Erscheinung bei Kant: Ein Problem der "Kritik der reinen Vernunft" 9783110838824, 9783110064278

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Erscheinung bei Kant: Ein Problem der "Kritik der reinen Vernunft"
 9783110838824, 9783110064278

Table of contents :
Vorwort der Herausgeber
Vorwort
Einleitung
Kapitel I. Zwei Arten empirischer Gegenstände, Dinge und Erscheinungen
Abschnitt 1. Der problematische Begriff der Erscheinung
§ 1. Erscheinung und Phänomen
§ 2. Der Begriff der Gegebenheit und der Unterschied zwischen unmittelbar und vermittelt Gegebenem
§ 3. Bestimmung als Deutung. Kants Modell für Erscheinung
Abschnitt 2. Die Notwendigkeit der Voraussetzung von Erscheinungen
§ 4. Die Gewinnung der transzendentalen Reflexionsebene
§ 5. Erscheinung und Schein
§ 6. Der transzendental-objektive Gegenstand
Kapitel II. Zwei Arten empirischer Urteile, Erfahrungs- und Wahrnehmungsurteile
Abschnitt 1. Keine Lösung des Erscheinungsproblems in der ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“
§ 7. Deutung durch Anwendung von Kategorien
§ 8. Kants Begriff der Wahrnehmung
Abschnitt 2. Ein erster Schritt zur Lösung in den „Prolegomena“. Das Wahrnehmungsurteil
§ 9. Die Problematik des Wahrnehmungsurteils
§ 10. Die drei Kriterien des Wahrnehmungsurteils
Kapitel III. Erscheinungen als Gegenstände von Wahrnehmungsurteilen und ihre transzendentalphilosophische Begründung
Abschnitt 1. Wahrnehmungsurteile als „Es scheint ...“-Urteile
§ 11. Der Schein und Ausdrücke wie „Scheinbar ...“ und „Es scheint nur so ...“
§ 12. Die Erscheinung und Ausdrücke wie „Anscheinend ...“ und „Es scheint ...“
§ 13. Die Identität der Kriterien von Wahrnehmungsurteilen und „Es scheint ...“-Urteilen
Abschnitt 2. Kants Lösung des Erscheinungsproblems in der zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“
§ 14. Deutung und nichtdeutende ‘Bestimmung’
§ 15. Ursprüngliche Anwendung und abgeleiteter Gebrauch von Kategorien
§ 16. Der transzendental-subjektive Gegenstand
Literaturverzeichnis
Namen-, Sach- und Stellenregister

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Prauss * Erscheinung bei Kant

W G DE

Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Günther Patzig, Erhard Scheibe, Wolfgang Wieland

Band 1

Walter de Gruyter & Co. Berlin 1971

Erscheinung bei Kant Ein Problem der „Kritik der reinen Vernunft"

von

Gerold Prauss

Walter de Gruyter & Co. Berlin 1971

Archiv-Nr. 34 96 701

© 1970 by Walter de Gruyter & Co., vormals G . J . Göschen'sche Verlagshandlung · J . Guttemag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner • Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Obersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf p h o t o · mechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Thormann 8c Goetsch, Berlin 44

Vorwort der Herausgeber Wir sind der Aufforderung des Verlages gern gefolgt, die durch den Tod Paul Wilperts verwaiste Reihe „Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie" weiterzuführen. Jedoch schien uns eine Änderung des Titels angezeigt: Die Reihe heißt jetzt „Quellen und Studien zur Philosophie". Dadurch tragen wir unserer Ansicht Rechnung, daß philosophiegeschichtliche Forschung sich einer Sachdiskussion der behandelten Theorien nicht entziehen darf, wenn sie philosophisch fruchtbar sein soll, daß aber audi systematische Untersuchungen im Bereich der Philosophie nicht ohne den Dialog mit überlieferten Lösungsversuchen auskommen. Wir werden uns bemühen, vor allem solche Arbeiten für die Reihe zu gewinnen, in denen eine Verbindung der Interpretation früherer Ansätze mit eigenständiger Erörterung von Sachfragen versucht wird. Günther Patzig

Erhard Scheibe

Wolfgang Wieland

Vorwort Die folgende Abhandlung wurde von März bis November 1969 niedergeschrieben und im Sommer-Semester 1970 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn als Habilitationsschrift angenommen. Teile aus ihrem Entwurf habe ich auf dem X I V . Internationalen Kongreß für Philosophie im September 1968 in Wien vorgetragen. Meinen Lehrern, Herrn Prof. Dr. Gottfried Martin, Bonn, Herrn Prof. Dr. Günther Patzig, Göttingen, und Herrn Prof. Dr. Hans Wagner, Bonn, sei an dieser Stelle für ihre vielfache Förderung mein aufrichtiger Dank ausgesprochen. — Mein Dank gebührt ferner der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die mir durch ein Stipendium vom Sommer 1967 an die Kant-Forschungen ermöglichte, aus denen schließlich, diese Abhandlung hervorgegangen ist. — Mein Dank gilt aber auch den Herausgebern der „Quellen und Studien zur Philosophie" sowie Herrn Prof. Dr. H. Wenzel vom Verlag Walter de Gruyter & Co. für ihre freundliche Einladung, mit meiner Abhandlung diese Reihe zu eröffnen. Bonn, im August 1970

Gerold Prauss

F Ü R ELISABETH

INHALT Vorwort der Herausgeber Vorwort Einleitung

5 6 11 Kapitel I

Z w e i Arten empirischer Gegenstände, Dinge und Erscheinungen Abschnitt 1.

Der problematische Begriff scheinung

der

Er-

§ 1. Erscheinung und Phänomen § 2. Der Begriff der Gegebenheit und der Unterschied zwischen unmittelbar und vermittelt Gegebenem § 3. Bestimmung als Deutung. Kants Modell für Erscheinung Abschnitt 2. D i e N o t w e n d i g k e i t d e r zung von Erscheinungen

15 1j 25 38

Vorausset-

§ 4. Die Gewinnung der transzendentalen Reflexionsebene . . § 5 . Erscheinung und Schein § 6. Der transzendental-objektive Gegenstand

58 58 70 81

Kapitel II Z w e i Arten empirischer Urteile, Erfahrungs- und Wahrnehmungsurteile Abschnitt x. K e i n e L ö s u n g d e s E r s c h e i n u n g s p r o b l e m s in d e r e r s t e n A u f l a g e d e r „ K r i tik der reinen V e r n u n f t " 102 § 7 . Deutung durch Anwendung von Kategorien §8. Kants Begriff der Wahrnehmung

102 114

10

Inhalt

Abschnitt 2.

E i n e r s t e r S c h r i t t z u r L ö s u n g in d e n „Prolegomena". Das Wahrnehmungsurteil 139

§ 9. Die Problematik des Wahrnehmungsurteils § 10. Die drei Kriterien des Wahrnehmungsurteils

139 158

Kapitel ΙΠ Erscheintingen als Gegenstände von Wahrnehmungsurteilen und ihre transzendentalphilosophische Begründung Abschnitt 1. W a h r n e h m u n g s u r t e i l e a l s „Es s c h e i n t . . . " - U r t e i l e

198

§ 11. Der Schein und Ausdrücke wie „Scheinbar . . . " und „Es scheint nur s o . . . " 198 § 12. Die Erscheinung und Ausdrücke wie „Anscheinend . . . " und „Es scheint..." 207 § 13. Die Identität der Kriterien von Wahrnehmungsurteilen und „Es scheint.. ."-Urteilen 224 Abschnitt 2.

K a n t s L ö s u n g des E r s c h e i n u n g s p r o b l e m s in d e r z w e i t e n A u f l a g e der „ K r i t i k der reinen V e r n u n f t " 254

§ 14. Deutung und niditdeutende 'Bestimmung' 254 § 15. Ursprüngliche Anwendung und abgeleiteter Gebrauch von Kategorien 272 § 16. Der transzendental-subjektive Gegenstand 292 Literaturverzeichnis

322

Namen-, Sach- und Stellenregister

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Der Kantische Text wird nach den Bänden der Akademieausgabe, im Falle der Kritik der reinen Vernunft jedoch nach der Originalausgabe der ersten (A) bzw. zweiten Auflage (B) zitiert. Die Reflexionen Kants in den Bänden 14—19 und 23 der Akademieausgabe werden durch R gekennzeichnet.

Einleitung Der Ausdruck „Erscheinung bei Kant" steht als Titel der folgenden Abhandlung für ein Problem, das sich aus der Transzendentalphilosophie ergibt, wie Kant sie in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) entwickelt. Seine Lösung jedoch nimmt Kant noch nicht hier, sondern erst seit den Prolegomena (1783) in Angriff; sie gelingt ihm hier aber noch nicht, sondern erst in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787). Dieses Problem besteht darin, daß Kant für seine Transzendentalphilosophie, die er zunächst als Theorie der Erfahrung, das heißt als Theorie der empirisch-objektiven Erkenntnis und ihrer empirisch-objektiven Gegenstände begründet, eine besondere Art von empirisch-subjektiven Gegenständen, die er Empfindungen, Wahrnehmungen oder empirische Anschauungen, am häufigsten aber Erscheinungen nennt, zwar v o r a u s s e t z t , in ihrer Gegenständlichkeit selbst aber transzendentalphilosophisch noch u n b e g r ü n d e t läßt. Nach dieser Theorie nämlich soll unsere Erfahrung sich dadurch vollziehen, daß wir solche Erscheinungen, die uns als Zustände unseres ,Gemüts* jeweils unmittelbar gegeben und damit etwas je Subjektiv-Privates sind, durch empirische Begriffe bestimmen. Mit diesem Bestimmen von Erscheinungen, das zu empirischer Erkenntnis objektiver Gegenstände führen soll, meint Kant jedoch, wie genauere Textanalyse ergibt, ein D e u t e n von Erscheinungen. Das heißt: Was in solcher Deutung bestimmt wird, ist gerade niemals das dabei Gedeutete, die Erscheinung selbst, sondern allein das aus ihr Erdeutete, das im Vollzug der deutenden Erkenntnis erzielte Ergebnis, nämlich das Objekt als Gegenstand dieser objektiven Erkenntnis. Die subjektive Erscheinung hingegen wird dabei immer wieder zugunsten der Erdeutung objektiver Gegenstände so prinzipiell überschritten, daß sie dadurch selber als das Subjektive, als das sie dafür vorausgesetzt ist, niemals gegenständlich werden kann. Gleichviel ob man auf

