Die Welt der Römer 3110138409, 9783110138405

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Die Welt der Römer
 3110138409, 9783110138405

Table of contents :
Frontmatter
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Zur Herkunft der Sage von Romulus und Remus
Gottmenschentum in der römischen Republik
Virtutes Romanorum nach dem Zeugnis der Münzen republikanischer Zeit
Ennius: ein Fremder in Rom
Dichtung und Rhetorik in Lukrez' De rerum natura
Philologische Bemerkungen zu den einleitenden Kapiteln von Caesars Bellum Civile
Ciceros Kunst der Überredung
Ciceros orator perfectus: ein vir bonus dicendi peritus?
Horaz - ein Koch?
Liebeskummer – eine Ovidinterpretation (Met. 9, 450-665)
Martial
Tacitus als Historiker zwischen Republik und Prinzipat
Die Satire - das vielgesichtige Genos
Register
Erstveröffentlichungen

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Carl Joachim Classen Die Welt der Römer

w DE

G

Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Winfried Bühler, Peter Herrmann und Otto Zwierlein

Band 41

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1993

Die Welt der Römer Studien zu ihrer Literatur, Geschichte und Religion von

Carl Joachim Classen Unter Mitwirkung von Hans Bernsdorff herausgegeben von Meinolf Vielberg

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1993

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche

Bibliothek



CIP-Einheitsaufnahme

Classen, Carl Joachim: Die Welt der Römer : Studien zu ihrer Literatur, Geschichte und Religion / von Carl Joachim Classen. Unter Mitw. von Hans Bernsdorff. Hrsg. von Meinolf Vielberg. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1993 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte ; Bd. 41) ISBN 3-11-013840-9 NE: GT

© Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: WB-Druck GmbH & Co, Buchproduktions-KG, Rieden am Forggensee Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort Der vorliegende Band vereinigt Aufsätze unseres verehrten Lehrers Carl Joachim Classen. Sie sind in der Form vereinheitlicht und mit einem Register versehen worden. Carl Joachim Classen hat einzelne Ergänzungen vorgenommen und die im Original englischsprachigen Arbeiten ins Deutsche übersetzt. Von vielen Seiten ist uns Hilfe zuteil geworden. Herr Professor H. Wenzel betreute den Band mit großem verlegerischen Geschick. Die Reihenherausgeber nahmen ihn in die „Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte" auf. Frau I. Hoff und Frau Ch. Merkes teilten sich die oft mühevolle Arbeit der Texteingabe. Frau cand. phil. S. Krenge und die Herren cand. phil. M. Knak und P. Welskop haben uns bei den Korrekturen unterstützt und vor mancherlei Fehlem bewahrt. Frau G. Müller beriet uns bei der Erstellung des Satzspiegels, und ihre Ratschläge auf dem Computer umzusetzen, half uns mit großer Sachkenntnis Herr Dr. G. Kloss. Ihnen allen danken wir herzlich.

Cambridge und Göttingen, im März 1993 Hans Bemsdorff

Meinolf Vielberg

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

Zur Herkunft der Sage von Romulus und Remus

1

Gottmenschentum in der römischen Republik

12

Virtutes Romanorum nach dem Zeugnis der Münzen republikanischer Zeit . 39 Ennius: ein Fremder in Rom

62

Dichtung und Rhetorik in Lukrez' De rerum natura

84

Philologische Bemerkungen zu den einleitenden Kapiteln von Caesars Bellum Civile

123

Ciceros Kunst der Überredung

130

Ciceros orator perfectus: ein vir bonus dicendi peritus?

155

Horaz — ein Koch?

168

Liebeskummer — eine Ovidinterpretation (Met. 9, 450-665)

190

Martial

207

Tacitus als Historiker zwischen Republik und Prinzipat

225

Die Satire — das vielgesichtige Genos

246

Register

269

Erstveröffentlichungen

281

Zur Herkunft der Sage von Romulus und Remus Die frühesten literarischen Nachrichten über Rom verdanken wir den Griechen des Mutterlandes und Siziliens.1 Sie behandeln, wenn man von dem interessanten Fragment des Antiochos über einen φυγάς mit Namen Sikelos aus Rom absieht,2 fast ausschließlich die Gründung der Stadt und die Herkunft bzw. die Familienbeziehungen des Gründers oder der Gründer. Ob man nun Rom durch Aineias selbst oder seine Nachkommen, durch versprengte Trojaner oder

W. Hoffmann, Rom und die griechische Welt im 4. Jahrhundert, Leipzig 1934 (= Philologus Suppl. 27, 1), 108-128 (dort einige ältere Literatur); wenig ergiebig E. Kaiinka, NJW 11, 1935, 401-410; knapp E. Wikén, Die Kunde der Hellenen von dem Lande und den Völkern der Apenninenhalbinsel bis 300 v. Chr., Diss. phil. Lund 1937, 76-77; 128-129; 170-182; wenig fördert G. Hermansen, Studien über den italischen und den römischen Mars, Kopenhagen 1940, 135-140; 145-162; zu J. Perret, Les origines de la légende troyenne de Rome (281-31), Paris 1942 s. P. Boyancé, REA 45, 1943, 275-290 (= Ders., Études sur la religion romaine, Rom 1972, 153-170) und A. Momigliano, JRS 35, 1945, 99-104 (= Ders., Terzo contributo alla storia degli studi classici e del mondo antico, Rom 1966, 677-687); vgl. femer E. J. Bickerman, CPh 47, 1952, 65-81; A. Alföldi, Die trojanischen Urahnen der Römer, Rektoratsprogramm 1956, Basel 1957, 9-13 mit 40-42 und 26-34 mit 49-52; S. Accame, I re di Roma nella leggenda e nella storia, Neapel 1959, 151-160. Aus der älteren Literatur seien hervorgehoben A. Schwegler, Römische Geschichte I 1, Tübingen 1853, 3-7; 384-459; Th. Mommsen, Hermes 16, 1881, 1-23 (hier zitiert nach: Gesammelte Schriften 4 = Historische Schriften 1, Berlin 1906, 1-21); P. Kretschmer, Glotta 1, 1909, 288-303; J. B. Carter, Artikel .Romulus', Roschers Mythologisches Lexikon 4, 1909, 164-209 und A. Rosenberg, Artikel .Romulus', in: RE 2. Reihe 1, 1914, 1074-1104; auf die zahlreichen Arbeiten von W. Soltau (Die Anfänge der römischen Geschichtsschreibung, Leipzig 1909, 21-30; Philologus 68, 1909, 154-157; ARW 12, 1909, 101-125) kann in Einzelheiten nicht eingegangen werden. Die wichtigsten Fragmente der griechisch schreibenden Historiker sind bequem von F. Jacoby (F Gr Hist. III C 809-840) zusammengestellt; grundsätzliche Bemerkungen „Zur Geschichtsschreibung der römischen Republik" gibt O. Gigon in der Festschrift für A. Debrunner (Sprachgeschichte und Wortbedeutung, Bern 1954) 151-169, bes. 152-153 (= Ders., Studien zur antiken Philosophie, Berlin 1972, 275-294, bes. 276-277); s. femer V. Costanzi, I gemelli fondatori di Roma e la diarchia consolare, Pisa 1913; J. Carcopino, La louve du Capitole, Paris 1925, 54-62 (der auch Romulus und Remus für autochthon hält, dessen Interpretation der Zwillinge als Repräsentanten der Allianz zwischen Sabinem und Latinem bzw. Rom und Capua aber zweifelhaft bleibt); G. A. Colonna di Cesaré, Il .misterio' delle Origini di Roma, Milano 1938 (bes. 279 (281)- 338 und 339 (341)393, auch 395 (397)-424; E. J. Bickerman, CW 37, 1943/44, 91-95; R. Bloch, Les origines de Rome, Paris 1959, 37-62 und E. Gjerstad, Legends and Facts of Early Roman History, Stud. Kgl. Hum. Vetenskapssamfundet Lund, 1960/61, 2 (1962); erst nach diesem Aufsatz erschien: Α. Alföldi, Early Rome and the Latins, Ann Arbor 1965 (= Das frühe Rom und die Latiner, Darmstadt 1977). D. Η. 1, 73, 4 = F Gr Hist. 555 frg. 6 = 840 frg. 7.

2

Romulus und Remus

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gar Griechen gründen läßt, der Name wird auf eine Rhome zurückgeführt, und diese allein aus dem Stadtnamen erschlossene Figur wird dann in verschiedener Weise mit den Traditionen des Epos verknüpft.3 Um die Mitte des vierten Jahrhunderts finden sich bei sizilischen Historikern zuerst Spuren lokaler latinischer oder römischer Sagen, und gleichzeitig damit lassen sich 'Ρώμος und 'Ρωμύλος zuerst bei ihnen nachweisen. Alkimos 4 scheint einen Stammbaum aufgestellt zu haben, nach dem Aeneas mit Tyrrhenia 5 einen Sohn Romulus hat, von dessen Tochter Alba dann Rhomus geboren wird. 6 Diese Folge gibt uns mehrere Rätsel auf: Warum wird in der dritten Generation nur Alba genannt, nicht aber der Vater des Stadtgründers? Was bedeutet die Doppelheit von Romulus und Rhomus als Großvater und Enkel? Die Lücke im Stammbaum läßt vermuten, daß eine spätere Konstruktion vorliegt, die verschiedene Elemente miteinander zu verbinden sucht, was sich auch darin andeutet, daß hier - und hier allein - die Gründung Roms um eine weitere Generation (in die vierte) verschoben wird;7 ob zugleich auf eine geheimnisvolle Abkunft des Stadtgründers hingewiesen werden soll, muß dahingestellt bleiben. 8 Darin, daß Romulus und Rhomus auf verschiedene Generationen verteilt werden, könnte man den Versuch sehen, einen latinischen Anspruch, der durch die .Mutter' Alba erhoben war und dessen Spuren sich auch sonst nachweisen lassen, 9 dadurch wieder auszugleichen, daß sie Romulus' Tochter wird. Doch da

D. Η. 1, 72, 2 = F Gr Hist. 840 frg. 8 = 4 frg. 84 (Hellanikos 7); gegen Zweifel an dessen Autorschaft bei Perret (s. Α. 1) 367-380, bes. 368, wendet sich Boyancé (s. Α. 1) 282-290 = 161-170 unter Hinweis auf Damastes (F Gr Hist. 5 frg. 3 = 840 frg. 9); vgl. ferner Plut. Rom. 2, 1 = F Gr Hist. 840 frg. 40 e und unten S. 5-6 A. 26 und 27); Latinos wird bekanntlich schon im Katalog Hesiods genannt (Theog. 1011-1016). Frühestens 350/40 v. Chr., vgl. F. Jacoby, F Gr Hist. 5 6 0 Kommentar 518. Die Unsicherheit dieser Datierung betont allerdings Perret (s. A. 1) 386-387 (vgl. auch Bickerman (s. A. 1) A. 25) und befürwortet einen späteren Ansatz (3. Jhdt.) im Zusammenhang seines Versuches, die späte Entstehung der Sagen von der trojanischen Herkunft der Römer nachzuweisen, der nicht gelungen ist (vgl. A. 1). Die folgenden Beobachtungen würden nicht beeinträchtigt durch den Wegfall des Alkimoszeugnisses. Zu Aeneas nach L. Malten (ARW 29, 1931, 33-59) vor allem F. Börner, Rom und Troia, Baden-Baden 1951, 11-49 (zu Tyrrhenia ebda. 41) mit Angabe weiterer Literatur; Alföldi (s. A. 1 Urahnen 15-19 mit 42-45 und 22-27 mit 47-49); K. Schauenburg, Gymnasium 67, 1960, 176-191. Ich gebe die lateinischen Formen, da das Fragment aus Festus stammt (p. 372 Lindsay 1930 = F Gr Hist. 560 frg. 4 = 840 frg. 12); Rhomus ist Konjektur von Ursinus (akzeptiert von Jacoby u.a.); Lindsay druckt in der Pariser Festusausgabe Rhomus?, während er in der Teubneriana das handschriftliche Rhodius beibehalten hatte, dem Müller eine crux beigibt. Eine mögliche Erklärung ist unten A. 17 gegeben. D. H. 1, 73, 2; 2, 2, 3 und dazu Philologus 106, 1962, 177; sie bleibt auch später in Dunkel gehüllt, sofern sie nicht durch Mars' Vaterschaft erklärt wird; eine Ausnahme bildet Anligonos F Gr Hist. 816 frg. 1 (= Fest. 372 Lindsay 1930), wo Juppiter als Vater des Rhomus genannt wird. Plut. Rom. 2, 1 = F Gr Hist. 840 frg. 40 e (άλλοι, eine Fassung, in der sich griechische Tradition (Rhome, s. S. 7) mit latinischer verbindet, ohne typisch römische Elemente) und (nach Konjektur von Kiessling) D. Η. 1, 72, 6 = F Gr Hist. 840 frg. 2 (τίνες); für B.

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Romulus und R e m u s

3

auch spätere Berichte die albanische Herkunft Roms bzw. seiner Gründer nicht bezweifeln,10 werden wir uns zunächst begnügen festzustellen, daß Romulus und Rhomus uns zuerst dort begegnen, wo auch latinische Elemente nachweisbar sind. Ein ähnliches Bild, das jedoch noch deutlicher Spuren künstlicher Verknüpfung heterogener Traditionen trägt, bietet der ebenfalls sizilische Agathokleshistoriker Kallias.11 Latinos, der Aboriginerkönig, heiratet eine Troerin, Rhome, deren Söhne Rhomos, Rhomylos und Telegonos eine Stadt gründen und nach ihrer Mutter benennen.12 Das Nebeneinander von Mutter und Söhnen, die jeweils auch allein zur Erklärung des Stadtnamens genügen würden und in anderen Fassungen auch tatsächlich genügen (vgl. A. 12), erweist diese Version als eine Kombination von Rhome, die den älteren griechischen Gründungssagen geläufig ist, und Rhomos und Rhomylos, die man römischer oder jedenfalls lokaler Legende zuschreiben möchte, weil sie schon bei Alkimos in Verbindung mit latinischen Elementen auftauchen. In dieser Vermutung bestärkt einen nicht nur die Tatsache, daß Alkimos und Kallias Sizilianer sind, bei denen man am ehesten unmittelbare Kenntnis des Westens und seiner Sagen erwarten darf,13 sondern die Anerkennung der Bedeutung der beiden Brüder bzw. Zwillinge - oder vorsichtiger der Sage von zwei Zwillingen - in Rom an der Wende vom vierten zum dritten Jahrhundert. Neben der Weihung der Ogulnier aus dem Jahre 296 v. Chr. (Liv. 10, 23, 12) erinnert W. Hoffmann an die

Niese HZ 59, 1888, 490-491 ist Leukaria Eponyme der bekannten Stadt Lucerla, doch s. K. Meuli, Artikel .Leukarion', in: RE XII, 2212. Übereinstimmend heißt es, daß Rom von Alba gegründet sei, später aber seinerseits Alba besiegt und dessen Bewohner zur Übersiedlung nach Rom gezwungen habe, wodurch - trotz der .brüderlichen" Aufnahme - Roms Vorrangstellung unterstrichen wird. Dionys von Halikarnaß nimmt diese Geschehnisse zum Anlaß, neben der Problematik des Kampfes zwischen Mutterstadt und Kolonie auch den Konflikt der Loyalitäten zur Familie und zum Vaterland zu erörtern, der sich aus der Verwandtschaft der Horatier mit den Kuriatiem ergibt (3, 2-22) - eben jenen Konflikt, dem sich in ähnlicher Form auch Romulus gegenüber sah, weswegen dieser Abschnitt gleichsam als eine indirekte Rechtfertigung seines Brudermordes zu gelten hat. D. H. 1,72, 5 = F Gr Hist. 564 frg. 5 a = 840 frg. 14 a, vgl. Fest. 372 Lindsay 1930 = F Gr Hist. 564 frg. 5 b = 840 frg. 14 b, dazu Hoffmann (s. A. 1) 112-115, auch schon Mommsen (s. A. 1) 3-6, ferner Perret (s. A. 1) 402-406 (dazu A. Momigliano (s. Α. 1) 100-101 = 680-681), wichtiger und richtiger 406-408, Bickerman (s. Α. 1) 67 mit A. 24. Die ähnliche Fassung des „Galitas" (Fest. 373 Lindsay 1930 = F Gr Hist. 818), den Mommsen (s. A. 1) (und andere nach ihm) mit Kallias hat identifizieren wollen, erwähnt nur Rhome, Rhomus und Romulus, nicht Telegonos; „Caltinus" dagegen nennt nur Rhome (s. A. 11). Timaios, den D. H. 1, 6, 1 nach Hieronymos von Kardia (dessen Fragmente für unser Problem nichts ausgeben) als den ersten griechischen Historiker bezeichnet, der die römische Archäologie behandelte, war Sizilianer, verbrachte aber den größten Teil seines Lebens in Athen; aus seinen Fragmenten lernen wir nur, daß er das Gründungsjahr Roms neu festsetzte (frg. 60: gleichzeitig mit Karthago), nicht aber, wen er als Gründer ansah, sofern man nicht Lykophrons Versen 1232-1233 einen Hinweis entnehmen will, auf deren Datierung ich hier jcdoch nicht eingehen kann (vgl. A. Momigliano, RSI 71, 1959, 549-556 = Terzo contributo (s. Α. 1) 44-53).

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Romulus und Remus

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Münzbilder mit der Wölfin und den Zwillingen, 1 4 die allerdings wohl nicht „etwa derselben Zeit" (wie die eben genannte Weihung) angehören, sondern eine Generation später, nach 269 v. Chr., geprägt sind. 15 Daneben sprechen noch weitere Argumente, die bisher nicht ausreichend beachtet zu sein scheinen, für die angedeutete Rückführung der einzelnen Sagenelemente auf verschiedene Traditionen. In seiner Übersicht über die .römische' Überlieferung der Gründungsgeschichte Roms unterscheidet Dionys von Halikarnaß mehrere Fassungen. 1 6 Nach einigen (D. H. 1, 73, 2 = F Gr Hist. 840 F 4 0 a) werden die Gründer Roms, Rhomylos und Rhomos, von ihrem Vater bzw. Großvater Aineias dem König Latinos übergeben, der sie zu seinen Nachfolgern macht: die Übereinstimmung mit dem Bericht des Kallias ist unmittelbar deutlich; nur fehlt in dieser .römischen' Fassung Rhome, deren .griechische' Herkunft damit erneut wahrscheinlich gemacht wird. Andere behaupten (D. H. 1, 73, 3 = F Gr Hist. 840 F 4 0 a), nach Aineias' Tod habe sein ältester Sohn Askanios das Erbe mit seinen Brüdern Rhomylos und Rhomos geteilt und selbst dann Alba gegründet, Rhomos dagegen Capua, Anchisa, Aenea und Rom, das jedoch verödet sei; fünfzehn Generationen später sei eine Kolonie unter Rhomylos und Rhomos von Alba ausgeschickt, um Rom neu zu gründen. 17 Auch in dieser Version, die sich durch die Wiederholung von Rhomylos und Rhomos und die Funktionslosigkeit des älteren Rhomylos 1 8 als späte Kombination zu erkennen gibt, fehlt Rhome. Andererseits ist die enge Verknüpfung von Rom und Capua auf gleicher Ebene schon von B. Niese hervorgehoben, 19 und W. Schur hat deswegen „eine private campanische Chronik bald nach der Mitte des 4. Jahrhunderts" als Quelle ansehen zu können gemeint. 2 0 Wenn auch wohl nicht so sehr historische und geographische Interessen diese Legende geprägt

(S. A. 1) 115; vgl. schon Mommsen (s. A. 1) 2-3. E. A. Sydenham, The Coinage of the Roman Republic, London 1952, 2 (Nr. 6 ) nach der Datierung von H. Mattingly und E. S . G. Robinson, P B A 18, 1932 und H. Mattingly, Roman Coins, London I 9 6 0 2 , 3 - 1 1 ; zustimmend auch R . Thomsen, Early Roman Coinage 1, Kopenhagen 1957, 2 3 0 - 2 3 4 , 2 4 8 (zu den Münzen 5 0 - 5 1 , zu Matlinglys Kritikern 2 3 8 - 2 4 7 ) . E s sei schon hier h e r v o r g e h o b e n , daß in den r ö m i s c h e n F a s s u n g e n der Gründungsgeschichte, die Dionys von Halikamaß den griechischen folgen läßt (1, 7 2 7 3 ) , stets von Romulus und Remus gesprochen wird (1, 73 = F G r Hisi. 8 4 0 frg. 4 0 a) bzw. genauer von 'Ρωμύλος und 'Ρέμος (zu den verschiedenen Namensformen s. u. A. 37). Es ergeben sich also vier Stufen: Aeneas/Gründung von Alba, Rom usw./Vorherrschaft Albas / Neugründung Roms; sie entsprechen dem Stammbaum des Alkimos (vgl. oben S . 2 ) und mögen erklären, warum dort noch ein weiteres Glied eingeschoben ist. Trotz der Parallele bei Kephalon dem Gergithier ( = Hegesianax, D. Η. 1, 7 2 , 1 = F Gr Hist. 4 5 frg. 9 = 8 4 0 frg. 2 1 ) versucht Perret (s. A. 1) 3 9 0 - 3 9 1 durch eine Konjektur Rhomylos auch an der ersten Gründung Roms usw. zu beteiligen; derartige Bemühungen richten sich selbst. HZ 5 9 , 1888, 490; er dauert sie in die Zeit von 3 3 8 - 2 1 6 v. Chr. Klio 17, 1921, 146; im Hinblick auf die Datierungen sei betont, daß noch Hegesianax (s. A. 18) Rhomos und Rhomylos Capua gründen läßt (F Gr Hist. 45 frg. 8), vgl. Perret (s. Α. 1) 3 0 9 - 3 1 2 (mil Hinweis auf Carcopino (s. Α. 1) 6 0 - 6 1 ) , 3 1 7 - 3 2 0 .

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Romulus und Remus

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haben als genealogische, durch die Latium und Kampanien mit Troja verbunden werden, so ist sie jedenfalls nicht von griechischer, sondern von lokaler kampanischer und latinischer bzw. römischer Tradition bestimmt, der Rhomylos und Rhomos also auch durch sie zugewiesen werden, während das Fehlen der Rhome deren griechischen Charakter erneut bestätigt. Einen weiteren Hinweis 21 auf die römische Herkunft des Paares Romulus/Remus erhält man, wenn man die Zeugnisse über Rhomos vor und nach der Beeinflussung der griechischen Tradition durch die italische prüft. Den ältesten Beleg für Rhomos allein - ohne Rhomylos als Bruder oder Großvater - darf man nicht in Dionys' von Chalkis Notiz bei Dionys von Halikarnaß (1, 72, 6 = F Gr Hist. 840 F 10) sehen, da dieser von A. Baumstark mit beachtlichen Argumenten frühestens in die Zeit des Lysanias von Kyrene, des Lehrers des Eratosthenes, gesetzt ist, 22 sondern in den Quellen des Xenagoras oder des Agathokles von Kyzikos. Xenagoras selbst gehört erst dem dritten Jahrhundert an; 23 doch hat man gemeint, er müsse auf einer Sage des fünften 24 oder spätestens frühen vierten Jahrhunderts 25 fußen, da seine Darstellung, nach der Odysseus' und Kirkes Söhne Rhomos, Anteias und Ardeias je eine Stadt gründen, allein dieser frühen Zeit angehören könne. Doch die Auswahl der drei Städte Rom, Antium und Ardea ist auch um 400 v. Chr. merkwürdig; sie wird am ehesten aus lokalpatriotischer Gesinnung verständlich; damit entfällt jedes Kriterium für die Datierung, und ein späterer Ansatz ist ebenso gut vertretbar wie ein früher. 26

Auch der Name Altellus für Romulus (Fest. 100 Lindsay 1930), den Kretschmer (s. A. 1) 302-303 anführt und als Deminutiv zu aller erklärt, lehrt, daß das Briiderpaar alter, in Rom heimischer Sage angehört. Hermansen (s. A. 1) 156 möchte Festus' erste Etymologie (Altellus aus alius in tellure) vorziehen unter Hinweis auf Naevius' Alimonium Remi et Romuli - kaum richtig. Philologus 53, 1894, 703-707, bes. 707, vgl. W. Schmidt, O. Stählin, Geschichte der griechischen Literatur 2, 1, München 1920, 213 und Wikén (s. Α. 1) 180 Α. 1; nicht berücksichtigt von E. Schwartz, Artikel .Dionysios (ν. Chalkis) 107' in: RE V, 929 und Jacoby F Gr Hist. 840 frg. 10, der jedoch F Gr Hist. 382 Kommentar (Noten) 111 Baumstarks Ausführungen über Lysanias (s. A. 1) 708-716) gegen A. Gudeman (Artikel .Lysanias (aus Kyrene)', in: RE XIII, 2508-2511) zustimmt. Baumstarks Versuch, Dionys sogar ins 2. Jhdt. zu datieren (vgl. auch Perret (s. A. 1) 388), scheitert daran, daß die Schol. Apoll. Rhod. 1, 558 genannten Autoren nicht chronologisch geordnet sind wie etwa D. H. 1, 72, wo Dionys übrigens nach Xenagoras genannt wird. D. H. 1, 72, 5 = F Gr Hist. 240 frg. 29 = 840 frg. 17 erscheint er nach Kallias S. 3; Jacoby F Gr Hist. 240 Kommentar 702 setzt ihn in kallimacheische Zeit (?), E. Wikén (s. Α. 1) 180 Α. 1 erst um 200 ν. Chr., Perret (s. Α. 1) 410 schon um 310 ν. Chr. (sicher nicht richtig). Wikén (s. Α. 1) 180 Α. 1 (oder 4. Jhdt.); Alföldi (s. Α. 1 Urahnen) 26 „etwa zwischen 450 und 350"; E. J. Bickemian, CPh 47, 1952, 78 A. 6 „5 th or 4 th c. Β. C.".. Hoffmann (s. Α. 1) 110-111 mil Α. 249; nicht nach Mitte des 4. Jhdts.: A. Piganiol, RPh 3. Ser. 17, 1943, 215. Beachtung verdient die Rolle des Odysseus in dieser Version (als Vater), d.h. die Verknüpfung mit der epischen Tradition.

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Agathokles von Kyzikos läßt in seinem eigenen, etwas verstümmelten Bericht Rom nach der Aeneasenkelin Rhome benannt werden,27 erwähnt aber ductores qui dicantAenean sepultum... atque ex eius progenie quendam nomine Rhomum venisse in Italiam et urbem Romam nominatam condidisse,28 Da Agathokles, der diese auctores als terminus ante quem datiert, nicht ins „5., spätestens in den Anfang des 4. Jahrhunderts zu setzen ist", 29 sondern erst dem zweiten Drittel des dritten Jahrhunderts angehört,30 brauchen auch diese auctores nicht älter zu sein als Alkimos oder auch nur als das dritte Jahrhundert, und da auch die anderen anonymen Überlieferungen nicht datiert sind,31 fehlt jede Möglichkeit des Beweises, daß die griechische Überlieferung die Gestalt des Rhomos als Eponym kannte, ehe sie Elemente der Lokaltradition des Westens aufnahm. Vielmehr können folgende Beobachtungen zusammengefaßt werden: 1. Die ältesten griechischen Berichte erwähnen nur Rhome, die der römischen Tradition fremd ist.32 2. Nur Fassungen sizilischer Historiker, die offensichtlich latinische Elemente verarbeiten, kennen Rhomylos und Rhomos (seit etwa der Mitte des vierten Jahrhunderts v. Chr.). 3. Schon auf frühen römischen Monumenten findet sich das - bzw. ein Zwillingspaar. 4. Rhomos allein läßt sich nicht vor 300 v. Chr. mit Sicherheit nachweisen. 5. Ergänzend sei noch hervorgehoben, daß die Namensform 'Ρέμος den Griechen schon zu Beginn des zweiten Jahrhunderts bekannt gewesen ist, wie eine kürzlich veröffentlichte Weihinschrift aus Chios lehrt. 33 Damit scheinen folgende Vermutungen gerechtfertigt:

Fest. 372 Lindsay 1930 und Solin. coll. 1, 3 = F Gr Hist. 472 frg. 5 = 840 frg. 18 a und b. Fest. 372 Lindsay 1930 = F Gr Hist. 472 frg. 5 (mit Kommentar 373 und A. 31) = 840 frg. 19. E. Schwartz, Artikel .Agathokles 24' in: RE I, 758-759 u.a. vgl. Perret (s. A. 1) 380 A. 3; Perrets Datierung ins 2. Jhdt. bereitet noch größere Schwierigkeiten, denn nach Fabius Pictor ist die Gestalt der Rhome allein kaum noch verständlich (vgl. u. A. 37). Jacoby F Gr Hist. 472 Kommentar 372 und 373 (zu frg. 5) mit A. 30. Z. B. die Version der τίνες (D. Η. 1, 72, 6 = F Gr Hist. 840 frg. 11), in der wohl eine spätere Abwandlung der Plut. Rom. 2, 1 (= F Gr Hist. 840 frg. 40 e) erhaltenen Fassung zu sehen ist, die griechische und latinische Elemente verbindet (s. ο. A. 9). Daß Rhome als griechisch empfunden wurde, zeigt neben der Schreibweise auch Fest. 372 Lindsay 1930 ... Valenliam, quod nomen adventu Euandri Aeneaeque in Italiam cum magna Graece loquenlium copia interpretation dici coeptum Rhomen, vgl. Serv. auct. Aen. 1, 273 = L. Ateius Praetextatus frg. 14 (dub.) Funaioli. Alföldi (s. A. 1 Urahnen), der passim die ältesten Spuren der trojanischen Urmutter bei den Römern - vor allem auf Münzen - aufzudecken sucht, gibt nicht einen einzigen Beleg dafür, daß die, die später Dia bzw. R(h)ea Silvia hieß, von den Römern je Rhome genannt wurde. Die Inschrift, die M. Kontoleon zunächst ins dritte Jahrhundert setzte (PAAH 1953 (1956) 270-271), dessen Datierung ich 1963 übernahm, wird jetzt in das Jahr 188/187 v. Chr. Geb. datiert, vgl. SEG 30, 1980 (1983) 290-294 (Nr. 1073).

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Romulus und Remus

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1. Ursprünglich sahen die Griechen in Rhome die Eponyme der Stadt (bzw. leiteten sie aus dem Stadtnamen ab).33* 2. Bei der Sage von den Brüdern Romulus und Remus handelt es sich jedenfalls im Kern um eine alte Lokaltradition, die in Rom bzw. Latium entwickelt wurde.34 3. Erst unter dem Eindruck dieser Fassung der Sage ließen die Griechen weitgehend an die Stelle der eponymen Rhome einen männlichen Gründer treten, dessen Name unmittelbar von 'Ρώμη abgeleitet wurde ('Ρώμος)35 und der deswegen von den Griechen bisweilen auch dort als Gründer vorgezogen wurde, wo er zusammen mit Rhomylos erschien;36 später wird Romulus auch von den Griechen als Gründer anerkannt, für uns zuerst bei Eratosthenes greifbar, während Rhomos bzw. Rhemos an die Stelle von Remus tritt,37 wie z.B. bei

Entsprechend nennt Zenodot von Troizen (F Gr Hist. 821 frg. 1) Praenestes als Gründer von Praeneste, während er in der lokalen Tradition Caeculus heißt; für Capua brauchten die Griechen niemanden zu erfinden, da die epische Tradition einen Kapys kannte (vgl. Börner (s. A. 5) 41 mit A. 79). Dies vermuteten schon B. G. Niebuhr, Römische Geschichte (Neue Ausgabe von M. Isler), I, Berlin 1873, 170-173 und Mommsen (s. Α. 1) 3-6; vgl. femer z.B. K. v. Holzinger, WSt 34, 1912, 190-191; 193-194; J. Mesk, WSt 36, 1914, 9; 15; Hoffmann (s. Α. 1) 114-115 u.a. Vgl. neben den Quellen des Xenagoras s. S. 5 und den auetores, die Agathokles zitiert s. S. 6, Antigonos (Fest. 372 Lindsay 1930 = F Gr Hist. 816 frg. 1), Hegesianax (D. H. 1, 72, 1 = F Gr Hist. 45 frg. 9 = 840 frg. 21); Dionys von Halikarnaß (1, 72, 1) schreibt diese Fassung auch Demagoras (vgl. E. Schwanz, Artikel .Demagoras 3', RE IV, 2705; Hoffmann (s. A. 1) 109 A. 245) und AgathyUos (vgl. u. A. 37) zu. Unklar ist die Notiz bei Festus (372 Lindsay 1930 = F Gr Hist. 840 frg. 40 b) über Apollodorus in Euxenide, wo statt Mulus vielleicht Romulus zu lesen ist (so W. H. Grauert, Historische und Philologische Analekten, Münster 1833, 85; auch E. J. Bickeiman, CPh 47, 1952, 78 A. 18), vgl. die Korruptel Anth. Pal. 3, 19, 2; Gigon (s. A. 1) 447 A. 1 vermutet eine Verschreibung für Amulius, was mir trotz des berühmten ähnlichen Fehlers bei Nonius (116, 34-35 = Naevius frg. 21 Warminglon, dazu jetzt W. Richter, NGG 1960, 3 , 56-64) unwahrscheinlich ist; zu Mayllem sei erinnert, daß Plutarch (Rom. 2, 3) Aimylia als Tochter des Aineias und der Lavinia nennt. In der römischen Tradition begegnet Romus nur bei etymologischen Spielereien, etwa Varrò ling. 5, 33; Serv. auet. Aen. 1, 273. Die von Plutarch aufgezählten anonymen Versionen kennen neben Rhomos (der sich übrigens bis in die Chronik des Malalas hält: p. 171-180 Dindorf; vgl. auch Suda s.v. Βρουμάλια) Rhomanos und Rhomis (Rom. 2, 1). Dagegen tritt Rhome zurück (Agathokles bei Fest. 372 Lindsay 1930 = F Gr Hist. 472 frg. 5 = 840 frg. 18 a, vgl. b; „Clinias" bei Serv. auet. Aen. 1, 273 = F Gr Hist. 819; Herakleides Lembos bei Fest. 373 Lindsay 1930 = F Gr Hist. 840 frg. 13 b und Serv. auet. Aen 1, 273 = F Gr Hist. 840 frg. 40 d; Ungenannte bei PluL Rom. 1, 2-3) oder hält sich nur in Veibindung mit Rhomylos, Rhomos oder beiden (z. B. Plut. Rom. 2, 3 vgl. S. 3-4). Vgl. S. 4 mit A. 18. Eratosthenes bei Serv. auet. Aen. 1, 273 = F Gr Hist. 241 fig. 45 = 840 frg. 20; Jacoby äußert mit Recht Zweifel an der Echtheit des Fragments (Kommentar zu 241 frg. 45), bestimmter Bickerman (s. A. 24) 79 A. 23, aus anderen Gründen auch PerTet (s. A. 1) 464 A. 5. Auch Agathyllos (D. H. 1, 49, 2 = F Gr Hist. 321 frg. 2 = 840 frg. 27) erwähnt nur Rhomylos, ohne daß die Einzelheiten völlig klar würden, da das Fragment zu früh abbricht; Plut. Rom. 2, 2 lehrt, daß Erörterungen allein über Rhomylos und seine Herkunft keineswegs die Existenz eines Bruders auszuschließen brauchen. Die griechi-

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Diokles von Peparethos, der als erster eine ausführliche Darstellung der Sage von den Zwillingen und ihren Geschicken gab.38 Wir haben wahrscheinlich gemacht, daß das Brüderpaar Romulus/Remus nicht mißliches Resultat einer unvermeidbaren Verknüpfung verschiedener Gründungsgeschichten ist, sondern aus Rom stammt und von dort in die griechischen Fassungen eingedrungen ist. Damit stellt sich die Frage nach dem Alter und dem Wesen dieser Tradition. Drei Möglichkeiten zeichnen sich ab: entweder handelt es sich um historische Berichte aus der Königszeit oder um Erfindungen bzw. Konstruktionen aus der Königszeit 39 oder aus der Republik. Wer hier eine Entscheidung treffen will, hat zwar zu berücksichtigen, daß der eine Bruder, Remus, weder in der sakralen Legende vorkommt noch zur Begründung einer der Doppelbildungen auf staatsrechtlichem Gebiet dient; 40 doch darf daraus nicht unmittelbar geschlossen werden, daß Remus eine späte Hilfskonstruktion ist, die gleichsam blutleer neben einen lebenskräftigen, in der Tradition tief verwurzelten Romulus tritt. Vielmehr ist die Möglichkeit einzuräumen, daß das verschiedenartige Bild von Romulus und Remus durch die jeweiligen Funktionen bedingt ist, die den Brüdern zugeschrieben werden. Wir gehen nicht davon aus, daß Remus nichts ist oder fast keine Bedeutung hat, sondern davon, was er ist und was ihm im Gegensatz zu seinem Bruder versagt wird, bzw. von Geschehnissen, für die er entweder vorhanden sein muß oder nicht sein darf; und wir fragen, ob das überlieferte Bild irgendwelche Züge trägt, die der echten Tradition der Königszeit entstammen müssen oder nicht können oder die entbehrlich scheinen und nur aus einer bestimmten entweder notwendigerweise gleichzeitigen oder späteren Konzeption der Königszeit verständlich sind. Da die Brüder in ihrer Jugend ganz ebenbürtig erscheinen, wenden wir uns sehen Historiker scheinen 'Ρέμος häufig dort zu verwenden, wo sie auf römischen Quellen fußen, vgl. etwa Plut. Rom. 6, 2; 7, 2 (bis); 4; 8, 1; 8; 9, 4; 5; 10, 1; 11, 1; 34, 1 (dagegen 2, 1 und 2 'Ρώμος); bei Dionys von Halikamaß ist dieser Tatbestand dadurch weniger deutlich, daß C. Jacoby in seiner Teubneriana ab 1, 79, 14 die variae lecliones nicht mehr notiert und immer 'Ρώμος druckt, obwohl 'Ρέμος auch sonst belegt ist: Ined. Vatic. 5 (F Gr Hist. 839); Slrab 5, 3, 2 (falsch beurteilt von W. Aly, Strabonis Geographica 4, Bonn 1957, 251); Diod. 8, 3 u. 4; Steph. Byz. s.v. Τάβιοι (= Γάβιοι) und in der Dichtung: Butas bei Plut. Rom. 21, 8 und Diodor ν. Sardes Anth. Pal. 9, 219, 3. Singular ist 'Ρημος Anth. Pal. 3, 19, 2 (dazu Kretschmer (s. Α. 1) 290 Α. 1 mit byzantinischen Parallelen, die das Epigramm datieren). Plut. Rom. 3, 1; vgl. A. Momigliano RAL 15, 1960, 315-316 mit Α. 14 (= Terzo contributo (s. Α. 1) 62-63). Was alt ist, was späterer Zusatz, was dem δραματικών cai ττλασματώδες (Plut. 8, 9) zuzuschreiben, wird sich im einzelnen schwerlich mit Sicherheit fesüegen lassen. Vgl. K. Trieber, RhM 43, 1888, 569-582. (Abhängigkeit von Sophokles' Tyro), stark einschränkend K. v. Holzinger, WSt 34, 1912, 175-202, bes. 190-191; 194-199 (gegen die Arbeiten von Soltau, s. A. 1); F. Krampf, Die Quellen der römischen Gründungssage, Diss. Leipzig 1913, 21-23; J. Mesk, WSt 36, 1914, 1-35. Das Problem ist in seinen Zusammenhang gerückt und entscheidend gefördert durch Gigon (s. A. 1) 151-161 = 275-294. Gigon (s. A. 1) wamt (mit Recht) davor, von „Erfindung" zu sprechen, da die römischen Historiker „planmäßig und in ihrem Sinne eminent wissenschaftlich vorgegangen" sind (s. A. 1) 152-153, vgl. auch 161 = 276-277; 285. Mommsen (s. A. 1) 6-7.

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dem Ereignis zu, das sie vereint - aber als Rivalen: der Gründung der Stadt Rom und dem damit verbundenen Streit um die Herrschaft, bei dem jedem eine eigene wichtige Funktion zukommt. Es wäre vorstellbar, daß die Brüder, die gemeinsam über die Hirten herrschen, 40 " später, als sie von Alba ausziehen, auch gemeinsam die neue Stadt gründen und verwalten bzw. über die Ausübung der Herrschaft übereinkommen. Doch die römische Tradition betont, daß sich Romulus und Remus nicht zusammen für ein gemeinsames Vorhaben, sondern getrennt voneinander um göttliche Zustimmung bemühen und daß dann entweder nur einer von den Göttern ausersehen wird oder zwei ungleiche, auf eine Gründung bezogene Vogelzeichen gegeneinander abgewogen werden. Mommsen hat hervorgehoben, daß dadurch dem auspicium eine Aufgabe zugeschoben wird, die ihm fremd ist, nämlich eine Auswahl zu treffen bzw. einen Streit zu entscheiden. 41 Dasselbe gilt in noch stärkerem Maße, wenn man den Vorgang als inaugurano versteht; 4 2 denn eine doppelte inaugurano wäre nur bei einer Doppelherrschaft sinnvoll, diese aber wird gerade durch die verbreitete Fassung der Remusgeschichte ausgeschlossen. Fast ebenso einheitlich, wie das Bild von der gemeinsam verbrachten Jugend des Romulus und Remus in der Überlieferung ungetrübt bleibt, wird von der späteren Rivalität der Brüder berichtet, deren jeder allein und auf Kosten des anderen die neue Stadt gründen, benennen, regieren will (vgl. Enn. ann. 80-100 Warmington); das führt sie früher oder später zu offenem Kampf oder Wortgefecht, an deren Ende Remus' Tod und die Alleinherrschaft des Romulus stehen. Nichts könnte die Funktion des Remus deutlicher werden lassen; er ist nicht lästiges Überbleibsel irgendeiner vielleicht heterogenen Tradition, das es schnell auszuschalten gilt, weil das Brüderpaar mit der Monarchie nicht vereinbar ist, er schafft vielmehr die Voraussetzung für das Auftreten zweier Gleichberechtigter bei der Stadtgründung und für den Streit, durch den der Anspruch auf Alleinherrschaft, der nach römischer Auffassung für jeden König charakteristisch ist, illustriert und der Gegensatz zu den späteren republikani-

Cass. Hemina frg. 11 in großartiger Formulierung, (vgl. mit H. Peter Diod. 8, 4, das Mesk (s. A. 38) 15, ebenso falsch versteht wie Schol. Bob. Cie. Vatin. 23, wo auch nicht von friedlichem Zusammenleben der Brüder nach der Gründung Roms gesprochen wird, sondern nur dasselbe gesagt wird wie Liv. 1, 7, 1; zu Unrecht schließt Mommsen (s. A. 1) 18 aus Prop. 4, 1, 9-10, Tib. 2, 5, 24 (consors = Mitherrscher), Verg. Aen. 1, 292, daß die Dichter ein Doppelkönigtum nach dem auspicium kennen; dazu richtig R. Schilling, REL 38, 1960 (1961) 183-186 (problematisch 184 A. 4), vgl. Serv. Aen. 1, 276). (S. A. 1) 11-12. Während ursprünglich augurium und auspicium ganz verschiedene Dinge waren (vgl. z.B. H. Wagenvoort, Roman Dynamism. Oxford 1947, 37-40; U. Coli, SDHI 17, 1951, 82-98; P. de Francisci, Primordia Civitatis, Roma 1959, 511-528 mit Kritik an Coli 520-527), verwischen sich die Unterschiede in späterer Zeit und die beiden Ausdrücke werden fast synonym; damit wird fraglich, wie weil eine Alternative auspicium oder auguri um in dieser Ausschießlichkeit für die spät formulierten Berichte überhaupt gestellt werden kann.

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sehen Institutionen deutlich unterstrichen wird. Damit wird unwahrscheinlich, daß es sich hier um eine Erfindung der Königszeit handelt, und es bleibt die Frage, ob hier alte Überlieferung aus der Königszeit oder eine Konstruktion aus der Republik vorliegt. Die erste Möglichkeit bietet verschiedene Schwierigkeiten; ist schon die Tradition über die Königszeit allgemein unsicher und unzuverlässig, wenn sie auch heute wieder manchmal Glauben findet, 44 so wäre eine unabhängige Überlieferung über Remus um so erstaunlicher, als keine Kultstätte oder dergleichen als Träger oder Bewahrer in Frage kommt; 45 gehören die Nachrichten von Remus' Tod aber in den Zusammenhang der Romulusgeschichten, so ist notwendigerweise eine romulusfeindliche oder königsfeindliche Tendenz oder wenigstens das Bestreben, das Königtum in seiner Eigenart herauszustellen, mit ihnen verknüpft, so daß man in ihnen ebenso ungem eine heilig bewahrte Überlieferung der Königszeit sehen wird wie eine Konstruktion der Frühzeit (wie sie sich schon als unwahrscheinlich erwiesen hat), sondern vielmehr eine Geschichte, die ihre Entstehung dem Denken und den Anschauungen der Republik verdankt, für die der wichtigste Unterschied zwischen einer monarchischen Verfassung und der eigenen in der Annuität und Kollegialität der höchsten Gewalt liegt; sie kann deswegen an einer Legende interessiert sein bzw. sie sogar erfinden, die die Kollegialität als Möglichkeit an den Anfang der römischen Geschichte stellt, und die den ersten .König' dadurch charakterisiert, daß er diese Möglichkeit, die sich gleichsam von selbst anbietende Kollegialität verwirft und eine Alleinherrschaft aufrichtet. Es mag hier eingewendet werden, daß man den Gründer der Stadt schwerlich mit dem schlimmsten Verbrechen belastet haben wird, allein um die später entwickelte Form der Verfassung und ihre Vorzüge gegenüber dem Königtum deutlicher herauszustellen. Dem ist zu entgegnen, daß die Versionen von Remus' Tod sehr verschieden ausgestaltet sind46 und teilweise offensichtlich Romulus entlasten sollen (vgl. Aug. civ. 3, 6) oder mit dem Hinweis entschuldigen, daß das Wohl des Gemeinwesens auch die Tötung des Bruders notwendig machen kann; 47 und weiter ist daran zu erinnern, daß man sich auch sonst nicht scheute, negative Züge im Bild des Romulus zu entwickeln oder bestehen zu lassen.48

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Diese Funktion des Remus bzw. seiner Ausschaltung ist von den Kritikern Mommsens übersehen (z.B. Kretschmer (s. A. 1) 288-289; Carter (s. A. 1) 169-183; Hoffmann (s. A. 1) 114 A. 257). Vor allem bei italienischen Forschem, z.B. Accame (s. Α. 1). Remurinus ager, Remona und Remoria (Fest. 380 Lindsay 1930) können als Anknüpfungspunkte bei der Ausgestaltung einer Sage gedient haben, reichen aber nicht aus, die Bewahrung einer alten Überlieferung zu erklären. Vgl. z.B. die Übersichten bei Carter und Rosenberg, (s. A. 1) femer H. Wagenvoort, Studies in Roman Literature, Culture and Religion, Leiden 1956, 177-178 und Schilling (s. A. 40a) 188-193. Vgl. ο. A. 10. Vgl. Philologus 106, 1962, 183-190; ergänzend ist hinzuweisen auf A. Brelich, Tre variazioni romane sul tema delle origini, Rom 1955 (= Nuovi Saggi 14), bes. 39-43, der in Romulus wie in Caeculus einen verbreiteten Gründertypus nachzuweisen sucht und

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Wir dürfen also annehmen, daß die Legende von Romulus und Remus, dem Tod des einen und der Alleinherrschaft des anderen, im Rom der republikanischen Zeit entstanden ist, spätestens im vierten Jahrhundert, da sich ihre ersten Ausstrahlungen in der sizilischen Historiographie der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts nachweisen lassen.49

die negativen Züge und den gewaltsamen Tod aus dem Griindermythos erklärt und damit für alt hält (124-125), dagegen nicht notwendigerweise auch die Benennung des Gründers als Romulus (125 Α. 67); wichtig für das spätere Romulusbild ist die treffliche Dissertation von R. Klein, Königtum und Königszeit bei Cicero, Erlangen 1961 (1962), bes. 42-76 mit 107-126. Vor allem ist noch der grundlegende Aufsatz von H. Gabba zu nennen (Athenaeum Ν. S. 38, 1960, 175-225, der die Gleichsetzung von Sulla mit Romulus für erwiesen hält (220-225) und die .Romulusverfassung' bei Dionys von Halikamaß als senatsfreundlich charakterisiert und in sullanische Zeil datiert (207223), während er die eingestreuten griechischen (politischen und philosophischen) Motive auf Dionys selbst zurückführt; zugleich konstatiert Gabba mehrere Übereinstimmungen mit Ciceros Werk über den Staat (186-187; 200; 208-209), die die Frage aufwerfen, wie weil die Romulusverfassung nicht doch zu Caesars Plänen paßl und wie weit Cicero in de re publica - neben der Proculusgeschichle - Ideen und Vorstellungen Caesars vorträgt. Wie weit sie nicht nur bekannte Namen wie Romulus, deren etruskische Herkunft man nicht bezweifeln wird, sondern auch ausführlichere ältere Erzählungen oder Mythen verarbeitet, vermögen wir nicht zu sagen (vgl. die Forschungen von G. Dumézil). Zusatz 1992: Die hier erörterten Probleme sind in der Forschung immer wieder aufgegriffen worden, und mir ist mehrfach Gelegenheit gegeben worden, Stellung zu nehmen, s. zu H. Strasburger, Zur Sage von der Gründung Roms, Heidelberg 1968 (= Ders., Studien zur Alten Geschichte Ι-Π, Hildesheim 1982, II 1017-1055): Gnomon 43, 1971, 479-484; zu G. Radke, Zur Entwicklung der Gottes Vorstellung und der Gottesverehrung in Rom, Darmstadt 1987: HZ 248, 1989, 672-674; zu J. N. Bremmer, N. M. HorsfaU, Roman Myth and Mythography, London 1987: HZ 249, 1989, 392-393. Vgl. außerdem Historia 14, 1965, 385-403 zur Königszeit im Spiegel der römischen Literatur der Republik.

Gottmenschentum in der römischen Republik Immer wieder hat sich die Forschung der letzten Jahre mit dem Herrscherkult in der Antike befaßt; dabei ist über kaum etwas so wenig Einigkeit erzielt worden wie über die Vorstufen des Kaiserkults bei den Römern der Republik. Die historische Zuverlässigkeit der literarischen Quellen wird nicht gleich bewertet, die einzelnen Zeugnisse, besonders die Münzen, werden verschieden interpretiert, und vor allem über die Voraussetzungen, zum Beispiel die religiösen Anschauungen der Römer und die Bedeutung des Herrscherkults für das religiöse und politische Leben in Rom, herrschen gegenteilige Auffassungen. 1 Professor J. M. C. Toynbee, die bekannte Cambridger Archäologin, faßt die wichtigsten Punkte ihrer Anschauungen folgendermaßen zusammen (NC 6 Ser. 7, 1947,126-129): „To the Greeks and Romans, men and gods were not on two completely separate and differentiated levels, the one on the natural, the other on the supernatural, plane. They occupied either end, as it were, of a single sliding scale, along which a mortal man could move godward, by ascending degrees, until he reached virtual identification with an immortal god. (126)... these ideas ... were equally inherent, if less vividly expressed, in the religion of republican Rome. There the ease of the transition from man to god can be observed in the cult of the Genius, of the ancestral Lares, and of Romulus-Quirinus, in the triumphator's assimilation to Jupiter during his procession to the Capitol, and in such expressions of popular feelings towards public benefactors and heroes as the offerings made to the statues of the Gracchi or the coupling of Marius with the gods at banquets and libations in private houses after his victories over the Teutoni and Cimbri... the potential divinity of a human leader or indeed of any human being after death seems to have been assumed quite naturally by contemporary Romans (zur Zeit der ausgehenden Republik) (127)... the whole

Aus der Fülle der Gesamtdarstellungen sei besonders auf folgende hingewiesen: G. Wissowa, Religion und Kultus der Römer, München 19122; W. Warde Fowler, Roman Ideas of Deity, London 1914; L. R. Taylor, The Divinity of the Roman Emperor, Middletown 1931; C. Bailey, Phases in the Religion of Ancient Rome, Berkeley 1932; ders. in: CAH 8, Cambridge 1930, 423-465; F. E. Adcock, in: CAH 9, Cambridge 1932, 718-740; A. D. Nock, in: CAH 10, Cambridge 1934, 465-511; L. Cerfaux, J. Tondriau, Le culte des souverains dans la civilisation gréco-romaine. Tournai 1957; C. Koch, Religio, Studien zu Kult und Glauben der Römer, Erlangen 1960; F. Taeger, Charisma 2, Stuttgart 1960; K. Latte, Römische Religionsgeschichte, München 1960; O. Vessberg, Studien zur Kunstgeschichte der römischen Republik, Lund 1941 und E. A. Sydenham, The Coinage of the Roman Republic, London 1952. Die zahlreichen Arbeiten A. Alföldis, die sich mit unserem Problem befassen, sind jetzt in der Festschrift für A. Alföldi zusammengestellt (H. Bögli, JNG 10, 1959/60, 7-20, bes. 1011). Herrn F. Börner bin ich für verschiedene Literatuihinweise zu Dank verpflichtet.

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concept of divinity merited by works and service, so far from being an exotic, foreign importation into Rome was rooted in an essential .naturalism' which runs through Greek and Roman paganism as a whole (128) ... Distinctions made within Graeco-Roman thought in the matter of human apotheosis are insignificant in comparison with the fundamental divergence of that thought from Jewish - Christian ideas" (129). Ich habe so ausführlich zitiert, weil ich Professor Toynbee in allen wesentlichen Punkten nicht zustimmen kann; die Gründe dafür gebe ich unten jeweils als Ergebnis meiner Interpretation der einzelnen Quellen. Eine vollständige Behandlung aller Aspekte des angedeuteten Problems muß ich mir hier versagen. Sie müßte zunächst das Verhältnis der Römer zu den Laren, zum paterfamilias, zum genius, zu den divi parentum usw. klären. 2 Dann wären alle Wesen zu untersuchen, die nach römischer Überlieferung je aus der menschlichen Sphäre zur göttlichen (oder umgekehrt) gelangt sind: 3 erstens die Götter, die eine griechisch beeinflußte Geschichtsschreibung um chronologischer Konstruktionen willen oder aufgrund euhemeristischer Anschauungen zu Menschen (Königen) der Frühzeit macht, die aber für die Römer der Republik (oft verblaßte) Gottheiten sind wie etwa Ianus, Saturnus, die Könige von Laurentum, Picus und Faunus, femer Iuturna, Anna Perenna u.a.; zweitens die Griechen, die im Mutterland als gottgewordene Menschen gelten, nach Rom aber als Götter kommen, oft durch italische Vermittlung, wie z.B. Hercules, Castor, Liber (Dionysos), und dort erst später durch das Eindringen griechischer Philosophie zu Typen des gottgewordenen Menschen werden; drittens jene Menschen, die zwar hier und da über den menschlichen Bereich hinausgehoben scheinen, aber im allgemeinen Bewußtsein der Römer als Menschen angesehen und nicht als Götter verehrt werden wie z.B. Euander, Aeneas, Romulus, 4 Titus Tatius, Numa, Servius Tullius, Acca Larentia. 5 Wir beschränken uns hier auf die Berichte, die von außerordentlichen Ehrungen sprechen, durch die einzelne Römer in der Zeit der Republik über das gewohnte Maß oder genauer über das dem Menschen zukommende Maß gehoben wurden bzw. gehoben zu werden schienen. Zunächst haben wir uns der - nach Mommsens Urteil 6 - verlogensten aller römischen Legenden zuzuwenden, der von M. Furius Camillus. Die .Ehrung' Knappe Hinweise sind unten gegeben (S. 19; 24; 26; 33); im übrigen ist Lattes Religionsgeschichte zu vergleichen. Vgl. hierzu Warde Fowler (s. Α. 1) 93-106, einiges Material auch bei Cerfaux, Tondriau (s. Α. 1) 269-278. Vgl. C. J. Classen, Philologus 106, 1962, 174-204. Es ist bezeichnend, daß Cato (orig. 16 Peter = Macr. Sat. 1, 10, 16) die Opfer an den Larentalia nur dadurch mit Acca Larentia verknüpfen kann, daß er sie - sicher falsch, vgl. Latte (s. A. 1) 92 - als parenlalio deutet: vgl. Vano ling. 6, 23. Römisches Strafrecht, Leipzig 1899 (Nachdruck Darmstadt 1955), 1018 Α. 2; aus der umfangreichen Literatur sei auf die ausführliche Darstellung von J. Hubaux, Rome et Véies, Paris 1958 (= Bibl. Fac. Phil. Lettres Liège 145) hingewiesen, femer die knappe Übersicht bei A. Momigliano, CQ 36, 1942, 111-120 (= Secondo contributo alla Storia ..., Roma 1960, 89-104).

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als Retter und Gott durch die Falisker verdiente gar nicht erwähnt zu werden, würde nicht immer wieder in diesem Zusammenhang auf sie hingewiesen. 7 Plutarch (Cam. 10, 1-8, bes. 6) erzählt, wie die Kinder der Falisker von ihrem Lehrer dem Camillus als Pfand ins Lager geführt, von diesem aber ungeschoren wieder nach Hause geschickt wurden; als sie bei der Rückkehr ihren trefflichen Schulmeister gebunden in ihrer Mitte sahen, hätten sie den römischen Feldherren σωτήρα καί πατέρα καί θεόν genannt. Ist das Jubelgeschrei der faliskischen Schulkinder für unser Problem ohnehin belanglos, so muß daneben betont werden, daß Plutarch sich hier einer verbreiteten Formel bedient (vgl. Appendix I), der für die spezielle Situation gar nichts entnommen werden kann; sie ist nur dort bedeutsam, wo sie nachweislich von Römern in der republikanischen Zeit gebraucht wird. Auch nach dem Sieg über die Gallier erwähnt Plutarch eine besondere Ehrung des Camillus: er feierte einen Triumph ώς εικός ήν τον άττολωλυίας πατρίδος σωτήρα γενόμενον καί καταγαγόντα την πόλιν αυτήν εις εαυτή ν (Cam. 30,2). Hieraus eine Verherrlichung des Camillus als .Retter' zu erschließen, berechtigt nichts - wie schon die Parallelberichte zeigen (Plut. Cam. 22, 4 = Arist. frg. 568 Rose; 29, 2; 30, 1; App. civ. 2, 50) - auch nicht die Schilderung des Triumphes bei Livius (5, 49, 7): dictator ... triumphans in urbem redit, interque iocos militares quos inconditos iaciunt, Romulus ac parens patriae conditorque alter urbis haud vanis laudibus appellabatur. Die Spottgesänge der Soldaten sind keine Ehrung; immerhin verdient der Romulusvergleich Beachtung, da er mehrfach wiederkehrt, und zwar in den zusammenfassenden Charakteristiken bei Livius (7, 1, 10 - nach Camillus' Tod) und bei Plutarch (in der Einleitung zu seiner Biographie) und in den Diskussionen darüber, ob man nach dem Sieg über die Gallier Rom wieder aufbauen oder nach Veji übersiedeln solle: Plutarch berichtet, man habe Camillus beschuldigt, er wolle als zweiter Gründer der Stadt erscheinen und damit Romulus seinen Platz nehmen (Cam. 31,2). Camillus wird also nicht als zweiter Gründer gefeiert, sondern ihm werden .Romulus'- Gelüste vorgeworfen, ein Topos, der seit sullanischer Zeit bei Politikern und Historikern aufkommt (Classen (s. Α. 4) 183).8 Da Polybius Camillus' Rolle als .Retter' beim Galliereinfall gar nicht erwähnt, wird man vermuten dürfen, daß auch diese Form des Vorwurfs gegen Camillus erst aus der jüngeren Annalistik stammt. Denn daß die Inschrift der Camillusstatue bei den Rostren® den Romulusvergleich (in positiver Form) schon gekannt hat, ist unwahrscheinlich. Livius, der in Augustus u.a. auch den neuen Romulus sieht, muß das Gegebene umformen: 10

Vgl. Hubaux (s. A. 6) 302-313; zu σωτήρ vgl. Kasper (s. Appendix I) passim. Den Wunsch, wie ein König zu herrschen, unterstellt ihm Cicero, epist. frg. Π 5 (Watt). Vgl. F. Münzer, Artikel .Furius 44' in: RE VI, 347; Vessberg (s. Α. 1) 10 und 22 zu Plin. nat. 34, 23. Gegen eine Überschätzung dieser Tendenz wendet sich mit Recht H. J. Mette, Gymnasium 68, 1961, 269-285, gehl aber in seiner Skepsis m.E. zu weit (276); vorsichüger P. G. Walsh, Uvy, Cambridge 1961, 10-18.

