grenzpunkte ihm die Aussicht in eine andere und fremde Welt gewähre, so daß alle Erscheinungen der Menschheit ihm nach und nach bekannt, und auch die fremdesten Gemüter und Verhältnisse ihm befreundet und gleichsam nachbarlich bekannt werden können. (3/4)

Geselligkeit ermöglicht die Verwandlung von Fremdem in Vertrautes, sie stellt eine Teilkongruenz der verschiedenen individuellen Sphären dar, sellschaftsvertrag. Z u r Semantik von Erinnerung, Sphäre und Mythos in Hölderlins Religions-Fragment; in: Helmut Bachmeier/Thomas Rentsch (Hrsg.), Poetische Autonomie? Z u r Wechselwirkung v o n Dichtung und Philosophie in der E p o che Goethes und Hölderlins, Stuttgart 1987, S. 1 5 5 - 1 6 1 . - U l r i c h Gaier, Hölderlin, a.a.O., S. I79Í. 47

»Das Subject bestimmt sich als Individuum, und als freies Individuum, durch die Sphäre, in welcher es unter den in ihr gegebenen möglichen Handlungen eine gewählt hat; und setzt ein anderes Individuum ausser sich, sich entgegen, bestimmt durch eine andere Sphäre, in welcher dieses gewählt hat.« Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (E: 1796); in: J o h a n n Gottlieb Fichte, Fichtes Werke, hg. v o n Immanuel Hermann Fichte (Reprint Berlin 1 9 7 1 ) , Bd. III, S. 4 i f f .

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löscht aber keineswegs die Besonderheit des Individuums aus, so daß eine permanente Dialektik von >Geben und Nehmen< erhalten wird. Neben Fichte wird für Schleiermacher Herders anthropologischer Sphären-Begriff in dessen Sprachursprungsschrift wirksam. Herder zufolge besitzt das Tier eine statische Sphäre und ist durch seinen Instinkt determiniert. Dagegen wählt sich der Mensch aus Freiheit eine eigene, virtuell unendliche Sphäre, die er durch >Besonnenheit< selbst bestimmen und beschränken muß. 48 In der Selbstbestimmung liegt eine doppelte Gefahr. Einerseits könnte das Individuum von seiner anthropologischen Bestimmung gar keinen Gebrauch machen. Wo jedoch der Mensch die virtuelle Fähigkeit zur vollkommenen Bildung besitzt, hat er auch die ethische Pflicht zu ihrer Ausbildung: Wenn die Geselligkeit um ihrer selbst willen gesucht wird, [. . .] so kann die Vollkommenheit des geselligen Betragens in nichts anderem bestehen, als in der Fertigkeit, überall, w o die physische Möglichkeit der Gesellschaft gegeben ist, auch eine wirkliche zu bilden, und sie, w o sie schon gebildet ist, beim Leben zu erhalten. (8)

Andererseits kann das Individuum seine freie Wahl soweit ausdehnen, daß es die Sphären der anderen verletzt und einschränkt. Vollkommene Geselligkeit basiert deshalb auf dem dynamischen Widerspruch von >Selbsttätigkeit und Selbstbeschränkung< und entsteht in der anvisierten, fragilen Einheit beider Aspekte: Ich soll meine Individualität, meinen Charakter mitbringen, und ich soll den Charakter der Gesellschaft annehmen; beides soll in demselben Moment geschehen, soll eins und in einer Handlungsweise vereinigt sein. (15)

Das Besondere von Schleiermachers theoretischem Ansatz besteht darin, daß er die Bestimmung der Geselligkeit als Ideal einer So^ietätsform mit der Geselligkeit als Verhaltensethik verbindet und durch eine Handlungspragmatik dem Individuum - im Unterschied zu dessen Unterordnung unter existierende Konventionen bei Knigge - eine aktive Rolle beim Bilden und Erhalten von Geselligkeit beimißt. 49 Das Handeln vollzieht sich zwischen den Polen Selbsttätigkeit und besonnener Selbstbeschränkung des Individuums und umfaßt Gefühl und Vernunft. Der >Körper der Gesellschaft »muß erst durch die Tätigkeit jedes Einzelnen belebt werden, und weil es 48

49

Vgl. dazu Bachmaier, a.a.O., S. 147. - D e r Herdersche B e g r i f f der Besonnenheit spielt in Schleiermachers Reden >Über die Religion< eine wichtige Rolle. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Uber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (E: 1799, anonym), H a m b u r g 1970, S. 38f. »Wer eine Gesellschaft unterhält, macht sie auch; denn von selbst zerfällt sie in jedem Augenblick. Das Zusammenbitten ist noch kein Constituieren einer Gesellschaft.« Tagebuchnotiz N r . 169, S. X X X .

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eine durchaus freie Tätigkeit ist, kann dies Leben nur durch eine ununterbrochene Fortsetzung erhalten werden« (8). Individuum und Institution beeinflussen sich in ihrem gegenseitigen Bildungsprozeß und machen den Streit um die Vorrangigkeit einer der beiden Pole, der die Gesellschaftstheorie des 18. Jahrhunderts durchzieht, obsolet. In der Bestimmung der Gesellschaft als >seiend und werdend< verbinden sich Anthropologie und Geschichtsphilosophie und verleihen seiner Geselligkeitstheorie eine besondere Dynamik. Daran wird deutlich, daß Schleiermachers >Versuch< weder eine spezifische Theorie des Salons ist, noch sich mit einer Reform kleiner Sozietäten zufrieden gibt - es geht ihm um eine Reform der gesamten Gesellschaft mithilfe des neuen Ideals des »geselligen Betragens< in Sozietäten, indem sich das empirisch beschränkte Individuum und die historisch entstandenen Sozietäten an der ontologischen Bestimmung der Menschheit orientieren sollen.50 Der aktive Beitrag jedes einzelnen wird zur Existenzbedingung der Gesellschaft, wie andererseits die Geselligkeit Bedingung für die Transzendenz der beschränkten Sphäre« jedes einzelnen hin auf seine gattungsgemäße Bestimmung wird. Die Vermittlungsproblematik kulminiert im >Versuch< in zwei Gesetzen, die das empirisch beschränkte Individuum auf das »höhere Ziel des menschlichen Daseins« (3) orientieren. Das äußerliche quantitative Gesetz< soll die >gesellige Tätigkeit« des einzelnen »immer innerhalb der Schranken halten, in denen allein eine bestimmte Gesellschaft als ein Ganzes bestehen kann« (11). Die Geselligkeit darf weder zum Austragungsort einer ungezügelten Egozentrik noch zur Selbstverleugnung des Individuums werden. Leere Konventionen höfischer Gesellschaften, Zweckbegrenzungen geheimbündlerischer und aufklärerischer Sozietätsformen und Selbstdarstellungsriten in Berliner Salons, wie sie ζ. B. Tieck in seiner Erzählung >Die aufgeklärte Gesellschaft« (1795) dem Spott seiner Leser preisgibt, sollen vermieden werden. Auf inhaltlicher Ebene konstitiuiert und reguliert das sprachliche »Gesetz der Schicklichkeit< die »gemeinschaftliche Sphäre allere Die Geselligkeit soll einerseits ein »Quantum des geselligen Stoffs« als thematisches Mittelmaß zwischen absoluter Homogenität und absoluter Heterogenität der Teilnehmer mit ihren verschiedenen Sphären anstreben. Dadurch wird der intersubjektive >Ton< der Gesellschaft ermittelt, während die subjektive >Ma,0

Ausgehend von dem A u t o n o m i e b e g r i f f der K u n s t und seiner Übertragung auf die Geselligkeit unterstellt Seibert Schleiermachers K o n z e p t einen »Verlust gesellschaftlicher Relevanz«. Diese Fehleinschätzung beruht wesentlich darauf, daß er die gleichzeitig entstandene Religionsschrift mit ihrem wichtigen Kapitel über das Gesellige in der Religion (4. K a p . ) und deren theoretische Voraussetzungen nicht berücksichtigt. Vgl. Peter Seibert, Der literarische Salon: Literatur und Geselligkeit zwischen A u f k l ä r u n g und Vormärz; Stuttgart/Weimar 1995, S. 504 und S. 320.

