Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert 9783406601606

Um 1900 war Großbritannien auf dem Höhepunkt seiner Macht und besaß ein riesiges Empire. Kein anderes Land hatte damals

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German Pages 463 Year 2010

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Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert
 9783406601606

Table of contents :
Cover......Page 1
Titel......Page 3
Impressum......Page 4
Inhalt......Page 5
Vorwort......Page 7
Einleitung......Page 11
Die Beerdigung von Königin Viktoria, 2. Februar 1901......Page 15
Erklärungen......Page 17
Der Burenkrieg......Page 23
Koloniale Kriege und Civilising Mission)......Page 25
Weltmacht und europäische Konkurrenz......Page 28
Wilhelm II. in Großbritannien und das Verhältnis zu Deutschland......Page 32
Die Lage der Wirtschaft......Page 34
Schichten und Klassen......Page 39
Parteien und politisches System......Page 45
Öffentlichkeit und soziale Bewegungen......Page 52
Umwelt......Page 55
Nationen und Regionen......Page 57
Drinnen und draußen......Page 61
Das Begräbnis......Page 64
Fit für die Zukunft?......Page 65
Neuer Imperialismus und Schutzzölle (TariffReform)......Page 67
Schulen, Religion und die Wahl von 1906......Page 71
Sozialreform und «The People's Budget»......Page 74
Verfassungskonflikt......Page 78
Home Rule......Page 81
Streiks......Page 83
Frauenbewegung......Page 85
Frauen, Männer und Familie......Page 87
Klassen, Konflikte und Konsum......Page 90
Überlegenheitsgefühl, Gerüchte und Paniken......Page 97
Der Weg in den Ersten Weltkrieg......Page 99
3. Der Große Krieg und seine Folgen,1914-1926......Page 107
Kriegsverlauf I......Page 109
Empire......Page 113
Klassen und Geschlecht......Page 116
Kriegsverlauf II......Page 120
Kriegsende......Page 122
Erwartungen, Hoffnungen und Ängste......Page 125
Nach dem Krieg......Page 127
Versailles, Irland und Emp......Page 130
Lloyd Georges Scheitern und der Durchbruch von Labour......Page 134
Labour und die konservative Dominanz......Page 136
Der Generalstreik......Page 141
Vorgeschichte......Page 142
Zuspitzung......Page 144
Der Streik......Page 146
Nachwirkungen......Page 149
Klassen und Strukturen......Page 150
Baldwin und die Konservativen......Page 153
Alltag und Erfahrungen......Page 156
Decent Englishman......Page 159
5. Ruhe vor dem Sturm, 1926-1939......Page 162
Vom Generalstreik bis zum National Government......Page 163
Wirtschaftliche Probleme......Page 166
Alternative Konzepte......Page 168
Lebensstandard......Page 171
Klassen und Kulturen......Page 174
Empire......Page 178
Appeasement......Page 183
Kriegsausbruch......Page 191
Die Ernennung von Churchill zum Premierminister......Page 193
Kriegsbeginn im Westen......Page 194
Their finest Hour......Page 197
The Battle of Britain......Page 199
Niederlagen, Katastrophen und Hoffnung......Page 202
Der Beveridge-Report......Page 204
A People's War?......Page 205
In Erwartung des Sieges......Page 211
Empire und Kolonien......Page 214
Der Weg zum Sieg......Page 217
Aufbruchstimmung......Page 221
Von der Wiege bis zum Grab. Die Begründung des Wohlfahrtsstaates......Page 224
Wirtschaftlicher Aufbau und Verstaatlichungen......Page 225
Empire, Europa und die Welt......Page 230
Kolonien und Mutterland......Page 237
Die Rückkehr der Konservativen......Page 239
Der Suezkrieg......Page 242
Too good to be true?......Page 249
Out of Africa.........Page 251
... und dem Rest der Welt......Page 256
Wirtschaft, Politik und Niedergang......Page 257
Labour übernimmt......Page 260
Die Konservativen und Edward Heath......Page 263
Großbritannien, Europa und die Welt......Page 266
The Empire strikes back?......Page 269
Winter of Discontent......Page 274
Lady Chatterley's Lover......Page 279
Jugendkultur und Massenkonsum......Page 281
Frauen, Männer und Familie......Page 285
Schichten und Klassen......Page 290
Bildung und Ausbildung......Page 292
Protest und Reform......Page 295
Frauenbewegung......Page 299
Umwelt......Page 301
Wertewandel?......Page 303
10. Thatcher und Major, 1979-1997......Page 309
Der Weg ins Amt......Page 310
Erste Schritte......Page 312
Privatisierungen......Page 314
Opposition......Page 316
Falklandkrieg......Page 318
Bergarbeiterstreik und Gewerkschaften......Page 320
Europa und die Welt......Page 326
Höhepunkt und Probleme......Page 329
Thatcher geht, Major kommt......Page 333
Labour in der Krise......Page 336
Grabenkämpfe und Zerfall der konservativen Regierung......Page 337
Labour reformiert sich......Page 340
New Labour und die Wahl von 1997......Page 343
Die Ära Blair......Page 346
Im Amt und Wiederwahl......Page 348
Schottland und Wales......Page 351
Nordirland......Page 354
Außenpolitik und humanitäre Intervention......Page 355
9/11 und der Krieg gegen den Irak......Page 358
Wirtschaft......Page 362
Banken- und Finanzkrise......Page 365
Schulen und Universitäten......Page 367
Das Gesundheitswesen......Page 370
Soziale Ungleichheit......Page 372
Die Konservativen......Page 376
07/07/05......Page 380
Ausländer und Zuwanderer......Page 382
Stephen Lawrence und alltäglicher Rassismus......Page 384
Eine multikulturelle Gesellschaft?......Page 386
Debatten um Britishness......Page 389
Asylbewerber......Page 391
Eindrücke......Page 393
Niedergang......Page 395
Klassen......Page 396
Wohlfahrt, Staat und Markt......Page 398
Beatles......Page 400
Empire und die vier Nationen......Page 402
Kriege......Page 403
Identitäten, Wahrnehmungen und Herausforderungen......Page 405
ANHANG......Page 406
Abkürzungen......Page 409
Chronologie......Page 411
Anmerkungen......Page 415
Literaturverzeichnis......Page 440
Tabellen......Page 445
Personenregister......Page 454
Karten......Page 458

Citation preview

Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert

herausgegeben von Ulrich Herbert

Franz-Josef Brüggemeier

Geschichte GROSSBRITANNIENS im 20.Jahrhundert Verlag C.H.Beck

Mit 4 Karten (S. 458/59, cartomedia, Karlsruhe S. 460-463, Peter Palm, Berlin)

© Verlag C.H.Beck oHG, München 2010 Umschlaggestaltung: www.kunst-oder-reklame.de Umschlagbild: Paul McCartney während des Drehs von «A Hard Day’s Night», 1964 © David Hum / Magnum / Agentur Focus Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten Druck und Bindung: CP1 - Ebner & Spiegel, Ulm Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany ISBN 978 3 406 60160 6 (broschierte Ausgabe) ISBN 978 3 406 60176 7 (gebundene Ausgabe)

tvwiv.beck.de

Inhalt

Vorwort............................................................................................ Einleitung..........................................................................................

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ERSTER TEIL

1900-1926 1. Großbritannien um ......................................................................... x5 2. Von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg................ 67 3. Der Große Krieg und seine Folgen, 1914-1926..............................IO7

ZWEITER TEIL

1926-1945 4. Großbritannien um 1926..................................................................141 5. Ruhe vor dem Sturm, 1926-1939.................................................... 162 6. Großbritannien um 1942: A People’s War?.................................... 191

DRITTER TEIL

1945-1979

7. You never had it so good, 1945-1961............................................. 221 8. Wind of Change, 1961-1979...........................................................251 9. Großbritannien urn 1965: Swinging Sixties?.................................. 279

VIERTER TEIL

1979-2010 10. 11. 12. 13.