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Einleitung

Anlaß von Erscheinungen ihre Deutung vollzieht, so daß ein Objekt bestimmt wird, oder ob man sie nicht vollzieht, so daß es entsprechend unbestimmt bleibt, — als das dadurch Bestimmte bzw. Unbestimmte kann dabei schlechterdings nur das Objekt gelten, indes die Erscheinungen als solche in der Ebene von Deutung bzw. Nicht-Deutung so prinzipiell, daß sich dies angemessen nur mit Hilfe spezifischer Indizierung ausdrücken läßt, etwas,Unbestimmtes' bleiben. Da Kant jedoch mit seiner Transzendentalphilosophie alle Gegenständlichkeit grundsätzlich an begriffliche Bestimmtheit bindet, ergibt sich daraus das Erscheinungsproblem in zweifacher Hinsicht als ein besonderes Problem. Denn obwohl etwas prinzipiell »Unbestimmtes*, sollen die Erscheinungen doch nicht etwa nichts, sondern selber Gegenstände, wenn auch ganz besondere, eben subjektive Gegenstände sein. Damit aber stellt sich als erstes die Frage, wie es überhaupt möglich ist, daß Kant mit der Erscheinung als einem ,unbestimmten* Gegenstand für den Aufbau dieser Transzendentalphilosophie zunächst etwas voraussetzt, das er in ihrem Rahmen dann selber für ein Unding erklärt. Doch selbst wenn man annimmt, auch dieser Transzendentalphilosophie könnte gelingen, was jeder stringenten Deduktion gelingen muß, nämlich im Verlauf ihres Beweisgangs diese ihre eigene Voraussetzung noch einzulösen, in dem Sinne, daß dieser besondere Gegenstand sich in seiner Gegenständlichkeit ebenfalls begründen ließe, so könnte dies doch nur durch den Nachweis geschehen, daß auch solch ein Gegenstand, wenngleich ebenfalls nur auf entsprechend besondere Weise, jeweils ,bestimmt* werden kann. Das aber stellt dann zweitens vor die Frage, wie sich etwas ,Unbestimmtes' als solches ,bestimmen' lassen sollte, ohne gerade dadurch aufzuhören, dieses,Unbestimmte' zu sein. Diese Problematik gewinnt freilich noch an Gewicht, wenn sich dann weiter herausstellt, daß die Voraussetzung dieser Erscheinungen durchaus keine beliebige ist und auch nicht einfach willkürlich erfolgt, sondern bereits durch den ersten Schritt, mit dem Kant zu seiner Transzendentalphilosophie als Theorie der Erfahrung ansetzt, notwendig wird. Dieser erste Schritt von Kant geht nämlich dahin, das Faktum der Erfahrung, wonach sie als empirisches Urteil jederzeit wahr oder falsch werden kann, für diese Theorie ganz unverkürzt zu thematisieren. Dieses Faktum aber kann nach Kant nur so verstanden werden, daß an Erfahrung jeweils zweierlei beteiligt ist, nämlich einerseits ein Nicht-Variables (Erscheinung oder Anschauung) und anderseits ein Variables (Begriff), das in einer entsprechenden Theorie dann auch ausdrücklich unterschieden („isoliert")

Einleitung

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werden muß. Weil die Tatsache der möglichen Wahrheit oder Falschheit aller solcher empirischer Urteile nur erklärbar ist, wenn dabei jeweils ein und dasselbe (Anschauung, Erscheinung) so oder so (unter diesem oder jenem Begriff) gedeutet werden kann, wird nach Kant die prinzipielle Unterscheidung zwischen Anschauung oder Erscheinung auf der einen und dem Begriff auf der anderen Seite erzwungen, mit der dann die Ebene der transzendentalen Reflexion auf die Erfahrung gewonnen ist. So gewiß nun aber Kant durch solche Voraussetzung von Erscheinungen seiner Theorie der Erfahrung ein solides Fundament verschafft, indem er damit ihrem Wesensbestand von vornherein voll Rechnung trägt, so gewiß muß die Notwendigkeit dieser Voraussetzung doch anderseits ihre Problematik weiter verschärfen. Und das um so mehr, als mit dieser ersten noch eine zweite Notwendigkeit einhergeht. Kann das empirische Urteil auf Grund seiner möglichen Falschheit einerseits nur so verstanden werden, daß es auf Anlaß von Erscheinung erfolgt, die unter diesem oder jenem empirischen Begriff gedeutet wird, so ist anderseits diese Deutung wiederum aus demselben Grunde nur so zu erklären, daß man den Gegenstand, den man dabei mit Hilfe der Erscheinungen als einen empirischen Gegenstand erdeutet oder nicht, sich dazu unter spontan und a priori erzeugten reinen Verstandesbegriffen (Kategorien) immer schon als Gegenstand überhaupt entwirft. Diesen nennt Kant als einen Gegenstand, den nur die transzendentale Reflexion als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung als Deutung ermittelt, auch den „nichtempirischen" oder „transzendentalen Gegenstand". Denn da die Falschheit eines empirischen Urteils bedeutet, daß der empirische Gegenstand, von dem es spricht, nicht vorliegt, so kann demnach der Gegenstand, auf den ein empirisches Urteil als solches Bezug nehmen muß, um überhaupt wahr oder falsch und nicht etwa sinnlos zu werden, nur dieser immer wieder spontan und a priori vorentworfene transzendentale Gegenstand sein. Weil ich ihn jedoch nach Kant, um anläßlich meiner Erscheinungen in der Erkenntnis Bewußtsein von etwas überhaupt erlangen zu können, als das mir und meinen Erscheinungen gegenüber Andere entwerfen muß, kann dieser transzendentale Gegenstand, genau besehen, nur als der t r a n s z e n d e n t a l - o b j e k t i v e Gegenstand gelten, so daß entsprechend alle subjektiven Erscheinungen notwendigerweise sowie gegeben auch immer schon a priori auf Erdeutung eines solchen objektiven Gegenstandes hin überschritten sind und somit selber dabei niemals gegenständlich werden können. Wenn ich also in solcher Erfahrung jeweils prinzipiell nur auf Be-

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Einleitung

Stimmung eines objektiven Gegenstandes ziele, indem ich ihn mir durch Deutung meiner Erscheinungen aus ihnen erdeute oder nicht, dabei jedoch diese Erscheinungen als solche in jedem Falle ebenso prinzipiell als Gegenstände übergehe, — wie ist es dann möglich, diese Erscheinungen selbst, statt sie deutend zu überschreiten, in einer besonderen, nämlich nichtdeutenden ,Bestimmung' so adäquat zu ,bestimmen', daß sie das ,Unbestimmte', das sie sind, dabei auch bleiben? Wie läßt sich auf Anlaß von Erscheinungen im Gegenzug zum Entwurf jenes transzendental-objektiven Gegenstandes, der zu ihrer Deutung führt, ein transzendental-subjektiver Gegenstand entwerfen, an dem ich mir durch jene besondere ,Bestimmung' in einer eigenen Art von Erkenntnis diese meine subjektivprivaten Erscheinungen selbst als Gegenstände bewußt zu machen vermag? Um das philosophische Grundlagenproblem aller empirisch-objektiven Wissenschaften, das er mit seiner transzendentalphilosophischen Theorie der Erfahrung zu lösen versucht, wirklich zureichend zu lösen, muß Kant, da er nicht umhin kann, dazu die Erscheinungen als subjektivprivate Gegenstände vorauszusetzen, auch noch für dieses philosophische Grundlagenproblem aller empirisch-subjektiven Wissenschaft, nämlich der empirisch-introspektiven Psychologie, eine entsprechend transzendentalphilosophische Lösung finden. Dieses Problem der Gegenständlichkeit der Erscheinung als solcher aber ist als ein Problem von Kants Kritik der reinen Vernunft und damit als ein Problem seiner Transzendentalphilosophie selbst bis heute nicht nur ungelöst, sondern recht eigentlich noch unentdeckt. Daher vermag man auch nicht zu sehen, welche Schwierigkeiten seine Lösung Kant selber bereitet, bis sie ihm schließlich in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft im Prinzip gelingt. Das zeigt sich insbesondere daran, daß man gerade die Theorie, die ihm hier die Lösung dieses Problems ermöglicht und die er im Ansatz erstmals in den Prolegomena entwickelt, nämlich Kants Theorie des Wahrnehmungsurteils, bis heute einhellig als eine verfehlte Theorie hinstellt. Demgegenüber versucht die folgende Abhandlung zu zeigen, daß Kants Transzendentalphilosophie, die zunächst als Theorie der Erfahrung im Sinne des Erfahrungsurteils einsetzt, gerade in dieser überaus originellen Theorie des Wahrnehmungsurteils, die sich in ihren Rahmen widerspruchslos einfügt, nicht nur eine wesentliche Ergänzung, sondern audi allererst ihre zureichende Begründung findet.

K A P I T E L I.