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nier< die Behandlung eines Stoffes durch das Individuum bezeichnet. Damit die Gesellschaft aufrechterhalten, die beschränkte Sphäre des Individuums hin auf »alle Erscheinungen der Menschheit« erweitert, niemand aber aufgrund mangelnder Kenntnisse ausgeschlossen wird, fordert Schleiermacher, denselben Stoff mithilfe von vielfältigen Manieren zu behandeln.' 1 Indem die Teilnehmer durch ihre Wechselwirkung die Geselligkeit konstituieren und eine asymmetrische Kommunikation vermeiden, indem ihre doppelsinnigen (Rede-)Akte auf eine höhere Bedeutungsebene anspielen, indem die Teilnehmer zu gleicher Zeit aktiv und passiv, Hörende und Sprechende, Spieler und Zuschauer sind, heben sie die alte Subjekt-Objekt-Problematik bewußtseinsmäßig auf, Form und Zweck der Geselligkeit fallen zusammen' 2 , ein individualistisch geprägter Spielbegriff wie in Schillers ästhetischer Erziehung wird vermieden. Als verhaltensethisches Postulat führt dies zu einer Neuformulierung des alten >virtuoso9)

Die Betonung der individuellen >Manier< in der frühromantischen Geselligkeitstheorie - von Schleiermacher für die Verhaltensethik, von Friedrich Schlegel für den poetischen Bereich (>Uber Goethes MeisterTeutschem Merkur< als Teil der >Auszüge aus einem Reise-Journalabsolute< Religion ist lediglich die, die die Gesamtheit der geschichtlichen Erscheinungsformen des Religiösen in sich f a ß t . "

Der geschichtsphilosophischen Wende im Neospinozismus folgt Schleiermacher in der fünften seiner Reden >Uber die Religion< (1799), in der er die Notwendigkeit der geschichtlichen Vielfalt der Religionen aus den Mängeln subjektiver Anschauung des empirischen Menschen begründet: [. . .] die Religion aber ist ihrem B e g r i f f und ihrem Wesen nach auch für den Verstand ein Unendliches und Unermeßliches; sie muß also ein Prinzip sich zu individualisieren in sich haben weil sie sonst gar nicht dasein und wahrgenommen werden könnte.' 6

Das Wesen der Religion drückt sich erst im geschichtlichen Werden der >positiven Religionen< aus, durch »daß gerade die positiven Religionen diese bestimmten Gestalten sind, unter denen die unendliche Religion sich im Endlichen darstellt«. Für seine parallel zur Religionsschrift entstandene G e selligkeits-Theorie bedeutet der geschichtlich gedeutete Spinozismus, die Gesellschaft als >seiend und werdend* zu betrachten. E r unterstreicht damit den

aktiven

Anteil

des

Individuums

im

geschichtlichen

Prozeß

der

Menschwerdung, weil das >Werden< nicht als deterministischer Automatismus, sondern als aktives Handeln des Ich in Bezug auf andere aufgefaßt wird. Seinem geschichtsphilosophischen

Spinozismus liegt das

umstrittene,

dreistufige >hen kai pan< Spinozas zugrunde. Wie in seinen Reden >Uber die Religion* benutzt Schleiermacher in seinem >Versuch< den dreistufigen Spinozismus als progredierendes Strukturprinzip. Ursprünglich sind die gedanklichen und gefühlsmäßigen Beziehungen zwischen den Menschen unendlich: »Unendlich mannigfaltig ist, im allgemeinen betrachtet, die Art, wie Menschen einander anregen können, und unendlich die Sphäre ihrer freien Äußerungen.« (iof.) A u f der Stufe der Individuation erfährt sich der " Ernst Cassirer, Die Philosophie der A u f k l ä r u n g , T ü b i n g e n 1973 (3. Auflage, unveränderter N D der 2. Auflage), S. 257. - Z u Spinozas Philosophie vgl. die gründliche Zusammenfassung bei Wolfgang R o d , Geschichte der Philosophie, München 1978, Bd. 7, S. 1 8 6 - 2 1 1 . - Z u r Reaktualisierung des Spinozismus seit ca. 1780 J ü r g e n Teller, D a s L o s u n g s w o r t Spinoza. Z u r Pantheismusdebatte zwischen 1780 und 1787; in: Hans-Dietrich Dahnke/Bernd Leistner (Hrsg.), Debatten und K o n troversen, a.a.O., Bd. 1, S. 1 3 5 - 1 9 2 . !GrenzbewußtseinAussicht in eine andere und fremde Weltendliches QuantumManieren< der Individuen und zweitens durch den doppelten Sinn des sprachlichen Redeaktes selber, der durch seine doppelsinnigen Anspielungen auf den höheren, universalen Zusammenhang verweist. Durch diese beiden Bestimmungen wird sukzessive die reale g e meinschaftliche Sphäre< erweitert, und die an ihr Teilnehmenden nähern sich bewußtseinsmäßig der Unendlichkeit an. Wie Timm und Seibert betonen, ist in der Engfuhrung der Geselligkeit mit einer pantheistisch-christologisch markierten >Wiedergeburt der Religio™ (Timm) der Grund für die >Asthetisierung der Geselligkeit im Vers u c h zu sehen. Verglichen mit der Spinoza-Debatte in den 8oer Jahren besteht das qualitativ Neue des Trinitätszyklus bei Schleiermacher in seiner Anwendung auf den Geselligkeits-Diskurs.' 7 Das schmerzhafte Bewußtsein der Individuation als Verlust ursprünglicher Einheit und Allheit treibt das Verlangen des Menschen nach Assoziation und höherer Harmonie hervor. Es materialisiert sich in der Geselligkeit als Mittel, Weg und Zweck zur Transzendierung des Bruchstückhaften. Sinnlich erfahrbar werden Individuation und Möglichkeit eines neuen, religiös konnotierten Assoziationsprinzips für den pietistisch geprägten Schleiermacher besonders im Redeakt durch die Ambivalenz von >Außerung und Entäußerung< (Timm) und durch die Differenz von >Geist und Buchstabens Ohne Geselligkeit auf Sprache zu reduzieren, wie es Seibert Schleiermacher unterstellt, spitzt sich die Vermittlungsproblematik von Individuum und Gattung auf den Redeakt

" T i m m , D i e heilige Revolution, a.a.O., S. 17. 230

als materialer Äußerung des modernen Bewußtseins zu. Denn das Wissen um das Bruchstückhafte der geäußerten Wahrheit und um den Uberschuß an Geist, der hinter der selektiven, Totalität ausschließenden Äußerung notwendig verborgen bleiben muß, verlangt nach Mit-Teilung, erfordert, daß das Abgetrennte erkannt und als Teil der Ganzheit gedeutet (Hermeneutik) und überwunden wird, indem die Mannigfaltigkeit vieler Einzeläußerungen auf die höhere Einheit verweist. U m das semantische Defizit im fragmentarischen Redeakt teilweise zu kompensieren, sollen die geselligen Äußerungen einen >doppelten Sinn< erhalten, »einen, den ich den gemeinen nennen möchte, der sich unmittelbar auf die Unterhaltung bezieht, und seinen Zweck notwendig und unfehlbar erreicht, und einen andern gleichsam höheren, der nur aufs ungewisse hingeworfen wird, ob ihn etwa jemand aufnehmen, und die darin enthaltenen Andeutungen weiter verfolgen will« (27). Die K u n s t der doppelsinnigen Redeweise macht den Redner zum »Mittler zwischen dem eingeschränkten Menschen und der unendlichen Menschheit«. 58 Schleiermacher weitet das frühromantische Ideal des poeta vades auf den Redner aus, der seine Nächsten redend auf das Unendliche hinweist und dadurch zum >wahren Priester des Höchsten< wird. Die Sakralisierung des Individuums erfaßt die Geselligkeit, denn der Redner formt und bildet durch seinen Redeakt die Gesellschaft, er trägt zur Wiedergeb u r t einer neuen Harmonie und Allheit aus dem Chaos bei. Angesichts der ungeformten Materie und der in Sphären befangenen Individuen ist er schöpferisch tätig und handelt im Sinn von Shaftesburys Demiurgen-Mvthos: Reden stellt eine Geselligkeit und Wechselwirkung zwischen Individuen her, es schafft ein das G e f ü h l und die Vernunft umfassendes neues Universum und ist somit bewußtseinsmäßige und sprachliche Formgebung der Welt. Letztlich impliziert die Sakralisierung von Mensch und Geselligkeit eine Selbsterlösung des Menschen, indem er sich mit seinesgleichen und mit der Natur wiedervereinigt, seine Individuation zur Allheit transzendiert. Deshalb formuliert Schleiermacher in der Schlußemphase der vierten Rede >Uber das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertumc Alles menschliche ist heilig, denn alles ist göttlich. [. . .] J e mehr sich Jeder dem Universum nähert, je mehr sich Jeder dem Andern mitteilt, desto vollkommener werden sie Eins, keiner hat ein Bewußtsein für sich, Jeder hat zugleich das des Andern, sie sind nicht nur Menschen, sondern auch Menschheit [. . .] ( i j o ) .