Thatcher und Major, 1979-1997.................................................... 309 New Labour, New Britain?, 1997-2010......................................... 346 Briten, Zuwanderer und Ausländer ................................................380 Großbritannien 1900-2010: Rückblicke und Befunde................ 393

ANHANG Abkürzungsverzeichnis............................................................................... 409 Chronologie................................................................................................. 411 Anmerkungen.............................................................................. 415 Literaturverzeichnis......................................................................................440 Tabellen........................................................................................................445 Personenregister.......................................................................................... 454 Karten............................................................................................................ 458

Vorwort

Europa ist unsere Gegenwart, aber unsere Geschichte bleibt im Nationalen verwurzelt. Das hat seinen guten Grund, denn persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Traditionen, politische Optionen, kulturelle Orientie­ rung und Alltagsvertrautheit beziehen sich in allen europäischen Ländern, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, nach wie vor zuerst auf das Land, aus dem man kommt und in dem man lebt. Aber offenkundig reicht der nationale Rahmen nicht aus, um die Ge­ schichte des 20. Jahrhunderts zu verstehen, denn wichtige Entwicklungen erweisen sich schon beim zweiten Hinsehen nicht als national spezifische, sondern als gesamteuropäische Phänomene. Wie soll man regionenüber­ greifende historische Erscheinungen - vom Imperialismus bis zur Europä­ ischen Union, von den großen Diktaturen bis zur Ausbreitung des europä­ ischen Modells der sozialen Demokratie, von den Klassenkonflikten der 1920er bis zur Jugendrebellion der 1960er Jahre und von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise bis zum Wirtschaftswunder der 1950er und zum Ölpreisschock der 1970er Jahre - in den Kategorien des Nationalstaats erklären können, wo es sich doch offenkundig eher um gemeinsame Grund­ prozesse und deren Varianten handelt? Und doch dominiert in Europa nach wie vor eine Sichtweise, die den Nationalstaat als den vermeintlich natürlichen Aggregatzustand der histo­ rischen Entwicklung begreift und sich darum bemüht, nationale Diffe­ renzierungen und Sonderwege, Kontingenz und Divergenz als primäre, Konvergenz und Vereinheitlichungen hingegen eher als nachgeordnete Prozesse zu begreifen. Europa im 20. Jahrhundert hingegen a priori als Einheit zu betrachten und seine Geschichte auch so zu erzählen, ist nicht weniger problematisch. Denn dies transponierte die Vision einer gemeinsamen europäischen Ge­ sellschaft gewissermaßen nach rückwärts, als sei der Nationalstaat ledig­ lich eine Verirrung der vergangenen 150 Jahre gegenüber einer ansonsten im Wesentlichen gemeineuropäischen Erfahrung gewesen. Das vernachläs­ sigte nicht allein die national so extrem unterschiedlichen Entwicklungen, wenn man nur an Jahre wie 1917, 1933 oder 1989 denkt. Es negierte auch die daraus erwachsenen Erfahrungsdifferenzen, die sich nicht nur nach den

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Vorwort

Kategorien Klasse und Geschlecht, sondern im 20. Jahrhundert in ganz besonderer Weise nach Nationalität und ethnischer Zugehörigkeit ordnen. Tatsächlich sind das 19. und das 20. Jahrhundert in Europa ohne die nationalstaatliche Perspektive nicht entzifferbar. Um diesem Dilemma zu entkommen, versucht die Reihe «Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert» einen anderen Weg: Die Geschichten der europäischen Staaten und Gesellschaften werden je für sich erzählt, aber zugleich im Kontext der europäischen Entwicklung und der globalen Ver­ flechtungen. Um das zu verstärken, haben sich Herausgeber und Autoren auf eine gemeinsame Struktur geeinigt, die allen Bänden in stärkerer oder schwächerer Ausprägung zugrunde liegt: Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen werden in klassischer, diachroner Manier erzählt. An einigen, in allen Bänden etwa gleichen Zeitpunkten werden aber Querschnitte eingefügt, die es ermöglichen, Zustand und Zu­ stände in der jeweiligen Gesellschaft synchron darzustellen und dadurch dem Vergleich mit anderen Ländern zu öffnen. Das betrifft die Zeiträume um 1900, Mitte der zwanziger Jahre, im Zweiten Weltkrieg, Mitte der sechziger Jahre und nach 1990. Abweichungen von diesem Raster ergeben sich aus spezifischen Besonderheiten in den einzelnen Ländern. Auf diese Weise sollen im Konzert der Bände dieser Reihe Differenzen und Ähnlichkeiten, Konvergenzen und Alternativen erkennbar und die Nationalgeschichten aus ihrer Selbstbezogenheit gelöst werden, ohne die Eigendynamik und die spezifischen Traditionen der einzelnen Länder zu vernachlässigen. Bei dem Versuch, nationale Geschichte und europäische Perspektive zu verbinden, wird vielen Lesern das eine oder das andere zu kurz kommen, wie überhaupt das Unterfangen, eine Nationalgeschichte im 20. Jahrhundert in einem Band zu erzählen, einen gewissen Mut erfordert. Aber nur in dieser relativ gedrängten Form ist es möglich, diachrone Ent­ wicklungen zu schildern und Linien durch das Jahrhundert zu zeichnen, die bei erheblich umfangreicheren Bänden angesichts der Vielzahl der Themen und Aspekte nicht erkennbar würden. Wenn wir vom 20. Jahrhundert sprechen, so in einer spezifischen Weise. Es hat sich vielfach eingebürgert, den Ersten Weltkrieg als Wasserscheide zwischen den Jahrhunderten zu betrachten. Das hat Vorteile, weil dadurch die nachwirkenden Traditionen des «langen» 19. Jahrhunderts besser in Augenschein genommen werden können. Um die Geschichte des 20. Jahr­ hunderts zu erzählen, ist es aber nötig, die tiefgreifende Veränderungsdy­ namik der Jahrzehnte zwischen 1890 und 1914 zu berücksichtigen, die jahrzehntelang nachgewirkt hat und in kürzester Zeit eine solche Wucht entfaltete, dass alle europäischen Gesellschaften davon ergriffen und

Vorwort

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gezwungen wurden, auf diese Herausforderungen zu reagieren. So wird, wer den Aufstieg der Weltanschauungsdiktaturen und die beiden Welt­ kriege, den Holocaust und die Dekolonialisierung darzustellen und zu erklären hat, vor den Ersten Weltkrieg zurückgehen und die beiden Jahr­ zehnte vorher betrachten müssen, um die Durchsetzung des modernen In­ dustriekapitalismus, der immer mächtiger werdenden Staatsapparate und den Aufstieg der großen radikalen politischen Massenbewegungen zu ver­ folgen, die im Laufe des Jahrhunderts eine so zerstörerische Wirkung ent­ falteten. Daher wird in diesen Bänden die Geschichte des «langen zo. Jahr­ hunderts» erzählt, die von den 1890er Jahren bis etwa 2000 reicht - wobei der Ausgangspunkt klarer ist als das Ende. Schließlich hat Autoren und Herausgeber die Frage bewegt, wie man die so verschiedenen beiden Hälften des Jahrhunderts miteinander auf eine Weise verbinden kann, dass die Zusammenhänge zwischen beiden erkenn­ bar werden, ohne den tiefen Einschnitt von 1945 zu relativieren. Hier sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Gesellschaften unübersehbar. Aber zugleich lässt sich doch angesichts der vielfältigen politischen Ent­ würfe und radikalen Alternativen über Jahrzehnte hinweg das Bemühen der Zeitgenossen erkennen, gesellschaftliche Ordnungssysteme zu finden, die den Herausforderungen der modernen Industriegesellschaft angemessen sind. Das hat zu monströsen Gebilden und schrecklichen Opfern geführt. Aber man kann doch auch erkennen, dass auf viele Herausforderungen, die sich in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg so scharf herausgebildet hatten, in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg all­ mählich Antworten gefunden wurden, die sich bewährten und vermehrt auf Zustimmung stießen. Das betraf sowohl die Ausprägung der politischen Ordnung im Innern wie zwischen den europäischen Staaten, das Verhältnis von wirtschaftlicher Dynamik und sozialer Gerechtigkeit oder den Um­ gang mit der modernen Massenkultur. Dabei wurden die westeuropäischen Gesellschaften nach den 1960er Jahren einander immer ähnlicher, und zwar in Bezug auf das politische System, die soziale Ordnung, die kultu­ rellen Wertorientierungen ebenso wie hinsichtlich der Wirtschaftsordnung und des Alltagslebens. Solche Tendenzen gab es in Ansätzen in den ost­ mitteleuropäischen Ländern auch schon während der kommunistischen Herrschaft, und nach 1990 begannen sie sich rasch durchzusetzen. Mit diesen Tendenzen der Konvergenz und Homogenisierung der gesellschaft­ lichen Ordnungen in Europa, deren Bedeutung in historischer Perspektive deutlicher zu erkennen ist als zeitgenössisch, wuchs aber vielfach auch das Bedürfnis nach Differenz und nach Orientierung an der nationalen Ge­ schichte.

IO

Vorwort

Zugleich aber wurde nach der «goldenen Ära» der 1950er und 1960er Jahre die Brüchigkeit des industriellen Fundaments dieser Gesellschaften sichtbar, und neue Herausforderungen kündigten sich an, die unsere Gegen­ wart und vermutlich in noch stärkerem Maße unsere Zukunft bestimmen: das Ende der traditionellen Massenfertigungsindustrien, die ökologischen Krisen, die Ausprägung und Folgen der weltweiten Massenmigration, die neuen weltweiten ideologischen Konflikte nach dem Ende des Kalten Krieges, die zunehmende Bedeutung supranationaler Zusammenschlüsse und die globale Vernetzung wirtschaftlichen Handelns. Soweit man es von heute erkennen kann, werden die Jahre 2000 oder 2001 keine markanten historischen Zäsuren bilden. Aber es wird doch sichtbar, dass im letzten Fünftel des 20. Jahrhunderts etwas zu Ende ging, was 100 Jahre zuvor begonnen hatte, und etwas Neues einsetzte, das wir bislang weder definieren noch historisieren können.