Zwei Arten empirischer Gegenstände, Dinge und Erscheinungen Abschnitt 1. Der p r o b l e m a t i s c h e B e g r i f f der

Erscheinung

§ 1. Erscheinung und Phänomen An Hand von geeigneten Beispielen weist Kant an zwei Stellen der Transzendentalen Ästhetik darauf hin, daß es in allen Fällen, in denen wir in empirischer Erkenntnis empirische Dinge zum Gegenstand haben, zweierlei zu unterscheiden gilt. Einmal diese Dinge selbst, beispielsweise „eine Rose" 1 oder „die Regentropfen" 2 , und zum andern die A r t u n d W e i s e , w i e uns solche Dinge jeweils als Gegenstand vorliegen. Denn so gewiß es sich dabei einerseits jeweils um ein und denselben Gegenstand, um ,diese Rose' oder ,diese Regentropfen' handelt, so gewiß ist doch anderseits, daß ein solcher Gegenstand, je nach den „verschiedenen Lagen zu den Sinnen" 8 , die er einnimmt, „jedem Auge . . . anders erscheinen kann" 4 . Zum Zwecke einer klaren Unterscheidung faßt Kant die verschiedenen Weisen, wie uns derselbe Gegenstand gegeben werden kann, unter dem Terminus „Erscheinung" zusammen5. Den so gegebenen Gegenstand selbst 1 2 8 4 5

A29B4J. A 45 f. Β 63. Α 4 j Β 63. A30B4J. Vgl. ζ. Β. A 4J Β 63 mit A 30 Β 45- Ferner A 45 Β 6ι, A 189 f. Β 234 U A 196 ff. Β 241. Kant verfährt hier in einer Weise, die leicht irreführen kann. Er neigt dazu, für die Besonderheit der Erscheinungen nur die nächstliegenden Beispiele, nämlich die sogenannten »sekundären Sinnesqualitäten' anzuführen. Das darf aber nicht

16

Zwei Arten empirischer Gegenstände, Dinge und Erscheinungen

dagegen, der „unter allen verschiedenen Lagen zu den Sinnen doch . . . so und nicht anders" (d. h. als ,diese Rose* oder ,diese Regentropfen* und nicht als etwas anderes) „bestimmt ist" 6 , stellt Kant den Erscheinungen jeweils als „Ding an sich" oder „Sache an sich" gegenüber7. Und um einem naheliegenden MißVerständnis vorzubeugen, fügt er sogleich hinzu: „Dieser Unterschied ist aber nur empirisch"8, das heißt, er betrifft nur das, was man bereits im Felde der e m p i r i s c h e n Erkenntnis sondert, und noch nicht etwa jenen ganz anderen Unterschied von „Erscheinung" und „Ding an sich", der erst aus Kants t r a n s z e n d e n t a l p h i l o s o p h i s c h e r R e f l e x i o n entspringt®. Allerdings setzt diese transzendentalphilosophische Unterscheidung jenen empirischen Unterschied von Erscheinung und Ding an sich in gewissem, noch näher zu erläuterndem Sinn schon voraus. Es empfiehlt sich daher, zunächst genauer zu ermitteln, was das eigentlich ist, was Kant mit dieser Unterscheidung als empirische Erscheinung und empirisches Ding an sich einander gegenüberstellt. Dabei erweist sich dann, daß Erscheinung und Ding an sich in diesem empirischen Sinne nicht nur einfach etwas Verschiedenes sind, sondern sich voneinander so prinzipiell unterscheiden, daß sie zueinander in Gegensatz stehen. Empirische Erscheinungen nämlich zeichnen sich nach Kant gerade dadurch aus, daß sie „Modifikationen" oder „innere Bestimmungen" unseres „Gemüts" oder „Gemütszustandes" sind10 und damit als bloße „Veränderungen unseres Subjekts" 11 auch jeweils nur einem solchen einzelnen Subjekt selbst angehören. Dagegen erhalten die empirischen Dinge an sich ihre Auszeichnung gerade daher, daß darüber hinwegtäuschen, daß auch im Hinblick auf ,primäre Qualitäten' (ζ. B. räumliche Gestalt) die Erscheinungen der Dinge von diesen Dingen selbst in der Regel stark abweidien. So erscheint mir etwa ein runder Teller nur in einer ganz bestimmten ,Lage zu den Sinnen' als rund, in der Regel jedoch liegt er mir in verschiedenen Ovalerscheinungen vor. β A 4 j Β 6}. 7 A 29 Β 45, A 45 Β 63, A 393> v g l · a u c ^ A 598 £. Β 626 f., A 639 Β 66γ. 4 A 45 Β 62. Vgl. ferner A 29 Β 45 und den synonymen Ausdruck „physisch" in A 45 Β 63. Vgl. dazu auch A 393. • Vgl. ζ. Β. A 3 0 B 4 5 , A 4 5 Β 62. — Gleichwohl gilt es festzuhalten, daß Kant dieser Begriff eines e m p i r i s c h e n Dings an sich offenbar recht geläufig ist. Selbst in der späten Preisschrift verwendet er ihn noch ganz selbstverständlich (vgl. Bd. 20, S. 269). Von daher muß man damit rechnen, daß Kant auch in früheren Werken und ohne besondere Kennzeichnung sich des Ausdrucks »Ding an sich" in diesem Sinne bedient. Manche Schwierigkeiten (ζ. B. die in A 109 oder auch in A 143 Β 182) könnten darin ihre Lösung finden. Zu A 109 vgl. auch unten § 2, S. 35 ff. 10 Vgl. A 196 ff. Β 241 ff.; ferner auch A 34 Β 50. 11 A 29 Β 45.

Erscheinung und Phänomen

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dies bei ihnen nicht der Fall ist. Als Dinge an sich sind sie so wenig Teil oder Bestimmung eines einzelnen Subjekts, daß dieses sie vielmehr in der empirischen Erkenntnis gerade als das zum Gegenstand hat, was ,unter allen verschiedenen Lagen zu den Sinnen doch so und nicht anders bestimmt ist' 12 , was also von ihm selber u n a b h ä n g i g ist, was , a η s i c h ' besteht und darum als solches bestimmtes Selbiges auch Gegenstand a n d e r e r Subjekte sein kann. Während also empirische Erscheinungen etwas S u b j e k t i v e s sind13, das jeder von uns nur jeweils für sich p r i v a t besitzt 14 , sind empirische Dinge an sich etwas N i c h t Subjektives, sie machen vielmehr als i n t e r subjektive O b j e k t e die Welt aus, die wir g e m e i n s a m haben. Sieht man noch genauer zu, so zeigt sich schließlich, daß diese Unterscheidung zwischen empirischen Erscheinungen und empirischen Dingen an sich genau der prinzipiellen Grenze folgt, die Kant im Bereich der empirischen Gegenstände zu ziehen pflegt. Ihre Gattung gliedert sich für ihn erschöpfend in zwei Grundarten von Gegenständen, die sich kurz als objektive bzw. subjektive kennzeichnen lassen, so daß alle empirischen Gegenstände nur entweder objektive oder subjektive Gegenstände sein können. Als intersubjektive Objekte machen dabei die empirischen Dinge an sich diese objektiven Gegenstände aus, die als „Gegenstände äußerer Sinne" in den Bereich der Physik fallen. Die empirischen Erscheinungen hingegen, die Kant als ,Modifikationen des Gemüts' meist kurz unter den Begriff der „Vorstellungen" faßt 15 , gehören zu den subjektiven Gegenständen des „inneren Sinnes" und fallen mit diesen in den Bereich der empirischen Psychologie 18 . Freilich trifft Kant diese Einteilung der empirischen Gegenstände nicht zum Zwecke einer empirischen, sondern im Hinblick auf die transzendentalphilosophische Untersuchung, die er führt. Trotzdem gilt es festzuhalten, daß jene Unterscheidung von Erscheinungen und Dingen an sich, wenn Kant sie auch zu philosophischem Zwecke trifft, selber gleichwohl

18 13 14 15 18

Vgl. A 4 j Β 63, ferner A 34 Β jo. Vgl. ihre „subjektive Realität, als Modifikationen" in A 197 Β 242. Vgl. Rickert (1), S. 130, Stegmüller (3), Teil 1, S. 14. Vgl. ζ. Β. A 196 ff. Β 24i ff., A 189 f. Β 234 f. Vgl. ζ. B. Prolegomena, Bd. 4, S. 295 mit Met. Anfangsgründe d. Nat.wiss., Bd. 4, S. 467 und S. 470 f., wo Kant auch ausdrücklich von den „zwei Gattungen der Gegenstände unserer Sinne" spricht. Vgl. ferner A 347 Β 405, A 381; Anthropologie, Bd. 7, S. 134, S. 141, S. 161; Preisschrift, Bd. 20, S. 270. Dazu Rickert (i), S. 130.

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Zwei Arten empirischer Gegenstände, Dinge und Erscheinungen

nodi keine philosophische, sondern eine e m p i r i s c h e ist, die zwei Arten e m p i r i s c h e r Gegenstände scheidet. In welchem Sinne nun liegt der Unterschied von empirischer Erscheinung und empirischem Ding an sich den transzendentalphilosophischen Untersuchungen der Kritik als Voraussetzung zugrunde? Dies wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, zu welchen Ergebnissen Kant in diesen Untersuchungen gelangt. Wie er nämlich selber wiederholt betont 17 , besteht eines dieser Ergebnisse gerade darin, daß dasjenige, was der empirischen Erkenntnis mit Recht als Ding an sich gilt, selber als Erscheinung zu betrachten sei, — freilich als Erscheinung nun nicht mehr im empirischen, sondern eben in transzendentalphilosophischem Sinne. Eine der großen Schwierigkeiten, vor die sich jeder Leser der Kritik zunächst gestellt sieht, besteht nun darin, daß Kant das Wort „Erscheinung" für beides, sowohl für die empirischen als auch für die transzendentalphilosophischen Erscheinungen, verwendet 18 und diese so unterschiedliche Verwendung nur an wenigen Stellen entsprechend kennzeichnet19. Kant verfährt in diesen Fällen am häufigsten so, daß er die Dinge, die der empirischen Erkenntnis als Dinge an sich, der transzendentalphilosophischen Reflexion aber in bestimmtem Sinne als Erscheinungen gelten, nicht mehr als „Erscheinungen", sondern als „Phaenomena" kennzeichnet20 und mithin das Wort „Erscheinung" den empirischen Erscheinungen vorbehält. Damit greift Kant auf einen Ausdruck zurück, der ihm als Bezeichnung für die Dinge der Welt auch vor der Kritik schon geläufig war. So führte er zum Beispiel in der frühen Dissertation die „obiecta

17

Vgl. ζ. Β. A 30 Β 4 j , A 45 Β 6z.

18

Darüber schon Vaihinger (1), Bd. 2, S. 31 f.

19

Daraus folgt aber nicht, wie Paton meint (vgl. Paton, Bd. 1, S. 96 Anm. 7), daß Kant diesen Unterschied selbst vernachlässigt, sondern eher das Gegenteil. Denn wie sich immer wieder zeigen wird, bildet dieser Unterschied gerade einen der Angelpunkte, um die sich die gesamte Transzendentalphilosophie Kants dreht und die er schlechterdings nie aus den Augen verliert. Eher ergibt sich daraus für den Interpreten die Aufgabe, den Sinn der einzelnen Belege für „Erscheinung" jeweils genau zu bestimmen. Und inwieweit dies gelingt, kann geradezu als eines der Kriterien dafür gelten, inwieweit man die einzelnen Formulierungen der Kantischen Gedanken angemessen versteht.