Schleiermachers konversationeile Handlungspragmatik kann als Pendant zum Ideal gemeinsamer Ideen- und Textproduktion in der Jenaer Frühromantik verstanden werden. Sympoesie und Symphilosophie verwirklichen in ihrer Sicht einen Teil jener neuen harmonischen Allheit, die der Redeakt hervorbringen soll. 11

Schleiermacher, Über die Religion, a.a.O., S. 6. - Die beziehen sich auf diese Quelle.

folgenden

Seitenangaben

231

Das Gelingen der doppelten Redeweise bedingt auf der Seite des Rezipienten einen hermeneutischen Akt, der die vielfältigen Bedeutungen der Redeweise dechiffriert. Altenhofer folgend, charakterisiert Seibert als Merkmal von Schleiermachers >Salongeselligkeit als ästhetische Praxisc »Gesellige Tätigkeit ist für Schleiermacher notwendigerweise auch hermeneutische.«' 9 Für den idealen Teilnehmer an der Geselligkeit beinhaltet das Postulat einer besonderen kunstvollen Redeweise (>ManierTon< der Gesellschaft) berücksichtigen muß. In den Definitionen >Manier< und >Ton< des >Versuchs< ist Schleiermachers >materiale Hermeneutik* (Altenhofer) 60 mit der Vermittlungsproblematik von Individuellem und Allgemeinem keimhaft enthalten. Die Dialektik seiner Geselligkeitstheorie, Gesellschaft als >seiend und werdend< aufzufassen, findet sich in seiner Hermeneutik wieder als >technische< Deutung der Gattungskonvention einerseits und Selbstbestimmung des schreibenden Individuums im >psychologischen< Aspekt der Deutung andererseits. 6 ' Gegenüber den zeitgenössischen Spezialhermeneutiken der Fachdisziplinen intendiert sie drei grundsätzlich neue Aspekte, eine allgemeine Methode der Auslegung, unabhängig vom spezifischen Objekt, und eine Auslegungskunst nicht nur auf schriftliche Texte, sondern auch für mündliche Äußerungen. Drittens ist Schleiermacher zufolge die Auslegung ein unendlicher, polyperspektivischer Prozeß, eine >beständig fortgesetzte Probe< auf den Sinn einer Äußerung, die gesellige Interpretation von Text und Wirklichkeit wird zu einer gemeinsamen Konstruktion von Welt, sie stellt eine Wissenssoziologie >avant la lettre< dar. 62 Bezogen auf die Dialektik

" V g l . Seibert, D e r literarische Salon, a.a.O., S. 321. ° Norbert Altenhofer, Schleiermacher, Geselliges Betragen - K u n s t - Auslegung. A n m e r k u n g e n zu Peter Szondis Schleiermacher-Interpretation und zur Frage einer materialen Hermeneutik; in: Ulrich Nassen (Hrsg.), Studien zur Entwicklung einer materialen Hermeneutik, München 1979, S. 1 6 5 - 2 1 1 . - Ders., Der erschütterte Sinn. Hermeneutische Überlegungen zu Kleists >Das Erdbeben von ChiliDas Erdbeben von Chili«, München 1987 (2. A u f l a g e ) , S. 39-53.

6

6

' In seinen Überlegungen zur Entstehung neuer literarischer Formen schreibt er: »Das Wesen des Unterschieds zwischen beiden Seiten liegt darin, daß auf der rein psychologischen Seite der Mensch frei ist und wir also auf seine Verhältnisse als Prinzipien seiner Selbstbestimmung zurückgehen müssen, während auf der anderen, der technischen Seite, sowohl in dem M o m e n t der Meditation als der K o m position die Macht der F o r m ist, die den A u k t o r beherrscht.« A u s dieser Dialektik von Selbstbestimmung und Macht der traditionellen F o r m entwickeln sich neue Formen. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik; in: ders., Hermeneutik und Kritik, hg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M . 1977, S. 69-306, S. 184.

62

In seiner Vorlesung »Dialektik - Über den allgemeinen Schematismus der Sprache* (1822) heißt es: »Wir sind beständig in der Probe begriffen, und so auch in der

232

zwischen Autor und Publikum macht seine Hermeneutik die Deutung eines Redeakts zu einem >geselligen Akt< (Altenhofer) und bindet den Rezeptionsakt an die weitere Textproduktion zurück. Exemplarisch verwirklicht er diese produktive und gesellige Hermeneutik in den von mehreren Personen geschriebenen >Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde< (1800) als Replik auf dessen Roman. Stimmen die Teilnehmer der Geselligkeit in idealer Weise überein, entsteht durch die Meta-Ebene der sprachlichen Äußerung aus >Manier< und >Ton< eine neue Harmonie. Das Individuum überwindet das Fragmentarische, indem es bewußtseinsmäßig zugleich Mensch und Menschheit ist. Die Harmonie bedingt jedoch keine Auslöschung des Individuellen im Identischen, sondern sie behält die Vielfalt der Individuationen des ursprünglichen Ganzen bei und stellt eine fragile Einheit von Vielfalt und Ganzheit dar. Die musikalische Versinnbildlichung der höheren Einheit im >Chor< (Friedrich Schlegel, Hölderlin) hebt nie das Eigentümliche jeder

spe-

zifischen Stimme auf. In diesem Sinn hat schon Herder auf dem >consonen< anstatt auf dem >unisonen< Ton in der Harmonie bestanden. 6 ' In einer partnerschaftlich-egalitären Geselligkeit verbietet sich jede A u f h e b u n g von Individualität wie auch jegliches Subordinationsverhältnis. 64 Mit ihrer Betonung von Originalität, Charakteristischem, Manier und dem Exzentrischen (Hölderlin) erweist sich die frühromantische Geselligkeitstheorie paradoxerweise als Geburtsstunde des modernen Individuums, dessen Bewußtsein von der unwiederbringlich verlorenen Ursprungseinheit das Bedürfnis nach Geselligkeit auslöst. Individuation, die sich je nach Wissenschaftsbereich als >Sphäre< oder >Manier< ausdrückt, ist Bedingung für den geschichtsphilosophischen Weg zur höheren Menschheit und Anstoß für das tätige Verlangen nach freier Assoziation. Die Besonderheit der Handlungspragmatik im >Versuch< - Individuum und Gesellschaft als dialektischen Prozeß aufzufassen, der beide Seiten einer beständigen Transformation unterwirft und sich damit von einer rein organologischen Evolution Wahrnehmung der Identität der Konstruktion. Alle Mitteilung über äußere G e genstände ist beständiges Fortsetzen der Probe, ob alle Menschen ihre Vorstellungen identisch konstruieren.«; in: Schleiermacher, Hermeneutik und K r i t i k , a.a.O., S. 443-467, S. 460. ' ' Herder, Liebe und Selbstheit. Vgl. auch Gaier, Hölderlin, S. 106. - Die musikalisch-theatralische Metaphorik des Chores verweist auch auf die Wiederentdeckung der pythagoräischen Philosophie durch Wieland und Weishaupt. Deshalb sperrt sich Schleiermachers Geselligkeitstheorie gegen jede völkisch-nationalistische Vereinnahmung, die die Individualität durch ein totalitäres Führerprinzip auslöscht, wie dies bei N o h l geschieht, der im 1. Weltkrieg die höchste Verwirklichung von Schleiermachers Idealen sieht. Vgl. Hermann N o h l , Vom deutschen Ideal der Geselligkeit (E: 1 9 1 5 ) ; in: ders., Pädagogische Aufsätze, Berlin/Leipzig 1929 (2. Auflage), S. 1 2 1 - 1 3 4 , bes. S. 1 jzf.

2

3 3

im Sinne Herders unterscheidet - fokussiert die Vermittlungsproblematik auf die Ebene der Sprachproduktion und -rezeption. In der Aufwertung des Redners und der Rhetorik findet sich nicht zuletzt ein deutlicher Widerhall der Französischen Revolution. Von Zeitgenossen als >Wiedergeburt< von französischer Nation und Menschheit gefeiert, konnte die Revolution als Resultat von Redeakten gedeutet werden, die sich in epochemachenden Ereignissen wie dem Ballhausschwur und dem gemeinsamen Eid von Delegierten, Kirchenvertretern und dem König auf eine neue Verfassung beim Föderationsfest 1790 auf dem Champs de Mars niederschlug. In den verweisenden >Manieren< deutscher Redner und Dichter auf die >höhere Menschheit schwingen diese Töne immer mit.

2

34

VII. Sozietäre Modelle regionaler Kultur

Der entscheidende soziale Ort für den Wandel in den Umgangsformen und kulturellen Wertvorstellungen sind die zahlreichen Sozietäten. Vielfalt und Verbreitungsgrad der unterschiedlichsten Lebensweisen und Sozietätsformen führen um 1790 zu einer produktiven Konkurrenz, die sich nicht in die verkürzte Formel einer hauptstädtischen Aufklärung< gegenüber einer p r o vinziellen, universitätsstädtischen Romantik< bis zum Jahr 1806 (Feilchenfeldt) hineinpressen läßt.' Vielmehr wird von den Protagonisten des Geselligkeits-Diskurses die regionale Vielfalt gegenüber der A u f f a s s u n g von einer einheitlichen, normativen Kultur als bewußte Chance einer kulturellen E r neuerung aufgefaßt.

ι. Die Berliner Aufklärergesellschaften und Salons: Ein Generationsbruch in der deutschen Sozietätsbewegung Als Beispiel für die komplexe Gemengelage von Konventionen und ihren Brüchen im Bereich der Umgangslehre und Sozietätsbewegung bietet sich ein synchroner Vergleich zwischen der >Berliner Mittwochsgesellschaft< und den Salons im Rahmen des Berliner Sozietätsnetzes an. Z u den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gehören die eingeschränkte aufklärerische Toleranz unter Friedrich II., die Assimilation aufgeklärter Juden in Berlin und die Rolle der Hugenotten als kulturellen Mittlern zwischen Frankreich und Deutschland und als Erzieher in reichen jüdischen Familien. 2 Entwicklungshemmend sind die strikte Trennung zwischen den Ständen, besonders zwi-

' »Während sich in der (?) Hauptstadt A u f k l ä r u n g und kaufmännisches Denken durchzusetzen begannen, verschrieben sich in den Universitätsstädten Professoren und akademische J u g e n d der Romantik. Die Konfrontation (?) zwischen Hauptstadt und Universität dauerte jedoch nur bis zum wirtschaftlichen Zusammenbruch Deutschlands infolge der E r o b e r u n g durch die Franzosen.« K o n r a d Feilchenfeldt, Salons und literarische Zirkel im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert; in: Gisela Brinkler-Gabler (Hrsg.), Deutsche Literatur v o n Frauen, München 1988, Bd. ι , S. 410—420, S. 4 1 5 . ' K a r l Hillebrand, Die Berliner Gesellschaft in den Jahren 1789 bis 1 8 1 5 ; in: ders., Unbekannte Essays, hg. von Hermann Uhde-Bernays, Bern 1955, S. 1 3 - 8 1 , S. i4f.