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Zwar läßt er in der Debatte um die Auswanderung nach Veji, deren Entscheidung jedenfalls in augusteischer Zeit als Camillus' Verdienst angesehen wird (Liv. 5, 51-55; ILS 52), einen Hinweis auf die Gründung der Stadt stehen, den er Camillus selbst in den Mund legt (5, 52, 1-2), während bei Plutarch die Senatoren an Romulus und Numa erinnern (Cam. 31,3, vgl. auch die Fassung, die Livius in einem früheren Zusammenhang bringt: 5, 24, 11); den Vergleich mit Romulus aber macht Livius in positiver Wendung zum Inhalt der Soldatenspäße beim Triumphzug, d.h. er fügt ihn genau an der Stelle ein, an der er ihn auch in der Geschichte von Cossus bringt (4,20,2), der wegen der spolia opima mit Romulus, nicht aber mit dem conditor urbis verglichen zu werden verdiente. Offensichtlich war Livius bemüht, den Retter Roms in günstigem Licht erscheinen zu lassen, und so erwähnt er zwar, daß die Form von Camillus' Triumph Anstoß erregte, scheint dies aber zugleich zu entschuldigen (vgl. auch Plut. Cam. 7, 1), wenn er betont triumphus omnem consuetum honorandi d ie i illiu s modum a l i q u a η t u m excessit (5, 23, 4) und wenn er dann Camillus gerade durch die weißen Rosse das zu seiner Zeit übliche Maß überschreiten läßt (5, 23, 5; 28, 1), derer sich später Caesar bedient (Dio Cass. 43, 14, 3). Wie längst erkannt ist,11 ist auch die Schilderung dieses Triumphes spät erfunden, und zwar nach Caesars Triumph. Die Analysen haben gezeigt, daß uns die Camillusgeschichten über Livius und die ersten Jahre des Prinzipats einiges lehren, weniges auch über die Propaganda der letzten Jahrzehnte der Republik. Für die Frühzeit ergeben sie für unsere Frage nichts. Ganz andere Probleme eröffnet die Überlieferung über den älteren P. Cornelius Scipio Africanus.12 Seine Persönlichkeit ist schon früh von Legenden umwoben, von Legenden seiner Verehrer und Legenden seiner Verächter, von Legenden der Historiker wie auch der Dichter (vgl. Gell. 6,1). Zwei Fragen sind für unseren Zusammenhang bedeutsam: 1. Welche Ehrungen sind Scipio nach zuverlässigen Berichten zuteil geworden? 2. Wann und in welchen Kreisen haben sich die Scipiolegenden gebildet? Scipios Laufbahn beginnt in ganz ungewöhnlicher Weise: Er wird, ehe er das vorgeschriebene Alter erreicht hat, Aedil (213 v. Chr.), und in der Not des Jahres 210 v. Chr. wird er vom Volk mit prokonsularischer Gewalt nach Spanien geschickt, um dort C. Claudius Nero zu entsetzen und den Angriff auf Hasdrubal zu erneuern. Die Gründe für diese Entsendung, die wider Tradition und

Vgl. A. Schwegler, Römische Geschichte, ΠΙ, Tübingen 1858, 228 A. 1. Bedenken äußern jetzt F. Börner zu Ov. fast. 6, 724 und Hubaux (s. A. 6) 152. Wichtig vor allem Ed. Meyer, Kleine Schriften Π, Halle 1924, 423-457; vgl. ferner W. Schur, Scipio Africanus und die Begründung der römischen Weltherrschaft, Leipzig 1927; H. H. Scullard, Scipio Africanus in the Second Punic War, Cambridge 1930; R. M. Haywood, Studies on Scipio Africanus, Diss. phil. Johns Hopkins University 1932 (Baltimore 1933); W. Hoffmann, Livius und der zweite punische Krieg, Berlin 1942 (= Hermes-Einzelschriften 8) 71-102; F. Ahheim, Römische Religionsgeschichte, II, Baden-Baden 1953, 30-36; R. Étienne, Le culte impériale dans la Péninsule Ibérique d 1 Auguste à Dioclétien, Paris 1958, 85-97.

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Verfassung ging, sind nicht ausreichend geklärt. Sicher empfahl ihn sein Name; daneben ist nicht ausgeschlossen, daß die eigenartige Persönlichkeit des jungen Scipio, der sich wohl schon im Kriege ausgezeichnet hatte, diese Entscheidung beeinflußte (cf. Liv. 26, 1 8 , 6 - 1 9 , 9 ; auch Plb. 10, 3, 3-7). Später brauchte man sie nicht zu bereuen: Scipio siegte in Spanien, und sein imperium wurde verlängert, bis er Spanien von den Karthagern gesäubert hatte. Unmittelbar darauf wurde er zum Konsul gewählt (für 205 v. Chr.). Von der Provinz Sizilien begann er dann den Endkampf gegen Karthago in Afrika, für den ihm das imperium wieder regelmäßig erneuert wurde (Liv. 29, 13, 3; 30, 1 , 1 0 ; vgl. 30, 2 7 , 4 und 3 0 , 4 1 , 1 ) , bis er 201 v. Chr. nach dem Sieg bei Zama zurückkehrte. Nach seinem endgültigen Erfolg in Afrika gewährte man ihm den Triumph;

(Liv. 30, 45, 6:) Africani cognomen militaris prius favor an popularis aura celebraverit an, siculi Felicis Sullae Magnique Pompeii patrum memoria, coeptum ab adsentatione familiari sit, parum compertum habeo\ wenn Livius fortfährt primus certe hic imperator nomine victae ab se gentis est nobilitatus,

so irrt er sich jedenfalls. 13 Cicero berichtet, daß dieser Triumph vom Senat für das beschlossen wurde, was eius virtute aut felicitate vollbracht war (fin. 4 , 2 2 ) . Darin liegt kein Hinweis, daß der Senat Scipios felicitas „mit Ehrfurcht gewürdigt" habe (Taeger (s. A. 1) 22; 31); vielmehr handelt es sich um eine feststehende Wendung, 1 4 die bei Cicero häufiger begegnet, 15 dann im Bellum Alexandrinum ( 2 5 , 6 ) , bei Nepos (reg. 2, 3) und Livius, 16 der sie gerade auch in Anträgen auf Verleihung eines Triumphs braucht (adverbial z. B. 28, 9, 7; 39, 4, 2), eine Wendung, die aber schon Polybius geläufig gewesen zu sein scheint (1, 6, 4 ανδρεία καί ... επιτυχία). Der Zusammenhang, dem das Zitat aus De finibus entnommen ist, wie auch die anderen Stellen, vor allem die Anträge bei Livius, durch die zugleich für die Götter eine Ehrung und für den erfolgreichen Feldherren ein Triumph erbeten werden sollen - daß auch Ciceros Zitat dem entsprechenden Antrag entstammt, vermutet J. N. Madvig zur Stelle - zeigen, daß die Formel das Zusammenwirken von menschlicher Leistung und persönlichem Glück aufgrund göttlicher Hilfe (nicht nur göttlichen Willens, vgl. Cie. S. Rose. 136) als Ursache eines Erfolges hervorheben will. Nichts

Frühere Beispiele gibt Th. Mommsen, Römische Forschungen, Berlin 1879, II 295296. Schon H. Erkell, Augustus, Felicitas, Fortuna, Diss. phil. Göteborg 1952, 58 zweifelt (zögernd) daran, daß Cicero hier die Triumphformel wörtlich wiedergibt: dagegen H. Wagenvoort, Mn. 4. ser. 7, 1954, 307-311 (= H. W., Pietas, Selected Studies in Roman Religion, Leiden 1980, 66-71 - engl. Fassung), dem ich nicht folgen kann, da er die A. 18 belegte Gegenüberstellung von virtus und felicitas nicht berücksichtigt. Font. frg. 6 Clark = 9 Müller, Phil. 4, 15; s. auch Font 42; Manil. 28; dorn. 16; prov. 35; Phil. 5, 41; 14, 11; 14, 28; 14, 37, vgl. ferner leg. agr. 1, 5; Mur. 12; die Adjektive fortis und felix finden sich z.B. Mur. 38, die Adverbien forliter feliciterque Phil. 14, 37, bene et feliciter Mur. 1; Phil. 5, 40; vgl. femer H. Ammann, Thll VI, c. 450, 1. 59-70. 8, 31, 2; 10, 24, 16; 28, 32, 11; 30, 12, 12; 38, 48, 7; 41, 16, 9, felicitas et virtus 22, 27, 4; 22, 58, 3; 30, 30, 23; 39, 32, 4; die adverbiale Fassung (mit fortiter) 28, 9, 7; (mit bene) 38, 51, 7; 39, 4. 2; vgl. auch ErkeU (s. A. 14) 54-59.

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erlaubt den Schluß, daß die Formel für Scipio geprägt ist, 17 zumal Cicero diesen häufiger als Exemplum heranzieht. Sie ist weder Form einzigartiger Anerkennung noch, wie man im Anschluß an Cie. inv. 1, 94 meinen könnte, versteckten Tadels, 18 zu dem die Senatoren sicher neigten, da viele Scipio seine Erfolge neideten und ihn wiederholt zu hemmen suchten (s. unten). Trotzdem mußten sie ihn 199 v. Chr. zum Princeps senatus machen (und wieder 194 und 189 v. Chr.), und im gleichen Jahr zum Censor und 194 zum zweiten Mal zum Consul wählen. Immerhin ist es bezeichnend für die Anschauungen der Senatoren, daß sie eine einzelne Persönlichkeit, selbst wenn man ihr so viel verdankte wie Scipio, nur mit den klar festgelegten und begrenzten traditionellen Ehren auszeichneten; das außerordentliche Kommando 210 v. Chr. war keine Ehre, sondern eine Notmaßnahme. Zugleich wachten sie ängstlich darüber, daß der einzelne nicht zu viel Einfluß gewann. Das zeigt die Art, wie sie ihn nach Beendigung des spanischen Feldzuges und zu Beginn und während des afrikanischen Unternehmens behinderten (vgl. Dio Cass. frg. 57, 53-56; Plut. Fab. 25-26; Liv. 28, 40, 3, 42, 21; 30, 27, 5; 30, 40, 7-16 u. ö.), und die Tatsache, daß sie sich weigerten, ihm später Griechenland als Provinz zu geben und nach seinem Sieg bei Magnesia einen Triumph zu gewähren. Niemand darf über den eigenen Kreis hinauswachsen, niemandem dürfen Ehren zuteil werden, die Menschen nicht zukommen. Neben der offiziellen Anerkennung ist die Reaktion der Menge und besonders der Soldaten auf die große Persönlichkeit zu prüfen, d.h. die Herkunft der mannigfachen Legenden, die den Helden mit dem Überirdischen verknüpfen. Schon Polybios polemisiert dagegen, daß man Scipio mit den Göttern verkehren läßt (10, 5, 5) und seine Erfolge göttlicher Hilfe zuschreibt (10, 2, 2-13; 5, 5-8; 9, 2). 19 Für ihn ist Scipio nicht επιτυχής (10, 2, 5) im Sinne eines vom Glück Begünstigten (10, 3, 7; 10, 7, 3; 10, 9, 3, vgl. 5, 8), 20 er sieht in ihm jemanden, der durch eigene Anstrengungen (φιλοπονία: 10, 5, 9) und Überlegungen (10, 2, 13; 10, 5, 8-9; 10, 7, 3; 10, 8, 8; 10, 9, 2-3; 10, 17, 16) Erfolge erzielt. Begründungen, die vom Glück oder von den Göttern sprechen, schiebt er denen zu, die die wahren Ursachen und Umstände nicht zu durchschauen vermögen (10,

Sonstige Belege der Formel für Scipio: Liv. 38, 51, 7 (adverbial), s. auch Hist. Aug. Pese. 12, 2. Entsprechende Vorstellungen sind älter; vgl. nur Xen. Cyr. 4, 2, 10: άγαθός και ευτυχής καί μέγας, s. femer Eq. Mag. 7, 4; HG 7, 5, 8. Zwar werden virtus und felicitas oft einander gegenübergestellt (Rhet. Her. 4, 27; 28; Cie. inv. 1, 94; Sull. 83; Manil. 10; Mil. 6; vgl. auch Brat. 256; Nep. Lys. 1, 1; Sali, lug. 95, 4; Sen. contr. exc. 4, 7; Val. Max. 6, 2 ext. 3); doch gibt es genug Stellen, an denen sich jemand der eigenen virtus und felicitas rühmt bzw. sie für sich erbittet, vgl. auch Erkell (s. A. 14) 60-71 und C. Bratscher, MH 15, 1958, 75-80, die für die Bedeutung von felicitas auf das Fragment von Ciceros Brief an Nepos bei Ammian (21, 16, 13 = Cie. epist. frg. Π 5 Watt) und Manil. 47-48 hinweist. Vgl. dazu Taeger (s. Α. 1) 19-24, der allerdings vom Wort έττιτυχής ausgeht, das Polybios für Scipio nie verwendet; s. höchstens 14, 7, 3. Diese Bedeutung hat έττιτυχής sonst auch bei Polybios nicht (vgl. έττιτυχής· 3, 15, 6; 5, 102, 1; 15, 9, 4 u.ö.; ίπιτυγχάνω- 21, 15, 7; 31, 13, 13; 21, 5, 7; 6, 53, 2; i n r τυχία: 5, 14, 11; 6, 15, 7; 6, 54, 1 u.ö.; zu 1, 6, 4 vgl. oben S. 16).

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5, 8) - obwohl er gelegentlich selbst von der Tyche spricht (10,40,6 u.ö.). Zugleich läßt er die Träume und Vorzeichen als Mittel erscheinen, mit denen Scipio die Menge beeinflußt (z. B. 10, 2, 12; 4, 4-5, 8; 11, 7-8; 10, 14, 10: καϊ γ α ρ ήν εϋ πεφυκώς ... προς τ ό θάρσος έμβαλείν καί συμπαθείς ποιήσαι τους παρακαλουμένους) ähnlich wie später Scrtorius (Val. Max. 1, 2, 4; Plut. Sert. 11, 3-12,1; 20; weitere Belege bei Taeger (s. A. 1) 43 A. 65; vgl. Etienne (s. Α. 12) 100-101). Ob Scipio tatsächlich religiöse Vorstellungen mit solch kühner Überlegenheit, wie man sie später bei Caesar beobachten kann, seinen eigenen Zwecken dienstbar gemacht hat, wird sich nie mit Sicherheit feststellen lassen. Polybios ist nicht unbedingt verläßlich, und schon Livius konnte nur seiner eigenen Unsicherheit Ausdruck verleihen (26, 19, 3-9); entsprechend sind sich die modernen Historiker uneinig. Fast wichtiger ist es, daß offenbar irgendjemand für derartige Geschichten, die einen einzelnen in die Nähe der Götter rückten, empfänglich war oder sie sogar erfand. Wenn man zu Polybios' Zeiten vor allem zwei Erfolge Scipios göttlicher Hilfe zuschrieb (gegen die dieser dann vor allem polemisiert), die Wahl zum Aedil und die Eroberung Neukarthagos, so bleibt kein Zweifel, daß der unerwartete, fast wunderbar anmutende Sieg bei Neukarthago21 den Soldaten im Heerlager Anlaß bot, Geschichten Uber die überirdische Unterstützung ihres Feldherren zu erfinden und an die .Sendung' ihres .Führers' zu glauben. 22 Hatte sich erst eine solche Legende gebildet, so war es natürlich, daß weitere folgten, die andere Begebenheiten im Leben des Helden wunderbar erscheinen ließen. 23 Wenn alle Berichte über außerordentliche Taten und Erfolge Scipios und vor allem über göttliche Vorzeichen und Hilfe Ereignisse seiner jüngeren Lebensjahre bis zur Eroberung Neukarthagos betreffen, in denen sie oft am wenigsten wahrscheinlich klingen, wie etwa die Besuche im Juppitertempel, so stützt diese Beobachtung die Vermutung, daß die Legenden im spanischen Heerlager entstanden. Da sie nach seinem Tode von Historikern, vor allem den rhetorischen Geschichtsschreibern, und Dichtern ergänzt, ausgeschmückt und vermehrt wurden, 24 läßt sich nicht bei jedem einzelnen Zug mit Sicherheit Alter, Herkunft und griechischer Einfluß bestimmen. 25 Jedenfalls wird man sie

Ähnlich Meyer (s. A. 12) 444-454. Vgl. R. Laqueur, Hermes 56, 1921, 207-208; Schur (s. A. 12) 97-98. Vgl. auch die Reaktion der Soldaten auf die Erfolge des L. Marcius (Liv. 25, 39, 16; Plin. nat. 2, 241 = Val. Ant. hist. frg. 23 Peter; Val. Max. 1, 6, 2). Daß die Rettung des Vaters (Plb. 10, 3, 3-7) und die Bewertjung um die Aedilität 217 v.Chr. Erfindungen sind, hat u.a. Meyer Π, 430-433 gezeigt (vgl. Liv. 21, 46, 10). S. z.B. Taeger (s. A. 1) Π 31, Α. 143. Neben Polybios, Livius und Cicero (rep. 6) vgl. u.a. Val. Max. 1, 2, 2; App. Hisp. 23; GeU. 6, 1; Dio Cass. frg. 57, 38-39; 48; 63 u.ö., vgl. U. P. Boissevains Index; Eulr. 3, 20, 2; Zonaras 9 passim; von den Dichtem vgl. z.B. Ennius (die Vermutung von A. Elter, Donarem pateras, Univ. Progr. Bonn 1907, und A. R. Anderson, HSPh 39, 1928, 31-37 über Ennius' Scipiogedicht sind unhaltbar, vgl. Classen (s. Α. 4) 180 und Silius (dazu Anderson 35-36 und J. Aymard, REL 31, 1953 (1954) 113-115). Vgl. Meyer (s. A. 12) 435-439; auch Anderson (s. A. 24) und Aymard (s. A. 24) 1 ΜΙ 16.

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nicht ohne Einschränkung als Zeugnisse für die Anschauungen der Römer aus der Zeit um 200 v. Chr. ansehen können. Die Geschichten, die schon Polybios kannte, zeigen, daß man zunächst nur von Traumgesichtern Scipios und gelegentlichen Winken der Götter zu wissen glaubte; einmal spricht Polybios von dem Glauben an seine Fähigkeit des διαλέγεσθαι τοίς θεοίς (10, 5, 5), wie er formuliert. Davon, daß man ihm göttliche Kräfte zuschrieb oder gar göttliche Herkunft, findet sich keine Spur. Jene Erzählung, nach der der Genius sich seiner Mutter in Gestalt einer Schlange nahte, machte sich vielleicht römische Vorstellungen zu eigen. 26 Doch wenn man später daraus Scipios Abkunft von Juppiter erschloß, 27 so beruhte das nicht auf Anschauungen der Römer, die zwar den Genius am Ehebett verehrten und sich vielleicht von ihm dort ein Omen geben ließen, in ihm aber nicht die Verkörperung (Erscheinung) einer Gottheit sahen; vielmehr lagen griechische Vorstellungen zugrunde, speziell die Berichte von Alexanders Geburt, wie schon Livius (26,19,7-8) und Gellius (6, 1,1) u.a. vermutet haben und wie das Erscheinen von Schlangen bei späteren Ereignissen im Leben Alexanders (Arr. An. 3, 3 , 5 = Ptol. Lagu frg. 8 Jacoby) und Scipios (Dio Cass. frg. 57,63) 28 wahrscheinlich macht. Mit übermenschlichen Ehrungen haben auch die Massen Scipio nicht bedacht, weder das Volk in Rom - die rührende Ablehnung der Statuen usw. (Liv. 38, 56, 12; vgl. auch Val. Max. 4, 1,6) ist längst als späte Erfindung erwiesen - noch die Soldaten. Wenn die Spanier Scipio die Königswürde antragen (Plb. 10, 40, 2-6; vgl. 10, 38, 3; Liv. 27, 19, 3-6), so handelt es sich nur um ein Zeugnis dafür, daß die fremden Völker die römischen Großen auf ihre eigene Weise zu ehren versuchten,29 was sicher nicht ganz ohne Wirkung auf die Liv. 26, 19, 7; Gell. 6, 1, 3; vgl. Wissowa (s. A. 1) 176-177; Allheim (s. A. 12) Π 3032; H. Wagenvoort, Roman Dynamism, Oxford 1947, 190-192 mit neuer Begründung; griechischen Einfluß hält schon H. J. Rose, CQ 17, 1923, 57 für möglich. Zur Bedeutung der Schlange in Berichten über wunderbare Zeugung vgl. Meyer (s. A. 12) 436 A. 3. Die Abstammung von Juppiter ist sicher erst später erschlossen (Dio Cass. frg. 57, 39); Livius gibt an der erwähnten Stelle (26, 19, 6-7) nur einen allgemeinen Hinweis und vermutet 38, 58, 7 göttliche Herkunft (nicht Abstammung von Juppiter) aufgrund der besonderen Taten Scipios; das ist griechisch gedacht, vgl. Meyer (s. A. 12) 433437. Andere Parallelen zwischen den Alexander- und Scipiogeschichten verzeichnet Meyer (s. A. 12) 435-437; Altheim (s. A. 12) 31 betont, daß sich bei der Zeugung Alexanders Zeus Ammon in der Schlange geoffenbart habe, bei Scipios Zeugung dagegen der .Erzeuger' Genius, entwertet diesen Gegensatz aber selbst dadurch, daß er auf die enge Verbindung zwischen Juppiter und dem Genius hinweist (ebda. 32). Zu den Einzelheiten vgl. Étienne (s. Α. 12) 88-93; Liv. 26, 50, 13 besagt für unser Problem nichts (vgl. Cie. Marc. 8), ebensowenig die Ehrung durch die Piraten in der Gegend von Scipios Landgut Litemum (Val. Max. 2, 10, 2; vgl. Liv. 38, 56, 3). Polybios bezeichnet den älteren Scipio als b μέγας κληθείς (18, 35, 9) oder 6 μέγας ττροσαγορευθίίς (31, 26, 1), um ihn vom jüngeren Africanus zu unterscheiden; ό μέγας ist wohl aber nicht einfach Übersetzung von Maior, das Spätere wie Plutarch durch πρεσβύτερος oder π ρ ώ τ ο ς oder πρότερος (Appian) wiedergeben, sondern soll auch Scipios besondere Bedeutung hervorheben, wie Polybios' Sprachgebrauch wahrscheinlich macht (vgl. 4, 2, 7: Antiochos). Μέγας in Sinne der Altere wird in den

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einzelnen Geehrten blieb. Doch römisches Denken und Fühlen zeigt sich allein darin, daß Scipio die Königswürde ablehnt; auch darin, daß er eine neue Stadt nicht nach sich benennt, sondern ihr den Namen Italica gibt (App. Hisp. 39); erst sein Schwiegersohn Ti. Sempronius Gracchus nennt eine Stadt bei ihrer Erneuerung Graccuris (Liv. perioch. 41). Auch die Münzen der Zeit, die Scipios Bild tragen, stammen aus Spanien (Carthago Nova), andere aus Canusium, 30 aber jedenfalls nicht aus Rom. Und die Prägungen des Cn. Cornelius Biasio (etwa 105 v. Chr.) stellen nicht Scipio dar (Sydenham nr. 561 a-e), 31 auch wohl nicht Cn. Cornelius Biasio (cos. 270), 32 sondern Mars. 33 Der Versuch M. L. Vollenweiders, Scipio auf einem Goldring des Museo Nazionale in Neapel nachzuweisen (M. H. 15, 1958, 2745), überzeugt nicht, da er auf der unbegründeten Annahme beruht, Scipio sei auf den Blasiomünzen dargestellt; jedenfalls darf man in dem Ring kein Zeugnis der Vergöttlichung oder auch nur der Verehrung sehen, die Scipio entgegengebracht wurde, sondern allein des griechischen Einflusses auf die Oberschicht. Daß Scipiodarstellungen in der Kunst das Scipiobild der Literatur beeinflußt haben könnten, vermutet H. P. L'Orange; 34 die Möglichkeit des Beweises fehlt. Was schließlich Scipio selbst gedacht und gefühlt hat, läßt sich nicht sagen - ob er glaubte, daß er zu Höherem berufen sei und übermenschliche Kräfte besitze, oder ob er die Geschichten göttlicher Unterstützung nur erfand: 35 mit einiger Sicherheit läßt sich nur feststellen, daß er im politischen Raum den Einfluß seiner Persönlichkeit und seines persönlichen Prestiges stets geltend zu machen suchte und daß er darüber hinaus jenen Mythos, der sich um ihn bildete, nicht zerstörte, sondern vielleicht sogar förderte (ähnlich Liv. 26, 19, 3), mindestens dadurch, daß er den Legenden nicht entgegentrat, möglicherweise

Papyri des 3. und 2. vorchristlichen Jahrhunderts in der Regel ohne Artikel verwendet, s. F. Preisigke, Wörterbuch der griechischen Papyrusurkundcn Ι-Π, Berlin 1925-1927, Π 58-59 (Ausnahme nur BGU 34 IV 9). Münzen aus Carthago Nova: E. S. G. Robinson, NC 5. Ser. 10, 1930, Proc. 4; ders. in: R. A. G. Carson, C. Η. V. Sutherland (Hrsgg.), Essays in Roman Coinage presented to H. Mattingly, Oxford 1956, 41-43; M. L. VoUenweider, ΜΗ 15, 1958, 37; Münzen aus Canusium: Robinson, Essays 42; VoUenweider 37-38. So nach Visconti, Grueber u.a.: Vessberg (s. Α. 1) 126; H. P. L'Orange, Apotheosis in Ancient Portraiture, Oslo 1947, 49-53 (mit kühnen Vermutungen); B. Schweitzer, Die Bildniskunst der römischen Republik, Leipzig 1948, 7 A. 2; VoUenweider (s. Α. 30) 38-42 (mit neuem Begründungsversuch). So z.B. Η. H. Scullard, Roman Politics 220-150 Β. C„ Oxford 1951, ΧΠΙ; 119; 255 (zögernd) und H. Mattingly jr., ΜΗ 15, 1958, 38 Α. 53. Η. Mattingly bei Sydenham (s. Α. 1) 222 (vgl. M. H. 15, 1958, 38 A. 53) nimmt diese alte Vermutung wieder auf (vgl. den Hinweis bei J. J. Bernoulli, Römische Ikonographie I, Stuttgart 1882, 56). LOrange (s. A. 31) 49-52. Über seine Religiosität wissen wir nichts Sicheres; sein Gebet und Opfer beim Übergang nach Afrika besagen gar nichts (Liv. 29, 27, 1-4 ), ebensowenig die Ausschmückung des Weges zum Kapitol (Liv. 37, 3, 7), auch nicht sein gewissenhaftes Verhalten als salischer Priester (Liv. 37, 33, 7; Plb. 21, 13, 10); über seine Besuche im Juppitertempel vgl. das im Text Gesagte.

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auch durch seine merkwürdigen Besuche des Juppitertempels, die man, sofern man sie überhaupt für historisch hält, mit Appian (Hisp. 23) allenfalls in der Zeit nach der Eroberung Neukarthagos und nicht mit Livius (26,19, 5-6) schon in seiner Jugend wird einsetzen lassen (Gellius 6, 1, 6 läßt die Frage offen). Wenn Scipio auch damit keine besonderen Ansprüche erhob oder gar Ehren erwartete, so schien er doch eine Sonderstellung einnehmen zu wollen (Liv. 38, 51, 4; vgl. 52, 11), die die Römer nicht dulden konnten (Liv. 28, 42, 22; 38, 54, 6); er stellte sich außerhalb der römischen Tradition, vielleicht unter dem Einfluß griechischer Ideen - und speziell des Vorbilds Alexanders, das später allerdings auch auf die Scipioliteratur gewirkt hat (Liv. 26, 19, 7; Gell. 6, 1, 1) - , denen er wie sicher auch seine Familie offen gegenüberstand (vgl. das Schreiben an Herakleia, SIG 3 618). 36 Seine Angehörigen waren es auch, die nach seinem Tode das Bild des großen Toten nicht bei den Ahnen im Atrium aufstellten, sondern in der Cella des Juppitertempels auf dem Kapitol (App. Hisp. 23; Val. Max. 8, 15, 1), sofern die Geschichte wahr ist (s. Reid (s. A. 51) 175). Sie mögen auch dafür gesorgt haben, daß sich noch manche neue Legende um Scipio bildete und daß Ennius dichtete si fas endo plagas caelestum ascendere cuiquam est, mi soli caeli maxima porta patet (frg. var. 23-24).

Die römische Republik hatte in ihren Institutionen keinen Raum für Männer, deren Fähigkeit sie über das übliche Maß hinaushob; das Volk aber und vor allem die Soldaten umgaben die große Persönlichkeit mit Legenden, deren Inhalt wir im einzelnen nicht mehr zu umreißen vermögen, da Familientradition, Dichtung und rhetorische Geschichtsschreibung sie, teilweise unter griechischem Einfluß, haben weiter wuchern lassen. Die beiden Analysen haben gezeigt, wie wenig zuverlässige Nachrichten wir über die Ehrungen einzelner Persönlichkeiten der republikanischen Zeit selbst bis zum Beginn des zweiten Jahrhunderts haben, welche Elemente die Darstellungen der Späteren beeinflußt haben und welche Kriterien bei der Sichtung der Überlieferung anzuwenden sind. Es erübrigt sich daher, alle Geschichten der Frühzeit im einzelnen zu behandeln. Von Spurius Maelius zum Beispiel war zunächst wohl „nichts überliefert als die Erregung des Verdachtes der Patrizier und seine Beseitigung; alles Übrige ist Zutat der Bearbeiter von der Gracchenzeit bis zur Augustischen Zeit" (F. Münzer, Artikel .Maelius 2' in: RE XIII, 240). Dionys von Halikarnaß erwähnt nur, daß die Anhänger des Maelius diesen άεΐ σωτήρα καί πατέρα καί κτίστην άπεκάλουν της πατρίδος (12, 1, 8), bedient sich also der für solche Ehrungen typischen griechischen Formulierung. 37 Wenn Livius den Dictator

Vgl. dazu Scullard (s. A. 32) 132 Α. 1 (auch 131 Α. 1). Vgl. Appendix I. In den vielfach sehr ähnlichen Erzählungen über Sp. Cassius, den Cicero mehrfach mit Sp. Maelius und M. Capitolinus zusammenstellt, fehlen entsprechende Züge, da er auch beim Volk nicht beliebt war (eine Ausnahme bildet die Version Cie. rep. 2, 60).

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Cincinnatus argumentieren läßt, Maelius habe das Volk dahin bringen wollen, ut quem senatorem concoquere civitas vix posset regem ferret, Romuli conditoris, ab dis orti, recepii ad déos, insignia atque imperium habentem (4, 15, 7), so werden der Vorwurf gegen den, der dem rex Romulus nacheifern will, 38 und das Bild des vergötterten Romulus (das aus der Zeit Caesars und Augustus' stammt) übel miteinander verknüpft. Deutlich wird der Einfluß der politischen Propaganda spürbar, die sich, wie auch die Münzen zeigen, der Gestalt des Maelius bemächtigte. Horatius Cocles streifen wir kurz, nicht weil Dionys von Halikarnaß (5,25, 1) die Römer ihn ώς των ή ρ ώων ενα in ihre Stadt bringen läßt, sondern weil, wie Dionys fortfährt, man seine Statue zunächst auf dem Comitium aufstellte (vgl. auch Liv. 2, 10, 12; femer Plin. nat. 34, 22), später auf göttliches Geheiß beim Vulcanal (Plut. Pop. 16, 9; Gell. 4, 5; Vir. ill. 11, 2). Wahrscheinlich handelt es sich hier um ein altes Bild, das erst später mit der Coclessage verknüpft wurde (vgl. Vessberg (s. A. 1) 87-88), ebenso wie das alte Kultbild im Fortunatempel gelegentlich mit Servius Tullius in Verbindung gebracht wurde (D. H. 4, 40, 7; Ov. fast. 6, 569-636; Val. Max. 1, 8, 11; als Fortunabild gedeutet von Plin. nat. 8, 197 und Dio Cass. 58, 7, 2).39 Sonst könnte es eine alte Ehrenstatue sein, derer es mehrere gab (vgl. Vessberg (s. A. 1) 10-14), die dann aus irgendeinem Grunde, aber nicht um des Cocles willen, auf dem Vulcanal ihren Platz erhielt; von einem σύνναος-Verhältnis (Cerfaux, Tondriau (s. A. 1) 272 A. 1) kann man sicher nicht sprechen. 40 Das gilt auch für Q. Fabius Maximus, den L. Cerfaux und J. Tondriau zum σύνναος des Hercules machen (272, s.u. A. 40), weil er neben der erbeuteten Kolossalstatue aus Tarent sein eigenes Reiterstandbild auf dem Kapitol aufstellte (Plut. Fab. 22, 8); daß die Statue in einem Tempel stand, sagen die Quellen nicht; weiter erinnert Vessberg (s. Α. 1) 28 und 93 daran, daß auch Sp. Carvilius (cos. 293) neben das von ihm geweihte Kolossalbild des Juppiter auf dem Kapitol eine Statue von sich selbst setzte (Plin. nat. 34,43). Und die Auszeichnungen, die Fabius nach den Darstellungen späterer Historiker zuteil wurden, „erinnern", wie F. Münzer betont (Artikel ,Fabius 116' in: RE VI, 1814-1830, 1829), „an solche des Kaisers Augustus; die Berichte darüber sind mit Vorsicht aufzunehmen".41 Erst aus der gleichen Zeit, nämlich von Verrius Flaccus, stammt wohl auch die Ver-

Er stammt wohl aus sullanischer Zeil, vgl. Classen (s. Α. 4) 183-186. Vgl. auch das Bild im Tempel des Semo Sancus, das als Tanaquil gedeutet wurde (Fest. 345 Lindsay (1930); Varrò bei Plin. nat. 8, 194). Weder die Coclesstatue noch die des Fabius Maximus werden erwähnt von A. D. Nock in seiner vorzüglichen Studie HSPh 41, 1930, 1-62 (= A. D. N., Essays on Religion and the Ancient World I-II, Oxford 1972, 202-251). Zu Statuen und Bildern einzelner Menschen in Tempeln in Rom vgl. Appendix II. Zu Plut. Fab. 17, 5-7 muß an Polybios' Kritik an den Scipiodarstellungen erinnert werden, vgl. oben S. 17-18.

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bindung des Fabierhauses mit Hercules (vgl. Ov. fast. 2,237-38 mit Kommentar von F. Börner).42 Unzuverlässig sind auch die Geschichten von Manlius Capitolinus, der von Cicero so oft mit Sp. Cassius und Sp. Maelius als Beispiel des regnum appetens hingestellt wird. Wenn bei Livius Leute, die das Volk aufhetzen, für Manlius einzutreten, fragen (6,17,5) et quem prope caelestem, cognomine certe Capitolino lovi parerti fecerint, eum pati vinctum in carcere, in tenebris obnoxiam carnificis arbitrio ducere animami - so ist das schief, denn das Cognomen Capitolinus ist trotz Livius 5, 31, 2 älter als die Rettung des Kapitols; 43 und die Bezeichnung des Manlius als liberator, parens plebis Romanae (6, 14, 5), als Ehrung undenkbar, findet sich auch sonst bei den späteren Historikern (z.B. Plut. Fab. 27, 4 πατήρ του δήμου). 44 Völlig abwegig ist es, wenn Cerfaux und Tondriau (s. Α. 1) 272 an den etwa gleichzeitig lebenden C. Fabius Dorsuo erinnern; daß die gallischen Belagerer ihn bei der Rückkehr von seinem Gang vom Kapitol zum Quirinal prope divina religione geehrt haben (Val. Max. 1, 1, 11 mit J. N. Madvigs Bemerkung, vgl. Liv. 5, 46, 3; App. Gall. frg. 6), ergibt nichts für unser Problem.45 Reichhaltiger als die Überlieferung über die Vorzeit und zugleich mindestens ebenso stark durch Polemik und Parteinahme gefärbt sind die Berichte über die Gracchen. Bei ihnen hören wir häufiger von ihrem außergewöhnlichen Streben nach Ehren und Einfiuß, von .königlicher' Stellung usw. als von Ehrungen durch das Volk (vgl. zu Tiberius Sali. lug. 31, 7; Plut. TG 14, 3; 19, 1, mit Parallelen in K. Zieglers Ausgabe; Veil. 2, 4, 4; zu Caius F. Münzer Artikel .Sempronius 47' in: RE II A, 138846). Nur Appian weiß zu berichten, Tiberius sei nach Annahme des Ackergesetzes und Einsetzung der Dreier-kommission Οπό του πλήθους οία δή κτίστης où μιας πόλεως ούδε ενός γένους, άλλα πάντων, δσα έν Ίταλίρ εθνη, ές τήν οΐκίαν παρεπέμπετο (civ. 1,13). Aus den unten zitierten Stellen (Appendix I) ergibt sich, wie eine Bezeichnung als κτίστης zu werten ist; aber auch unabhängig von den Parallelen lehrt die Formulierung κτίστης ... πάντων δσα έν Ίταλίρ εθνη, daß sich hier ein griechischer Historiker bemüht, die momentane, überschwengliche Begeisterung der Menge für den erfolgreichen .Führer' angemessen wiederzugeben; es ist keine

W. Derichs, Herakles, Vorbild des Herrschers in der Antike, Diss. phil. Köln (masch. schriftl.) 1950, 27 hält diese Beziehungen „vielleicht" für älter. Über seine Verwendung allgemein s. Mommsen (s. A. 13) Π 291. Wichtiger ist natürlich die Verwendung von pater für den Retter, die gerade anläßlich der Rettung des M. Minucius Rufus durch Fabius Maximus mehrfach wiederkehrt (Plut. Fab. 13, bes. 6 und 8; Liv. 22, 30, 2-5; vgl. Val. Max. 5, 2, 4; Pün. nat. 22, 10); in der ähnlichen Geschichte von L. Minucius und dem Diktator L. Quinctius Cincinnatus wird nur palronus gebraucht (Liv. 3, 29, 3), s. dazu W. Neuhauser, Patronus und Orator, Innsbruck 1958 (= Comm. Aenip. 14), 109-111. Ich kann darauf verzichten, auch P. Decius Mus (Liv. 8, 9, 10) zu behandeln. Coel. hist. frg. 50 Peter reicht m.E. nicht aus, die Annahme zu stützen, daß C. Gracchus sich von höheren Mächlcn gelenkt oder berufen glaubte. Zu Tiberius jetzt H. C. Boren, AJPh 82, 1961, 358-369.

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offizielle Ehrung, auch keine inoffizielle, die den Gefeierten über den Bereich des Menschlichen hinaushebt. Anders steht es um das, was Plutarch am Ende der Vita berichtet (18, 3): εικόνας τε γ α ρ α ύ τ ώ ν άναδείξαντες έν φανερώ προύτίθεντο, καί τους τ ό π ο υ ς έν οϊς έφονεύθησαν άφιερώσαντες, άττήρχοντο μεν ών ώρα ι φέρουσι π ά ν τ ω ν , εθυον δε καί καθ" ήμέραν πολλοί κα! προσέπιπτον, ώσπερ θεών ϊεροίς έπιφοιτώντες. Entscheidend ist, daß es sich hier um Tote handelt, Tote, die übrigens kein Grab gefunden hatten (Veil. 2, 6, 7; Val. Max. 6, 3, Id; Sen. dial. 6, 16, 3; Plut. TG 20, 4; CG 15, 4; 17, 6 u.ö.) und für die deswegen an jenen Stätten Opfer gebracht wurden, an denen sie getötet waren; es ist bemerkenswert, daß es ohnehin Heiligtümer waren, von denen Cornelia sagen konnte ώς άξιους oi νεκροί τ ά φ ο υ ς εχουσιν (Plut. CG 19, 1). Auch sonst war es üblich, den toten Vorfahren, den gnädig gesonnenen divi parentum, an ihren Gräbern Opfergaben darzubringen. 47 Dabei ist, wie Latte (s. A. 1) 98 hervorhebt, folgendes besonders zu beachten: „Überall erscheinen die Divi parentum als unbestimmte Mehrzahl; nirgends finden wir eine Spur, daß etwa der Archeget der Familie aus ihnen herausgehoben wäre und als solcher besondere Ehren genösse" (vgl. auch 58-59; Börner (s. A. 47) 48; 51-53 und Bailey (s. Α. 1) 101-102). Wenn die Mutter der Gracchen, Cornelia, an ihren Sohn schreibtparentabis mihi et invocabis deum parentem (Nep. frg. 15; Peter), so ist das bestes Zeugnis für die eigenartigen, möglicherweise griechischen Vorstellungen, die in der Scipionenfamilie herrschten; gerade daraus, daß ein solches Zeugnis vereinzelt ist, können wir ersehen, was die Römer der Zeit gemeinhin fühlten. Wenn Catilina von seinen Freunden an seinem Kenotaph geehrt wird, so ist das ein politisches Bekenntnis seiner Anhänger (Cie. Flacc. 95; Rab. perd. 24 gehört nicht hierher). Anderseits verdient es Beachtung, daß Calpurnius Piso in seiner Umformung der Geschichte von Tarpeja, die er zur Retterin des Kapitols macht, spätere Opfer an ihrem Grab erwähnt (frg. 5 Peter = D. H. 2, 40, 3; vgl. Latte (s. A. 1) 111 A. 2). Doch gilt allgemein „that the two festivals of the dead lend no countenance to the idea of any worship of the dead as deified or endowed with the powers of a deity" (C. Bailey (s. A. 1) 101).48 Eine andere Wurzel, die für den .Herrscherkult' in Rom verantwortlich gemacht wird, sind die Ehrungen, die den römischen Feldherren und Beamten in den Provinzen angetragen wurden; sie sind oft behandelt, und es erübrigt sich, das Material noch einmal vorzulegen (eine kurze Übersicht ist in Appendix III gegeben). Die Fragen, die mir besonders bedeutsam erscheinen, sind: 1. Wie weit läßt sich sagen, ob diese Ehrungen die Betroffenen beeinflußt haben, d.h. also die römische Oberschicht? 2. Wie weit ist die Masse des römischen Volkes dadurch beeindruckt worden?

Vgl. dazu F. Börner, Ahnenkult und Ahnenglaube im alten Rom, Leipzig 1943 (= A R W Beih. 1), 30-33. Plut. Mor. 267a will nur in griechischer Formulierung besagen, daß ein Verstorbener zu den divi parentum eingegangen ist.

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Das Epigramm auf Marcellus' Statue im Athenatempel auf Lindos, das ihn πατρίδος αστήρ nennt, ist nicht Selbstzeugnis, sondern Produkt eines griechischen Dichters (Plut. Marc. 30, 8). Dasselbe gilt für die Epigramme auf Flamininus in Delphi, deren erstes ihn Αίνεάδας nennt, das heißt Römer, nicht etwa speziell gottentsprossener Aineiasnachkomme, wie das zweite zeigt (Plut. Flam. 12, 11-12), das vom Führer der Aineaden spricht, einer Bezeichnung für die Römer, die man seither in Griechenland gern braucht, wenn man auf die späte Rache für Troja anspielen will, vgl. A. P. 7, 297, wo deutlich auf den Gegensatz zwischen Aineiasnachkommen und Griechen als Zerstörern Trojas Bezug genommen wird. Das Epitheton θείος (Plut. Ham. 12, 12) ist ebenso als griechische Ausdrucksweise zu werten. Und auch wenn Flamininus Goldmünzen mit seinem Bild in Griechenland prägen läßt, folgt er dem Brauch des Landes,49 doch zeigt sich in der lateinischen Inschrift, wie der Römer das Fremde übernimmt und sich zu eigen macht 50 und damit beginnt, die Grenzen der Tradition zu verletzen. Interessanter ist, was über Q. Caecilius Mctellus Pius berichtet wird, nicht nur weil es völlig verschiedene Beurteilung in der modernen Literatur erfahren hat, 51 sondern weil die Ehrung hier von Römern ausgeht. Neben einzelnen Hinweisen, daß spanische Städte Metellus ihre Achtung erwiesen (Plut. Sert. 22, 2-3), lesen wir bei Sallust eine eigenartige Beschreibung. Als Metellus nach einem Feldzug gegen Sertorius ins jenseitige Spanien zurückkehrte, „luden ihn", so heißt es, „sein Quaestor C. Urbinus und andere zu einem Festmahl ein, da sie seine Neigungen kannten, und bereiteten alles in einer Art vor, die über das übliche Maß nicht nur der Römer, sondern der Sterblichen hinausging: die Räume wurden mit Vorhängen und anderen Dekorationen geschmückt, und eine Bühne wurde für schauspielerische Darbietungen errichtet, der Boden mit Safran besprengt52 und alles andere nach Art eines hochbcrühmten Tempels hergerichtet; als er saß, wurde die Gestalt einer Victoria in einem Korb auf ihn herabgelassen, die ihm bei künstlichem Donnergetöse einen Kranz aufsetzte; und schon als er kam, ehrte man ihn mit Weihrauch wie einen Gott" (Sail. hist. frg. 2, 70; vgl. Plut. Sert. 22, 3). Das ist zwar eine Ehrung, wie sie einem Gott gebührt (Cerfaux, Tondriau (s. A. 1) 282; Taylor (s. A. 1) 56 u.a.); doch findet in ihr nicht echte Ehrfurcht, sondern hemmungslose Verschwendungssucht ihren Ausdruck.53

Μ. v. Bahrfeldt, Die Römische Goldmünzenprägung während der Republik und unter Augustus, Halle 1923, 22-24; Vessberg (s. A. 1) 124-126. Vgl. die Bemerkungen von G. F. Hill, Historical Greek Coins, London 1906, 136-137. Vgl. etwa Taylor (s. A. 1) 56; Cerfaux, Tondriau (s. A. 1) 282 oder Étienne (s. Α. 12) 101-109 (bes. 106-107) mit J. S. Reid, JRS 6, 1916, 175-76; dazwischen stehen z.B. M. P. Charleswoith, HThR 28, 1935, 23 und Warde Fowler (s. Α. 1) 111; vgl. noch Α. D. Nock, CPh 57, 1962, 115-116. S. dazu Lucr. 2, 416 mit C. Bailey ad loc. (2, 872). Vgl. Μ. P. Charlesworth (s. A. 51) 23 unter Hinweis auf Sallust bei Macr. Sat. 3, 13 und Val. Max. 9, 1 , 5 ; wichtiger ist die in diesem Zusammenhang m.W. bisher übersehene Kritik des vetus orator bei Gellius (15, 8 = Oratorum Romanonim Fragmenta, Ed. H.

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Ganz anders ist zu bewerten, wie Marius Gratidianus in Rom geehrt wurde, als er während seiner Prätur den Beschluß des Prätorenkollegiums über eine Geldreform plötzlich eigenmächtig allein bekannt gab und diese so als sein persönliches Verdienst erscheinen ließ. Et ea res ... ei magno honori fuit: omnibus vicis statuae,54 ad eas tus, cerei. Quid multa? (Cie. off. 3, 80;55 Sen. dial. 5, 18; Plin. nat. 33, 132; 34, 27). Die Ehrung ist bisher nicht genügend erklärt; vier Faktoren scheinen mir wichtig: 1. Die Leute, die durch diese Reform begünstigt wurden, waren nicht mehr echte Römer, sondern durch mancherlei Zuwanderung von Fremden und durch Freilassungen von Sklaven hatten sich fremde Ideen im Volk verbreitet. 56 - 2. Zu Beginn des ersten Jahrhunderts rückte die Einzelpcrsönlichkcit viel stärker in den Vordergrund als hundert Jahre früher zur Zeit des älteren Scipio Africanus und vermochte nicht nur im politischen Bereich größere Macht zu erwerben - unter mühsamer Wahrung der traditionellen Formen - , sondern auch größeren Einfluß auf die Masse der Bevölkerung auszuüben, die ihrerseits immer stärker dazu neigte, sich dem einzelnen anzuschließen und ihn als Individuum, nicht als Träger eines Amtes zu sehen und zu feiern. - 3. „The incident suggests the possibility that his (das ist Marius Gratidianus') Genius ... was worshipped informally with the Lares Compítales by the lower stratum of the population" (Taylor (s. A. 1) 49; vgl. auch Reid (s. Α. 51) 176 Α. 1), also in den Compitalkapellen der vici, deren magistri meist dem Freigelassenenstand und dem Sklavenstand angehörten.57 - 4. „When the populace believed in a Euergetes or Sôter they were apt to show their gratitude in terms of religion, if I may so express it, without perhaps meaning that the object of their veneration was in any sense really divine" (Warde Fowler (s. A. 1) 112). „These demonstrations", so werden wir daher mit M. P. Charlesworth (s. Α. 51) schließen, „... are a mark of great honor, of people's favor; ... there is no deification here" (vgl. auch Latte (s. Α. 1) 313). Es bleibt bemerkenswert, daß wir nur einmal von einer solchen Ehrung hören. Zehn Jahre später Seius in aedilitate assibus populo frumentum praestitit, quam ob causam ei statuae in Capitolio ac Palatio dicatae sunt (Plin. nat. 18, 16). Sollte Gratidianus' schrecklicher Tod (Belege bei F. Münzer, Artikel .Marius 42' in: RE XIV, 1827) zunächst vor einer Wiederholung der Ehrung mit den Laren in den vici gewarnt haben, deren Collegia allerdings 64 v. Chr. und wieder von Caesar aufgelöst wurden (vgl. Börner (s. A. 57) 36-37=410Malcovati, 2 Bände, Turin 1976 2 -1979, I 204-205 (nr. 52) frg. 1): . . . si pro portione pergit luxuria crescere, quid relinquilur nisi ut delibari sibi cenas iubeant, ne edendo defaligentur, quando stratus auro argento purpura amplior aliquot hominibus quam dis immortalibus adornaturl Nur dazu gibt Th. Mommsen, Historische Schriften II, Berlin 1908, 401 (A. 2) Parallelen, und zwar aus Alexandria Troas (ILS 2718) und Ariminum (ILS 6664). Für Ciceros Haltung ist vielleicht nicht ganz unwichtig, daß seine eigene Großmutter eine Gratidia war, eine Tante des M. Marius Gratidianus. Vgl. z.B. Taylor (s. A. 1) 42; 50; U. Kahrstedt, GGA 195, 1933, 204; A. D. Nock (s. A. 1) 466; Taeger (s. A. 1) 43; F. G. Maier, Historia 2, 1953/4, 318-351. Wissowa (s. A. 1) 171; vgl. auch F. Börner, Untersuchungen über die Religion der Sklaven in Griechenland und Rom I, AAMZ 7, 1957, 35-38 (= 409-412).

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411)? Jedenfalls legen die Formen, in denen man Gratidianus Dank zollte, einen der Ansätze frei, an die Augustus später anknüpfte, 58 als er den Kult für seinen Genius einrichtete, nachdem die großen Persönlichkeiten, die das erste Jahrhundert bestimmten, die Voraussetzungen für eine derartige Verehrung und für eine entsprechende Stellung des princeps geschaffen hatten. Diese Großen sind untereinander so verschieden, daß auch ein knapper Überblick über die für unser Problem wichtigen Erscheinungen die verschiedenen Kräfte deutlich werden läßt, die uns helfen, die späteren Ehrungen im Kaiseikult zu verstehen. Viele Jahre lang verstand es Marius, sich frei von Traditionen und Bindungen eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren, indem er sich beim Volk, aber auch bei den Patriziern beliebt zu machen wußte, 5 9 ohne sich den Rittern zu entfremden, denen er am ehesten verpflichtet war. Seine militärischen Erfolge in Afrika, wo ihm die Kriegführung extra sortem durch Volksbeschluß übertragen war, waren beachtlich. 60 Doch erst die Not des Kimbernsieges bei Arausio ließ Marius, der eben siegreich aus Afrika heimkehrte, als einzig möglichen Retter erscheinen (Cie. Manil. 60; Sali. lug. 114,4; luv. 8, 250 u.ö.) und brachte ihm die (eigentlich ungesetzliche) Wiederwahl zum Konsul, nicht so sehr eine Ehre, sondern eine Notmaßnahme, die an Scipios Entsendung nach Spanien erinnert. Bezeichnend für die Taktlosigkeit des homo noms ist es, wenn er zu Beginn des Jahres 104 im Gewand des Triumphators im Senat erscheint (Liv. perioch. 67; Plut. Mar. 12, 7), um sein Konsulat anzutreten; und bezeichnend ist es dann auch, daß die Senatoren solches nicht dulden - gehört doch das Triumphatorengewand eigentlich dem Gott 61 - und Marius nichts bleibt, als sich rasch umzuziehen. Erst der Sieg über die Kimbern bringt Marius Ehrungen, die wirklich unsere Aufmerksamkeit verdienen. Ob das Volk die Gefahr tatsächlich so ernst nahm wie beim ersten Einfall der Gallier, mag dahin gestellt bleiben (Plut. Mar. 27,9); jedenfalls wird er als Retter des Vaterlandes gefeiert - wenn Plutarchs

Vgl. auch G. Niebling, Historia 5, 1956, 303-331. Vgl. Plut. Mar. 4; Cie. leg. 3, 38 u.ö.; nach seinen Mißerfolgen in Spanien ändert sich die Lage. Sali. lug. 92, 2 ergibt nichts für unser Problem (anders Cerfaux, Tondriau (s. A. 1) 283); Paragraph 2 ist eine allgemeine Formulierung und die Reaktion der Numider ist nur verständlich. Wir sind oft in Gefahr, derartige Dinge zu rationalisieren. Aufgrund eigener Beobachtungen von Menschen in Westafrika, die in eigenartigem Habit als übernatürliche Wesen auftraten (z.B. in Ovim/Ekiti, Westnigeria), möchte ich meinen, daß ursprünglich der Triumphaler allein den Gott darstellt, ohne dadurch als der Mensch, der er selbst ist, dem Gott gleichgesetzt zu werden; wir haben also von einer „temporary impersonation" zu sprechen (vgl. auch 1-atte (s. A. 1) 152), nicht mit Taylor (s. A. 1) 45 von einer „temporary deification" (anders urteilen z.B. W. Warde Fowler, CR 30, 1916, 153-157; Reid (s. A. 51) 177-182; L. Dcubner, II 69, 1934, 316-323 = Kleine Schriften zur Klassischen Altertumskunde, Königstein 1982 (= Beiträge zur Klassischen Philologie 140) 449-456 mit Übersieht über die verschiedenen Meinungen modemer Forscher). Später verliert der Triumph seinen Gehalt (zur Entwicklung des Triumphs vgl. W. Ehlers, Artikel .Triumphus' in: RE VI A, 495, 30-496, 61; 501, 25-511, 6): er wird zu einer Ehrung für die Siegerpersönlichkeit, die damit um keinen Zoll einem Gott näher rückt.

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vereinzelte Angabe zutrifft (Mar. 27,9) - , und man bringt ihm zusammen mit den Göttern bei den Mahlzeiten in den Häusern Libationen (Plut Mar. 27, 9; Val. Max. 8 , 1 5 , 7 ) , die Cicero merkwürdigerweise nie erwähnt; sie haben sehr verschiedene Wertung gefunden. Während A. Alföldi darin eine kultische Ehrung sieht (MH 8, 1951, 205; 11, 1954, 155 u.ö., vgl. auch Cerfaux, Tondriau (s. A. 1) 275; 283), andere sie als „an anticipation of the libations later poured at public and private banquets to the Genius of Augustus" verstehen, da es sich vielleicht um „a popular worship of the Genius" handelt (Taylor (s. A. 1) 48; vgl. auch Taeger (s. Α. 1) 42; für A. v. Premerstein, ABAW 15, 1937, 167 ist es ein privater Kult), bemerkt A. D. Nock (s. A. 40: 2 Α. 1 = Essays 202-203 Α. 1): „This is a private observance, not much beyond the limits of drinking healths" und trifft damit wohl das Richtige (vgl. auch die nüchterne Beurteilung durch M. P. Charlesworth (s. A. 51) 22-23). Wenn es von Marius selbst heißt, er habe nach den Siegen über Jugurtha und die Germanen aus einem κάνθαρος getrunken (Val. Max. 3 , 6 , 6; Plin. nat. 33, 150), der allein dem Bacchus heilig war (Macr. Sat. 5,21,14), so deutet das auf die gleiche Taktlosigkeit gegenüber göttlichen Dingen, die wir schon oben bemerkt haben, sofern wir Marius, dem die griechische Bildung fremd war, überhaupt derartige Kombinationen zumuten können - war der κάνθαρος doch auch bei den Griechen etwas Ungewöhnliches (vgl. L. Frankenstein, Artikel ,Kantharos' in: RE Suppl. IV, 866-867) - und das Ganze nicht von seinen Gegnern ausgedacht ist, was Plinius' Zusatz ille arator Arpiñas et manipularis imperator (nat. 33, 150) fast vermuten läßt; Taeger (s. A. 1) 42 hält dies für eine törichte Legende. Andererseits scheint Marius fest an Orakel und Omina geglaubt und auch auf sie hingewiesen zu haben (vgl. z.B. Plut. Mar. 17, 1-11; 36, 7-11 u.ö.; App. civ. 1, 61; 75; Val. Max. 1, 5, 5; 8, 15, 7). Daraus kann man aber keinesfalls auch nur ein Sendungsbewußtsein ableiten, geschweige denn eine allgemeine Anerkennung übermenschlicher Fähigkeiten. Gewiß, auch im Jahre 88 v. Chr. noch sieht man in Marius den Retter; doch ist man weit davon entfernt, ihn zu achten, als ihn das Glück verläßt. Zwar gelingt es ihm, sich durch den Eindruck seiner Persönlichkeit mehrfach das Leben zu retten (Liv. perioch. 77; Veli. 2, 19, 3; Plut. Mar. 39,2-7; App. civ. 1, 61); doch später hat ihn nichts gegen die Rache seiner Gegner geschützt, nichts davor, daß seine Asche in den Anio geschüttet wurde (Cie. leg. 2, 56; Val. Max. 9, 2, 1). Und wenn Plutarch schließlich bemerkt, daß Marius' Sohn έν άρχη παΐς "Αρεως ώνομάζετο, τ α χ ύ δέ τοΤς εργοις ελεγχόμενος, αύθις 'Αφροδίτης ιιΐός έκαλείτο (Mar. 46, 8), SO ist das weder Ausdruck der Verehrung für den Vater noch den Sohn, sondern griechisch formulierte Polemik. Marius' Gegenspieler Sulla ist für unsere Frage von größter Bedeutung, nicht nur weil er durch seine Reformen das Staatsgefüge und die Traditionen in viel stärkerem Maße als irgend ein anderer der großen Politiker erschüttert und verändert und durch seine Proskriptionen und Freilassungen das Gesicht der Bevölkerung Italiens und auch Roms gewandelt hat, sondern weil er, der gentis Vgl. Classen (s. Α. 4) 181-182.

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patriciae nobilis fuit, familia prope iam extincta maiorum ignavia, litteris Graecis atque Latinis iuxta eruditas (Sali. lug. 95, 3), den Formen des Ostens offen gegenüberstand und für die Stellung seiner Person Neuerungen geschaffen hat, die nicht ohne Einfluß auf Rom geblieben sind. Seine ersten militärischen Kommandos führen ihn nach Afrika und dann in den Osten. Erst hier - Sulla ist fast fünfzig - hören wir von Propheten, die ihm eine große Zukunft voraussagen (Veil. 2, 24, 3; Plut. Sull. 5, 11; 37, 2), und zwar hören wir fraglos deswegen so viel davon, weil Sulla selbst diese Nachrichten in seine Memoiren aufnahm; 63 sie waren ihm also wichtig. Das gilt auch für das Zeichen, das ihm bei Laverna gegeben wurde (Plut. Sull. 6, 11-13), und das Omen und die Traumerscheinung der Bellona vor dem Sturm auf Rom (Plut. Sull. 9,6-8; vgl. Cie. div. 1, 72; 2, 65). Vor allem aus der Zeit seiner Feldzüge in Griechenland sind uns Nachrichten über sein Vertrauen auf die Götter und den sichtbaren Schutz, den sie ihm gewährten, erhalten, die wohl auch auf die Memoiren zurückgehen. 64 Aber auch nach seiner Landung in Tarent (Plut. Sull. 27, 7-9) setzt sich die Reihe der Vorzeichen und Erfolge fort, die nicht im einzelnen aufgezählt zu werden brauchen. Konnten wir beim älteren Scipio die Frage nach seiner eigenen Haltung und seinem eigenen Anteil an den Legenden nicht sicher beantworten und glaubten wir jedenfalls, seinen Soldaten eine wichtige Rolle zuschreiben zu müssen, so bietet Sulla ein klareres Bild: Zweifellos hat er selbst immer wieder, nicht erst nach seinem endgültigen Sieg, in seinen Memoiren, auf seine εύτυχία hingewiesen, nicht auf den einzelnen Erfolg (bzw. zu erwartenden Erfolg), sondern die εύτυχία als Zug seines Wesens, die er als Segen der Gottheit, als ständig ihm zuteil werdende Gnade versteht, nicht als ihm innewohnende Kraft (vgl. Plut. Sull. 6, 7-9; wichtig ist sein merkwürdiger Rat für Lukuli Plut. Sull. 6, 10 und Luc. 23, 6). Schon im Jahre 86 v. Chr. wählt er für seinen Sohn das obsolete Praenomen Faustus und bildet für dessen Zwillingsschwester entsprechend Fausta. 65 Vor allem zeigt sich dann seine εύτυχία-Gewißheit darin, daß er sich selbst Felix nennt bzw. nennen läßt, zuerst wohl inoffiziell, dann auch öffentlich (Liv. 30, 45, 6; Veli. 2, 27, 5; Sen. dial. 6, 12, 6; Plin. nat. 7, 137; 22, 12; Val. Max. 6, 4, 4; 6, 9, 6; Plut. Sull. 34, 3-4; App. civ. 1, 97; D. S. 38, 15; vgl. ferner Inschriften z.B. ILS 870; 871; 872; 873; 874 und Münzen z.B. Sydenham (s. Α. 1) nr. 762 und

Vgl. dazu J. P. V. D. Baisdon, JRS 41, 1951, 2 A. 16 und 17. Die Belege sind ofl zusammengestellt, vgl. u.a. M. St. Pojrtawski, Eos 30, 1927, 317328; H. M. R. Leopold, MNIR 2. ser. 6, 1936, 1; 4; 9-14; J. Carcopino, Sylla ou la m o n a r c h i e m a n q u e e , Paris 1947 2 , bes. 94-119; Baisdon (s. Λ. 63) 1-10; Cerfaux, Tondriau (s. Α. 1) 283-284; Tacgcr (s. Λ. 1) 43-45; s. f e m e r E. Manni, M C 4, 1934, 124-128; A. Passerini, Philologus 90, 1935, 90-97; H. Berve, NJW 7, 1931, 673-682; H. Ericsson, Eranos 41, 1943, 77-89; ders. (= H. Erkcll s. Α. 14) 71-107; H. Volkmann, Sullas Marsch auf R o m , München 1958, bes. 38-43; R. Schilling, La religion romaine de Vénus, Paris 1954, 272-295. Vgl.. F. Münzer Artikel .Cornelius 3 7 7 ' und , 4 3 6 ' , in: RE IV, 1515-1517 u. 15991600; diese Namengebung behandeln auch Plutarch (Sull. 34, 5) und Appian (civ. 1, 97) im Zusammenhang mit Sullas eigenem Beinamen Felix.