Ulrich Herbert

Einleitung

Die britische Geschichte und die Entwicklungen in Großbritannien finden seit langem großes Interesse in Deutschland - und in anderen Ländern des europäischen Kontinents. Dabei galt das Inselreich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert sowohl als Vorbild wie als abschreckendes Beispiel und rief ganz unterschiedliche Reaktionen hervor. Als Vorbild galt es wegen der frühen Industrialisierung und der damit verbundenen wirtschaftlichen Überlegenheit, wegen des riesigen Empires oder auch der seit langem beste­ henden Vorrangstellung des Parlaments. Abschreckend hingegen wirkten die immer wieder festgestellten großen Klassenunterschiede, der Triumph des Manchester-Kapitalismus oder die vermeintliche Vorherrschaft mate­ rieller Werte über kulturelle Ideale. Auch jenseits solch grober Beurteilungen besaß und besitzt die britische Geschichte für Außenstehende eine besondere Bedeutung. Das gilt vor allem für das 20. Jahrhundert, wo tiefe Krisen die Länder des Kontinents erschütterten, bürgerkriegsähnliche Zustände oder selbst Bürgerkriege herrschten und Diktaturen eine Lösung versprachen, darunter mit beson­ ders verheerenden Folgen der Nationalsozialismus. Großbritannien er­ schien demgegenüber als Hort der Ruhe und allmählicher Veränderungen. Entsprechend groß ist die Zahl der Veröffentlichungen, die sich mit den so unterschiedlichen Entwicklungen befassen und dafür Erklärungen suchen. In den letzten Jahren allerdings haben diese abgenommen, wofür es vor allem einen Grund gibt: Nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete der Kalte Krieg zwar eine konstante Bedrohung, doch davon abgesehen verliefen jetzt auch auf dem Kontinent die Entwicklungen friedlich und führten zu stabilen politischen und gesellschaftlichen Zuständen. In den letzten Jah­ ren fanden zudem zahlreiche Prozesse der Angleichung statt, so dass heute bei einer Analyse der europäischen Länder vor allem die Gemeinsamkeiten hervorstechen. Kennzeichnend für die britische Entwicklung im 20. Jahrhundert ist allerdings, dass zentrale Entwicklungen und Veränderungen hier oft eher vollzogen wurden als auf dem Kontinent. Diese Sichtweise ist nicht neu. Sie war vielmehr auch um 1900 verbreitet, wo diese Darstellung einsetzt. Ge­ rade damals galt Großbritannien wegen seiner wirtschaftlichen Position,

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Einleitung

der Stärke des Empires oder der politischen Stabilität als Vorläufer von Entwicklungen, die für den Kontinent ebenfalls erwartet wurden. Dabei gab es bereits zahlreiche Hinweise darauf, dass der Vorsprung abnahm. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich, auch im Vereinten Kö­ nigreich selbst, eine Sichtweise durch, die in Großbritannien in erster Linie Schwächen und Rückständigkeiten erkannte. Diese Wahrnehmung war nicht falsch, aber doch einseitig und übersah, dass in diesem Land wei­ terhin zahlreiche Entwicklungen besonders früh stattfanden. Welche das waren und welche Folgerungen sich hieraus ergaben, werden die folgenden Ausführungen zeigen, beginnend mit dem ersten Kapitel, das die hier nur skizzierten Überlegungen ausführlicher darstellt und zeigen wird, dass Großbritannien in vielfacher Hinsicht ein ausgesprochen modernes Land war und dies bis in die Gegenwart hinein blieb. Dies gilt auch für die britischen Geschichtswissenschaften, wo über die etablierte Politik-, Ideen- oder Wirtschaftsgeschichte hinaus seit langem eine reichhaltige Tradition der Sozial-, Mentalitäts- oder Alltagsgeschichte besteht, auf der die vorliegende Untersuchung aufbaut. Die Darstellung versucht, einen Einblick in die Vielfalt der Fragestellungen und Aspekte zu geben, welche die Veröffentlichungen zur britischen Geschichte behandeln. Dazu werden immer wieder Themen des Alltags aufgegriffen, die zeigen, wie bis in diese Lebenswelt hinein zentrale Elemente der britischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ineinandergriffen, einander bedingten und im­ mer wieder erfahrbar waren - auch und gerade in der populären Kultur. Darauf bezieht sich das Titelbild, das nicht nur ein Mitglied einer weltweit erfolgreichen Band zeigt, sondern auch auf die große und in Großbritan­ nien schon früh erreichte Bedeutung der populären Kultur verweist. Die vorliegende Darstellung hat eine lange Vorgeschichte. Von Oktober 1972 bis Sommer 1973 studierte ich in York, dort begann mein Interesse an britischer Geschichte. Fast vierzig Jahre später lag das Manuskript zu diesem Buch vor. Selbstverständlich (und glücklicherweise) habe ich nicht so lange daran gearbeitet. Doch zu diesem Buch trugen viele Erlebnisse und Erfahrungen bei, die ich in Großbritannien während dieser Zeit gemacht habe, und noch mehr Personen, die ich traf und die mich mit ganz unter­ schiedlichen Aspekten der britischen Geschichte und Gegenwart vertraut machten. Von diesen kann ich nur wenige nennen, darunter meine Mit­ arbeiter Peter Kramper, Peter Itzen, Jens Ivo Engels und Robert Neisen, de­ ren Kenntnisse britischer und europäischer Geschichte eine große Hilfe bedeuteten; die Freiburger Kolleginnen und Kollegen Willi Oberkrome, Sylvia Paletschek, Heidrun Homburg, Jörn Leonhard und vor allem Bar­ bara Korte, die viel Zeit aufbrachten, frühe Entwürfe und fertige Fassun-

Einleitung

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gen lasen, diese kommentierten und mit Rat und Tat zur Seite standen; Johanna Beil, Volker Köhler, Sebastian Schlund, Scott Krause, Gerlinde Schuwald und ganz besonders Franziska Pusch, die bei der Recherche und der Korrektur immer wieder große Unterstützung bot; Richard Bessel, der zahlreiche Hinweise gab und mehrmals sein Haus in York zur Verfügung stellte, und nicht zuletzt Dave Gamston und Jean Scott, die über viele Jahre wichtige Freunde und kundige Gesprächspartner waren. Weitere Anregungen und Kritik erhielt ich durch das Kolloquium der Kollegen Werner Plumpe und Andreas Fahrmeir in Frankfurt, die Fellows der historischen Schule des FRIAS in Freiburg und die Zuhörer des GHI in London sowie bei Queen Mary, Universität London, wo ich meine Über­ legungen vorstellen konnte. Geduldige und anregende Zuhörer waren zu­ dem Kolleginnen und Kollegen in Großbritannien, darunter Mark Roodhouse, Jim Walvin, Tony Nicholls, Holger Nehring, Pat Thane, Ewen Cameron, Adrian Bingham, Jill Stephenson, Martin Chick, Frank Trent­ mann, Peter Catterall, Christina von Hodenberg, Richard Rodger, John Stevenson und Ian Kershaw. Besonders hervorheben möchte ich die Treffen mit Ross McKibbin, der nicht nur im Gespräch, sondern auch durch seine Veröffentlichungen zahlreiche Impulse gab, ohne die ein anderes Buch ent­ standen wäre. Eigens zu nennen ist die DFG, die mir ein Forschungsfrei­ semester gewährte und den Freiraum bot, um die Niederschrift zu erstellen. Bei deren Endfassung halfen Dr. Sebastian Ullrich und Carola Samlowsky vom Beck-Verlag und deren freie Mitarbeiterin Maite Hagen, die bis hin zu Formulierungen und zahlreichen technischen Fragen eine sichere Orientie­ rung boten. Mein Freiburger Kollege Ulrich Herbert kennt seit langem mein Inter­ esse an britischer Geschichte und fragte, ob ich für die Reihe «Europäische Geschichte im 2,0. Jahrhundert» den Band über Großbritannien verfassen möchte. Diese Aufgabe habe ich gerne übernommen und sehr profitiert von den konzeptionellen Überlegungen der Reihe und den Treffen mit anderen Autoren, unter denen ich Hans Wollet, Gerhard Hirschfeld, Wlodzimierz Borodziej, Jakob Tanner und Dietmar Neutatz hervorheben möchte. Als Herausgeber hat Ulrich Herbert das Manuskript gelesen, zahlreiche Vor­ schläge gemacht und geholfen, den Blick auf Großbritannien zu schärfen. Dieses Land ist mir in den letzten Jahren sehr vertraut geworden. Ob diese Nähe dem Buch geschadet hat oder ob es davon profitierte, müssen die Leser entscheiden. Für mich jedenfalls war und ist diese Vertrautheit wichtig und hat wesentlich dazu beigetragen, dass es - bei aller Mühsal und Arbeit - ein großes Vergnügen war, dieses Buch zu verfassen. Noch mehr dazu beigetragen hat jedoch meine Familie, schon deshalb weil meine Frau

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Einleitung

Joan aus Schottland kommt und eine ideale Gesprächspartnerin war. Das gilt auch für unsere Kinder Fiona, Kerstin und Colin, die in Deutschland groß wurden, sich aber oft in Großbritannien aufhielten und mir je andere Teile dieses Landes näherbrachten. Vor allem jedoch hat meine Familie Ge­ duld gehabt und immer wieder Interesse an dem gezeigt, womit ich mich in den letzten Jahren befasste. Sie waren die ersten und besonders kritische Leser, zum Glück aber auch positiv voreingenommen. Das wünsche ich mir auch von denjenigen, die dieses Buch kaufen und es aus welchen Gründen auch immer lesen.