80

Vgl. ζ. Β. A 20 j Β 2jo, A 206 Β 251, A 248 f.; Prolegomena, Bd. 4, S. 314, S. 355; Streitschrift, Bd. 8, S. 208, S. 237 f.; Preisscbrijl, Bd. 20, S. 269; dazu Riehl, Bd. 1, S. 4 j j. — Eine weniger deutliche und auch weniger häufige Kennzeichnung besteht darin, daß Kant die Phaenomena gegenüber den empirischen Erscheinungen die „Erscheinungen s e l b s t " nennt, vgl. ζ. Β. A 190 f. Β 235 f., A 193 Β 238, A 100, dazu Vaihinger (1), Bd. 1, S. 31; Riehl, Bd. 1, S. 455.

Erscheinung und Phänomen

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experientiae" oder die „obiecta universi" als „phaenomena" ein21 und setzte sie als solche der bloßen „apparentia" entgegen22. Darin zeigt sich, daß das Wort „Erscheinung", als Übersetzung des lateinischen Wortes „apparentia" 23 , sich eigentlich nur zur Bezeichnung der empirischen Erscheinungen eignet. Als Bezeichnung für die empirischen Dinge an sich dagegen schleicht es sich gleichsam nur ein, weil im Hinblick auf das, was im Lateinischen „phaenomenon" heißt, im Deutschen wie auch schon im Lateinischen selbst24 akute Wortnot herrscht25. Das zeigt sich deutlidi darin, daß Kant, da er „Erscheinung" überwiegend für beides gebraucht, zuweilen auch von der andern Seite her zu unterscheiden sucht, indem er nämlich „apparentia", statt zu übersetzen, als Fremdwort ins Deutsche übernimmt und die empirische Erscheinung dann als „Apparenz" kennzeichnet2®. Die Schwierigkeit dieser Sachlage wird in ihrem vollen Ausmaß in der späten Preisscbrift deutlich, an einer Stelle27, wo Kant in einem Zuge all die Unterschiede, die er sonst nur macht, auch einmal namhaft macht. Er merkt an, „daß Erscheinung, im transzendentalen Sinn genommen, da man von Dingen sagt, sie sind Erscheinungen (Phaenomena), ein Begriff von ganz anderer Bedeutung ist, als wenn ich sage, dieses Ding erscheint mir so oder so, welches die physische28 Erscheinung anzeigen soll, und Apparenz... genannt werden kann. Denn in der Sprache der Erfahrung 21 22

28 24

25

26

27 28

Vgl. Dissertation, Bd. 2, S. 394 mit S. 405, ferner S. 392. Vgl. Dissertation, Bd. 2, S. 394. Er übernimmt damit eine Unterscheidung, die in den Schulen von Leibniz bzw. Wolff üblich war, vgl. dazu ζ. B. Martin (2), besonders S. 104. Vgl. Vaihinger (1), Bd. 1, S. 109. So sah man sich schon im Lateinischen selbst gezwungen, das griechische Wort φαινόμενον in der Form „phaenomenon" als Fremdwort zu übernehmen, um überhaupt ein Wort zu haben, das den Erscheinungsdiarakter der empirischen Dinge kennzeichnet, ohne sie damit sogleich zu bloßen ,Gemütsbestimmungen' herabzusetzen. Das verleitet ζ. B. Reich dazu, in seiner Übersetzung der Dissertation an zwei Stellen „phaenomena" durch „Erscheinungen" wiederzugeben, obwohl er selbst sich von Anfang an terminologisch darauf festlegt, „Erscheinung" als Ubersetzung für „apparentia" zu reservieren und „phaenomena" als „Phänomene" zu übernehmen. Mag dies vom Kantischen Sprachgebrauch her auch verständlich sein, in dieser Ubersetzung sind es zwei nicht zu rechtfertigende Fehler. Vgl. Reich (2), S. 23, S. 57, S. 97. So bereits in den Träumen, vgl. ζ. B. Bd. 2, S. 340 f. Besonders deutlich dann ζ. B. in der Preissd>rift (Bd. 20, S. 269), ferner in R 2247 und R $247. Wie die empirisdie Ersdieinung selbst steht auch die Apparenz in engem Zusammenhang mit dem Schein. Trotzdem dürfen diese Ausdrücke, wie sich noch zeigen wird (vgl. unten § 5), nicht einfach als Synonyma zu „Schein" betrachtet werden. Preisschrift, Bd. 20, S. 269. Nämlich die Ersdieinung, die er sonst die „empirische" nennt, vgl. oben Anm. 8.

20

Z w e i Arten empirischer Gegenstände, Dinge und Erscheinungen

sind diese Gegenstände der Sinne... wie Dinge an sich selbst29 gedacht . . ." 30 . Der Unterschied zwischen Erscheinungen in empirischem Sinne und Erscheinungen in transzendentalphilosophischem Sinne dürfte damit deutlich sein. Und damit er es auch bleibe, werden im folgenden die transzendentalphilosophischen Erscheinungen terminologisch als „Phänomene" bezeichnet, indes das Wort „Erscheinung", ebenfalls terminologisch, den empirischen Erscheinungen vorbehalten wird. Eben diese sind es auch, denen unter dem Thema „Erscheinung bei Kant" die folgende Abhandlung über Kants Transzendentalphilosophie im besonderen nachgehen soll. Wie aber lautet jenes Ergebnis nun eigentlich genau, zu dem Kant mit seinen transzendentalphilosophisdien Untersuchungen gelangt? Wie oben schon erwähnt, soll es nicht nur besagen, daß empirische Dinge an sich als Phänomene zu betrachten sind. Es soll eben daraus auch noch hervorgehen, daß der Begriff der Erscheinung diesen transzendentalphilosophisdien Untersuchungen Kants schon als Voraussetzung zugrunde liegt. Gegen Ende der Transzendentalen Analytik, die das Kernstück dieser Untersuchungen ausmacht, gelingt Kant eine Formulierung. Und wenn sie auch in der zweiten Auflage der Kritik nicht mehr auftritt 31 , ja in ihrer Prägnanz überhaupt einmalig dasteht, so bringt sie doch dieses Ergebnis auf eine treffende Formel. Sie lautet: „Erscheinungen, sofern sie als Gegenstände nach der Einheit der Kategorien gedacht werden, heißen Phaenomena"82. Es besteht nun keinerlei Zweifel, daß in dieser Formel mit „Erscheinungen" die empirischen Erscheinungen und mit „Phaenomena" eine transzendentalphilosophische Kennzeichnung dessen gemeint ist, was die empirische Erkenntnis als empirische Dinge an sich zum Gegenstand hat. Damit aber zeigt sich, daß dieses Ergebnis der transzendentalphilosophischen Untersuchungen Kants gerade darin besteht, miteinander in bestimmte Beziehung zu setzen, was eigentlich zueinander in Gegensatz steht. Empirische Erscheinungen und empirische Dinge an sich, die in empirischer Hinsicht als prinzipielle Gegensätze schroff auseinander treten, enthüllen transzendentaler Reflexion, daß sie t r o t z dieses 2t 30 31

32

Womit hier natürlich wieder die e m p i r i s c h e n Dinge an sich gemeint sind. Für die erste Auslassung in diesem Zitat vgl. unten § 5, A n m . 28. D e r Grund d a f ü r liegt allein darin, daß K a n t das Kapitel über .Phaenomena und Noumena' für die zweite A u f l a g e erheblich umarbeitete, und nicht etwa an dieser Formulierung selbst, die K a n t fortan als gültig ansieht. A 248 f.

Erscheinung und Phänomen

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Gegensatzes in einem ganz fundamentalen Bezug zueinander stehen. Als „Phaenomena" werden diese Dinge an sich nur gekennzeichnet, weil in transzendentaler Reflexion sich von ihnen herausstellt, daß sie eigentlich gar nichts anderes sind als ,nach der Einheit der Kategorien als Gegenstände gedachte E r s c h e i n u n g e n ' , oder anders ausgedrückt: daß empirische Erkenntnis nur dadurch empirische Dinge an sich zum Gegenstand hat, daß sie empirische Erscheinungen begrifFlich-kategorial b e stimmt. Was dies im einzelnen bedeutet, kann hier noch nicht erörtert werden. Doch wird auch hier schon soviel deutlich, daß dieses Ergebnis der transzendentalen Reflexion eine zweifache Subjektabhängigkeit derselben empirischen Dinge aufdeckt, die als Dinge an sich vom empirischen Standpunkt her als subjektunabhängig gelten. Phänomena sind diese, weil sie, wie sich noch genauer zeigen wird, als bestimmte E r s c h e i n u n g e n einerseits von der S i n n l i c h k e i t und als b e s t i m m t e Erscheinungen anderseits vom V e r s t a n d des Subjekts abhängen, das sie in empirischer Erkenntnis zum Gegenstand hat33. Nun sind aber diese Dinge, wenn auch Subjekt a b h ä n g i g , so doch deshalb noch nicht s u b j e k t i v , wie die empirischen Erscheinungen, sondern etwas Objektives, eben empirische Dinge an sich. Daraus ergibt sich für die transzendentale Reflexion, daß sie diese Dinge nicht nur einseitig in ihrer Subjektabhängigkeit, als Phänomene, erwägen kann. Um sie transzendentalphilosophisch zureichend zu kennzeichnen, muß sie vielmehr audi ihrer andern Seite, nämlich ihrer Objektivität, gerecht werden. Das heißt, was einerseits subjektabhängiges Phänomen ist, muß anderseits auch noch als das gedacht werden, was es, von dieser Subjektabhängigkeit abgesehen, selber ist. Zum Begriff „Phänomen", unter dem die transzendentale Reflexion die eine Seite der empirischen Dinge faßt, muß sie auf ihrer eigenen Reflexionsebene auch das Gegenteil bilden, um darunter auch noch die andere Seite dieser Dinge zu erfassen. Aus dieser Überlegung ergibt sich für Kant als Gegensatz zu „Phaenomenon" (zur „Erscheinung" in transzendentalphilosophischem Sinne) der Begriff des „Noumenon" (des „Dings an sich" in transzendentalphiloso33

V g l . K a n t an H e r z (26. M a i 1789), Bd. 11, S. j i , Ζ . 1 ff. — Bekanntlich ist die Dissertation als Vorstufe der Kritik dadurch gekennzeichnet, d a ß sie für das „phaenomenon", das sie von der „apparentia" unterscheidet, nur die eine dieser Abhängigkeiten behauptet, nämlich die von der „apparentia" (Sinnlichkeit), und noch nicht die von der Bestimmung durch Kategorien (Verstand). Diese sind hier noch ganz auf das „noumenon" bezogen, wodurch der Unterschied des „phaenomenon" gegenüber der „apparentia" letztlich unerklärt bleibt.