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762a). Daß Sulla sich diesen Beinamen selbst beilegt, betonen alle Quellen mit Ausnahme Appians, und man wird daran um so weniger zweifeln, als ein solcher Zusatz zum Namen römischem Brauch widerspricht und, wie Ciceros Erörterung (Manil. 47; vgl. auch Plin. nat. 22, 12 superbum cognomen) zeigt, ein derartiger Anspruch auf felicitas sich nicht mit römischen Traditionen vereinbaren läßt. Daß das zuerst inoffiziell verwendete Cognomen (vgl. ILS 870; Liv. und App. loc. cit. später durch Senatsbeschluß 66 oder Beschluß des Volkes 67 verliehen sei, sagt weder Appian (civ. 1,97) noch der Autor de viris illustribus (75); man wird sich stillschweigend daran gewöhnt haben, den Namen auch offiziell zu gebrauchen. Eine Ehrung durch die Römer liegt darin also nicht; aber auch auf Nichtrömer kann dieses Cognomen nicht zurückgeführt werden. Die Griechen etwa hatten zwar den siegreichen Feldherren durch Sylleia (IG 2 2 , 1039) und durch Goldmünzen geehrt. 68 Der Beiname aber, dessen sich Sulla in seinen Schreiben an griechische Gemeinden bedient, wird nicht von ihnen stammen. Denn das griechische Äquivalent zu Felix ist ευτυχής; daran lassen Plutarch und Appian keinen Zweifel. Sulla dagegen nennt sich έπαφρόδιτος (IG 7, 264; 372; 413, 52; OGI 441 u.ö.). Das Problem, das sich damit stellt, kann man nicht dadurch lösen, daß man jede Beziehung zwischen felix und έπαφρόδιτος leugnet (Baisdon (s. A. 63) 4); sie wird von den Historikern deutlich hervorgehoben (Plut. Mor. 318d; App. civ. 1, 97; Leopold (s. A. 64) 10 A. 7 weist treffend auf D. S. 4, 83, 5). Auch genügt es nicht, wenn man nur die Beziehungen zwischen Venus und felix hervorhebt. Vielmehr ist zu fragen, ob έπαφρόδιτος in irgendwelcher Weise felix entspricht und für wen es sinnvoll oder auch nur wahrscheinlich ist, daß er έπαφρόδιτος setzte. Im Griechischen heißt έπαφρόδιτος anmutig, freundlich, 69 auch wohl gnädig (von einer Gottheit, neben φιλάνθρωπος Philem. 7 1 , 8 Kock; vgl. P. Ryl. 77, 36), hat also keine Beziehung zu felix\ als Eigenname ist es recht häufig. Dagegen kann man έπαφρόδιτος als Entsprechung zu felix verstehen, wenn man Aphrodite entsprechend der ursprünglichen Bedeutung und Funktion von Venus faßt (vgl. Latte (s. Α. 1) 183-184; Schilling (s. A. 64) 281; 293), die im ersten Jahrhundert v. Chr. noch oder wieder lebendig war. Die Bedeutung von Sullas Έπαφρόδιτος beruht also nicht auf griechischem Sprachgebrauch (vgl. A. 67), sondern auf einer Konstruktion, die eine Beziehung zu Aphrodite und das heißt zu Venus spürbar machen will. Sie wird am ehesten verständlich, wenn wir in Sulla selbst ihren Urheber sehen, der sich aller Tradition zum Trotz Felix

B. Doer, Die römische Namensgebung, Stuttgart 1937, 51 (vorsichtig) und Baisdon (s. A. 63) 1 mit A. 11; 9. Vgl. Ericsson (s. A. 64) 77-78; in seiner Dissertation (s. A. 14) 82-83 bleibt dies unklar. Vgl. v. Bahrfeldt (s. A. 49) 24-28; Sydenham (s. Α. 1) 123-124 nr. 754-767: (Griechenland und der Osten). Vgl. Ed. Fraenkel bei Baisdon (s. A. 63) 8 A. 91; beachtenswert ist die Verbindung von Aphrodite und έπαφροδισία P. Ryl. 28, 109-111, zumal Aphrodite nur an dieser Stelle des Papyrus erwähnt wird.

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nannte und seinen Kindern die Namen Faustus und Fausta gab und zugleich auf eine Verbindung zu Venus stets Wert legte, wie z.B. seine Münzen zeigen (Sydenham (s. A.l) nr. 760, 761, 763). Mit fast überraschender Deutlichkeit hat sich ergeben, daß Sulla seine Sonderstellung, die ihn den Göttern nahe zu rücken scheint, nicht der Begeisterung des Volkes und nicht einem verbreiteten Glauben an seine Sendung verdankt, sondern sich selbst (vgl. Carcopino (s. A. 64) 112). Denn die Ehrung durch die heimkehrenden Verbannten am zweiten Tage seines großen Triumphes, von Plutarch in einer geläufigen Formel wiedergegeben (Sull. 34, 2; vgl. Appendix I), ist nicht mehr als die übliche Reverenz vor dem Soter. Und wenn ihn eines Tages im Theater eine Frau berührt mit den Worten (Plut. Sull. 35,58): ουδέν ... δεινόν, αύτόκρατορ, άλλα βούλομαι τ η ς σης κάγώ μικρόν εύτυχίας μεταλαβείν, so sollte man daraus nicht schließen, daß die gesamte römische Aristokratie an sein .Glück' im Sinne eines „partecipare ... alla divinità" glaubte (Passerini (s. Α. 64) 92). Die Geschichte wird aus Sullas Memoiren stammen (so auch Passerini ebda.), also von Sulla selbst in Umlauf gesetzt sein; bei ihrer Beurteilung sollte man nicht übersehen, daß Sulla die junge .Gläubige' bald darauf heiratete. Die Untersuchung der Ehrungen Sullas ergibt, daß selbst nach dem Zusammenbruch der alten Institutionen 70 die Römer aller Schichten auch weiterhin wenig geneigt waren, einen einzelnen dauernd über die Sphäre des Menschlichen hinauszuheben; von einer Vergöttlichung zu sprechen, ist vollends abwegig. 71 Immerhin ist es Sulla gelungen, durch eigene Bemühung für seine Person eine Sonderstellung zu schaffen, durch die er den Weg für Spätere gewiesen hat, doch offenbar ohne daß die Masse in jener Zeit schon entscheidend beeinflußt wäre. Er selbst ist nicht als typischer Vertreter traditioneller römischer Anschauungen anzusehen; in ihm sind fraglos griechische (und östliche?) Einflüsse wirksam geworden - und zwar offenbar nur in den letzten zwölf Jahren, aus denen allein wir von seinem Glauben an seine Sendung und den überirdischen Winken für ihn hören. 72 Daß die Menge des römischen Volkes trotz aller Einflüsse aus dem Osten auch weiterhin nicht bereit war, einen Mcnschcn in übermenschlicher Weise zu ehren, zeigt auch eine Prüfung der Zeugnisse über Pompeius, der wie Sulla eine griechisch geprägte Erziehung genoß. In seinen frühen Jahren nahm er immer wieder Stellungen ein bzw. erhielt Ehrungen wie den Triumph, die ihm nach dem Gesetz noch nicht zukamen; doch so oft auch der mos maiorum und die sullanische Verfassung im politischen oder militärischen Bereich unbeachtet Trotz Sullas Versuchen zu reformieren, vielmehr gerade durch sie wurden nicht nur die politischen Ordnungen ins Wanken gebracht, sondern auch die militärischen; das zeigt der Eid, den die Soldaten leisten mußten: Plut. Sull. 27, 5. So z.B. Poplawski (s. A. 64) und Carcopino (s. A. 64). In der bekannten Statue des hellenistischen Herrschers aus der Mitte des ersten Jahrhunderts glaubt Rh. Carpenter, AJA 49, 1945, 353-357 ein Bild Sullas zu erkennen; könnte er überzeugen, so hätten wir hier ein bedeutendes Zeugnis für Sullas Haltung.

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bleiben: nie wird er über das menschliche Maß hinausgehoben. Sein Beiname Magnus, den er sich vielleicht nicht einmal selbst zuerst beilegte (Plut. Pomp. 13, 7-9 mit Parallelen bei K. Ziegler), weist im Gegensatz zu dem des Sulla nicht auf die Verbindung zu einer Gottheit, sondern auf griechische Vorbilder (Alexander),73 die für die römische Oberschicht in steigendem Maße bedeutsam werden, ebenso wie die Ehrungen in Griechenland nicht ganz ohne Einfluß auf die Geehrten geblieben zu sein scheinen.74 Als Pompeius siegreich aus Spanien zurückkehrt, errichtet er wider alles Herkommen ein Tropaion mit eigener Statue auf den Pyrenäen (Sali. hist. frg. 3, 89; Plin. nat. 3,18; vgl. 37, 15; 7, 96), das mancherlei Kritik auslöst (Dio Cass. 41, 24, 3). In Rom wird er allein durch erhöhte Vollmachten und Rechte, aber auch Pflichten ausgezeichnet, wie etwa durch die lex Gabinia oder die lex Manilio·, wenn Cicero in seiner Rede des Jahres 66 v. Chr. sagt (Manil. 41): Omnes nunc in eis locis Cn. Pompeium sicut aliquem non ex hac urbe missum, sed de caelo delapsum intuentur, so spricht er von den Bewohnern von Asia, nicht von den Römern (doch siehe seine eigene Formulierung Att. 2, 21,4); aber auch seine Redewendungen von dem divinum consilium oder der divina virtus (Manil. 10; 33; 36; vgl. Classen (s. Α. 4) 187) spiegeln nicht römische Vorstellungen wider, sondern sind Zeugnisse für den Einfluß gricchischcn Geistes auf Cicero, der seinen eigenen Retter P. Lentulus Spinther, auch gricchischcm Brauch folgend, parens ac deus nostrae vitae nennt (p. red. in sen. 8; Scst. 144; p. red. ad Quir. 11; vgl. 18).75 Wirklich beachtenswert ist, daß Pompeius das Recht verliehen wird, das Triumphatorengewand und den goldenen Lorbccrkranz bei den Zirkusspielen zu tragen (Veil. 2, 40, 4; Dio Cass. 37, 21, 4); 76 es ist ebenso bedeutsam, daß Pompeius nur einmal davon Gebrauch gemacht hat (Dio Cass. 37,21, 3). Auch

Vgl. Cie. Arch. 24; Sali. hist. 3, 88; Plut. Pomp. 2, 2-4; 46 u.ö.; vgl. P. P. Spranger, Saeeulum 9, 1958, 38-43; A. R. Anderson (s. A. 24) 37-39, der die Herculesbeziehung besonders hervorhebt, vgl. auch Derichs (s. A. 42) 34-36 und jetzt H. J. Mette, H 89, 1961, 342-344. Die Alexandcrimitation scheint die bildlichen Darstellungen des Pompeius bceinflußt zu haben, vgl. W. H. Gross, Artikel .Pompeius 31' in: RE XXI, 2550, 34-2551,1 und (kühn) L'Orange (s. Α. 31) 52-53. Auf Bacchusimitation weist Plin. nat. 8, 4. Athen: Plut. Pomp. 27, 4; Zonaras 10, 3; Samos: SIG 3 749B; Delos: SIG 3 749A; Milet: Α. A. 1906, 21; Mylilene: SIG 3 751, 752 u.ö.; Soloi wird Pompeiopolis genannt (App. Mith. 115; Dio Cass. 36, 37, 6) und eine andere Stadt mit gleichem Namen in Paphlagonien neu gegründet, vgl. A. M. Schneider, Artikel .Pompeiopolis' in: RE XXI, 2043-2045. Vgl. p. red. in sen. 30. Griechische Parallelen finden sich auf Inschriften (z B. R. Cagnat, Inscriptiones Graecae ad res Romanas pertinentes ΠΙ, Paris 1906, 108 Nr. 204; 205) und Münzen (z.B. Β. V. Head, Historia Numonim, Oxford 19112, 563: Ehrung des Theophanes in Mytilene). Zahlreiche Parallelen bei A. D. Nock, JHS 48, 1928, 31 (= Essays (s. A. 40) 145); vgl. auch Charlesworth (s. A. 51) 12-13; Bailey (s. A. 1) 139; Taeger (s. A. 1) 151-154 (zu Cicero). Anders zu beurteilen sind Ciceros rein literarische, oft modifizierte Bezeichnungen, etwa nat. deor. 2, 32 (dazu passende und nicht passende Parallelen bei A. S. Pease, M. Tulli Ciceronis De natura deorum libri secundus et lertius, Cambridge (Mass.) 1958 zur Stelle); s. femer Appendix I. Vgl. K. Kraft, JNG 3/4, 1952/1953 (1955), 32-36 (= Ders., Gesammelte Aufsätze Π, Darmstadt 1985, 27-31).

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in den letzten Lebensjahren ändert sich nichts an Pompeius' Stellung, wenn auch die Ordnung des Staates von Grund auf umgekehrt wird (Cie. fam. 1, 8); denn daß man in ganz Italien für seine Genesung betet und opfert, 77 zeigt nur seine besondere Stellung bei den Menschen, aber nicht über den Menschen (vgl. Ciceros Urteil Tuse. 1,86); 78 hatten doch auch die Italiker schon früher für ihren Patron Livius Drusus bei einer Erkrankung vota abgelegt (Vir. ill. 66, 12). Wenn Pompeius sich wirklich von den Göttern oder von einem Gott (Hercules) 7 9 gelenkt und geschützt glaubte, so hat er es nicht in der gleichen Weise hervorgehoben wie Sulla. Die Vorstellungen Ciceros müssen hier übergangen werden; denn wegen ihrer Mannigfaltigkeit sollen sie gesondert behandelt werden, wobei philosophische Gedanken, literarische Formulierungen und politisch bedingte Äußerungen voneinander getrennt werden müssen. Neben dem griechischen Einfluß, der sich in verschiedener Weise zeigt, ist Ciceros Glaube an seine eigene Mission und seine Leistung besonders bedeutsam, vor allem weil ihm ein Bemühen folgt, der Bezeichnung parens patriae, mit der ihm einmal in einer bestimmten Situation für eine einzelne Tat gedankt war, Dauer zu verleihen. Aus unseren Untersuchungen ergibt sich, daß der einzelne Römer in Rom weder zu seinen Lebzeiten noch nach seinem Tode auf irgendeine Weise geehrt wurde, die ihn in die Nähe der Götter rückte, denen man opferte und von denen man Hilfe erwartete. Im Gegensatz zu griechischen Vorstellungen trennte eine tiefe Kluft Gott und Mensch in Rom, die jede Form der Heroisierung oder Vergöttlichung undenkbar sein ließ 80 ebenso wie die Abstammung von den Göttern, die erst unter griechischem Einfluß in die römische Mythologie eindringt. Wenn demgegenüber - neben Romulus - auf die Bräuche beim Triumph und den Geniuskult hingewiesen wird, so ist zu betonen, daß ursprünglich auch im Triumph nicht der siegreiche Feldherr selbst Gott wird (also als Mensch auch Gott ist), sondern den Gott nur unter Aufgabe seines Selbst darstellt. Der genius anderseits ist nicht ein begleitender, schützender Dämon des Menschen, sondern die im Manne wohnende Zeugungskraft, das was den einzelnen zum Mann macht (Latte (s. A. 1) 103); und weil sich im genius des pater familias sein Wesen repräsentiert, ehrt und achtet ihn die familia, besonders die Sklaven. 81 Wenn die Formen solcher Ehrung teilweise den Opfern gleichen, die den Göttern dargebracht werden, erlaubt das nicht den Schluß, daß

Vgl. Cie. Att. 8, 16, 1; Veli. 2, 48, 2; Plul. Pomp. 57, 1-4, wo K. Ziegler weitere Parallelen verzeichnet. Formulierungen späterer Autoren gibt Taeger (s. A. 1) 47. Zu den Vorzeichen vgl. Cie. div. 2, S3 und Plularchs Biographie, zum Schutz des Hercules das Feldgeschrei bei Pharsalos. Vgl. auch z.B. Warde Fowler (s. Α. 1) 92; 104; Koch (s. Α. 1) 102, der 99 auf die Wiedergabe von Horn. Od. 3, 110 durch Livius Andronicus (frg. 10 Morel) hinweist. Erstaunlich und durch die Einschränkung zugleich bezeichnend ist Ciceros Formulierung Mil. 16 (über den jüngeren Scipio Africanus): quem immortalem, si fieri posset, omnes esse cuperent. Zu den Einzelheiten vgl. Wissowa (s. A. 1) 176-179, bes. 177.

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die genii göttlich sind; denn „es gibt so viel Genii als es lebendige Männer gibt" (Latte (s. A. 1) 103). 82 Vielmehr erweisen sich die .Opfer' als eine Form der Ehrerbietung und Achtung, die man auch, aber nicht nur den Göttern entgegenbringt Auch die beiden letzten Jahrhunderte vor Pompeius* Tod, über die wir eine reichlichere und zuverlässigere Überlieferung haben, so daß wir die verschiedenen Formen, durch die einzelne geehrt wurden, deutlicher fassen können, zeigen dasselbe Bild; alles, was sich findet, sind Ehrungen einzelner zu Lebzeiten außerhalb Italiens, Opfergaben für Tote, etwa am Grab, durch Angehörige oder Parteigänger, Legenden über die göttliche Inspiration großer Persönlichkeiten, die teilweise auf deren eigene Propaganda zurückzuführen sind, in keinem Fall aber zu offiziellen Ehrungen führen, Ovationen der Menge für einen Soter (Marius) oder Euergetes (Marius Gratidianus), die durch ihre Einmaligkeit und besondere Veranlassung zeigen, daß die Geehrten nicht als Götter angesehen werden; sonst dürfte ein Hinweis darauf, daß man auch künftig ihre Hilfe erwartet, kaum fehlen: es ist eine Form des Dankes für eine bestimmte, vollbrachte Leistung. 83 Bedenkt man, daß die Großen jener Zeit, vor allem in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr. immer stärker das politische Leben beherrschten und seine Formen umgestalteten und anderseits die Masse gerade des römischen Stadtvolkes immer mehr von fremden Elementen durchsetzt und beeinflußt wurde, so zeigt das Fehlen jedes Echos auf die Ansprüche etwa eines Sulla - die Ehrung des Gratidianus ist spontan - wie tief bei den Römern auch noch gegen Ende der Republik die Abneigung gegen jede Form der Hcroisierung oder gar Vergöttlichung war. 84 Der Einfluß der griechischen Philosophie auf die Oberschicht, wie er für uns vor allem bei Cicero greifbar ist, macht sich bemerkbar, wo theoretische Untersuchungen angestellt werden, 85 nicht dagegen wo diese Probleme im politischen Leben für die Stellung der großen Persönlichkeiten und für das Verhältnis des einzelnen zu ihnen bedeutsam werden. Das wird dadurch bestätigt, daß Caesars kühne Maßnahmen scheiterten, und erst das differenzierende, oft eher abwehrende Vorgehen von Oktavian/Augustus dazu führte, daß

Zur Ableitung des Wortes (a genenäo) vgl. II. Wagenvoort, Mn 4. ser. 4, 1951, 163166, der H. Ncttleships Konjektur genendarum (Fest. 214 Lindsay) wahrscheinlich macht. Zum genius populi Romani vgl. Laite (s. A. 1) 240-241; J.-P. Callu, Genio populi Romani, Paris 1960, 9-12; die Vorstellung ist wohl unter griechischem Einfluß entstanden. Es handelt sich um eine öffentliche, aber nicht offizielle Form des Dankes (ähnlich H. Kasper (App. I) zu σωτήρ z.B. 74); ebenso ist die Bezeichnung Ciceros als parens patriae zu werten, die er allein zu verewigen sucht. Es sei hier nachgetragen, daß der Eid der Italiker (D. S. 37, 11) m.E. deutlich griechische Elemente aufweist, vgl. dazu A. v. Premerstein (s. S. 28) 27-32; wenn M. L. Vollen-weider, MH 12, 1955, 101-105 von einer Heroisierung der Imperatoren spricht, so halte ich das für unberechtigt (s. femer oben A. 80). Vgl. neben Cicero z.B. Varrò bei Aug. civ. 3, 4 u. ö.; vgl. Classen (s. Α. 4) 200.

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gewisse Formen der Verehrung des Kaisers, zu der Schmeichler natürlich gleich bereit waren, sich allmählich entfalteten und tatsächlich akzeptiert wurden.86

Appendix I: Einige griechische Formeln für den .Retter' Alt ist die Formel σωτήρ καί π α τ ή ρ (vgl. Ion Chius frg. 2, 1 Diehl) oder πατήρ καί σωτήρ (vgl. Eur. frg. 72 Nauck); sie wird lateinisch wiedergegeben ζ. B. durch parens et cusios salutis (Cie. Plane. 25) bzw. übersetzt durch conservator - parens (Cie. Att. 9, 10, 3).87 Später wird sie erweitert z.B. durch θεός: σωτήρ καί π α τ ή ρ καί θεός (Plut. Cam. 10, 6; s.o. S. 14 oder π α τ ή ρ και σωτήρ καί θεός (Dion. Hal. 10, 46, 8), das ist auf lateinisch z.B. etwa parens, deus, salus nostrae vitae (Cie. p. red. ad Quir. 11; vgl. parens ac deus nostrae vitae p. red. in sen. 8; deus ac parens Cie. Sest. 144);88 auch der Zusatz von κτίστης ist beliebt: σωτήρ καί πατήρ καί κτίστης (D. Η. 12, 1, 8), entsprechend findet sich bei Livius die Reihe conditorum, parentium, deorum immortalium (7, 30,19), während Cicero diese Verwendung von conditor noch scheut, vgl. rep. 1,64: patriae custodes ... patres ... deos (s. Nep. Timol. 3, 2). Im Griechischen ist schließlich der Zusatz von ευεργέτης häufig (vgl. dazu Acc. trag. 669). Eine vollständige Sammlung aller mir bekannten Belege kann ich hier nicht vorlegen: hingewiesen sei auf die Arbeiten von Alföldi (s. Α. 1), A. Oxé, WSt 48, 1930, 38-61 und F. Börner, WJA 4, 1949/50, 63-66 und 6063 zu deus (s.o. A. 82). Erst nachträglich wird mir die Mainzer Dissertation von H. Kasper zugänglich: Griechische Solcr-Vorstcllungcn und ihre Übernahme in das politische Leben Roms, Diss. phil. Mainz 1959 (1961). Neben den wichtigen sprachlichen Untersuchungen zu σωτήρ und seinen lateinischen Äquivalenten (zu σωτήρ καί π α τ ή ρ vgl. 94, Α. 2) ist besonders die Zusammenstellung griechischer und römischer Ehrungen instruktiv, vgl. ζ. B. für Marius (Plut. Mar. 27, 9, s.o. S. 27) Plut. Dio 29, 2 (Kasper 58-59; 113), für Sulla (Plut. Sull. 34,2, s. S. 30-31) den auch von Plutarch neben Sulla gestellten Lysander (Lys. 18, 5-6; Kasper 56) und Arat (Plut. Arat. 14, 3-4; Kasper 67; 114). Der Vergleich hätte davor warnen müssen, griechischen Formulierungen allzu großes Gewicht beizumessen, wo römische Verhältnisse beschrieben werden, etwa im Falle Sullas (Kasper 114-115 zu Plut. Sull. 34, 2), zu dem Kasper selbst 125 bemerkt, daß sich nicht sagen läßt, welches lateinische Wort dabei verwendet worden ist. Ebenso scheinen mir auch Ciceros Äußerungen über die ihm zuteil gewordenen Ehren allzu wörtlich genommen zu sein (92-98). Wichtig dagegen ist der Hinweis auf Plaut. Asin. 712-713 (100).

Beachtung verdienen auch die Maßnahmen Oktavians, durch die die Verehrung des Divus IuLius möglich und annehmbar gemacht wird. S. auch Flacc. 60. Vgl. auch Cie. Lig. 38 und die merkwürdige Formulierung Cluent. 195 iudices, quos huic A. Cluenlio quosdam alios deos ...fortuna esse voluit.

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Gottmcnschentum

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Appendix II: Statuen und Bilder einzelner Römer in oder bei Tempeln in Rom 1. είκών des Romulus beim Vulcanal: D. H. 2, 54, 2: 'Ρ. τέθριττττον χαλκοΰν άνέθηκε τ φ Ήφαίστφ καί παρ' α ύ τ φ την ιδίαν άνέστησεν εικόνα s.u. S. 37. 2. είκών ξύλινη / statua des Servius Tullius im Tempel der Fortuna: D. H. 4,40, 7: ... έν τ ω ναω της Τύχης ... κειμένη; vgl. Val. Max. 1, 8,11, wo der Text unsicher ist; s.o. S. 22. 3. είκών / statua des Horatius Codes (zuerst auf dem Comitium, später beim Vulcanal): Plut. Pop. 16, 9: έν τ ω ίερω του "Ηφαίστου; Gell. 4, 5,4: in area Volcani; Vir. ill. 11,2: in Vulcanali; s. S. 22. 4. statua (?) der Quinta Claudia im Tempel der Magna Mater: Val. Max. 1, 8, 11: in vestíbulo templi Matris (vgl. zu Nr. 2). 5. Totenmaske (imago / είκών) des P. Cornelius Scipio im Tempel des Juppiter Optimus Maximus: Val. Max. 8, 15, 1: in cella Iovis Optimi Maximi; vgl. App. Hisp. 23, s. auch Liv. 38, 56, 12: s.o. S. 21. 6. άνδριάς des Cato Maior im Tempel der Salus: Plut. Cat. Ma. 19, 4: έν τ ω ναω της Ύγιείας. 7. statua des M'. Acilius Glabrio im Tempel der Pietas: Val. Max. 2, 5, 1: in aede Pietatis, vielleicht kombiniert aus Liv. 40, 34, 5-6, der keine genaue Ortsangabe hat; der Sohn des Geehrten, der die Statue weiht, ist zugleich Erbauer des Tempels, den der Vater gelobt hatte. Zu Statuen aus Edelmetall vgl. K. Scott, TAPhA 62,1931,101-123, der Glabrios Goldstatue nicht erwähnt. 8. statuae der Metelli am Tempel von Honos und Virtus: Ascon. Pis. 11 zu § 44:... cum statuas sibi ac patri itemque avo poneret in monumentis avi sui ad Honoris et Virtutis ... 9. είκών (gemalt) der Flora im Tempel des Kastor: Plut. Pomp. 2, 8: ... Μέτελλον ... κοσμοϋντα τον νεών ... εικόνα γραψάμενον άναθεΐναι ... 10. statua des L. Accius im Tempel der Musen (?): Plin. nat. 34, 19: in Camenarum aede. 11. statuae des Verres beim Tempel des Vulkan: Cie. Verr. 2, 2, 150: propter aedem Volcani. 12. clupei der Vorfahren des Appius Claudius im Tempel der Bellona: Plin. nat. 35,12: inBellonae aede. 13. είκών Caesars im Tempel des Quirinus: Dio Cass. 43, 45, 3: εικόνα ές τον τοΰ Κυρίνου ναόν θ ε ώ άνικήτω έττιγράψαντες ... ανέθεσαν; vgl. Cie. Att. 12, 45, 2; dazu Classen (s. Α. 4) 195. - ανδριάντες in allen Tempeln (Dio Cass. 4 4 , 4 , 4 ) , Tempel der dementia und Caesars (App. civ. 2, 106). Die Belege verdanke ich O. Vessberg (s. A. 1) passim; er verzeichnet auch die Statuen auf dem Kapitol (nr. 11, 12, 13, 25, 277/78, 72, 165, 166, 282, 285, 290, 297, 300, 301 und S. 45), auf die wir hier verzichten können. Eine

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Gottmenschentum

Prüfung der angeführten Stellen zeigt, daß fast alle Statuen nicht eigentlich im Tempel selbst aufgestellt waren; auch daß dem Erbauer eines Tempels eine Statue geweiht wird, ist nicht bemerkenswert (Glabrio - dessen Sohn den Tempel weiht), vgl. auch die Nachricht über Servius Tullius, die nicht zuverlässig zu sein braucht (vgl. oben S. 22). Das gilt auch für Dionys* Bericht über Romulus' Weihung (vgl. Classen (s. Α. 4) 175). Dann bleibt nur die Statue Catos im Tempel der Hygieia, für die die Erklärung noch aussteht.

Appendix III: Die wichügsten Ehrungen römischer Feldherren und Beamten in den Provinzen (Vgl. H. Seyrig, RA 5. Ser. 29, 1929, 95 Α. 4; L. R. Taylor (s. Α. 1) 3557; M. P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion II, München 1961 2 , 178-180; L. Cerfaux und J. Tondriau (s. Α. 1) 279-285; F. Taeger (s. Α. 1) II 40-49; K. Latte (s. Α. 1) 312-313). C. Claudius Marcellus (cos. 222) T. Quinctius Flamininus (cos. 198)

M'. Aquilius (cos. 129) M. Annius (quaestor 117) Q. Mucius Scaevola (cos. 117) L. Valerius Flaccus (cos. 86) L. Cornelius Sulla (cos. 88)

L. Licinius Lucullus (cos. 74) C. Verres (praet. urb. 74)

in Syrakus

Spiele

in Griechenland

mannigfache Ehrungen: Päan, Priester in Chalkis und auf der Peloponnes Spiele (in Gythion)

in Pergamon

Priester (geerbt von Attalos III.)

in Lete (Makedonien)

Spiele

in Asia

Spiele

in Asia

Spiele

in Athen

Spiele (und andere Ehrungen in Griechenland und im Osten)

in Asia

Spiele

in Sizilien

Spiele und anderes

38 Cn. Pompeius (cos. 70) M. Tullius Cicero (cos. 63)

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Gottmenschentum

s. ο. A. 74 in Asia

verschiedene Ehrungen abgelehnt

Q. Tullius Cicero (praet. 62)

in Asia

verschiedene Ehrungen abgelehnt

Ap. Claudius Pulcher (cos. 54)

in Kilikien

Tempel (selbst errichtet)

in Ephesus

Kult mit Priester

in Mylasa

Priester

P. Servilius Isauricus (cos. 48) L. Munatius Plancus (cos. 42)

Zu den Ehrungen Caesars vgl. L. R. Taylor (s. A. 1) 267-269; L. Cerfaux, J. Tondriau (s. A. 1) 286-295; M. Geizer, Caesar, Wiesbaden 1960, 224-225; zu denen des Antonius L. R. Taylor (s. A. 1) 269; L. Cerfaux, J. Tondriau 295306; O. Immisch, Aus Roms Zeitenwende, Leipzig 1931, 13-21. Zunächst war es offenbar besonders üblich, den „Euergetes" durch Spiele zu ehren; diese Form blieb auch später verbreitet (vgl. Cie. Flacc. 55-56; Q. fr. 1, 26). Wenn Flamininus auch andere Ehrungen zuteil wurden, so unterstrich man damit seine einmaligen Verdienste, die er sich um Griechenland erworben zu haben schien. Erst später richtete man häufiger Kulte ein mit Priestern und Tempeln (dazu Cie. Q. fr. 1, 26). Ehrungen und Kulte für Roma sind hier nicht aufgeführt, ebensowenig private Ehrungen. Daß auch die Römer in Rom selbst unmittelbar mit den Formen, die sich im Osten und in Griechenland für die Verehrung ausgezeichneter Menschen ausgebildet hatten, in Berührung kamen, zeigt etwa Polybios' Erzählung, Prusias habe die Senatoren als θεοί σωτήρες begrüßt (30, 18, 5; vgl. Liv. 45, 44, 19-20). Derartige Begebenheiten in Rom und die Ehrungen der Beamten in den Provinzen scheinen auf die Römer insgesamt ebensowenig gewirkt zu haben, wie entsprechende Auszeichnungen, die heute einzelnen in einem modernen Empire zuteil werden, die Bevölkerung im Mutterland beeindrucken.

Virtutes Romanorum nach dem Zeugnis der Münzen republikanischer Zeit Wenn auch die deutsche Altertumskunde im vergangenen Jahrhundert großartige Leistungen vollbrachte, durch die das Verständnis und die Kenntnis von den Römern und ihren Leistungen entscheidend gefördert wurden, so galt die Liebe der Wissenschaftler ebenso wie der gebildeten Bürger - um von den Dichtern zu schweigen - den Griechen. 1 Ihnen wandte man sich mit innerer Wärme und Aufgeschlossenheit, mit Anteilnahme und Begeisterung zu, um den Schöpfungen des griechischen Geistes in kongenialer Weise gerecht zu werden; zugleich aber kam man zu ungerechten Urteilen über die Römer, vor allem zu einer allgemeinen Abwertung der lateinischen Literatur. Diesen Stimmungen und Neigungen, die sich in gleicher Weise weder in der romanischen Welt noch in den angelsächsischen Ländern zeigten, traten die Vertreter der deutschen

Im Zusammenhang einer Untersuchung der antiken Weltvorstellungen haben sich mir die folgenden Beobachtungen während eines mehrwöchigen Aufenthaltes im Deutschen Archäologischen Institut in Rom im Frühjahr 1981 ergeben (der Deutschen Forschungsgemeinschaft bin ich für die Übernahme der Fahrtkosten und der Aufenthaltskosten für die ersten zehn Tage zu Dank verpflichtet); sie wurden während eines zweiten Aufenthaltes dort im Herbst 1985 überprüft und abschließend formuliert. Ich danke den Direktoren des Instituts, Herrn Th. Kraus und Herrn B. Andreae, sehr herzlich für ihre Gastfreundschaft und den Kollegen und Studenten, denen ich meine Überlegungen in Heidelberg, Göttingen, Bonn, Löwen und Caen vortragen durfte, für deren Kritik und Anregungen, meinem Sohn Claus Dieter für eine französische Fassung. Besonderen Dank schulde ich Bernard Andreae dafür, daß er dem Philologen nicht nur großzügig die Möglichkeit eröffnete, seine Beobachtungen auch im Archäologischen Institut in Rom selbst am 28.10.1985 zur Diskussion zu stellen, sondern sie jetzt in dessen Mitteilungen zu veröffentlichen. Für Abgüsse und Abbildungsvorlagen habe ich vor allem Frau M. R.-Alföldi (Frankfurt) zu danken, außerdem Herrn Chr. Boehiinger (Göttingen), der Bibliothèque Nationale (Paris) und dem Department of Medals and Coins des British Museum (London). Die Anmerkungen habe ich bewußt knapp gehalten. Für die Angaben über die Münzen stütze ich mich auf M.H. Crawford, Roman Républicain Coinage, 2 Bde, Cambridge 1974, ohne zu übersehen, daß sie teilweise in Zweifel gezogen und kritisiert worden sind, vgl. z.B. Ch. A. Hersh, NC 137, 1977, 19-36; Η. Β. Mailingly, NC 137, 1977, 199-215; doch leicht abweichende Datierungen sind für die hier erörterten Fragen unerheblich. Dagegen habe ich die Deutungen der Münzbilder in der Regel nur übernommen, wenn sie durch Bcischriflen hinreichend gesichert erscheinen, s. ferner u. A. 30. Die Bildersprache der Münzen rückt in einen größeren Zusammenhang T. Hölscher in: T. Hackens, R. Weiller (Hrsgg.), Actes du 9cme Congrès international de Numismatique Beme 1979 (1982), 269-282, der unsere Möglichkeiten, die römischen Münzbilder zu deuten, optimistischer beurteilt als ich; zu den grundsätzlichen Fragen s. auch Ch. Perez in: H. Walter (Hrsg.), Hommages à L. Lerat, Paris 1984, 607-670.

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Latinistik seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bewußt und entschlossen entgegen. Richard Heinze etwa, der in seiner Dissertation die Imitation des Bion durch Horaz behandelte und danach die Fragmente des Xenokrates sammelte und dessen Lehre darstellte, wurde durch die Erläuterung des dritten Buches des lukrezischen Lehrgedichtes und die Bearbeitung des Kießling'sehen Horazkommentars zu einem Verständnis der lateinischen Dichtung geführt, das ihn die epische Technik Virgils in neuer Sicht erfassen ließ; und in den letzten Jahren seines Lebens unternahm er sehr erfolgreiche und einfiußreiche Versuche, anhand zentraler Leitbegriffe die Römer in ihrem Wesen zu erfassen und ihre Eigenart zu würdigen. 2 Durch diese Arbeiten angeregt, begannen dann zahlreiche Gelehrte, in neuer Bemühung den Leistungen der römischen Dichter, aber auch der Prosaiker durch eine unvoreingenommene Betrachtung gerecht zu werden; zugleich wurde die Untersuchung für die Römer wesentlicher Begriffe fortgesetzt, besonders in Breslau, wo eine Reihe einschlägiger Dissertationen entstand: E. Bernert zu officium und Th. Ulrich zu pietas (1930), H. Wegehaupt zu dignitas (1932) und F. Klose zu honos (1933); gleichzeitig erschien J. Liegles wichtiger Aufsatz zu pietas.3 Es gehört zu jenen verhängnisvollen Zufällen, die in der Regel weniger zufällig als verhängnisvoll sind, daß diese Forschungsrichtung gerade ihre ersten Früchte zu tragen und eine breitere Wirkung auszuüben begann, als politische Tendenzen in Deutschland die Oberhand gewannen, die diese Früchte für sich glaubten nutzen zu können und daher derartige Arbeiten förderten, zugleich aber für ihre eigenen Zwecke mißbrauchten. Wer die Themen überblickt, die in den folgenden Jahren behandelt wurden, mag meinen, daß sich die nach 1933 entstandenen Dissertationen rasch dem neuen Geist oder richtiger Ungeist anpaßten: princeps (1933: Gwosdz), auetoritas (1934: Fürst; 1936: Gmelin), mos maiorum (1936: Rech), res publica (1937: Stark), dux (1939: Knierim); doch zeigt eine nähere Prüfung, daß sie sich - mit einer Ausnahme alle - von den politischen Einflüssen der Zeit freihalten konnten, während andere sich ihnen durch ihre Thematik fast provozierend zu entziehen wußten wie H. Kloesel zu libertas (1935), Κ. Η. Heuer zu comitas, facilitas und liberalitas (1941). 4 Dagegen lehren die Schulbücher und mancher Vgl. die Bibliographie in R. llcinzc, Vom Geist des Römertums, Darmstadt 1960, 456458. E. Bemert, De vi alque usu vocahuLi officii, Diss. phil. Breslau 1930; Th. Ulrich, Pietas (pius) als politischer Begriff im römischen Staate bis zum Tode des Kaisers Commodus, Diss. phil. Breslau 1930; H. Wegehaupt, Die Bedeutung und Anwendung von dignitas in den Schriften der republikanischen Zeit, Diss. phil. Breslau 1932; F. Klose, Die Bedeutung von honos und honestus, Diss. phil. Breslau 1933; J. Liegle, ZN 42, 1932, 59-100 (= Ders., in: H. Oppermann (Hrsg.), Römische Wertbegriffe, Darmstadt 1967, 229-273). A. Gwosdz, Der Begriff des römischen princeps. Diss. phil. Breslau 1933; F. Fürst, Die Bedeutung der auetoritas im privaten und öffentlichen Leben der römischen Republik, Diss. phil. Marburg 1934; U. Gmelin, Auetoritas, Römischer Princeps und päpstlicher

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für den Lehrer bestimmte Zeitschriftenaufsatz jener Zeit, wie eilfertig kleine Geister den neuen Strömungen ihren Tribut zu zollen bereit waren: Altrömische Tugenden wurden aufgeboten, um ein nordisch geprägtes Römertum erstehen zu lassen. Die Einseitigkeit, ja Unhaltbarkeit solcher Tendenzen in der Forschung und vor allem in der Schulpraxis ist in den letzten Jahren mehrfach kritisiert worden. Doch können und dürfen die Irrwege der Forschung das Interesse an derartigen Problemen nicht diskreditieren; vielmehr finden wir uns heute vor die Aufgabe gestellt, mit besonderer Dringlichkeit zu prüfen, welche Wertvorstellungen den Römern besonders am Herzen lagen, von welchen Idealen ihre Erziehung geprägt war und um welche Qualitäten sie sich bemühten, welche sie in der Öffentlichkeit bei anderen oder bei sich selbst herauszustellen pflegten. Um zu einem ausgewogenen Urteil zu kommen, erscheint es mir nicht ausreichend zu sein - ich habe das schon bei anderer Gelegenheit betont5 - die Rolle einer einzelnen Qualität, Eigenschaft oder Wertvorstellung isoliert zu bestimmen; daran kranken viele der oben genannten Einzeluntersuchungen. Vielmehr ist es notwendig, jeweils das Gesamtgefüge, den Kosmos der Wertbegriffe in einer Zeit, bei einem Autor, in einem Werk zu analysieren und zu würdigen. Donald Earl hat sich in seinem zu wenig beachteten Buch The Moral and Political Tradition of Rome (1967) darum bemüht; doch hat er einen Bereich ganz ausgelassen, dessen Wichtigkeit schon die genannte Untersuchung von J. Liegle unterstrichen hatte, die Münzen. Sie sollen uns hier beschäftigen; denn sie dürfen nicht ausgespart bleiben, wenn man sich um die Eigenart der Römer bemüht, da die Römer bekanntlich bei ihren Münzprägungen anders als bei fast allen literarischen Äußerungen und auch anders als bei fast allen Schöpfungen der bildenden Kunst nicht nur unabhängig von den Griechen vorgehen, sondern bewußt andere Tendenzen verfolgen als jene. Seit alters ist es Aufgabe der Münzbilder, als Garantiezeichen des Münzherren zu fungieren, d.h. die für die einzelne Prägung verantwortliche Autorität zu bezeichnen und zwar so, daß auch der des Lesens oder einer einzelnen Sprache Unkundige das Zeichen verstehen kann. Die Griechen beschränken sich darauf, jeweils eindeutige Zeichcn zu verwenden, die auch sonst als typisch etwa für ein Gemeinwesen gelten: Auf athenischen Münzen finden sich Athena und die Eule, auf Münzen von Syrakus ein Viergespann und ein Mädchenkopf, beide in ihrer Herkunft nicht sicher deutbar, aber in ihrer Bedeutung eben als Symbole für Syrakus unverkennbar. Die hellenistischen Herrscher setzen ihre

Primat, Diss. phil. Berlin 1936; J. C. Plumpe, Wesen und Wirkung der aucloritas maiorum bei Cicero, Diss. phil. Münster 1935; H. Rech, Mos maiorum, Wesen und Wirkung der Tradition in Rom, Diss. phil. Marburg 1936; R. Stark, Res publica, Diss, phil. G ö u i n g e n 1937; E. Knierim, Die Bezeichnung "dux" in der politischen Terminologie von Cicero bis Juvenal, Diss. phil. Gießen 1939; H. Kloesel, Libertas, Diss. phil. Breslau 193S; K. II. Heuer, Comilas - facilitas - liberalitas, Studien zur gesellschaftlichen Kultur der ciccronischcn Zeit, Diss. phil. Münster 1941. Die erwähnte Ausnahme ist die Arbeit des Historikers U. Gmelin. AU 19, 1976, H. 1, 49-50; CR 32, 1982, 204.

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Porträts auf die Münzen. 6 Wenn auch die große Zahl griechischer Städte eine reiche Fülle verschiedenartiger Münzbilder hervorbringt, bleiben doch die Variationsmöglichkeiten jedes einzelnen münzprägenden Gemeinwesens begrenzt. Ganz anders steht es bei den Römern. Denn hier nutzen die Prägebeamten des einen Gemeinwesens im Laufe der Jahrhunderte die Münzen zu den verschiedenartigsten Darstellungen und Aussagen. Ob die Verantwortlichen schon bei den frühesten Emissionen ein besonderes Interesse an der Auswahl der Motive hatten, muß offen bleiben. Immerhin finden sich auf den frühen Barren (aes signatum) aus der 1. Hälfte des 3. Jahrhunderts nicht nur Stiere, die auf die bäuerliche Grundlage der Wirtschaft der Zeit deuten, 7 sondern auch Dreizack und Caduceus, d.h. Stab des Merkur, Symbol des Handcis oder allgemeiner des Glückes, 8 oder Elephant und Schwein (Taf. I, l). 9 Hier hat man eine Anspielung auf den Pyrrhuskrieg und den Sieg bei Benevent über dessen Elephanten, die angeblich dem Gegrunze der dortigen Säue wichen, sehen wollen; das muß unsicher bleiben, wie denn überhaupt - das sei glcich zu Beginn betont - viele Münzbilder sich einer eindeutigen Erklärung entziehen. Auf den ältesten Münzen (Prägungen bis 211 v. Chr.) finden sich auf der Vorderseite neben Roma selbst Götter, die Rom schützen, die die Römer im Kampf unterstützen oder ihnen Glück und Sieg bringen sollen wie Mars (Taf. I, 3), 10 Minerva, Apollo, die Dioskuren, Hercules, Janus, Saturn und Merkur, aber auch verschiedene Symbole wie Donnerkeil oder Kornähre, 11 dazu ergänzend Zeichen, die auf Erfolg oder Wohlstand deuten: Schild, Schwert, Anker, Dreizack, Cornucopiae, Kornähre und andere. 12 Eine Wölfin mit Zwillingen (Taf. I, 2) lehrt, daß auch bewußt gewählte römische Themen nicht fehlen; doch weist sie ebensowenig wie andere Tiere auf bestimmte Idealvorstellungen oder bestimmte Eigenschaften. 13 Auf den Rückseiten werden Gottheiten dargestellt, z.B. Juppiter in einer Quadriga, die von der Victoria gelenkt wird (Taf. I, 4), 14 daneben eine noch größere Zahl von Tieren, Zcichcn und Symbolen, die meistens wieder auf Erfolg

Für diese allgemein bekannten Tatsachen genügt es, auf ein Handbuch zu verweisen: M. R.-Alföldi, Antike Numismatik 2 Bde, Mainz 1978. Crawford 132 Nr. 5/1 (Bronzcbarren). Crawford 133 Nr. U / 1 (Bronzcbarren). C r a w f o r d 132 Nr. 9/1 (Bronzebarren); zur Deutung auch der vorher genannten Prägungen 716-718. Crawford 133 Nr. 13/1 (Didrachme), vgl. auch Nr. 13/2 (Lilra); zur Auswahl des Gottes Mars s. etwa A. Bumett, N A C 7, 1978, 135; vgl. auch u. A. 18. Crawford 133-154 Nr. 14/1-43/6. Eine Übersicht über die Kontrollzeichen gibt Crawford 138-139. W ö l f i n : C r a w f o r d 150 Nr. 39/3 ( S e x t a n s ) ; a n d e r e T i e r e auf v e r s c h i e d e n e n M ü n z e i n h e i t e n : C r a w f o r d 136 Nr. 18/2 (Semis: P e g a s u s ) ; Nr. 18/3 (Triens: Pferdekopf); Nr. 18/4 (Quadrans: Bär); 140 Nr. 24/4 (Semis: Bulle); Nr. 24/5 (Triens: Pferd); 141 Nr. 24/6 (Quadrans: Mund); Nr. 24/7 (Sextans: Schildkröte). Crawford 144 Nr. 28/3 (Didrachme).

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und Segen deuten. 15 Wenn auch offen bleiben muß, wieweit die für die Prägungen Verantwortlichen mit allen ihren Bildern bestimmte Aussagen machen wollen, so zeigen Darstellungen wie die der Wölfin mit den Zwillingen auf einer Didrachme (Taf. I, 5) 16 oder die der schwörenden Krieger auf einem Goldstater (Taf. II, l), 1 7 daß auch hier römische Elemente die Auswahl beeinflussen, ohne daß zu dieser Zeit immer bestimmte Leistungen oder Qualitäten herausgestellt würden. Die Prägungen seit 211 v.Chr. sind gleichförmiger, sowohl die ersten Emissionen (bis 208 v.Chr.) als auch die weiteren bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts.18 Sie zeigen auf der Vorderseite Götter, zu denen die Rückseite teilweise in Bezug gesetzt wird, z.B. auf dem Victoriatus Juppiter (Rückseite: Victoria) (Taf. II, 2), auf dem Denar Roma (Rückseite: Die Dioskuren) (Taf. II, 3) usw. 19 Während auch diese Darstellungen ganz allgemein auf Glück, Erfolg und Sieg weisen, beginnen die Münzmeister gegen Ende des 3. Jahrhunderts unter oder neben das Münzbild auf der Rückseite Buchstaben zu setzen (Taf. II, 4), die wohl auf ihre Namen deuten sollen und den Münzen damit eine individuelle Note geben. 20 Etwas später, in der 2. Dekade des 2. Jahrhunderts fügen einige wenige von ihnen zugleich andere Zusätze hinzu (Taf. II, 5) 21 oder stellen Motive dar, die als meist nur indirekt und marginal gegebene Hinweise auf die jeweilige Familie, deren Namen oder deren Abstammung gelten dürfen (Taf. II, 6; III, l), 2 2 wenn die modernen Erklärungen richtig sind. Nicht selten läßt sich

Crawford 133-154 Nr. 14/1-43/6. Crawford 137 Nr. 20/1 (Didrachme). Crawford 145 Nr. 29/1 (Slater), ähnlich auch 29/2 (Halbstater), s. femer 144 Nr. 28/1 und 28/2. Die Darstellung wird verschieden gedeutet, vgl. J. Bleicken, JNG 13, 1963, 51-70, bes. 60-70; andere Erklärungen nennt Crawford 715 Α. 5. Crawford 154-197 Nr. 44-111 und 198-259 Nr. 112-221. Die Einführung des Denars wird verschieden datiert, dazu zuletzt Μ. II. Crawford, Coinage and Money under the Roman Republik, London 1985, 54-60, dort 25-51 auch zu den Anfängen der römischen Prägungen, 28-32 zu den Didrachmen mit Mars und Pferdekopf (s.o. A. 10). Vgl. z.B. Crawford 154 Nr. 44/1 (Victoriatus) und 155 Nr. 44/5 (Denar); zu den Dioskuren vgl. E. Bemareggi, NAC 9, 1980, 181-182. Ich zitiere jeweils nur die abgebildeten Beispiele, andere finden sich in Crawfords Katalog oder bei dessen Vorgängern; sie immer alle anzuführen hieße, die Fußnoten unnötig anschwellen zu lassen. S. z.B. Crawford 172 Nr. 75/1 a mit der Beischrift C AL (Denar, hier Taf. Π, 4); vgl. ferner 157 Nr. 51/1 (Beischrift: M , Denar); 165 Nr. 63/1-6 (C: verschiedene Münzeinheiten); 165-166 Nr. 64/1-6 (MA', verschiedene Münzeinheiten); 166-167 Nr. 65/1-6 (AUR: verschiedene Münzeinheiten) u.a.; eine Liste der später abgekürzt verwendeten Namen gibt Crawford 49. Crawford 214-215 Nr. 141/1-6: Vogel mit Beischrift TOD oder Τ (verschiedene Münzeinheiten; 141/1: Denar, hier Taf. 119, 5). Todus ist der Name eines Vogels, vgl. Festus, s.v. Todi (Lindsay 1930, 442); ähnlich Crawford 238 Nr. 187/1: murex-Schale und Beischrift PUR (Denar). Name: Crawford 257-258 zu Nr. 219/la-6 erwägt, ob das Hündchen auf das cognomen Catulus verweisen soll (219/le: Denar, hier Taf. II, 6); andere wollen aus der Darstellung des Faustulus auf Münzen des Sex. Pompeius (proel. 119 ν. Chr.; Crawford

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der Sinn dieser Anspielungen nicht oder nicht mehr mit hinreichender Sicherheit erfassen. Auch im 3. Viertel des 2. Jahrhunderts tragen die Münzen auf der Vorderseite meist Götterbilder. 23 Auf der Rückseite findet man neben vertrauten Motiven, die Glück und Erfolg symbolisieren, und den üblichen Gottheiten auch einige neue Götter, vor allem aber neue Szenen, deren Erklärung wiederum oft unsicher bleibt und die nur im Ausnahmefall für unsere Fragestellung bedeutsam sind. Eindeutig sind wieder einige Hinweise auf die Abstammung einer Familie, z.B. durch Venus auf Münzen der Iulii Caesares (Taf. III, 2), 24 wobei übrigens eher das Alter der gens als deren römischc Tradition herausgestellt wird, oder auf ein cognomen, z.B. durch einen Reiter mit Bcischrift Philipus auf Denaren des Q. Marcius Philipus (Taf. III, 3), der damit zugleich an den von seinem Großvater Q. Marcius Philipus gegen Perseus geführten Krieg erinnert.25 Allein auf die hervorragende Leistung eines einzelnen Vorfahren soll wohl die Libertas mit pilleus auf der Rückseite der Denare des C. Cassius zusammen mit der Wahlurne auf der Vorderseite deuten (Taf. III, 4), nämlich die lex tabellaria des L. Cassius Longinus aus dem Jahre 137 v.Chr., 26 ähnlich unmißverständlich die Libertas auch mit pilleus auf Denaren des M. Porcius Laeca (Taf. III, 5) auf die etwas älteren leges Porciae de provocationeΡ An die Kornverteilung durch ein Mitglied der gens Minucia erinnern die Denare des C. Minucius Augurinus und des T. Minucius Augurinus mit der Darstellung der Columna Minucia zusammen mit Kornähren an der Basis (Taf. III, 6). 28 Zwar liegt die angebliche Hilfsmaßnahme weit zurück (439 v.Chr.); doch kann man es trotzdem wagen, auf sie zu verweisen, da ein Monument, die zu Ehren des praefectus annonae L. Minucius Augurinus errichtete Säule, die Erinnerung an dieses Ereignis wachhält. Problematischer mag es erscheinen, wenn moderne

267-268 Nr. 235/1 mil Beischrift FOSTLUS; 2 3 5 / l c : Denar, hier Taf. ΙΠ, 1) erschliessen, der Münzmeislcr habe den Beinamen Foslulus oder Fostlus gehabt, s. E. Babelon, Description historique et chronologique des Monnaies de la République Romaine Ι-Π, Paris 1885-1886, 336-337; Π. Λ. Sydenham, The Coinage of the Roman Republic, London 1952, 54 Nr. 461. Familie: Crawford 219-220 Nr. 149/l-5b, Münzen (verschiedene Einheiten) des L. Mamilius mit dem Bild des Odysseus, da die Mamilier behaupteten, von Odysseus' Sohn Tclcgonos durch dessen Tochter Mamilia abzustammen, vgl. auch u. A. 66. Zu den legendären Genealogien s. T. P. Wisemann, G&R 21, 1974, 153-164. Crawford 55-65 faßt den Zeitraum von 143-125 v. Chr. zusammen (Katalog: 260-294 Nr. 222-272). Crawford 284 Nr. 258/1 (Denar). Zu Darstellungen der Venus auf Münzen s. R. Pera in: Contributi di storia antica in onore di Albino Garzeui, Genua 1977, 239-268. Crawford 284-285 Nr. 259/1 (Denar); s. dazu Bemareggi (s. Α. 19) 183-184. Crawford 290 Nr. 266/1 (Denar); zwar trägt die Münze keine Beischrift (wie spätere, s.u. A. 71), doch scheint die Deutung durch die Urne auf der Vorderseite und den pilleus auf der Rückseite (dazu T. Hölscher, JDAI 95, 1980, 275) gesichert, s. auch u. A. 71; zur lex Cassia s. G. Rotondi, Leges publicae populi Romani, Mailand 1912, 297. Crawford 293 Nr. 270/1 (Denar); zu den leges Porciae vgl. Rotondi (s. Α. 26) 268-269 und A. E. Astin, Calo ihe Censor, Oxford 1978, 21-23 (Lit.). Crawford 273-275 Nr. 242/1 (Denar), vgl. auch 275 Nr. 243/1 (Denar).

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Interpreten in den beiden neben der Säule stehenden Figuren links den Konsul des Jahres 492 v.Chr., P. Minucius Augurinus, oder den des folgenden Jahres, M. Minucius Augurinus, und rechts mit dem lituus M. Minucius Faesus (Augur seit 300 v.Chr.) erkennen wollen. Doch darf man nicht vergessen, daß auch bei den Leichenzügen vornehmer Römer deren Vorfahren, soweit sie höhere Ämter bekleidet haben, ungeachtet des Zeitunterschiedes gemeinsam auftreten; nichts anderes scheint die Münze zu beabsichtigen, nämlich gleichzeitig an mehrere Vorfahren zu erinnern, wobei es um die Familien und um das Amt oder die Ämter geht, das oder die die Familienmitglieder bekleidet haben, nicht um die Personen der Amtsträger. Wird doch auch bei den vorher genannten Beispielen nie die einzelne Person abgebildet, sondern nur ein Zeichen für ein Amt oder ein Hinweis auf eine Leistung gegeben. Die Einzelperson tritt hinter der einzelnen Tat oder Errungenschaft zurück, Cassius hinter der lex Cassia oder der Amtsträger hinter dem Amt. Das entspricht genau der Darstellungsform, die Cato in seinen Origines wählt: bellorum duces non nominavit, sed sine nominibus res notavit.'29 Wesentlich sind nicht die einzelnen Handelnden, sondern die gens und die Handlungen derer, die zu ihr gehören. Sie gewinnen dadurch Bedeutung, daß sie im Interesse der Allgemeinheit vollbracht werden - und nur solche Ämter oder Leistungen werden auf den Münzen herausgestellt, ob es sich nun um einen augur, einen praefectus annonae oder einen consul handelt, ob der Segen der Götter erwirkt, Getreide für das Volk beschafft oder ein Sieg über einen äußeren Feind errungen worden ist. Im Rahmen der Entwicklung der Münzprägungen verdient vor allem Beachtung, daß solche Hinweise im 3. Viertel des 2. Jahrhunderts nicht mehr nur am Rand der Münzen gegeben werden (durch einzelne Buchstaben oder Zeichen), sondern die ganze Rückseite einnehmen und damit gleichsam unmittelbar zu den Götterbildern der Vorderseite in Konkurrenz treten können. Zwar waren schon früh Szenen auf der Rückseite der Münzen dargestellt worden, doch jeweils solche mit allgemeiner Bedeutung wie etwa die Szene der schwörenden Krieger (s.o. S. 43), während sie jetzt durch die Familieninteressen der Münzmeister bestimmt sind. Zugleich sind diese immer noch weit davon entfernt, sich selbst darzustellen, wie es die für Münzprägungen verantwortlichen hellenistischen Könige tun; vielmehr begnügen sich die römischen Münzmeister zunächst damit, den Ruhm ihrer Familien zu verkünden und damit sich selbst zu empfehlen. Bemerkenswert ist in diesem Zeitraum zugleich die Tendenz, die Darstellungen durch Beischriflen zu erläutern und damit deren Verständnis zu sichern. Offensichtlich sind die Münzmeister daran interessiert, daß die Bilder nicht einfach als Verzierungen angesehen werden, sondern ihre Aussage verstanden wird. 30

Nep. Cato 3, 4. Dies sei ausdrücklich betont angesichts der Kontroverse über die Aussagekraft und den Aussagewert der Münzbilder, den z.B. H. Schaefer, Artikel ,vigintiviri', in: RE VIH A, 2577-2578 (der sich allerdings zu Unrecht auf W. Kroll für die Aussage beruft, ein Mann wie Cicero habe niemals Münzen in die Hand genommen) oder A. H. M. Jones in: Essays in Roman Coinage presented to Harold Mallingly, Oxford 1956, 13-33, sehr

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In den folgenden Jahrzehnten bis zum Ausbruch des Bundesgenossenkrieges, also im Zeitraum etwa von 124-92 v.Chr., zeigen die Münzen auf der Vorderseite der Standardtypen weiterhin die üblichen Gottheiten, Roma, Janus, Saturn, Minerva, Hercules, Merkur, Apollo und Diana, daneben auf den Denaren gelegentlich auch andere wie Ceres, die Dioskuren, Juno, Liber, Mars, Sol und Vulkan, und neu Kybele, die Dei Penates, Pietas und Victoria. 31 Auch auf den Rückseiten begegnen die vertrauten Gottheiten in den üblichen Darstellungsformen, aber auch in neuen, oder mit beachtenswerten Ergänzungen. Noch häufiger als früher zeigt sich in dieser Zeit, daß einige Familien bestimmte Götter bevorzugen, weil sie sich ihnen besonders verpflichtet fühlen, auf ihren Schutz und ihre Hilfe besonders vertrauen, z.B. die Julier Venus, von der sie abzustammen glauben, 32 oder die Cornelier Juppiter (Taf. IV, l). 33 Auf die Abstammung der Familie von einem berühmten Vorfahren will das Bild des Numa Pompilius auf den Münzen des L. Pomponius Molo deuten (Taf. IV, 2), 34 auf die Abstammung von einem berühmten Vorfahren, T. Manlius Torquatus, und auf dessen Heldentat die Halskette auf der Vorderseite der Münzen des L. Manlius Torquatus (Taf. IV, 3). 35 Herausragende, in ihrem Wesen wieder sehr verschiedenartige Leistungen einzelner Vorfahren werden auch durch andere Prägungen dieser Zeit hervorgehoben: Eine der leges Porciae durch die Darstellung einer provocatio (mit Beischrift) auf Münzen des P. Porcius Laeca (Taf. IV, 4), 36 die Schlacht am Lacus Regillus und der Sieg des A. Postumius Albus Regillcnsis durch die angreifenden Reiter (mit Inschrift) auf Denaren des A. Postumius Albinus (Taf. IV, 5). 37 Unmißverständlich sind auch solche Prägungen, die Bauten und damit stets im Bewußtscin aller lebendig gehaltene Leistungen einzelner Vorfahren schildern, wie die Denare des M'. Aemilius Lepidus mit drei Bögen und einer Reiterstatue (Taf. IV, 6) den Baubeginn eines Aquädukts unter M. Aemilius Lepidus (censor 179 v.Chr.), obwohl das Bauwerk nach Q. Marcius Rex (praetor 144 v. Chr.) benannt wurde. 38 Die Denare des L. Cassius Caecianus (102 v.Chr.) mit zwei Ochsen und der Inschrift L. Cassi(us) auf der Rückseite und auf der Vorderseite einer Ceresbüste (Taf. V, 1) wollen vielleicht an den im zweiten Konsulat des Sp. Cassius ge-

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gering veranschlagen, ausgewogener, wenn auch mit berechtigt nüchterner Skepsis Crawford 726, dort 712-744 zu den wichtigsten Darstellungen und ihren Problemen. Auch H. Chantraine geht in seinem guten, einführenden Übeiblick (Gymnasium 90, 1983, S30-S4S) davon aus, daß die Prägebeamlen die Münzbilder so auswählen und gestalten, daß sie von den Zeitgenossen verstanden werden; das macht allzu raffinierte (moderne) Interpretationen unwahrscheinlich. Crawford 294-397 Nr. 273-336. S.o. S. 44 mit A. 24; Crawford 325 Nr. 320/1 (Denar). Crawford 309-311 Nr. 296/la-e (Denar); 318 Nr. 310/1 (Denar); 319 Nr. 311/1

(Denarius serratus; 311/1 b: hier Taf. IV, 1). Crawford Crawford Crawford Crawford Crawford

332 Nr. 334/1 (Denar); s. dazu Κ. Buraselis, Historia 25, 1976, 378-380. 308 Nr. 295/1 (Dcnar). 313-314 Nr. 301/1 (Denar); s. ferner o. A. 27. 333-336 Nr. 335/9 (Dcnar); vgl. dazu Bcrnareggi (s. Α. 19) 183. 305-306 Nr. 291/1 (Dcnar).