ERSTER TEIL

1900-1926

1. Großbritannien um 1900 Die Beerdigung von Königin Viktoria, 2. Februar 1901 Am i. Februar 1901 eilte ein Mitarbeiter der Londoner Times zum Hyde Park, eine Oase der Stille in der hektischen Metropole. Dort wollte der Journalist sich jedoch nicht ausruhen, sondern den besten Platz für ein Er­ eignis erkunden, das am Tag darauf stattfinden sollte: die Beerdigung von Königin Viktoria. Diese war wenige Tage zuvor, am 22. Januar, auf der Isle of Wight verstorben, wurde dort erst aufgebahrt und dann nach Ports­ mouth überführt, durch ein Spalier von Kriegsschiffen, die für alle sichtbar die britische Weltmacht demonstrierten. Von Portsmouth ging es mit dem Zug zur Victoria Station in London, wo die Beerdigungsprozession durch die Stadt begann, vorbei an Buckingham Palace, Hyde Park und Marble Arch nach Paddington. Hier wartete erneut ein Zug, um den Sarg zu Schloss Windsor zu bringen und Viktoria im Frogmore Mausoleum zu bestatten, neben Prinz Albert, ihrem Gatten und der großen Liebe ihres Lebens.1 Zur Beerdigung wurde eine riesige Menschenmenge erwartet, und der Mitarbeiter der Times suchte im Hyde Park einen Platz, der eine gute Aus­ sicht bot. Er wollte in aller Frühe zuhause aufbrechen, denn das Interesse würde riesig sein, und das Angebot an guten Plätzen war knapp. Entlang der Strecke entstanden deshalb Tribünen, die für hohe Summen eine gute Sicht boten. Besonders Wohlhabende konnten ganze Wohnungen mieten und mussten dafür umgerechnet mehr als 15 000 € bezahlen. Diese Sum­ men schienen gerechtfertigt, denn in London stand ein ungewöhnliches Er­ eignis bevor, an dem viele persönlich teilhaben wollten. Das lag wesentlich an Viktoria selbst, die 1837 den Thron bestiegen und fast 64 Jahre regiert hatte, länger als jeder Monarch vor und nach ihr. Nur noch wenige Briten konnten sich an ihren Vorgänger, William IV, erinnern, alle anderen waren in ihrer Regierungszeit geboren. Sie verloren eine Köni­ gin, die sie ihr ganzes Leben begleitet und schon dadurch ein Gefühl der Sicherheit vermittelt hatte. Vor allem aber war Großbritannien unter ihrer Herrschaft zur unbestrittenen Weltmacht aufgestiegen. Als Viktoria starb, gehörte ein Drittel der Weltbevölkerung zum britischen Empire, das die

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Erster Teil: 1900-1926

Meere beherrschte, auf allen Kontinenten vertreten war, mehr Kolonien kontrollierte als seine Rivalen und eine größere Ausdehnung besaß als je­ des Weltreich davor - und danach. Beerdigt wurde somit nicht nur eine be­ eindruckende Person, sondern auch das Oberhaupt einer Weltmacht. Die Welt schaute deshalb gebannt auf das Vereinte Königreich, das - wie heute die USA - sowohl faszinierte wie auch heftige Kritik hervorrief. Es fiel schwer, sich eine klare Meinung von diesem Land zu bilden. Dazu waren die Eindrücke zu verwirrend, beginnend in London, dessen Größe alle anderen europäischen Städte bei weitem übertraf. Die britische Haupt­ stadt zählte fast 6,6 Millionen Einwohner und damit etwa genauso viele wie Paris, Berlin, Petersburg, Madrid und Rom zusammen.1 Hier residier­ ten reiche Adlige in luxuriösen Stadtpalästen, besaßen zusätzlich riesige Landsitze und prägten das gesellschaftliche Leben. London wimmelte von Fuhrwerken, Straßenbahnen und Bussen und besaß eine U-Bahn, die welt­ weit Bewunderung erregte. Über die Stadt verteilt fanden sich Wirtschaf­ ten, Restaurants und Vergnügungshallen, in denen Künstler aus allen Erd­ teilen auftraten; weitläufige Parks, prächtige Theater, Opernhäuser und beeindruckende Kirchen (deren Besuch allerdings zu wünschen ließ); eine Börse, die das Zentrum eines weltweiten Finanzsystems bildete; prospe­ rierende Betriebe, prachtvolle Einkaufsstraßen und ein lebhafter Hafen, wo neben zahllosen Handelsschiffen auch die mächtigste Flotte der Welt ankerte. 3 Doch daneben gab es bittere Armut, Kinder in Lumpen gekleidet und ohne Schuhe an den Füßen; überfüllte Stadtteile mit verschmutzten Straßen und Häusern, in denen fast 30 Prozent der Säuglinge das erste Jahr nicht überlebten; Personen, die von Geburt an oder durch einen Unfall körper­ lich entstellt oder verkrüppelt waren und denen die damalige Medizin nicht helfen konnte; verdreckte Abwässerkanäle, eine verschmutzte Themse und Gestank sowie Kohlestaub in der Luft, der im Winter die Sonne kaum durchließ. Frauen mussten ihren Körper mit (meist) schwarzer Kleidung bedecken, durften nicht wählen und besaßen weniger Rechte als Männer. Diese dominierten nicht nur in Politik und Wirtschaft, sondern auch in der Öffentlichkeit mit ihren Clubs, Wirtschaften oder Sportplätzen, zu denen Frauen nur begrenzt Zugang hatten. Allerdings besaß selbst unter den Männern etwa ein Drittel kein Wahlrecht, während eine kleine, wohlha­ bende und selbstbewusste Oberschicht weiterhin den Ton angab. Doch da­ neben bestanden Gewerkschaften, deren Einfluss zunehmend wuchs; eine Frauenbewegung, die für mehr Rechte kämpfte; ein wachsendes Interesse an sozialen Fragen oder auch strenggläubige Freikirchen, die für rigide Moralvorschriften kämpften.4

i. Großbritannien um 1900

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Erklärungen Es fällt schwer, diese verwirrenden Eindrücke zu ordnen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und ein klares Bild vom damaligen Groß­ britannien zu gewinnen. Das gilt umso mehr, wenn wir über London hi­ naus auch die anderen Teile des Landes betrachten, zusätzlich das riesige Empire berücksichtigen und schließlich entscheiden, welche der Eindrücke und Merkmale spezifisch britisch waren. Denn überall in Europa herrsch­ ten große Armut und enorme Klassenunterschiede; neueste Technik und ärmlichste Lebensbedingungen standen nebeneinander, Kirchen besaßen großen Einfluss, Frauen waren weit von einer Gleichberechtigung entfernt und Arbeiter kämpften um ihre Rechte. Hier und in vielen anderen Be­ reichen wiesen die europäischen Länder große Gemeinsamkeiten auf, wo­ bei die einzelnen Elemente allerdings sehr unterschiedlich ausgeprägt wa­ ren. Verallgemeinerungen sind entsprechend schwierig, aber möglich und vor allem erforderlich, um Großbritannien um 1900 und die weitere Ge­ schichte dieses Landes im 20. Jahrhundert zu beschreiben und zu verste­ hen. An Angeboten dafür besteht kein Mangel. Eine verbreitete Sichtweise betont als besonderes Merkmal der Briten ihre Eigenschaft - so die Formulierung von George Orwell - «einander nicht zu töten». Abgesehen von kleineren Staaten sei England das einzige «europäische Land, wo die Innenpolitik in einer mehr oder minder huma­ nen und anständigen Art und Weise ausgetragen wird».’ 1947, als Orwell diese Feststellung traf, war der Zweite Weltkrieg mit seinen Millionen von Toten gerade beendet, und für seine Aussage ließen sich gute Gründe an­ führen. Großbritannien hatte keinen der beiden Weltkriege ausgelöst; auch die Revolutionen und Bürgerkriege, die 1789 Frankreich und in den kom­ menden Jahrzehnten ganz Europa erschütterten, waren auf der Insel aus­ geblieben. Hier fanden stattdessen allmählich Reformen statt, bei denen die Monarchie an Macht verlor, die Rechte des Parlamentes zunahmen und die Zahl derjenigen wuchs, die das Wahlrecht erhielten und sich an der Politik beteiligten. Außerdem hat Großbritannien die Industrielle Revolu­ tion hervorgebracht und ein Empire begründet, das Ende des 19. Jahrhun­ derts die Welt beherrschte. Mit anderen Worten: Hier erfolgten Verände­ rungen nicht durch Umstürze, sondern durch schrittweise Reformen. Diese Sichtweise war um 1900 weit verbreitet, auch bei ausländischen Zeitungen, die über Viktorias Tod berichteten. In ihrer Regierungszeit, so das Neue Wiener Tagblatt, blieb England ein liberales Land, «während der Kontinent ein Schauplatz der Unterdrückung und andere Völker das Opfer willkürlicher und grausamer Missherrschaft waren». Die österreichische Neue Freie Presse lobte «den politischen und kommerziellen Fortschritt,