2

35

sehen Hof und Bürgertum, der Funktionsverlust des Hochadels in der preußischen Monarchie und das Fehlen einer Universität in Berlin. Prägend für das Sozietätsnetz und das Kulturleben sind seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die >offenen Häuser< der reichen, sich als aufgeklärt verstehenden jüdischen Familien Itzig, Mendelssohn und Ephraim. Bei einfacher Bewirtung, Gesprächen über Literatur und musikalischen Darbietungen wird eine diskursive, tolerante Geselligkeit gepflegt. Die Abendgesellschaften bilden sozusagen den öffentlichen Teil der gelehrten und geheimen Diskussionen in manchen aufklärerischen Sozietäten. Während seiner Berlin-Reise stellt Böttiger 1797 fest, »daß fast keine Gesellschaft, wo außer der Spiellust und Eßlust noch ein höheres Bedürfniß befriedigt werden soll, in Berlin gefunden wird, wobei nicht Juden eine beträchtliche Rolle spielen«. 3 Dülmen und Dann ordnen die >Berliner Mittwochsgesellschafo (1783-1800) mit ihrem exklusiven und geheimen Charakter den politischen Diskussionszirkeln< zu, weil sich Mitglieder wie Spalding, Teller, Zöllner, Biester, Nicolai, Dohm und Mendelssohn (Ehrenmitglied) wesentlich mit verfassungsrechtlichen Fragen beschäftigen und durch die Mitarbeit von hohen Beamten und Juristen wie Svarez, von Struensee und Klein maßgeblichen Einfluß auf das neue >Allgemeine Landrecht< in Preußen (1794) ausüben 4 . Die Charakterisierung als politischer Diskussionszirkel< ist ergänzungsbedürfig um den Aspekt wissenschaftlicher Vorträge zu verschiedenen Themen aus den Bereichen Naturwissenschaft, Finanzverwaltung, Popularphilosophie und manchmal der Literatur. Dies verweist auf den Zusammenhang zwischen Geheimgesellschaften, Akademien und Aufklärergesellschaften. Gemeinsam ist ihnen das Ideal konfessioneller, sozialer und nationaler Offenheit und der Glauben an die Wissenschaft, an Wahrheitsfindung durch vernunftgeleitetes Nachdenken und gegenseitige Kritik ohne Ansehen der Person und an den gesellschaftlichen Nutzen ihrer Diskussion für staatliche Reformen. 5

' K a r l A u g u s t Böttiger, A u s Böttigers Tagebuch einer Reise nach Berlin. 1797; in: ders., Literarische Zustände und Zeitgenossen, hg. aus dem handschriftlichen Nachlasse von K a r l Wilhelm Böttiger, Leipzig 1838, Bd. 2, S. 1 0 2 - 1 1 1 , S. 102. 4 Dann, Vereinsbildung, a.a.O., S. 2 1 3 . - Dülmen, Gesellschaft der Aufklärer, a.a.O., S. 95f. - Habermas, Strukturwandel, a.a.O., S. 97. - Horst Möller, A u f klärung in Preußen. D e r Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin 1974 (künftig: Möller, A u f k l ä r u n g ) , S. 221 weist auf die Forschungslücken über diese Gesellschaft hin. ' Möller, Vernunft und Kritik, a.a.O., S. 2 5 ; . — Nicolai berichtet über Zielsetzung und Selbstverständnis der Berliner Mittwochsgesellschaft: Ihre »Mitglieder hatten bloß eine vernünftige Unterhaltung über interessante und besonders wissenschaftliche Gegenstände zum Z w e k e , um durch freundschaftlichen Gedankenwechsel sich wechselseitig den Geist aufzuklären und dadurch B e g r i f f e mancher A r t sich selbst deutlicher zu machen und einer unpartheyischen P r ü f u n g zu unterwerfen. 236

In der mangelhaften Verwirklichung dieses Ideals, das Lessing 1778 in >Ernst und Falk< einklagte, ist eine der Entstehungsursachen der Berliner Mittwochsgesellschaft zu sehen. Denn nach dem Tod von Maupertius übernimmt Friedrich II. 1759 die Präsidentschaft der Berliner Akademie und verhindert durch den faktischen Ausschluß der Berliner Aufklärung einen Modernisierungsschub in Wissenschaft und Gesellschaft. N o c h 1771 hatte Friedrich II. die Berufung von Mendelssohn mit der Begründung abgelehnt, daß Juden in die Akademie nicht aufgenommen werden - ebenso wenig wie in den Staatsdienst. Erst nach seinem Tod 1786 gelingt dem Reformator Hertzberg eine Ö f f n u n g der Akademie für den Berolinismus durch die A u f nahme von Ramler, Seile, Bode, Teller, Möhsen, Engel, Biester, Nicolai und den auswärtigen Mitgliedern G a r v e und Eberhard. Insofern realisiert die Mittwochsgesellschaft Aufklärung und Toleranz in stärkerem Maße und kann als Ersatz für die Mängel in der gelehrten Kommunikationsstruktur der Berliner Akademie angesehen werden. Ersatz auch insofern, als die Vereinigung an der strikten Zweckgebundenheit von gelehrter Konversation und an der pragmatischen Ausrichtung von Wissenschaft festhält und die >freie, heitere Conversation dem weitgehend personalidentischen, bereits 1749 durch Pastor Schultheß gegründeten >Berliner Montagsclub< vorbehält. Die exklusiven Gespräche der 24 Mitglieder in der Mittwochsgesellschaft empfindet Davidsohn zwar als angenehm, »nur riecht es hier und da nach Pedanterie. Urbanität, Leichtigkeit, Konversation, mit einem Wort, was der Engländer good humour nennt, ist der deutschen Gelehrten ihre Sache nicht.« 6 D e r Zielsetzung entsprechen die Diskussionsmodi und die Rolle des G e heimnisses in der Mittwochsgesellschaft. Das Geheimnis unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht deutlich von der Funktion des Arkanums in Geheimgesellschaften. Mit dem strikten Verbot, politische und religiöse Fragen zu diskutieren, unterwirft sich die Freimaurerei staatlichen Vorschriften und verinnerlicht damit die vorgegebenen Grenzen. Daneben hat das Arkanum die soziale Funktion, Grade zwischen den Mitgliedern festzulegen und mit einer >Stufenleiter< der Bildung einen pädagogischen Anreiz für sittliche und wissenschaftliche Vervollkommnung zu schaffen. Beide Aspekte besitzen in der Mittwochsgesellschaft eine völlig andere Funktion. D a hier verbotene Themen erörtert werden, dient der Geheimcharakter mit absoluter Vertraulichkeit der Mitglieder untereinander ihrem Schutz vor staatlicher Verfolgung. Zweitens zielt die Diskussion auf eine indirekte Beeinflussung und

6

[. . .] Alle Mitglieder waren ächte Wahrheitsfreunde; daher ging die Bemühung eines jeden dahin, dasjenige was er für Wahrheit hielt, nicht durch Machtsprüche oder B e r u f u n g auf die Stimme im Innern sondern durch G r ü n d e geltend zu machen.« (Zitiert nach Möller, A u f k l ä r u n g , a.a.O., S. 232·) Zitiert nach Möller, A u f k l ä r u n g , S. 266. 2

57

Reform des aufgeklärten Absolutismus. Dementsprechend praktiziert diese Aufklärergesellschaft zwei Modi der Diskussion und Konsensfindung: Innerhalb des Zirkels herrscht eine gleichberechtigte Diskussion, die sich mit dem Verbot persönlicher Polemik und dem Ausschluß von Frauen aus der >gelehrten Diskussion< an den Konventionen der >Gelehrtenrepublik< orientiert. Die Vorträge werden als Zirkulare unter den Mitgliedern verbreitet, um eine Ubereinstimmung herzustellen: E i n in der Gesellschaft gehaltener Vortrag wird nicht blos dort besprochen, sondern er circulirt hernach bei allen Mitgliedern, um noch reiflicher überlegt zu werden, und kommt mit den beschriebenen Votis der Mitglieder zurück. 7

Paragraph 4 der Satzung der Mittwochsgesellschaft schreibt vor, daß keinem Nicht-Mitglied Inhalte von Vorträgen oder deren Verfasser mitgeteilt werden. Deshalb veröffentlicht die »Berlinische Monatsschrift^ das offiziöse Organ der Sozietät, nur die Positionen, die die Geschlossenheit der Gruppe nach außen nicht infrage stellen. Denkweise und Habitus der Mitglieder des >MontagsclubsMittwochsgesellschaft< und vieler Mitarbeiter der b e r liner Monatsschrift entsprechen der mittleren Generation der Aufklärung, die sich sozial aus gesellschaftlich und beruflich gut etablierten Männern der bürgerlichen Oberschicht mit einer »starken materiellen Bindung an den preußischen Staat« zusammensetzen.8 Trennung von zweckgebundener Diskussion und >recreatioDoppelsalon< (Heyden-Rynsch) eine Art Scharnierfunktion für die Entstehung der für Deutschland neuen Sozietätsform des Salons, die unter familiärem, verhaltensethischem und strukturellem Aspekt einen Traditionsbruch zu aufklärerischen Sozietätsformen markiert. 9 Nach seinem Philosophie- und Medizin-Studium in Königsberg, wo er Lieblingsschüler von Kant war, hält Herz in seinem Haus vor Ärzten und Diplomaten Philosophievorlesungen 7

Brief Biesters an Moses Mendelssohn von 1783; zitiert nach Möller, A u f k l ä r u n g , a.a.O., S. 230. 8 Möller, Vernunft und K r i t i k , a.a.O., S. 2 9 ; f . ' P e t r a Wilhelmy, Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert ( 1 7 8 0 - 1 9 1 4 ) , Berlin/New Y o r k 1989, S. 40. — R u d o l f Vierhaus, Jüdische Salons in Berlin und Wien zu Beginn des 19. Jahrhunderts; in: Etienne François (Hrsg.), Sociabilité et société bourgeoise, a.a.O., S. 95—104, S. 96. - Peter Seibert, D e r literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen A u f k l ä r u n g und Vormärz, Stuttgart/Weimar 1993, S. 1 0 2 - 1 3 3 . - Verena von der Heyden-Rynsch, Europäische Salons. Höhepunkte einer versunkenen weiblichen Kultur, Darmstadt 1992.