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weihten Cerestempel erinnern. 39 Allerdings muß man gleich hinzufügen: Sie wollen wohl vor allem daran erinnern, daß der übrigens auch Liber und Libera geweihte Tempel 40 von einem Mitglied der Cassierfamilie dediziert wurde, und weniger an dieses Mitglied selbst; denn es handelt sich um Sp. Cassius Vicellinus, also um einen derer, die wegen des Verdachtes, nach einer königgleichen Stellung zu streben, hingerichtet wurden und deren Gestalt in der annalistischen Geschichtsschreibung und später in der politischen Polemik als warnendes Beispiel lebendig blieb. 41 Damit stoßen wir erneut auf die Tatsache, die schon oben betont worden ist und auf die auch andere Darstellungen dieser Zeit führen, die heute keine eindeutige Erklärung mehr erlauben (weswegen ich sie übergehe), nämlich daß es den Münzmeistem keineswegs immer darauf ankam, die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Vorfahren zu lenken und dessen Persönlichkeit mit allen ihren Errungenschaften dem Publikum vor Augen zu rücken, sondern daß sie vielmehr daran erinnern wollten, daß ein Mitglied ihrer Familie eine bleibende Leistung vollbracht oder ein wichtiges Amt innegehabt hatte. Ganz ungewöhnlich und auffallend ist die Darstellung der Pietas (Taf. V, 2) auf den Denaren des M. Herennius (108 v.Chr.). 42 Denn sie tritt auf der Vorderseite der Münzen an die Stelle einer der vertrauten Gottheiten und wird auf der Rückseite ergänzend illustriert durch ein exemplum für die pietas erga parentes. Warum Herennius einen neuen Weg beschreitet, ist nicht leicht zu sagen. Wenig wahrscheinlich ist die Vermutung, daß er an das Schicksal des Herennius Siculus erinnern will, 43 der, als Freund des C. Gracchus verhaftet, sich im Gefängnis selbst den Tod gab; denn er wird von Valerius Maximus als Beispiel für ungewöhnliche Todesarten zitiert, nicht für amicitia oder pietas,44 Offenbar geht es dem Münzmeister nicht darum, eine allgemein bekannte Eigenschaft eines bestimmten Mitgliedes seiner Familie hervorzuheben, sondern eine menschliche Grundhaltung, pietas, indem er die für sie zuständige Gottheit, die seit 181 v.Chr. einen Tempel besaß, 45 darstellt und eine entsprechende Illustration hinzufügt, nämlich die Rettung eines Älteren durch einen Jüngeren, also einen Vorgang schildert, der den Römern seit der Rettung des Anchises durch Aeneas stets die pietas versinnbildlichte. 46 39 40

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Crawford 325-326 Nr. 321/1 (Denar). Vgl. K. Latte, Römische Religionsgeschichte, München, 1960, 161-162; s. auch die Münzen des L. Cassius Longinus (prael. 66 v.Chr.): Crawford 403 Nr. 386/1 (Denar). Vgl. F. Münzer, Artikel .Cassius 91' in: RE III, 1749-1753, ergänzend Historia 14, 1965, 394-395. Crawford 317-318 Nr. 308/1 (Denar, 308/la: hier Taf. V, 2). Diese Vermutung wird angeführt von F. Münzer, Artikel .Herennius 46' in: RE VII, 679680 und Crawford 318, aber nicht übernommen. Val. Max. 9, 12, 6; auch Velleius Paterculus erzählt diese Geschichte, ohne das Element der Freundschaft oder der pietas zu betonen; er nennt nicht einmal Herennius' Namen (2, 7, 2). Latte (s. Α. 40) 238-239. Daß die Rückseite einen der frommen Brüder aus Katane, die ihre Eltern beim Ausbruch des Aetna retteten, zeigt, ist eine alte Vermutung, vgl. Th. Mommsen, Geschichte des

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Es ist jene Eigenschaft, deren grundlegende, zentrale Bedeutung die Münzen auch unabhängig von dieser Darstellung überall unterstreichen. Denn versucht man die Aussage der bisher vorgeführten Münzbilder zusammenzufassen, wird man nicht fehlgehen, wenn man die große Zahl der Götterbilder als Ausdruck des Dankes an die Götter, des Vertrauens auf ihren Schutz und der Hoffnung auf ihre Hilfe, d.h. als Ausdruck des Bewußtseins der Abhängigkeit und des Respektes vor ihnen versteht, also der pietas, die übrigens auch die Historiker gerade der früheren Zeit immer besonders betonen. Die Münzbilder mit Hinweisen auf den Namen einer gens oder auf die Leistungen eines Vorfahren oder eines Familienmitgliedes wird man als Ausdruck der Wertschätzung von dessen virtus und zugleich als Ausdruck des eigenen Bewußtseins der Verpflichtung gegenüber der gens zu verstehen haben, also auch wieder der pietas, die den Münzmeister zu besonderen Leistungen anspornen mag und zugleich bei anderen die Erwartung ungewöhnlicher Leistung wecken soll. Denn das einzelne Familienmitglied wird als Glied einer Kette angesehen und sieht sich auch selbst so; wird doch diese Sicht dem Heranwachsenden durch die stemmata im Elternhaus ständig vor Augen geführt und wird sie doch schließlich wieder verdeutlicht, wenn sich beim Begräbnis gleichsam alle Vorfahren versammeln. 47 Dieses Selbstverständnis steht auch hinter den Worten der Grabschrift: Maiorum oplenui laudem, ut sibei me esse laetentur; stirpem nobilitava honor

creatum

und hinter den anderen Elogien, die einen Frühverstorbenen preisen: 48 Die Leistung, die einer erbringen soll, wird gleichsam durch die gens festgelegt, und was einer geleistet hat, wird der gens zugeschrieben. Neben diese von der Bindung an die Familie und die mahnende und fordernde Tradition geprägten Darstellungen treten in den letzten beiden Jahrzehnten des 2. vorchristlichen Jahrhunderts andere, die in die eigene Zeit fallende Ereignisse feiern, sogar Erfolge, die zum Münzmeister und seiner Familie in keiner Verbindung stehen. So will M. Furius Philus durch seine stehende Roma mit Szepter, ein Tropaion krönend, daneben gallische Waffen (Taf. V, 3) wohl die kurz vorher gefeierten Triumphe über die Allobroger und Arverner verewigen, 49 ähnlich etwa zwanzig Jahre später C. Fundanius durch das Bild eines

römischen Münzwesens, Berlin 1860, 566 A. 31S und Babelon (s. A. 22) I, S39, doch mir ganz unwahrscheinlich, da nur ein Retter dargestellt ist, während die Brüder sonst in der Regel zusammen erscheinen (Belege bei G. Wissowa, Artikel ,Amphinomos 5' in: RE I, 1943-1944; nur ein Bruder, auch bei J. Eckhcl, Doctrina nummorum vetenim I, Wien 1792, 203 nicht belegt). Trotzdem wird diese Erklärung allgemein akzeptiert, zuletzt etwa von M. Manson, RBN 121, 1975, 25 und A. Fraschetti, AnnAStorAnt 5, 1983, 85. Zu Darstellungen von Aeneas und Anchises im Westen s. W. Fuchs, ANRWI, 1973, 4, 624-632, der die Hcrcnnius-Münzc ausdrücklich ausklammert, und P. Petrillo Serafín, BA 13, 1982, 35-38. Plb. 6, 53-54; Plin. nat. 35, 6; Sen. benef. 3, 28, 2. ILS 13 Nr. 6, s. auch 2-3 Nr. 4 und 7. Crawford 297 Nr. 281/1 (Denar); zu dem, was in der englischen Forschung ,camyx' heißt, s. St. Piggott, Anü 39, 1959, 19-32.

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Triumphators (Taf. V, 4) die Siege des Marius, 50 und ihnen dürften auch die Prägungen aus den folgenden Jahren des T. Cloulius und C. Egnatuleius mit Darstellungen der Victoria gelten (Taf. V, 5.6). 51 Trotz der bisher erkennbar gewordenen Tendenzen brauchen diese Bilder nicht zu überraschen, sie mögen daran erinnern, daß neben den hier vorgeführten, individuell gestalteten Prägungen - wie oben angedeutet - weiterhin zahllose Münzen mit vertrauten Bildern der Roma, der Victoria, der Dioskuren emittiert wurden, deren große Zahl und Häufigkeit lehrt, daß die Erfolge und das Wohl des ganzen römischen Volkes das Hauptthema der Münzprägungen waren, für das immer neue Formen entwickelt wurden, und daß die persönlichen oder von einer einzelnen gens bestimmten Aussagen erst allmählich und nicht mit der gleichen Häufigkeit hinzutreten, oft durch das exemplum aus der einzelnen Familie den Erfolg des ganzen Volkes veranschaulichend oder bestätigend. Zugleich ist nicht zu verkennen, daß die Münzmeister, die jetzt die Siege Dritter zu verherrlichen beginnen, nicht nur an das römische Volk denken, sondern vor allem an den erfolgreichen Feldherren, d.h. an ihre eigene Loyalität zu diesem Feldherren, durch die die Loyalität zur eigenen Familie, die vielleicht nicht viel zur Empfehlung des Prägebeamten beizutragen vermochte, ersetzt wird; im Einzelfall wird sogar der Feldherr selbst dargestellt (s. A. 50). Damit werden die Münzen in den Dienst jener Politiker gestellt, die wie Marius nicht als Angehörige einer gens, sondern als Einzelne das Geschehen in Rom zu bestimmen beginnen und auch andere um sich scharen, die sich nicht auf bedeutende Vorfahren berufen können, sondern nur auf ihre Loyalität zu einem der Großen der Zeit oder auf ihre eigene Leistung. An die Stelle der pietas tritt fides. Dem entspricht ein weiterer Zug, der sich in dieser Zeit zuerst beobachten läßt. Während die Münzmeister sich früher mit dem Ruhm ihrer Familie zugleich auch selbst empfehlen wollten, scheinen jetzt einzelne Darstellungen oder Attribute die Münzmeister selbst etwa für die Wahl zur Ädilität empfehlen zu sollen; allerdings sind die Andeutungen meist zurückhaltend und werden teilweise vielleicht erst nachträglich gemacht; jedenfalls ist bei der Interpretation entsprechende Vorsicht geboten. T. Didius zeigt Gladiatoren (Taf. VI, 1), vielleicht um damit großartige Spiele in Aussicht zu stellen. 52 L. Valerius Flaccus und L. Iulius Caesar setzen eine Kornähre zu anderen Darstellungen (Taf. VI, 2.3), vielleicht um anzudeuten, was sie als Ädilen getan hätten. 53 Unmittelbarer scheinen wohl L. Calpurnius Piso Caesoninus (als quaestor Ostiensis) und Q. Servilius Caepio (als quaestor urbanus) die eigene Leistung zu schildern, indem

Crawford 328 Nr. 326/1 (Denar); auf der Rückseite der Quinare (Nr. 326/2) findet sich Victoria, ein Tropaion krönend, daneben ein kniender Gefangener. Crawford 331-332 Nr. 332/1 a (Quinar, hier Taf. V, 5); Nr. 333/1 (Quinar, hier Taf. V, 6). Crawford 308 Nr. 294/1 (Denar), dazu Bemareggi (s. Α. 19) 185-186. Crawford 316 Nr. 306/1 (Denar) und 327 Nr. 323/1 (Denar); zur Deutung 729 mit weiteren Beispielen.

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sie zwei Quaestoren bei der Arbeit darstellen, rechts und links je eine Kornähre, dazu die Inschrift AD FRU EMU (Taf. VI, 4). 54 Blickt man auf die bisher vorgeführten Münzprägungen zurück, so wird man zugeben müssen, daß manche Interpretation Vermutung bleiben muß und viele Münzbilder nicht mit Sicherheit erklärt werden können. Trotzdem läßt sich folgendes zusammenfassen: Die Münzmeister nutzen die Münzen zu bestimmten Aussagen; daher betonen sie im Laufe der Entwicklung zunächst immer stärker ihre Zugehörigkeit zu ihrer Familie und deren Leistungen domi militiaeque sowie die Ämter, die einzelne Familienmitglieder innegehabt haben. In der Regel wird zugleich ein Hinweis auf die Götter gegeben, auf deren Schutz und deren Hilfe, auf die Abstammung von ihnen und auf die ihnen dienenden Ämter. Wenn, wie M.H. Crawford betont, gerade die Darstellungen Juppiters oder auch anderer Götter mit Zweigen oder Sicgcstrophäcn oder der Victoria als „a striking Illustration of the Roman belief in the connection between military virtus and suitability for office" 5 5 erscheinen, so wird zugleich deutlich, daß die Abhängigkeit der virtus in der Bewährung von der Hilfe der Götter ebenso unübersehbar betont wird wie die Einbindung der virtus in die Tradition der Familie: Der einzelne bewährt sich im Bewußtsein der Leistungstradition der Familie und gibt damit zugleich ein Beispiel für die kommenden Generationen. Virtus ist abhängig von Respekt vor den Vorfahren und vom Schutz und Segen der Götter, der das Bewußtsein dieser Abhängigkeit voraussetzt: So sind virtus, pietas und felicitas unlöslich miteinander verknüpft. Wenn schließlich gegen Ende des 2. und zu Beginn des 1. vorchristlichen Jahrhunderts die Neigung spürbar wird, den einzelnen nicht vor allem als Glied einer Traditionskette, sondern als selbst verantwortlich für seine Leistungen und Taten zu verstehen, kündigt sich eine neue Zeit mit einem bisher nicht gekannten Selbstvertrauen, mit neuen Maßstäben und mit neuen Wertvorstellungen an, die auf den Münzen der folgenden Jahrzehnte immer deutlicher ihren Ausdruck finden. Es sind die Jahrzehnte, in denen auch die ersten Autobiographien entstanden sind, die des M. Aemilius Scaurus oder des P. Rutilius Rufus, 5 6 von denen Tacitus zu Beginn des Agricola (1,3) sagt, sie seien Ausdruck des Vertrauens in die eigene sittliche Kraft, des moralischen Selbstvertrauens, an welches man, wie G. Misch gezeigt hat, 57 in der Renaissance deshalb immer neu anknüpfen konnte, weil sich hier ein völlig neues Selbstverständnis und Persönlichkeitsgefühl manifestiert, weil hier der einzelne im Mittelpunkt steht. Die Münzdarstellungen vermögen diese Neuerungen unmittelbar zu bestätigen. In der Folgezeit erscheinen auf den Vorderseiten der Münzen nicht nur die bekannten Götter, oft in neuer Gestalt oder auf für sie sonst nicht üblichen Münzeinheiten, nicht nur neue Götter, darunter sehr römische wie Quirinus, Crawford 330-331 Nr. 330/1 (Denar, 330/la: hier Taf. VI. 4); s. auch H. Zehnacker, Moneta, Paris 1973 (= BEFAR 2), 550-552. Crawford 728-729. Hisloricorum Romanorum Reliquiae, Ed. H. Peter, Leipzig 1914, I 185-186 und 187190. G. Misch, Geschichte der Autobiographie, Frankfurt a.M. 1949 3 , 217-218.

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oder neue Götterattribute, nicht nur Figuren aus der Mythologie und Pontifikalembleme, sondern auch Könige der Vorzeit und Gestalten der römischen Geschichte, die bisher nur auf den Rückseiten zu finden waren, weiter Zeitgenossen und schließlich die Münzmeister selbst oder deren Amtssymbole oder Namen. Die Rückseiten sind noch vielfältiger gestaltet, so daß es nicht möglich ist, einen Gesamtüberblick über alle Prägungen zu geben; es muß genügen, das Resultat in zusammengclaßter Form vorzulegen und einige für unsere Fragestellung wichtige Beobachtungen herauszustellen und Schlüsse zu ziehen.58 Wie früher finden sich direkte oder indirekte Hinweise auf das nomen oder cognomen des Münzmeisters: Silenus auf Münzen des D. lunius Silanus (Taf. VI, 5), 59 Pan und Silenus auf Münzen des C. Vibius Pansa (Taf. VI, 6), 60 Apollo und die neun Musen auf einer Serie des Q. Pomponius Musa (Taf. VII, 2-4).61 Neben die Neigung, durch einzelne Gottheiten auf den Namen einer Familie zu verweisen und zugleich der Hoffnung auf deren Hilfe Ausdruck zu verleihen, treten die Bilder bestimmter Götter, weil sie von der Familie des Münzmeisters besonders verehrt und ihre Kulte besonders gepflegt werden: Apollo auf den Münzen der Calpurnii Pisones,62 Diana auf den Münzen der Postumii Albini63 usw. Andere Götterdarstellungen wollen auf den Ursprung eines Geschlechtes aus einer bestimmten Stadt oder Landschaft anspielen, wie etwa die Juno Sospita mit Schlange auf die Herkunft der Roscii aus Lanuvium auf Denaren des L. Roscius Fabatus (Taf. VII, l). 64 Auf die Herkunft wird auch in dieser Zeit bisweilen durch einen mythischen Vorfahren verwiesen, einen angeblichen Ahnen aus Troja wie Aeneas auf Münzen Caesars (Vorderseite: Venus) (Taf. VII, 5),65 aber auch einen Griechen wie Odysseus, auf dessen Enkelin Mamilia, Tochter des Odysseussohncs Tclegonos, sich die Mamilii zurückführen; die Vorderseite der etwa 82 v.Chr. geprägten Münzen des C. Mamilius Limctanus trägt das Bild Merkurs (Taf. VII, 6), der durch Kirke Großvater des Tclegonos, Urgroßvater der Mamilia war.66 Immer zahlreicher werden die Prägungen, die nicht allein mit Hilfe eines zufälligen Gleichklanges auf den Namen einer Familie verweisen, sondern durch 58 59 60 61 62 63 64 65

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Crawford 336-546 Nr. 337-550. Crawford 336-339 Nr. 337/1 (Denar, 337/1 b: hier Taf. VI, 5). Crawford 346-351 Nr. 342/1 (Denar), s. auch Nr. 342/2 (Denar). Crawford 437-439 Nr. 410/2-10 (Denare, 410/7c: hier Taf. VII, 2; 410/8: hier Taf. VD, 3; 410/9b: hier Taf. VII, 4). Crawford 340-341 Nr. 340/1-3 (Denar, Quinar und Sesterz) und 419-435 Nr. 408/1 (Denar); 437-439 Nr. 410/1-10 (Denare, s.o. A. 61). Crawford 334-335 Nr. 335/9 (Denar, s.o. A. 37); 389 Nr. 372/1 (Denar); 407 Nr. 394/1 (Denar). Crawford 439-440 Nr. 412/1 (Denarius serrai us). Crawford 471 Nr. 458/1 (Denar), eine etwas spätere Prägung; zur Darstellung des Aeneas, den Anchises tragend s.o. A. 46; zu den angeblichen trojanischen Ahnen vgl. E. Gabba, Contr. dell'Ist. di Stona ant. dell'Univ. del Sacro Cuore 4, 1976, 84-101; zu Venus s. Α. 24. Crawford 375-377 Nr. 362/1 (Denarius serratus)· zu Odysseus s. A. 22.

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das Münzbild sowohl auf den Namen als auch auf eine Leistung eines Vorfahren oder einer anderen der gens zugehörigen Person oder allgemein auf eine Persönlichkeit, die das Ansehen des ganzen Geschlechtes verkörpert und jedem einzelnen Angehörigen auctoriias zu verleihen vermag. Der gute König Ancus Marcius erscheint 56 v.Chr. auf Denaren wohl des L. Marcius Philippus, deren Rückseite ein Aquädukt mit einer Reiterstatue und die Inschrift AQUA MARC zeigt (Taf. VIII, 1), also einen anderen Vorfahren und dessen bauliche Leistung verherrlicht. 67 Änlich zeigen Denare vielleicht des L. Scribonius Libo auf der Rückseite das Puteal Scribonianum (Taf. VIII, 2), das dessen Restaurator nicht in Vergessenheit geraten ließ, 68 Denare des M. Aemilius Lepidus das Reiterstandbild des jugendlichen M. Aemilius Lepidus (cos. 187 v.Chr.), der als Fünfzehnjähriger einen Gegner tötete, wie die Inschrift der Münze betont (Taf. VIII, 3): M. LEPIDUS AN XV PR II O C S, eine Heldentat, an die seine Statue die Mitbürger stets erinnerte.69 Auch die Personifikation Alexandreias auf anderen gleichzeitigen Münzen des M. Aemilius Lepidus und die Darstellung zweier Männer auf der Rückseite mit der Inschrift TUTOR REG und PONT MAX (Taf. VIII, 4) gelten demselben Konsul M. Aemilius Lepidus, der Pontifex Maximus und 201 v.Chr. Berater des ägyptischen Königs Ptolemaios V. war. 70 Die Libertas auf der Vorderseite von Denaren des Q. Cassius Longinus und die Stimmurne neben dem Vestatempel (Taf. VIII, 5) wollen wie frühere, von Cassiern geprägte Münzen (s.o. S. 44) die Erinnerung an die lex Cassia des Jahres 137 v.Chr. wachhalten.71 Die Denare des C. Memmius mit Quirinus auf der Vorderseite stellen auf der Rückseite Ceres dar (Taf. VIII, 6) und tragen die Inschrift MEMMIUS AED CERI ALIA PREIMUS FECIT, weisen also auf diese Art auf eine Leistung eines Angehörigen der Familie des Münzmeisters, die erste Feier der Ludi Cereales durch einen Mcmmier. 72 Wohl P. Cornelius Lentulus Marccllinus prägt etwa 50 v.Chr. Münzen, deren Vorderseite das Bildnis des fünffachen Konsuls M. Claudius Marcellus und einen Dreischenkel tragen, das Symbol Siziliens, das er eroberte, und deren Rückseite Marcellus zeigt, wie er ein Tropaion in einen Tempel trägt, und die Inschrift MARCELLUS COS QU1NQ (Taf ΙΧ,Ι). 73 Vorfahren, ohne deren Leistungen zu

Crawford 448-449 Nr. 425/1 (Denar); zu dem nach Q. Marcius Rex (prael. 144 v.Chr.) benannten Aquädukt s. A. 38 zu Nr. 291/1; die Darstellungen auf den beiden Münzen sind völlig verschieden, was die Deutung nicht beeinträchtigt. Crawford 442, Nr. 417/1 (Denar; 417/la: hier Taf. VIII, 2), vgl. auch 441-442 Nr. 416/1. Crawford 443-444 Nr. 419/1 (Denar; 417/la: hier Taf. VIO, 3). Crawford 443-444 Nr. 419/2 (Denar). Crawford 452 Nr. 428/2 (Denar; zur Libertas s. Α. 26). Crawford 451-452 Nr. 427/2 (Denar); zur Darstellung des Quirinus s. C. J. Classen, Philologus 106, 1962, 185-186. Crawford 460 Nr. 439/1 (Denar).

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spezifizieren, stellt z.B. Q. Pompeius Rufus (54. v. Chr.) dar, nämlich seine Großväter L. Cornelius Sulla und Q. Pompeius Rufus (Taf. IX, 2). 74 Während in diesen Fällen der Name des Vorfahren, der im Namen des ihn ehrenden Nachfahren fortlebt, hervorgehoben wird, finden sich andere Darstellungen, die allein aus sich heraus, also ohne erläuternde Beischriften, auf eine herausragende Tat oder ein Amt eines Vorfahren hinweisen; sie sind allerdings oft nicht leicht mit Sicherheit zu deuten. Denare des C. Marcius Censorinus zeigen auf der Vorderseite wiederum den guten König Ancus Marcius zusammen mit Numa Pompilius, auf der Rückseite einen Reiter (Taf. IX, 3), vielleicht als Hinweis auf die durch den Seher Marcius geförderten Ludi Apellinares75 Der Elephant auf der Rückseite der Denare des Q. Caecilius Metellus Pius dürfte auf die Erbeutung der Elephanten Hasdrubals durch L. Caecilius Metellus anspielen, die Vorderseite, wenn der Frauenkopf mit dem Storch die Pietas darstellt, auf den (selbst verdienten) Beinamen des Münzmeisters (Taf. IX, 4). 7 6 Die Neigung, die eigene Zeit einzubeziehen, führt dazu, daß neben den Leistungen und Ämtern älterer Vorfahren auch die der Väter oder anderer Verwandter der unmittelbar voraufgehenden Generation dargestellt und durch Inschriften verdeutlicht werden, etwa Sullas Sieg durch ein Bild des sitzenden Feldherren zwischen den knienden Gestalten von Bocchus und Jugurtha, dazu die Inschrift FELIX (Taf. IX, 5), auf Münzen seines Sohnes Faustus (56 v. Chr.). 77 Allerdings erscheint es problematisch, aufgrund dieser Praxis verwandtschaftliche Beziehungen eines Münzmeisters zu erschließen, wie man es mit Hilfe der Münzen des P. Fonteius Capito versucht hat, auf deren Rückseite die vom Konsul des Jahres 98 v.Chr., T. Didius, restaurierte Villa Publica erscheint (Taf. IX, 6); 7 8 das reicht nicht aus, eine Verwandtschaft zwischen dem Konsul und dem Münzmeister zu konstruieren, zumal auch sonst nicht nur Verwandte und deren Leistungen illustriert werden, wie schon die Münzen, die Marius* Siege feiern, gezeigt haben. Die wichtigste Tendenz der weiteren Entwicklung zeichnet sich in den Darstellungen ab, die auf die eigene Person des für die Prägung Verantwortlichen Bezug nehmen, sei es daß auf deren Amt oder Leistung angespielt oder sie für ein Amt empfohlen wird, sei es daß sie selbst dargestellt oder ihr Name genannt wird. Die ersten Beispiele waren um die Jahrhundertwende aufgetreten; jetzt nimmt deren Zahl rasch zu und lehrt, welche Qualitäten die großen Politiker im

Crawford 4 5 6 Nr. 434/1 (Denar), s. auch Nr. 434/2 (Denar). Crawford 3 5 7 - 3 6 1 Nr. 346/ld (Denar); die Identifikation ist gesichert durch die Beischriften auf dem As derselben Serie (Nr. 346/3). Titus Tatius findet sich auf Münzen der gleichen Zeit: Crawford 3 5 2 - 3 5 6 Nr. 344/1-3 (Denare), s. M. Bieber, A N R W I, 4, 1 9 7 3 , 8 7 5 - 8 7 9 zu den Porträts der angeblichen Ahnen und 8 7 9 - 8 9 8 zu den Porträts lebender Persönlichkeiten. Crawford 3 9 0 Nr. 374/1 (Denar); zur Pietas s. Α. 4 2 ; 46. Crawford 4 4 9 Nr. 426/1 (Denar); zum Beinamen Felix s. dieser Band S. 2 9 - 3 0 . Crawford 4 5 3 Nr. 429/2d (Denar). Es scheint angemessener, auch einmal Nichtwissen einzugestehen als unbeweisbare Hypothesen zu entwickeln.

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Hinblick auf sich selbst herauszustellen geneigt sind. Sulla schlägt 82 v. Chr. Aurei und Denare, auf deren Vorderseite Roma erscheint, auf der Rückseite er selbst als Triumphator in der Quadriga, von der Victoria gekrönt und einen caduceiis in der Hand haltend (Taf. X, l). 79 Q. Caecilius Metellus Pius stellt, wie schon bemerkt, wohl durch den Kopf der Pietas seinen Beinamen heraus, damit zugleich aber auch die ihm eigene Qualität, die ihm durch Rückberufung seines Vaters diesen Beinamen eingetragen hat. Cn. Pompeius Magnus zeigt auf der Vorderseite seiner Aurei aus dem Jahr 71 v.Chr. eine Personifikation Afrikas und die Auguralsymbole, auf der Rückseite sich selbst als Triumphator in der Quadriga mit Zweigen, Victoria und Kranz, begleitet von zwei Reitern, vielleicht seinem Sohn (Taf. X, 2). 80 Sullas Stiefsohn M. Aemilius Scaurus feiert seinen eigenen Erfolg über den Nabatäerkönig Aretas, indem er ihn kniend neben einem Dromedar mit Beischrift REX ARETAS auf der Vorderseite einer gemeinsam mit P. Plautius Hypsaeus veranstalteten Emission (Taf. X, 3) darstellt (58 v.Chr.), 81 während sich sein Kollege mit dem inschriftlichen Hinweis auf den Sieg eines angeblichen Vorfahren beschränkt: C HUPSAE COS Ρ REIVER CAPTU, d.h. C. (Plautius Decianus) Hypsaeus consul: Preivernum captum (im Jahre 329 ν. Chr.). 82 C. Iulius Caesar schließlich zeigt auf Denaren des Jahres 49 v.Chr. Pontifikalcmbleme, um sein Priesteramt herauszustellen (Taf. X, 4). 83 Auf sein wenn auch sehr bescheidenes Amt weist auch T. Carisius durch den Kopf der Juno Moneta (Taf. Χ, 5) - eben das des Münzmeisters (Rückseite: Münzwerkzeuge), 84 glanzvoller und anspruchsvoller auf Aurei und Denaren Q. Labienus Parthicus auf seine Stellung als Imperator (Taf. X, 6). 85 Groß ist daneben die Zahl der Münzen, die nicht auf die eigene Person des Münzmeisters und dessen Stellung oder Leistung deutet, sondern auf die Gruppe, der er sich zuordnet oder zugehörig fühlt, auf deren Errungenschaften, Erwartungen oder Versprechungen; ich nenne als Beispiel nur die Aurei des A. Manlius mit Sullas Statue (80 v. Chr.) (Taf. XI, l). 8 6 An die Stelle des Crawford 386-387 Nr. 367/1-5 (Denare und Aurei), 367/2: hier Taf. X, 1; zur Bedeutung dieser Prägungen in der Tradition s. D. Mannspcrger, ANRW Π, 1, 1974, 929-930. Crawford 412-413 Nr. 402/1 b (Aureus); für eine Datierung in das Jahr 61 v.Chr. argumentiert F. P. Rosati, Il Carrobbio 1, 1975, 319-325; dagegen tritt Ch. Battenberg, Pompeius und Caesar, Persönlichkeit und Programm in ihrer Münzpropaganda, Diss.phil. Marburg 1980, 5-8 wieder für 71 v.Chr. ein. Crawford 446-447 Nr. 422/1 b (Denar). Der Beiname Hypsaeus wird dem frühen Konsul auf der Münze zu Unrecht beigelegt; für die Beurteilung der Rückseite ist bedeutsam, daß sie die Eroberung von Privernum allein C. Plautius Decianus (cos. 329 v.Chr.) zuschreibt und damit dem anderen beteiligten Konsul, L. Aemilius Mamercinus Privemas, abspricht, s. F. Münzer, Artikel .Plautius 18' in: RE XX, 13. Crawford 461 Nr. 443/1 (Denar); zu Caesars Münzprägungen s. zuletzt Battenberg (s. A. 80). Crawford 475-476 Nr. 464/2 (Denar). Crawford 529 Nr. 524/1 (Aureus), vgl. auch 524/2 (Denar), dazu D. Metzler in: Studien zur Religion und Kultur Kleinasiens, Festschrift für F. K. Dömer, Leiden 1978 (= EPRO 66), 619-638 und, ohne diesen Aufsatz zu kennen. Ch. Hersh, S NR 59, 1980, 41-49. Crawford 397 Nr. 381/1 (Aureus; 381/lb: hier Taf. XI, 1).

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Bewußtseins der Verpflichtung gegenüber den Vorfahren und der res publica tritt wie schon zur Zeit des Marius (s.o. S. 48-49) die gegenüber einer Fraktion und deren Programm, also oft die Hoffnung auf die Zukunft an die Stelle der Genugtuung oder des Stolzes angesichts des Erreichten; und so finden sich oft genug Symbole für Glück und Erfolg auf den Münzen der letzten Jahrzehnte der Republik, aber auch Darstellungen etwa der Concordia (Taf. XI, 2), 87 die lehren, daß Ciceros Programm der concordia ordinum verbreiteten Neigungen entsprach, 88 während der spätere Caesarmörder (M. Iunius) Brutus spätestens 54 v.Chr. die Libertas auf die Vorderseite seiner Denare setzte, auf die Rückseite den Königsgegner L. Iunius Brutus zwischen zwei Liktoren (Taf. XI, 3); 89 es ist das Jahr nach der Erneuerung des ersten Triumvirats. Immer deutlicher beginnen die Münzprägungen anstatt von den traditionellen Vorstellungen von den politischen Tagesereignissen und den sie bestimmenden Persönlichkeiten bestimmt zu werden, wie die Münzen des A. Licinius Nerva mit dem Kopf der Fides zeigen (Taf. XI, 4) (etwa 47 v.Chr.). 90 Die Anhänger Caesars feiern dessen Schutzgöttin und Vorfahren (Venus; Aeneas) oder dessen Siege in Gallien (Taf. XI, 5.6) 91 oder dessen hervorragende Eigenschaften, z.B. dessen pietas (48 v.Chr.) (Taf. XII, l), 9 2 und zwar nicht als eine einmal bewährte Qualität, wie Q. Caecilius Metellus Pius die pietas für sich in Anspruch nahm (s.o. S. 53), sondern als Grundzug seines Wesens und seiner Politik.

Crawford 441 Nr. 415/1: Prägung des L. Acmilius Lepidus Paullus aus dem Jahre 6 2 v.Chr. (Denar), hier Taf. XI, 2; 453 Nr. 429/2: Prägung des P. Fonteius Capilo aus dem Jahre 55 v.Chr. (Denar); 457 Nr. 436/1: Prägung des L. Vinicius aus dem Jahre 52 v.Chr. (Denar). S. dazu die klassische Untersuchung von II. Strasburger, Concordia ordinum, Diss.phil. Frankfurt 1931 (= ders., Studien zur Alten Geschichte, Hildesheim, 1982, 1-82); zur Entwicklung und den verschiedenen Ausprägungen des concordia-Begrìffes s. Β. Levick in: R. A. G. Carson, C. M. Kraay (Hrsgg.), Scripta Nummaria Romana, Essays presented to Η. Sutherland, London 1978, 217-233. Crawford 455 Nr. 433/1 (Denar); seit seiner Adoption im Jahre 59 v.Chr. heißt M . Iunius Brutus Q. (Servilius) Caepio Brutus. Die Datierung ist stark umstritten; teilweise wird ein noch früheres Datum vertreten, vgl. z.B. Sydenham (s. Α. 22) Nr. 906-907 und die Übersicht bei T. R. S. Broughton, The Magistrates of the Roman Republic, N e w York 1952, II, 442; A. Alföldi, Caesariana, Bonn 1984, 155-156 tritt für 49 v.Chr. ein. Vgl. dazu nur Battenberg (s. A. 80) (mit weiterer Lit.). Crawford 469 Nr. 454/1, Denar, hier Taf. XI, 4. Vermutlich soll auf die Loyalität zu einem der großen Politiker angespielt werden, am ehesten zu Caesar, auf dessen Sieg wohl die Victoria auf den Quinaren und Sesterzen deuten soll (Nr. 454/3 und 4), ähnlich wie die Victoria auf den Denaren des L. Plautius Plancus (468 Nr. 453/1). Venus/Aeneas: Crawford 471 Nr. 458/1 (Denar, s. A. 65 und Taf. VII, 5). Siege: 461 Nr. 443/1 (Denar); 463-464 Nr. 448/1-3 (Denare; 448/2a: hier Taf. XI, 5); 466 Nr. 450/1 (Denar); 467 Nr. 452/1-5 (verschiedene Münzeinheiten; 452/1: Aureus, hier Taf. XI, 6); zu späteren Prägungen s. A. 94. Crawford 466 Nr. 450/2 (Denar, hier Taf. XII, 1); 464-465 und 736 zur möglichen Bedeutung von Nr. 449/4 (Denar, Bcischrifl LIBERTATIS); Nr. 453/1 (Denar) ist nicht leicht zu erklären: ebda. 468.

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Nach dem Tod des Pompeius Magnus erscheint dessen Bild auf Münzen, die für den jüngeren Cn. Pompeius geprägt worden sind (Taf. XII, 2); 93 damit will nicht ein junger Münzmeister die Aufmerksamkeit auf die Tradition seiner Familie lenken, wie es früher Brauch war. Vielmehr steht der einzelne als Symbol für eine politische Gruppe, und entsprechend sind die Rückseiten zu verstehen, auf denen die spanischen Städte einen pompeianischen Soldaten (oder Pompeius) begrüßen. Hier geht es weniger um Tradition und überlieferte virtutes als um Macht, und deswegen findet sich auf Parallelprägungen der Kopf der Roma. 9 4 Caesar und die Caesarianer dagegen heben weiterhin Sieg und Erfolg durch Victoria, durch Venus oder andere Symbole hervor (Taf. XII, 3.4; XIV,3). 95 Lollius Palicanus stellt auf seinen Denaren des Jahres 45 v.Chr. auf der Vorderseite Libertas, Honos und Felicitas in Parallelprägungen nebeneinander (Taf. XII, 5; XIII, l). 9 6 Es ist unwahrscheinlich, daß er damit teilweise auf verschiedene seiner Vorfahren, teilweise auf Caesars Erfolge anspielen will und nicht vielmehr auf die Zusammengehörigkeit von Freiheit aller (zugleich symbolisiert durch die Rostrcn auf der Rückseite), Ämterhierarchie (repräsentiert durch wenige Amtsträger und symbolisiert durch die sella curulis) und Segen der Götter (symbolisiert durch Victoria). Das sind die Grundpfeiler des Staatswesens, das Caesar wiedergcschaffcn hat oder das man von ihm erhofft. Viele Prägungen des Jahres 44 v.Chr. stellen Caesar selbst dar mit wechselnden Inschriften, die seine amtliche Stellung jeweils genau nennen (Taf. XII, 3.4); 9 7 daneben tritt der Tempel der d e m e n t i a , der Caesar prägenden Eigenschaft, auf Münzen, die wohl erst nach seinem Tod geprägt worden sind (Taf. XIII, 2). 9g Die Münzen der letzten Jahre der Republik ergeben keine neuen Gesichtspunkte: Marc Anton, i e p i d u s und Octavian erscheinen u.a. auf Parallelprägungen und unterstreichen durch Füllhorn (Taf. XIII, 5.6; XIV, 1)

Auch zu diesen Münzen ist auf Battenberg (s. A. 80) zu verweisen; s. im einzelnen Crawford 480 Nr. 470/la-d (Denar; 4 7 0 / l b : hier Taf. ΧΠ, 2), s. auch 479 Nr. 4 6 9 / l a - e (Denar); f ü r die älteren Prägungen des Pompeius und der Pompeianer s. 461-473 Nr. 444/1 (Denar); 446/1 (Denar); 447/1 (Denar); 459/1 (Denar); 460/1-4 (Aureus, Denare); 461/1 (Denar); 461/1-2 (Denar; Quinar). Crawford 479 Nr. 469/la-e (Denar). Crawford 471-495 Nr. 456/1 (Aureus); 457/1 (Denar); 458/1 (Denar, s. A. 65; 91). 463/1 und 3 - 6 (verschiedene Einheiten); 464/3-6 (verschiedene Einheiten); 465/3-8 (verschiedene Einheilen); 468/1-2 (Denare); 472/2-4 (verschiedene Einheiten); 474/67 (Quinar, Sesterz); 475/1-2 (Aureus; Halbaureus); 476/1 (Dupondius?); 480/1.3-18.2328 (verschiedene Einheiten; 480/4.6: hier Taf. XII, 3.4; 480/24: hier Taf. XIV, 3); 481/1 (Aureus); 482/1 (Denar); zu 482 Nr. 473/1-3 s. A. 96. Crawford 482 Nr. 473/1.2a.3 (Denare, Quinar); vgl. ergänzend B. Mannsperger, Chiron 4, 1974, 327-342. Crawford 487-495 Nr. 480/2-20 (Denare; 480/4.6: hier Taf. XII, 3-4), dazu A. Alföldi, Caesar in 44 v.Chr., Bd. 2, Das Zeugnis der Münzen, Bonn 1974; Dcrs. (s. A. 89). Crawford 491 Nr. 480/21 (Denar, hier Taf. XIII, 2) und 480/24 (Quinar), zur Datierung ebenda 493; frühere Darstellungen der d e m e n t i a auf Münzen gibt es nach meinem Urteil nicht, so auch Battenberg (s. A. 80) 41-42 (gegen A. Alföldi).

Tafel I

1 B r o n z e b a r r e n ( C r a w f o r d N r . 9/1 i

2 Sextans ( C r a w f o r d N r . 39/3)

3 D i d r a c h m e ( C r a w f o r d N r . 13/1)

4 D i d r a c h m e ( C r a w f o r d N r . 28/3)

5 D i d r a c h m e ( C r a w f o r d N r . 20/1)

Tafel Π

1 Stater (Crawford N r . 29/1)

4 Denar (Crawford N r . 75/la)

2 Victoriatus (Crawford Nr. 44/1)

5 Denar (Crawford N r . 141/1)

3 Denar (Crawford N r . 44/5)

b Denar des C. Antistius (Crawford N r . 219/le)

Tafel ΙΠ

1 D e n a r ill's Sex. P o m p e i u s ( C r a w f o r d N r . 235 Κ i

2 Denai des Sex. lulius Caesar ( C r a w f o r d N r . 258 1)

3 D e n a r des Q . Marcius Philippus ( C r a w f o r d N r . 259.1)

4 D e n a r des C . Cassius L o n g i n u s ( C r a w f o r d N r . 266/1)

5 D e n a r des M. Porcins I.aeca ( C r a w f o r d N r . 270.1)

6 D e n a r des C. Minueius A u g u r i n u s ( C r a w f o r d N r . 242/1)

Tafel IV

1 D e n a r i u s serratus des L. C o r n e l i u s Scipio A s i a t i c i » ( C r a w f o r d N r . 3 1 1 / l b ) ( C r a w f o r d N r . 334/1)

2 D e n a r des L. P o m p o n i u s M o

3 D e n a r des L. M a n l i u s T o r q u a t u s ( C r a w f o r d N r . 295/1)

4 D e n a r des P. P o r c i u s Laeca ( C r a w f o r d N r . 301/1)

5 D e n a r des A. P o s t u m i u s A l b i n u s ( C r a w f o r d N r . 335/9)

6 D e n a r des Μ η . Acmilius L e p i d u s ( C r a w f o r d N r . 291/1)

Tafel V

Denar des L . C a s s i u s C a e c i a n u s ( C r a w f o r d N r . 3 2 1 / 1 )

2 D e n a r des M. H e r e n m u s ( C r a w f o r d N r . 30t

3 D e n a r des M . F u r i u s Philus ( C r a w f o r d N r . 2 8 1 / 1 )

4 D e n a r des C . F u n d a n i u s ( C r a w f o r d N r . 3 2 6 / 1 )

5 Q u i n a r des T . C l o u l i u s ( C l o e l i u s ) ( C r a w f o r d N r . 3 3 2 / ! a j

6 Q u i n a r des C . E g n a t u l e i u s ( C r a w f o r d N r . 3 3 3 / 1 )

Tafel VI

1 D e n a r des T. Didius ( C r a w f o r d N r . 294/1)

2 D e n a r des L. Valerius Flaccus ( C r a w f o r d N r . 306/1)

3 Denar

des L. Iulius ( C r a w f o r d N r . 323/1)

4 D e n a r des L. C a l p u r n i u s Piso C a e s o n i n u s (?) und des Q . Servilius Caepio ( C r a w f o r d N r . 330/1 a) 3 D e n a r des D . Iunius Silanus ( C r a w f o r d N r . 337/1 b) 6 D e n a r des C. Vibius Pansa ( C r a w f o r d N r . 342/1)

Tafel ΥΠ

1 D e n a r i u s serratus des L. R o s c i u s F a b a t u s ( C r a w f o r d N r . 4 1 2 / 1 ) N r . 410/7c)

2 D e n a r des Q . P o m p o n i u s M u s a ( C r a w f o r d

3 D e n a r des Q . P o m p o n i u s M u s a ( C r a w f o r d N r . 410/8)

4 D e n a r des Q . P o m p o n i u s M u s a ( C r a w f o r d N r . 4 1 0 / 9 b )

5 D e n a r des C . Iulius C a e s a r ( C r a w f o r d N r . 458/1)

6 D e n a r i u s serratus des C . M a m i l i u s L i m e t a n u s ( C r a w f o r d N r . 362/1)

Tafel VIH

1 D e n a r des L. M a r c i u s P h i l i p p u s ( C r a w f o r d N r . 425/1) Libo (Crawford N r . 417/la)

2 D e n a r des L. A e m i l i u s Paullus u n d des L. Scribonius

3 D e n a r des M . A e m i l i u s L e p i d u s ( C r a w f o r d N r . 419 1a)

4 D e n a r des M . A e m i l i u s L e p i d u s ( C r a w f o r d N r . 419/2)

5 D e n a r des Q . Cassius L o n g i n u s ( C r a w f o r d N r . 42S/2)

6 D e n a r des C . M e m m i u s ( C r a w f o r d N r . 427/2)

Tafel IX

1 D e n a r des P . C o r n e l i u s L e n t u l u s M a r c e l l i n u s (?) ( C r a w f o r d N r . 439/1) ( C r a w f o r d N r . 434/1)

4 D e n a r des Q . Caecilius Metellus Pius ( C r a w f o r d N r . 374/1) N r . 426/1)

2 D e n a r des Q . P o m p e i u s R u f u s

3 D e n a r des C . M a r c i u s C e n s o r i n u s ( C r a w f o r d N r . 346 l d )

5 D e n a r des F a u s t u s C o r n e l i u s Sulla ( C r a w f o r d

6 D e n a r des P. F o n t e i u s C a p i t o ( C r a w f o r d N r . 429/2a)

Tafel Χ

1 A u r e u s des L, C o r n e l i u s Sulla u n d des L. M a n l i u s T o r q u a t u s ( C r a w f o r d N r . 367/2) Pompeius Magnus (Crawford N r . 4 0 2 / t b )

2 A u r e u s des

Cn.

3 D e n a r des M . A e m i l i u s S c a u r u s u n d des P. P l a u t i u s H y p s a e u s (Crawford Nr. 422/lb)

4 D e n a r des C . Iulius C a e s a r ( C r a w f o r d N r . 443/1)

5 D e n a r des T . Carisius ( C r a w f o r d N r . 464/2)

des Q . L a b i e n u s P a r t h i c u s ( C r a w f o r d N r . 524/1)

6 Aureus

Tafel XI

1 Aureus des A. Manlius (Crawford Nr. 381/lb) 2 Denar des L. Aemilius Lepidus Paullus (Crawford Nr. 415/1) 3 Denar des M. Iunius Brutus (Q. Servilius Caepio Brutus) (Crawford N r . 433/1)

4 Denar des A. Licinius Nerva (Crawford N r . 454/1) 5 Denar des L. Hostilius Saserna (Crawford Nr. 448/2a) 6 Aureus des C. Iulius Caesar (Crawford Nr. 452/1)

Tafel ΧΠ

1 Denar des D. Iunius Brutus Albinus (Crawford N r . 450/2) 2 Denar des Cn. Pompeius Magnus und des M. Minatius Sabinus (Crawford N r . 470/1 b) 3 Denar des L. Aemilius Buca (Crawford N r . 480/4)

4 Denar des L. Aemilius Buca (Crawford N r . 480/6) 5 Denar des Lollius Palicanus (Crawford N r . 473/1) 6 Denar des Lollius Palicanus (Crawford Nr. 473/2a)

Tafel X m

1 Quinar des Lollius Palicanus (Crawford N r . 473/3) 2 Denar des P. Sepullius Macer (Crawford N r . 480/21 3 Denar des L. Mussidius Longus (Crawford N r . 494/41)

4 Denar des C. Cassius Longinus und des P. Cornelius Lentulus Spinther (Crawford Nr. 500/5) 5 Aureus des L. Mussidius Longus (Crawford N r . 494/13) 6 Aureus des L. Mussidius Longus (Crawford Nr. 494/14)

Tafel XIV

1 Aureus des L. Mussidius Longus (Crawford N r . 494/15) 2 Denar des M. Iunius Brutus und des L. Plaetorius Cestianus (Crawford N r . 508/3) 3 Quinar des L. Aemilius Buca (Crawford N r . 480/24)

4 Denarius serratus des Μη. Aquillius (Crawford N r . 401/1) 5 Denarius serratus des Q . Fufius Calenus und des P. Mucius Scaevola C o r d u s (?) (Crawford N r . 403/1) 6 Aureus des M. Antonius (Crawford N r . 516/4)

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und Concordia (Taf. XIII, 3) das Bemühen um Frieden und Zusammenarbeit. 99 Ihre Münzen sind also ebenso von der Tagespolitik bestimmt wie die der Caesarmörder mit der Libertas (Taf. XIII, 4) 100 oder dem Bild des Brutus und den Dolchen zwischen der Freiheitsmünze und dem ausdrücklichen Hinweis auf die Iden des März (Taf. XIV, 2). 101 Blickt man auf diesen letzten Abschnitt der republikanischen Münzprägungen zurück, so fällt zugleich die Vielfalt der Darstellungen und die Einheitlichkeit der Tendenzen auf. Bilder, die nur auf den Namen oder den Herkunftsort eines Münzmeisters verweisen, treten zurück. Dagegen nehmen die Darstellungen bestimmter Leistungen oder Errungenschaften zu; vor allem mehren sich die Münzbilder, die auf die eigene Zeit Bezug nehmen, die .Vorfahren' der eigenen Zeit, also die eigenen Väter, oder die Erfolge, Erwartungen oder Absichten der Gruppe, der sich der einzelne zugehörig fühlt, oder der einzelnen Persönlichkeit, die er unterstützt. Schließlich rücken die Darstellungen in den Vordergrund, die auf das eigene Amt oder die eigene Leistung des Münzmeisters verweisen, zumal neben den jungen Münzmeistern seit der Zeit Sullas unter bestimmten Umständen auch die großen Politiker selbst Münzen schlagen. Am Ende der Entwicklung steht das eigene Bild des Prägenden, das wie das eines hellenistischen Herrschers die Vorderseite der Münzen ziert. Wie sehr die Person des für die Prägung Verantwortlichen in den Vordergrund tritt, zeigen die Münzen, auf denen Caesar sogar sein eigenes Alter angibt. 102 Anstelle der Tradition der Familie und der durch sie repräsentierten Werte, verbunden mit dem Dank an die Götter, wird ein einzelner und dessen Erfolg herausgestellt; an die Stelle der Verpflichtung gegenüber der gens tritt die Loyalität zur politischen Gruppe und schließlich der aus der eigenen Leistung abgeleitete persönliche Anspruch: Die Virtus steht nicht mehr allein im Dienst der res publica, d.h. des öffentlichen Interesses, sondern auch des eigenen. Ehe die hier vorgelegten Beobachtungen zusammenfassend ausgewertet werden, soll noch einmal rasch gefragt werden, wann und wie oft die römischen Münzen republikanischer Zeit .Abstraktionen' oder .Personifikationen' abbilden,

Vgl. nur Crawford 501-517 Nr. 492/1-2 (Aurei); 493/la-c (Aureus); 495/1-2 (Aureus; Denar); 494/1-19 (Aurei; Denare), mit Füllhorn auf der Rückseite: 494/4-5.13-15 (hier Taf. XIII, 5.6; XIV.l), 32-33, femer 39; mit zwei Händen: 494/10-12. 41 (hier Taf. ΧΙΠ, 3, Vorderseite: Concordia wie 494/42, doit Venus Cloacina auf der Rückseite). Zu diesen Prägungen s. Ph. V. Hill, NAC 4, 1975, 157-207; P. Wallmann, Münzpropaganda in den Anfängen des zweiten Triumvirats (43/42 v.Chr.), Bochum 1977, 21-27; L. Morawiecki, Political Propaganda in the Coinage of the Late Roman Republic (4443 B.C.), Breslau 1983. Crawford 513-517 Nr. 498/1 (Aureus); 499/1 (Aureus); 500/2-5 (Aurei; Denare; 500/5 hier Taf. XIII, 4); 501/1 (Denar); 502/1-3 (verschiedene Einheiten); 505/1-5 (Aurei; Denare); 506/3 (Quinar). Crawford 517-518 Nr. 506/1 (Aureus; Rückseite M. Brutus, Vorderseite L. Iunius Brutus); 507/1 (Aureus; Vorderseite M. Brutus); 508/3 (Denar; Vorderseite M. Brutus, Rückseite pilleus zwischen Dolchcn, hier Taf. XIV, 2; zum pilleus s. A. 26). Vgl. Crawford 92 und 467-468 Nr. 452/1-5; zu Münzen Marc Antons ebda. 499 Nr. 489/5 und 6.

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die Wertvorstellungen repräsentieren. Die Zahl ist nicht groß, zumal sich viele weibliche und auch einige männliche Köpfe der eindeutigen Identifikation entziehen. Von denen, die bleiben, beziehen sich die meisten auf das Leben der Gemeinschaft wie Pax (Taf. XIV, 3), Concordia oder Salus, Libertas, Fortuna populi Romani und wohl auch Bonus Eventus. 103 Von den übrigen verdankt Pietas ihre Darstellung bisweilen dem cognomen Pius, das seinerseits allerdings eine besonders geschätzte Eigenschaft bezeichnet 1 0 4 Die kleine Zahl lehrt, daß solche Abbildungen eben nicht oft gewählt werden; und wo sie gewählt werden, zeigen sie jene Eigenschaften, die ihren Ausdruck auch in anderen Münzbildem finden: Zuerst Pietas, die auf Münzen des Jahres 108 v.Chr. erscheint, 105 dann Virtus wohl im Jahr 71 v.Chr. und etwa gleichzeitig Honos (Taf. XIV, 4.5). 106 Die nächsten Denare, die die Pietas zeigen, 48 v.Chr., 107 hat man mit der Propaganda Caesars und seinen Erfolgen in Verbindung gebracht, während die Fides (wohl aus dem Jahre 47 v.Chr.) zwar nicht sicher zu deuten ist, 108 aber jedenfalls eine jener Qualitäten bezeichnet, die nicht nur die Römer allgemein seit alters für sich in Anspruch nehmen, sondern die in den Auseinandersetzungen der eigenen Zeit für jeden einzelnen, für den politisch Einflußreichen wie für den Abhängigen, besondere Bedeutung gewinnt: die Zuverlässigkeit. In den letzten Jahren der Republik findet sich dann noch, wie angedeutet, die Zusammenstellung von Libertas, Honos und Felicitas, deren wechselseitige Bczogcnhcit damit angedeutet wird (Taf. XIV, 6). Pietas erscheint später auch auf Münzen des Marc Anton. 109 Unter den Prägungen des Jahres 44 v.Chr. weist eine auf Caesars Absicht, einen Tempel für die dementia zu bauen (s.o. S. 56), eine Eigenschaft, die vorher auf den Münzen keine Rolle spielte. Der geplante Tempel gibt Anlaß zu der

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Zu Pax s. Crawford 491 Nr. 480/24 (Quinar, hier Taf. XIV, 3); zu Concordia 441 Nr. 415/1 (Denar); 442 Nr. 417/la-b (Dcnar); 453 Nr. 429/2a-b (Denar); 457 Nr. 436/1 (Denar); 508 Nr. 494/41-42 (Denare), s. dazu ergänzend Α. 99; zu Salus 337-338 Nr. 337/2a-f (Denar); 461 Nr. 442/1-b (Denar); zu Libertas s. 452 Nr. 428/2 (Denar); 455456 Nr. 433/1 (Dcnar); 465 Nr. 449/4 (Dcnar; vgl. ο. Α. 92); 482-483 Nr. 473/1 (Denar; s.o. A. 96 und Taf. XII, 5); 513 Nr. 498/1 (Aureus); 499/1 (Aureus); 514 Nr. 500/2-5 (Aurei; Denare); 514-515 Nr. 501/1 (Denar); 517 Nr. 506/3 (Quinar), s. auch 515-517 Nr. 502/1-3 und 505/1-5 (verschiedene Einheiten ohne Beischrift); vgl. femer zu 290 Nr. 266/1 o. A. 26, zu 293 Nr. 270 o. A. 27, zu 405-407 Nr. 391/3 (Denar) und 392/1 (Denar) mit pilleus o. A. 26; zur Darstellung der Fortuna populi Romani 460 Nr. 440/1 (Denar); 522 Nr. 513/1 (Aureus); alle auf anderen Münzen vermuteten Darstellungen sind unsicher; zu Bonus Eventus 441-442 Nr. 416/la-c. Zu den Personifikationen, Allegorien und Symbolen allgemein s. Hölscher (s. A. 26) 273-279. Crawford 390 Nr. 374/1-2 (Denare; die Deutung ist wahrscheinlich, wenn auch nicht sicher); 486 Nr. 477/1-3 (Denare). Crawford 317-318 Nr. 308/1; vgl. o. S. 47. Crawford 412-413 Nr. 401/1 (Denarius serralus·, hier Taf. XIV, 4) und 403/1 (Denarius serratus, hier Taf. XIV, 5); zu Tempel und Münzen s. L. Richardson, AJA 82, 1978, 240-246, bes. 245-246. Crawford 466 Nr. 450/2 (Dcnar). dazu Liegle (s. A. 3) 78 (= 249-250). S.o. A. 90. Crawford 524 Nr. 516/1-5 (Aurei; Denare; 516/4: hier Taf. XIV, 6).

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Frage, wieweit die anderen .Abstraktionen', die auf Münzen begegnen, kultisch verehrt wurden, also Tempel besaßen. Die Antwort lautet, daß ihnen allen schon längst Tempel geweiht waren, ehe sie auf der Vorderseite von Münzen erschienen: 1 1 0 Es handelte sich also bei der Pietas oder bei der Virtus nicht um beliebige Abstraktionen, die man statt einer Gottheit auf die Münzen setzte, sondern stets um Wesen, denen man längst Verehrung zollte und die eben darum, weil sie einen Kult hatten, ganz natürlich auch auf der Vorderseite einer Münze abgebildet werden konnten. Abschließend sei versucht, ein Ergebnis dieses Überblicks festzuhalten, bei dem, wenn auch nicht alle Münzen vorgeführt werden konnten, doch alle berücksichtigt worden sind; dabei ging es darum, den Blick nicht auf wenige interessante Stücke zu konzentrieren, sondern aus der Gesamtheit des Materials die vorherrschenden Tendenzen abzulesen. Früh zeigen die Münzen Bilder von Göttern und Symbole, die auf Glück und Erfolg deuten, früh treten auch konkrete Darstellungen hinzu, die römisches Gepräge tragen. Bald mehren sich die individuellen Züge, durch die ein Münzmeister an die Leistungen einer gens und die von ihr erreichten Ämter erinnert und damit seiner pietas ihr gegenüber Ausdruck verleiht; daneben wird auf die Hilfe der Götter verwiesen, die man erbittet, derer man sich durch seine Taten würdig zu erweisen sucht und für die man dankt: eine andere Form der pietas. Virtus und honos, verbunden mit pietas erga deos, sind Grundlagen der felicitas, wie sie Cicero in der Rede für Pompeius* Oberbefehl skizziert; 111 auf ihnen allen ruht die auetoritas des einzelnen und seine fama ebenso wie die gloria der Familie, die gloria, die gerade den Jüngeren, etwa einen Münzmeister, zu empfehlen geeignet ist. In den letzten Dekaden der Republik lenken die Münzmeister den Blick auf die eigene Zeit, auf Leistungen von Zeitgenossen, auf die Verbundenheit mit einem einflußreichen Politiker oder schließlich auf das eigene Amt, die eigene Stellung, die eigene Person. Zu den vorher genannten Qualitäten tritt fides, d i e Zuverlässigkeit, die sich gegenüber dem Gleichgestellten bewähren soll, aber auch gegenüber dem Abhängigen, der sein Vertrauen in den Höhergestellten setzt. Spiegeln sich schon hier die Wandlungen, die das Ende der Republik herbeiführen, so werden sie vollends deutlich in dem Element, das Caesar hinzufügt, der dementia. Sie prägte früher das Verhalten des römischen Volkes gegenüber einem besiegten Volk, vielleicht repräsentiert durch einen Imperator; jetzt wird sie zur Eigenschaft des Siegers im Bürgerkrieg, des Herrschers. Die unermeßliche Fülle der Bilder, die die römischen Münzmeister für die Darstellung der Großtaten ihrer Vorfahren oder Zeitgenossen gestalteten, sind nicht so ausgewählt oder durch Beischriften erläutert, daß eine große Zahl von Tugenden und Eigenschaften erkennbar wird wie etwa in den Reden Ciceros, wo man honestas und gravitas, iustitia und liberalitas, magnitudo animi und pudor, continentia und temperantia, mansuetudo und humanitas findet, um zu schwei-

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Vgl. die Übersicht bei Latte (s. Λ. 40) 415-418. Vgl. Cie. Manil. 47-48, zur auetoritas 43-46, s. dazu C. J. Classen, Recht Rhetorik Politik, Darmstadt 1985, 292-294.