22

Zwei Arten empirischer Gegenstände, Dinge und Erscheinungen

phischem Sinne)34. Zwischen dem Gegensatz von „Erscheinung" und „Ding an sich" in empirischem Sinne und dem Gegensatz von „Erscheinung" und „Ding an sich" in transzendentalphilosophischem Sinne besteht mithin der folgende fundamentale Unterschied. Als empirische Begriffe sondern „Erscheinung" und „Ding an sich", wie bereits bemerkt, zwei prinzipiell verschiedene Arten empirischer Gegenstände; empirische Erscheinungen und empirische Dinge an sich sind numerisdi-existenziell verschieden. Für „Erscheinung" und „Ding an sich" in transzendentalphilosophischem Sinne gilt dagegen das genaue Gegenteil. Sie sind keine empirischen, sondern philosophische Reflexionsbegriffe, die sich zudem beide, wenn auch in je besonderer Hinsicht, jeweils auf ein und dasselbe empirische Ding richten. So verschieden daher auch der Sinn sein mag, den diese Dinge unter diesen Begriffen für die philosophische Reflexion jeweils gewinnen, so sind doch Erscheinungen und Dinge an sich, transzendentalphilosophisch verstanden, numerisch-existenziell identisch. Genau dies meint Kant, wenn er sagt, daß die transzendentale Reflexion der Kritik „das Objekt in zweierlei Bedeutung nehmen lehrt, nämlich als Erscheinung oder als Ding an sich selbst"35, wodurch „dieser Gegenstand als Erscheinung von ihm selber als Objekt an sich unterschieden wird" 36 . Es ist also tatsächlich „eben dasselbe", was in dieser Reflexion einerseits als „ein Ding in der Erscheinung" und anderseits „als Ding oder Wesen an sich selbst"37 betrachtet wird 38 . Blickt man nun von hier aus auf jene Formel zurück, in der Kant ein Ergebnis seiner transzendentalphilosophischen Untersuchungen zusammenfaßt, so zeigt sich, daß diesem Ergebnis in der Tat der Begriff der empirischen Erscheinung als Voraussetzung zugrunde liegt. Wenn auch die Begriffe „Erscheinungen" und „Phaenomena" in dieser Formel solches bezeichnen, das zueinander in Gegensatz steht (empirische Erscheinungen 34

35 36 37 38

Vgl. ζ. B. A 4J f. Β 6z f., A 29 f. Β 4$, A 23J ff. Β 294 ff. Während „Phaenomenon" und „Erscheinung" in diesem Sinne streng synonym sind, können bekanntlich zwischen „Noumenon" und „Ding an sich" gewisse Unterschiede auftreten, etwa im Sinne des Noumenon in ,positivem' bzw. »negativem Verstände' (Vgl. dazu ζ. B. Henrich [1], S. 119). Da dies jedoch an jener grundsätzlich transzendentalphilosophischen Bedeutung dieser Begriffe nichts ändert, kann darauf hier nicht näher eingegangen werden. Β XXVII. B69. Grundlegung, Bd. 4, S. 457. Die Schwierigkeiten, die sich aus Stellen ergeben, deren Formulierungen, wie es scheint, diese numerisch-existenzielle Identität nicht mehr gewährleisten, sondern eher eine Art Zweiweltentheorie nahelegen, können im Rahmen dieser Abhandlung nicht erörtert werden.

Erscheinung und Phänomen

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und empirische Dinge an sich), so bilden doch diese Begriffe selbst miteinander durchaus noch keinen Gegensatz, da sie gar nicht derselben begrifflichen Ebene angehören. Als empirischer Begriff hat „Erscheinung" seinen eigentlidien Gegensatz vielmehr im empirischen „Ding an sich", während zum „Phaenomenon" wiederum als echter Gegensatz das „Noumenon" tritt. Auf der andern Seite zeigt sich aber auch, daß Kant die gemeinsame Ebene dieser beiden letzteren Begriffe, die Ebene der transzendentalen Reflexion, hier gerade nur dadurch eröffnet 39 , daß er den Begriff „Phaenomenon" bestimmt, so daß ihm dann auf seiner eigenen Ebene auch ein eigener Gegensatz, nämlich das eigentümlich transzendentalphilosophische „Noumenon" entgegentreten kann. Diese Bestimmung jedoch, und damit auch diese transzendentale Reflexionsebene, erreicht Kant hier überhaupt nur dadurch, daß er dazu von einem empirischen Begriff, dem Begriff „Erscheinung", Gebrauch macht. Er setzt mithin die empirische Ebene, auf der sich diese „Erscheinung" selbst erst in ihrem eigentümlichen Gegensatz zum empirischen „Ding an sich" bestimmt, in gewissem Sinne schon voraus. Freilich ist sogleich hinzuzufügen, daß Kant ohne Zweifel für die eine A r t dieser empirischen Gegenstände, nämlich für die empirischen Dinge wie audi für deren empirische Erkenntnis, jene transzendentalphilosophische Begründung unternimmt, deren Ergebnis jene Formel knapp zusammenfaßt. Wie aber steht es mit jener andern Art empirischer Gegenstände, die dafür noch vorausgesetzt, und das heißt: selber noch nicht transzendentalphilosophisch hergeleitet sind? Wie sich noch zeigen wird, ist damit ein Komplex von Fragen angeschnitten, die bis heute noch nicht beantwortet, ja zum großen Teil noch nicht einmal angemessen gestellt sind. So gilt es zunächst, das Problem, das diesen Fragen zugrunde liegt, selbst erst einmal scharf zu umreißen. Damit schärft sich dann vielleicht auch der Blick für die Stellen, an denen Kant es löst, die aber bisher, wenn überhaupt beachtet, mißverstanden wurden. Dieses Problem verdeutlicht eine Formel, die sich bei näherem Zusehen als Entsprechung zu jener anderen Formel erweist. Sie steht auch nicht zufällig am Anfang der Transzendentalen Ästhetik, mit der das erste Stück der transzendentalen Untersuchungen beginnt, deren Ergebnis jene andere Formel schließlich zusammenfaßt. Und dieser entsprechend lau-

38

Über die ursprüngliche Gewinnung der transzendentalen Reflexionsebene, mit der K a n t die transzendentalphilosophischen Untersuchungen einleitet, die schließlich zu diesen Ergebnissen führen, vgl. unten § 4.

24

Z w e i Arten empirischer Gegenstände, Dinge und Erscheinungen

tet sie: „Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung"40. Die Beurteilung dieser Formel bereitet den Interpreten Kants außerordentliche Schwierigkeiten, die schon Vaihinger nur zu berichten, nicht aber zu lösen vermochte41, und deren Lösung bis heute noch aussteht. So weiß zum Beispiel auch Grayeff zu dieser Formel so wenig Auskunft, daß er ihren Gehalt eher ignoriert als kommentiert, wenn er sagt: „Die empirische Anschauung betrifft die erscheinende Natur als die materiell erfüllte Raum-Zeit, d. h. den räumlich-zeitlichen Gegenstand... Eine Erscheinung ist empfundene Mannigfaltigkeit, durch den Verstand kategorisch42 gestaltet, als räumlich-zeitliche Einheit angeschaut, unter verschiedenen Begriffen einheitlich erfaßbar" 43 . Denn indem er behauptet, sie sei ,durch den Verstand kategorial gestaltet', übergeht er nicht nur, daß nach Kant die Erscheinung gerade etwas Unbestimmtes sein soll44. Er übersieht damit auch, daß eben darin diese Formel jener anderen genau entspricht, was Vaihinger schon deutlich sah45. Denn wenn danach gelten soll, daß ein empirisches Ding, als Phänomen, ,nach der Einheit der Kategorien als Gegenstand g e d a c h t e ' , das heißt begrifflich-kategorial b e s t i m m t e Erscheinung ist, dann muß in der Tat die Erscheinung selbst etwas in dieser Hinsicht U n b e s t i m m t e s sein. Erst dieser Sinn der Formel, der an dem Sinn der andern seine Stütze findet, ergibt dann mit der Bestimmung des Erscheinungsbegriffs auch seine Problematik. Sie besteht darin, daß die empirische Erscheinung einerseits etwas begrifflich-kategorial Unbestimmtes und anderseits doch ein „Gegenstand" sein soll. Denn will Kant nicht gerade zeigen, daß etwas Gegenstand nur dadurch sein kann, daß es begrifflich-kategorial b e s t i m m t ist? Diese Problematik zeigt sich auch noch von anderer Seite. Denn wie soll, was diese Formel nahelegt, ein bloßes Anschauen, das gerade nach Kant doch ,ohne Begriffe blind ist'46, das heißt, ohne Begriffe letztlich g a r n i c h t s sieht, dennoch das Anschauen eines G e g e n s t a n d e s sein?47 Ist seine ganze transzendentalphilosophische Theorie, 40 41 42

43 44 45

A 20 Β 34V g l . Vaihinger ( i ) , Bd. 2, S. 30 ff. Dieses W o r t verwendet Grayeff für „kategorial", was schon Henrich mit Recht kritisiert hat, vgl. Henrich (2), S. 130, A n m . y. Grayeff, S. 29, vgl. auch S. 102. Ähnlich Kölln, S. 140. V g l . N a t o r p (4), S. 273 und S. 275. V g l . Vaihinger (x), Bd. 2, S. 31 f.

4e

Α j i Β 7j.

47

Auch von dieser Seite übergeht Grayeff diese Problematik, indem er sagt: „Die

Der Begriff der Gegebenheit

25

in welcher Kant die Gegenständlichkeit der Gegenstände an begrifflichkategoriale Bestimmung bindet, nicht von vornherein hinfällig, wenn er dazu, mit der Erscheinung als ,unbestimmtem Gegenstand', etwas voraussetzt, was er im Rahmen dieser Theorie dann selber für ein Unding hält? Im folgenden soll versucht werden, den problematischen Begriff der Erscheinungen bis in seine Einzelheiten zu entfalten. Erst wenn genau ermittelt ist, in welchem Sinne diese besonderen empirischen Gegenstände unbestimmte Gegenstände sind, läßt sich dann auch begreifen, wie Kant sie sowohl für den Aufbau seiner Transzendentalphilosophie voraussetzen als audi in ihrem Rahmen dann herleiten kann.