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ab und entspricht damit dem großen Bedürfnis nach Vermittlung neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Seine Nähe zum philosophischen Berolinismus drückt sich im Selbstverständnis aus, daß er sich reichlich belohnt fühlt, »wenn nur recht viele Kenntnisse aus der Bücherwelt ins gemeine Leben übergehen«. 1 0 Die wissenschaftliche Neugier der gehobenen Gesellschaftsschichten greift Zedlitz mit seiner Initiative zu öffentlichen Vorlesungen über alle Wissensbereiche auf. Herz hält Vorlesungen über L o gik und Metaphysik und gehört nach Böttigers Urteil »zu den besten D o centen«. Bemerkenswert ist, daß unter den ca. 60 Zuhörern seiner physikalischen Vorlesungen mit zahlreichen Experimenten »mehr Frauen als Männer« sind. Diese Ansätze tragen zum neuen Wissenschaftsbegriff der Berliner Universität von 1 8 1 0 bei. Abweichend v o m Gelehrtendiskurs bei Marcus Herz, aber oft mit denselben Gästen (ζ. B. K a r l Philipp Moritz), veranstaltet seine 17 Jahre jüngere Frau Henriette literarische Abende, die sich ab 1784 zu einem Salon entwickeln. Der hier gepflegte K u l t der Empfindsamkeit schlägt sich nieder in der Lektüre von Richardson und Goethe, bevor Henriette zu einer Schwärmerin für die Französische Revolution (bis 1 7 9 1 ) wird. Zusammen mit den beiden Mendelssohn-Töchtern Dorothea und Henriette, mit Wilhelm und Alexander von Humboldt, Carl von L a Roche (Sohn der Schriftstellerin Sophie von L a Roche), Therese Huber-Forster, Caroline von Dacheröden und Schillers Schwägerin Caroline von Wolzogen gründet sie zudem 1787 für zwei Jahre einen >TugendbundHerzensbildungwerktätigen Liebe< s i n d . " Einflüsse des Pietismus verschmelzen mit literarischen Vorbildern wie den Frauenidealen von Sophie L a Roche und einigen der Freimaurerei entlehnten Riten (Chiffren, Du-Anrede, Selbstbezeichnung als >LogeCauseriePhantasusPhantasus< gehen bei Tieck direkt auf seine Jenaer Zeit 1 7 9 9 - 1 8 0 0 zurück. 16 Böttiger, a.a.O., Bd. 2, S. 103. " V g l . Heyden-Rynsch, Europäische Salons, a.a.O., S. 156.

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mente der aufgeklärten Sozietäten, in der bewußten Provokation hergebrachter Traditionen und Konventionen sowie in der Inthronisation von Literatur und Ästhetik als neuen, synthetisierenden Leitbildern für ein ganzheitliches Lebensideal besteht. Zusammen mit den von Seibert nachgewiesenen Veränderungen wichtiger Verhaltens- und Denkweisen in der >zweiten Akkulturationsgeneration< erweist sich der (jüdische) Salon in Berlin als Ort des Generationsbruches und des kulturellen Wertewandels. Dieser äußert sich in der Architektur als Verdrängung und Marginalisierung des sakralen Bereiches durch den halböffentlichen geselligen Raum; im zwischenmenschlichen Bereich durch die Ersetzung der oft status- und schutzerhaltenden Zweckehe durch die Liebesheirat; im gesellschaftlichen Bereich in der Inszenierung des eigenen Körpers als Ausdruck für Individualität, die das Verbot für verheiratete jüdische Frauen, ihre Haare zu zeigen, und das Bilderverbot durch die Entwicklung einer jüdischen Portraitkunst (Jakob Abraham), 1 8 beseitigt. Die neue Rolle der Salonnièren verstärkt die kulturelle Emanzipation, die den Frauen in bescheidenem Umfang Bildung zugesteht. Ausgestattet mit den Tugenden der Ungezwungenheit, Natürlichkeit und Persönlichkeit wird dem weiblichen Geschlecht die Aufgabe eines sittlichen >Bildungselements< für die Entwicklung des Mannes zugeschrieben. Der Umgang mit Frauen in den Salons wird zur Garantie dafür, daß sich beim Mann die rauhen Sitten und die Steifheit abschleifen: »Nichts ist so geschickt, die letzte Hand an die Bildung des Jünglings zu legen, als der Umgang mit tugendhaften und gesitteten Weibern«, schreibt Knigge' 9 stellvertretend für viele Aufklärer. In den Salons repräsentiert die Frau das gesellige Element, ohne das Wissenschaft zur pedantischen Gelehrsamkeit wird, ohne das dem Mann die andere Hälfte der Menschheit zu seiner ganzheitlichen Entwicklung fehlt. Unter der Hand werden die Salons zu halböffentlichen Bildungsstätten für Töchter aus gehobenen Gesellschaftskreisen, die de facto von den höheren Bildungseinrichtungen ausgeschlossen waren. Durchaus im Sinne von Humboldts >Nationalanstalten< erhalten Frauen in dieser Sozietätsform eine gesellschaftliche Bildung. Diese nicht zu unterschätzende Ersatzfunktion der Salons garantiert, daß manche von ihnen bis zum i. Weltkrieg in einer Art Familiendynastie fortgeführt werden. An Empfindsamkeit und England-Kult, an der Verherrlichung der Werke Shakespeares und des frühen Goethe wird eine dritte, von der Sozietätsforschung vernachlässigte Dimension des Generationsbruches sichtbar: Der Salon ist der entscheidende soziale Ort, an dem die (frühromantische) Ablösung der Vorrangstellung der Philosophie durch Ästhetik und Literatur 11

Peter Seibert, Der literarische Salon, a.a.O., S. m f f . Knigge, Umgang mit Menschen, a.a.O., S. 189.

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stattfindet. In diesem Netz persönlicher, zweckfreier Interaktion und K o m munikation, das um die Jahrhundertwende immer weitere Gesellschaftskreise einbezieht, ist der Boden für die romantische Lebensreform einer >Poetisierung der Welt< zu sehen. Z u d e m begünstigt der Vorranganspruch von Literatur und Ästhetik, besonders im subjektiv begründeten

Ge-

schmacksurteil, einen Wechsel in den sozialen Trägerschichten vom Gelehrten und reformbewußten Staatsbeamten zu gesellschaftlichen Randgruppen, die sozial und weltanschaulich quer zur Ständehierarchie stehen und aufgrund ihres jugendlichen Alters weder beruflich noch familiär etabliert sind.