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gen von eher privaten oder persönlichen Qualitäten wie industria oder labor. Vielmehr beschränken sich die Münzen auf jene kleine Gruppe, die auch auf Inschriften und unter den Beinamen begegnet, nur daß sogar eine dort vorkommende Eigenschaft fehlt, die sapientia. Das muß besonders auffallen, da sie in der Leichenrede auf Caecilius Metellus und mehrfach in den Scipionenelogien vorkommt112 und ebenso von Ennius besonders gepriesen wird,113 ihr angeblich sogar durch die Errichtung einer Statue für den sapientissimus (das ist Pythagoras) neben dem doctissimus Graeciae gentis besondere Anerkennung gezollt wird.114 Doch hat sie eben keinen Tempel, und damit bestätigt sich, daß die Auswahl der Münzbilder nicht durch Willkür bestimmt ist. Wie nur wenige Leistungen geschildert werden, eben jene, die von virtus und pietas zeugen und auch in den frühen Grabinschriften gerühmt werden, nämlich militärische Siege, Eroberungen, einzelne Heldentaten, Tempelweihungen oder andere öffentliche Bauten und die Verwaltung einzelner Ämter, so werden auch nur bestimmte Gottheiten dargestellt. Die Römer der Republik setzen keine abstrakten Personifikationen auf ihre Münzen; neben Götter wie Mars und Minerva, Apollo und die Dioskuren, Janus und Saturn, Herkules und Roma treten Victoria und Fortuna, die den Sieg verleihen, dazu Pietas und Virtus, denen jene Eigenschaften verdankt werden, die man besonders hoch schätzt und die in fast allen Münzbildcm unausgesprochen ihren Ausdruck finden. So erweist sich das Zeugnis der Münzen für die Frage nach den virtutes als aufschlußreich, wenn auch vielleicht als enttäuschend, weil in ,personifizierter' Gestalt nur sehr wenige Eigenschaften erscheinen, und zwar allein solche, die einen Tempel haben. Neben dieser Erkenntnis lehren die Münzen, welch ein hoher Wert der pietas erga deos et erga maiores und der virtus zugebilligt wird, und eben nur diesen beiden, auf die in ihren verschiedenen Erscheinungsformen alles zurückgeführt wird, was als erstrebenswert oder lobenswert, also als vorbildlich gilt. Darüber hinaus läßt die Geschichte der Münzprägungen einerseits den Wandel der Wertmaßstäbe erkennbar werden, den Wandel in der Beurteilung der Vorfahren, der Verpflichtung gegenüber dem Staat und der politischen Gruppe, gegenüber der eigenen Person und der eigenen Leistung, einen Wandel, der sich weitgehend unabhängig von griechischen Einflüssen vollzieht, die den Wandel der religiösen Vorstellungen und vollends die Entwicklung der literarischen Formen der Römer bestimmen. Andererseits läßt diese Geschichte deutlich werden, daß ungeachtet dieses Wandels und ungeachtet der Vielfalt der Darstellungen im Bereich der Münzen, für den die Römer gleichsam eine eigene Sprache erfanden, zwei Komponenten als Grundpfeiler herausgestellt werden, auf denen das Leben ruht, zwei Eigenschaften, an deren Erwerb und Pflege sich das Leben ori-

Vgl. Oralomm Romanonim Fragmenta, Ed. II. Malcovali, 2 Bände, Turin 1976 2 -1979, 110-11 (nr. 6) frg. 2 (= Plin. nat. 7, 139-140); ILS I 1-3 Nr. 1 und 7. Enn. ann. 268-273 (Vahlcn = 248-253 Skulsch); auch 181 (Vahlen = 198 Skutsch: sapientipolenles). Vgl. Plin. nat. 34, 26; Plut. Num. 8, 20.

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entieren soll: virtus und pietas, pietas und virtus, die sich wechselseitig bedingen. Sie haben die Erziehung, das Denken und Handeln derer bestimmt, die das Imperium Romanum geschaffen haben, und sie sind, unabhängig von allen Wandlungen und Neuerungen, die wesentlichen Stützen der römischen Wertewelt geblieben und haben sie bleiben können, weil die virtus als „competitive value", vom Konkurrenzstreben geprägt, gleichsam gezügelt wird durch die pietas, die als „cooperative value" das Streben des einzelnen einem höheren Interesse unterordnet. 1 15 Sie haben ihre zentrale Bedeutung in so hohem Maße bewahren können, daß virtus und pietas auf dem Augustus verliehenen clupeus aureus die Gruppe der vier Tugenden einrahmen. 116 Doch das führt an die Schwelle der Kaiserzeit, die, wenn auch erst allmählich, eine kaum überschaubare Fülle von Tugenden auf ihre Münzen setzt, eine Fülle, die die während der Republik geübte Beschränkung um so bedeutsamer erscheinen läßL117

Zu diesen Termini s. A. W. H. Adkins, Merit and Responsibility, Oxford 1960, 6-7, dessen Thesen und Resultaten ich nicht zustimmen kann. Mon. Ancyr. 34, 2; eine Marmorkopie des Schildes, in Arles gefunden, befindet sich dort im Museum, abgebildet z.B. bei St. Weinstock, Divus Julius, Oxford 1971, Taf. 18. Quellennachweis der Abbildungen: Taf. I, 1; II. 4.5; DI, 2-5; IV. 3.5; V. 1.3-5; X, 3; X, 2; XIII,. 1.3.5.6; XIV, 3: Brit. Mus. Dep. of Coins and Medals. - Taf. I. 2-5; II. 1-3.6; ΙΠ, 1.6; IX. 1.2.4.6; V, 2.6; VI. 1-6; V n , 1-6; VOI, 1-5; X, 1.2.4-6; X, 1.3-6; XI. 2-6; ΧΠ, 1-6; ΧΙΠ, 2.4; XIV, 1.2.4-6: Fotoarchiv, Seminar für Gricch. und Rom. Geschichte der Univ. Frankfurt. Taf. I, 1: Paris, Bibl. Nat. - Taf. VIII, 6: Arch. Inst, der Univ. Göttingen. Vgl. jetzt auch Gymnasium 95, 1988, 289-302 und Arelos 25. 1991, 17-39.

Ennius: ein Fremder in Rom Wer sich den Anfängen der römischen Literatur zuwendet, wird rasch der mißlichen Tatsache gewahr, daß er es entweder nicht mit Literatur zu tun hat oder mit Literatur, die nicht von Römern stammt. Nimmt man sich etwa die Zwölf Tafeln vor, sollte man den Ursprung, das Wesen und die Funktion dieser Texte nicht außer acht lassen, die eben nicht mit den gleichen Maßstäben gemessen werden dürfen wie die frühesten erhaltenen Zeugnisse der griechischen Literatur, die homerischen Epen. Die ältesten Dichtungen in lateinischer Sprache dagegen sind nicht von Römern verfaßt - sieht man von den Liedern der Salier und Arvalbrüder und dergleichen ab - sondern von dem Griechen Livius Andronicus aus Tarent, dem Umbrer Plautus aus Sarsina oder dem Campaner Cn. Naevius, für die jeweils das Griechische oder das Umbrische oder das Oskische als Muttersprache anzusetzen sind. Der einzige Römer der Frühzeit, von dessen literarischer Tätigkeit man sich heute noch eine gewisse Vorstellung machen kann, Fabius Pictor, schrieb sein Geschichtswerk in griechischer Sprache. Ennius stammte aus Rudiae, wie er selbst betonte, und glaubte, seine Familie auf den König Messapus zurückführen zu können.1 Jedenfalls war nicht das Lateinische seine Muttersprache, sondern das Messapische, zu dem später das Griechische, das Oskische und das Lateinische hinzutraten, wie seine eigene Bemerkung tria corda habere sese andeutet, wenn Gellius' Deutung zutrifft 2 Wichtiger ist ohne Zweifel, daß Ennius selbst später nicht nur mit Stolz hervorgehoben zu haben scheint, daß er Römer war, sondern daß er Römer geworden war (ann. frg. 525 Skutsch), also ursprünglich aus einer anderen Welt stammte und mehr als nur die lateinische Sprache kannte - und das heißt auch, mehr als nur die römische Tradition. Einzelheiten über Ennius' Jugend sind nicht überliefert, und es erscheint wenig sinnvoll, darüber zu spekulieren. Unzweifelhaft und grundsätzlich wichtig ist, daß seine Erziehung, die Ausbildung, die er zunächst in der Schule und dann wohl auch beim Rhetor in Brindisi oder in Tarent genoß, griechisch geprägt Ann. frg. 525 Skutsch und Serv. Aen. 7, 691. Für Ennius' Werke sind folgende Ausgaben benutzt: Ennianae Pocsis Reliquiae, Ed. I. Vahlen, Leipzig 1903 2 ; Remains of Old Latin I, Ed. Ε. H. Wanminglon, Cambridge Mass. 1956, 1-464; The Tragedies of Ennius, Ed. H. D. Jocelyn, Cambridge 1967; The Annals of Q. Ennius, Ed. O. Skutsch, Oxford 1985. Zu seinem Leben und seinen Selbstzeugnissen s. W. Suerbaum, Untersuchungen zur Selbstdarstcllung älterer römischer Dichter, Livius Andronicus Naevius Ennius, Hildesheim 1968 (= Spudasmata 19); E. Badian, in: O. Skutsch et al. (Hrsgg.), Ennius, Vandoeuvres-Genève 1972 (= Entretiens Fondation Hardt 17), 149195. 17, 17, 1 Quintus Ennius tria corda habere sese dicebat, quod loqui Graece et Osee et Latine sciret.

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war, und das heißt, daß er - mag auch das Lateinische schon in seiner Jugend als Amtssprache in seine Heimat cingedrungen sein - die Römer und deren Lebensart und Tradition als etwas Fremdes anzusehen und zu erleben gewohnt war. Es läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, wann und warum Ennius, der bei Ausbruch des zweiten punischen Krieges einundzwanzig Jahre alt war, sich gegen Hannibal und für die Römer entschied. Vielleicht haben sogar Kämpfe zwischen Römern und Karthagern und das unmittelbare Erleben des Krieges Ennius dazu geführt, entschiedener Partei zu ergreifen, als es in friedlichen Zeiten notwendig gewesen wäre. Jedenfalls berichtet Nepos, 3 daß Cato Ennius nach Ende seiner Quästur aus Sardinien nach Rom brachte, allerdings ohne anzudeuten, ob Ennius als einer der 50.000 Infanteristen der Messapier und Iapyger diente (Polyb. 2 , 2 4 , 1 1 ) , oder wie Cato, dessen Abneigung gegen die griechische Kultur vor allem in die letzten Lebensjahre gehört, auf den griechisch gebildeten Messapier aufmerksam wurde. Trotzdem braucht man nicht die ganze Geschichte als Fiktion zu verwerfen, 4 zumal Ennius Cato in den Annalen ausdrücklich in den Himmel gehoben zu haben scheint (Cie. Arch. 22 (= ann. sed. inc. XXXVI)), und wird nur der Behauptung eines späten Autors Skepsis entgegenbringen, daß Ennius Cato während der Prätur in Sardinien Graecis litteris unterrichtet habe; sie ist wohl aus der Kenntnis entwickelt, daß Ennius in Rom Unterricht utraque lingua erteilte, wie Sueton berichtet (Vir. ill. 47,1; Suet, gram m. 1). In Rom brachte Ennius die zweite Hälfte seines Lebens zu, sofern er nicht M. Fulvius Nobilior (cos. 189 v. Chr.) auf dessen Feldzug nach Ätolien begleitete, in Rom verfaßte Ennius seine Werke, um deren Bedeutung es hier geht, ebenso wie Livius Andronicus, Naevius und Plautus in Rom und für die Römer gedichtet hatten und in einer Zeit dichtctcn, in der die Römer nur mit einiger Mühe ihre Vorherrschaft auf der italischen Halbinsel gegen Hannibal behaupten konnten und Rom sich zugleich zum kulturellen Mittelpunkt entwickelte - denn von Literatur in anderen Städten, sieht man von den griechischen Städten des Südens ab, gibt es keine Spur. Livius Andronicus war zunächst Lehrer gewesen, und aus dem Bedürfnis des Unterrichts heraus entstand seine Übersetzung der Odyssee, die Odusia. Man darf vermuten, daß die Freude am Erfolg beim Umsetzen des großen griechischen Epos ihn ermutigte, auch griechische Tragödien und Komödien einer breiten Öffentlichkeit in Rom zugänglich zu machen. Naevius ging auf diesem Weg weiter, begnügte sich aber nicht damit, griechische Vorlagen, Komödien und Tragödien, ins Lateinische umzusetzen; er schuf als erster ein römisches Epos,

Vit. Cal. 1, 4; zum Geburtsjahr s. Gell. 17, 21, 43 (= Varrò frg. 61 Funaioli = ann. sed. inc. LXX Skulsch). So Badian (s. A. 1) 155-163. Daß P. Cornelius Scipio Africanus Maior Cato beauftragt, den schon als Dichter bekannten Ennius nach Rom zu bringen, vermutet U. Scholz, in: J. Adamielz (Hrsg.), Die römische Satire, Darmstadt 1986, 25-26, der zugleich bemerkt (27), daß „der vor dem Jahre 204 nur in Süditalien und Sardinien nachweisbare Ennius schon lateinische Werke verfaßt haben soll, ist im Bannkreis der Magna Graeci kaum vorstellbar."

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das Bellum Poenicum, und römische Dramen, praetextae (praetextatae: Romulus und Clastidium) und togatae. Und Plautus widmete sich ganz der Komödie, deren Möglichkeiten er mit der ihm eigenen Begabung ausbildete und ausgestaltete. Das ist der Hintergrund, auf dem Ennius' Werk und Ennius' Leistung zu würdigen sind, die sich durch Vielseitigkeit, Einfühlungsvermögen und Einfallsreichtum auszeichnen. Die Vielseitigkeit zeigt sich unmittelbar darin, daß er nicht nur Tragödien, Komödien und ein großes Epos dichtete, sondern außerdem die Hedyphagetica und Saturae verfaßte, ferner kleinere Dichtungen (Protrepticus, Epicharmus, Sota und Epigramme) und eine philosophisch orientierte Prosaschrift. Da sich Ennius' Werke nicht alle mit Sicherheit chronologisch ordnen lassen und von seinen Komödien nicht viel erhalten geblieben ist, 5 wenden wir uns zuerst seinen Tragödien zu, die er wohl schon früh neben seinem Unterricht zu dichten begann, da mit Theaterstücken auch Geld zu verdienen war. Um sich zu verdeutlichen, was Ennius bei der Umsetzung der griechischen Tragödien leistete, muß man die Fragmente mit der Vorlage vergleichen. Seine Medea läßt Ennius mit Worten beginnen, die im Anschluß an Euripides formuliert sind und doch deutlich abweichen: utinam ne in nemore Pelio securibus caesa accidisset abiegna ad lerram trabes, neue inde nauis inchoandi exordium cepisset, quae nunc nominaiur nomine Argo, quia Argiui in ea delecti uiri uecti petebant pellem inauratam arietis Colchis, imperio regis Peliae, per dolum. nam numquam era errans mea domo efferet pedem Medea animo aegro amore saeuo saucia (208-216 Jocelyn). Bei Euripides6 heißt es (1-8): Fragmente: Seen. frg. 372-375 Vahlcn; frg. 381-384 Warmington; zwei weitere Fragmente bespricht H. D. Jocelyn, in: Λ NRW I 2, Berlin 1972, 1002-1003 (Isid. orig. 1, 26, 2, meist Nacvius zugeschrieben, und Fulg. serm. ant. 19, s. dazu auch S. Timpanaro, Contributi di filologia e di storia della lingua latina, Rom 1978, 666-667); zu den Fragmenten vgl. J. Wright, Dancing in Chains, T h e Stylistic Unity of the Comoedia Palliata, PMAAR 25, Rom 1974, 62-67; Terenz nennt Ennius neben Naevius und Plautus (Andr. 18); Volcacius Scdigitus gibt ihm den letzten Platz unter den

Komikern (frg. 1 Büchner): Decimum addo causa antiquilatis Enitium; D. Gagliardi, Latomus 34, 1975, 723-725, sucht dieser Wertung ihren negativen Klang zu nehmen. Da Ennius in seinen letzten Lebensjahren sicher die Annales dichtet, sind seine Dramen vorher anzusetzen; die verschiedenen Ansätze f ü r die kleineren Dichtungen sind weitgehend spekulativ, s. dazu Jocelyn (s.o.) 996-999. Für Euripides' Medea ist die Ausgabe von J. Diggle (ed.), Euripidis Fabulae I, Oxford 1984, 85-155 zugrundegelegt. Zu Ennius' Medea s. W. Röser, Ennius, Euripides und Homer, Diss. phil. Freiburg, Würzburg 1939, 4-31; A. Grilli, Studi enniani, Brescia s. a. (1965), 186-190; 207-216; O. Skulsch, Studia Enniana, London 1968, 166-173 (zuerst 1956); G. Williams, Tradition and Originality in Roman Poetry, Oxford 1968, 359-363. Zusatz: Erst nachträglich werden mir die Dissertationen von R. Α. Brooks,

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ΤΡΟΦΟΣ Γ/Ρ' ωφελ ' 'Αργούς μή διαπτάσθαι σκάφος Κόλχων ές αΤαν κυανέ α ς Συμπληγάδας, μηδ' ¿ν νάπαισι Πηλίου πεσεΐν ποτε τμηθεΐσα πεύκη, μηδ' έρετμώσαι χέρας άνδρών άριστέων ο" τό πάγχρυσον δέρος Πελίαι μετήλθον. ού γαρ δέσποιν' ϊμή Μήδεια πύργους γης ΐπλευα' Ίωλκίας ΐρωτι θυμόν ίκπλαγείσ' 'Ιάσονος. Er nennt zuerst die Argo und das Land der Kolcher, danach die vorher durchfahrenen Symplegaden und dann, mit noch weiter ausholendem Rückgriff, das Tal des Pelion, in dem die Fichte gefällt wurde, die den trefflichen Mannen ermöglichte, nach Kolchis zu rudern, um das goldene Vließ für Pelias zu holen. Ennius beginnt mit dem Fällen des Baumes, ordnet also die Vorgänge chronologisch. F. Leo meint, Ennius sei durch eine Grammatikermeinung beeinflußt worden, die er als Kritik an Euripides verstand, während der in den Scholien genannte Timachidas tatsächlich offenbar nur ein Hysteron Proteron registrierte. W. Röser vermutet noch gelehrter, Ennius sei durch stoische Überlegungen zu Ursache und Wirkung beeinflußt worden.7 Doch stellt sich hier m.E. ganz schlicht die Frage, ob Ennius nicht mit Rücksicht auf sein Publikum, das mit dem Mythos nicht vertraut war, die pathetische, psychologisch richtig und dramatisch wirksam gestaltete, erregt verwirrte und verwirrende Rede der Amme bei Euripides durch eine klare, folgerichtige und leicht verständliche Schilderung der Vorgänge ersetzt, die, wie sich beim näheren Hinsehen zeigt, nicht nur die Reihenfolge gegenüber Euripides verändert: Der Baum wird nicht einfach πεύκη genannt, sondern im Hinblick auf die Verwendung als Schiffholz abiegna trabes, das Naturwidrige des Fällens wird durch securibus unterstrichen, fast überdeutlich ergänzt durch ad lerram. Auffällig ist auch das umständliche nauis inchoandi exordium, während Euripides Einzelheiten der gefährlichen Fahrt erwähnt, auf die Ennius verzichtet. Er nennt, erst jetzt, den Namen des Schiffes, wieder etwas langatmig, und erläutert ihn als Schiff der Argiver, die nach Kolchis fahren, um das goldene Vließ zu holen - nicht wie Euripides einfach το πάγχρυσον δέρος Πελίαι, sondern petebant pellem inauratam arietis und imperio regis Peliae mit dem Zusatz per dolum (was μετήλθον nicht mit gleicher Deutlichkeit aussagt).

Ennius and Roman Tragedy, New York 1981 (bes. 1 8 5 - 2 0 0 ; zuerst erschienen 1 9 4 9 ) und der Aufsatz von B . Arkins, Tradition Reshaped, Ramus 11, 1982, 1 1 6 - 1 3 3 , bes. 1 2 1 - 1 2 5 , zugänglich, wo sich weitere wichtige Beobachtungen finden. F. L e o , Plautinische Forschungen, Berlin 1 9 1 2 2 , 9 8 - 9 9 unter Hinweis auf die Euripidesscholien (s. Scholia in F.uripidem I-II, Ed. E. S c h w a n z , Berlin 1891, II 138; 140); s. auch F. Leo, Geschichte der Römischen Literatur I, Berlin 1913, 192; Röser (s. A. 6 ) 4 - 5 ; gegen Leo wendet sich Jocelyn (s. Α. 1) 4 6 , obwohl auch er grundsätzlich annimmt, daß Ennius kommentierte Ausgaben benutzt ( 3 0 8 ; 3 5 1 ) ; zu „ E n n i o grammaticus" s. Grilli (s. Α. 6 ) 5 4 - 6 9 , der 187 Α. 3 6 Rösers These ablehnt. - Zu frg. 2 1 6 Jocelyn s. G. Calboli, Athenaeum 5 6 (n. s. 46), 1968, 7 2 - 7 9 .

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Auch in den folgenden Versen nimmt Ennius spürbar Rücksicht auf sein Publikum. Während Euripides, offenbar an Bekanntes (für seine Hörer Bekanntes) anknüpfend, von Iolkos' Burg und der Liebe zu Jason spricht, malt Ennius die Einzelheiten aus: Er fügt errans hinzu und gibt das knappere ερωτι θυμόν έκττλαγείσ' durch animo aegro amore saeuo saucia wieder, zugleich durch era errans efferet eine Klangwirkung erzielend, die im Griechischen keine Entsprechung hat. Neben Entsprechungen zeigen sich also Veränderungen in der Reihenfolge, Verkürzungen und Zusätze, die alle dem einen Ziel der größeren Klarheit und Verständlichkeit und damit der größeren Wirkung dienen. Eine Verkürzung ist auch beim Fragment 221 (Jocelyn) anzunehmen, obwohl sich bei Euripides kein entsprechender Vers findet. Während Vahlen vermutete, daß sich Ennius einen einzelnen Vers aus einer anderen Tragödie des Euripides zum Vorbild nahm, verwies Warmington zögernd auf 303-305; nach Jocelyn wollte Ennius mit dieser einen Sentenz die Verse 294-301 ersetzen, die „full of meaning for the Athenians of the fifth century... had little for the Romans of the early second, among whom traditional wisdom had not been seriously challenged". 8 Ennius kann um so eher längere Reflexionen seines Vorbildes durch knappe eigene Sentenzen wiedergeben, weil Euripides seinerseits sentenzartige Formulierungen ebenso liebt wie es später auch die römischen Tragiker tun. In dem Fragment 225-231 (Jocelyn) kürzt Ennius vor allem, erweitert aber zugleich auch:9 nequaquam istuc istac ibit; magna inest certatio. nam ut ego Uli supplicarem tanta blandiloquentia ni ob rem qui uolt quod uolt ita dal se res ut operam dabit. ille trauersa mente mi hodie tradidit repagula quibus ego iram omnem recludam al que Uli perniciem dabo mihi maerores, Uli luctum, exitium Uli, exilium mihi.

Vahlen im Apparat zu Seen. frg. 273 (p. 168); Warmington (s. A. 1) zu Seen. frg. 271 (mit Fragezeichen); er verweist außerdem auf Eur. Med. 381-383 und 400-401 und bemerkt in einer Fußnote „Wherever we place this line, we need not doubt that Ennius took the words from one of the lost plays of Euripides, not his Medea."·, Jocelyn (s. A. 1) 362. Skutsch liest ((s. Α. 6)171) ohne Lücke als einen Vers ni ob rem? qui volt quod volt, ita dai se res ut operam dabit, ebenso Timpanaro (s. A. 5) 664. Vgl. Eur. Med. 365-375: 6λλ' OÖTI ταύτηι ταύτα, μή δοκεΐτέ πω. ϊ τ ' fio' άγώνες τοις νεωστί νυμφίοις και τοΐσι κηδεύσασιν ού σμικροί πόνοι, δοκεΐς γ α ρ ϋν με τόνδε θωπεΰσαί ποτέ εΙ μή τι κερδαίνουσαν ί\ τεχνωμένην; οΰδ" öv προσείπον ούδ' tìv ήψάμην χεροΐν. 6 δ' ί ς τοσούτον μωρίας άφίκετο ώστ', έξόν αύτώι τϋμ' έλείν βουλεύματα γ η ς έκβαλόντι, τήνδ' έφήκεν ήμέραν μεΐναί μ', έν ήι τρεις των έμών έχθρων νεκρούς θήσω, πατέρα τε καί κόρην πόσιν τ ' έμόν.

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Άλλ' οϋτι ταύτη ταύτα, μή δοκεΐτέ π ω (Eur. Med. 365) gibt Ennius durch nequaquam istuc istac ibit wieder, fügt also ibit verdeutlichend hinzu, verzichtet aber auf Euripides' Verstärkung μή δοκεΐτέ πω. Vor allem aber läßt Ennius, wie auch in den ersten Versen, die Anspielung auf das künftige Geschehen weg und begnügt sich mit magna est certatio, während Euripides seinen Hörem, die mit dem Stoff vertraut sind, ihnen verständliche weitere Andeutungen macht ετ' ε'ι'σ' αγώνες τοίς νεωστί νυμφίοις και τοίσι κηδεύσασιν ού σμικροί πόνοι (366-367). Ennius weiß, daß knappe Hinweise seinem Publikum nicht nützen, und verzichtet daher auf sie, wodurch es ihm zugleich gelingt, die Spannung noch zu erhöhen. An die Stelle von δοκείς γ α ρ läßt er nur nam ut treten, und κερδαίνουσαν η τεχνωμένην; ersetzt er wohl nur durch ni ob rem (eine gelungene Konjektur), während tanta blandiloquentia, wirkungsvoll mit supplicarem verbunden, keine Entsprechung im Griechischen zu haben scheint. Tatsächlich gibt Ennius mit diesem Wort 10 wieder, was Euripides durch θωπεΟσαί und ούδ' αν προσεπτον οϋδ' αν ήψάμην χεροΐν (370) aussagen will, er verkürzt also auch hier. Auch in den folgenden Versen wählt Ennius knappere Formulierungen, indem er δ δ" ες τοσούτον μωρίας άφίκετο ώστ' (371) mit trauersa mente wiedergibt. Dadurch vereinfacht er die syntaktische Struktur und läßt zugleich die Rolle der einzelnen Personen im Geschehen deutlicher werden. Das anschließend von Ennius gewählte Bild hat keine Entsprechung bei Euripides, der seinerseits weitergehende Überlegungen zu den von Kreon nicht genutzten Möglichkeiten und Plänen, die Medea verwirklichen will, folgen läßt. Ennius konzentriert sich ganz auf Medea und ihre Lage, zuerst ihre Gefühle, dann ihr Vorhaben, das mit so allgemeinen Wendungen beschrieben wird, daß ein unkundiger Hörer sich keine konkreten Vorstellungen zu machen vermag, durch die er abgelenkt werden könnte - die Spannung wird aufrechterhalten, sogar noch gesteigert. Eindrucksvoll ist der Schluß gestaltet: Uli perniciem dabo, mihi maerorem, Uli luctum, exitium illi, exilium mihi, der Euripides' spätere Verse 397-400 11 vorwegnimmt und die Frage aufwirft, ob Ennius Medeas Monolog so weit gekürzt hat, daß er ihn hier schon zum Ende kommen läßt. Ennius beschränkt sich keinesweg darauf, Euripides' Text immer nur zu kürzen. Im Fragment 237-238 (Jocelyn) 12 ersetzt er zwar τήνδ' άγουσ' έρημίαν

Plautus hat blandiloquentulus (Trin. 239) und zwei weitere (Composita auf Vgl. Eur. Med. 397-400: Έκάτην, μυχοίς ναίουσαν έστίας έμής, χαίρων τις αύτών τούμόν άλγυνεΐ κέαρ. πικρούς δ' έ γ ώ σφιν καί λυγροίις θήσω γάμους, ττικρόν δε κήδος καί φυγάς έμάς χθονός. Vgl. Eur. Med. 49-58: ΠΑΙΔΑΓΩΓΟΣ παλαιόν οίκων κτήμα δεσττοίνης έμής, τί πρός πύλαισι τήνδ' δ γ ο υ σ ' έρημίαν ϊστηκας, αύτή θρεομένη σαυτήι κακ6; π ω ς σου μόνη Μήδεια λείττεσθαι θέλει;

-loquentia.

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(50) durch ein simples sic und αύτη θρεομένη σαυτήι κακά; (51) durch exanimata, andererseits gibt er nicht nur das etwas blasse παλαιόν οίκων κτήμα durch fida cusios wieder und δεσττοίνης έμής durch erilis corporis, damit die enge Beziehung zwischen Dienerin und Herrin unterstreichend, er läßt den letzten Vers durch den Klang des extra aedis exanimatam éliminât besonderen Nachdruck gewinnen, also wieder durch die geschickte Auswahl der lateinischen Wörter, die spüren läßt, daß er mit der dieser Sprache innewohnenden Eigenart vertraut ist und deren Möglichkeiten zu nutzen weiß. Im Fragment 222-223 (Jocelyn) vereinfacht Ennius die Syntax, indem er die Hypotaxe durch Parataxe ersetzt und das Partizip μολούσηι δεΟρο (58) durch ein einfaches nunc wiedergibt (ähnlich wie im voraufgegangenen Beispiel); zugleich schickt er dem me ein miseram vorauf, das durch Medeai miserias wiederaufgenommen wird, wodurch emeut die enge Bindung zwischen Herrin und Dienerin unterstrichen wird - das ist römisch im Empfinden und lateinisch in der Ausdrucksweise. Im Fragment 224 (Jocelyn) verzichtet Ennius auf das Bild des Gottes Eros (obwohl Amor verbreitet und geläufig ist) und fügt statt dessen einen Vergleich ein, der einen Wertmaßstab enthält, eine Wertung, die der Aussage größeres Gewicht verleiht, das durch den Klang amoris - honoris noch vermehrt wird. Abschließend sei noch ein Blick auf das Fragment 234-236 (Jocelyn)13 geworfen, in dem nicht Terra angerufen wird, wie bei Euripides Gaia (1251), die

ΤΡΟΦΟΣ τέκνων ότταδέ πρέσβυ των 'Ιάσονος, χρηστοΐσι δούλοις ξυμφορσ τά δεσποτών κακώς ττίτνοντα και φρενών άνθάτττεται. ί γ ώ γαρ ές τοϋτ' έκβέβηκ' άλγηδόνος ώσθ' ϊμερός μ' ύπήλθε γήι τε κούρανώι λέξαι μολούσηι δεΰρο δεσττοίνης τύχας. Williams (s. Α. 6) 362-364, betont, daß Ennius hier „the emotive Roman concept of honos" einführt; allgemein zu „Pathos ed Ethos nelle traduzioni tragiche di Ennio" s. A. Traina, Maia 16, 1964, 112-142, 276-277. Vgl. Eur. Med. 1251-1260: XO. Ιώ Γα τε κα! τταμφαής άκτίς Άλίου, κατίδετ' ίδιτε τάν όλομέναν γυναίκα, πρίν φοινίαν τέκνοις προσβαλείν χέρ' αύτοκτόνον· σας γαρ χρυσέας άττό γονάς ΐβλαστεν, θεού δ' αίμα (χαμαί) ττίτνειν φόβος Cm' άνέρων. άλλά νιν, ώ φάος διογενές, κάτειργε κατάτταυσον ίξελ' οϊκων τάλαιναν φονίαν τ' Έρινύν túrr' άλαστόρων+. Über die metrische Gestaltung dieser Verse besteht Uneinigkeit, s. Jocelyn (s. Α. 1) 369-370, dagegen M. Bettini, Studi e Note su Ennio, Pisa 1979, 91-93, der zugleich stoische Elemente in Ennius' Solkonzeplion entdecken zu können glaubt.

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bekanntlich auch Rachegöttin ist, im Gegensatz zu Terra (Mater) oder Tellus. 14 Ennius verknüpft Sol mit Juppiter (wie schon Homer 15 ) und erhöht den Ton nicht durch Relativsätze (wie frg. 234), sondern durch die Allgemeinheit der Formulierungen: Er breitet nicht die Einzelheiten des Verbrechens vor den Hörern aus wie der griechische Tragiker (1252-1254), er konzentriert sich auf das Ungeheuerliche, das Verbrecherische der geplanten Tat, und indem er das Detail zurücktreten läßt, gewinnt das Ganze an Eindringlichkeit. Besonders instruktiv sind die Zusätze in den Versen, die Cicero in einem Brief an Trebatius so in seinen eigenen Text integriert, daß man sie nicht mit Sicherheit herauslösen kann. 16 Immerhin ist wahrscheinlich, daß Ennius die schlichte Anrede Κορίνθιαι γυναίκες, erheblich erweitert; die Frauen werden wohl nicht einfach matronae genannt, sondern auch noch als opulentae und optumates charakterisiert, ergänzt durch arcem altam habetis (?), um ihnen im Gegensatz zu Medea Rang und Stellung zu geben (Medea selbst spricht). Das Folgende ist auch wieder syntaktisch vereinfacht und inhaltlich nicht nur verdeutlicht, sondern verändert. Ennius stellt nicht wie Euripides die vielen, die σεμνοί sind, diejenigen, die sich den allgemeinen Blicken entziehen, und die, die überall sichtbar sind, denen gegenüber, die wegen ihrer Untätigkeit in den schlechten Ruf der Leichtfertigkeit geraten; er verschiebt den Gegensatz, indem er die, die sich procul patria durch Leistung bewährt haben, mit denen kontrastiert, die gerügt werden, weil sie (nur) zu Hause dahinleben. So gewinnt der

Zu Gaia als Rächerin in der Dichtung s. W. Drexler, Artikel .Gaia', in: Roscher, Myth. Lex. I, 1571-1572; s. auch U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen I/II, Bertin 1931-32,1, 206-208 (Gc Themis). Zu Tellus und Terra (Mater) s. K. Ulte, Römische Religionsgeschichle, Münchcn 1960, 69-71, 299; G. Radke, Artikel .Tellus1, in: KP IV, 574-575; ders., Die Götter Altitalicns, Münster 19792, 298-299. Homer verbindet als Eidgötter Helios und Zeus, dazu Flüsse, Erde und die unterirdischen Rachegottheiten (II. 3, 276-280; s. auch 3, 104) oder Ge und die Erinyen (II. 19, 258260). Cie. fam. 7, 6, 1 : tu modo ineplias islas et desiderio urbis et urbanitatis depone et, quo Consilio profectus es, id adsiduitale et virtute consequere. hoc tibi tarn ignoscemus nos amici quam ignoverunt Medeae quae Corinthum arcem altam habebant matronae opulentae optumates, quibus illa manibus gypsatissimis persuasit ne sibi vitio illae verterent quod abesset a patria, nam multi suam rem bene gessere et publicam patria procul; multi qui domi aetatem agerent propterea sunt improbati. Vahlen Seen. frg. 259-261; Jocelyn frg. 219-220; cf. Eur. Med. 214-218: Κορίνθιαι γυναίκες, έξήλθον δόμων, μή μοί τι μέμψησθ'. οΤδα γαρ πολλούς βροτών σεμνούς γεγώτας, τους μέν όμμάτων δττο, τούς 6" έν θυραίοις. ol δ' άφ' ήσυχου ποδός δύσκλίίαν έκτήσαντο καί βαιθυμίαν. Eurípides' Vene sind oft erörtert und sehr verschieden erklärt worden. Μ. E. sind σεμνοί und δύσκλεια ... καί (ϊρθυμία einander entgegengesetzt; das erstgenannte Urteil wird unabhängig von den Umständen (τους μεν ... τους δέ) über viele gefällt, das zweite über alle, die άφ' ήσυχου ποδός erscheinen. - M. Bruno, Maia 32, 1980, 43-51 zieht zum Verständnis der Enniusverse auch Eur. Med. 222-224 heran und schlägt Ergänzungen zum Enniustext vor.

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Gegensatz klare Konturen und durch rem bene gessere publicam und procul patria zugleich römisches Gepräge; das ist eine Sprache, die Ennius' Publikum versteht, und das sind Kategorien, die ihm geläufig sind. Verse, für die sich keine unmittelbare Entsprechung bei Euripides finden läßt, können, wie sich gezeigt hat, ganze Versgruppen wiedergeben und gewinnen dann durch ihre sprachliche Gestaltung ein besonderes Interesse, weil Ennius weitgehend selbständig formuliert. Das gilt in noch höherem Maße, wenn sich überhaupt kein Vorbild, auch nicht eine Versgruppe aus anderem Zusammenhang wahrscheinlich machen läßt. Als Beispiel sei nur auf das Fragment 245 (Jocelyn) verwiesen (fructus verborum aures aucupant), das sogleich durch seinen Bilderreichtum auffällt, die Metapher fructus verborum verbunden mit der zweiten, aures aucupant, die an alte Vorstellungen von den geflügelten Worten und von der Rede, die dem Gehege der Zähne entflieht, anknüpfen mag.17 Faßt man die ersten, an den Fragmenten nur einer Tragödie gemachten Beobachtungen zusammen, die sich natürlich leicht durch entsprechende aus den anderen Tragödien bestätigen und durch Hinweise auf tiefergreifende Veränderungen wie etwa den Ersatz des Fraucnchorcs in der Iphigenie durch einen Soldatenchor ergänzen lassen,18 so kann man feststellen, daß offenbar das Gesamtmilieu des griechischcn Mythos unangetastet bleibt und nur einzelne Züge, die dem römischen Publikum unbekannt sind, weggelassen oder, wenn sie unerläßlich sind, erklärt werden. Dagegen verzichtet Ennius hier auf Einlagen, wie sie die Dichter der römischen Komödie - auch Ennius selbst - schätzen, also die Kontamination. Dem entspricht ein überall zu beobachtendes Bemühen um Klarheit und Verständlichkeit durch Prägnanz oder auch durch Ausdrucksfülle, d.h. zugleich Wegfall von Anspielungen, deren Verständnis dem Publikum bei seinen Voraussetzungen verschlossen zu bleiben droht. Zugleich hält Ennius an Hinweisen, die die Spannung zu erhöhen geeignet sind, fest. Klarheit und Spannung sind zwei Faktoren, mit denen Ennius die Aufmerksamkeit der römischen Hörer für den griechischen Mythos zu wecken und wach zu halten bemüht ist, die er durch knappe Zusätze und Formulierungen zu erreichen versucht, die dem römischen Ohr vertraut klingen, aber nicht durch umfangreiche Einlagen als Konzession an den Geschmack des römischen Publikums. Ein wesentliches Element, durch das Ennius die Römer gerade auch bei der Darbietung des griechischen Mythos anzusprechen weiß, ist die sprachliche Gestaltung, die die besonderen Möglichkeiten der lateinischen Sprache nutzt: Klangfiguren, Anaphern und andere Stilmittel, die man nicht mit dem Schlag-

Vgl. C. J. Classen, Untersuchungen zu Piatons Jagdbildem, Berlin 1960 (= A D A W 25), 4 zu Horn. D. 1, 201 u. ö. und 4, 350 u. ö. Frg. 195-202 Jocelyn, dazu O. Skutsch, RhM 96, 1953, 193-201 (engl. Fassung: Studia (s. Α. 6 ) 157-165); Κ. Büchner, G B 1, 1973, 51-67 (= ders.. R ö m i s c h e Dichtung, Wiesbaden 1979, 1-15).

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wort Rhetorik oder als vergröbernde Effekthascherei des lateinisch schreibenden Dichters abtun sollte. 19 Wer die Tragödien des Euripides und die Fragmente der Bearbeitungen durch Ennius vergleicht, sollte die Verschiedenartigkeit der Sprachen, aber vor allem die unterschiedlichen Voraussetzungen beim Publikum berücksichtigen, die jeweils den Griechen bzw. den Römern eigene Mentalität, das ihnen eigene Temperament, aber auch die unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen, und er sollte bedenken, daß Ennius nicht Tragödien schreiben will wie Euripides, sondern Tragödien für das Publikum in Rom zu seiner Zeit. Das scheint ihm gelungen zu sein; wir hören nicht, daß ihm die Zuschauer fortgelaufen sind, und es haben sich von seinen Tragödien etwa ebenso viele Fragmente erhalten wie von denen seines Neffen Pacuvius und nur ein Drittel weniger als von denen des Accius, obwohl diese beiden unmittelbar in der römischen Tradition verankert sind und sich beide (weitgehend) darauf beschränken, Tragödien zu verfassen, 20 während Ennius, wie angedeutet, noch viele andre Genera pflegte. Wer nach Ennius' größter Leistung fragt, wird wohl auf seine Annalen verwiesen werden; und wer um eine Begründung für diese Antwort bittet, wird vermutlich hören, er habe den Römern ihr Nationalepos geschenkt, jedenfalls den Römern der Republik. Das ist in gewissem Sinne richtig, und der Einfluß der Annalen wird nicht leicht überschätzt; man spürt ihn bei Lucilius und Lukrez, bei den augusteischen Dichtern und späteren ebenso wie bei den Historikern, vor allem bei Livius, oder auch bei Cicero; 21 und die gelehrten Autoren der Spätzeit zeigen ein noch stärkeres Interesse. Worin aber liegt die große Leistung, die Ennius mit seinem historischen Epos in achtzehn Büchern vollbracht hat? Ich nenne drei Aspekte:

Wenn Cicero fin. 1, 4 von fabellae Latinae ad verbum e Graecis expressae und dann von Ennius' Medea und Pacuvius' Antiope spricht, dagegen ac. 1, 10 fragt: an quia delectaI Ennius Pacuvius Accius multi alii, qui non verba sed vim Graecorum expresserunt poetarum? und exprimi verbum e verbo fin. 3, 15 negativ beurteilt, ist das vor allem durch den jeweiligen Kontext bedingt. - Zu Ennius' Sprache in den Tragödien s. neben Jocelyns Kommentar zur Alliteration Grilli (s. Α. 6) 103-264 (mit Hinweisen auf die älteste lateinische Dichtung); zu sprachlichen Neuerungen M. Nouilhan, Pallas 16, 1969, 25-78; und allgemein zu einer Enniusgrammatik J. Untermann, in : Skutsch, Ennius, Entretiens (s. Α. 1) 209-245; zu besonderen Tendenzen der Wortbildung aufgrund nichtbelegter Typen von Nominalkomposita s. Η. B. Rosen, Lingua 21, 1968, 359-381. Pacuvius, Fragmenta, Ed. I. d'Anna, Rom 1967; zu Marco Pacuvio, Ed. P. Magno, Milano 1977 s. nur E. Woytek, WS 94 (N. F. 15), 1981, 264-265; L. Accio, I frammenti delle tragedie. Ed. V. d'Anto, Lecce 1980; dazu R. degli Innocenti Pierini, Studi sul Accio, Florenz 1980; A. de Rosalia, Lexicon Accianum, Hüdesheim 1982. Zur republikanischen Tragödie gibt eine knappe Übersicht H. Cancik, in: E. Lefèvre (Hrsg.), Das römische Drama, Darmstadt 1978, 308-347. Zu Accius s. auch u. A. 44. Die Literatur zur Ennius-Rezeplion ist unübersehbar, zumal große Unsicherheit dariiber herrscht, wie weit der einzelne Autor bewußt Ennius' Formulieningen aufgreift und dem Hörer ins Gedächtnis rufen will oder sich nur der durch Ennius begründeten Tradition der lateinischen hexametrischen Dichtung bedient; .Einfluß' von Ennius liegt natürlich in jedem Fall vor. Immerhin sei verwiesen auf Vahlen (s. A. 1) XXI-CXXXI; S. Mariotli, Lezioni su Ennio, Turin 1968 2 , 29-42; Skutsch, The Annais (s. A. 1) 8-46.

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1) Ennius hat den Hexameter für die römische Dichtung gewonnen. Denn mag auch vor ihm schon dieser oder jener lateinische Hexameter gedichtet worden sein; erst Ennius' Epos hat diese metrische Form bei den Römern heimisch werden lassen.22 Diese Tatsache ist so bekannt, daß sie nicht ausführlich erörtert zu werden braucht; als wesentliche Leistung des Fremden, auf der weite Teile der von uns so geschätzten römischen Dichtung ruhen, sollte sie nicht vergessen werden. 2) Der zweite Aspekt pflegt merkwürdigerweise übersehen zu werden; jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, ihn je erwähnt gefunden zu haben. Durch seine Annalen, genauer durch die Buchcinteilung seines historischen Epos, hat Ennius als erster die römische Geschichte in einzelne Abschnitte gegliedert. Weder für Fabius Pictor noch für Cincius Alimentus oder C. Acilius sind Hinweise auf eine Einteilung ihrer Werke in Büchern überliefert, und die sieben Bücher von Catos Origines und die vier Bücher der Annalen von Cassius Hemina sind später verfaßt worden. 23 Wenn Ennius im ersten Buch die Anfänge bis zum Tode des Romulus, im zweiten die Könige von Numa bis Ancus Marcius, im dritten die letzten drei Könige und das Ende des Königtums schildert, so beschreibt er nicht nur den Ablauf der Ereignisse, sondern ordnet Zusammengehöriges zusammen, richtiger das, was ihm zusammenzugehören scheint, und gibt damit eine Interpretation des Geschehens, die tiefer greift als manches einzelne Urteil. Leider ist heute nicht mehr mit Sicherheit feststellbar, mit welchen Vorgängen er die Einschnitte zwischen dem vierten und fünften oder dem fünften und sechsten Buch markiert, obwohl Editoren und Kommentatoren darüber natürlich spekuliert haben. Aber sie gehen meistens von ihren eigenen Vorstellungen vom Gang der römischen Geschichte aus und vermuten dort Einschnitte, wo sie selbst sie anzunehmen pflegen. Immerhin lassen die Reste vom Proömium des siebten Buches erkennbar werden, daß dort der Anfang des ersten punischen Krieges hätte geschildert werden müssen, worauf Ennius wohl mit Rücksicht auf Naevius* Epos verzichtet. Plinius'

Vgl. K. Witte, RhM 69, 1914, 205-232; A. Cordier, Les débuts de l'hexamètre Latin, Ennius, Paris 1947 (s. dazu L. Nougaret, REL 26, 1948, 335-338); Marioui (s. A. 21) 120-122; P. Wülfing-von Martitz, in: Skutsch, Ennius, Entretiens (s. Α. 1) 260-262; Hellegouarc'h, Lalomus 41, 1982, 743-765; A. S. Gratwick, in: E. J. Kenney, W. V. Clausen (Hrsgg.), The Cambridge History of Classical Literature Π, Latin Literature, Cambridge 1982, 66-75; Skulsch, The Annals (s. A. 1) 46-67. Fragmente: Historicorum Romanorum Reliquiae, Ed. H. Peter, Berlin I 1914* Π 1906:1 5-39 (Q. Fabius Pictor); 40-43 (L. Cincius Alimentus); 49-52 (C. Acilius); 55-97 (M. Porcius Cato) und 98-111 (C. Cassius Hemina). - Betont wird immer wieder, daß Ennius (im Gegensatz zu Naevius) sein Werk als erster in Bücher einteilt, ohne daß zugleich die damit verbundene Leistung der Gliederung der römischen Geschichte hinreichend gewürdigt wird. Mit Recht bemeriet Gratwick (s. A. 22) 64: „Ennius receives short measure in accounts of Roman historiography", hebt aber seinerseits auch nur hervor, daß Ennius' Darstellung der römischen Geschichte, der Fakten, der jeweils gezeigten Haltungen und der exempta für lange Zeit verbindlich ist und er mit der Betonung des moralischen Aspektes ein wesentliches Element in die römische Geschichtsschreibung einfühlt. Die hier herausgestellte I-cistung berührt er nicht.

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Bemerkungen zum sechzehnten Buch lehren, daß auch nach dem fünfzehnten Buch ein wichtiger Einschnitt anzusetzen ist 2 4 Zwar sind die Einzelheiten der Gliederung heute weitgehend nicht mehr greifbar, und es ist jedenfalls hier nicht erforderlich, Hypothesen dazu vorzutragen; doch bleibt unbestreitbar, daß Ennius seine Annalen in achtzehn Büchern veröffentlicht und daß von ihm damit zum ersten Mal - soweit wir wissen - der Versuch einer Gliederung der römischen Geschichte unternommen wird, ein Versuch, der angesichts der Verbreitung des Werkes fraglos große Wirkung ausübte. 3) Im Proömium des siebten Buches läßt Ennius keinen Zweifel an seiner Überlegenheit im Vergleich zu seinem Vorgänger Naevius, der als erster ein Stück römischer Geschichte in lateinischer Sprache .episch' gestaltete.25 Wie weit sich Naevius auf die Schilderung von Vorgängen beschränkt und wie weit er auch das Verhalten der Römer, der Feldherren und der Soldaten, beschreibt, wie weit er Ideale entwickelt oder exemplarisch vorführt, läßt sich aufgrund der wenigen erhaltenen Fragmente nicht mit Sicherheit sagen. Immerhin haben sich einige Hinweise darauf erhalten, daß er von der Frömmigkeit (frg. 10) oder Keuschkeit (frg. 8) Einzelner und der Tapferkeit (frg. 6) oder Feigheit auch ganzer Gruppen spricht (frg. 46; 47; s. auch 11). Ennius dagegen dichtet im Anschluß an Homer Aristien und rückt den Römern so lebendig geschilderte und in so wirkungsvoller poetischer Form gestaltete positive (und wohl auch negative) exempla vor Augen, daß sie sich hundertundfünfzig Jahre lang an ihnen orientieren.26 Mag Ennius in Naevius einen Vorläufer gehabt haben; er läßt ihn

Plin. nat. 7, 101 (= frg. XVI, VI Skutsch); zum siebten Buch s. frg. 206-213 Skutsch. Ein Neuansatz wird auch durch frg. 322-323 zu Beginn des Krieges mit Philipp markiert (Buch 10). Ich sehe keinen Grund, an Gellius' (Varros) Angabe (17, 21, 43) zu zweifeln, daß Ennius im zwölften Buch von seinem Alter spricht (gegen Suerbaum (s. A. 1) 114151; Badian (s. A. 1) 153; 176-177; Skutsch, The Annais (s. A. 1) 529; 674-676); denn wenn das siebte Buch ein Proömium hat, ist nicht einzusehen, warum das zwölfte keinen Epilog haben soll. Daß die Altersangabc in einen Epilog gehört, ist Suerbaum zuzugeben, aber nicht, daß Ennius sein Werk nicht mit d. J. 196 v. Chr. (Ende des makedonischen Krieges) oder 195 v. Chr. (Calos Erfolg in Spanien) beenden konnte. Das Pferdegleichnis (frg. 522-523 Skutsch), mit dem Suerbaum seine Interpretation stützt (120-132), hilft nicht weiter, da sein Kontext nicht bekannt ist (vgl. Suerbaum 136137). Frg. 206-213 Skutsch, Verse, die immer wieder erörtert werden; vgl. nur Skutsch, The Annals (s. A. 1) 366-381. Schon zu Beginn des ersten Buches verleiht Ennius seiner Überzeugung Ausdruck, daß sein Werk Bestand haben wird: frg. 12-13 Skutsch: Lalos populos res aique poemala nostra / cluebunl. Zur Rechtfertigung der Lesart cluebunl s. O. Zwierlein, Hermes 110, 1982, 85-102 und Skutsch, The Annais (s. A. 1) 168-169. Vgl. ähnlich Gratwick (s. A. 22) 65; eine Aristie z. B. frg. 391-398 Skutsch. Auffallend häufig sind senlent'iae moralischen Inhalts und positiv wertende Adjektive wie bonus (frg. 137; 249), optimus (frg. 28; 563), navus (frg. 412),forlis (frg. 233; 410), pius (frg. 28), egregie cordatus (frg. 329), calus (frg. 329), pruäens (frg. 193), doclus, fidelis u. a. (frg. 278-285 Skutsch) oder entsprechende Adverbia. - Auch wer Ennius vor allem als poeta ctiens versteht (M. Martina, QFC 2, 1979, 13-74), kann nicht verken-

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durch sein eigenes Werk fast völlig in Vergessenheit geraten. Zwar zitiert Varrò dreimal Verse aus dem Bellum Poenicum und außerdem zweimal einzelne Namensformen, die wohl aus dem Epos stammen;27 aber „in realtà sembra che Vairone considerasse Ennio l'unico poeta epico degno di essere nominato accanto a Omero". 28 Auch Cicero erwähnt Naevius nur selten, und fast immer dessen Tragödien; allein im Brutus gibt er seiner Freude darüber Ausdruck, daß wenigstens das Bellum Poenicum noch erhalten ist, während die alten Tafellieder verloren sind, und das Epos ihn und seine Freunde wie eines der Werke des Myron erfreue, von denen er kurz vorher sagt, sie kämen der Wirklichkeit noch nicht nahe genug, man könne sie aber doch ohne Zögern schön nennen.29 Von Ennius dagegen spricht Cicero oft und gern; er zitiert Verse von ihm aus den Tragödien, aus den kleinen Gedichten, aber gerade auch aus den Annalen, mehrfach Verse, die die großen Gestalten der römischen Geschichte schildern, etwa Romulus (ann. 72-91; 105-109; 110-111), Ap. Claudius Caecus (cos 307: ann. 199-200 aus einer Rede), M. Curius Dentatus (cos. 290 u.ö.: ann. 456), Q. Fabius Maximus Verrucosus (cos. 233 u. ö.: ann. 363-365), M. Cornelius Cethegus (cos. 204: ann. 304-308), Sex. Aelius Paetus Catus (cos. 198: ann. 329), M. Porcius Cato (cos. 195: ann. inc. sed. XXXVI) und M. Aemilius Lepidus (cos. 187: ann. XVI, VIII). Cicero weist auch auf das Lob hin, das Ennius einzelnen erfolgreichen Imperatoren zollt, etwa in der Rede pro Archia, in der er die Richter an Ennius' schon erwähnte Verse auf Cato erinnert und hinzufügt omnes Uli Maximi Marcelli Fulvii non sine communi omnium nostrum laude decorantur (22), Männer wie der gerade genannte Q. Fabius Maximus, wie M. Claudius Marcellus (cos. 222) und wie Ennius' Gönner M. Fulvius Nobilior (cos. 189). Wenn Cicero an dieser Stelle mehrfach hervorhebt, daß Ennius mit seinen Versen auf einzelne zugleich auch dem römischen Volke seine Anerkennung ausspricht, so unterstreicht er damit - in einer Prozeßrede, also offenbar im Einklang mit allgemein verbreiteten Auffassungen - daß der Dichter in seinem Epos eine Form und einen Ton findet, die es den Römern leicht machen, diese Darstellung der römischen Geschichte als ihre eigene, für sie passende, ihnen angemessene zu akzeptieren und sich gleichsam mit ihr zu identifizieren. Wenn er Ennius hier Rudinus homo nennt, so ist dieser Hinweis natürlich vor allem durch die Argumentation im Archiasprozeß bedingt; zugleich läßt Cicero aber deutlich werden, daß Ennius' Herkunft keineswegs vergessen ist. Man weiß, daß er ursprünglich nicht Römer war, daß er erst nachträglich in den Kreis der römischen Bürger aufgenommen wurde, und Cicero kann dies erklären nicht als einen eigenwilligen Akt einer Adelsfamilie, sondern - als Resultat seiner Leistung für die Römer.

nen, daß Ennius' Werk allgemein akzeptiert, verbreitet und gelesen wird, gerade auch von der Jugend. Cf. Cn. Naevii Belli Punici Carminis quae supersunt, Ed. W. Strzelecki, Leipzig 1964, frg. 17; 50; 60 und 28; 29, s. ferner frg. 44 und 67 (falso adscriptum). M. Barchicsi, Nevio Epico, Padua 1962, 14-15. 75: lamen illius, quem in valibus et Faunis adnumeral Ennius, bellum Poenicum quasi Myronis opus deleclai.

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Die Zitate und Erwähnungen in Ciceros Werken zeigen unmißverständlich, daß es Ennius gelingt, die Römer mit seinem Werk anzusprechen und daß seine Annalen dem gebildeten Publikum in Rom noch nach über hundert Jahren vertraut sind. Einige ergänzende Hinweise mögen verdeutlichend illustrieren, wie vielfältig Ennius auch in dieser Dichtung bemüht ist, auf die Neigungen und Interesssen der Römer einzugehen, ihre Maßstäbe zu akzeptieren und ihrem Geschmack und ihren Empfindungen entgegenzukommen. Wenn Ennius neben den militärischen Leistungen einzelner, von denen noch auf die Horatier und Curiatier aus der Frühzeit (ann. 123) und etwa auf P. Decius Mus (cos. 279: ann. 191-193), M. Livius Salinator (cos. 219: ann. 299), L. Aemilius Regillus (praet. 190: ann. XIV, X) sowie Unbekannte (die Caecilii Teucri: ann. XVI, VI und Caclius: ann. 391-398) verwiesen sei, einerseits erfolgreiche Herrscher oder Politiker (z. B. Ancus Marcius: ann. 137 und 138) oder auch einzelne Unbekannte wie den Freund des Cn. Scrvilius (ann. 268-286) schildert, andererseits von der Errichtung von Tempeln und wichtigen Bauten (ann. 128-129; I, LI) oder der Einführung von Festen und Bräuchen spricht (ann. 114-115; 116-118, s. auch 72-91; I; LI; LIX), so bleibt kein Zweifel, daß er die verschiedensten Errungenschaften der römischen Vergangenheit würdigen und seinen römischen Lesern eine möglichst lange und vielseitige Reihe von Vorbildern vor Augen rücken will. Wer wie der moderne Leser gewohnt ist, Ennius aus der Sicht der Späteren zu lesen, wer mit den Werken von Cicero, Livius und Vergil vertraut ist, vergißt leicht, daß schon sie nicht zuletzt durch Ennius' Bild von den Römern, ihrer Geschichte und ihren Maßstäben geprägt sind, er vergißt vor allem, daß Ennius seinerseits sich erst allmählich ein Bild von der römischen Gesellschaft, ihren Gewohnheiten, ihren Maßstäben und ihren Werten machen muß, und zwar nicht aufgrund schriftlicher Aufzeichnungen - sieht man von den Quellen für die reinen Fakten und von einigen Grabinschriften und vielleicht Leichenreden ab - sondern im unmittelbaren Umgang mit dieser Gesellschaft aufgrund eigenen Erlebens und eigener Beobachtung und mit Hilfe des eigenen Gespürs, das freilich bei einem Fremden besonders sensibel zu sein pflegt 3 0

Die vielfältigen Bemühungen um Ennius' Selbslaussagen vergessen in der Regel, daß uns nur wenige Fragmente vorliegen und wir nicht wissen, in welchem Zusammenhang die einzelne Aussage gemacht ist. Wesentlich sind Ennius' Anknüpfen an die griechische Tradition (die den Römern durch Livius Andronicus schon ein wenig bekannt geworden, aber doch eher noch fremd und nicht zu eigen geworden war), daneben seine Polemik gegen den unmittelbaren Vorgänger (s. Λ. 25) und sein Eingehen auf die römischen Eigenarten und Gegebenheiten. Wer .hellenistische Z ü g e ' in Ennius' Annales feststellt - zur Problematik s. K. Zieglcr, Das hellenistische Epos, Leipzig 1966 2 , bes. 53-77; Wülfing-von Martitz (s. A. 22) 255-283, bes. 255-260 - sollte sich zugleich verdeutlichen, wie römisch oder richtiger wie unrömisch sie sind; wichtig die grundsätzlichen Ü b e r l e g u n g e n von Mariotti (s. A. 2 1 ) 130-131. - Die b e s o n d e r e Beobachtungsgabe und - f ä h i g k e i t von Fremden, wie sie sich bei vielen Autoren der Antike, aber auch etwa in der Rciselilcralur des Miltelallers und der Neuzeit zeigt, verdient eine vergleichende Untersuchung und Würdigung.

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Wenn Ennius eine Sonnenfinsternis erwähnt (ann. 153), folgt er unverkennbar der Tradition der annales maximi (frg. 2, test. 4 Peter), wenn er neben den vertrauten großen Göttern (ann. 240-241) auch wenig bekannte heimische Gottheiten nennt, Tiberinus, Nerio, Herie, Quirinus und Hora (ann. 26; 99; 100), so spricht er damit die Römer ebenso unmittelbar an, wie wenn er die negativen Aspekte des Königtums (ann. 404-405) oder die Erhaltung der Freiheit (ann. 317) zum Thema macht, Verse wie moribus anliquis res stat Romana uirisque (ann. 156)

formuliert oder sich sogar unmittelbar an die Hörer oder Leser wendet: audire est operae pretium procedere recte qui rem Romanam Latiumque augescere uoltis (ann. 494-495).