§ 2. Der Begriff der Gegebenheit und der Unterschied zwischen unmittelbar und vermittelt Gegebenem Die Problematik von Kants Erscheinungsbegriff entfaltet sich weiter, wenn man genauer ins Auge faßt, welche Rolle er in seiner transzendentalphilosophischen Theorie der empirischen Dinge und der empirischen Erkenntnis spielt. Diese Theorie eröffnet Kant mit der Antwort auf eine Frage, die ihm das Thema selbst aufgibt, das er mit dieser Theorie behandeln will 1 . Habe ich eine bestimmte empirische Erkenntnis, beispielsweise die Erkenntnis „Dies ist ein Stein", so habe ich darin auch etwas Bestimmtes zum Gegenstand, diesen Stein, der mir in dieser Erkenntnis als ein empirisches Ding an sich gilt: als ein Ding nämlich, das ich nicht selbst bin, das ich vielmehr gerade als ein eigenständiges und in sich selber abgegrenztes Objekt von mir selbst als Subjekt unterscheide. Von daher sieht Kant sich zunächst vor die Frage gestellt, welche Bedingung als erstes erfüllt sein muß, damit zwei so bestimmte und beschränkte Wesen wie ein Stein und ein Mensch überhaupt in so bestimmter Beziehung stehen können. Wodurch ist dabei überhaupt gewährleistet, daß es gerade d i e s e r S t e i n ist, den ich erkenne, und kein anderer, und daß gerade i c h es bin, der ihn als Stein erkennt, und niemand anderer?2 Nach Kant wird das

1 2

empirisdie Anschauung betrifft die erscheinende N a t u r als die materiell erfüllte Raum-Zeit, d. h. den räumlich-zeitlichen Gegenstand" (Grayeff, S. 29). V g l . dazu audi noch weiter unten § 5, S. 76 f. V g l . dazu etwa das betont zu lesende „ f ü r uns" in A 90 Β 123, dazu auch unten § 8, S. i i j f.

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Zwei Arten empirischer Gegenstände, Dinge und Erscheinungen

nur dadurch verbürgt, daß ich zu diesem Stein, wenn ich ihn erkenne, „in einem unmittelbaren Verhältnis" 3 stehe, in welchem ich ihn selbst anschaue, worin er mir in der „Anschauung... gegenwärtig" ist4. Dazu gilt es zu beachten, daß Kant diese Anschauung zunächst nidit als etwas Selbständiges, sondern als ein durchaus unselbständiges Moment am Ganzen jeder einzelnen Erkenntnis betrachtet5. Unter jenem „Verhältnis" ist die Erkenntnisbeziehung selbst zu verstehen, die eine zum Gegenstand „unmittelbare" Beziehung nur ist, indem ihr Anschauung zugrunde liegt. Das wird besonders an dem Satze deutlich, der die Transzendentale Ästhetik eröffnet. Obwohl es „die A n s c h a u u n g " ist, die er mit ihm einführen will, geht Kant in diesem Satz doch zunächst von der E r k e n n t n i s aus, weil diese Anschauung nur ein Moment an ihr ausmachen soll, dasjenige nämlich, „wodurch" sich eine Erkenntnis auf ihren Gegenstand „unmittelbar bezieht" 6 . Freilich ergibt sich daraus sogleich die weitere Frage, wie solche Erkenntnis durch Anschauung, wie so eine „unmittelbare Beziehung" überhaupt möglich ist. Wie kann ein beschränktes Wesen, wie der Mensch, zu einem anderen beschränkten Wesen, wie etwa einem Stein, in einer solchen unmittelbaren Beziehung stehen? Als beschränkte, und das heißt zugleich auch g e g e n e i n a n d e r beschränkte Wesen müssen beide doch zunächst einmal als grundsätzlich voneinander geschieden gelten. Besteht demnach zwischen ihnen jene Beziehung, so nur dadurch, daß diese Geschiedenheit in irgendeiner Weise überbrückt ist. Eben das bringt Kant zum Ausdruck, wenn er sagt, daß solche Erkenntnis durch Anschauung als unmittelbare Beziehung auf den Gegenstand nur bestehen kann, „sofern uns der Gegenstand gegeben wird" 7 . 3 4

5

8

7

Prolegomena, Bd. 4, S. 282. Prolegomena, Bd. 4, vgl. S. 281, S. 282. Dazu gilt es zu beaditen, daß diese „Anschauung" hier als genereller Terminus all die verschiedenen Weisen bezeichnet, in denen mir ein Gegenstand gegenwärtig sein kann, also audi das Hören, Tasten, Riedien, Schmecken und nicht etwa nur das Sehen. Uber den Sinn der dann audi verselbständigt („isoliert") betrachteten Anschauung vgl. unten S. 32 ff. A 19 Β 33, vgl. auch A 320 Β 377. Damit entfallen die Schwierigkeiten, die dieser Satz den Interpreten zunächst bereitete (vgl. dazu ζ. B. Vaihinger [1], Bd. 2, S. χ ff.). Kant spricht hier weder von „Arten der Erkenntnis", noch behauptet er etwa, daß es „die Anschauung" sei, was „sich auf die Gegenstände unmittelbar beziehe" (a. a. O . S. 2). Dieser Fehler dürfte darauf zurückzuführen sein, daß man Aussagen dieser Art mit jenen andern gleichsetzte, in denen Kant etwa sagt, daß die Anschauung eine „unmittelbare Vorstellung des Gegenstandes" sei. Über die eigentliche Bedeutung dieser letzteren Art von Aussagen vgl. unten S. 3 χ f. A19B33.

Der Begriff der Gegebenheit

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Damit tritt hier ein Begriff auf, der zu den wichtigsten gehört, die Kant seinen transzendentalphilosophischen Untersuchungen zugrunde legt, dessen Sinn jedoch bis heute noch nicht restlos geklärt ist8. Was meint Kant, wenn er jene Oberbrückung darin erblickt, daß uns der Gegenstand „gegeben" wird? Wie so mancher philosophische Terminus ist auch dieses „geben" oder „gegeben" zunächst eine bloße Metapher, die philosophisch erst brauchbar wird, wenn man angibt, in welchem Sinne sie verwendet werden soll. Dazu bieten sich in diesem Fall verschiedene Möglichkeiten an. Einer von ihnen, die ihm vernünftig erscheint, gibt Kant vor den andern, die ihm offensichtlich unvernünftig scheinen und von denen er auch nur eine nach Art eines Gedankenexperimentes miterwägt, den Vorzug. Angesichts dieser Metapher könnte man nämlich zunächst an ein ganz konkretes Geben denken, etwa daran, wie man jemandem einen Apfel gibt, indem man ihn aus der eigenen Hand in die seine entläßt. Sieht man einmal davon ab, wie solches Eindringen des Gegenstandes in mich, als Erkennenden, überhaupt möglich sein sollte, so bleibt auch dann noch unbegreiflich, wie solches Gegebensein des Gegenstandes, beispielsweise jenes Steins, noch die Erkenntnis dieses Gegenstandes zulassen könnte. Denn als der Gegenstand, als der er erkannt wird, wäre er in solcher Gegebenheit für diese Erkenntnis gerade verschwunden. Mehr noch als ein Apfel in der bloßen Hand müßte nämlich jener Stein dadurch zu einem Teil von mir geworden sein, indes er in der Erkenntnis „Dies ist ein Stein" gerade als ein prinzipiell von mir verschiedenes Ding an sich erkannt wird. Kant erwägt freilich nicht diesen extremen, sondern nur einen gemäßigten, aber gleichwohl nicht weniger unbegreiflichen Fall einer ganz konkreten Gegebenheit. Die Gegenstände können zur Erkenntnis auch nicht dadurch gegeben werden, daß etwa „ihre Eigenschaften" jeweils von ihnen „in meine Vorstellungskraft hinüber wandern" 9 . Denn sieht man auch hier wieder davon ab, wie so etwas möglich sein sollte, so bleibt auch dann noch immer unbegreiflich, wie solche Gegebenheit des Gegenstandes noch zu seiner Erkenntnis beitragen könnte. Auch in diesem Fall wäre der Gegenstand, indem er zur Erkenntnis gegeben wird, für diese Erkenntnis gerade verschwunden. Denn das empirische Ding an sich, als das ich ihn erkenne, ist er gerade nur als Inbegriff dieser seiner Eigenschaften, die mithin wesentlich zu seinem An sich-Bestand gehören. 8 9

Vgl. unten Anm. 2 i . Prolegomena, Bd. 4, S. 282.

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Zwei Arten empirischer Gegenstände, Dinge und Erscheinungen

Gleichwohl ist es aufschlußreich, daß Kant diese Möglichkeit, trotz ihrer Absurdität, überhaupt erwägt. Denn darin kommt deutlich zum Ausdruck, daß nach Kant einem in sich beschränkten Wesen ein ebenso in sich beschränkter Gegenstand zur Erkenntnis nur so gegeben werden kann, daß dieses Wesen, wenn auch nicht ihn selbst oder seine Eigenschaften, doch jedenfalls überhaupt etwas von ihm empfängt. „Denn ohne das kann kein Grund der Beziehung meiner Vorstellung auf ihn", das heißt meiner Erkenntnis von ihm, „erdacht werden" 10 . Verfügte ich nämlich über eine Erkenntnis dieses Gegenstandes, ohne daß ich dazu etwas von ihm empfinge, so könnte meine Erkenntnis, als Erkenntnis dieses Gegenstandes, nur auf „Offenbarung" oder „auf Eingebung beruhen", — für Kant ein ebenso absurder Gedanke 11 . Muß also einem beschränkten Wesen, wie dem Menschen, ein Gegenstand zur Erkenntnis gegeben sein, so läßt sich das, nach Kant, vernünftigerweise nur so denken, daß dieses Wesen dabei zwar von Seiten des Gegenstandes etwas empfängt, das jedoch weder er selbst oder ein Teil von ihm ist noch etwa seine Eigenschaften. Dies aber kann nur eine „Wirkung" sein. Nur „die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit" 12 ist etwas, das man von diesem Gegenstand empfangen kann und was dennoch nicht er selbst oder ein Teil oder eine Eigenschaft von ihm ist. Nun ist aber der Mensch zunächst nur ein beschränktes Wesen unter anderen, die allesamt fortwährend aufeinander einwirken, ohne daß man deshalb schon sagen könnte, daß solche Einwirkung zur Gegebenheit des wirkenden Gegenstandes für eine Erkenntnis durch Anschauung führt. Fällt ein Stein zu Boden, so empfängt dieser zwar eine Wirkung von ihm, etwa eine Delle. Jedoch ist dadurch noch weder der Stein dem Boden gegeben, noch schaut der Boden den Stein etwa an. Daß aus dem, was in diesem Sinne bloße Wirkung ist, Gegebenheit für eine Erkenntnis wird, erklärt also diese Wirkung allein noch nicht. Zur Gegebenheit für Erkenntnis führt eine solche „Wirkung eines Gegenstandes" vielmehr nur, „sofern wir von demselben affiziert werden" 13 . Und zwar in dem Sinne, daß diese Wirkung „das Gemüt auf gewisse Weise", nämlich so affiziert, daß wir „durch die Art, wie" wir affiziert werden, „Vorstellungen... bekom10

Prolegomena, Bd. 4, S. 282.