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Erster Teil: 1900-1926

seine liberalen Institutionen und die wissenschaftlichen Entdeckungen, (die) anderen Ländern als Vorbild» dienten.6 Es ist kein Zufall, dass die Londoner Times diese Beurteilungen abdruckte. Denn sie bestätigten eine in Großbritannien verbreitete (Selbst-)Wahrnehmung, die sich als Whig In­ terpretation ofHistory? seit Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzte, bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschte und die Bereitschaft zu fried­ lichen Reformen betont. Überreste davon finden sich noch heute, gerade in Überblicksdarstellungen. «Mehr als die meisten Europäer», so Kenneth Morgan noch vor wenigen Jahren, «waren die Briten am Ende des 20. Jahr­ hunderts weiterhin ein lebendiges, kreatives, besonderes Volk. ... Sie hat­ ten die Herausforderungen überlebt, die der Rückzug des Empire, der wirt­ schaftliche Niedergang und industrielle Konflikte verursachten, doch sie wahrten ihre Geschlossenheit und blieben unversehrt.»8 Diese Sichtweise ist verständlich, zeichnet aber ein zu einfaches Bild. So geht die zunehmende Macht des Parlamentes nicht nur auf Reformen, son­ dern auch auf den Bürgerkrieg von 1640 bis 1660 zurück, in dem immer­ hin der König hingerichtet wurde. Mehrfach wurden im 19. und auch im frühen 20. Jahrhundert Reformbewegungen gewaltsam unterdrückt, die Forderungen nach mehr Selbstbestimmung für Irland führten zu blutigen Unruhen, und Gewalt und Unterdrückung waren ein wichtiges Merkmal des Empire. Auch kämpften viele Gruppen lange vergeblich für Reformen und fühlten sich ausgegrenzt, darunter Frauen, Arme, Minderheiten oder Ausländer. Einen Gegenpol zur Whig Interpretation bildet die These vom Niedergang Großbritanniens im 20. Jahrhundert. Auf den ersten Blick klingt diese über­ aus plausibel. Denn die Weltmacht, die um 1900 die anderen europäischen Staaten überragte, büßte ihre Vormacht spätestens nach 1945 ein, war schon zuvor auf die militärische Hilfe der USA angewiesen und verlor auch ökonomisch ihre einstmals führende Rolle, zuerst an Deutschland, dann an Japan und wurde schließlich sogar von Italien eingeholt. Sorgen über diesen Niedergang wurden bereits um 1900 geäußert, als der Aufstieg Deutsch­ lands und der USA abzusehen war und Großbritannien im Burenkrieg über­ raschende Niederlagen erlitt. In den folgenden Jahren verloren die Klagen an Bedeutung, kamen jedoch immer wieder auf und erreichten ab den 1970er Jahren einen Höhepunkt. Zu diesem Zeitpunkt war das Empire auf wenige Gebiete geschrumpft, das Militär erfuhr anhaltende Kürzungen, und das Wirtschaftswachstum blieb deutlich hinter dem anderer westeuro­ päischer Länder zurück. Hinzu kamen zahllose Streiks und heftige innen­ politische Konflikte, die 1978/79 im Winter of Discontent gipfelten. Das Land schien unregierbar und galt als «kranker Mann Europas».?

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Zum Niedergang erschienen zahlreiche Veröffentlichungen, sei es von Historikern, Ökonomen, Politikern oder Journalisten, die nicht nur akade­ mische Bücher und Aufsätze veröffentlichten, sondern auch in populären Artikeln und Beiträgen, im Radio und im Fernsehen darüber debattierten. Entsprechend vielfältig waren und sind die Erklärungen, die oft weit zu­ rück reichen und im Ausland, zumal in Deutschland, bis heute das Bild von Großbritannien prägen.10 Dabei ist die Vorstellung eines langfristigen Nie­ dergangs problematisch und erweckt vielfach geradezu einen falschen Ein­ druck. Das gilt schon für die Wirtschaft, die in Großbritannien in den letz­ ten hundert Jahren schneller wuchs als im 19. Jahrhundert, das gemeinhin als Blütezeit gilt. Entsprechend stieg der Lebensstandard auf ein zuvor un­ bekanntes Niveau, während parallel dazu Bildung, Wissenschaft und zahl­ reiche andere Gebiete beeindruckende Fortschritte verzeichneten. Als eindeutiger Niedergang ist allenfalls der Verlust des Empire zu ver­ buchen, doch es fällt schwer, diesen zu bedauern oder gar darüber zu kla­ gen, dass London nicht mehr über Indien oder afrikanische Kolonien herrscht. So bleibt - im Vergleich zu anderen Ländern - allenfalls ein rela­ tiver Niedergang, der allerdings unvermeidbar war, da der um 1900 be­ stehende Vorsprung nicht aufrechterhalten werden konnte. Zudem ging dieser nicht überall zurück, sondern blieb in vielen Gebieten wie dem Finanzsektor bestehen oder hat sogar zugenommen. Und schließlich ist zu fragen, wer einen Niedergang erlebte. Fraglos nicht die unteren Schichten, deren Lebens- und Bildungsstandard heute bedeutend höher ist als um 1900; auch nicht die Frauen, die mehr Rechte besitzen, oder die Minder­ heiten, die einen größeren Schutz und mehr Toleranz erfahren. Dennoch: Die Debatte um einen Niedergang ist wichtig. Zum einen gab es im 20. Jahr­ hundert Phasen, in denen die Wirtschaft tatsächlich vergleichsweise lang­ sam wuchs bzw. einen seit langem bestehenden Vorsprung verlor. Zum anderen - und dies ist mindestens genauso wichtig - haben Zeitgenossen immer wieder von einem Niedergang gesprochen, darüber erhitzt disku­ tiert und ganz unterschiedliche Forderungen gestellt, was dagegen zu un­ ternehmen sei. Neben den Auseinandersetzungen über die Whig History und den be­ fürchteten Niedergang sind andere Themen zu nennen, die Großbritannien im 20. Jahrhundert stärker prägten als die Länder des europäischen Fest­ lands, darunter vor allem das Empire. Kolonien besaßen auch Frankreich, Spanien, Belgien, Portugal, die Niederlande und in Ansätzen sogar Deutsch­ land. Doch das britische Empire unterschied sich von diesen schon in seiner Größe und prägte nahezu alle Aspekte der britischen Geschichte, sei es durch Aus- und Einwanderung, Handel, Karrieremöglichkeiten, Missio-

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nierungen oder Kriege bis hin zu vielfältigen Formen des kulturellen Aus­ tausches. Lange Zeit galt dabei Großbritannien als zentraler Akteur, der die entscheidenden Impulse gab. Doch mittlerweile ist deutlich geworden, dass keine einseitigen Entwicklungen erfolgten, sondern vielfältige Rückwir­ kungen bestanden, die auch die britische Gesellschaft erheblich veränder­ ten, nicht nur in Mode, Sport, Musik oder Kultur - allein die Beiträge von Salman Rushdie11 oder Vikram Seth12- zeigen dies -, sondern auch in Wirt­ schaft, Wissenschaft, Militär oder durch die Zuwanderungen nach dem Zweiten Weltkrieg. In London, um nur ein Beispiel herauszugreifen, waren 2001 mehr als 300 Sprachen zu hören, hier lebten mehr als fünfzig ethni­ sche Gruppen, die jeweils mindestens 10 000 Personen zählten. Zu diesen Gruppen gehören auch Iren, Waliser und Schotten. Dass deren Geschichte und Kultur weit zurück reichen, ist bekannt, wurde aber von Zeitgenossen wie späteren Historikern lange Zeit wenig beachtet, die Großbritannien und England oftmals gleichsetzten. Spätestens seit den 1970er Jahren ist das nicht mehr möglich, als in Irland (erneut) Konflikte ausbrachen und in Schottland sowie Wales die seit langem bestehenden na­ tionalen Bewegungen wieder auflebten. Sie erinnerten daran, dass das Ver­ einigte Königreich - nach oft blutigen Kämpfen - aus drei Königreichen (England, Schottland, Irland) hervorgegangen war und vier Nationen (zu­ sätzlich Wales) umfasst, die derzeit ihr Verhältnis zueinander neu bestim­ men. Das ist mit zahlreichen Konflikten verbunden und wirft unter anderem die Frage auf, welche Stellung England neben den drei anderen Nationen einnehmen soll, ob weiterhin eine gemeinsame britishness besteht und was darunter zu verstehen ist.13 Die Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert verlief also überaus komplex, zumal zusätzlich zum Empire und den vier Nationen auch die unterschiedlichen Klassen und Schichten, Zuwanderer, Altersgruppen, Re­ ligionen und nicht zuletzt die jeweils spezifischen Erfahrungen von Män­ nern und Frauen beachtet werden müssen. Es fällt schwer, diese so unter­ schiedlichen Aspekte miteinander zu verbinden und ein klares Bild oder gar eine «Meistererzählung» für die Geschichte Großbritanniens im 20. Jahr­ hundert zu entwickeln. Eine solche ist nach dem Ende der Whig Interpreta­ tion und der Niedergangsdebatte auch nicht zu erkennen und soll hier ebenfalls nicht versucht werden. Das bedeutet jedoch keinen Nachteil, son­ dern öffnet den Blick für die Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Kontingenz der britischen Geschichte. Die folgende Darstellung wird deshalb eine Vielzahl von Aspekten, The­ men und Zugangsweisen berücksichtigen, sich aber auch bemühen, verbin­ dende Elemente zu benennen, Zusammenhänge herzustellen und Erklärun-