Daß Ennius schließlich nicht nur durch einen gelegentlichen typisch römischen Vergleich (ann. 79-83) 31 oder eine einzelne geglückte Formulierung, sondern durch ein überall spürbares, meisterhaftes Beherrschen und Nutzen der der lateinischen Sprache innewohnenden Ausdrucksmöglichkeiten die Römer zu begeistern vermag, bedarf keiner näheren Ausführung. Vermutlich gerade weil Ennius als Fremder das Lateinische erst lernen mußte, aber wohl auch weil er es neben dem Griechischen lehrt, gelingt es ihm, nicht nur die Eigenarten dieser Sprache besonders klar zu erfassen und besonders geschickt zur Wirkung zu bringen, sondern diese Sprache sogar noch in mannigfacher Weise zu bereichern, ein weiteres Geschenk des Fremden an seine Gastgeber. Zugleich gibt Ennius in seinem Epos auch neuen Ideen Raum, die ihm zwar aus der griechischen Welt geläufig sind, den Römern jedoch fremd erscheinen, soweit nicht auch sie durch die makedonischen Kriege oder andere Begegnungen die Welt der Griechen, deren Werte und Ideale kennen zu lernen Gelegenheit hatten. Genannt sei nur die Vorstellung von der Apotheose eines Menschen. Zwar brachten die Römer bei aller Ablehnung des Königtums dem Gründer ihrer Stadt stets Respekt entgegen; 32 doch daß er in den Himmel aufgenommen sei und unter den Göttern weile (ann. 54-55; 110-111), verkündet ihnen erst Ennius, und während die Römer im allgemeinen offenbar nicht bereit sind, sich diese Vorstellung zu eigen zu machen - wichtigstes Echo ist zunächst nur Lucilius'

Exspeclanl ueluli consul quom miltere signum Voll, omnes auidi speclanl ad carceris oras Quant mox emit tat pidos e faueibus currus: Sic exspeclabal populus atque ore limebal Rebus ulri magni uictoria sil dala regni. Zu frg. 549 notiert Skulsch, The Annais (s. Λ. 1) 697: „ N o Greek counterpart to the simile is known." Zu Ennius' Sprache und ihrer Wirkung s. Mariotti (s. Α. 21) 116120; Williams (s. Α. 6) 689-699 und die Α. 19 genannten Arbeiten. Vgl. C. J. Classen. Philologus 106, 1962, 172-204; s. auch Historia 14, 1965, 385403. Zur Bedeutung der di genitales (frg. 110 Skutsch) s. H. D. Jocelyn, in: J. Diggle et. al. (Hrsgg.), Studies in Latin Literature and its Tradition in Honour of C. O. Brink, P C P h S Suppl. vol. 15, Cambridge 1989, 39-65.

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Götterversammlung 33 - wird sie von einzelnen Vertretern der Oberschicht begrüßt und - im Hinblick auf die eigene Person - akzeptiert. Denn wenn Ennius Scipio in einem seiner Epigramme sagen läßt: Si fas endo plagas caelestum ascendere cuiquam est, mi soli caeli maxima porla patet,

so versetzt er ihn zwar nicht unter die Götter, deutet aber an, daß wenn überhaupt jemand der Einzug in den Himmel vergönnt sei, er ihn verdiene. Man kann nur Vermutungen darüber anstellen, wie weit Ennius Scipio zu seinen Überlegungen anregt, oder Scipio, der sich ohnehin mit einer besonderen Aura umgibt, Ennius veranlaßt, ein solches Epigramm zu dichten und Romulus entsprechend in den Annalen zu verhcrrlichcn, um für sich einen ähnlichen Anspruch erheben zu können. 34 Wirklich Fuß fassen können solche Vorstellungen in Rom nicht, und noch als Caesar derartige Gedanken aufgreift, begegnet man ihm bekanntlich mit größter Skepsis. Mit diesem Distichon tritt uns eine literarische Form entgegen, die sich vor Ennius bei den Römern nicht nachweisen läßt. Es gibt zwar schon früher Grabepigramme, wie etwa die Scipionenelogien lehren; Distichen sind jedoch aus der Zeit vor Ennius nicht bekannt. Das distichische Epigramm ist nun aber keineswegs das einzige Genus, das Ennius in Rom einführt. Er scheint Scipio nicht nur in den Annalen und durch Epigramme, sondern auch in einer Dichtung, die den Titel Scipio trägt, zu besingen, 35 möglicherweise in verschiedenen metrischen Formen, die sonst nicht miteinander verbunden werden, Hexameter, von denen sich ein sehr harter erhalten hat (Sparsis hastis longis campus splendei et horret, Var. frg. 14 Vahlen), und Trochäcn. Dichtungen auf einzelne große Persönlichkeiten kennen die Griechen hellenistischer Zeit in großer Zahl, auch wenn sie heute verloren sind. Die Römer schätzen eine derartige Verherrlichung einzelner nicht, gewiß nicht zu Lebzeiten in poetischer Form. Erst dem Toten gebührt die Ehrung durch die laudatio funebris, in der er mit seinen Ämtern und Verdiensten an der Tradition der Familie gemessen und zugleich in den Kreis der maßstabsetzenden Ahnen aufgenommen und dadurch

Lucilius, Satiren Ι-Π, Ed. W. Krankel, Leiden 1970, frg. 6-55. Zu Scipio s. C. J. Classen, Gymnasium 70, 1963, 315-322 (= dieser Band S. 14-22). Zu Ennius' „innovazioni" im epischcn Genos s. Mariotli (s. Α. 21) 108-116: „elementi filosofici e grammaticali, elementi critico-letterari, vari elementi autobiografici". Var. frg. 1-14 Vahlen. Der Titel wird durch Gellius (4, 7, 2) und Macrobius (Sat. 6, 2, 2 6 und 4, 6) belegt (= Var. frg. 13; 9-12; 14). Diese allein dem Scipio mit Sicherheit zuschreibbaren Verse behandelt eingehend U. Scholz, Hermes 112, 1984, 183-199, der den Nachweis zu führen sucht, daß sich Ennius durchgehend des trochäischen Septenars bedient und damit an die römische Tradition anknüpft; er berücksichtigt nicht, wie wenig ein solches Gedicht auf einen einzelnen zur römischen Tradition paßt. Μ. E. spiegelt es v o r allem die Geisleshaltung Scipios w i d e r , der n e u e G e d a n k e n und Vorstellungen aufgreift und vertritt, und die des Ennius, der seit seiner Kindheit mit der Tradition der Griechen vertraut ist.

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selbst zum Vorbild wird, ein Glied in einer langen Kette, nicht ein einzelner. 36 So findet Ennius* Scipio offenbar keine Nachfolge bei den Römern. Erstaunlich groß ist die Zahl weiterer literarischer Genera und Formen, die Ennius als erster in lateinischer Sprache pflegt, auch sie nicht immer mit dem gleichen Erfolg. Nicht nur um einzelne zu loben, wie oben erwähnt wurde, werden in hellenistischer Zeit Gedichte verfaßt, sondern auch um zu tadeln, z.B. von Sotades, der etwa Ptolemaios II. wegen seiner Ehe mit seiner eigenen Schwester, aber auch andere schmäht. 37 Im selben Versmaß wie Sotades dichtet Ennius Verse, in denen sich, wenn die Fragmente keinen falschen Eindruck vermitteln, Kritik und Spott miteinander verbinden (Var. frg. 25-29 Vahlen). Zwar haben sich nur sehr spärliche Reste erhalten; doch reichen sie aus, um eine weitere Gattung kenntlich werden zu lassen, in der Ennius sein Talent beweist, allerdings offenbar ohne viele andere anzuregen, seinem Vorbild zu folgen. Nur für Accius ist - wenn ich recht sehe - der Titel Sotadica belegt (Gell. 6,9,16 = frg. 19 Büchner). Beachtung verdient außerdem, daß Ennius in einem wohl dem ,Sota' zugehörenden Fragment von Leuten spricht, die rhetorica tongent. Es ist der erste Beleg dafür, daß die griechische Rhetorik in Rom bekannt wird (Var. frg. 28 Vahlen). An Ennius' Bearbeitungen griechischer Dramen scheint eine Dichtung anzuknüpfen, die mit ihrem Titel Epicharmus 38 unmittelbar auf den sizilischen Komödiendichter verweist. Jedoch sind es offenbar dessen philosophische Gedanken, die Ennius interessieren. Ob er sie wirklich dessen Komödien selbst entnimmt oder nur später auf dessen Namen gefälschten Sprüchen, muß offen bleiben; jedenfalls wählt Ennius als Metrum den trochäischen Tetrameter, obwohl er seinem Gedicht einen lehrhaften Charakter gibt, ordnet es also nicht der Tradition des Lehrgedichtes zu, für die der Hexameter als verbindlich gilt. Wenn auch der Inhalt, die Natur und die Elemente, später wieder in lateinischen Lehrgedichten behandelt werden und Lukrcz sich ausdrücklich auf Ennius beruft 39 (allerdings wohl gerade nicht auf dieses Gedicht), so entschließt sich doch kein Späterer, die gleiche Form wie Ennius wieder aufzugreifen. Lehrhaft war fraglos auch der Inhalt der Verse, die sich in protreplico und in praeeeptis fanden, auch sie in trochäischem Versmaß (Var. frg. 30-33 Vahlen). Es läßt sich heute nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es sich um eine oder um mehrere Dichtungen handelte und wie der Titel lautete (oder die Titel lauteten). Wiederum muß man sich mit der Feststellung begnügen, daß Ennius eine weitere literarische Form auswählt und ihre Möglichkeiten in lateinischer Form auslotet, die aber nicht akzeptiert, jedenfalls nicht weiterentwickelt wird.

Vgl. W. Kierdorf, Laudatio Funebris, Meisenheim am Glan 1980 (= Beiträge zur Klassischen Philologie 106); dazu C. J. Classen, JbAC 27-28, 1984-1985, 228-231. Anthologie Lyrica Π 6, Ed. E. Diehl, Leipzig 1942 2 , 186-195. Var. frg. 45-59 Vahlen. Zu einigen Problemen dieses Gedichtes s. BeUini (s. A. 13) 3151. Lucr. 1, 117-135; s. dazu C. J. Classen, TAPhA 99, 1968, 108 (= dieser Band 113114).

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Lehrhaft und zugleich von philosophischem Interesse geprägt ist schließlich auch das einzige Werk des Ennius, dessen Reste noch heute einen Eindruck von seiner Prosa zu geben vermögen, der Euhemerus (Var. frg. 60-146 Vahlen), auch eine Übersetzung, deren Titel auf den Verfasser des griechischen Originals verweist. Es ist die 'Ιερά ά ν α γ ρ α φ ή , die romanhafte Beschreibung einer Reise, die den Verfasser zu fernen Inseln führt, deren Bewohner, vor allem auf der Hauptinsel Panchaia, mit ihren Einrichtungen und Bräuchen geschildert werden. Auf einer Stele finden sich die Taten von Uranos, Kronos und Zeus u. a. aufgezeichnet, die sie als Könige der Vorzeit erweisen, denen wegen ihrer Verdienste göttliche Stellung und Ehrung zuteil geworden ist Auch hier zeigt sich Ennius* Vorliebe für Vorstellungen, die die Grenzen zwischen Göttern und Menschen verschwimmen lassen, wie im Scipio, Vorstellungen, die den Römern fremd sind. Mit Recht betont F. Leo: (wir) „...staunen...", „daß Ennius dem römischen Publikum den Euhemerus vorzulegen wagte. Denn es war ja nicht Zeus, dessen Göttlichkeit hier verflüchtigt wurde, sondern Jupiter, der Optimus Maximus." Ist doch, wie K. Latte bemerkt, „zu Beginn des 2. Jahrhunderts die überlieferte Form der Kultübung noch in den herrschenden Kreisen in Rom unbestritten." 40 Die Zweifel an den traditionellen Anschauungen beginnen erst langsam in Rom aufzukommen und erst allmählich auch in das breitere Publikum vorzudringen, etwa durch die dramatischen Aufführungen, an denen sich viele Zuschauer erfreuen, oder durch die Sklaven aus dem Osten oder die unmittelbaren Kontakte der Soldaten mit der griechischen Welt. Mag auch in Kreisen der Oberschicht der eine oder andere erfolgreiche Feldherr, der einen hcllcnislischcn, wie einen Gott verehrten König besiegt hat, Gefallen an den Gedankengängen des Ennius finden; selbst das gebildete, aufgeschlossene Publikum in Rom ist noch nicht reif für sie. Und so begegnen kaum Spuren des Einflusses oder der Rezeption dieser Schrift. Abgesehen von einer Einzelheit, die Varrò zitiert, und einer Bemerkung in Ciceros einschlägiger Schrift De natura deorum, ist es allein das polemische Interesse des Laktanz, das noch heute einen Eindruck von diesem Werk und Ennius' Prosa zu gewinnen erlaubt. 41 Sie kann und soll hier nicht untersucht und charakterisiert werden. Wichtig ist immerhin, sich zu vergegenwärtigen, daß Ennius mit seinem Euhemerus nicht nur neue Ideen in Rom bekannt macht, die nur bei wenigen Anklang finden, sondern daß er, der der Vater der lateinischen Dichtung genannt worden ist, 42 als erster ein literarisches Werk in lateinischer Prosa veröffentlicht: Ennius erobert für die Prosa, die bis dahin nur für praktische Zwecke, für Gesetze und Verträge, für die annales maximi und private Aufzeichnungen genutzt wurde, einen völlig neuen Bereich. Selbst wer annimmt, daß auch vor Ennius' Zeit die eine oder andere Leichenrede verbreitet

Leo, Geschichte (s. A. 7) 202; Laue (s. A. 14) 264. Vgl. E. Laughlon, Eranos 49, 1951, 35-49; E. Fraenkel, Eranos 49, 1951, 50-56 (= Ders., Kleine Beiträge zur Klassischen Philologie, Rom 1964, Π 53-58); Gratwick (s. A. 22) 158 hält es dagegen für wahrscheinlicher, daß „the Historia sacra was, like Ennius' other expository works, presented in iambo-lrochaic verse". Zu dieser Bezeichnung s. Skulsch, Entretiens (s. A. 1) 3-4; s. auch 30.

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wurde, wird nicht bestrcitcn, daß erst Ennius die Prosa für ganz neue Inhalte verwendet. Der Euhemerus ist kein Werk wie Catos De agricultura, dessen andere Fachschriften und Lchrbücher oder die Origines, die ohnehin weitgehend erst nach Ennius' Tod entstehen; erst mehr als hundert Jahre später begegnet man Römern, die philosophische und theologische Gedanken in lateinischer Prosa formulieren. Eine lehrhafte Komponente kann man schließlich auch den Hedyphagetica 43 nicht absprechen, wenngleich Ennius mit diesem Gedicht wohl weniger die Absicht verfolgt, die Römer in die Geheimnisse raffinierten Kochens einzuweihen als seine sprachlichen Fähigkeiten zu demonstrieren, die auch den schwierigsten Gegenständen gewachsen sind. Gilt es doch, die ausgefallensten Gerichte und Gewürze mit ihren Eigenarten zu schildern - im erhaltenen Fragment geht es um Fische und Empfehlungen, wo sie am besten zu kaufen, wo sie zu meiden sind - und dafür einen Ton anzuschlagen, der die erhabene Größe des Epischen dem Gegenstand entsprechend verfremdet. Die Zahl der Römer, die die beschriebenen Speisen kannten und zu genießen wußten, dürfte damals größer gewesen sein als die derjenigen, die diese literarischen Leckerbissen zu würdigen verstanden, mit denen Ennius ein weiteres Genus in Rom heimisch macht, das Lehrgedicht. Dieser Form bedienen sich dann mehrere Dichter für ernsthafte Inhalte zunächst in verschiedenen Metren, 44 bis Cicero sie im Anschluß an sein Vorbild für seine Aratübersetzung auch wieder in Hexametern wählt und Lukrez für seine Darstellung des Universums, ungeachtet der Skepsis, die die Epikureer der Dichtung entgegenbrachten: Ihm bahnt Ennius also gleichsam den Weg, auf dem er, nicht Epikur, sondern Empedokles folgend, sein Anliegen durch ein Gedieht De rerum natura den Römern in besonders wirkungsvoller Form nahebringen kann. Hat schon der bisherige Überblick die Vielfalt als Wescnsmcrkmal der literarischen Tätigkeit des Ennius deutlich werden lassen, so wird man wohl dem letzten noch zu nennenden Werk am ehesten gerecht, wenn man gerade auch die Vielfalt als sein entscheidendes Charakteristikum ansieht, ob der Titel nun Satura lautete oder, wie ich meine Saturae; 45 gemeint ist jedenfalls wohl „bunt zusammengewürfeltes Gemisch". Wiederum sind die Fragmente nicht zahlreich, und die Interpretation wird dadurch belastet, daß die Erklärer sich durch die

Var. frg. 34-44 Vahlen; dazu Skutsch, Studia (s. A. 6) 38-39; Grilli (s. Α. 6) 112-115. Bettini (s. Α. 13) 55-76. Vgl. L. Accius frg. 6-15 und 16-18 Büchncr (= 1-10 und 18-20 Funaioli); 21 Büchner; 22-25 Büchner (= 11-14 Funaioli); Q. Valerius Soranus frg. 1-4 Büchner (cf. 2-3 und lest. 6 Funaioli); Volcacius Sedigitus frg. 1 -4 Büchner (= 1 -4 Funaioli); Porcius Licinus frg. 1-5 Büchner (= 1-5 Funaioli), dazu E. Pöhlmann, A NRW I 3, Berlin 1973, 848 A. 212. D. h. eine Sammlung mehrerer Bücher mit je einer Satura; Saturae nehmen als Titel an auch Mariolli (s. A. 21) 123-130 (mit wichtigen Einzelbeobachtungen) und Maia 5, 1952, 271-276; Jocelyn (s. A. 5) 1022-1026; C. W. Müller, MH 33, 1976, 193 A. 2 (der 193-218 die Fabel von der Haubenlerche behandelt); Gratwick (s. A. 22) 158; für Satura tritt nach J.-H. Waszink, in: Skutsch, Entretiens (s. Α. 1) 101-105, wieder Scholz (s. Α. 4) 35 ein, trotz der Formulierungen bei den zitierenden Autoren.

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späteren Satiren beeinflussen lassen. Denn wenn sich hier neben Lebensweisheit und Fabeln Selbstaussagen und zahlreiche Beschreibungen von einzelnen oder von Gruppen finden und bisweilen ein kritischer Ton zu spüren ist, ist doch nicht die Vermutung und vollends nicht der Schluß gerechtfertigt, Ennius habe Satiren verfaßt wie Lucilius, Horaz oder einer der Späteren. Gerade weil Lucilius in den folgenden Jahrhunderten stets als der prägende Vertreter der Gattung angesehen wird, 4 6 wird man zögern müssen, Ennius dieselbe Form von Dichtung zuzuschreiben wie ihm. Eine weitere allgemeine Überlegung spricht vielmehr dafür, deutliche Unterschiede anzunehmen: Wie sich gezeigt hat, ist Ennius aufs innigste mit der griechischen Literatur vertraut, und fraglos nicht nur mit der griechischen Literatur, sondern auch mit der griechischen Literaturtheorie und Literarturkritik. Deswegen liegt es nahe zu vermuten, daß er zwar ähnlich wie manche alexandrinischen Dichter Gedichte verschiedener Form und verschiedenen Inhalts in seinem Buch mit dem Titel Saturae zu vereinen bereit ist. Aber die Verknüpfung verschiedener Themen und Darstcllungselemente in einem Gedicht, wie sie die Satiren des Lucilius charakterisiert, ist den Griechen im Grunde fremd - Menipp von Gadara ist ein Außenseiter, der keine Nachfolger findet - , und ich möchte sie daher einer gewissen Unerfahrenheit und Unbekümmertheit in literarischen und stilistischen Fragen zuschreiben, wie sie für die lateinisch schreibenden Autoren auch in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts noch anzusetzen ist. Lassen doch die theoretischen Erörterungen bei Lucilius und Accius spüren, daß man tastet und sucht, daß man erst eine Orientierung zu finden und Regeln festzulegen bemüht ist. So vermute ich, daß die Gattung, von der Quintilian (inst. 10, 1, 93) später sagt, daß sie ganz den Römern gehöre, ihre entscheidende Prägung erst durch Lucilius bekommen hat, den ersten Vertreter der römischen Oberschicht, der Verse in lateinischer Sprache schmiedet. Ennius aber, der in seinem Dichten von griechischen Maßstäben bestimmt ist, gibt durch einige Bücher gemischter Gedichte wohl nur einen Anstoß, und weil diese Anregung auf äußerliche Züge beschränkt bleibt, entwickelt sich die Satire in ihrem Wesen, d.h. mit der variatio als Charakteristikum für Inhalt und Form, erst nach seinem Tode als eine ganz römische Gattung. Reich und bunt ist der Strauß der literarischen Gaben, die Ennius den Römern beschert. Zu Lebzeiten dankt ihm kaum einer dafür. Er lebt in bescheidenen Verhältnissen, und einen offiziellen Auftrag wie Livius Andronicus erhält er nicht.47 Nur die wenigen, die sich ihm besonders verpflichtet fühlen, zeigen sich erkenntlich wie die Fulvier; daß seine Statue im Grab der Scipionen stand, ist umstritten und eher zweifelhaft. 48 Erst allmählich lernt man, Ennius' Werke zu schätzen und zu würdigen, wenigstens einige von ihnen, wie Lucilius und

Vgl. C. J. Classen, SO 63, 1988, 103-104; 106 (= dieser Band 253-255; 256-257). Liv. 27, 37, 7 (s. auch 31, 12, 10). Fest. 446-447 Lindsay (1913. ND 1965) 423 Lindsay (1930). Vgl. Suerbaum (s. A. 1) 210-214; Badian (s. A. 1) 154-155.

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Lukrez, Cicero, Vergil und Livius lehren. Die Geschichte dieser Wirkung ist bekannt und bedarf keiner ausführlichen Darstellung. Betont sei immerhin, was übersehen zu werden pflegt, daß man einen Teil der von Ennius in Rom eingeführten literarischen Genera dort nicht rezipiert, geschweige denn weiterentwickelt Wichtiger ist, abschließend noch einmal nach den Voraussetzungen und den wesentlichen Elementen von Ennius' Erfolg zu fragen. Er kommt als Fremder nach Rom, als einzelner ohne Bürgerrecht, und er sieht sich einer Gesellschaft gegenüber, die in sich festgefügt und deren Leben von einflußreichen Familien geprägt ist, in einer Zeit, in der sich die Römer in äußerster Gefährdung bewährt und durch ihren Sieg über die Karlhager ihre Vormachtstellung im ganzen Mittelmeerraum gesichert haben. Ennius kommt aber auch als griechisch Gebildeter, der mehrere Sprachen spricht, der die griechische Literatur kennt und die griechische Grammatik und die griechische Rhetorik lehren kann, 49 und er sieht sich einer Gesellschaft gegenüber, die Jahrhunderte lang die Schrift nur für nützliche Zwecke verwendete, die gerade erst durch Anregungen von außen veranlaßt, nicht aus eigenem Antrieb, beginnt, an den verschiedenen Festen Dramen aufzuführen und in der Oberschicht Griechisch zu lernen. Ennius erlauben seine Talente und seine Kenntnisse, die griechischen Tragödien so für die Römer umzugestalten, daß sie sie aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus verstehen können, und die Formen und Darstcllungsmittel des griechischen Epos so für die Ordnung und Beschreibung der maxima facta patrum (epigr. 16) zu nutzen, daß er als erster die Geschichte Roms in ihren wesentlichen Phasen verdeutlichen und die allgemein anerkannten Ideale der Römer seinen Lesem durch eine lebendige Schilderung einzelner großer Persönlichkeiten in unmittelbar greifbarer Verkörperung vor Augen stellen kann. Schließlich erlauben sie ihm, eine solche Fülle weiterer literarischer Gattungen den Römern in lateinischer Sprache vorzustellen, daß diese, was meist nicht hinreichend beachtet wird, nur einige von ihnen - und auch sie oft erst sehr viel später - wieder aufgreifen und teils in abgewandelter Form bei sich heimisch werden lassen. Ennius hat also das Glück, daß er mit seiner Begabung und seiner Bildung in eine Welt eintreten und in ihr wirken kann, die erst eben anfängt, sich an das Phänomen einer eigenen (zunächst von Fremden verfaßten) .Literatur' zu gewöhnen, und in der wenigstens einige Vertreter der Oberschicht literarischen Werken ein wenn auch begrenztes Interesse entgegenzubringen beginnen. Verhängnisvoll wirkt sich für ihn aus, daß er zunächst keinen Nachfolger hat; erst nach langer Zeit beginnen seine Werke zu wirken, so daß einige seiner Ansätze ganz in Vergessenheit geraten, andere erst viel später aufgegriffen werden, und zwar durch verschiedene Autoren, von denen jeder einzelne, vom großen Vorbild ausgehend und auf ihm aufbauend, dieses seinerseits im jeweiligen Genus in den Schatten stellt, so daß Ennius' Werke heute nur noch in klägli-

Der Grad seiner griechischen Bildung, von der er selbst spricht (frg. ann. 209 Skutsch: und die Spätere empfinden (vgl Suet, gramm. 1: semigraecus), wird leicht unterschätzt.

die Ii studiosus)

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chen Trümmern und Fragmenten greifbar sind. Sie reichen allerdings aus, Ennius als eines der großen Genies zu erkennen, die in lateinischer Sprache geschrieben haben, selbst ein homo Rudinus, später ein civis Romanus, aber nicht ein Römer, sondern ein Fremder, dem es, weil er ein Fremder ist, gelingt, Wesen und Eigenart der Römer mit größerer Klarheit zu erfassen als diese selbst und sie ihnen durch die glückliche Verknüpfung griechischer literarischer und lateinischer sprachlicher Elemente wirkungsvoll und lebendig vor Augen zu stellen. 50 Mit Recht rückt ihn die spätere Uberlieferung in die Nähe der großen Mitglieder der Scipionenfamilie. Denn wie sie verdient er geachtet und gewürdigt zu werden wegen dessen, was er geleistet hat, nicht als Feldherr für Rom, sondern als Dichter für die Römer.

so

Man wird so weit gehen dürfen zu sagen, daß es Ennius als einem Fremden gelingt, das Selbstverständnis der Römer so zu erfassen und zu artikulieren, daß er es seinerseits in der Folgezeit maßgeblich zu prägen vermag.

Dichtung und Rhetorik in Lukrez' De rerum natura Lukrez hat die gelehrte Welt immer wieder in seinen Bann gezogen;1 zahlreiche Aspekte seines Lehrgedichtes sind erörtert worden, viele Fragen dazu sind beantwortet, noch mehr jedoch sind gestellt worden, und einige Probleme harren weiterhin einer befriedigenden Lösung. Im folgenden Beitrag soll der Versuch unternommen werden, einige Vorschläge zu machen, um noch offene Fragen wenn nicht zu beantworten, doch einer Klärung näher zu bringen, z.B. 1) Warum bedient sich Lukrez für die Darstellung der epikureischen Philosophie der dichterischcn Form - oder warum wendet er sich als Dichter der Philosophie Epikurs zu, der sich seinerseits gegen den Gebrauch der Dichtung für philosophische Zwecke gewandt haben soll? 2) Warum beginnt Lukrez in diesem .epikureischen' Werk mit einem Hymnus an eine Göttin, an Venus? 3) Warum läßt er dann einige scheinbar nicht zueinander passende Abschnitte folgen? Wurden einige von ihnen später hinzugefügt? Von ihm selbst oder von einem Interpolator? 4) Welches Ziel verfolgt das ganze Werk? Welche Grundsätze befolgt Lukrez, um es zu erreichen? 5) Schrieb Lukrez die sechs Bücher seines Lehrgedichtes ursprünglich in der Reihenfolge, in der sie in den Handschriften überliefert sind, oder in einer anderen? Wurde er daran gehindert, seinem Werk die beabsichtigte endgültige Anordnung zu geben? 6) Warum wiederholt Lukrez mehrfach einzelne Verse oder Versgruppen, warum häuft er Argumente auf Argumente, warum begnügt er sich bisweilen mit einem ziemlich unklaren Aufbau seiner Argumentation? Ich möchte hier den Universitäten in den U.S.A. und in Kanada danken, die mir die Möglichkeit gaben, die folgenden Beobachtungen und Überlegungen vorzutragen und zu erörtern. Für kritische Fragen und Hinweise bin ich B. Otis, P. H. De Lacy and A. E. Raubitschek zu Dank verpflichtet; besonders habe ich dem Sather Professor 1968, E. J. Kenney, zu danken. A. T. von S. Bradshaw verbesserte die erste englische Fassung, D. G. Harbsmeier half mir bei der Beschaffung der nötigen Literatur. Da dieser Aufsatz viel länger geworden ist, als ursprünglich beabsichtigt war, habe ich fast alle Anmerkungen weggelassen. Bibliographische Übersichten finden sich bei E. Bignone, Storia della letteratura Latina 2, Florenz 1945, 456-462; C. Bailey, Lucretius, in: M. Platnauer (Hrsg.), Fifty Years (and Twelve) of Classical Scholarship, Oxford 1968, 345-357 und 379-386 (D. E. W. Woimell); P. Boyancé, Lucrèce et l'epicurisme, Paris 1963, 329347; Lucreti De rerum natura, Edd. H. Paratore, H. Pizzani, Rom 1960, 55-64; W. Totok, Handbuch der Geschichte der Philosophie 1, Frankfurt 1964, 286-291, s. jetzt auch C. J. Classen (Hrsg.), Probleme der Lukrezforschung, Hildesheim 1986, VII-XV. Text: Tili Lucrcti Cari De rerum natura libri sex. Ed. C. Bailey, 3 Bände, Oxford 1950 (von dem ich 1,150 und 156 abwcichc).

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7) Warum weckte Lukrez trotzdem bei so vielen Lesern für eine so lange Zeit immer neu Interesse, warum rief er selbst nach Jahrhunderten so hitzige Reaktionen bei einigen Vätern der Kirche hervor und wieder bei einigen Theologen seit dem fünfzehnten Jahrhundert? Die entscheidende Frage könnte man kurz so formulieren: Wie läßt es sich erklären, daß das Werk des Lukrez eine so weite Verbreitung fand und so scharf angegriffen wurde, obwohl er nicht einmal fähig war, ein .befriedigendes' Proömium zu verfassen oder den Stoff in .überzeugender' Anordnung zu behandeln - so daß es mehrerer Dissertationen und zahlreicher Zeitschriftenartikel (vor allem deutscher Gelehrter) bedurfte, um das erste Proömium zu .ordnen' und das Ganze in eine .annehmbare Form' zu bringen oder wenigstens den .ursprünglichen' Zustand und die .ursprüngliche' Reihenfolge der sechs Bücher De rerum natura wiederzugewinnen. Auch der französische Philosoph Henri Bergson bemerkte schon 1883: „Comme le poète nous parle, en plus d'un endroit, de l'extrême importance qu'il attache à un arrangement systématique des parties, à un groupement méthodique de preuves, il faut croire qu'il eût transposé des paragraphes entiers, intercalé des transitions, supprimé des redites, s'il en avait eu le temps." 2 Und ein Übersetzer aus jüngster Zeit rät seinen Lesern, sich nicht an Lukrez' eigene Reihenfolge zu halten, sondern sich zunächst einige besonders eindrucksvolle Stücke herauszugreifen und dann, was „more difficult and duller" ist, zu lesen. 3 Weisen auch sie auf Lukrez' Unfähigkeit - oder auf die Unfähigkeit des modernen Lesers, das Werk des antiken Dichters in seiner ursprünglichen Form zu würdigen? Immerhin stellt ein verständnisvollerer Kritiker unserer Tage fest: „Lucretius speaks across the years to the modem reader more directly, and enlists his interest more immediately, than almost any other poet of antiquity."4 Um die angeblichen Schwierigkeiten in Lukrez' Werk zu erklären, sind moderne Gelehrte oft von dessen Biographie ausgegangen, d.h. von den sehr wenigen Nachrichten, die sich erhalten haben. Bekanntlich beziehen sich alle Erwähnungen von Lukrez aus den ersten vierhundert Jahren - abgesehen von Nepos' vagem Hinweis auf den Tod des Dichters (Att. 12, 4) - auf dessen Gedicht. Nur in solchen späteren Werken wie Aelius Donatus' Vita Vergilii und Hieronymus' Übersetzung der Chronik des Euseb finden sich Nachrichten über den Dichter selbst. Jedoch hat der dringende Wunsch, dem Verfasser des eindrucksvollen Gedichtes gleichsam neues Leben einzuhauchen, zahlreiche Vermutungen und Theorien aufkommen lassen, von denen wenigstens zwei kurz genannt seien. G. della Valle hat in mehreren Büchern und Aufsätzen ein sehr anschauliches Bild des Lebens gezeichnet, das Lukrez nach den Vorstellungen des Autors in der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts in Kampanien ge-

H. Bergson, Écrits et paroles, 3 Bände, Pans 1957-1959, 1, 41 (zuerst 1883). A. D. Winspear, The Roman Poet of Science: Lucretius, New York 1956, VII-VIII. D. E. W. Wormell, The Personal World of Lucretius, in: D. R. Dudley (Hrsg.), Lucretius, London 1965, 35.

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führt haben dürfte. A. Gerlo zog einen weit kühneren und kürzeren Weg vor: Gleichsam mit einem Federstrich schenkte er Lukrez eine Fülle biographischen Materials einschließlich einer antiken Vita, indem er Lukrez als Pseudonym für Atticus deutete. 6 Ein solches Vorgehen heißt doch wohl, die Lösung nicht auf Sand, sondern auf schmelzendes Eis zu bauen. Verzichtet man auf derartig abenteuerliche Versuche, so bleiben einem die sich widersprechenden Angaben in Donats Vita Vergilii und Hieronymus* Zusätze zu Eusebs Chronik. Sie klingen nicht vertrauenerweckend; heißt es doch bei Hieronymus: T. Lucretius poeta nascitur. qui postea amatorio poculo in furorem versus cum aliquot libros per intervalla insaniae conscripsisset, quos postea Cicero emendavit, propria se manu interfecit anno aetatis XL111I.

Trotzdem hat man sich auf Hieronymus' Darstellung verlassen, und sie hat zahlreiche Gelehrte bei ihrer Würdigung, Wertung und Analyse des lukrezischen Gedichtes beeinflußt. Einige haben sich der insania bedient, um die Eigenarten einzelner Abschnitte zu erklären; andere haben versucht, im Gedicht eine Bestätigung für die zitierten biographischen Angaben zu finden; und wieder andere haben wenigstens die Möglichkeit vom Wahnsinn des Dichters eingeräumt. Das ist um so überraschender, als K. Ziegler schon 1936 überzeugend gezeigt hat, daß Hieronymus' Angaben von des Dichters Liebestrank, Wahnsinn und Selbstmord nicht auf zuverlässiger Überlieferung beruhen (d.h. nicht auf Sueton zurückgehen), sondern Frucht christlicher Polemik sind.7 Was Hieronymus bezeugt, der als einzigartiger Meister aggressiver Diktion bekannt ist, ist der Haß der leidenschaftlichen Gegner des Lukrez, für den es zahlreiche weitere Beweise gibt; anders gesagt: auch Hieronymus zeigt die gewaltige Wirkung, die Lukrez' Werk noch nach Jahrhunderten auszuüben vermochte. Gibt es einen befriedigenderen Weg, um zu einer Lösung der Probleme zu gelangen, die das Lehrgedicht des Lukrez aufwirft? E. Bignone konstatiert knapp: „La sua vera biografia è il suo poema". 8 D.h. der allein gangbare Weg ist die Interpretation des Textes selbst. Was kann er über den Autor lehren, was über die Art und Weise, in der er seinen Gegenstand behandelt, über die Anordnung des Stoffes, über die Sprache? Kaum ein Abschnitt ist ergiebiger und vermittelt wichtigere Einsichten als die Einleitung (1, 1-145). Doch um den Eindruck zu vermeiden, daß ich mich an die alte Praxis der Überredungskunst hielte und die gewichtigsten Argumente an den Anfang rückte, um durch sie auch den schwächeren größere Wirkung zu verleihen (Rhet. Her. 3,18), beginne ich mit dem ersten Abschnitt der Argumentation. Angesichts der Art, in der Lukrez seinen Gegenstand in der Einleitung ankündigt, S. vor allem G. della Valle, Tilo Ijjcrczio Caro e l'epicureismo campano, Neapel 1935. Pseudo-Lucrelius, AC 25, 1956, 41-72, nicht wiederholt in A. Gerlo, Lukrez, Gipfel der antiken Atomistik, Berlin 1961, 3-6. Der Tod des Lucretius, Hermes 71, 1936, 421-440. Bignone (s. A. 1) 150.

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rerum primordia pandam, unde omnis natura creet res auctet alatque (1, 55-56),

könnte man erwarten, daß er als erstes beweist, daß einige rerum primordia existieren und daß aus ihnen alles von der Natur geschaffen wird; oder, wenn man die angekündigten Formulierungen nicht ganz so wörtlich nimmt, daß alles aus den primordia entwickelt wird oder alles sich aus ihnen entwickelt Statt dessen stellt Lukrez ebenso wie Epikur in seinem knappen Abriß im Brief an Herodot (38) zu Beginn die noch elementarere These auf nil posse creari de nihilo (1, 155-156) oder nullam rem e nihilo gigni (1, 150) und zwar im Einklang mit traditionellen Formulierungen, wie sie sich schon bei Empedokles finden (frg. Β 12: εκ τε γαρ ούδάμ' έόντος άμήχανόν έστι γενέσθαι) oder bei Aristoteles (Metaph. 1062 b 24-26) und noch bei Pcrsius weiterleben (3, 83-84: gigni de nihilo nihilum ). Indem Lukrez ein scheinbar vorsichtiges Vorgehen ankündigt und wählt, gelingt es ihm, glcich zu Beginn Vertrauen beim Hörer zu wecken, obwohl er im Gegensatz zu Epikur (Ep. ad Her. 37-38) keine methodologische Einführung gibt. Darüber hinaus beschränkt sich Epikur auf das einfache ούδέν γίνεται έκ τοϋ μή δντος, wenigstens im Brief an Herodot (38), Lukrez dagegen fügt etwas hinzu, auf das er seine Hörer schon in mehreren Abschnitten der Einleitung sorgfältig vorbereitet hat (s. auch u. S. 111) und das er jetzt erneut betont: nullam rem e nihilo gigni divinitus umquam (150), wiederholt im Vers 158: opera sine divum. Denn das ist es, was die Menschen gemeinhin glauben, weil sie die wahren Ursachen der Dinge nicht sehen, und dieses Eingreifen der Götter ist es, was sie mit Angst und Schrecken erfüllt (1, 151-154) und was Lukrez daher zu bekämpfen sich anschickt. Nachdem er auf diese Weise zunächst die Bedeutung seines Vorhabens für den Adressaten seines Gedichtes unterstrichen (1,151-156) und die Wichtigkeit dieses ersten Punktes für die folgende Untersuchung in einer etwa in Gerichtsreden üblichen Form 9 hervorgehoben hat (1, 156-157: tum quod sequimur iam rectius inde perspiciemus), beginnt Lukrez die erste These ausführlich zu begründen (1, 159-214). Er beginnt mit einem apagogischen Beweis in der Form eines gemischten hypothetischen Syllogismus der Art: Wenn P, dann Q (z.B. 1,159-160) nicht Q .·. nicht Ρ ohne die Schlußfolgerung erneut auszusprechcn, die er schon vorher als Behauptung aufgestellt hatte (1, 150; 155-156), und ohne die propositio minor (also nicht Q) ausdrücklich zu formulieren (ex omnibus rebus omne genus nasci non potest). Denn er sieht dies als eine allgemein vertretene Meinung an, obwohl es sich keineswegs um eine selbstverständliche Tatsache oder eine erwiesene Wahrheit handelt; vielmehr wird sie aufgrund der Erfahrung angenommen, d.h. aufgrund einer großen Zahl von Sinneswahmehmungen. An diesem Punkt Cf. Cie. Quinci. 11; S. Rose. 14; Clucnt. 11; MU. 23, cf. auch Andoc. 1. 8; Lys. 17, 1; 13, 4; Demosth. 27, 3; 43, 2.

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der Untersuchung, an dem die grundlegende Frage nach dem Wesen des wirklich Existierenden erörtert wird, scheint es nicht berechtigt zu sein, sich solcher Zeugnisse zu bedienen, bevor das Wesen dieser Zeugnisse, d.h. der Daten der sinnlichen Wahrnehmung oder anderer Belege, und die Methode ihrer Verwendung selbst überprüft und als zu Recht benutzbar erwiesen worden ist, 10 wie es Epikur sogar in seinem Brief an Herodot (37-38) und natürlich auch sonst tut. Es ist gleichgültig, welche Haltung Epikur gegenüber der Logik zeigte und ob diese Form der Argumentation von späteren Epikureern übernommen und weiterentwickelt wurde. Denn im Gegensatz zu Epikur dichtet Lukrez nicht für Mitglieder der epikureischen Schule, und es geht ihm anders als Philodem auch nicht vor allem um Polemik. Unmißverständlich wendet er sich mit seinem Lehrgedicht an Memmius, der für die Philosophie Epikurs gewonnen werden soll, und an andere, die (noch) nicht Epikureer sind. Daher muß er entweder sicherstellen, daß er verstanden wird und daß seine Kriterien auch von denen akzeptiert werden, die die allgemeinen Voraussetzungen und Annahmen der epikureischen Philosophie nicht teilen; oder er muß seine Sache so präsentieren, daß die Hörer die Schwierigkeiten, die sich hier ergeben, nicht bemerken. Die Frage ist also, ob die Beweise, die Lukrez vorlegt, nicht nur nach allgemeinen Maßstäben gültig sind, sondern auf Wahrheit beruhen, und wenn es nicht der Fall ist, ob dies klar und deutlich ausgesprochen wird. Während dies ganz gewiß nicht geschieht, scheint die Antwort auf die erste Frage von Lukrez selbst vorweggenommen worden zu sein. Denn er reiht an die zwei allgemeinen Folgerungen (1, 159-160) mehrere Adynata an und dann eine Fülle von Beweisen (sorgfältig mit logischen Verknüpfungen verbunden: 161-214), die für sich selbst zu sprechen scheinen. Zusätzliche Schwierigkeiten, die Lukrez' Art der Beweisführung innewohnen, zeigen sich gleich in den nächsten Versen, in denen er seine These zusammenfaßt und zugleich durch eine Frage weiter stützt (1,167-168): quippe, ubi non essent genitalia corpora qui posset mater rebus consistere certa?

cuique,

Er greift nicht nur auf sinnlich Wahrgenommenes zurück, er benutzt als Beweismittel eine These, die - in seiner eigenen Terminologie formuliert oder vielmehr der Epikurs: genitalia corpora cuique - kaum als allgemein gültige Erfahrung angesehen werden kann. Zum ersten Mal begegnet man hier einer Methode, die sich bei Lukrez großer Beliebtheit erfreut. Denn immer wieder benutzt er in seiner Argumentation als Beweise Behauptungen, die noch nicht bewiesen sind und für die ein Beweis entweder überhaupt nie erbracht wird - wie z.B. für „the idea of law ... prior to, and the condition of, all the principles

Cf. Quint, insl. 5, 10, 11: ergo cum sit argumentum ratio probationem praestans, qua colligitur aliud per aliud, el quae quod est dubium per id quod dubium non est confirmât, necesse est esse aliquid in causa quod probatione non egeat. alioqui nihil erit quo probemus, nisifuerit quod aut sit verum aut videatur, ex quo dubiis fides fiat.

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enunciated in the first two books" - oder für die ein Beweis erst sehr viel später gegeben wird, oft mit Hilfe von Thesen, deren Beweisführung ihrerseits auf diesen Behauptungen beruht und von ihnen abhängt Bei der Erläuterung der Verse 2, 944-963, in denen der Dichter seine Erörterung des dritten Buches vorwegnehmend auf die Reaktionen der Atome von Leib und Seele auf einen schweren Schlag oder Stoß anspielt, bemerkt C. Bailey: „Lucretius again, as has often been noticed before, argues from his own basis and assumes his own conclusions." Gewiß trifft es zu, wie G. Müller betont, daß „kein in sich unverständlicher Gedanke bei solchen Vorwegnahmen verwendet wird". 12 Noch wichtiger ist, daß diese Form des Vorgehens - abgesehen davon, daß es eine gewisse Art von Argumenten liefert - den Vorteil hat, dem Leser etwas wie eine Vorausschau auf zentrale Aspekte der darzustellenden Lehre zu geben, so daß dieser schon mit ihnen vertraut ist, wenn sie ihrerseits erörtert werden, und er so eher bereit ist, sie zu akzeptieren. Trotzdem hat diese Form der Argumentation ihre offenkundigen Mängel. Nicht daß so geführten Beweisen die absolute Gültigkeit fehlt, nicht daß die Schlußfolgerungen erst genannt werden und die Argumente später - ein Verfahren, das in der Tat ganz geläufig ist 13 und das die meisten modernen Philosophen akzeptieren und für legitim halten: Es ist das Wesen einiger dieser sogenannten Beweise, das dieses Verfahren diskreditiert, da für einige Thesen ein Beweis gar nicht erst versucht wird, für andere keine echten Beweise vorgelegt werden. Auch in den folgenden Abschnitten des ersten Buches geht Lukrez in derselben Weise vor. In den Versen 1, 169-173 bezieht er sich auf eine Reihe von Erfahrungstatsachen, wobei er sich wieder weitgehend seiner .eigenen' Terminologie bedient (1,169; 171; 173), so daß diese Verse eher wie ein Stück eines epikureischen Lehrvortragcs als wie ein argumentierender Abschnitt klingen. In den Versen 1, 174-183 werden zunächst einige Beobachtungen aus der Natur angeführt (d.h. es werden einige weitere Annahmen gemacht), bevor Lukrez die hypothetische Prämisse mit spezifischerer Apodosis wieder aufnimmt (1, 180-181) und eine Begründung in eigener Terminologie anfügt (1,182-183: quippe ubi nulla forent primordio quae genitali concilio possent arceri tempore iniquo). Im dritten .Beweis' führt Lukrez nicht nur die hypothetische Prämisse wieder mit einer anderen spezifischeren Apodosis an (1, 184-185), er nutzt eine ganz bestimmte Erfahrungstatsache, um eine völlig neue allgemeine Feststellung zu treffen (1, 188-189), und mit deren Hilfe leitet er eine weitere Illese seiner Lehre ab (1,191: quidque sua de materia grandescere alique). In der-

W. Y. Sellar, The Roman Poets of the Republic, Oxford 1889, 341. Bailey (s. A. 1) 951; G. Müller, Die Darstellung der Kinetik bei Lukrez, Berlin 1959, 50 in seiner Verteidigung der Behandlung der Atombewegung durch Lukrez gegen C. Giussani (T. Lucreli Cari De rerum natura libri sex, Ed. C. G., I-IV, Turin 1896-1898,1 93-94). Vgl. E. Kapp, Der Ursprung der Logik bei den Griechen, Göttingen 1965, 19-20; f ü r einen zeitgenössischen Standpunkt vgl. R. Robinson, An Atheist's Values, Oxford 1964, 81 (Hinweis von E. J. Kenney).

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selben Weise geht Lukrez auch in den folgenden Versen vor (1, 192-198, vgl. besonders 196). Zusammenfassend kann man feststellen, daß es Lukrez im ersten Abschnitt seiner argumentatio (1,149 oder 159-214) nicht gelingt, ein allgemein annehmbares Fundament von einleuchtend begründeten Beweisen für die vorzutragenden Lehren zu legen. Doch bietet er, was wie Beweise aussieht, verbunden mit einer Vorschau auf verschiedene Aspekte seiner Lehre, und so gelingt es ihm zwar nicht sorgfältige, kritische Leser zu überzeugen; doch wird sich mancher andere zur Annahme der auf diese Art präsentierten Anschauungen haben überreden lassen. Es wäre nicht sinnvoll, hier alle Beweise dieses Abschnittes und aller anderen des ganzen Gedichtes nacheinander einer Überprüfung zu unterziehen, da immer wieder die gleichen Züge hervortreten, von denen einige hier knapp zusammengefaßt seien: 1) Um seine Thesen zu beweisen, bedient sich Lukrez (wenigstens in den ersten beiden Büchern) apagogischer Beweise mit gemischten hypothetischen Syllogismen. 14 2) Bei der Formulierung der Untersätze stützt er sich auf Zeugnisse, die entweder unmittelbar aus der sinnlichen Wahrnehmung oder aus der Erfahrung stammen, d.h. aus einer Reihe aufeinander folgender sinnlicher Wahrnehmungen, ohne dieses Vorgehen zu rechtfertigen; oder er verwendet sogar Behauptungen, die überhaupt nicht bewiesen werden. 3) Um das Gewicht der Zeugnisse im Einzelfall zu erhöhen, reiht er mehrere Argumente oder Beobachtungen ebenso wie Beweise für dieselbe Behauptung aneinander. Besonders sei auf das dritte Buch hingewiesen, in dem über dreißig Beweise für die Sterblichkeit der Seele angeführt werden (3,417-829). Es gibt Gelehrte, die diese Vielzahl als Zeichen von „philosophical originality of a high order" ansehen. 15 Allerdings ist nicht sicher, ob diese Argumente aus Epikurs ausführlichen (verlorenen) Werken stammen, von späteren Epikureern oder von Lukrez selbst; andere sehen in ihnen eine Frucht der poetischen Phantasie und Begabung des Dichters. In jedem Fall sollte man die Absicht des Ganzen nicht übersehen, nämlich den Hörer eher durch die Quantität als durch die Qualität der Beweise zu beeindrucken, deren Reihenfolge übrigens nicht so sehr vom Wesen des Gegenstandes als von der erwarteten Wirkung auf den Hörer oder Leser bestimmt ist. 4) Wo Lukrez Belege (etwa aus der sinnlichen Wahrnehmung) anführt, verwendet er die Terminologie der von ihm dargestellten Philosophie, noch ehe sie erläutert worden ist, und beruft sich auf zentrale Elemente der Lehre, ehe sie erörtert, geschweige denn bewiesen sind. Auf diese Weise lenkt Lukrez die Hörer St. Wilcox, The Destructive Hypothetical Syllogism in Greek Logic and Attic Oratory, Diss. phil. Yale University 1938, 141 kommt am Ende seiner Arbeit zu folgendem Schluß: ,Jn actual practice the form of the destructive hypothetical syllogism was used, and was used often and intentionally long before logicians included that form in their logical theory." A. D. Winspear, Lucretius and Scicntific Thought, Montreal 1963, 5.

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von Anfang an auf eine und nur eine mögliche Interpretation der einzelnen Phänomene wie des ganzen Universums und bereitet sie dadurch zugleich vor, die jeweiligen einzelnen Argumente bereitwilliger zu akzeptieren, wenn sie später im Rahmen seines Beweisganges auftauchen. Diese Methode war offensichtlich die beste, die sich im Rahmen der epikureischen Philosophie finden und anwenden ließ. Es ist vermutlich diese Art von Argumenten und von Schlüssen - Aristoteles würde sie .rhetorisch' nennen (Rh. 1356 b 4-5) - die den Dichter seine eigene Position auch noch durch andere als durch logische Mittel stützen läßt. Zusätzlich zu der oben angeführten Liste seien noch einige weitere Züge beschrieben, deren Aufgabe es offenbar ist, der Darstellung des Lukrez eine wirksame Form zu geben. Wie schon angedeutet, bereitet der Dichter eine Argumentation oft durch einen frühzeitigen Hinweis auf deren Schlußfolgerung vor, so daß der Hörer schon mit ihr vertraut ist, wenn sie im einzelnen vorgetragen und durch Beweise gestützt wird. Eine besonders geschickte Form des Vorgehens ist durch K. Büchncr untersucht worden, 16 der zeigt, daß Lukrez in einer Argumentationskette oft ein erst später erwiesenes Element schon in eine frühere Schlußfolgerung einfügt. Auf die Argumente dafür, daß das Leere in den Dingen durch materies solida eingeschlosscn sein muß (1,511-517), läßt Lukrez die conclusio folgen.: igitur, solido quae corpore constat, materies esse aeterna potest, cum cetera dissolvantur (1, 518-519).

Als weiteres Beispiel kann Vers 510 genannt werden als Folgerung aus den Versen 1,503-509. 17 Hier wird dieses Verfahren ermöglicht (oder jedenfalls erleichtert) durch die sehr ausführliche Einleitung (1,483-502), vor allem 1,498500: sed quia vera tarnen ratio naturaque rerum cogit, ades, paucis dum versibus expediamus esse ea quae solido atque aeterno corpore constent.

' Büchner erklärt dies als eine „in Lukrez gesteigerte archaische Erscheinung", da „die Intensität des Besessenseins vom Stoff Lukrez eigen" sei, und führt ähnliche Abschnitte aus früheren lateinischen Autoren an. 18 Direkt vergleichbare, wirklich erhellende Parallelen finden sich jedoch bei den Rednern, wenn sie eine allgemeinere Schlußfolgerung ziehen, als durch die vorgebrachten Argumente gerechtfertigt ist - oft nachdem diese Schlußfolgerung sorgfältig in der Erzählung oder durch eine einführende Bemerkung vorbereitet worden ist.19

Beobachtungen über Vers und Gedankengang bei Lukrez, Berlin 1936 (= HermesEinzelschrifien 1), 29-30. 510 wird durch. 486, 488 und 497 vorbereitet. Büchner (s. Λ. 16) 33-38, Zitate 33 und 34. Vgl. z. B. Ciceros Rede pro Quinctio; die Schlußfolgerung nihil esse debiium Naevio (41, cf. 47) wird durch die narralio (15) und durch den Anfang der Argumentation (37) vorbereitet; die Argumente beziehen sich jedoch nur auf einen Teilaspekt (privatim de-

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Ehe die Funktion der vorbereitenden Abschnitte selbst erörtert werden soll, sei kurz ein anderes Phänomen erwähnt, auf das Büchner auch hingewiesen hat 2 0 Wenn Lukrez mehrere Beweise aneinander reiht (z.B. 3,634-669), neigt er dazu, die Schlußfolgerung (in diesem Fall: 3, 640-641) schon nach dem ersten Beweis (hier: 3,634-639) zu ziehen, so daß die folgenden Beweise (3,642-666) angesichts des bereits erzielten Resultates an Überzeugungskraft gewinnen und die endgültige Schlußfolgerung (3, 667-669) mit größerer Bereitwilligkeit akzeptiert werden kann. Fraglos wichtiger sind die Formen der Vorbereitung und Charakterisierung der Argumente, die in den einleitenden Passagen begegnen. In den Versen 1, 265-270 hält Lukrez zunächst noch einmal fest, was er gerade bewiesen hat, und unterstreicht damit, daß er gerade eine Beweisführung erfolgreich abgeschlossen hat (265: docui). Dann drängt er den Angesprochenen (Memmius) im Hinblick auf mögliche Zweifel, die er in einer so frühen Phase der ganzen Unternehmung noch hegen mag, sich anzuhören, welcher Körper Existenz in den Dingen er notwendigerweise einräumen müsse (1, 269-270: quae corpora tute necessest confìteare esse in rebus nec posse videri).21 Anders gesagt, noch ehe ein echtes Argument vorgebracht worden ist, wird dem Hörer das Ergebnis wie etwas Unausweichliches aufgedrängt (vgl. auch 2, 865-866). Diese und ähnliche Formulierungen - eine Vorsichtigcrc Variante ist invenies: 1,450 - sind aus den Dialogen der Philosophen (etwa Piatons) 22 ebenso vertraut wie aus den Argumentationen der Redner. Doch selbst in den Abschnitten seiner Reden, die Cicero ganz der Überredung widmet, verwendet er nie eine solche Formulierung, ohne nicht vorher irgendein Element der Beweisführung genannt zu haben (eine Tatsache, ein Argument, eine allgemeine Erfahrung).23 Andere Formen der Einführung dienen dazu, gleich zu Beginn den Wahrheitsgehalt einer Behauptung zu betonen (vgl. z.B. 1,498-499; 2,1023, s. auch 5,110-113), bisweilen in Form einer Warnung an den Adressaten (z.B. 1, 370-371; 4, 386; 24 823-824), oft unter Hinweis auf die logische Verbindung zu einem unmittelbar voraufgehenden Argument (z.B. 2,478-480; 3,522-524) oder zu einer früher bewiesenen Behauptung (z.B. 1, 503-504), eine Praxis, die aus Epikurs Schriften geläufig ist. In den Versen 1, 329-333 wendet sich Lukrez, nachdem er eine These aufgestellt hat, wieder dem Adressaten zu:

buisse), da die socielas fortbesteht, so daß Naevius keinen Grund hat, seine Ansprüche ex socielatis ral ione zu erwähnen. S. femer Cie. leg. agr. 1, 15, wo Cicero pestilentia in seinen abschließenden Aufforderungen nennt, von der er vorher nicht gesprochen hat; Mur. 14 schließt er, daß nichts gegen Murenas Leben gesagt werden könne, obwohl er nur sehr wenige Aspekle dieses Lebens vorher berührt hat, s. auch 15, vgl. dazu C. J. Classen, Recht Rhetorik Politik. Darmstadt 1985, 137-138; s. auch 242. Büchner (s. A. 16) 39-47. Nachgeahmt von Iloraz sat. 1, 3, 111. Vgl. C. J. Classen, Sprachliche Deutung als Triebkraft platonischen und sokratischen Philosophierens, München 1959 (= /.eternala 22), 122-123. Vgl. z. B. Quinci. 26; div. in Cacc. 62; VcrT. 2, 2, 15fr, 191; 2, 3, 40. 4, 386: proinde animi vilium hoc oculis adfingere noli.

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quod tibi cognosse in mullís eril utile rebus nec sinel errantem dubitare et quaerere semper de summa rerum et nostris diffidere diet is.

Er versucht ihn im voraus zu beeinflussen, er besticht ihn gleichsam, indem er ihm etwas Nützliches verspricht,25 und will dadurch seine Aufmerksamkeit gewinnen. Zusammenfassend kann man sagen, daß Lukrez nicht nur dazu neigt, seine Schlußfolgerungen zu formulieren, ehe er seine Argumente vorlegt, in der Regel empfiehlt er sie auch noch durch eine eindrucksvolle Charakterisierung. Entsprechend werden widerlegende Abschnitte oft durch Wendungen eingeführt, die den tatsächlichen oder einen eingebildeten Gegner oder dessen Anschauungen abwerten sollen: z.B. ignari material (2, 167, doch s.u. A. 59) oder quod quidam fingunt (1,371) oder derrasse (1,711) oder hoc adftngere et addere ... desiperest (5, 156-165) oder perdelirum esse videtur (1, 690-692); 26 weniger aggressiv klingt difficilest (3, 359-361). Bisweilen werden solche Ausdrücke auch im Rahmen einer Argumentation verwendet (2, 985; 1, 698). Dies leitet über zu den Mitteln, mit deren Hilfe die tatsächliche Beweiskraft einer Argumentation selbst erhöht wird: die Wahl der Argumente und die Art, in der sie formuliert werden. Da Lukrez den Stil der Begründungen von Epikur übernimmt, führt er oft Analogien an, um durch sie eine vorgetragene Ansicht zu stützen. So gibt er nicht nur, wenn er sich auf natürliche Phänomene bezieht, sehr anschauliche Schilderungen aus dem Leben der Natur, der Tiere und der Menschen;27 vor allem wenn er sich von seiner Phantasie inspirieren läßt, für Analogien, aber auch um Adynata in gemischten hypothetischen Syllogismen aneinanderzureihen, gelingt es ihm, höchst eindrucksvolle Bilder zu schaffen, die oft eher die Emotionen der Hörer ansprechen und zur Übercedung beitragen als zur Überzeugung. Selbst in den trockenen, rein argumentativen Abschnitten bemüht sich Lukrez noch, die Beweise durch bildliche Ausdrücke zu beleben und zu erhellen, z.B. wenn er von caeli lucida templa spricht (1, 1014) oder davon, daß die Atome (primordio rerum) vexantur (1, 1021-1025). Kurzum, der Dichter verleiht allen Teilen der Beweisführung poetischen Glanz, um seine Darlegungen so ansprechend und verständlich wie möglich zu machen.

Cf. 3, 206-207 in einem Abschnitt /.wischcn zwei Argumentationen, s. auch den umstrittenen Vers 4, 25. Zahlreiche Parallelen können aus den Rednern angeführt werden, vom Anfang einer Rede, eines einzelnes Abschnittes oder einer Argumentation, s. z. B. Andoc. 1, 8; Lys. 3, 21; Demosth. 18, 8; 11; Cie. Cluent. 160, auch Cael. 58 und Plane. 72, mit Hinweis auf später auftretende Zeugen Flacc. 51; Plane. 56; 57. Natur: z. B. 1, 250-261; 271-294; 2. 114-122; Tiere: 2, 317-320; 352-370; 3, 657663; 5, 1063-1086; Menschen: 2, 323-330; 2, 500-506; 2, 552-559; 3, 152-158; 3, 447-453; 3, 476-483; 3, 487-491; 3, 642-656; 4, 545-546; menschliches und tierisches Leben: 2, 352-370.