11

Vgl. R 4668 und Prolegomena, Bd. 4, S. 282. A 19 Β 34. Auf das Problem der Affektion, nämlich auf die Frage, wie dieser Gegenstand, der uns affiziert, nach Kant eigentlich aufzufassen ist, kann im Rahmen dieser Abhandlung nicht eingegangen werden.

12 13

Der Begriff der Gegebenheit

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men" 1 4 , die dann als seine „Affektionen" 1 5 oder „Modifikationen" oder „Bestimmungen" 16 unserem Gemüt eigentümlich zugehören. K o m m t nun all dies zustande, so nur auf Grund einer besonderen „Fähigkeit (Rezeptivität)", die uns zum Beispiel vom Boden unterscheidet, und die K a n t „Sinnlichkeit" nennt 17 . U n d die „ W i r k u n g " , die ein Wesen empfängt, das diese besondere Fähigkeit der Sinnlichkeit besitzt, wird dadurch selber eine ganz besondere, eben eine „Vorstellung", die in diesem Fall „Empfindung" heißt 18 . Was man vom Gegenstand empfängt, ist demnach strenggenommen in der T a t nur jene „Wirkung" und nicht etwa die Empfindung selbst. V o n dieser kann man nämlich nicht mehr sagen, sie sei vom Gegenstand in das Gemüt des Menschen ,hinüber gewandert'. Denn so gewiß sie vom Gegenstand bewirkt wird, so gewiß ist sie doch als Empfindung etwas dem sinnlichen Gemüt Eigentümliches, das als solches erst in ihm a l l e i n und, wenn auch nicht spontan, so doch jedenfalls n e u entsteht. Geht nun die Unmittelbarkeit einer Erkenntnis wie „Dies ist ein Stein" darauf zurück, daß ich dabei diesen Stein anschaue, und besteht ferner diese Anschauung wiederum darin, daß mir dieser Gegenstand durch Empfindung gegeben wird, so heißt auf Grund dieser Empfindung, dem „eigentlich Empirischen" 19 , auch diese Anschauung empirische Anschauung und jene Erkenntnis empirische Erkenntnis 20 . Was K a n t mit all dem meint, wird deutlich, wenn man den Unterschied beachtet, den er zwischen dem Geben und dem Erkennen, zwischen der Gegebenheit des Gegenstandes und der Erkenntnis des Gegenstandes macht. Dieser Unterschied ist ebenso einfach wie grundlegend 21 . Wie im vorigen bereits gezeigt, muß der Gegenstand, den ein beschränktes Wesen, wie der Mensch, bei einer unmittelbaren Erkenntnis wie etwa „Dies ist ein Stein" anschaut, dazu gegeben sein; und er ist es, indem das mensch14 15 1β 17

18 19

20 21

A 19 f. Β 33 f. A 2J3 Β 309. A 197 Β 242. A 19 Β 33· Unter welchen Bedingungen solche Sinnlichkeit ihrerseits noch stehen muß, damit es in ihr zu so etwas wie „ V o r s t e l l u n g e n " kommt, dazu vgl. unten § 6 und § 8. A 20 Β 34. Vgl. Prolegomena, Bd. 4, S. 306, ferner S. 284; vgl. audi R L X (Bd. 23, S. 27), Preisschrift, Bd. 20, S. 266. V g l . A 20 Β 34 und A j o f. Β 74 f. Trotzdem wird er immer wieder übergangen und damit der eigentliche und wichtige Sinn der Gegebenheit verfehlt. V g l . ζ . B. Kaulbach (1), S. 324 f., S. 328; Zocher (1), S. 182; Bird, S. 178 f.; de Vleeschauwer, Bd. 2, S. 292 ff.; Husserl (2), Bd. 1, S. 98 ff.

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Zwei Arten empirischer Gegenstände, Dinge und Erscheinungen

liehe Gemüt von ihm jene Einwirkung empfängt, die sich dann in der Sinnlichkeit als Empfindung auswirkt und zu empirischer Anschauung führt. Also nur „vermittels" 22 der Sinnlichkeit, nur „durch" 23 Empfindung bzw. empirische Anschauung, wird er gegeben. Demnach ist der Gegenstand, der unmittelbar e r k a n n t wird, für diese Erkenntnis g e g e b e n gerade nicht unmittelbar, sondern durch Empfindung oder Anschauung vermittelt. U n m i t t e l b a r kann ein Gegenstand, wie ein Stein, dem Menschen prinzipiell niemals g e g e b e n , sondern nur von ihm e r k a n n t , nur durch Erkenntnis v o r g e s t e l l t werden. Einen solchen Gegenstand überhaupt unmittelbar zu haben, der für ihn notwendig etwas anderes ist als er selbst, wird dem Menschen immer nur im Hinüber einer Bezugnahme, in der Erkenntnisbeziehung, niemals aber in der umgekehrten Weise, im Herüber eines Gebens möglich. Dieses Haben des Gegenstandes im u n m i t t e l b a r e n E r k e n n e n kann für den Menschen also überhaupt nur dadurch bestehen, daß ihm dabei u n m i t t e l b a r g e g e b e n gerade nicht dieser Gegenstand ist, sondern etwas prinzipiell anderes, nämlich die Empfindung bzw. empirische Anschauung, die er in der Sinnlichkeit wirkt, und von der jenes Hinüber der Erkenntnis seinen Ausgang nimmt. Anders als der Gegenstand und seine Eigenschaften, die dem Menschen niemals ins Gemüt „hinüber wandern" können, sind demnach einzig Empfindung oder empirische Anschauung, die dem Gemüt als seine Bestimmungen eigentümlich zugehören, etwas dem Menschen unmittelbar Gegebenes: gleichsam ein Teil seiner selbst. Damit erweist sich, daß Empfindung und empirische Anschauung nicht nur ebenfalls zu jener besonderen Art empirischer Gegenstände zählen, die als subjektive Gegenstände audi die Erscheinungen umfassen, sondern daß sie alle im Grunde dieselben Gegenstände sind24, von denen diese verschiedenen Kennzeichnungen nur jeweils ganz bestimmte Züge fassen. Spricht Kant von „Empfindung", so hebt er jenes „eigentlich Empirische" hervor, das auf die Einwirkung des Gegenstands zurückgeht und solche Anschauung oder Erscheinung jeweils zu einer empirischen macht. — Bezeichnet er hingegen diese empirisch-subjektiven Gegenstände als Anschauungen, so weist er damit darauf hin, daß solche Empfindung die Sinnlichkeit des Menschen überhaupt nur besetzen kann, indem sie sich dabei den „Formen" dieser Sinnlichkeit (Raum und Zeit) fügt, die als 22 23 24

Vgl.z.B.A 19Β33. Vgl. ζ. Β. A 20 Β 34. Vgl. ζ. Β. Α 2ΐ Β 3 J , Α 22 Β )6, Prolegomena, Bd. 4> S. 30J, S. $ο6 f., Bd. 7> S. 142.

Anthropologie,

Der Begriff der Gegebenheit

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„Formen der Anschauung" jeden Gehalt a priori zu einer bestimmten raum-zeitlich geordneten Anschauung prägen. — Kennzeichnet Kant sie dagegen als „Erscheinungen", so verweist er besonders auf die Gegenstandsbedeutung dieser Anschauungen. Als Erscheinungen sind sie Erscheinungen von etwas und werden als „Daten" 25 dazu „genutzt" 26 , in empirisdier Erkenntnis einen empirischen Gegenstand zu bestimmen. Den Ausdruck „Erscheinung" wählt Kant jedoch audi insbesondere dann, wenn er zum Ausdruck bringen will, daß alle diese Gemütsbestimmungen, die er meistens kurzerhand „Vorstellungen" nennt, ebenfalls Gegenstände sind, die als ganz besondere, nämlich jeweils subjektive Gegenstände das Einzige sind, was uns unmittelbar gegeben werden kann: „Erscheinungen sind die einzigen Gegenstände, die uns unmittelbar gegeben werden können" 27 . Damit klärt sich dann auch, was Kant eigentlich meint, wenn er an einigen Stellen, ein wenig irreführend, davon spricht, daß Anschauung eine „unmittelbare Vorstellung des Gegenstandes" 28 sei. Das kann leicht dahin mißverstanden werden, als sei die Unmittelbarkeit dieser Vorstellung jene Unmittelbarkeit der Beziehung einer Erkenntnis auf ihren Gegenstand29. Doch das ist keineswegs der Fall. Das Wort „Vorstellung" verwendet Kant hier, wie so oft, noch ganz im traditionellen Sinne einer bloßen, noch ganz unspezifisdien Gemütsbestimmung überhaupt30. N u r darin liegt der Grund dafür, daß Kant sie eine unmittelbare nennt. Diese „Unmittelbarkeit" der Anschauung bezeichnet einmal jene ganz besondere Weise der G e g e b e n h e i t , in der sie uns, als Bestimmung unseres Gemüts, eben unmittelbar zugehört 31 . Zum andern kann sie aber, als Vorstellung „des Gegenstandes", audi noch darum eine unmittelbare heißen, weil sie als Auswirkung seiner Einwirkung durch diesen Gegenstand selbst h e r v o r g e r u f e n wird 32 . Freilich entsteht jenes Mißverständnis nicht von ungefähr. Denn eben diese unmittelbar h e r v o r g e r u f e n e und unmittelbar g e g e b e n e 25 2e 27

28 29 30 31 82

Ζ. Β. A 119, vgl. audi Prolegomena, Bd. 4 , S. 2 9 0 f. Vgl. A 2 2 9 Β 2 8 i , ferner Prolegomena, Bd. 4 , S. 2 9 1 f., Grundlegung, Bd. 4 , S. 4 5 2 . A 108 f. Vgl. auch A 129: „Denn als Erscheinungen machen sie einen Gegenstand aus, der bloß in uns ist, weil eine bloße Modifikation unserer Sinnlichkeit außer uns gar nicht angetroffen wird". Vgl. ζ. Β. Β 4i, Prolegomena, Bd. 4 , S. 2 8 1 , Preisschrift, Bd. 2 0 , S. 266, S. 3 2 J , S. 3 3 9 . Vgl. oben S. 25 f. und Anm. 6. Vgl. dazu ζ. B. Heimsoeth (1), Bd. 1, S. 8 3 , Anm. 1 1 4 . So besonders Preissdirift, Bd. 2 0 , S. 2 6 6 . So besonders Β 4 1 und Prolegomena, Bd. 4 , S. 2 8 1 .