2. Fürstenerziehung im Gruppenmaßstab: Der Weimarer >Musenhof< der Anna Amalia und Goethes >Freitagsgesellschaft< Während in Berlin der kulturelle Wandel die F o r m eines Generationskonflikts annimmt, vollzieht sich die Entwicklung im kleinen Herzogtum Sachsen-Weimar weitgehend autonom von der preußischen Hauptstadt. Die beginnende Verschmelzung zweier K u l t u r g r u p p e ™ (Bruford) wird während der Regentschaft der Herzogin Anna Amalia durch ihre künstlerischen A m bitionen auf den Gebieten Malerei, Musik, Dichtung und Theater, durch ihre Rolle als Mäzenatin der Malerin Angelika K a u f f m a n n und durch die Berufung von Wieland zum Fürstenerzieher ihres Sohnes K a r l August geprägt. Mit Wieland kommt nicht nur ein philosophischer Dichter an einen traditionsreichen H o f , sondern ein Jahr später macht er mit seinem d e u t schen Merkur< Weimar zu einem wichtigen Publikationsort im deutschen Südosten und bildet mit diesem Forum den K e r n eines neuen kulturellen Zentrums gegenüber dem benachbarten rokokohaften Dresden und Berlin als Metropole der philosophischen Aufklärung. Die Neuerung vollzieht sich nicht widerstandslos, herrscht doch in Weimar wie an vielen Höfen eine strikte Trennung der höheren Stände v o m einfachen >VolkHoffahigkeit< wird Schiller in den ersten beiden Jahren nicht zu offiziellen E m p f a n g e n eingeladen, Goethe darf erst nach seiner Ernennung zum Geheimen Legationsrat an der fürstlichen Tafel Platz nehmen. Adlige, höhere Beamte, Juristen und Ärzte zeigen sich nur selten in der Öffentlichkeit. Selbst zwischen den Weimarer Sozietäten existiert eine scharfe Trennung zwischen Adel und Bürgertum. Sind zu den offiziellen Sonntagsempfängen und zum Mittwochskonzert nur >Hoffähige< zugelassen, so rächt sich das Bürgertum durch Ausschluß von Adligen aus seinen >Clubs< wie z. B. der 1787 gegründeten >MittwochsgesellschaftAnna Amalia< statt. 1764 gegründet, wird diese aristokratische Sozietät von Herrn von Fritsch, dem ersten Minister und vertrauten Berater von Anna Amalia, als Großmeister geleitet. Ihr gehören bald der gesamte Hofstaat und die höhere Beamtenschaft an, 1780 treten auch Karl August und Goethe bei. Nach der Krise auf dem Wilhelmsbader Kongreß wird die Loge 1783 geschlossen und erst 1808 im Zusammenhang mit den antinapoleonischen Kriegen wiedereröffnet. 21 Für die Herausbildung neuer Mentalitäten und ständeübergreifender Verhaltensweisen bedeutsam ist die engagierte Förderung der Künste durch Anna Amalia auch nach der Regierungsübernahme durch ihren Sohn. Schon vor Goethes Ankunft 1775 unterstützt sie bis 178} das Liebhabertheater. Als Goethe ab 1776 Stücke wie >Erwin und Elmire< und 1778 >Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern< inszeniert, schreibt sie die Melodien für die Lieder. Zusammen mit Einsiedel bringt sie 1 7 8 1 - 1 7 8 4 das >Tiefurter Journal< nach dem Vorbild des >Journal de Paris< heraus. Darin erscheinen wichtige Gedichte Goethes und sein Programmtext >Die Natur*. Bruford sieht in dieser handschriftlich vervielfältigten Zeitschrift ein publizistisches Zentrum dieser Jahre, durch das sich innerhalb der führenden Stände ein einheitlicher Geschmack, eine Aufwertung und gemeinsame Auffassung von Kultur im Herzogtum Weimar herausbilden, 22 deren Breiten- und Tiefenwirkung sich in den 90er Jahren zeigt. Auch wenn Sengles Relativierung des Mythos von der >Weimarer Klassik< im Gefolge von Grimm und Hermand zu berücksichtigen ist, 2 ' hat Weimar zo

Vgl. Walter H. Bruford, Kultur und Gesellschaft im klassischen Weimar 1775-1806, Göttingen 1966, S. 67. - Ein anonymer Autor berichtet über den lockeren Umgangston in einem anderen >KlubbKlassik-Legende< zur jüngsten Klassik-Diskussion; in: GoetheYearbook 6 (1992), S. 1-27. - Wilhelm Voßkamp, Klassik als Epoche. Zur Typologie und Funktion der Weimarer Klassik; in: Hans-Joachim Simm (Hrsg.), Literarische Klassik, Frankfurt a. M. 1988, S. 248-277. - Ders. (Hrsg.), Klassik im

244

für die Entwicklung eines kulturellen Regionalismus um 1800 eine Modellfunktion. Herder und Goethe, die nach einigen Jahren der Distanz in Weimar ihren Dialog wieder aufnehmen, orientieren sich gemeinsam an Mosers A u f f a s s u n g , der gegenüber einer zentralistischen Kulturtheorie in den Patriotischen

Phantasien< für einen kulturellen Pluralismus

eingetreten

war. 2 4 Sie entwickeln dies zu einem Konzept weiter, das die regionale K u l tur als Beitrag zur Humanisierung der gesamten deutschen Gesellschaft ansieht. Trotz aller früheren Differenzen stimmen Goethe, Wieland, Herder und später auch Schiller in ihren Publikationen wie >Neuer Teutscher MerkurBriefe zu Beförderung der Humanitär und >Horen< in der Grundauffassung einer Literarisierung und Kultivierung der höheren Weimarer Stände überein. Ausgehend von einer Fürstenerziehung im Gruppenmaßstab für Adlige und höhere Beamte sollen durch eine sittlich-ästhetische R e f o r m von oben letztlich alle gesellschaftlichen Schichten kultiviert werden. In den Fortsetzungsskizzen zu >Dichtung und Wahrheit< notiert Goethe retrospektiv für diese Jahre: D r a n g der Deutschen nach eigner innerer Kultur, besonders im Gegensatz mit der Französischen: Literarische K u l t u r , besonders des Mittelstandes. Sich durch den Adel zu den Fürsten verbreitend. Die Katholischen gleichfalls angeregt. 1 '

Das >Modell Weimar< mit seinem >sozialen und kulturellen Experimentierfeld< (Ueding) 2 6 läßt sich deshalb nicht auf die spätere Freundschaft von Goethe und Schiller verkürzen, sondern erhält schon durch Wielands Rolle als Fürstenerzieher und Publizist 27 und durch Herders Berufung als Generalsuperintendent nach Weimar

1776 die praktischen und

theoretischen

Konturen eines neuen kulturellen Zentrums in Deutschlands Südosten. Im Artikel >Idee zum ersten patriotischen Institut für den

Allgemeingeist

Deutschlands< (1788) nennt Herder als Bedingung der Annäherung der verschiedenen Stände die gegenseitige Achtung und SchonungNationalInteresse< soll das gemeinsame Band darstellen. A u c h Goethe hofft in sei-

14

Vergleich: Normativität und Historizität europäischer Klassiken ( D F G - S v m p o sium 1990), Stuttgart 1993. Vgl. Justus Moser, Patriotische Phantasien ( 1 7 7 4 - 7 8 ) . - Eine ausführliche Rezeption Goethes v o n Mosers kultureller Theorie findet sich im 15. Buch von »Dichtung und Wahrheit, M A , Bd. 16, S. 686f.

!1

Zitiert nach B r u f o r d , S. 58. Gert Ueding, Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1 7 8 9 - 1 8 1 5 , München 1988, Bd. 1, S. 72.

!7

Sven-Aage Jorgensen, Ist eine Weimarer Klassik ohne Wieland denkbar?; in: Wilfried Barner/Eberhard Lämmert/Norbert Oellers (Hrsg.), Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik, Stuttgart 1984, S. 1 8 7 - 1 9 7 . — Ders./Herbert Jaumann/John McCarthy/Horst T h o m é (Hrsg.), Wieland. E p o c h e - Werk - Wirkung, München 1994, Arbeitsbereich IV: Wieland in Weimar, S. 9 5 - 1 1 9 .

M5

nem Artikel literarischer Sansculottismus< auf eine >Art von unsichtbarer Schule< und eine Abkehr des deutschen Adels von der französischen Hofkultur: Denn die Bildung der höheren Klassen durch fremde Sitten und ausländische Literatur, so viel Vorteil sie uns auch gebracht hat, hinderte doch den Deutschen als Deutschen sich früher zu entwickeln/'