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gen anzubieten. Dabei wird sie drei Themenbereiche besonders beachten, die im 20. Jahrhundert nicht nur für Großbritannien, sondern auch für die anderen europäischen Staaten von großer Bedeutung waren (und es noch sind): erstens das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, das zahlreiche Änderungen erfuhr und aktuell erneut intensiv diskutiert wird; zweitens Ausprägungen von Gleichheit und Ungleichheit nicht nur sozialer Art, sondern auch als Folge von Geschlecht, Alter oder Ethnie; drittens das Streben nach Weltmacht und die Sicherung des Empire, die das Verhältnis zu den anderen europäischen Mächten entscheidend prägten, für die Kolonien gravierende Auswirkungen besaßen und auch die briti­ sche Gesellschaft erheblich beeinflussten. Die folgenden Kapitel bieten also kein master narrative an, lassen sich aber von einer zentralen These leiten: Im 20. Jahrhundert fanden in Groß­ britannien in weiten Teilen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik wich­ tige Entwicklungen früher, oft deutlich früher statt als auf dem Kontinent. Dieses Land war um 1900 bereits erheblich stärker urbanisiert, besaß einen deutlich größeren tertiären Sektor und eine weit entwickelte Konsumge­ sellschaft, während die Landwirtschaft und damit verbundene gesellschaft­ liche Gruppen oder Vorstellungen an den Rand gedrängt waren. Diese und andere Unterschiede blieben in den folgenden Jahrzehnten bestehen, so dass es berechtigt ist, Großbritannien für das 20. Jahrhundert in wichtigen Bereichen als das modernste Land Europas zu bezeichnen. Diese Aussage mag überraschen, denn sie widerspricht dem vertrauten Bild eines Landes, das sich nur langsam ändert, Traditionen bewahrt und seine Eigenheiten pflegt. Hinzu kommt, dass es bekanntermaßen schwierig ist, die Begriffe «modern» oder gar «Modernisierung» genauer zu bestim­ men. Das gilt umso mehr, als bei ihnen normative Vorstellungen mitschwin­ gen, wonach moderne Elemente erstrebenswert, wenn nicht «besser» sind. Die Begriffe sind deshalb in die Kritik geraten, allerdings weiterhin im Gebrauch, nicht nur in der Alltagssprache, in der ganz selbstverständlich die jeweils neuen Ereignisse, Entwicklungen, Produkte oder Verhaltenswei­ sen als modern bezeichnet werden. Das gilt auch für historische Arbeiten, deren Verfasser zwar grundsätzliche Bedenken äußern, zugleich aber das Adjektiv «modern» verwenden, um aktuelle Phänomene und Entwicklun­ gen zu benennen.>4 Der Begriff «modern» wirft also Schwierigkeiten auf, bietet aber auch Vorteile, wenn er hinreichend präzise definiert und seine Bedeutung einge­ schränkt wird. In der folgenden Darstellung besitzt er vor allem eine zeit­ liche Komponente und besagt, dass in Großbritannien auf vielen Gebieten wichtige Entwicklungen früher stattfanden als auf dem Kontinent. Diese

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Feststellung gilt nicht generell. Vielmehr gab es auch Bereiche, in denen die­ ses Land zeitlich keinen Vorsprung aufwies oder gar zurückfiel, so in der Chemie oder der Elektrotechnik, wo Deutschland und vor allem die USA eine führende Rolle übernahmen. Wieder andere Gebiete sind schwer zu beurteilen, darunter die Stellung der Monarchie oder der anhaltende Ein­ fluss aristokratischer Eliten, zu deren Beschreibung und Analyse die Be­ griffe «modern» oder «traditionell» wenig hilfreich sind. Mit anderen Worten: Wie jede Gesellschaft war auch die britische von unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten und Mischungsverhält­ nissen geprägt. Wie diese jeweils aussahen und welche Folgen sich daraus ergaben, werden die folgenden Kapitel zeigen. Vorab sei lediglich allgemein darauf verwiesen, dass der zeitliche Vorsprung sowohl Vor- als auch Nach­ teile brachte. Ein Nachteil bestand darin, dass in Großbritannien zentrale Entwicklungen nicht nur früher einsetzten, sondern sich auch länger hin­ ziehen konnten, da oft erst spät zu erkennen war, welche Bedeutung sie besaßen und wohin sie führen würden. Entsprechend konnten damit ver­ bundene Konflikte länger andauern und als besonders schmerzhaft erlebt werden. Zugleich bot diese Langsamkeit auch Vorteile, da sie mehr Zeit ließ, sich an Veränderungen anzupassen und Reformen vorzunehmen. Und schließlich führte der zeitliche Vorsprung dazu, dass bestimmte Konflikte sich in Großbritannien weniger zuspitzten, wie der Blick auf die Landwirt­ schaft und die Weltwirtschaftskrise zeigen wird. Nachrückenden Nationen hingegen boten die britischen Entwicklungen zwar keine eindeutige Handlungsanleitung, aber doch eine Orientierung. In wichtigen Bereichen, insbesondere in der Wirtschaft, konnten sie auf Groß­ britannien (und später vor allem auf die USA) schauen, künftige Entwick­ lungen besser einschätzen, die erforderlichen Maßnahmen ergreifen und rasch aufholen. In anderen Bereichen hingegen, vor allem in der Politik, konnte der größere zeitliche Druck jedoch zu Nachteilen führen. Denn er ließ weniger Spielraum, um Anpassungen vorzunehmen und sich über diese zu verständigen, so dass Konflikte sich zuspitzten und Kompromisse schwe­ rer zu finden waren - wie auf dem Kontinent immer wieder deutlich wurde. In den folgenden Ausführungen steht Großbritannien im 20. Jahrhun­ dert im Mittelpunkt. Gleichzeitig schauen sie aber immer wieder über des­ sen Grenzen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Ländern des Kontinents besser erkennen zu können. Dazu gehören die zahlreichen Kriege des 20. Jahrhunderts. Damit sind nicht nur die beiden Weltkriege gemeint, die in Großbritannien bis heute - wohl mehr als in jedem anderen europäischen Land - als positiver Bestandteil der eigenen Geschichte gese­ hen werden. Hinzu kamen vielmehr zahlreiche andere kleinere oder grö-