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Zwei Arten empirischer Gegenstände, Dinge und Erscheinungen

Anschauung verbürgt dann auch noch die Unmittelbarkeit jener B e z i e h u n g der empirischen Erkenntnis auf den empirischen Gegenstand: indem sie nämlich ihrer Bezugnahme, ihrem Hinüber zum Gegenstand, als Ausgangspunkt zur Verfügung steht und damit selber ein Moment an dieser Erkenntnis bildet. Doch muß man dazu folgendes beachten. Als ein bloßes Moment am Ganzen der Erkenntnis führt Kant die Anschauung zwar ein33. Mit seiner philosophischen Theorie der empirischen Erkenntnis sucht er aber gerade zu ermitteln, „was in ihr liegt" 84 , das heißt, welche Momente dieser Erkenntnis im einzelnen zugrunde liegen. Zu diesem Zwecke löst er dann, indem er diese Momente „isoliert" 35 , jenes Ganze der Erkenntnis sogleich auf. Dabei ergeben sich ihm als ihre beiden Grundmomente bekanntlich Anschauung und Begriff. Und diese für sich betrachtete Anschauung ist es, die Kant dann nahezu immer meint, wenn er von „Anschauung" oder „Erscheinung" spricht3®. Sie aber hat, vom Begriff isoliert, gerade noch keinen Erkenntnischarakter, erst als begrifflich bestimmte Anschauung ist sie Erkenntnis 37 . Bezeichnet Kant sie als eine unmittelbare Vorstellung, so kann damit nur ihre Gegebenheit gemeint sein, die in jenem zweifachen Sinne eine unmittelbare ist. — Aus all dem geht hervor, daß Kant mit jener Unterscheidung, die er zwischen zwei Arten empirischer Gegenstände trifft, einem Kriterium folgt, das im Begriff der unterschiedlichen Gegebenheit dieser Gegenstände faßbar wird. Subjektive Gegenstände, wie etwa Anschauungen oder Erscheinungen, haben ihre Eigenart darin, daß sie uns als Bestimmungen unseres Gemüts (Vorstellungen) jeweils unmittelbar gegeben sind. Die objektiven Gegenstände dagegen, empirische Dinge an sich, sind dadurch gekennzeichnet, daß sie uns immer nur vermittelt gegeben werden können, und zwar vermittelt durch eben diese unmittelbar gegebenen subjektiven Anschauungen oder Erscheinungen. Dies muß man an allen Stellen im Auge behalten, an denen Kant über die Gegebenheit der Gegenstände spricht. Denn nicht allein bedient er sich dafür sehr unterschiedlicher Ausdrücke. Er neigt audi dazu, nur von Ge83 ai 35

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Vgl. oben S. 2 j f. und Anm. $ und 6. Prolegomena, Bd. 4, S. 304. A 21 f. Β 3 j f., Α yi f. Β j6, Α 6z Β 87, vgl. auch R 5013. Das Problem der Möglichkeit dieser „Isolierung" von Anschauung und Begriff bzw. von Sinnlichkeit und Verstand wird im folgenden nodi eingehend behandelt werden, vgl. dazu unten § 4. „In jeder Erfahrung ist etwas, wodurch uns ein Gegenstand gegeben, und etwas, wodurch er gedacht w i r d . . . Das, wodurch uns ein Gegenstand der Erfahrung gegeben wird, heißt Erscheinung" ( R 4 6 3 4 , Bd. 17, S. 618). Vgl. z . B . A 258 Β 314.

Der Begriff der Gegebenheit

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gebenheit überhaupt zu sprechen, ohne dabei jeweils genau nach unmittelbarer und vermittelter Gegebenheit zu unterscheiden. Das sei im folgenden an Beispielen gezeigt. Spricht Kant von der vermittelten Gegebenheit der objektiven Gegenstände, so sagt er meistens, daß sie uns „erscheinen"38 oder daß sie uns „in der Anschauung gegeben"39 sind. Im Zusammenhang damit nennt er sie dann auch „Gegenstände als Erscheinungen"40, womit er in äußerster Kürze nichts anderes41 meint, als daß sie durch Erscheinungen vermittelt gegeben, daß sie als bloß gegebene zunächst nur Erscheinungen sind. Deshalb kann Kant dann auch sogleich dazu übergehen, dasselbe dahin auszudrücken, daß uns dabei „Erscheinungen in der Anschauung gegeben werden" 42 , die „unserer Anschauung Gegenstände darbieten" 43 . Unter der Gegebenheit dieser Erscheinungen, durch die uns Gegenstände dargeboten werden, ist dann freilich jene andere, nämlich die unmittelbare Gegebenheit der subjektiven Gegenstände44 zu verstehen, indes die dadurch vermittelte Gegebenheit der objektiven Gegenstände hier mit „darbieten" umschrieben ist. So großzügig diese Ausdrucksweise auch sein mag, so führt sie doch, sofern man sie nur richtig versteht, in keinerlei gedankliche Schwierigkeiten und bleibt mithin systematisch gesehen harmlos. Gleichwohl muß man sie genau im Auge behalten, um die Stellen, die Kant in dieser Weise formuliert, von andern zu unterscheiden, die er zwar ähnlich formuliert, die aber systematisch nicht mehr harmlos sind, hinter denen sich vielmehr die ganze Problematik des Erscheinungsbegriff s verbirgt. Bereits im vorigen Paragraphen wurde auf jene Stelle verwiesen, an der Kant sagt: „Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung"45. Das ist eine der Stellen, die man leicht im Sinne jener etwas großzügigen Formulierungen auffassen könnte. Danach müßte man unter „Gegenstand" auch hier den objektiven Gegenstand verstehen, der in empirischer Anschauung oder durch Erscheinung gegeben ist, wie 88 3» 40 41

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V g l . z . B . A 89Β i 2 i f. Vgl. z . B . A 89 Β 122, A 93 Β ιι6. Ζ.Β.Α89Β122. Kant will damit nicht etwa sagen, daß diese Gegenstände als Phänomene aufzufassen sind, dieses Thema wird hier überhaupt nicht erörtert. Z . B . A 90 Β 122. Z . B . A 9 o f . B 123. Nur sie kann Kant hier meinen, weil er sie ausdrücklich den „Erfahrungen" entgegensetzt, vgl. dazu die Klammer in A 90 Β 122. A 20 Β 34, vgl. oben S. 23 f.

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Grayeff dies audi tatsächlich tut4®. Doch diese Auffassung läßt sich nicht halten. Sie scheitert genau an dem Wort, das Grayeff überhaupt nicht beachtet: Es ist von einem u n b e s t i m m t e n Gegenstand die Rede. Diese Kennzeichnung der Erscheinung aber kann nach allem, was sich inzwischen ergeben hat, nicht mehr als eine zufällige betrachtet werden, die nach Belieben fallen könnte. Sie findet vielmehr ihre volle Stütze in jener zweiten Wesensbestimmung, nach der eine Erscheinung gerade etwas S u b j e k t i v e s ist, wodurch ein objektiver Gegenstand zwar zur Erkenntnis g e g e b e n , jedoch durchaus noch nicht a 1 s ein solcher Gegenstand e r k a n n t wird. Dazu bedarf es vielmehr der Bestimmung dieser Erscheinung47, die Kant jedoch als Leistung des Begriffs gerade ausklammert („isoliert"), so daß in der Tat die bloß gegebene Erscheinung als solche etwas noch Unbestimmtes bleiben muß. Doch damit, daß diese bloße Gegebenheit der Erscheinung ihre Unbestimmtheit stützt, verstärkt sie zugleich auch ihre Problematik. Denn da nunmehr außer Zweifel steht, daß Erscheinung, als unmittelbar Gegebenes, etwas und nicht nichts sein soll, so steht damit nun auch um so nachdrücklicher in Frage, wie dieses unbestimmt Gegebene ein Gegenstand sein soll. D a ß diese Kennzeichnung fragwürdig ist, ließ sich im vorigen Paragraphen zunächst nur ganz vordergründig daran ablesen, daß doch nach Kants eigener Lehre die Gegenständlichkeit von etwas an seine begriffliche Bestimmtheit gebunden ist. Diese Fragwürdigkeit vertieft sich aber, wenn man nunmehr Kants Begriff der Gegebenheit mit in Rechnung stellt. Bereits im vorigen Paragraphen wurde darauf hingewiesen, daß diese Problematik des Erscheinungsbegriffs noch eine zweite Seite hat. Denn nicht nur soll nach ihm etwas Unbestimmtes ein Gegenstand sein, es soll entsprechend auch Gegenstand bloßer Anschauung sein, die als solche aber anderseits nach Kant gerade noch ganz „blind" ist, das heißt, eigentlich noch gar nichts zum Gegenstand hat. Im Verlauf dieses Paragraphen zeigte sich nun, daß Kant, wenn er von der Gegebenheit der objektiven Gegenstände durch Anschauung oder Erscheinung spricht, dabei „Anschauung" und „Erscheinung" immer wieder synonym gebraucht48. Diese Synonymität aber gibt er auf, sobald er nicht mehr von diesen objektiven, sondern 40 47 48

Vgl. oben S. 24 f. Vgl. ζ. Β. Β XVII, A i