Goethes Begriff der unsichtbaren SchuleSchulbegriff< für Klassik und Romantik stilisiert, korrespondiert mit Herders Ansicht vom kosmopolitischen >Bund der Humanität*, dessen Anhänger eine >wahre unsichtbare Kirche< bilden. Doch so geheimnisvoll sind die Ansätze des neuen >Mittelpunktes gesellschaftlicher Lebensbildung< gar nicht, wie sie in der Literaturwissenschaft des vorigen Jahrhunderts erscheinen. Der entscheidende Ort, an dem sich Adlige, Fürsten und Bildungseifrige aller höheren Stände in Weimar zusammenfinden, an dem ein gemeinsamer, ständeübergreifender, wissenschaftlicher und ästhetischer Diskurs, eine wechselseitige Ausbildung* in geselliger Form und eine Konsensbildung über den Geschmack stattfindet, ist die 1791 von Goethe gegründete >FreitagsgesellschaftFreitagsgesellschaftNational-Wohlfahrt< (Herder) des Herzogtums und seiner Bewohner in praktisches staatliches Handeln umgesetzt werden. Mit der Anbindung von Geselligkeit an Wissenschaft, Gelehrsamkeit und Staatsführung kommt Goethes >Freitagsgesellschaft< dem Ideal von Staatsführung nahe, das Wieland im >Goldnen Spiegel· im Zusammenspiel der Figuren Tifan und Dschennis modellhaft dargestellt hatte. Begünstigt wird das Ideal durch die vielfältigen Kenntnisse der Teilnehmer und durch die Tatsache, daß an der Freitagsgesellschaft Mitglieder der Staatsführung von Sachsen-Weimar (Herzog Carl August und Goethe als Mitglieder des >Geheimen Conseik) und von Sachsen-Gotha (Herzog Ernst II. Ludwig) teilnehmen. In gewisser Weise ersetzt die wechselseitige Bildung< der Mitglieder das Geheime Concilium am Weimarer Hof oder gibt ihm zumindest wichtige geistige Impulse. In diesem Sinn ist das >Weimarer Modell< in Deutschland einzigartig und geht selbst über eine Verschmelzung zweier Kulturgruppen hinaus. Deutlich tritt das neuartige Arbeits- und Wissenschaftsethos mit seiner Ausrichtung auf staatliches Handeln in Goethes >Schema der hiesigen Tätigkeit, in Künsten, Wissenschaften und andern Anstalten< und in seinem erläuternden Schreiben an Voigt vom November 1795 hervor. Darin kündigt sich die Herausbildung einer gruppenspezifischen Mentalität an, die durch die praktischen Erfahrungen der ersten Jahre in der >Freitagsgesellschaft< geprägt ist: Es hatten zahlreiche monatliche Sitzungen zu verschiedensten Themen mit hohem wissenschaftlichen Anspruch stattgefunden, die dreistündigen Sitzungen mit bis zu sechs Einzelbeiträgen wurden des öfteren zeitlich weit überzogen. Angesichts der Vielfältigkeit der Themen und der Präsentationsformen (Vortrag, Experiment, Erzählung, Diskussion) hatte sich bei Goethe die Hoffnung herauskristallisiert, die Freitagsgesellschaft möge sich mit Bildenden Künsten, Botanik, Universität Jena, Zeitschriften, Bibliotheken, Naturwissenschaften, Observatorium und Erdbeschreibung e n beschäftigen. Im Begleitschreiben an Voigt spricht er das >Wie< dieser vielfältigen Beschäftigung an. Die entlegensten Wissensgebiete sollen in ihrer fortschreitenden stillen Wirksamkeit erkannt und in ihrer fortdauernden Wirkung< untereinander gefördert werden: »Alles Gute was geschieht wirkt nicht einzeln.«'6 In Anlehnung an Herders Reformulierung der Palin;Freitagsgesellschaft< vorträgt, und seiner eigenen Position zur Herausbildung einer deutschen Nationalliteratur im Sansculottismus-Aufsatz, propagiert Goethe einen geselligen Bildungs- und Erkenntnisbegriff, der die einzelnen Wissensgebiete durch eine unerklärliche, aber effektive Wirkung untereinander verknüpft. Sein Geselligkeitsideal treibt eine doppelte Methodenreflexion hervor: Wie lassen sich Einzelwissenschaften, Künste, Wirtschaft und Staatsführung zum Wohl des Gemeinwesens verknüpfen? Welchen Beitrag kann die partikulare Kultur eines kleinen Fürstentums für die Entwicklung einer umfassenden, humanen Gesellschaft leisten? Beide Probleme hofft er mithilfe des Begriffs der Wechselwirkung lösen zu können, denn ihr liegt eine ganzheitliche A u f f a s s u n g von (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnis und Schöpfung zugrunde, deren erste und letzte Ursache dem Menschen und Wissenschaftler verborgen bleibt, eine A u f f a s s u n g , die Goethe bereits 1784/85 im Dialog mit Herder und Frau von Stein in seinem epischen Gedichtfragment >Die Geheimnisse< formuliert hatte, einer poetischen Verarbeitung seiner >Studie nach Spinoza< 57 . Während einerseits die einzelnen Wissensgebiete untereinander in der noch vor sich gehenden Schöpfung einen geheimen Zusammenhang aufweisen, ist sie andererseits dem Menschen nicht vollständig erkennbar, sofern er als einzelner handelt. Die Aufsplitterung in viele Einzelwahrheiten kann nur durch eine tolerante, sich gegenseitig ergänzende Gemeinsamkeit der Wißbegierigen überwunden werden, so daß »die Begier nach höchster Ausbildung, obgleich einzeln unvollkommen, durch Zusammenleben« der Erkenntnis v o m inneren Zusammenhang der Schöpfung näher kommt. Was im Gedicht in Bezug auf die verschiedenen, gleichberechtigten Weltreligionen und deren epochale Blütezeiten ausgedrückt wird und ästhetisch in der mystischen Figur des >Humanus< zu einem mehrdeutigen Synkretismus führt, wird in der >Freitagsgesellschaft< zum Konzept des lebendigen, freimütigen Umgangs, der Vorrang vor einer individuellen Bildung aus Büchern hat. Das Konzept ermöglicht eine direkte, sachbezogene Entwicklung von Ideen, die Vermeidung von persönlichen Mißverständnissen und die fortschreitende, stille Wirksamkeit des einzelnen. Trotz aller scheinbaren Nichtigkeit im Alltag ist der einzelne ein nützliches Glied in der fortschreitenden >Kette der Kultur< (Herder) und wird ermutigt, in seinen Anstrengungen fortzufahren, auch wenn seine Leistung scheinbar keinen unmittelbaren E r f o l g zeitigt. p

Goethe, Studie nach Spinoza (1784), in: ders., Sämtliche Werke (Münchner Ausgabe) Bd. 2.2., S. 479-482. - Die Geheimnisse (E: 1784/85); ebda., S. 359-548. Das rätselhafte Gedicht, dessen eine Strophe Herder im 16. Buch seiner >Ideen< aufnimmt, wird erstmals 1789 in Goethes Schriften veröffentlicht. A u f A n f r a g e von K ö n i g s b e r g e r Studenten gibt Goethe 1 8 1 6 eine Selbstinterpretation des G e dichts, die im K o m m e n t a r zu dieser A u s g a b e wiedergegeben ist (vgl. Bd. 2.2., S. 838-844).

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Bestandteil des lebendigen, freimütigen Umgangs ist Goethes Aufwertung des Streits als produktivem Element für die Gewinnung neuer Erkenntnisse und für die Offenheit im zwischenmenschlichen Umgang. Im Gegensatz zu höfischen Redekonventionen und zum freimaurerischen Streitverbot stimmt Goethe in den 90er Jahren mit den Ansichten über Irrtum und Streit bei Wieland (>Goldner Spiegelt) und Weishaupt (>PythagorasLucinde< setzt Friedrich Schlegel die Dialektik von Streit und Harmonie damit fort, daß die Liebe »die Widersprüche nicht scheuen (darf), so wenig wie das Leben und die Menschheit; so wird auch ihr Frieden nur auf den Streit der Kräfte folgen«. 39 Während die Frühromantiker den aufgewerteten Streitbegriff stil- und gattungsbildend für ihr Ideal des Fragments und der persönlichen Polemik einsetzen, zieht Goethe in den Unterhaltungen deutscher Ausgewandertem einen Trennungsstrich zwischen sachbezogenem Erkenntnisstreit (Luise und der Alte) einerseits und verletzendem, persönlichem Angriff (Karl und der Geheimrat) andererseits, indem er sich auf Herders Begriff der wechselseitigen Schonung< stützt und damit dem produktiven Streit eine Grenze zieht. Goethes Ideal der geselligen Wechselwirkung beinhaltet den humanen Umgang gleichberechtigter, sich gegenseitig schonender und sich tolerierender, gebildeter Menschen, die ihre Neuigkeiten einander mitteilen und nie den Bezug ihre Erkenntnisse zum Leben und zur Gesamtheit der Schöpfung verlieren. Damit werden Differenzen zu Schillers individualistischem Konzept einer ästhetischen Erziehung deutlich. Schillers Absicht, ein >Gesetzbuch für die ästhetische Welt< zu schreiben, basiert auf einem fundamentalen Gegensatz von Wissenschaft und Kunst: Selbst der philosophische Untersuchungsgeist entreißt der Einbildungskraft eine Provinz nach der andern, und die Grenzen der Kunst verengen sich, je mehr die Wissenschaft ihre Schranken erweitert.4" Goethe, Gründung der Freitagsgesellschaft, a.a.O., S. 812. " Friedrich Schlegel, Lucinde; in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe in 3 5 Bänden, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean Jacques Anstett, Hans Eichner u. a., Paderborn 195 8ff. (künftig zitiert als K F S A ) , Bd. V, S. 5-92, S. 64. 40 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (E: 1795); in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1962 (3. Auflage), Bd. V, S. 570-669, 2. Brief, S. 572. - Das folgende Zitat aus dem Brief Schillers an Körner findet sich in derselben Ausgabe im Kommentarteil auf S. H37f· - Im Kern kann Schillers 250