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ßere militärische Konflikte, die dazu führten, dass dieses Land im 20. Jahr­ hundert (und schon im 19.) mehr Kriege führte als jeder andere Staat in Europa. Einer davon fand statt, als Viktoria verstarb: der Burenkrieg, des­ sen Erfolge anfangs Begeisterung auslösten. Als die britischen Truppen jedoch herbe Niederlagen erlitten, kam die Sorge auf, die britische Welt­ macht und das Empire seien gefährdet. Der Burenkrieg Am 2. Februar 1901, dem Tag der Beerdigung von Viktoria, veröffentlichte die Times die Namen von mehr als vierzig Personen, die gerade im Buren­ krieg in Südafrika verwundet oder gefallen waren. Die Verluste waren so groß, dass die Armee trotz der allgemeinen Trauer auch in diesen Tagen weitere Freiwillige rekrutierte. Dabei hatte der Krieg im Oktober 1899 so verheißungsvoll angefangen und schien bereits nach wenigen Wochen zu­ gunsten der britischen Truppen entschieden zu sein.1? Der Krieg fand in einem Gebiet statt, wo Briten und Buren, die überwie­ gend aus den Niederlanden stammten, seit langem um die Vorherrschaft stritten. Als Folge dieser Konflikte zogen sich viele Buren ab den 1830er Jahren ins Landesinnere zurück und gründeten zwei Burenrepubliken allerdings auf Kosten der einheimischen Zulu, Xhosa, Swasi und anderer Gruppen, die vertrieben bzw. unterworfen wurden. Auch die Konflikte mit der britischen Kolonial Verwaltung bestanden fort und führten 1880/81 zum ersten Krieg gegen die Buren, die ihre Unabhängigkeit verteidigten. Allerdings war dieser Erfolg bald gefährdet, da ausgerechnet auf ihrem Ge­ biet große Gold- und Diamantenvorkommen gefunden wurden, die zahl­ lose Firmen und Abenteurer anlockten. So entstanden neue Konflikte, die schließlich zum zweiten Burenkrieg führten, angestachelt durch Alfred Milner, der als britischer Hochkommissar ganz Südafrika kontrollieren und vom Kap bis Kairo ein einheitliches Kolonialgebiet etablieren wollte. Hinzu kamen weitere Faktoren: die strategische Bedeutung Südafrikas für den Seeweg nach Indien; die Weigerung der Buren, den anderen Weißen in ihren Republiken die politische Gleichberechtigung zu gewähren; und bri­ tische Beschwerden über die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung wenngleich dies ein eher vorgeschobenes Argument war. Tatsächlich, so Lord Selborne, Staatssekretär im Colonial Office, müsse Großbritannien Südafrika zeigen, «that we, not the Dutch, are Boss».16 Derartige Konflikte um Gebiete und Herrschaft kamen seit den Anfän­ gen des Empire häufig vor und fanden um 1900 meist ein schnelles Ende, da das britische Militär weit überlegen war. Das erwartete Milner auch die­ ses Mal, doch seine Truppen waren schlecht vorbereitet und erlitten herbe

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Niederlagen, die in London Entsetzen auslösten. Die Regierung entsandte deshalb zusätzliche Soldaten und ernannte neue Kommandeure, zuerst Fre­ derick Roberts und später Herbert Kitchener, der nach Siegen in anderen kolonialen Kriegen den Status eines Helden genoss. Bald stand eine Über­ macht von fast 500000 britischen Soldaten lediglich etwa 80000 Buren gegenüber. Im Sommer 1900 schien der Krieg gewonnen. Roberts kehrte nach England zurück und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, die jedoch voreilig erfolgten. Denn die Buren gaben sich nicht geschlagen, sondern gingen zu einer Guerilla-Taktik über und fügten den britischen Truppen schwere Verluste bei. Kitchener änderte daraufhin ebenfalls seine Taktik und betrieb eine Poli­ tik der verbrannten Erde: Um den kämpfenden Buren Unterstützung und Fluchtmöglichkeiten zu nehmen, ließ er Häuser, Dörfer und Felder zerstö­ ren und Frauen und Kinder in besonderen Lagern (concentratton camps) einsperren. Doch für diese Lager waren keine ausreichenden Vorkehrun­ gen getroffen, so dass dort bald unerträgliche sanitäre Zustände herrsch­ ten, nicht genügend Nahrung und Wasser zur Verfügung standen, und etwa 28 000 Frauen und Kinder sowie - in separaten Lagern - weitere 14000 Schwarze starben.1? Angesichts dieser Opfer ließ der Widerstand der Buren allmählich nach, wenngleich beim Tod Viktorias ein Ende der Kämpfe noch nicht abzusehen war. Die Zeitungen mussten vielmehr hohe Verluste melden, selbst am Tage der Beisetzung. Auch danach dauerte der Krieg noch weitere sechzehn Monate an, bis die Buren erschöpft und de­ moralisiert aufgaben. Kitchener errang also einen Sieg, doch mit hohen Verlusten und großem Schaden für das Ansehen des Königreichs. Auf dessen Seite waren etwa 22 000 Soldaten gefallen, mehr als bei jedem anderen Konflikt in den Jahr­ zehnten zuvor. Die Buren beklagten fast 4000 tote Soldaten und die 28 000 Opfer der Konzentrationslager. Hinzu kam die Zerstörung von etwa 30000 Farmen und 40 Städten, während die Zahl der Verwundeten und Gefallen unter der schwarzen Bevölkerung nicht genau zu ermitteln ist, vermutlich aber etwa 20000 betrug.18 Diese Zahlen lösten große Empörung aus, auch in Großbritannien, wo Henry Campbell-Bannerman, der Führer der liberalen Opposition, die Re­ gierung beschuldigte, den Krieg mit «barbarischen Mitteln» zu führen. Nicht minder heftig fiel die Kritik in Deutschland und Frankreich aus, wo Paul Krüger, der Präsident der Burenrepublik Transvaal, in großen Ver­ sammlungen stürmisch gefeiert wurde, als er 1900 vor britischen Truppen nach Europa floh. Hier war eine gewisse Schadenfreude zu spüren, da die britische Weltmacht unerwartete Schwächen offenbarte.

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Koloniale Kriege und : http:www.thecommonwealth.org/, aufgerufen am ¿i.i.zoio. 2 1961 ausgetreten; ’984 wieder beigetreten 3 1972 ausgetreten; 1989 wieder beigetreten 4 Tanganjika ab 196t, Tansania (mit Sansibar) ab 1964 5 Beitritt als special member, Vollmitgliedschaft seit 2000 6 1987 ausgetreten, 1997 wieder beigetreten, seit 2009 suspendiert 7 Beitritt als special member, Vollmitgliedschaft seit 2000 8 Beitritt als special member, Vollmitgliedschaft seit 1985 9 Beitritt als special member, Vollmitgliedschaft seit 1985

Tabellen

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Tabelle jo: Das Britische Empire im Vergleich. Zeitgenössische Karte, ca. i)} i

ME IMITtMl EMRE

'FUiWD-feTQiliii;

OtiniBtifatiiaufmMUfrittimrcMi

Personenregister

Abramovich, Roman 383 Acheson, Dean 267 Adams, Gerry 354 Ahmad, Muhammad 25 f. Ajegbo, Keith 397 Ashley, Laura 340 Asquith, Herbert 75-77, 79 f-, 87, 107, 111, 113,119,124, 136, 155 Atkinson, Rowan 401 Attlee, Clement 219 f., 232, 238 f., 260, 340 Auden, Wystan H. i70 Baden-Powell, Robert 50, 103, 105 Badham, Samantha 3Sof. Baldwin, Stanley 13 6 f., 144, 15 3-156,160, 163 f., 176,183 f., 190, 199, 345 Balfour, Arthur 69, 73, 75, 78, 81, 87, 133,

179 Barlow, Sir John 97 Barnes, George 125 Beatles 261, 283, 400E Beckett, Margaret 340 Beckham, David 372,391 Bell, Daniel 305 Bell, Richard 48 Benn, Tony 317 Bevan, Aneurin 169, 239, 296 Beveridge, William Henry 204 f., 218, ZyZ 373 Bevin, Ernest 207,217,236 bin Laden, Osama 358 Blair, Cherie 346 Blair, Tony zz9, 337, 340-350, } ,

367,370,372.f., 378f-, 382,30, 404 ’ 396’ Blériot, Louis 99 Bolan, Marc 289 Bonar Law, Andrew 8 if., 87, Bond, James 248 f. Booth, Charles 39, 53 f., 79 Bourdieu, Pierre 284 Bowie, David 289 Bowlby, John 300

Brando, Marlon 289 Brandt, Willy 260 Branson, Richard 304 Britten, Benjamin 296 Brown, Gordon 293, 337, 341,343 !•’ 346 f„ 355, 362, 378 f., 389 f, 399 Burns, Robert 58 Burnum Burnum (Harry Penrith) 391 f. Bush, George H.W. 328 Bush, George W. 358-362 Byant, Arthur 173 Callaghan, James 255, 273, 275 f., 278 f., 293,311-313,336,345 Cameron, David 303, 379, 39z, 398 Campbell-Bannerman, Henry 24, 73, 76 Campbell, Alastair 342 Carson, Edward 179 Castle, Barbara 262,276 Cecil, Robert (Lord Salisbury) 29, 50 f., 53, 68 f., 76 Chamberlain, Joseph 5 1-53, 55, 68-70, 73, 79, 103, ) 07, 171 Chamberlain, Neville 183 f., 187-189, 191-194, 199, 206 Charles, Prinz 349 Christie, Agatha 175 Churchill, Randolph 29 Churchill, Winston 29, 75—77, 79, 85, 104, 107, hi, 123, 139, i48, 157, 168, 182L, 189, 192—194, 197-199, 201-207, 212-214, Z19-2.Z1, 231-233, 235, 240-242, 293 Clapton, Eric 304 Clarke, Kenneth 377 Clarkson, Thomas 389 Clemenceau, Georges j 30 Clinton, Bill 342, 357,^74 Conrad, Joseph 93 Cook, Robin 356,362 Crossick, Geoffrey 45 Cugoano, Ottobah 389 Curzon, George z6f., IOo, i 33 f., 136, ■37