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Solche Beobachtungen haben manche Gelehrte „a visual mind" für Lukrez erschließen 28 oder andere Folgerungen hinsichtlich seines römischen Charakters oder seiner persönlichen Erfahrungen ziehen lassen, obwohl keineswegs sicher ist, daß Wendungen wie videmus oder sentimus sich auf tatsächliche oder mögliche Erfahrungen des Dichters beziehen, zumal sie im Wechsel mit vide, videbis u.ä vorkommen. Gewiß wird niemand bestreiten, daß Lukrez ein besonders scharfer Beobachter der Natur ist und daß er seine Beobachtungen in seinen Argumentationen aufs eindrucksvollste zur Geltung bringt und daß er immer neu aus dem schier unermeßlich erscheinenden Schatz seiner Phantasie schöpft. Doch sollte man nicht übersehen, daß er dies im Dienste seiner Argumentation und deren Wirkung tut. 29 In einzigartiger Leistung, die die ganze Kraft und Macht seiner dichtcrischcn Begabung erkennbar werden läßt, verknüpft er seine logischen Schlüsse und Begründungen mit prächtig ausgestalteten Beschreibungen in derselben Absicht, in der er typisch lateinische Formulierungen aus Ennius' Tradition oder aus der Alltagssprache einfließen läßt, in der er typisch römischc Beispiele auswählt, 30 in der er seine Schilderungen einzelner Naturerscheinungen oder dramatischer Szenen aus dem menschlichen Leben eindrucksvoll gestaltet: um seine Botschaft dem römischen Publikum nahezubringen, um ihr Nachdruck und Wirkung zu verleihen, um sie für sein Publikum leichter verständlich und eher annehmbar zu machen. Und dies ist durchgehend sein Anliegen. Seine dichterischen Leistungen beschränken sich nicht auf einige Exkurse. Ebenso wie die meisten der „purple passages" eine didaktische Funktion haben, so sind auch die argumentierenden Abschnitte geprägt vom dichterischen ingenium: „Lucrezio è sempre poeta". 31 Neben diesen poetischen Elementen helfen auch einige andere seinen Hörem, den Argumenten zu folgen. Da sich Lukrez immer wieder auf Beobachtungen und Erfahrungen beruft, wendet er sich gern unmittelbar an sein Publikum und stellt Fragen. Ein Beispiel, beliebig aus dem ersten Buch herausgegriffen, sei zur Illustration angeführt (1,225-231): praeterea quaecumque ν et usiate amovet aetas, si penitus peremit consumens maleriem omnem, unde animale genus generatim in lumina vitae redducit Venus, aut redduclum daedala tellus unde alit atque äuget generatim pabula praebens? unde mare ingenui fontes externaque longe

Vgl. C. Bailey, The Mind of Lucretius, AJPh 61, 1940, 278-291 (abgedruckt in: C. J. Classen (Hrsg.) Probleme (s. Λ. 1) 3-16). Dies wird durch so dramatische Bilder aus dem menschlichen Leben illustriert wie 3, 894-899 und so sorgfältige Anwendungen von Vergleichen wie 6, 890-894 und 895898. P. Grimai, Lucrèce et son public, RIÎL 41, 1963, 91-100 betont mit Recht - in anderem Zusammenhang - daß es Lukrez' Absicht ist, nicht nur die epikureische Lehre darzustellen, sondern zu zeigen, daß sie miL den moralischen Lehren und Anschauungen der Römer im Einklang steht (96). Giussani (s. A. 12) XXV.

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/lumina suppeditarU ? unde aether sidera pascit?

Die Argumente werden dem Hörer nicht einfach vorgetragen, er wird aufgefordert, sich an der Untersuchung zu beteiligen und selbst zu ihrem Erfolg beizutragen, wie in einem platonischen Dialog. Darüberhinaus geben die zitierten Verse einige Hinweise darauf, wie durch die Wahl der einzelnen Wörter einzelne Aspekte, die für die Argumentation besonders wichtig sind, herausgestellt werden: die Anapher von unde, das Nebeneinander von genus und generatim und von redducit und redduetum (eine traduetio), die Wiederholung von aetas anteacta (in den gleich anschließend folgenden Versen 233-234, s. auch 225). Ähnliche Beispiele lassen sich überall finden, und es muß genügen, auf die Sekundärliteratur zu verweisen. Schließlich verdient noch etwas Weiteres Beachtung, mit dessen Hilfe Lukrez versucht, die Wirkung der Argumentation zu erhöhen und dem Hörer zu helfen: Er bemüht sich offensichtlich, seine Schlußfolgerungen klar und prägnant zu formulieren (z.B. 2, 567-568), gern in einem Vers (z.B. 1, 328; 510), nicht nur, damit sie sich leicht einprägen, (ein Aspekt, den Epikur gelegentlich hervorhebt: Ep. ad Her. 35-36, s. auch Lucr. 2, 581-582), sondern auch um das einzelne Ergebnis einer Argumentation deutlich herauszustellen und den Hörer nicht im Unklaren über dessen Inhalt und Bedeutung zu lassen. Aus diesem Grunde wird übrigens der Hörer auch in den letzten Versen des ersten Buches ausdrücklich angesprochen. Als nächstes sei der Blick auf die einzelnen Beweisgruppen geworfen, deren Einleitungen, deren jeweilige Anordnung und deren Zusammenfassungen. Wie der einzelne Beweis in der Regel durch eine charakterisierende Bemerkung eingeführt wird, so wird Beweisgruppen gern ein einleitender Abschnitt vorangestellt. Bisweilen wird eine ausführliche Ankündigung des Inhaltes an den Anfang gerückt (z.B. 5, 92-96 mit persönlicher Anrede, auffälliger Wiederholung: tria, tris, tria nach triplicem und dem Gegensatz una dies: mutlos annos), gelegentlich wird zunächst der Gegenstand genauer beschrieben und dem Hörer empfohlen (2, 1023-1047): Es wird nicht nur die Wahrheit des Sachverhalts betont (2, 1023; 1041) und dessen Neuartigkeit (2,1024; 1025; 1040), sondern auch daß er unglaublich und wunderbar ist (2, 1026; 1027; 1028; 1029; 1035; 1037), und der Hörer selbst wird angesprochen (2, 1023; 1024; 1038; 1040-1043) und ermutigt, nicht überrascht zu sein (2, 1040), die Wahrheit nicht zurückzuweisen (2, 1041), selbst ein Urteil zu fallen (2, 1041-1043). Erst dann folgt die propositi (2, 1044-1047 für 1048-1089, mit Rückverweis 1044-1045 auf 1, 9581001). Unmittelbar fühlt man sich an rhetorische Vorschriften für ein prooemium erinnert, wie man sie etwa bei Cicero findet (inv. 1,23): attentos autem faciemus, si demonstrabimus ea, quae dicturi erimus, magna, nova, incredibilia esse, ... dociles auditores faciemus, si aperte et breviter summam causae exponemus, hoc est, in quo consistât controversia, nam el, cum docilem velis facere, simul attentum facias oportet.

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Zugleich kommt einem noch ein anderer Ratschlag in den Sinn, der auf Prodikos zurückzugehen scheint (Quint, inst. 4, 1, 73, cf. Arist. Rh. 1415 b 917): est interim prooemii vis etiam non exordio; nam iudices et in narratione nonnumquam et in argumentis ut attendant et ut faveant rogamus. In den Versen 4, 176-182 (vgl. auch 4,907-911) folgen auf die propositio (4, 176-179, vgl. 907-908) einige Verse, in denen sich der Dichter, zugleich eine Art praeteritio ankündigend, selbst mit einem alexandrinischen Topos zu empfehlen scheint (4, 180-182 = 909-911). Zu Beginn des ,anti-theologischen' Angriffs (5, 110-234) schreibt Lukrez: multa tibi expediam doctis solacia dictis (113); an anderer Stelle verbindet er die Ankündigung des neuen Gegenstandes mit einer Zusammenfassung des vorher Dargestellten (5, 772-782). Die Ausführlichkeit dieser Abschnitte verdeutlicht erneut die Sorge des Dichters, den Hörer dazu zu bringen, das Gedieht voll und ganz zu würdigen und rerum natura richtig zu erfassen und zu verstehen. Seine Methode zeigt sich am klarsten in einer Rekapitulation im ersten Buch (1, 418-448): Sie erweist sich als „restatement with certain important differences and additions". 32 Wie Lukrez einzelne Aspekte seiner Lehre im voraus in Argumentationen, vor allem in Schlußfolgerungen einfügt, so nutzt er auch überleitende Passagen für denselben Zweck. Ähnlich wie eine Argumentation oft mit einer abfälligen Charakterisierung eines Gegners eingeführt wird, so beginnt eine Gruppe von Beweisen bisweilen mit der Widerlegung einer gegnerischen Ansicht (z.B. 4,823-857; 5,110-234) 3 3 in einer Art und Weise, die unmittelbar an die Praxis der Redner erinnert, die auch gern zunächst die Position der Gegner schwächen oder als unhaltbar erweisen, ehe sie die eigene aufbauen. 34 Die Reihenfolge, in der die einzelnen Beweise vorgetragen werden, wird vom Dichter immer wieder ausdrücklich betont: principio - praeterea - porro - hue accedit - denique - postremo; und wie Lukrez zu Beginn eines längeren Abschnittes gern die logische Verbindung mit dem voraufgehenden hervorhebt, so unterstreicht er auch oft die Abhängigkeit der einzelnen Beweise voneinander. Entsprechend bemerkt P. Boyancé „que Lucrèce subordonne ou croit tout subordonner à l'évidence rationelle. Il s'agit pour lui de démonstrations scientifiques qui doivent tenir leur force de leur vérité intrinsèque, et non de complaisances qu'on leur susciterait dans l'imagination et le coeur. Lucrèce ne se meut jamais ou ne croit jamais se mou-

Bailey (s. A. 1) 2, 665. Müller (s. A. 12) 27. Vgl. ζ. Β. Cie. Mur. 3-10; Sull. 3-35; Caci. 3-50; MU. 7-22, s. dazu C. J. Classen, Cicero pro Cluentio 1-11 im Licht der rhetorischen Theorie und Praxis, RhM 108, 1965, 127 A. 82, auch C. J. Classen, Recht (s. A. 19) 70; 88 u.ö. (vgl. Register s.v. Abwertung).

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voir dans ces sphères ambiguës du vraisemblable, du probable où se meut si souvent la pensée antique sous l'influence de la rhétorique." 35 Indes haben andere Gelehrte auf die Schwierigkeiten hingewiesen, in einzelnen Fällen die logischen Beziehungen zu Finden, und haben sogar Umstellungen im überlieferten Text vorgenommen, z.B. Brieger und Giussani in ihren Ausgaben. Eine kurze Überprüfung des ersten argumentierenden Abschnittes mag helfen, das Vorgehen des Lukrcz zu erklären. Wie oben angedeutet beginnt er in den Versen 1, 265-270 mit einer Zusammenfassung der voraufgehenden Argumentation (265-266), mahnt den Hörer dann, dem folgenden Argument nicht zu mißtrauen und sucht ihn zu beeinflussen (necessest confiteare), ehe er eine ins einzelne gehende Bcschrcibung gibt, wie venti vis verberat (1,271-297) - ein allgemein bekanntes Phänomen, hier in höchst anschaulicher Weise geschildert, die das Publikum die Gewalt des Sturmes sehen, fast möchte man sagen unmittelbar spüren läßt. Er versäumt nicht, eher beiläufig, auf die Erklärung zu verweisen (277), bevor er zur zweiten Naturschilderung übergeht, in sich wieder höchst eindrucksvoll (und zugleich von der epischen Tradition angeregt, vgl. Horn. II. 5, 87-92; 11, 492-495), die als Analogie dienen soll und sehr sorgfältig ausgeführt wird. Erst dann wird die Schlußfolgerung in denselben Worten gezogen, in denen die Erklärung gegeben war (1, 295-297, vgl. 277). Der zweite Beweis ist vergleichsweise kurz (1,298-304), obwohl er sich auf fast den ganzen Bereich der sinnlichen Wahrnehmung (und deren Deutung durch Lukrez) bezieht. Offensichtlich geht es dem Dichter nicht so sehr darum, ein überzeugendes Argument vorzutragen, als darum, einen zentralen Aspekt seiner Lehre überlegt und wirkungsvoll einzuführen. Dies gelingt um so eher, als der Hörer schon durch den voraufgegangenen Abschnitt beeinflußt worden ist. Nach diesem sehr konzentriert belehrenden Stück wendet sich Lukrez fast heiteren Sinnes einem höchst trivialen Gegenstand zu, den suspensae in litore vestes, den er allerdings in sehr sorgfältig gestalteten Versen vorbringt (1, 305-310: zwei Verse Beschreibung, zwei Verse Beobachtung, zwei Verse Schlußfolgerung). Anschließend zählt er einige kurz und bündig formulierte Beispiele für Abnutzung und langsames Vergehen auf (1,322-327), die aus den Schriften der griechischen Philosophen und aus Sprichwörtern geläufig sind. 36 Die Reihe kann ihre Wirkung nicht verfehlen, da die Beispiele selbst unmittelbar einleuchten, da Lukrez eine knappe und präzise Ausdrucksweise für sie wählt und er sie rasch aufeinander folgen läßt, so wie Cicero gern eine Flut von Namen oder Beispielen über sein Publikum hereinbrechen läßt, wenn er zur Plebs spricht. 37 Der letzte Beweis gilt einem ganz geläufigen Phänomen: Werden und Vergehen (1, 322-327). Ihm kommt nicht nur große Bedeutung zu (wie dem zweiten), es läßt sich auch nicht bestreiten und eignet sich daher gut, um vor dem letzten Vers dieses Abschnittes zu stehen, in dem das, was hier bewiesen werden soll,

35 36 37

Boyancé (s. Α. 1) 307. Vgl. C. J. G a s s e n , Sulpicius Lupcrcus, C&M 21, 1960, 46-49. Vgl. C. J. Classen, Rechi (s. Λ. 19) 289-290; 316-317; 322-324 u.ö.

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noch einmal in Gestalt einer Schlußfolgerung ausgesprochen wird: corporibus caecis igitur natura gerii res (1,328). Lukrez setzt also mit einer sehr eindrucksvollen Beschreibung einer Naturerscheinung und deren Folgen ein, mit denen jeder vertraut ist, so daß seine Argumentation sofort verstanden werden kann und die Wirkung auf den Hörer sichergestellt ist; und er schließt mit einem allgemeinen Argument, das er wieder so lebendig formuliert (1, 325: aevo macieque senescunt), daß es seinen Eindruck nicht verfehlen kann. Anfang und Ende werden besonders betont, während die Anordnung im Mittelteil ein anderes Prinzip beachtet: Beispiele und Beschreibungen wechseln mit trockenen Syllogismen ab, so daß die Variation den Erfolg garantiert (vgl. auch 1,958-967; 984-997; 968-983; 998-1001). Weitere ähnlich geartete Beobachtungen könnten an anderen Abschnitten gemacht werden. Hier muß es genügen, auf einen Aufsatz von K. Büchner zu verweisen, in dem er zeigt,38 daß Lukrez mit bewußter Kunst seine Beweisreihen so aufgebaut hat, daß er an den Schluß ein nicht nur beweiskräftiges, sondern auch besonders packendes Argument zu rücken bemüht ist. Dies läßt an eine alte Regel der Rhetorik denken, man solle die gewichtigsten Argumente an den Anfang und an den Schluß stellen, die weniger überzeugenden in mediam turbam alque in gregem (Cie. de or. 2, 314). Dies ist im Hinblick auf das genus iudiciale gesagt, in dem ein Redner es nicht wagen kann, unangenehme Gesichtspunkte ganz zu übergehen, wenn der Gegner sie zur Sprache gebracht hat. Lukrez ist natürlich ganz frei, aus der Fülle der Phänomene, die sich in der Welt finden (wie er selbst sie deutet), auszuwählen, was seiner Sache am ehesten dienlich ist. Eine sorgfältige Prüfung zeigt, daß er nicht nur ganze Reihen von Beweisen sehr eindrucksvoll einzuleiten und abzuschließen weiß, sondern die einzelnen Beweise auch sehr überlegt im Hinblick auf deren Überzeugungskraft und Wirkung anzuordnen versteht. Variatio, das andere oben schon illustrierte Prinzip (1, 265-328), wendet Lukrez auf verschiedene Weise auf Gruppen von Beweisen an. Wie eine lange Liste von Beispielen die Aufmerksamkeit eines Hörers oder Lesers vom erörterten Gegenstand abzulenken droht, so daß es sich empfiehlt, zwischendurch eine Schlußfolgerung einzuschieben (z.B. 4,435 im Abschnitt 4, 379-468), so wäre es auch zu schwierig, einer langen, nüchternen, sachbezogenen Argumentation zu folgen, und sie könnte leicht ihre Überzeugungskraft verlieren. Daher sucht Lukrez, wie schon gezeigt wurde, seiner Argumentation gleichsam ein poetisches Gewand zu geben und trockene Syllogismen mit lebendig geschilderten Beispielen oder phantastisch ausgemalten Adynata abwechseln zu lassen. Daneben fügt er bisweilen sogar sogenannte .Exkurse' in seinen Lehrvortrag ein. Sehr verschiedenartige Abschnitte hat die Forschung unter diesem Begriff zusammengefaßt, und aus sehr verschiedener Sicht hat sie sich mit ihnen be-

Über den Aufbau von Bewcisrcihen im Lukrez, Philologus 92, 1937, 68-82 (abgedruckt in: C. J. Classen (Hrsg.), Probleme (s. A. 1) 173-187); ich würde hinzufügen: 4, 513521 (im Abschnitt 4, 469-521); 5, 737-747 (im Abschnitt 5, 705-750); 6, 285-294 (im Abschnitt 6, 246-294).

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schäftigt, etwa um Lukrez' pocüsche Begabung zu illustrieren (oder einzelne ihrer Aspekte) oder um zusätzliche Argumente für die Chronologie und die ursprüngliche Anordnung der sechs Bücher zu gewinnen. Ich werde sie hier zusammen mit anderen .poetischen' Abschnitten behandeln, um ihre Funktion zu klären. Nach der von Gudrun Haerke in ihrer Studie zur Exkurstechnik vorgenommenen Einteilung kennt Lukrez zwei Arten von Exkursen: diejenigen, die „alle in irgendeiner Form der Kritik am bisherigen, falschen Verhalten der Menschen dienen, das der Dichter bessern will" und diejenigen, die „überhaupt nur Niederschlag lukrezischer Gefühle und Neigungen" sind. 39 G. Haerke hat sicher recht, wenn sie die didaktische Funktion der illustrierenden Abschnitte betont, d.h. die enge Zusammengehörigkeit zwischen einigen Exkursen und der lehrhaften Absicht, die das ganze Gedicht prägt - im Gegensatz zu der Auffassung, die Exkurse seien vom Rest des Werkes zu trennen, seien gleichsam dessen „redeeming feature" ohne j e d e Funktion oder Bedeutung f ü r das Ganze. Tatsächlich sind die Exkurse, wie ich meine, eine Art Fortsetzung der Argumentation gleichsam auf anderer Ebene, jedoch aus demselben Grunde gewählt, aus dem Lukrez philosophische B e w e i s f ü h r u n g und dichterische Gestaltung miteinander verknüpft. Gilt das für alle .Exkurse'? „Purely decorative" lautet G. Towncnds Urteil über die knappen Hinweise auf den trojanischen Krieg (1,473-477) am Ende der Beweisführung zu den coniuncta und eventa und über die Schilderung von Phaethons Schicksal (5,396-405) gegen Ende des langen Abschnitts über den Untergang der Welt (5, 91-415), und doch fügt er hinzu: „They serve the purpose of adding a personal interest to passages where the human content is small". 4 0 Anders gesagt: Während sie zur Argumentation nichts beitragen - und auch das kann man bestreiten - sind sie doch eine Hilfe für den Hörer. Ich kann hier nicht alle Beispiele aus der zweiten Gruppe von G. Haerke erörtern und in jedem Einzelfall deren Behauptung widerlegen, diese Exkurse seien „überhaupt nur Niederschlag lukrezischer G e f ü h l e und Neigungen ..., ihr Vorhandensein im Werk sei überhaupt nur subjektiven lukrezischen Gefühlen zu verdanken", 4 1 eine These, die sie selbst in Frage stellt, wenn sie zugibt: „Dabei sind technisch ... auf diese Weise Exkurse entstanden, daß regelrechter Lehrstoff durch persönliche dichtcrische Anschauungen des Lukrez beansprucht und dadurch verklärt worden ist." Es muß hier genügen festzustellen, daß die sogenannten Exkurse natürlich alle eingefügt sind, um in anderer Weise zum Hörer zu sprechen als die beweisenden Abschnitte, daß sie aber andererseits alle auch eng mit der jeweiligen Absicht der einzelnen Abschnitte oder wenigstens mit Lukrez' Programm im Ganzen verbunden sind.

Studien zur Exkurslcchnik im römischen Lehrgedicht (Lukrez und Vergil), Diss. phil. Freiburg 1935, Wür/.burg 1936, 3 und 16. Iis verdient hervorgehoben zu werden, daß Lukrez' Exkurse nicht einfach als traditionelles Element der didaktischen Poesie erklärt werden können. Imagery in I.ucrclius, in: D. R. Dudley (Hrsg.) (s. Λ. 4) 100. Haerke (s. Λ. 39) 16.

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Einige Beispiele mögen dies erläutern. Zwischen die Widerlegung des Heraklit und die des Empedokles schiebt Lukrez ein Lob Siziliens ein (1, 716733), das dem Hörer ein wenig Abwechslung und damit Ruhe verschafft; zugleich aber wird dadurch der Dichter indirekt geehrt (από της πατρίδος), dessen Vorbild für Lukrez' Lehrgedicht mehr bedeutete, als der folgende widerlegende Abschnitt ahnen läßt. Mehr als einmal zeigt Lukrez große Vorsicht bei seinen positiven oder negativen Urteilen über diejenigen, denen er sich als Philosoph und Dichter verpflichtet weiß (vgl. 3,1036-1044). Demokrits Lehren z.B. werden von ihm weitgehend akzeptiert und geachtet (cf. 5,622: Democriti quod saneta viri sententia ponit, eine Formulierung, die er sogar auch verwendet, wo er sich von ihm distanziert: 3,371); und doch war Demokrit für Lukrez weniger bedeutsam, und er geht nicht näher auf ihn ein, da Epikur dessen philosophische Gedanken weitgehend übernahm und verarbeitete. Empedokles dagegen, mochte sich seine Kosmologie auch als eines der drei Systeme anbieten, die Lukrez ausdrücklich ablehnte und angriff, hatte eine entscheidende Bedeutung für Lukrez als πρώτος εύρετής der von ihm gewählten Dichtungsgattung und damit als sein einziger wirklicher Vorgänger. Aus diesem Grunde erkennt Lukrez, noch ehe er mit seiner Polemik beginnt, seine Verpflichtung gegenüber Empedokles an, indem er dessen Heimat in Versen preist, die stark von der Tradition der hexametrischen Dichtung bccinflußt sind und mit einem persönlichen Lob enden (1,729-733). Der nächste Exkurs schließt sich an die Widerlegung des Anaxagoras an (1, 830-920); es sind Verse, in denen Lukrez seine eigene Aufgabe schildert (1,921950; s.u. S. 106-107). Doch begegnen digressiones keineswegs nur am Ende von Widerlegungen. Die berühmte Schilderung der Magna Mater (2, 600-660) unterbricht das zweite Buch, um dem Hörer eine Pause in der trockenen Argumentation zu gönnen; jedoch ist auch die Verbindung mit dem Gegenstand selbst und die Bedeutung für ihn, vor allem für die Polemik (gegen Versuche, die traditionelle Religion durch rationale Deutungen zu retten) verschiedentlich mit Recht betont worden. 42 Polemisch ist auch die Absicht oder Funktion solcher eingeschalteter Abschnitte - mag man sie nun „purple passages" nennen oder nicht - die entweder die überlieferte Religion bekämpfen oder verbreitete irrige Vorstellungen und Anschauungen verdeutlichen und zurückweisen 43 oder wenigstens einen Beilrag dazu leisten sollen, wie etwa das Beispiel der suchenden Mutterkuh, dessen Aufgabe es u.a. auch ist, als aus der Natur genommene Analogie mit entsprechender Beweiskraft den Hörer zu beeindrucken (2, 352366). „The most familiar beauties reveal a deeper meaning when they are seen to be not mere resting places in the toilsome march of his argument, but rather commanding positions, successively reached, from which the widest contemplative views of the realms of Nature and human life arc laid open to us."44

Vgl. 7J. B. Müller (s. Λ. 12) 44-45. Ζ. Β. 2, 167-182 (doch s. u. Λ. 59); 2, 1090-1104; 5. 110-234; 5, 1194-1240; 6, 379422. Sellar (s. Λ. 11) 388.

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Besondere Aufmerksamkeil verdienen die Verse 1,400-417. Nachdem Lukrez die Fundamente für die Konstruktion seines Weltbildes gelegt hat, beweist er die Existenz der Materie in Gestalt ganz kleiner Teilchen und die des leeren Raumes und widerlegt schließlich einige anders lautende Theorien (1, 320-399). Doch ehe er mit der nächsten Beweiskette anhebt, wendet er sich an den Hörer (1,400403): mullaque praeterea tibi possum commemorando argumenta fidem dictis corrodere nostris. verum animo salis haec vestigia parva sagaci sunt per quae possis cognoscere cetera tute. Daran schließt er zwei Bilder an, das des Jagdhundes (1, 404-406 mit Anwendung) und - um ein Versprechen zu unterstreichen (1,410-411) - das der fontes des Dichters (1,412-417). Diese Bilder können natürlich kein Argument stützen, wenn die Unterbrechung es Lukrez auch ermöglicht, zur Beweisführung zurückzukehren, die voraufgegangene Erörterung zusammenzufassen und seinen eigenen Standpunkt emeut zu formulieren (1,418-448). Auch aus einem anderen Grunde sind diese Bilder mehr als nur eine erholsame Pause, mehr als eine praeteritio, wie ein Vergleich mit entsprechenden Abschnitten in Epikurs Brief an Herodot lehrt (68 und 45): Der Dichter weist nicht nur auf weitere Einzelaspekte hin, die er übergeht oder die er dem Hörer selbst herauszufinden überläßt, er nutzt den Vergleich, um den Schluß nahezulegen, daß der Hörer mit einem solchen Suchen Erfolg haben wird (ipse videre ... poteris)·, und in dem zweiten Bild unterstreicht er noch deutlicher seine Sorge um den Hörer, um Memmius. So wird die Absicht solcher Passagen unmißvcrständlich deutlich: Sie sollen den Hörer ermutigen, der Argumentation zu folgen, wie auch andere Formen des Abschweifcns ihm unmittelbar dabei helfen oder ihn gegen anders lautende Anschauungen einnehmen sollen. Mögen die sogenannten Exkurse im einzelnen auch verschiedene Formen annehmen und verschiedene Funktionen haben, es hat sich gezeigt, daß sie alle uncrläßlichc Teile der auf Überredung hin angelegten Darstellungsform des Dichtcrs sind. Die Verse 1,400-417 werfen die Frage auf, in welcher Weise sich Lukrez an seine Hörer und speziell an Memmius wendet und welche Bedeutung diesem . p e r s ö n l i c h e n ' E l e m e n t z u k o m m t . A b g e s e h e n von der E r w ä h n u n g im Proömium (1, 26; 42 und vielleicht in oder vor 50), auf die ich gleich zurückkommen werde, wird Memmius in den ersten beiden Büchern je zweimal angeredet und fünfmal im fünften Buch, und zwar um ihm zu versprechen, daß ihm etwas erklärt werden wird (2,182), daß er etwas wird hören und entdecken können (1, 407-417; 2, 143; 5, 1282, vgl. 1, 403), um ihn zu drängen, sich an der gemeinsamen Suche zu beteiligen und ihn gleichsam als Mitglied der Gruppe anzusprechen (5, 8; 93; 164; 867) oder ihn schließlich zu warnen, sich nicht in die Irre führen zu lassen (1,1052). Darüber hinaus wendet sich der Dichter immer wieder an den Hörer - ganz allgemein in der zweiten Person Singular, eine Tatsache, die auch wieder sehr verschieden gedeutet und gewertet worden ist. Lukrez, der sich in dieser Hinsicht der Tradition der griechischen Lehrdichtung anschließt (Hesiod und vor allem Empedokles), hat offensichtlich mehr als ein-

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mal Memmius im Sinn, auch wenn er dessen Namen nicht nennt (z.B. 3,206207); doch die Anredeform ohne Eigennamen ermöglicht ihm, der ohnehin durch die Wahl der dichterischen Form den Anspruch allgemeiner Geltung erhebt, anzudeuten, daß er eine größere Hörerschaft ansprechen (und von ihr gehört werden) will, ähnlich wie Epikur in seinem Brief an Idomeneus, wo er ύμΐν verwendet, allerdings nach dem Plural έγράφομεν. 45 Wenn man also sein Netz weiter spannt und alle Anreden in der zweiten Person einbezieht, kann man mit Recht sagen, daß Lukrez in seinem Lehrgedicht durchgehend ein unmittelbares und dauerndes Bemühen um die Aufmerksamkeit, das Verstehen und das Urteil (cf. 2, 1040-1043), die Zustimmung und die aktive Mitarbeit des Hörers zeigt, dem er seinerseits immer neu verspricht, ihn nicht nur am Ende zu einem besseren Verständnis zu führen, sondern ihm auch auf dem Weg dorthin zu helfen, diesen Weg gleichsam zu erlcuchtcn, der zur Freiheit von Furcht, zu innerem Frieden und zum Glück führt. Das ist nicht ein leeres Versprechen. Jeder, der sich mit diesem Gedicht befaßt, bemerkt bald die zahlreichen Mittel und Ausdrucksformen, derer sich der Dichter bedient, um das Verständnis des Gegenstandes zu erleichtern und sicherzustellen. Dies ist in keinem Bereich so offenkundig wie in dem der elocutio. Ehe ich mich den stilistischen Problemen zuwende, ist kurz auf die Struktur der einzelnen Bücher einzugchen. Es ist keine leichte Aufgabe, den Aufbau eines Buches des lukrezischen Lehrgedichtes zu analysieren und Zweck, Funktion und Bedeutung jedes einzelnen Abschnittes an seinem Platz zu erklären. Während der Versuch von Ε. K. Rand, die üblichen fünf Teile eines Logos dem dritten Buch aufzuoktroyieren, 46 als gescheitert anzusehen ist, darf als allgemein anerkannt angesehen werden, daß nicht nur die Proömien der einzelnen Bücher sorgfältig geplant und ausgeführt sind, sondern auch den Schlußabschnitten besonderes Gewicht gegeben ist und sie jeweils im Hinblick auf die voraufgegangenen Erörterungen, aber auch auf das folgende Buch und auf das Lehrgedicht insgesamt formuliert sind. Die Untersuchungen über die Abfolge der sechs Bücher haben für eine lange Zeit unter der Frage nach der .ursprünglichen' Reihenfolge gelitten. Denn die jetzt vorliegende Anordnung wurde als Ergebnis einer absichtlichen, späteren Neuordnung angesehen. Alle derartigen Vermutungen und Deutungen müssen als unzureichend begründet und sehr vage gelten. In diesem Rahmen kann keine durchgehende Analyse des Gesamtwerkes, die die in den Handschriften gegebene Reihenfolge im einzelnen erklärt, durchgeführt werden; es muß genügen, auf die Ergebnisse derer zu verweisen, die wenigstens einzelne Bücher untersucht und gezeigt haben, daß dem sorgfältig geplanten Aufbau jeweils eine belehrende oder erzieherische Absicht zugrundeliegt 47

Cf. Epic. frg. 138 Uscncr = 5 2 Arrighclli; ύμΐν fehlt im entsprechenden Brief an Hermarchus in Ciceros Übersetzung fin. 2, 96 = frg. 122 Usener. La composition rhétorique du III e livre de Ijjcrcce, RPh ser. 3, 8, 1934, 243-266. Vgl. die von Boyancé (s. Λ. 1) 336-338 und 339-343 aufgeführten Bücher und Aufsätze, vor allem J. Musschi, De Lucrctiani libri primi condicione ac retractatione. Diss. phil. Greifswald, Berlin 1912; K. Barwick, Kompositionsprobleme im 5. Buch des Lucrez, Philologus 95, 1943, 193-229; G. Barra, Struttura e composizione del „De rerum na-

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Man wird auch verstehen, daß ein so vielfältiges Phänomen wie der Stil des Lukrez hier nicht angemessen beschrieben werden kann. 4 8 Wieder kann nur an wenige bekannte Aspekte erinnert werden. Hinsichtlich der Wortwahl war Lukrez natürlich durch den Gegenstand gezwungen, viele Dinge zum ersten Mal in lateinischer Sprache zu beschreiben. Wenn er selbst die patrii sermonis egestas beklagt, mag er einen Topos aufgreifen; doch wie bewältigt er die Aufgabe, die er sich gestellt hat, er, der sich stets so bemüht zeigt, verstanden zu werden? Allgemein kann man sagen, daß er Neubildungen vermeidet W o er sie verwenden muß - und ich meine wirklich neu gebildete Wörter, nicht solche, die in der fragmentarisch erhaltenen frührömischen Dichtung nur zufälligerweise zuerst bei Lukrez begegnen - schließt er sich der Praxis seiner Zeitgenossen an (vgl. Rhet. Her. 4 , 1 0 ) , die lateinische Neubildungen bevorzugen, auch wenn sie ungewohnt klingen (vgl. z.B. clinamen, notities), und griechische Wörter vermeiden. Zwar führt D. S. Swanson in seiner Analyse des Wortschatzes des Lukrez neben 6 5 griechischen Namen und neun Adjektiven (zu Eigennamen) über hundert .griechische' Substantive und etwa 25 Adjektive griechischer Bildung an. 4 9 C. Bailey findet „a large number of Greek words in the poem to some of which he was almost compelled by his subject-matter, while the use of others appears gratuitous." 5 0 Doch wenn man nicht rein mechanisch oder statistisch vorgeht und Swansons Liste überprüft, findet man zahlreiche Wörter und technische Ausdrücke, die lange vor Lukrez in die lateinische Sprache übernommen worden

waren (vor allem in die Sprache der Dichtcr), z.B. corona, hora, poema, scaena,

aber auch absinthium, aether, celamen,

concha. Andere Wörter werden von

Lukrez bewußt gewählt und zusammengestellt, um jeweils eine besondere Wirkung zu erzielen, etwa die musikalischen Termini in den Versen 2 , 4 1 2 und 2, 505 (zusammen mit anderen Bezeichnungen für Luxusgüter), die Kosenamen für geliebte Partnerinnen ( 4 , 1 1 2 5 - 1 1 3 0 ) oder die anderen griechischen Wörter in der Attacke auf den Liebeswahn ( 2 , 1 1 6 0 - 1 1 6 9 ) . Dagegen finden sich in den philosophischen Darlegungen, in denen Lukrez sich um Klarheit, Deutlichkeit und Genauigkeit bemüht, nur wenige griechische Wörter, die jeweils sorgfältig eingeführt und erklärt werden: homoeomeria (1, 830-842), harmonía (3, 9 8 - 1 0 3 ) und prester ( 6 , 4 2 3 4 3 0 ) . So unterscheidet sich Lukrez in seiner Haltung gegenüber der Verwendung des Griechischen nicht nur von der des Plautus, des Lucilius, der römischen Tragiker und des Catull, sondern auch von der Ciceros. Häufig gibt Lukrez einem geläufigen Wort eine neue Bedeutung, die er erklärt, indem er es definiert oder einen Genetiv oder ein Adjektiv, ein Partizip oder ein Synonym hinzufügt. Auch seine Metaphern nimmt er in der Regel aus

tura" di Lucrezio, Neapel 1952; Müller (s. A. 12); U. Pizzani, Il problema del testo e della composizione del De rerum natura di Lucrezio, Rom 1959, 1 3 0 - 1 8 0 ; L. Gompf, Die Frage der Entstehung von Lukrczcns Lehrgedicht, Diss. phil. Köln 1960. Ich verweise erneut auf die Bibliographie bei Boyancé (s. Α. 1) 3 4 3 - 3 4 6 ; außerdem sind die meisten Einleitungen zu den kommentierten Ausgaben zu vergleichen und mehrere Beiträge im Sammelband von Dudley (s. Α. 4). Formal Analysis of Lucretius' Vocabulary, Minneapolis 1962. Bailey (s. A. 1) 139.

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Bereichen, die der allgemeinen Erfahrung nahestehen, und gern stellt er mehrere aus einem Bereich zusammen. Weiterhin neigt Lukrez dazu, einen neuen Terminus mehrfach zu verwenden, um die Hörer an ihn zu gewöhnen. In der Tat ist die Wiederholung von einzelnen Wörtern, von Wortgruppen oder von ganzen Versen, die man früher zu kritisieren pflegte, in jüngster Zeit als bewußt gewähltes Darstellungsmittel erkannt worden, dessen sich der Dichter (wie sein Vorbild Empedokles) bedient, um Klarheit zu erreichen, um etwas hervorzuheben51 oder um besondere Klangwirkungen zu erzielen.52 Alle diese Bemühungen weisen in eine Richtung, die sich schon als charakteristisch erwiesen hat: Sie zielen auf die Hörer, um deren Bereitschaft zuzuhören zu erhöhen und deren Fähigkeit zu verstehen zu verstärken. Diese beiden Aspekte bestimmen auch Lukrez' Verwendung von Metaphern, die schon kurz gestreift wurde. 53 Es mag überflüssig oder gar unpassend erscheinen, auf diese Seite der elocutio cinzugchcn, da es sich um die am nächsten liegende und charakteristischste Form der dichterischen Ausdrucksweise handelt Doch darf man hier nicht vergessen, daß Lukrez eine philosophische Lehre darstellt, und im Falle eines Philosophen sollte die Verwendung von Metaphern nicht unerklärt bleiben. Es genügt nicht zu sagen, daß Lukrez die epikureische Praxis übernimmt, sich auf Analogien zu berufen. Zum einen hat man beobachtet, daß Lukrez sehr vorsichtig ist und nur solche Metaphern auswählt, mit denen der Hörer vermutlich vertraut ist, z.B. solche aus dem Leben der Natur, besonders des Meeres, aus dem Kriegsgeschehen, oder solche Metaphern, die mit dem erörterten Gegenstand verbunden sind oder durch ihn nahegelegt werden. Man hat sogar behauptet, Lukrez zeige sich bei der Wahl seiner Metaphern bewußt als Römer. 54 Ich bin nicht davon überzeugt, daß das zutreffend ist. Doch ist es sicher richtig, daß er politische und juristische Termini verwendet, um die Beziehungen der Atome untereinander zu beschreiben, und zwar in einem ganzen Netz von Metaphern, die miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig stützen und erklären. Ähnlich verknüpft Lukrez mehrere Metaphern aus dem Leben der Natur, oder er wählt solche, die die Phantasie anregen und die es ihm Vgl. C. Lenz, Die wiederholten Verse bei Lukrez, Diss. phil. Leipzig, Dresden 1937 (mit unglücklichem Interesse an der „ursprünglichen" Chronologie der Bücher); Α. E. Raubitschek, Zu einigen Wiederholungen bei Lukrez, AJPh 59, 1938, 218-223. Die Wiederholung von zentralen Begriffen (Schlüsselwörtern) hat ihre unmittelbare Parallele in der Beredsamkeit (vgl. C. J. Classen, Recht (s. A. 19) Register s.v. Rückgriffe (Wörter) und Wiederholungen). Vgl. R. E. Deutsch, The Pattern of Sound in Lucretius, Diss. phil. Bryn Mawr College 1939; P. Friedländer, Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius, AJPh 62, 1941, 16-34 (abgedruckt in: Dcrs., Studien zur antiken Literatur und Kunst, Berlin 1969, 337-353 und in: C. J. Classen (Hrsg.) Probleme (s. A. 1) 291-307). S. von Raumer, Die Metapher bei Lukrez, Progr. Erlangen 1893; H. S. Davies, Notes on Lucretius, Criterion 11, 1931-1932, 29-42 (abgedruckt in: C. J. Classen (Hrsg.) Probleme (s. A. 1) 273-290); C. A. Disandro, La poesía de Lucrecio, La Plata 1950, 115-127; R. F. Arragon, Poetic Art as a Philosophie Medium for Lucretius, Essays in Criticism 11, 1961, 371-389; Ii. M. McLeod, Lucretius' carmen dignum, CJ 58, 19621963, 146-148; vgl. auch A. 48. Davies (s. A. 53) 35.

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erlauben, aus ihnen ausgeführte Bilder zu entwickeln, die seine Fähigkeit beweisen, nicht nur zu beobachten und zu beschreiben, sondern seinem Publikum die Schönheit der Natur auch eindrucksvoll und lebendig vor Augen zu führen (selbst wo er der epischen Tradition folgt), um so den Gegenstand leichter verständlich zu machen. Das Netz von Metaphern und Bildem, die ausgemalt leicht erfaßt und verstanden werden können und in der Erinnerung bleiben, läßt die didaktische Funktion gerade auch dieses Ausdrucksmittels im Lehrgedicht des Lukrez unmittelbar erkennbar werden. Darüber sollte der andere Aspekt nicht vergessen werden, daß die Metaphern im Gedicht des Lukrez wie in jeder anderen Dichtung eine künstlerische Aufgabe haben, nämlich das Publikum zu erfreuen, zu bereichem und seine Phantasie anzuregen. Läßt sich dieser Gebrauch der Metaphern mit der Philosophie Epikurs vereinbaren? Warnt nicht Epikur sogar vor dem Gebrauch der Dichtung allgemein, da sie von der Wahrheit abzulenken geeignet ist? Fraglos hat er sich so geäußert. Doch indem man diese Frage stellt, wirft man zugleich eine allgemeinere auf: Warum bedient sich Lukrez für eine Darstellung der epikureischen Philosophie der Dichtung, oder warum wendet sich der Dichter Lukrez der epikureischen Philosophie zu? Eine Vermutung, die vielleicht zur Beantwortung beizutragen vermag, scheint sich aus den bisher gemachten Beobachtungen zu ergeben: Es haben sich Züge gezeigt, die für die Dichtung charakteristisch sind und die man in dichterischen Kompositionen erwartet (und es gibt noch andere, die hier nicht erwähnt wurden: Assonanzen, Alliterationen, Homoioteleuta u.a.). Es sind andere Züge zu Tage getreten, die sich in jeder philosophischen Erörterung finden - und wieder gibt es noch weitere, auf die hier nicht hingewiesen wurde. Solche Bezeichnungen wie .poetisch' und .philosophisch* helfen nicht, das Problem zu lösen, das in der Verknüpfung der beiden liegt (die Aristoteles in seiner Poetik so klar unterscheidet: 1447 a 28 - b 24). Es hat sich, wie ich hoffe, aus den bisherigen Erörterungen ergeben, daß der Dichter ständig um sein Publikum besorgt ist, um dessen Aufmerksamkeit, dessen Verständnis, dessen Urteil, dessen Zustimmung und Mitwirkung bei dem Versuch, die Wahrheit zu erfassen, die lebenswichtige Wahrheit über die Götter, das Universum und die Seele, die Wahrheit, die den einzelnen befreien kann und soll. Angesichts dieses Zieles sollte man die dichterischen und philosophischen Aspekte nicht getrennt sehen; sie sind vom Dichter unlösbar miteinander verknüpft und verschmolzen als zwei sich ergänzende Aspekte eines Vorgehens, um durch sie eine möglichst wirkungsvolle Darstellungsform des Gegenstandes zu schaffen, dadurch daß die Kraft der Argumente durch die überzeugende Wirkung der Form ergänzt wird. Um zu verdeutlichen, daß dies nicht nur eine persönliche Vermutung ist oder eine allzu kühne Schlußfolgerung, die sich nur auf geschickt ausgewählte Einzelaspckte des Gedichtes stützt, berufe ich mich auf den Dichter selbst und wende mich - endlich - dem Proömium des ersten Buches zu.55

55

Vgl. erneut Hoyanccs Bibliographie (s. Λ. 1) 338-339, vor allem J. P. Elder, Lucretius 1. 1-49, TAI'hA 85, 1954, 88-120 und F. Giancotti, Il preludio di Lucrezio, Messina 1959; zur Venus s. R. Schilling, La religion Romaine de Vénus depuis les origines

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Was sagt der Dichter selbst? Zunächst wendet er sich in einer Klimax (Aeneadum genetrix - hominum / divumque volupias - alma Venus) an Venus, deren Macht und Kraft er im traditionellen Hymnenstil ausführlich beschreibt und illustriert, ehe er seine besondere Bitte ausspricht (24): te sociam studeo scribendis versibus esse; und emeut, nach einer kurzen propostilo im Vers 25: aeternum da dictis, diva leporem (28); und etwas später bittet er noch einmal (39-40): suavis ex ore loquellas funde petens placidam Romanis, incluía, pacem. Lukrez bittet um Hilfe, er bittet darum, daß seinen Worten ewiger lepos gegeben werde. Was ist lepos ? Der Dichter selbst hat die Antwort schon in den voraufgegangenen Versen angedeutet, in denen dieselben Wörter begegnen (15-

16): ita capta lepore te sequitur cupide quo quamque inducere pergis. „So gefangen von deinem ansprechenden Wesen, deinem Charme, folgt jedes Lebewesen dir voller Begierde, wohin du es auch zu führen betreibst." Durch die Formulierung dieser Bitte läßt der Dichter keinen Zweifel, daß er sich wünscht, sein Gedicht möge nicht nur laetum et amabile sein, sondern auch ausgestattet mit lepos, so daß die Hörer, auch von lepos gepackt, ihm folgen, d.h. er erhofft sich, daß seine Wörter mit solchen Eigenschaften versehen werden, daß er sein Publikum dorthin führen kann, wohin er es zu führen wünscht; und er erbittet dies von Venus, deren Macht sich in der Natur zeigt, wodurch er indirekt eine wichtige, unmittelbare Parallele zwischen dem Gegenstand seines Werkes und dessen Form aufzeigt. Doch was genau ist lepos"} Wenn man die wenigen Belege bei Lukrez überprüft, 5 6 zeigt sich, daß es eine wundervoll farbenreiche, leuchtende Helle und eine ansprechende (lächelnde: 2, 502, cf. 4, 81-83) Freundlichkeit bezeichnet, allgemein eine Qualität, die durch ihre erfreuliche Erscheinung einen Zuschauer einen Gegenstand gern betrachten läßt, die ihn gefangen nimmt: (aurum) lollebant nitido capti levique lepore (5, 1259). Auf die besondere Bedeutung, die für lepos im Proömium anzusetzen ist, wird etwa 3, 1036 angespielt: adde repertores doctrinarum atque leporum\ noch klarer kommt sie in den bekannten Versen zum Ausdruck, die Lukrez, nachdem er mehrere Theorien anderer Philosophen widerlegt hat, einfügt (1, 921-950), um den letz-

jusqu' au temps d'Auguste, Paris 1954 und K. Latte, Römische Religionsgeschichte, München 1960, 183-184. Abgesehen vom ersten Proömium: 1, 934 = 4, 9; 2, 502; 3, 1006; 1036; 4, 80; 1133; 5, 1259; 1376. Lepos wird auch schon vor Lukrez auf Wörter oder Reden bezogen, z. B. Rhet. Her. 4, 32 (Gefahr des lepos)·, Cie. Flacc. 9; für lepidus verbunden mit dicta s. Plaut. Bacch. 62; Pseud. 27-28; sermo : CIL I 1007 = VI 15346 = Dessau 8403 = CE 52.

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ten Abschnitt des ersten Buches einzuleiten: Er charakterisiert nicht nur die Bedeutung (931), die Wichtigkeit (931-932), das Wesen (922; 933) und die ratio (943; 946) seines Gegenstandes, sondern, in stärker persönlich gefärbtem Ton, seine Art der Darstellung (934 mit dem wichtigen Zusatz von 935) vor allem durch das Gleichnis (936-942) und dessen Anwendung (943-950). 57 In diesem überleitenden Abschnitt, der hier nicht in voller Länge zitiert zu werden braucht, wird lepos wieder als die Form verstanden, die dem Gegenstand gegeben wird, um ihn erfreulich erscheinen zu lassen, einnehmend, voller Charme, damit er die Hörer packen und verführen kann, die auf diese Weise gehindert werden sollen, sich von dem abzuwenden, was dem Außenstehenden tristior erscheinen mag (sc. ratio : 944). Um das Gleichnis besser würdigen zu können, vor allem dessen Bedeutung für das ganze Gedicht, sollte man noch einige weitere Aspekte berücksichtigen: 1) Die Verse 1, 933-934 verknüpfen lepos mit lucida carmina. Da Lukrez den ganzen Abschnitt mit clarius audi./ nec me animi fallii quam sint obscura (1, 921-922) einführt und auch sonst die Klarheit seiner Darstellung betont und das Licht, mit dem er dem Hörer zu helfen bemüht ist (1,144: clara tuae possim praepandere lumina menti), könnte man meinen, daß auch lepos mit dieser Vorstellung zu verbinden und entsprechend zu verstehen ist. Doch bezeichnet lepos das erfreuliche Aussehen, das einen Gegenstand glänzen läßt und ihm nitor verleiht; lepos erleuchtet ihn nicht, macht ihn nicht durchsichtig, sondern gibt ihm die Eigenschaft, die auf ihn aufmerksam werden läßt (1,948). 2) An mehreren anderen Stellen seiner Dichtung spricht Lukrez von der Süße seiner Worte: 1,410-417 (Anrede an Memmius) und 4, 180-182 (suavidicis potius quam multis versibus edam), wo der Süße verbunden mit Kürze offensichtlich der Vorzug gegenüber einer ausführlichen Darstellung gegeben wird. Das Wort suaviloquens selbst ist sicher von Ennius übernommen, der es in der bekannten Beschreibung des orator M. Cornelius Cethegus (ann. 304 Skutsch) verwendet, im Anschluß an Homers Schilderung des Nestor (II. 1, 248). Das griechische ήδυεπής wird von Hesiod auch für die Musen gebraucht (Th. 965), während Aphrodite in einem späten Hymnus nur γλυκυμείλιχος heißt (h. Homm. 6,19). In jedem Fall weist die Metapher auf die ansprechende und überredende Wirkung der Rede. 3) die wörtlichen Entsprechungen zwischen den Versen 1, 934, 938 und 947 sind bisweilen als Hinweis darauf verstanden worden, daß Lukrez der trockenen wissenschaftlichen Argumentation eine ansprechende Einleitung (dem Honig am Becherrand entsprechend) vorausschicken und einige „purple passages" hinzufügen wolle. Doch während das Gleichnis von Ärzten spricht, die oras pocula circum contingunt, heißt es in den Versen 1, 933-934: deinde quod obscura de re tarn lucida pango carmina, musaeo conlingens cuncla lepore

Vgl. dazu J. H. Waszink, Lucrclius and Poetry, Medcdel. Koninkl. Nederl. Akad. van Wetensch., Afd. Lctlcrkundc 17, 1954, 8; Gompf (s. A. 47) 146-170, vgl. auch die heftige Auseinandersetzung zwischen Boyancc und Giancotli (s. u. A. 69).

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und in den Versen 1,945-947 ist nostra ratio das Objekt der zwei Infinitive exponere und contingere, von denen der zweite ein erklärender Zusatz ist, der auf die Anwendung des Vergleichs hinweisen soll, nicht einen neuen Aspekt einführen will. Ein suaviloquens carmen Pierium kann man wohl kaum noch durch musaeum dulce mei versüßen; wie schon durch suaviloquens angedeutet, gibt mei dem Gedicht durchgehend seine Süße.58 4) Um die Funktion von Venus und lepos zu verstehen - und das führt zugleich zum Proömium zurück - sollte man die folgenden Verse zusammen sehen Aeneadum genetrix, hominum divumque voluptas, alma Venus (1, 1-2); Calliope, requies hominum divumque voluptas (6, 94); ipsaque deducit dux vitae dia voluptas et res per Veneris blanditur saecla propagent (2, 172-1735®); ila capta lepore te sequitur cupide quo quamque inducere pergis (1, 15-16).

Gegen Ende seiner Dichtung bittet Lukrez, der den rechten Pfad gezeigt zu bekommen wünscht, Kalliope um Rat und Hilfe, wie vor ihm Empedokles (frg. 131), indem er sie callida musa (6,93) und hominum divumque voluptas nennt. Dadurch deutet er an, daß Wissen und Schönheit, die Fähigkeit zu belehren und anzusprechen erforderlich sind. Am Anfang seines Werkes jedoch, in einer Anrufung, die der späteren ähnlich ist und sich zugleich klar von ihr unterscheidet, betont Lukrez allein die Notwendigkeit von lepos und wendet sich deshalb an Venus. Dabei rechtfertigt er seine Wahl, indem er deren Macht illustriert, die sie durch lepos im Reich der Natur ausübt (d.h. in dem Bereich, dem seine Dichtung gewidmet ist). Um des Dichters Auswahl voll würdigen zu können, und vor allem den Vers 1,24, sollte man sich daran erinnern (was in der Regel nicht beachtet wird), daß nicht nur das griechische Äquivalent zu voluptas, ήδονή, (und ebenso auch ήδύς) früh und oft das ansprechende Wesen oder die ansprechende Form der Rede bezeichnen, beginnend mit ήδυεττής und ήδεία άοιδή (s.o. S. 107; Horn. Od. 8, 64), sondern auch άφροδίτη für Schönheit, Anmut und Charme des Stils verwendet wird. 60 Entsprechend wird έπαφρόδιτος auf ε'ττη und εργα (Xcn. Symp. 8, 15) oder ττοίησις (Isoc. 10, 65) bezogen, vgl. auch αναφρόδιτος in Hortcnsius' Urteil über L. Torquatus (Gell. 1,5, 3). Aber auch venus wird für stilistische Phänomene gebraucht, z.B. von Horaz (ars 320) und Quintilian (inst. 4, 2, 116; 6, 3, 18 u.ö.), und schon früher finden sich venustas (Rhet. Her. 4, 19, 24), venustus (Cie. de orat. 2, 262; 327; 3, 199 61 ) und venustulus (Plaut. Asin. 223) so verwendet.

Cf. Cie. de orat. 1. 159: lepos, quo tamquam sale perspergalur omnis oratio. G. Müller (s. A. 12) hall 2, 167-183 für interpoliert; die Verse 2, 257-258 sind hier nicht angeführt worden, da der überlieferte Text allgemein nicht akzeptiert wird, man sich aber auch nicht einig werden kann, wie er gelautet haben muß. Cf. D. H. Comp. 3; Lys. 11, ferner Lucian. Scyth. 11; Eunap. V S lambì. 458 Boiss. Schon Cicero spielt mit venus, venustus und lepos·. Verr. 2, 5, 142: isle autem homo Venerius, adßuens omni lepore ac venustate, de bonis illius in aede Veneris argenleum

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Unzweifelhaft scheint mir zu sein, daß Lukrez durch diesen Wortgebrauch beeinflußt seine Bitte an Venus formuliert, seinen Worten Anmut und Charme zu geben, damit er mit ihrer Hilfe seine Hörer dorthin führen kann, wohin er sie zu führen wünscht. Im übrigen verwendet Lukrez, um die Wirkung seiner Verse zu beschreiben, Formulierungen (1, 15-16), die unmittelbar an die Terminologie seiner Zeitgenossen erinnern. So heißt es etwa bei Cicero: si vero adsequetur (sc. orator), ut talis videatur, qualem se videri velit, et ánimos eorum ita adficiat apud quos aget, ut eos quocumque velit vel trahere vel rapere possit, nihil profecto praeterea ad dicendum requiret (de orat. 2, 176), und nemo erat... qui ... posset ... animum eius, quod unum est oratoris maxime proprium, quocumque res postularet impellere (Brut. 322) und ñeque vero mihi quiequam, inquit (sc. Crassus), praestabilius videtur quam posse dicendo tenere hominum mentis, adlicere voluntates, impellere quo velit, unde aulem velit deducere (de orat. 1, 30) und haec vis, quae scientiam complexa rerum sensa mentis et Consilia sic verbis explical, ut eos, qui audiant, quocumque incubuerit, possit impellere (de orat. 3 , 5 5 ) , "

und Horaz dichtct eine Generation später (ars 99-100): non satis est pulchra esse poemata; dulcia sunto, et quocumque volent animum auditoris agunto.

Um die Wirkung eines Redners oder der Dichtung zu beschreiben, paraphrasieren Cicero und Horaz den griechischen Terminus ψυχαγωγεΤν. 63 Die Nähe zu den Formulierungen in Lukrez' Proömium ist nicht sehr groß; doch im Hinblick auf das ausgeführte Gleichnis (1,936-942) und auf die anderen genannten Faktoren möchte ich die Vermutung äußern, daß auch Lukrez die psychagogische Darstellungsform im Sinn halte, als er die Bitte aussprach, seinen Worten möge lepos verliehen werden durch die Kraft, deren Name als Synonym für stilistische Anmut gebraucht wird, eine Kraft, die offenbar die Wirkung von lepos in seinem Gedicht sicherzustellen vermag, da sie die ganze Natur durchdringt, sie sich durch lepos unterwirft und so zu fruchtbarer Aktivität führt, eine Kraft, die Kreativität symbolisiert (die vor allem das hervorbringt, was laetum Cupidinem posuit\ und Catull empfiehlt sein Gedichtbuch, indem er es schon im ersten Vers lepidus nennt. S. auch Cie. de oral. 2, 186; Brut. 322; später: Quint, inst. 2, 15, 10 (Theodektes* Definition); Plin. epist. 1, 10, 5. Die Begriffe „psychagogisch" (W. Schmid, Altes und Neues zu einer Lukrezfrage, Philologus 93, 1938, 351), „psicagogico" (L. Ferrerò, Poetica nuova in Lucrezio, Florenz 1949, 39; 119; 146; 149) und „psychagogique" (Boyancé (s. Λ. 1) 72) werden seit langem für Lukrez und dessen Methode verwendet, doch ist dieser Sprachgebrauch, soweit ich sehe, bisher nicht durch einzelne Formulierungen des Textes gerechtfertigt worden.

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und amabile ist), eine Kraft, die der Natur Frieden zu geben vermag, eine Kraft, die mit voluptas gleichgesetzt wird und zu voluptas führt, eine Kraft, die ihren Platz in der Philosophie Epikurs hat und haben kann, da sie tatsächlich nicht mehr ist als die Wirkung bestimmter Konstellationen von Atomen, 64 und eine Göttin, zu der man beten kann, ohne die Prinzipien der epikureischen Theologie zu mißachten, 6S eine Kraft, die in der römischen Religion ursprünglich nicht mehr war als eine Funktion anderer Götter, nämlich „die Gnade, die sie dem Menschen erweisen", 66 eine Kraft, die in der römischen Mythologie als Mutter der ganzen Nation angesehen wurde und (wie in der griechischen) als Kraft, die auch Kriege beenden kann und die man um Frieden bitten kann, eine Kraft, schließlich, der die griechischen Philosophen vielfältige Funktionen zuschrieben (vgl. z.B. Empedokles frg. 17, 22-26); kurzum, es ist eine Kraft, die alle Voraussetzungen schaffen kann, die nötig sind, um dem Dichter den erhofften Erfolg zu ermöglichen. Da Lukrez zu Beginn seines Gedichtes besorgt ist, die Aufmerksamkeit seiner Hörer zu gewinnen, kann ihn nichts davon abhalten, sich einer derartigen allgemein vertrauten Form wie der Anrufung einer Göttin zu bedienen. Wichtig ist nicht, daß Lukrez Venus zu Beginn seines Gedichtes anruft, sondern daß er es nicht wieder tut und daß er später sogar solche Art zu formulieren als vertretbar bezeichnet (2,655-660). Ehe weitere Schlüsse gezogen werden können, gilt es, den Rest des Proömiums näher zu untersuchen. In der zweiten Hälfte seines Gebetes ehrt Lukrez den von ihm angesprochenen Memmius in besonderer Weise, indem er die Gunst der Göttin und deren Fürsorge für ihn betont (1, 26-27) und auch das, was er für die Allgemeinheit leisten wird (1,42-43). Man könnte ebenso gut sagen, daß Lukrez bemüht ist, Memmius benivolus zu machen im Einklang mit den Regeln der Theorie für die exordia; heißt es doch etwa bei Cicero: ab audilorum persona benivolentia captabilur, si res ab iis fortiter, sapienter, mansuete gestae proferentur (inv. 1, 22). Zugleich bittet er um die Aufmerksamkeit des Hörers (1, 50-51, vgl. dazu Rhet. Her. 1, 7: alientos habebimus ... si rogabimus, ut attente audiant) und wendet sich gegen die Möglichkeit, daß seinem Gegenstand Verachtung entgegengebracht wird (1, 52-53: ne mea dona ... contempla relinquas), auch das entsprechend den Vorschriften der rhetorischen Theorie: in humili autem genere causae contemptionis tollendae causa necesse est attentum effìcere auditorem (Cie. inv. 1,21). In diesem Sinne formuliert Lukrez seine Ankündigung (1,54-55): nam tibi de summa caeli ratione deumque disserere ineipiam et rerum primordio pandam,

d.h. er will etwas erörtern, das den Hörer selbst betrifft, für ihn neu und bedeutsam ist; auch hier folgt er der Theorie, die rät (Cie. inv. 1,23): Im Bereich der sexuellen Lust anerkannt: 4, 1058, hier in einem anderen Bereich. Vgl. W. Schmid, Artikel .Epikur', in: RLAC, Band 5, 1961, 732-733, abgedruckt in: H. Erbse, J. Küppers (Hrsgg.), W. S., Ausgewählte philologische Schriften, Berlin 1984, 193-194. Latte (s. A. 55) 184.