A u s dieser Zeitklage legitimiert Schiller in einem Brief an K ö r n e r seine Erneuerung des Genie-Kultes: »Alle Erweiterung in der K u n s t muß von dem Genie kommen; die Kritik führt bloß zur Fehlerlosigkeit.« Schillers Position steht im Gegensatz sowohl zu einer ganzheitlichen Naturauffassung wie auch zur Rolle des einzelnen und der K u n s t im Rahmen der Schöpfung. Goethes Freitagsgesellschaft markiert dagegen einen Mentalitätsbruch zur älteren Aufklärergeneration und zur höfischen Gesellschaft durch ein naturphilosophisch beeinflußtes Konzept geselliger Wechselwirkung, das über Herder, Fichte und Humboldt bis auf die G r ü n d u n g der Berliner Universität wirkt. E s markiert eine Gruppenmentalität, die in der Freitagsgesellschaft ihren sozietären Ausdruck findet, durch sie gefördert wird und nach außen ausstrahlt. Wissenssoziologisch wird der Begriff der Wechselwirkung, der dem Konzept der >geselligen Bildung< zugrundeliegt, in diesen Jahren zu einer zentralen Denkvorstellung, die auf eine zunehmende Flut neuer Einzelerkenntnisse, auf verstärkte Wissensspezialisierung und auf den Erfahrungsschub der Französischen Revolution reagiert und um 1800 eine Methodenreflexion hervorruft. Herders Konzept einer geselligen Humanität in den >Briefen zu Beförderung der Humanität« (1793fr.) bedeutet für den einzelnen zunächst eine Ermutigung und geistige Unterstützung für seine Anstrengungen. Durch seine Teilnahme am Zeiten- und grenzenüberschreitenden >Bund der Humanität< fühlt er sein >Daseyn größer und stärken. Neben dieser Amplifikation individuellen Handelns wird Geselligkeit zur Grundlage für die Gattung Mensch und für das Wirken des Individuums über die sterblichen Grenzen hinaus. Die ideelle Geselligkeit verbindet die Individuen verschiedener Zeiten miteinander, indem es das Wissen des einzelnen bewahrt und von Generation zu Generation überliefert: K o m m e n nun verschiedene Menschen mit verschiednen Wissenschaften, Charakteren, Denkarten, Gesichtspunkten, Liebhabereien und Fähigkeiten zusammen: so erweken, so vervielfachen sich unzählbare Menschengedanken. Jeder trägt aus seinem Schatze v o m Wucher seines Tages etwas bei, und in jedem andern wird es vielleicht auf eine neue A r t lebendig. Geselligkeit ist der G r u n d der Humanität, und eine Gesellung menschlicher Seelen, ein wechselseitiger Darleih erworbener Gedanken und Verstandeskräfte vermehrt die Masse menschlicher Erkenntnisse und Fertigkeiten unendlich. 4 '

ästhetische Erziehung« auch als verspätete Apotheose des Genie-Kultes gelesen werden. 4 ' Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität (E: 1793-95); in: ders., Sämtliche Werke, Suphan, Bd. 17., 5. Brief, S. iof. - Vgl. jetzt auch J o h a n n Gottfried Herder, Werke in 10 Bänden (Bibliothek deutscher Klassiker), hg. von Martin Bollacher/ J ü r g e n Brummack u. a., Frankfurt a. Μ. 1985Ff.; Bd. 7, hg. von Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt a. M. 1991.

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Geselligkeit erhält in Herders Theorie einer kulturellen Entwicklung, wie er sie bereits in seinen >Ideen< entwickelt hatte, eine geschichtliche Tiefendimension, indem sie innerhalb einer progredierenden Menschheit zu einer Vergegenwärtigung von Vergangenem beiträgt und die aktuelle Generation in ein >Glied< der unendlichen Kette der Menschheit verwandelt. Wurde Geselligkeit in der naturrechtlichen Tradition als anthropologische Anlage des Menschen verstanden, sich mit seinesgleichen zum Schutz gegen wilde Tiere und Naturkatastrophen (Defizittheorie aus physischer Schwäche) oder zur Ausbildung der Vernunft (Erkenntnis- und Sprachtheorie) zu vereinigen, so erweitert Herder die Geselligkeit um den diachronen Aspekt. Sie wird zur entscheidenden Bedingung für Entwicklung und Tradierung einer humanen Kultur und der >Autoproduktivität< des Individuums (Irmscher): Da nun aber unser spezifischer Charakter eben darin liegt, daß wir, beinah ohne Instinkt geboren, nur durch eine lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die Perfektibilität als Korruptibilität unsers Geschlechts hierauf beruhet: so wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit notwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom ersten bis zum letzten Gliede. 4 *

Aus der geschichtsphilosophischen Perspektive vertreten Goethe und Herder die gemeinsame Ansicht, daß der Mensch die Pflicht hat, die ihm von der Schöpfung verliehene Disposition zu Humanität und Vervollkommnung auch tatsächlich zu entfalten. Herder entwickelt daraus sein Postulat vom lebenslangen Prozeß wechselseitigen Lernens: Und da, was wir werden sollen, wir nicht anders als durch uns und andre, von ihnen erlangend, auf sie wirkend, werden können: so wird nothwendig unsre Humanität mit der Humanität andrer Eins, und unser ganzes Leben eine Schule, ein Übungszweck derselben. 4 '

So wie für das Individuum die gebildete Geselligkeit die Bedingung zur Entfaltung seiner in ihm schlummernden Anlagen darstellt, so stellt sie auch die Bedingung dar, die philosophischen und wissenschaftlichen Einzelerkenntnisse mit dem Ganzen der Natur und mit der Schöpfung in Beziehung zu setzen. Geselligkeit ermöglicht eine permanente, wechselseitige Korrektur der Irrtümer, die aus der doppelten Semiotik der menschlichen Bilder von der Wirklichkeit entstehen, indem sich die Individuen durch die Mitteilung von Neuigkeiten und von Interessantem der Erkenntnis des Schöpfungszusammenhangs annähern. 44 41

Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit; Suphan Bd. 13, (9. Buch), S. 34;. 4 ' Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität, a.a.O., 32. Brief, S. 153. 44 Ulrich Gaier, Poesie oder Geschichtsphilosophie? Herders erkenntnistheoretische Antwort auf Kant; in: Martin Bollacher (Hrsg.), Johann Georg Herder: Geschichte und Kultur, Würzburg 1994, S. 1 - 1 8 , S. 3ff. 252

Verglichen mit G o e t h e und H e r d e r betonen die F r ü h r o m a n t i k e r und Fichte das politische M o m e n t geistiger Freiheit als B e d i n g u n g für Wechselwirkung zwischen gleichberechtigten Individuen. N a c h Fichte kann die empirische Mannigfaltigkeit nur dann zur Einheit und Z w e c k b e s t i m m u n g des Menschen führen, wenn die Menschen in einer selbstbestimmten, freien Gesellschaft leben und durch Wechselwirkung Irrtum und Vernünftigkeit ihrer B e g r i f f e überprüfen können: Der Mensch ist bestimmt, in der Gesellschaft zu leben; er soll in der Gesellschaft leben; er ist kein ganzer vollendeter Mensch und widerspricht sich selbst, wenn er isolirt lebt. [. . .] Nach dem Gesagten ist Wechselwirkung durch Freiheit der positive Charakter der Gesellschaft. 4 ' In seiner D e n k s c h r i f t >Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin< stützt sich Wilhelm v o n H u m b o l d t bei der G r ü n d u n g der Berliner Universität 1 8 1 0 wesentlich auf Friedrich Schlegel, Fichte und Schleiermacher. In A n a l o g i e zur B e s t i m m u n g der p r o gressiven Universalpoesie< ( A t h e n ä u m s - F r a g m e n t 1 1 6 ) soll das Prinzip der inneren Organisation der höheren Anstalten H u m b o l d t zufolge davon ausgehen, »die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz G e f u n d e n e s und nie ganz A u f z u f i n d e n d e s zu betrachten, und unablässig sie als solche zu suchen«. 4 6 E r erhebt die geheime Wechselwirkung zur wissenschaftlichen Methode: Wird aber endlich in höheren wissenschaftlichen Anstalten das Princip herrschend: Wissenschaft als solche zu suchen, so braucht nicht mehr für irgend etwas Anderes einzeln gesorgt werden. Es fehlt alsdann weder an Einheit noch Vollständigkeit, die eine sucht die andere von selbst und beide setzen sich von selbst, worin das Geheimnis jeder guten wissenschaftlichen Methode besteht, in die richtige Wechselwirkung. In A n l e h n u n g an J ü r g e n L i n k s Begrifflichkeit kann man resümieren, daß der B e g r i f f der Wechselwirkung die unterschiedlichen zeitgenössischen >Spezialdiskurse< (Naturwissenschaft, Philosophie, Religion, Literatur, Sprachtheorie, Verhaltensethik) zu einem >Interdiskurs< 47 verbindet und ein philosophisch fundiertes G e s a m t k o n z e p t einfordert, das in der >Freitagsgesellschaft< und in der Berliner Universität verschiedene institutionelle A u s p r ä g u n g e n erhält.

4>

Fichte, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (E: 1794); in: ders., Fichtes Werke, a.a.O., Bd. VI, S. 298-546, S. jo6f. 46 Wilhelm von Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (E: ca. 1810); in: ders., Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), a.a.O., Bd. 10, S. 250-260, S. 253. Das folgende Zitat befindet sich auf S. 254. 41 Jürgen Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, a.a.O., bes. S. 286. 2

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Gesellschaftspolitisch hat die Rückbindung von geselliger Humanität an eine organische Naturauffassung bei Herder und Goethe zwei Implikationen, die Rückbindung von individueller Erkenntnis und humanitärem Prozeß an Fortschritte in Wissenschaft und Staatsführung und die Ansicht einer ethisch begründeten Politik und einer sie repräsentierenden Geistesaristokratie.48 Durch eine >Reform von oben< soll auch eine Humanisierung der Bevölkerung möglich werden. Gesellige Humanität ist mit einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft nicht vereinbar, weil eine Revolution wie die in Frankreich einen unorganischen und nicht naturgemäßen Prozeß ausdrückt und ethisch nicht zu verantworten ist. Beide Aspekte führen zu Herders pointiert formulierter Ersetzung der Revolution durch Reform und Evolution in seinem Aufsatz >Tithon und Aurora< (1792), aber auch zu seiner dem Absolutismus entgegengesetzten Forderung nach einer Selbstkonstitution der Gesellschaft. In dieser doppelten gesellschaftspolitischen Frontstellung liegt ein Grund für die Ausstrahlung des >Modells WeimarSchule