Personenregister Daladier, Edouard 1X3 Dangerfield, George 139 Davidson, Randall 33 Davison, Emily Wilding 86 de Gaulle, Charles 223, 25^» de Menezes, Jean Charles 381 de Valera, Eamon 1 1 6 Dean, James 297 Diana, Lady, geb. Spencer 34^ Dickens, Charles 93 Douglas-Home, Alec 260 f. Doyle, Arthur Conan 55, 93’ Dreyfus, Alfred 30 Du Bois, William E.B. 27, 230 Duncan Smith, Ian 378 Dunlop, Marion Wallace 86 Dyer, Reginald 1 34 Ecclestone, Bernie 349 Eden, Anthony 205, 242-245, 2-47’ z49 Edward VII. 34, 42, 58, 63 f-, Edward VIII. 1 85 Einstein, Albert 98 Eisenhower, Dwight D. 247 Elgar, Edward 44, 59, 93 Elizabeth II. 242, 272 Equiano, Olaudah 389 Farouk, König von Ägypten 21 5 Fawcett, Millicent 86, 88 Feldman, Marty 40 Foot, Michael 199, 196, 3 17, 319, 326 Freud, Sigmund 98 Friedrich 1. 32 Gaitskell, Hugh 24 s, 260, 267 Galbraith, John Kenneth 260 Galtieri, l.eopoldo 3 1 9 f. Gandhi, Mahatma 100, 134, 181 f. George V. 80, jo8, 142 George VI. 193, 217 Giddes, Eric 1 25 Gilligan, Andrew 361 Gladstone, Herbert 86 Gladstone, Margaret Ethel 137 Gladstone, William 46, 49, 52, 75 Goldsmith, James 377 Gorbatschow, Michael 328 Gordon, Charles G. 25 f., 96 (¿ort, Lord (Vereker, John) 195 (low, Ronald i 76 Greenwood, Walter 176 Hague, William 377 f. Haig, Alexander 318, 320 Halifax, Lord (Wood, Edward f.L.) 194 Hardie, Keir 45,48

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Hardy, Thomas 93 Harmsworth, Alfred (Baron Northcliffe) 53, 97-99 Harmsworth, Harold 53 Harris, Arthur 214 Harris, Lee 380-81 Healey, Denis 317 Heath, Edward 263-266, 268, 272, 276 f., 294, 3 iof., 321 f., 3 34 Henderson, Arthur 118 Heseltine, Michael 334 f. Hillary, Edmund 242 Hitler, Adolf 162 L, 183-191, 193, 197-203, 208, 210, 216 f., 223, 245 Hoare, Samuel 187 Hobbs, John i6of., 176 Hoggart, Richard 282 Holst, Gustav 59,93 Hopkinson, Henry 237 Howard, Michael 378 Howe, Geoffrey 334 Hussein, Saddam 338,356,359 Hutton, Brian (Lord) 36 t Hyndman, Henry M. 83 Ismay, Hastings L. 237 Jagger, Mick zXy, 2.95 f., Z99, 304 Jenkins, Roy 298, 384 Johnston, Harry 30 Jones, Claudia 271 Kaldor, Nicholas 364 Kemal, Mustafa (Atatürk) iti, 135, 179 Kennedy, Bart 97 Kennedy, Dane 161 Kennedy,John f. 256,260,267 Kenyatta, Jomo 230, 253 f. Keynes, John Maynard 101, 139, 167-159 208, 230, 258, 3 11 f. Kinnock, Neil 335-337,341 Kipling, Rudyard 93 Kitchener, Herbert 24-26, 28, 63, 96, 1 402 Krüger, Paul 24 Langhans, Rainer 295 Lansbury, George 168 f. Laval, Pierre 187 Lawrence, David H. 54 ,279 Lawrence, Stephen 384-386 Lawson, Nigel 334 Lennon,John 283,305 Light, Alison 160 Linlithgow, Lord (Hope, Victor ) 215 Liverpool, Lord (Jenkinson, Robert) 30^ 346

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Personen register

Lloyd George, David 55, 62, 75-79, 86, 91, in, 113, 121, 123-125, 130, 133-137, 139, 142, 149, 153, 155, 168-170, 180, 219 Lucas, Matt 401 Lynn, Vera 210 MacDonald, Ramsay 49, 84, j 37, 145, 150, 165, 168 MacGregor, Ian 322-23 Macmillan, Harold 108, 169, 207, 226, M3, 247, M9-5^ 257, 261, 267, 295, 39« Major, John 293, 334-338, 345, 354, 363 f., 368,377 Malik, Kenan 390 f. Mandelson, Peter 342, 350 Marconi, Gugliemo 124 Marley, Bob 307 Marx, Karl 83 Masterman, Charles 45 Mazower, Mark 45 McDonald, Trevor 273 McGuiness, Martin 355 Milner, Alfred 23, 53, 55, 82,96, 103 Milosevic, Slobodan 356 Mitford, Nancy 206 Mond, Alfred 164 Monet, Claude 56 Monnet, Jean 223 Moore, Hannah 389 Morgan, Kenneth 18 Mosley, Oswald 168-170,185,397 Mountbatten, Louis 232-234 Mugabe, Robert 254,328 Murdoch, Rupert 325, 336,341 Mussolini, Benito 162, 169,179, 183, 185, 185-187, 190,197 Nasser, Gamal Abdel 243-247 Nehru, Pandit 100 Nicolson, Harold 202 Nightingale, Florence 389 Nkrumah, Kwame 230,253 Norgay, Tenzing 242 Obama, Barack 254, 402 Obermaier, Uschi 295 Orwell, George 17, 29, 176, 285 Osborne, John 297 Paisley, Ian 354 f. Pankhurst, Christabel 119 Pankhurst, Emmeline 54, 119 Petain, Philippe 196 Philips, Trevor 386, 389, 397 Phillip, Arthur 392

Picasso, Pablo 192 Pinochet, Augusto 355 f. Planck, Max 98 Pompidou, Georges 268 Portillo, Michael 377 Powell, Enoch 272, 397 Prescott, John 340 Priestley, John B. 1 56 f. Radcliffe, Cyril 23 3 Reagan, Ronald 311, 327E Recs-Mog, William 298 Reid, Sir James 3 3 Reith, John 1 56 f., 175 Remarque, Erich Maria 187 Rhodes, Cecil 26, 41,67h, 106 Rifkind, Malcolm 377 Roberts, Frederick 24, 28 Robinson, Geoffrey 3 50 Rolling Stones 283,295,401 Rommel, Erwin 203 Roosevelt, Franklin D. 202, 2.14, 23 1 Rowntree, Seebohm 39, 53 h, 72, 77, 174, 250, 290 Rubinstein, William D. 174 Runcie, Robert 339 Rushdie, Salman 20, 384, 386 Ruskin, John 55 Russell, Bertrand 296 Russell, Francis 346 Russell, John (Lord) 346 Sachsen-Coburg und Gotha, Prinz Albert von i5, 64 Scargill, Arthur 323 f. Scarman, Leslie (Lord) 385 Scott, Walter 58 Seacole, Mary 389 Selborne, Lord (Palmer, William) 23 Seilers, Peter 401 Sen, Amartya 390 Sentamu, John 387 Seth, Vikram 20 Shakespeare, William 59, 93 Shaw, George Bernard 54 h, 93 Simpson, Wallis 18 5 Sinowjew, Gregor 138,145 Smith,John 337, 340-342 Smuts, Jan 1 14 Stalin, Josef [ 88 h, 208, 2 i 1 h Stephenson, Robert Louis 58 Stewart, Moira 269 Stopes, Marie 177 Straw,Jack 385 Strubs, Sidney 176

Personenregister Summerfield, Penny 2 î i Swann, Lord 385 Tawney, Richard H. 292 Tebbit, Norman 338, 391 Thatcher, Margaret 241,262, 266, 269, 274 f., 279, 290, 298, 300, 307, 309-323, 325-329, 331-346, 355, 363 f., 369 f., 376-380, 384, 391,395 f., 398 f. Thompson, Edward P. 296 Trenchard, Hugh 150 Tse Tung, Mao 309 Turner, Ben 1 64 Tynan, Kenneth 305 Tyrell-Kenyon, Lloyd 176 Viktoria I. 1 5, 17, 23 f., 29 f., 32, 33, 37, 41 f., 45, 48, 54 f., 58 f., 63-66, 72, 88-90, 103, 250, 393, 401 Walliams, David 401

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Watson, Sam 241 Waugh, Evelyn 340 Webb, Beatrice 55, 142 Welles, Orson 142 Wells, Herbert G. 54,108 Westminster, Duke of 41,383 Whitehouse, Mary 298, 338 f. Whitelaw, William 3 11 Wilberforce, William 389 Wilde, Oscar 93 Wilhelm II. 32-34, 64 William IV. 15 Williams, Ralph Vaughan 44,93-94 Williams, Rowan 388 Wilson, Harold 239, 257, 260 f., 263, 266, 268, 273, 275, 277, 283 f., 321, 364 Wilson, Woodrow i3of. Winston, Robert 370 Woolf, Virginia 95