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alientos aulem faciemus, si demonslrabimus ea, quae dicluri erimus, magna, nova, incredibilia esse, aut ad omnes aut ad eos, qui audient, aut ad aliquos inlustres homines aut ad déos inmortales aut ad summam rem publicam pertinere. Indem Lukrez sein Vorhaben in der beschriebenen Weise ankündigt (1, 5461), gelingt es ihm auch, das Publikum docilis zu machen und damit auch der dritten Vorschrift der Theorie für die Proömien gerecht zu werden: dociles auditores faciemus, si aperte et breviler summam causae exponemus (Cie. inv. 1,23). Anders gesagt, die einleitenden Abschnitte scheinen die drei allgemein bekannten Ratschläge der rhetorischen Theorie zu berücksichtigen, den Hörer benivolus, attentus und docilis zu machen. 67 Da die Termini .Rhetorik' und .rhetorisch' oft abwertend gebraucht werden, vor allem in Bezug auf die Dichtung, scheint es angebracht zu sein zu betonen, daß die meisten Regeln der Rhetorik ursprünglich aus der Dichtung, d.h. aus der Praxis der Dichter, abgeleitet wurden und daß die .rhetorischen' Komponenten im Proömium des lukrezischen Lehrgedichts nicht mehr zu überraschen brauchen als irgendein anderes der oben herausgearbeiteten Elemente in der überredend gehaltenen Form der Lehrdichtung des Lukrez. Eine ausführliche Erklärung für diesen Gebrauch der Rhetorik soll unten gegeben werden. Nachdem ich die Art, wie Lukrez seinen Gegenstand ankündigt, als Versuch gedeutet habe, sein Publikum benivolus, attentus und docilis zu machen, stellt sich die Frage, ob ihm dies auch gelungen ist. Darf er hoffen, bei seinen Hörem Beachtung zu finden? Werden sie zuhören, wenn er darlegt, unde omnis natura creet res auctel alatque (1, 56)? Sind die genitalia corpora (für die er mehrere Synonyme nennt) wirklich etwas, das ad eos qui audient pertinet ? Lukrez selbst hegt offenbar Zweifel; denn er fügt noch einen Abschnitt an, der neben der Neuheit des Gegenstandes dessen besondere Bedeutung für das Publikum unterstreicht (1, 62-79). Um gleich zu Beginn seine Sorge um seine Mitmenschen hervorzuheben, beginnt er mit dem Wort humana (1,62): humana ante oculos foede cum vita ¡acereti Nicht das Wesen der Natur ist der Gegenstand des lukrezischen Lehrgedichts, es sind die Konsequenzen, die sich aus dem rechten Verständnis der Natur für die Menschen ergeben. Sie bedeuten etwas für uns: nos exaequat victoria cáelo (1,

Schon 1896 zog J. Woltjcr, Studia Lucrcliana, Mnemosyne n.s. 24, 1896, 66-68 einige rticlorischc Vorschriften heran, um das erste Proömium zu erklären; doch wurden seine Hinweise, die unvollständig und nicht immer zutreffend sind, weitgehend ignoriert - eine Ausnahme ist F. Jacoby, Das Proocmium des Lucretius, Hermes 56, 1921, 18 - und nie angemessen genutzt. Ähnlich ist auch der Aufsatz von N. F. Deratani, Lucretiana, VDI 1950, 217-220, der mehrere Aspekte von Lukrez' Gedicht mit Hilfe der rhetorischen Theorie erläutert, leider auch wieder nicht systematisch, nur von J. M. Tronskij, Bemerkungen zum ersten Prooemium des Lukrez, in: Charisteria Francisco Novotny Octogenario oblata, Prag 1962, 61 benutzt worden. Die lange Diskussion über die Bedeutung von cum scheint die Funktion von humana unbeachtet gelassen zu haben; sie wird nun hoffentlich nicht fortgeführt werden.

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79). Es ist also nicht eine rein naturwissenschaftliche Untersuchung, die Lukrez um ihrer selbst willen durchzuführen sich anschickt: vielmehr geht es ihm darum, die wissenschaftlichen Erkenntnisse anderer für seine Mitmenschen darzustellen und verständlich zu machen: referí nobis victor (1,75; cf. 79). 69 Das Programm klingt vielversprcchcnd: ein Sieg über die schreckliche Vergangenheit (1,62: foede cum vita iaceret) mit Hilfe einer kühnen Entdeckung (1, 66-74), jedoch ein Sieg, der auf Kosten von etwas errungen werden muß, das allen Römern am Herzen liegt die überlieferte Religion. Sie ist der Feind, den Lukrez durchgehend in diesem Abschnitt indirekt diskreditiert und direkt angreift (1,6263; 64-65; 68-69). Doch im letzten Satz spricht er zugleich von Niederlage und Sieg (1,78-79). Er kann die Tatsache nicht leugnen, daß für den Erfolg ein Preis bezahlt werden muß, daß auf etwas verzichtet werden muß, das im Zentrum des Lebens der Römer steht. Der Hörer wird verwirrt, er muß zögern, dem Dichter weiter auf dessen Weg zu folgen, der zu Gottlosigkeit und Verbrechen zu führen scheint (1, 80-82). So muß eine besondere Anstrengung unternommen werden, um sein Interesse wachzuhaltcn und sogar seine Gunst wiederzugewinnen: religio in ihrer traditionellen Form muß wirksam angeklagt und überzeugend demaskiert werden. Um dies zu crreichcn, bedient sich Lukrez eines altbewährten Mittels, der relatio criminis (vgl. Cie. inv. 2, 78; Fortun. rhet. 1, 16), und um dies zur vollen Wirkung kommen zu lassen, wählt er das dramatischste Verbrechen, das religio je begangen hat. Nach einer polemisch gefärbten Charakteristik am Anfang (1, 82-83) gibt er eine bewegende Schilderung von Iphigenies Opferung und faßt dann seine Darstellung in einem einzigen, unvergeßlichen Vers zusammen (101): tantum religio potuit suadere malorum, der an die Redeweise und den Ton der Prediger erinnert, für die sich bei den Popularphilosophen ebenso Parallelen finden wie bei den Evangelisten. Lukrez ist noch immer nicht zufrieden. Er hat die grausamen Praktiken der Religion durch ein höchst eindrucksvolles Beispiel veranschaulicht, das durch die griechische Tradition nahcgelegt, auch manchem Römer bekannt sein mochte. Doch es hat nichts mit den Formen der römischen Religion zu tun, mit denen seine Hörer vertraut sind und die deren ganzes Leben prägen; sie sind in den Händen der mächtigen, beredten vates (und von deren schrcckenerregenden Botschaften), sie sind voll Furcht vor dem Leben nach dem Tode und vor den Strafen, die die vates ihnen androhen. Lukrez kann diesen Einfluß nicht unberücksichtigt lassen, wenn das, was er verkünden will, Erfolg haben soll. Im Gegenteil, er fügt dem Proömium einen Angriff auf die Vertreter der traditionellen Religion ein, um gleich zu Beginn seines Gedichtes keinen Zweifel daran zu lassen, gegen welche Gegner er sich hier wendet (obwohl er Einrichtungen der römischen Religion später kaum je ausdrücklich erwähnt). Vor allem kann er den Glauben an ein Leben nach dem Tode nicht einfach ablehnen, wie Caesar es in der Senatsdebatle um die am ehesten angemessene Form der Bestrafung der Catilinarier tut (Sail. Cat. 51, 20, cf. Cie. Cat. 4, 8), er kann einen solchen

Er kündigt hier den Aspekt an, den er später durch den Zusatz

150).

divinitus

hervorhebt (1,

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Glauben auch nicht einfach lächerlich machen wie Cicero gelegentlich in seinen Reden (CluenL 171), allerdings keineswegs immer, wodurch er bezeugt, daß ein solcher Glaube weit verbreitet ist. 70 Lukrez muß diesen Glauben als falsch erweisen oder wenigstens zeigen, daß er unberechtigt ist, auf irrigen Annahmen und Vorstellungen beruhend. So beginnt Lukrez, nachdcm er die vales in der schon beschriebenen Technik mit polemischen Wendungen (terriloquis dictis; fingere somnia) in ein schlechtes Licht gerückt und seine eigene Einschätzung der gegenwärtigen Lage wiederholt hat (110-111: ratio nulla est), mit besonders eindrucksvoller Formulierung: ignoratur enim. Denn die Macht der vales und der traditionellen religio beruht darauf, daß die Menschen nur eine ungenügende Kenntnis von der Seele und deren Ursprung haben. Das sind die Themen, die hier eingeführt werden als wesentlich für das Lehrgedicht, vor allem aber als wesentlich für jeden einzelnen. An dieser Stelle weist Lukrez zunächst nur eine bestimmte Form, in der der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele seinen Ausdruck gefunden hat, zurück, nämlich die, die sich bei Ennius findet. Er tut das nicht, weil er Ennius für den gefährlichsten Vertreter solcher Anschauungen hält; im Gegenteil, er ist bemüht, hier seinen tiefen Respekt für den ersten Verfasser derartiger Dichtungen in lateinischer Sprache zu zeigen (1,117-119; 121), einen Respekt, den er schon durch den Gebrauch von Aeneadum im ersten Vers des Gedichtes angedeutet hatte und den er immer wieder durch den Gebrauch archaischer Formen spürbar werden läßt, durch den er auf die Tradition verweist, in der er sein Werk gesehen wissen möchte, und durch den er auch einen Anspruch erhebt, der nicht übersehen werden sollte. Zugleich versäumt Lukrez es jedoch nicht, auch zu betonen, daß er seinen Vorgänger korrigieren muß, nicht zuletzt weil auch Ennius rerum natura behandelte (1, 126). Dem setzt Lukrez die von ihm selbst vorgetragene Lehre entgegen, die er nun ausführlich ankündigt (1,127-135). Dabei bemüht er sich, das Interesse seiner Hörer durch ein lebenswichtiges Versprechen zu wecken, nämlich jeden einzelnen von der Furcht zu befreien, die die Priester verbreiteten. Die letzten Verse zur egestas linguae (1, 136-145) sehen ,nur' wie ein Topos aus, mit dem die Schwierigkeiten, vor denen der Dichter steht, illustriert werden sollen (vgl. Cie. inv. 1, 22). Doch hier ist diese Schwierigkeit nicht nur echt (vgl. 1, 830-833; 3, 258-261); Lukrez nutzt diese Verse, um noch mehrere andere Aspekte hervorzuheben. Zum einen wird die rerum novitas erneut betont. Daneben wird der labor, den Lukrez auf sich zu nehmen bereit ist, gerechtfertigt, und zwar mit Memmius' virtus (1,140-142, cf. 27; 42-43) und der Freundschaft mit ihm, die der Dichter zu gewinnen hofft. In Erwartung des gegenseitigen Verständnisses, das die Freunde genießen werden, erscheinen die durchwachten Nächte als serenae und der labor als annehmbar oder sogar, wie Lukrez später sagt, als dulcís (cf. 2, 730 und 3, 419-420, mit Hinweis auf Memmius' vita). Schließlich hebt der Dichter hier unmittelbar vor Beginn der argumentatio seine

Cie. Phil. 14, 32, vgl. auch Au. 10, 8, 8.

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Absicht hervor, den Hörer zu erleuchten und so bei seinem Bemühen um Erkenntnis zu unterstützen. Diese Übersicht, mag sie auch oberflächlich sein, hat deutlich werden lassen, daß jeder Abschnitt des Gedichtes seine besondere Aufgabe hat und daß die verschiedenen Aspekte (einschließlich der Bitte um eine wirksame Form und um günstige Bedingungen) alle auf das Publikum zielen: Es soll vorbereitet werden, es soll mit dem Gegenstand vertraut gemacht werden, dessen Bedeutung soll ihm vor Augen geführt werden, alle Vorurteile sollen überwunden werden, und umgekehrt sollen die Hörer vorbereitend beeinflußt werden, bei ihnen sollen bestimmte Vorurteile geweckt werden und zugleich Erwartungen nicht nur hinsichtlich des Gegenstandes und dessen Wichtigkeit, sondern auch hinsichtlich der Form, die den von Ennius gesetzten Maßstäben zu entsprechen hat, sie sollen vor den Schwierigkeiten gewarnt werden, die die Sprache bereitet, und sie sollen sich wie ein Freund angesprochen fühlen. Man mag sich fragen, ob eine solche Häufung vorbereitender Abschnitte erträglich ist, selbst wenn sich die einzelnen Teile des Proömiums in ihrer Funktion durch die rhetorische Theorie erklären lassen. Es gibt Parallelen, vielleicht nicht in der Dichtung, aber sicher in Ciceros Reden, z.B. in der Rede für Clucnlius, in der der Redner mehrfach neue Aspekte zur Sprache bringt, da er sich einer besonders schwierigen Aufgabe gegenüber sieht und gezwungen ist, alle nur denkbaren Mittel der Überredung einzusetzen. Doch ist es vorstcllbar im Hinblick auf Epikurs Haltung zur Dichtung, daß ein Epikureer - oder vielmehr Lukrcz für die Darstellung der epikureischen Philosophie - auf die rhetorische Theorie zurückgreift? Die Probleme, die das Proömium damit aufwirft, können nicht isoliert gelöst werden. Sie müssen im Zusammenhang mit der Absicht des Dichters und dessen Vorgehen in seinem Lehrgedicht gesehen werden, d.h. sie dürfen nicht vom Gebrauch der dichterischen Form getrennt werden (die früher Anlaß war, das Proömium zu analysieren). Wenn man die vorliegenden Untersuchungen zu Lukrez liest, dann stößt man gelegentlich auf kritische Bemerkungen über die Rhetorik bei Lukrez oder einzelne Hinweise auf einzelne rhetorische Figuren. Doch sind diese Elemente nie zusammengestellt (abgesehen von den stilistischen) und nie gemeinsam erörtert und gewürdigt worden. Wenn hier auch nicht der Anspruch erhoben werden kann, daß eine vollständige Liste vorgelegt wird, so ist doch der Versuch unternommen worden, eine ganze Reihe von Faktoren aus dem Bereich der inventio, der dispositio und der elocutio zusammenzuordnen und im Rahmen des Gedichtes insgesamt und im Licht des Vorhabens des Dichters zu verstehen. Dies führt abschließend zu der Frage, warum Lukrcz sich in einem Werk, das der epikureischen Philosophie gewidmet ist, der Dichtung und der Rhetorik bedient, eine Frage, die der ausführlichen Erörterung bedarf. Über Epikurs Haltung zur Dichtung ist unlängst sehr heftig gestritten worden; 7 1 alle Einzelheiten dieser Debatte hier vorzuführen ist natürlich nicht

Zu den Anschauungen von Epikur, den Epikureern und Lukrez vgl. vor allem: O. Regenbogen, Lukrez, Seine Gestalt in seinem Gedicht, Leipzig 1932 (wieder abge-

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möglich. „Nur der Weise könnte wohl richtig über Musik und Dichtung sprechen" sagt Epikur (frg. 569 Usener). Während die meisten Gelehrten zu dem Schluß kommen, daß Epikur alle Formen der Dichtung verdammte (vielleicht mit Ausnahme derer, die dem Vergnügen dienen) und das Gedicht des Lukrez trotzdem zu rechtfertigen suchen, z.B. Tcscari, Giuffrida, Boyancé und Waszink, argumentieren andere, daß Epikur Dichtungen nur ablehnte, solange sie mythologischen Inhalts sind oder an die Gefühle appellieren (Giancolti), und daß er Dichtungen zuließ, die nützlich oder erfreulich sind, der ήδονή oder der αταραξία dienen (W. Schmid). Fraglos ist es notwendig zu unterscheiden zwischen der Lektüre und der Erörterung von Dichtung (z.B. der epischen Dichtung) für pädagogische'Zwecke als Teil der εγκύκλιος παιδεία, die Epikur ablehnte, der Lektüre oder dem Abfassen von Gedichtcn zum eigenen Vergnügen und dem Schaffen neuer Dichtungen mit dem Ziel, die epikureische Lehre zu verbreiten, Dichtungen, die nicht unter das Verdikt όλέθριον μύθων δέλεαρ (frg. 229 Usener) fallen würden. Was immer Epikurs Anschauungen gewesen sein mögen, es stellt sich auch die Frage, ob seine Anhänger, selbst wenn sie die Tradition zu bewahren suchten, in dieser Hinsicht von seiner Lehre abwichen. Leider sind die überlieferten Texte, die darüber Aufschluß geben könnten, unzureichend oder widersprüchlich. Kolotcs griff den Gebrauch von Dichtung für die Wiedergabe philosophischer Gedanken offensichtlich an. 72 Doch wendet man sich den späteren Vertretern der Schule zu, so kann man nicht leugnen, daß Philodem dichtete, aber auch nicht, daß Cicero ihn als Ausnahme bezeichnete (Pis. 70). Doch während einige Gelehrte vermuten, daß Dichtung später von den Epikureern akzeptiert wurde, sofern sie τέρψις bereitete und nützlich war, oder daß Philodem „the intrinsic value of poetry, rhetoric, and also music" anerkannte, 73 bestehen sie darauf, daß auch er den Gebrauch von Dichtung für philosophische Zwecke oder für erzieherische Ziele ablehnte; und diese Auffassung wurde sicher zu Ciceros Zeit als typisch epikureisch empfunden (Cie. fin. 1, 71-72). Das zweite Problem ist die Haltung Epikurs und seiner Schule zur Rhetorik. Hier sind die Schwierigkeiten noch größer, da .Rhetorik' ein unklarer Begriff ist,

druckt in: O. R., Kleine Schriften, München 1961, 296-386); O. Tescari, Lucrezio, Rom 1939, 47-64 (dazu W. Schmid, Gnomon 20, 1944, 12-15); P. Giuffrida, L'Epicureismo nella letteratura latina nel I secolo a.C., I: Esame e ricostruzione delle fonti: Filodemo, Turin 1940, bes. 16-27; 182-189; Π: Lucrezio e Catullo, Turin 1950, 7-86; P. H. und E. A. De Lacy (Ilrsgg.), Philodemus: On Methods of Inference, A Study in Ancient Empiricism, Philadelphia 1941, 139-140, 149-152; P. Boyancé, Lucrèce et la poésie, REA 49, 1947, 88-102; Waszink (s. A. 57); Giancoui (s. A. 55); P. Boyancé, Études lucrcticnncs, REA 62, 1960, 441-445; F. Giancotti, La poetica epicurea in Lucrezio, Cicerone ed altri, Ciceroniana 3, 1961, 67-95; ders., Lucrezio poeta epicureo, Rome 1961, 5-7; P. Boyancé, fìpicurc, la poésie et la Vénus de Lucrèce, REA 64, 1962, 404-410; G. Broccia, Il proemio primo del De rerum natura di Lucrezio, RCCM 4, 1962, 334-361; F. Giancotti, Epicurea et Lucretiana, RFIC 91, 1963, 369373; Boyancé (s. A. 1) 57-68; F. Giancotti, Note Lucreziane, in: J. Irmscher et al. (Hrsgg.), Miscellanea critica I-II, Leipzig 1965, II 95-98. De Lacey (s. A. 71) 140. De Lacey (s. A. 71) 149.

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der auf Formen des Regiercns angewendet wird (Ρητορική πολιτική), aber auch auf die Kunst des Argumentierens oder den Gebrauch der Sprache im allgemeinen und speziell auf die Interpretation von Dichtung (Ρητορική σοφιστική). Der politische Aspekt kann hier ausgeklammert werden. Wenn Epikur über die Rhetorik selbst schreibt, so tut er es, um vor ihrem Gebrauch zu warnen: ούδέ (!>ητορευσειν καλώς (sc. τον σοφόν: frg. 565 Usener); wenn er sich gegen den Gebrauch von Metaphern wendet (frg. 31,14, 19-28 Arrigheui) und selbst auf ornamenta keinen Wert legt (Cie. fin. 1, 14), dann weist er jede Form des Sprachgebrauchs zurück, die die ursprüngliche, eigentliche Bedeutung der Wörter verdunkelt, da er selbst glaubt, daß die Wörter ihrerseits empirisch erfahrbare Gegebenheiten repräsentieren.74 Wegen dieser Auffassung besteht er auf (und bemüht sich seinerseits um) Angemessenheit des Ausdrucks und Klarheit des Stils, 75 also stilistische Qualitäten, die durch die rhetorische Theorie gelehrt werden. Das ist nicht ein ,anticpikurcischer' Zug bei Epikur, sondern ein Hinweis darauf, daß Epikurs angebliche Ablehnung der Rhetorik einer Einschränkung bedarf, ebenso wie auch seine allgemeinen Erziehungsgrundsätze (nach Cicero, fin. 1, 71-72) nicht jede Bildung ablehnen: nullam eruditionem esse duxit, nisi quae beatae vitae diseiplinam iuvaret... non ergo Epicurus ineruditus, sed ii indocti, qui, quae pueros non didicisse turpe est, ea ρ ulani usque ad senectutem esse discenda.

In der Tat, wenn man Epikurs Briefe und Fragmente liest, mag man sich fragen, wie viel er von Lehrern der Rhetorik für seine Argumentationen lemte und vollends für seine Formulierungen, die Cicero gelegentlich als absichtlich unklar (nat. deor. 1, 86) oder irreführend charakterisiert (nat. deor. 1,85: verbis reliquisse déos, re sustulisse).76 Wendet man sich der Schule Epikurs zu, so findet man, daß Cicero sich über die Epikureer ebenso äußert wie über ihren Meister. Während Philodem zu einer neuen Wertung der Rhetorik (wenn es darum geht, etwas besonders herauszustellen) kommt, verurteilt er sie auch seinerseits, insofern als sie keine Methode bei der Verwendung von Beobachtungen und Argumenten kennt, sich der Bildersprache bedient und an die Gefühle appelliert. Dagegen verraten seine Schriften, mögen sie stilistisch auch sehr schlicht und trocken sein, doch eine gewisse Vertrautheit mit rhetorischen Regeln, selbst mit gewissen Kunstgriffen. Von Zeno sagt Cicero sogar, er sprach non .... ut plerique, sed... distincte, gra-

Cf. Cie. fin. 2, 6; R. Ilcinzc (Hrsg.), 'Γ. Lucrelius Carus: De reum natura Buch ΠΙ, Leipzig 1897, 67; P. H. De Lacey, The Epicurean Analysis of Language, AJPh 60, 1939, 85-92. Diog. Laert. 10, 13, cf. Cie. nat. deor. 1, 49; fin. 1, 15; weitere testimonia finden sich bei H. Usener (Hrsg.), Epicurea, Leipzig 1887, 88-90. Zu Epikurs Sprache und Stil oder vielmehr zu dessen verschiedenen Stilarten s. W. Schmid (s. Α. 65) 708-714 (= 174-179), der auf rhetorische Ausdmcksmittel im Brief an Menoikeus hinweist (710), vgl. auch C. Brescia, Ricerche sulla lingua e sullo stile di Epicuro, Neapel 1955, zu „figure retoriche" 82-86. Ciceros Kritik richtet sich vor allem gegen Epikurs Vernachlässigung der Dialektik (fin. 2, 18; 26; 27; 3, 40).

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viter, ornate (nat. deor. 1, 59). Leider ist der größte Teil der epikureischen Literatur dieser Zeit verloren gegangen. Doch sollte man nicht vergessen, daß die Epikureer während des zweiten und ersten vorchristlichen Jahrhunderts vielfältige Aktivitäten entwickelten, ihre Lehre in Italien zu verbreiten und ihre Philosophie den Menschen dort nahezubringen. Wahrscheinlich war es, nachdem die Epikureer von der athenischen Philosophengesandtschaft nach Rom im Jahre 155 v. Chr. Geb. ausgeschlossen worden waren, daß zwei Mitglieder der Schule ihrerseits nach Rom gingen. Jedenfalls hören wir (Athen. 547 A; Ael. VH 9, 12), daß Alk(a)ios und Philiskos wohl 154 v. Chr. Geb. (eher als 173 v. Chr. Geb.) aus Rom ausgcwicscn wurden. Im ersten Jahrhundert v. Chr. Geb. war eine stets wachsende Schar griechischer Epikureer in Italien aktiv (Phaidros, Philodcmos, Siron). Während das Echo in Lucilius' frühem (28.) Buch (frg. 774 Krenkel) rein literarisch sein mag,77 dürfte Varrò eine genauere Kenntnis von der Schule Epikurs gehabt haben (cf. Men. frg. 315; 402 Astbury). Und Cicero spielt in seiner verlorenen Rede für Q. Gallius auf convivía poetarum ac philosophorum an, von denen eines Sokrates mit Epikur diskutieren ließ (frg. 2 Puccioni). Zwanzig Jahre später erwähnt Cicero nicht nur die große Zahl der Epikureer und gibt voluptas als Grund dafür an, daß die Menge sich ihnen zuwendet (fin. 1,25); er spricht auch von dem philosophus nobilis, a quo non solum Graecia et Italia, sed etiam omnis barbaria commota est (fin. 2, 49). Ein solcher Erfolg war gewiß zum Teil durch die Betonung der voluptas bedingt (und ein falsches Verständnis ihres Wesens und ihrer Bedeutung), aber auch durch die Tatsache, daß die Epikureer jede nur denkbare Anstrengung unternahmen, um die Lehre ihres Meisters zu verbreiten. Cicero bemerkt in den Tuskulanischen Gesprächen, daß die Werke Piatons und der anderen Sokratiker gelesen werden, Epicurum autem et Metrodorum non fere praeter suos quisquam in manus sumit (2, 8). Deswegen, wie Cicero später in derselben Schrift sagt, Ulis (d.h. die anderen Philosophenschulen) silentibus Amafinius extitit dicens, cuius libris edilis commota multitudo contulit se ad eam potissimum diseiplinam (4, 6). Und nicht nur Amafinius* Bücher waren sehr erfolgreich, post Amafinium autem multi eiusdem aemuli rationis multa cum scripsissent, Italiam tolam occupaverunt (4, 7). Wenn Amafinius' Lebenszeit auch nicht mit völliger Sicherheit festgelegt werden kann, ist es wenig wahrscheinlich, daß ein so erstaunlicher Erfolg in den wenigen Jahren zwischen Lukrez' Tod und dem Sommer 45 v. Chr. Geb. errungen werden konnte. Nimmt man jedoch an, daß Amafinius vor Lukrez schrieb, bedarf des Dichters Anspruch, der erste zu sein, einer Erklärung (1, 925-930; 5, 335-337). Wörtlich genommen besagen diese Verse nicht mehr, als daß er der erste ist, der den Gegenstand - natura rerum ... ratioque - mit dem Ziel, die Menschheit von falschen Vorstellungen zu befreien, in Versform behandelte, während Amafinius' Darstellung offensichtlich ganz anders aussah:

Sein Angriff auf T. Albucius (frg. 89-95 Krcnkcl) erwähnt seine Zugehörigkeit zu den Epikureern nicht.

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(Amafinius aut Rabirius) ... nulla arte adhibita de rebus ante oculos positis vulgari sermone disputant, nihil definiunt, nihil partiuntur, nihil apte interrogatione concludunt, nullam denique artem esse nec dicendi nec disserendi putant (ac. 1, 5).

Mit diesen Worten spricht Cicero wahrscheinlich nicht wieder einmal sein übliches Urteil über die Epikureer aus, 7 8 sondern versucht, konkret die römischen Epikureer zu charakterisieren, von denen er in den Tuskulanischen Gesprächen sagt (2,7-8): quia profitentur ipsi Uli, qui eos (libros) scribunt, se ñeque distincte ñeque distribute ñeque eleganter ñeque ornate scribere, lectionem sine ulla delectatione neglego ... hos Latinos i soli legunl, qui ilia recte dici putant.

Es braucht kaum ausdrücklich betont zu werden, daß offenbar nichts einer ansprechenderen Darstellung der cpikurcischcn Philosophie im Wege stand, die die neuen Gedanken in einer vcrstündlichcrcn Form darbot oder vielleicht auch einem anspruchsvolleren Geschmack gerecht zu werden versuchte. Ich sage .vielleicht', weil es keineswegs sicher ist, ob Lukrez sich vor allem an die Oberschicht wenden wollte oder an die Menge oder, wie ich meine, an beide. Doch diese Überlegungen reichen nicht aus, Lukrez' Wahl der dichterischen Form für seinen epikureischen Gegenstand zu erklären. Weitere Beobachtungen müssen ergänzend hinzutreten. Es scheint mir nicht so bedeutsam zu sein, daß Cicero auf Vellerns' klareren und auch formal gelungeren Beitrag zur Diskussion hinweist (nat. deor. 1, 58), obwohl sich daraus zugleich ergibt, daß die Einstellung zur Darstcllungsform sich gewandelt haben muß, wie sich auch aus seiner schon zitierten Bemerkung über den Epikureer Zeno ergibt (nat. deor. 1, 59). Wichtiger ist, daß eine Reihe römischer Epikureer sich in der einen oder anderen Weise ihre Unabhängigkeit bewahrten. Im Hinblick auf die epikureische Haltung zu den Bürgerpflichten könnte man an die politischen Aktivitäten von T. Albucius (Prätor um 105 v. Chr. Geb.), von L. Thorius Baibus (Legat in Spanien 79 v. Chr. Geb.), von dem Senator C . Vellerns, von L. Calpurnius Piso Caesoninus (Konsul 58 v. Chr. Geb.) erinnern und an „the sudden outburst of political interest among the Epicureans of the Ciceronian period". 7 9 Man könnte daneben auch auf die literarischen Interessen und Aktivitäten anderer verweisen. Doch es stellt sich hier eine viel grundsätzlichere Frage: W a r Lukrez Epikureer? Was war seine Absicht? Wollte er nur eine Darstellung der epikureischen Philosophie in lateinischer Sprache schaffen - oder hatte er noch andere Ziele? Gegen welchen Hintergrund müssen wir sein Lehrgedicht sehen und zu verstehen suchen? Vom Anfang seines Gcdichtes an betont Lukrez seinen

Vgl. dazu C. J. Classen, Malcdicla, conlumcliac, tum iracundiae ... indignae philosophie, Perspektiven der Philosophie 13, 1987, 317-329. A. Momigliano, JRS 31, 1941, 151 (= Ders., Secondo contributo alla storia degli studi classici, Rom 1960, 378).

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Wunsch, die Menschheit von den Fesseln des irrigen Glaubens an das Eingreifen der Götter in das Leben der Menschen und an die Strafen nach dem Tode und von allen möglichen Formen des Aberglaubens zu befreien, von denen die niederen Volksschichten, aber auch Angehörige der Aristokratie beeinflußt oder beherrscht wurden, trotz oder gerade wegen ihrer kritischen Haltung gegenüber den traditionellen Formen und Praktiken der römischen Religion. Durchgehend zeigt Lukrez in seinem Gedicht, daß es ihm nicht um die Struktur des Weltalls geht, sondern um das Geschick und das Wohlergehen der Menschen, und daß die Erklärung der Natur (und des Wesens der Seele) für ihn ein Mittel ist, zu innerem Frieden und zu innerer Freude zu gelangen, wie er es etwa 5, 1203 formuliert pacata posse omnia mente tueri. Ich wage es nun, die Vermutung zu äußern - und ich weiß, daß es eine Vermutung ist, wenn auch, wie ich meine, eine wohl begründete - daß es diese Mission war, die Menschheit zur wahren Erkenntnis zu führen, mit der sich Lukrez als einer Aufgabe konfrontiert sah und die er auf sich nahm. Im Lichte dieser Aufgabe müssen die Wahl des Gegenstandes und die Wahl der Form verstanden und gewürdigt werden. Die Frage, ob Lukrez eher Dichter oder eher Epikureer war, ist müßig, da das eine Ziel beides erklärt. Ehe man versucht, die eine oder andere Wahl zu erklären, lohnt es sich festzuhalten, was die einleitenden Abschnitte über Lukrez selbst lehren: Er ist vertraut mit der griechischen Philosophie, er ist vertraut mit der griechischen Dichtung (mit Homer, Aischylos, Euripides ebenso wie mit der Lchrdichtung und der hellenistischen Dichtung), er ist tief verwurzelt in der Tradition der lateinischen Dichtung, und er hat offensichtlich die höhere Bildung genossen, d.h. er ist auch mit der Rhetorik vertraut. 80 Doch wie konnte er seine Absicht, wie sie oben herausgearbeitet wurde, verwirklichen? Seine vielfältigen Kenntnisse mußten ihm die Einsicht vermitteln, daß die Griechen zwar philosophische Dialoge, philosophische Lehrgedichte und protreptische Briefe oder Traktate kannten, bei den Römern dagegen nichts Vergleichbares existierte. Denn wie Cicero betont, schwiegen die anderen philosophischen Schulen, und die Epikureer, die schrieben, verfaßten Prosaschriften geringer Qualität. Im Hinblick auf den Inhalt könnte man nun fragen, ob Lukrez sich zunächst dafür entschied, das Wesen der Natur zu erklären und dann erst, sich Epikur anzuschließen. Doch angesichts seiner protrcptischcn Zielsetzung ist es wahrscheinlicher, daß er nur eine Entscheidung zu treffen hatte, mögen zeitgenössische Epikureer gerade auch die Frömmigkeit besonders betont haben, 81 während Lukrez jede nur denkbare Möglichkeit nutzt, jede Form göttlichen Eingreifens oder theologischen Erklärens heftiger anzugreifen, als Epikur selbst es tat. Darüber hinaus wurde eine protreptische Darbictungsform auch durch den epikureischen Begriff der Freundschaft nahegelegt.

Vgl. z. B. A. Traglia, Sulla formazione spirituale di Lucrezio, Rom 1948 und L. Ferrerò, Poetica nuova in Lucrezio, Florenz 1949, mit einer nützlichen Erörterung von „L'eredità della scuola: elementi retorici e .communes loci' " (140-150), der jedoch die .alexandrinischen' lilemente zu stark betont (passim). Vgl. Jacoby (s. Λ. 67) 24.

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Das entscheidende Problem für Lukrez war, wie er seinen Hörern das Wesen der natura erklären sollte. Von einer Erörterung in Prosa, Catos De agricultura vergleichbar, konnte er nicht erwarten, daß sie viele Zeitgenossen ansprechen würde. Eine poetische Gestaltung mag durch Ennius' oder Valerius Soranus' Lehrgedichte oder durch Ciceros Aratea empfohlen worden sein - und natürlich durch Empedokles, der in jenem goldenen Zeitalter wirkte, als sich Philosophie und Rhetorik noch nicht voneinander getrennt hatten (cf. Cie. de orat. 3, 59-61), ein Dichter, der protreptische und didaktische Ziele miteinander verknüpfte. Da Epikurs Philosophie außerdem nicht nur alle Erkenntnis auf sinnliche Wahrnehmung aufbauen ließ und ständige Bezugnahme auf natürliche Phänomene notwendig machte (für Analogien oder Beweise), sondern sogar annahm, daß die Buchstaben des Alphabets unmittelbar den Atomen entsprechen, und deswegen forderte, daß die Wörter die Gegenstände in der Natur direkt widerspiegeln müssen, liegt die Annahme nahe, daß Lukrez so von der Schönheit der Natur beeindruckt war, daß ihm eine poetische Form der Darstellung am ehesten angemessen schien, um ihr gerccht zu werden. Doch in den Versen, in denen der Dichter selbst seine Motive und Gründe anzudeuten scheint (1,921-935), deutet er auf einen anderen Faktor: laudis spes magna hat ihn mit Begeisterung erfüllt 82 und zugleich (simul) mit beglückender Liebe zu den Musen, 83 d.h. sie hat ihn zur Dichtung geführt. Das mag erstaunlich klingen. Doch der Wunsch nach laus braucht nicht zu überraschen, da auch Epikur selbst Anerkennung ohne weiteres für vereinbar mit seiner Philosophie hielt, und ebenso offenbar Lukrez, der ähnliche Formulierungen für Epikur und für sich selbst gebraucht. 84 Zugleich muß diese Wendung laudis spes magna im Zusammenhang gelesen werden; eingeführt durch sed folgt sie auf nec me animi fallii quam sint obscura (1, 922). Lukrez erwartet laus und Dichtcrkranz nicht, weil er dichtet, sondern weil er der erste ist, der diesen großartigen und schwierigen Gegenstand in einer verständlichen, ansprechenden und wirkungsvollen Form im Dienst einer großen Sache darstellt. So kann man schließen, daß Lukrez im Bewußtsein der vor ihm liegenden Schwierigkeit, nämlich den Stoff selbst zu verstehen und verständlich darzustellen, die Herausforderung annahm und die dichterische Form wählte, um das Wesen der Natur erfaßbar und klar zu beschreiben. Anschließend spricht Lukrez offen aus, daß er seine Aufgabe als angenehm empfindet (1, 927 und 928: iuvat, cf. Cie. fin. 2, 14), ein anderer Faktor, der seine Mühe dulcis macht, und daß er die erwartete Dichterkrone für wohl verdient hält, und zwar aus zwei Gründen (1,931-934): primum quod magnis doceo de rebus et artis religionum animum nodis exsolvere pergo, deinde quod obscura de re tarn lucida pango

Man beachte, wie Lukrez vom ένθουαιασμός spricht, ohne göttliche Einwirkung zu implizieren. Ein schönes Beispiel für Venus' produktive und kreative Aktivität, vgl. 1, 22-23, vor 1, 24. Vgl. Barra (s. Α. 47) 65-67.

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carmina, musaeo conlingens cuneta lepore.

Obwohl diese Verse Lukrez' Motive nicht unmittelbar aussprechen, weisen sie doch eindeutig auf das, was er als sein Ziel und seine Leistung ansieht: Wie das Lehren des bedeutsamen Gegenstandes (doceo) aufs engste verbunden ist mit dem Ziel seiner Mission, so ist die der Sache innewohnende schwere Verständlichkeit verknüpft mit seinen eigenen, klaren und ansprechenden Darlegungen. 85 Seine Entscheidung für die dichterische Form ist nicht aufgrund künstlerischer Überlegungen gefallen, sondern durch dieselben Erwägungen bedingt, die auch die Auswahl des Inhaltes bestimmten. Dies wird durch die Art bestätigt, in der Lukrez sich der dichterischen Form bedient. Denn er bleibt gleichsam Herr seiner Dichtung, er lüßt sich nicht von ihr mitreißen; vielmehr ist sein Dichten, wie von der Forschung oft genug betont worden ist, dem philosophischen Inhalt und der Zielsetzung des Ganzen untergeordnet. So bemüht sich Lukrez um eine klare Darstellung, eine wirkungsvolle Ausdrucksweise, eine korrekte Sprache. Er kann nicht einfach die rein didaktische Dichtung seiner Zeit nachahmen, z.B. Ciceros Aratea, er muß seinem Gedicht eine Gestalt geben, durch die er hoffen kann, nicht nur zu belehren, sondern auch auf die Menschen zu wirken, sein Publikum zu beeindrucken, und es dazu zu bringen, ihm dahin zu folgen, wohin es ihm nach seinen Willen folgen soll. Er muß seiner Dichtung eine Form geben, für die sowohl die poetische wie die rhetorische Tradition Elemente liefern. Viele Vorteile dieser Darstellungsweise sind offenkundig und schon genannt worden, weitere ließen sich anführen, etwa daß auf diesem Wege die epikureische Forderung nach einer Form, die man sich leicht einprägen kann, erfüllt wird. 86 Doch zugleich zeigen sich Schwierigkeiten; denn der dichterische Ausdruck schcint bisweilen mehr zu besagen, als in nichtmetaphorischer Sprache ausgedrückt wird (vgl. z.B. 3, 23 oder 5, 225). Hier wird ein Grund erkennbar, warum Epikur sich gegen den Gebrauch von Metaphern wandte. Doch diese Schwierigkeiten ergeben sich nur, solange das Gedicht allein als Lehrbuch der epikureischen Philosophie verstanden wird und nicht als Versuch, die Römer auf jede nur denkbare Weise von ihrem Irrglauben zu befreien. Ebenso muß man m.E. auch die anderen, angeblich mit der epikureischen Philosophie nicht vereinbaren Züge verstehen: Lukrez ist in erster Linie nicht Epikur treu, sondern seinem Auftrag, seiner Mission, und um sie zu erfüllen, bedient er sich aller erdenklichen Mittel. Wenn man bereit ist, das zu erkennen, wird man die Fragen, die am Anfang aufgezählt wurden, leicht beantworten können. Denn es hat sich gezeigt, daß Lukrez weder vor allem Dichter noch vor allem Epikureer ist, sondern daß er sich bemüht, einen selbst gestellten Auftrag zu erfüllen. In diesem Sinne hat man seine Verwendung des poetischen Mediums zu verstehen (und kann sie auch

Es muB betont werden, daß carmina nicht von sich aus lucida sind, sondern nur wenn sie in einer bestimmten Art und Weise verfaßt werden, z.B. in solcher (tarn) Art wie hier. Bailey (s. Α. 1) 2, 759 bemerkt mit Recht, daß „933-934 give Lucretius' own idea of his style and its purpose." ' Epicur. Ep. ad Her. 36, s. auch Hpikurs eigene r a u e sentcntiae und Cie. Tuse. 4, 7.

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akzeptieren), ebenso die Anrufung der Venus und das komplizierte erste Proömium, die Form seiner Argumente, deren Anhäufung und deren Anordnung sowie den Wechsel mit erläuternden Abschnitten, d.h. zusammengefaßt die eher psychologische als logische Art der Argumentation, ferner die Wiederholung einzelner Wörter oder Verse, die Bildersprache und die anderen rhetorischen Züge - und schließlich seinen dauernden Erfolg. So hat die Interpretation der Darstellungsform im allgemeinen und einiger Abschnitte im einzelnen etwas von dem Vorgehen und dem Ziel des Lukrez erkennbar werden lassen, sogar etwas von seinen persönlichen Überzeugungen. Man mag behaupten, daß Lukrez sein Lehrgedicht in furorem versus verfaßte, doch gewiß nicht per intervalla insaniae, sondern nur insofern, als er sich von seiner Mission fortreißen ließ, den Menschen inneren Frieden zu bringen, und bemüht war, dafür einen möglichst wirkungsvollen Ausdruck zu finden. Man könnte sagen, daß Lukrez vom furor getrieben wurde, den er jedoch zu beherrschen und in die ihm am besten geeignet erscheinenden Formen zu lenken verstand dank seiner Vertrautheit nicht nur mit der Philosophie und der Dichtung, sondern auch mit der Rhetorik, der Grundlage aller höheren Bildung in der Antike. Es war ein Dichter, dem es gelang, dafür die prägnanteste Formel zu finden mit den Worten: dodi furor arduus Lucreti (Stat. silv. 2, 7, 76). 87

Dies hat natürlich nichts mit der angeblichen insania des Lukrez zu tun, denn, wie Plinius gelegentlich betont (epist. 7, 4, 10), poelis furere concessum est.

Philologische Bemerkungen zu den einleitenden Kapiteln von Caesars Bellum Civile (Darstellungstechnik und Absicht) In den letzten Jahren sind die Ergebnisse der Erzählforschung in steigendem Maße für die Interpretation der Werke Caesars genutzt und fruchtbar gemacht worden.1 Dabei hat das Bellum Gallicum stärkere Berücksichtigung erfahren als das Bellum Civile, dem daher die folgenden Seiten gewidmet sein sollen, zumal es in der Forschung sehr verschieden beurteilt wird.2 Schon die ersten Sätze zeigen manche Merkwürdigkeit. Ohne eine praefatio mit allgemeinen Erwägungen des Autors, aber auch ohne eine auf das Werk selbst zielende Einleitung setzt die Schilderung des Geschehens unvermittelt ein, zwar zu Beginn eines Jahres, doch ohne daß dies ausgesprochen wird; und einführende Bemerkungen zum Ort oder zur Zeit der Ereignisse fehlen ebenso wie solche zu den handelnden Personen. Deswegen hat man den Fortfall einiger

F.-H. Mutschier, Erzählstil und Propaganda in Caesars Kommentarien, Heidelberg 1975 (= Heidelberger Forschungen 15); H. A. Gärtner, Beobachtungen zu Bauelementen in der antiken Historiographie besonders bei Livius und Caesar, Wiesbaden 1975 (= Historia-Einzelschriflen 25); W. Görler, Poetica 8, 1976, 95-119 (mit Angabe wichtiger Literatur zur Erzählforschung, bes. E. Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1975 6 ); W. Göricr, AU 23, 1980, 3, 18-31; vgl. jetzt auch allgemein J. Kocka, Th. Nipperdey (Hrsgg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte, München 1979 (= Beiträge zur Hislorik 3). Aus Mangel an Raum muß sich die folgende Skizze auf wenige knappe Bemerkungen zum Anfang des Bellum Civile beschränken; sie gründen sich auf eine eingehende Beschäftigung mit dem ganzen Werk und sollen später durch Interpretationen anderer Abschnitte gestützt und ergänzt werden. Die umfangreiche Literatur verzeichnen J. Kroymann in: A NRW I, 3 457-487 und H. Gesche, Caesar, Darmstadt 1976 (mit kritischer Würdigung); gegensätzliche Positionen vertreten etwa H. Oppermann, Caesar, Der Schriftsteller und sein Werk, Leipzig 1933 (= Neue Wege zur Antike Π, 2), dem sich jetzt L. Raditsa in: ANRW I, 3 417-456, vielfach anschließt, und K. Barwick, Caesars Bellum Civile , Tendenz, Abfassungszeit und Stil, Berlin 1951 (= Ber. Sächs. Ak. Wiss. 99, I); M. Rambaud, L'art de la déformation historique dans les commentaires de César, Paris 1966 2 , s. ferner M. Ruch, REL 27, 1949, 118-137; J. H. Collins, Propaganda, Ethics and Psychological Assumptions in Caesar's Writings, Diss. phil. Frankfurt 1952 (masch.); teilweise abgedruckt in: ANRW I, 1, 922-966; ders., AJPh, 80, 1959, 113-132. Zu Caesar vgl. vor allem M. Geizer, Caesar, Der Politiker und Staatsmann, Wiesbaden 1960; ergänzend dazu wichtig jetzt K. Raaflaub, Dignitatis contenlio, Studien zur Motivation und politischen Taktik im Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius, München 1974 (= Vestigia 20); H. Bnihns, Caesar und die römische Oberschicht in den Jahren 49-44 v. Chr., Göttingen 1978 (= Hypomnemata 53); Z. Yavetz, Caesar in der öffentlichen Meinung, Düsseldorf 1979.

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Sätze am Anfang vermutet, 3 eine Möglichkeit, die zu prüfen sein wird (s.u. A. 22); doch empfiehlt es sich, zunächst den überlieferten Text zu interpretieren. Der erste Satz nennt - nach Caesar, von dem die weitere Entwicklung ihren Ausgang nimmt - die Konsuln und Tribunen als die Kontrahenten, die sich in der zu Beginn vorgeführten Senatssitzung gegenüberstehen. Doch wird dieser Konflikt vom Autor nicht eigentlich beschrieben, sondern durch die Wiederholung einzelner Wörter dem Leser unmittelbar vor Augen gerückt: lìtteris... redditis aegre impetratum est... ut in senatu recitarentur. ut vero ex litteris ad senatum referretur, impetrari non potuit. Der Erzähler tritt ganz hinter den Tatsachen zurück und läßt diese für sich sprechen. Die eingangs betonte Spannung bestimmt auch die folgenden Sätze. Statt den Leser über den Inhalt des Briefes, also über Caesars Forderungen zu informieren, wendet sich der Autor den Konsuln zu. Nicht völlig ohne Verknüpfung - denn referunt nimmt referretur wieder auf - doch nüchtern und knapp referiert er referunt cónsules de re publica und fährt in gleichem Tone fort, 4 wobei die oratio obliqua weniger beleben als die Authentizität verbürgen soll: L. Lentulus consul senatu rei publicae se non defulurum pollicetur, si audacter ac fortiter sententias dicere velini. Die folgende Alternative (sin Caesarem respiciant...) läßt dann die Position des Konsuls deutlich werden, dem sich (Q. Caecilius Metellus) Scipio mit seinem Votum anschließt, das Pompeius' Meinung wiedergibt. Erst danach erfährt der Leser, daß die Sitzung in urbe stattfindet, weil dadurch Pompeius' Fernbleiben erklärt wird. Doch fehlen weiterhin nähere Angaben zu Zeit und Ort; vor allem werden die Ansprüche und Forderungen Caesars nicht genannt. Mag auch die folgende Senatsdebatte durch sie ausgelöst worden sein; die Konsuln hatten sie nicht zur Diskussion gestellt, und so kann der Erzähler sie unerwähnt lassen, ohne voreingenommen zu erscheinen, und stattdessen einzelne Redner mit ihren Äußerungen und Vorschlägen vorführen. Dabei beginnt er, zunächst fast unauffällig, einzelne eher wertend als beschreibend klingende Formulierungen einzustreuen,5 um mit Vgl. Caesar, Bellum Civile, Edd. A. Klotz, W. Trillilzsch, Leipzig 1957 3 · zur Stelle: initio nonnulla intercedisse statuunt multi editores post Glandorpium; J. Glandorp: 1501-1564. Ein Supplement von D. Voss (1612-1633), zuerst erschienen in der von J. G. Graevius besorgten Ausgabe (Amsterdam 1697) drucken Spätere ab, z.B. Caesar, Bellum Civile, Ed. F. Oudendorp, Stuttgart 1822 2 , 5-6. In Glandorps Notae in Caesarem, die 1574 zuerst von R. Reineccius in Leipzig publiziert, im zweiten Teil der Caesar - Ausgabe, Frankfurt 1606, abgedruckt sind, heißt es (152): Mirum autem cum tanti belli res gestas descripturus esset, non usum pleniore exordio. Ñeque enim sic auspicatur bellum Gallicum, nisi forte hic liber άκέφαλος est, quomodo et vita Caesaris apud Suetonium. Certe in sequentibus Commentariis quaedam desiderari, ne quid nunc de sexto dicamus, certis ei evidentibus argumenlis doceri potest. Caeterum de Uteris hisce arbitramur loqui Ciceronem in epistolis ad Tironem, quas minaces acerbas fuisse seribit. Die Konjektur von H. Schiller incitât (zuletzt verteidigt von Mutschier (s. A. 1) 201, A. 2) würde zu früh eine wertende Akzentuierung bringen. 2,2 dixerat aliquis leniorem sententiam; 2,4 hi omnes convicio L. Lentuli consults correpti exagitabantur (man beachte das erneut gesetzte praenomen und die Amtsbezeichnung), wiederaufgenommen und damit hervorgehoben durch 2,5 Marcellus

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einer sehr pointierten Bemerkung zu schließen: ut quisque acerbissime crudelissimeque dixit, ita quam maxime ab inimicis Caesaris conlaudatur (2,8). Behutsam bringt der Autor seine persönliche Sicht zur Geltung, ohne selbst hervorzutreten. Während die erste Senatssitzung ausführlich beschrieben wird, d.h. richtiger die Sitzung der ersten beiden Januartage, die der Erzähler zu einer Einheit werden läßt (cf. Dio Cass. 41,2,2), verkürzt er anschließend die Erzählzeit stark gegenüber der erzählten Zeit und geht zu einem gerafften Bericht über, der die verschiedenen Ereignisse, Maßnahmen und Vorgänge kühn zusammenfaßt. 6 Dagegen werden die Äußerungen des Pompeius und die Reaktionen anderer Beteiligter ausführlich wiedergegeben und deren Motive charakterisiert (3-4).7 Dabei wird die personale Sicht des Erzählers in mehreren Wertungen deutlich erkennbar (3,4-5), und in der Schilderung der letzten Senatssitzung im folgenden Kapitel wird sie noch spürbarer sowohl in einzelnen Wendungen (5, 1 aguntur omnia raptim atque turbate', 5, 1 ñeque eliam extremi iuris intercessione retinendi ...facultas tribuitur; 5,2 de sua salute séptimo die cogitare coguntur; 5 J decurritur...) als auch in mehreren Vergleichen etwa mit Sullas Vorgehen (5,1 quod Sulla reliquerat), mit früheren Zeiten (5, 2, 3 quod illi turbulentissimi superioribus temporibus tribuni plebis octavo denique mense suarum actionum respicere ac timere consuerant) oder mit allgemeinen historischen Erfahrungen (5,3 extremum atque ultimum senatus consultum, quo nisi paene in ipso urbis incendio atque in desperatione omnium salutis latorum audacia numquam ante descensum est). Der Erzähler Caesar tritt vorsichtig in Erscheinung, noch ehe Caesar selbst zum Gegenstand der Erzählung wird. Zwar gibt der über allen Ereignissen stehende Erzähler abschließend eine Zusammenfassung (5, 4), die den Ablauf des Gesamtgeschehens im Rückblick zu überschauen erlaubt. Doch gestaltet er die Erzählung, die er durch die Form nüchtern und objektiv erscheinen läßt, durch die Auswahl des Geschilderten8 und durch die allmählich zunehmenden Wertungen immer stärker aus seiner Sicht. So gelingt es Caesar schon zu Beginn seines Werkes gleichzeitig den Eindruck der Vollständigkeit (durch den Rückblick) und der Tatsachennähe (durch den Ton) zu vermitteln und den Leser überdies dadurch in seinem Sinne zu beeinflussen, daß er vor allem die beteiligten Persönlichkeiten schildert und dabei sein eigenes Urteil wirkungsvoll, wenn auch nicht immer offenkundig cinflicßcn läßt. perlerritus conviciis a sua senlenlia äiscessit-, 2,6 sie voeibus (bei Caesar der Plural bei einer Person sonst nicht üblich) consults, terrore praesenlis exercilus, minis amicorum Pompei plerique compulsi invili el coacli Scipionis senlentiam sequuntur. Im übrigen ist der Stil betont sachlich, wie die Verwendung amtlicher Formeln lehrt, vgl. z.B. intercedi! M. Antonius Q. Cassius tribuni plebis (s. dazu F. Kraner, F. Hofmann, H. Meusel, Kommentar, Berlin 1906", z.St.). Zu den Auslassungen in den Kapiteln 3 und 4 s. Barwick (s. A. 2) 21-26, der 17-20 auch in den ersten Kapiteln übergangene Gesichtspunkte registriert. Vgl. dazu Oppermann (s. A. 2) 14-15; allgemein betont Raaflaub (s. A. 2) die aufs Persönliche fixierte Betrachtungsweise (s. Register 344). Zu den ausgelassenen Konzessionen und Vcrmitllungsverhandlungen s. Raaflaub (s. A. 2) 66-67.

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Diesem Ziel dient es auch, daß Caesar seine eigene Person auf der erzählten Ebene weiterhin im Hintergrund hält, d.h. sie anläßlich der Flucht der Volkstribunen nur kurz nennt, 9 sie und ihre Haltung allerdings betont günstig charakterisiert (5,5 exspectabatque suis lenissimis postulatis responso, siqua hominum aequitate res ad otium deduci posset),10 um die Äußerungen des Pompeius und die Beratungen und Kriegsvorbereitungen des Senats um so eindrucksvoller dagegenzuslellen (6, 1-8). Die Schilderung gipfelt in einigen Sätzen, deren einmaliger Inhalt durch ganz ungewöhnliche Formulierungen herausgestellt wird: quod superioribus annis acciderat (6,6) - quod ante id tempus accidit numquam (6,6)u - contra omnia velus talis exempta (6,7). Sie verdienen aus verschiedenen Gründen besondere Aufmerksamkeit; denn es ist (1) nicht zutreffend, daß die Konsuln nie zuvor die Stadt verlassen haben - ihr ständiges Verbleiben in der Stadt während ihres Amtsjahrcs war erst seit Sulla die Regel 12 - und dieser Vorgang gehört (2) zeitlich nicht an diese Stelle: die Konsuln fliehen erst am 18. Januar aus Rom. 13 Der Erzähler begnügt sich also nicht damit, die Ereignisse aus seiner Sicht zu werten, wobei er seinem Urteil das subjektive Element zu nehmen scheint, indem er es an den durch die Geschichte entwickelten Maßstäben orientiert; er beeindruckt den Leser zunächst durch seine ungenaue und übertreibende Behauptung bei der Beurteilung der Vorgänge (6,6) und führt ihn dann noch einmal durch einen Eingriff in den Ablauf der erzählten Geschehnisse irre (6,7). Gewiß ist es in der Erzählung möglich und üblich, zunächst einen Erzählstrang zu verfolgen und erst danach einen anderen, eigentlich gleichzeitigen, der sich auf einem anderen Schauplatz abspielt. Doch hier macht es die Sache nicht notwendig, im Vorgriff vom Aufbruch der Konsuln zu berichten; vielmehr hätte der Autor, da die verschiedenen Ereignisse von einander abhängig und durch einander bedingt sind, auf eine sorgfältige chronologische Anordnung und kausale Verknüpfung achten sollen. Stattdessen zieht er nicht nur den Aufbruch der Konsuln vor, sondern erweckt durch die Formel quibus rebus cognitis14 beim S, 5 profugiunt stai im ex urbe tribuni plebis seseque ad Caesarem da nur M. Antonius und Q. Cassius fliehen.

conférant

- ungenau,

Wenn es zutrifft, „daß Caesars Kompromißvorschläge nicht brieflich übermittelt, sondern von Curio nach Rom gebracht worden sind" (wie Raaflaub (s. A. 2) 68 vermutet), bleibt die Tatsache, daß Caesar hier nur von den lenissimo postulata spricht und nicht von dem, was Cicero als minaces et acerbae litterae charakterisiert (epist. 16, 2, 2). Diese Wendung ist bei Caesar sonst nicht üblich (am nächsten steht 15, 3 quo nisi paene in ipso urbis incendio ... numquam ante descensum est), wohl aber bei seinen Nachfolgern: Bell. Λ fr. 61, 1; Bell. Hisp. 15, 6. Auch omnia divina humanaque iura permiscentur ist bei Caesar singular, doch vgl. Sali., lug. 5, 2. K o m m e n t a r des Erzählers ist auch 6, 5 der Zusatz neque eorum sortes deiciuntur. Vgl. Th. Mommsen, Römisches Staatsrecht Π, 1, Leipzig 1887, 95. Vgl. Caesar selbst 14, 1-3; klarer ergibt sich der Zeitpunkt der Flucht (nach der Besetzung von Ariminum) aus App. civ. 2, 141 und 148; Plut., Caes. 33-34, 1; Pomp. 60-61; Dio Cass. 46, 4, 1; 6, 2; 9, 1, auch 7, 1; vgl. auch Cie., Att. 7, 2. Vgl. dazu J.-P. Chausserie-Laprée, L'expression narrative chez les historiens latins, Histoire d'un style, Paris 1969, 71-83; Kraner, Hofmann, Meusel (s. A. 5) z. St. betonen, daß sich diese Worte nicht auf die in Kapitel 6 berichteten Vorgänge beziehen.

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Leser den Eindruck, als seien die Rede und die weiteren Maßnahmen Caesars eine Konsequenz des vorher Geschilderten. Die Rede vor den Soldaten, die Caesar gleich anschließend in den Mund gelegt wird, ohne daß der Ortswechsel markiert oder die Lokalität genauer bezeichnet wird, und die Darstellung der folgenden Aktivitäten des Feldherren bis zum Marsch nach Ariminum verdienen besondere Aufmerksamkeit, und zwar aus vier Gründen. (1) Dort wo sich der Autor Caesar zum ersten Mal selbst einführt, läßt er den geschilderten Caesar zunächst eine Rede halten, um dessen Überlegungen, dessen Gründe und dessen Absichten vor allem Handeln darzulegen und damit seine Position aus seiner eigenen Sicht deutlich zu machen. (2) Dabei läßt er ihn mehrere Aspekte (Pompeius von Caesars Feinden verleitet: 7,1 cf. 4,4 Pompeius' Sorge um seine dignitas 7,1 cf. 4,4 - der Vergleich mit Sulla: 7,3 cf. 5, 1 - das senatus consultum ultimum·, 7,5-6 cf. 5,3) und Formulierungen (Unrecht der Gegner Caesars: 7,1 cf. 4 , 1 ; neues Beispiel: 7,2 cf. 6,7) aufgreifen, 15 die er selbst vorher als scheinbar nüchtern berichtender Historiker verwendet hat, und verleiht damit als Erzähler den Gedanken, Plänen und Argumenten des Dargestellten ein besonderes Maß an .Objektivität' und Wirkung auf den Leser, dessen Emotionen er durch die formal geschickte Gestaltung der Rede, 16 und ergänzend auch durch Hinweise auf seine Erfolge, sein Glück und seine Bemühungen um Frieden anzusprechen sucht. (3) Caesar hat diese Rede tatsächlich wohl erst etwas später in Ariminum gehalten, nachdem er mit seinen Truppen dorthin marschiert war. Wieder greift der Erzähler in den Gang der Ereignisse ein: nicht die Wirklichkeit, die Wirkung bestimmt seine Darstellung. Dies gilt nicht nur für die Anordnung des Stoffes, sondern auch für die Auswahl, die er trifft, und die Ausführlichkeit, mit der er schildert, wie ein Vergleich mit den anderen Quellen lehrt.(4) Denn der Erzähler läßt bekanntlich die Tatsache, daß Caesar die Provinz verläßt und mit seinen Truppen

sondern - ungenau - nur auf das in Kapitel S Erzählte; doch muB sehr fraglich bleiben, welcher unbefangene Leser den Text so verstanden hat. Anderseits finden sich im einzelnen bezeichnende Veränderungen und Verschärfungen: 7, 1 nennt er unter Pompeius' Motiven invidia und obtreclatio laudis-, 7, 2 beklagt er, die intercessici der Tribunen sei armis verhindert - wenn man armis hält - während er 5, 1 nur allgemein von der Verhinderung spricht, und dies wird wohl noch durch den bewußt als Kontrast dagegen gesetzten Relativsatz quae superioribus annis armis esset restituía unterstrichen, den Raaflaub (s. A. 2) IS, A. 6 gegen Athetese (Nipperdey; Meusel) und Konjektur (Hotmann, anders mit L Rambaud) überzeugend verteidigt und erklärt hat; dort 15-18 auch zum ,novum exemplum'·, 7, 5-6 beschreibt er die üblichen Voraussetzungen für ein senatus consultum ultimum viel ausführlicher als 5, 3; man darf davon nichts (mit Nipperdey und Meusel) streichen. Nach vorsichtigem Anfang im genus medium (7, 1 omnium temporum iniurias inimicorum) wählt er mehrfach die Häufung von Synonymen: deduetum ac depravatum - invidia atque obirectatione laudis suae - honori et dignitati - faverit adiutorque fuer it (man beachte die Inkonzinnität der letzten Zusammenstellung und den Wechsel bei den Konjunktionen - 7, 1), dann eine Sperrung: novum - exemplum (7, 2 - anderes sei wegen der Unsicherheit des Textes übergangen), dann stellt er Sullam und Pompeium in betontem Gegensatz an den Anfang der beiden folgenden Sätze, die noch weitere Parallelen zeigen (7, 3-4) usw.

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in Italien eindringt, völlig unerwähnt. Der heutige Leser, der mit der sprichwörtlichen Bedeutung des .Überganges über den Rubikon' vertraut ist, mag das besonders befremdlich finden; doch schon in der Antike hat nicht allein Lucan die Szene am Rubikon dramatisch ausgestaltet; auch die anderen Autoren haben diesen Schritt betont, 17 dessen rechtliche Bedeutung man nicht leicht überschätzen wird. In der Tat scheint Caesar selbst sich als Handelnder dessen bewußt gewesen zu sein, wenn er bei dieser Gelegenheit den Halbvers Menanders άνερρίφθω κύβος zitierte. Doch als Erzähler folgt er anderen Prinzipien, die sich hier wiederum deutlich abzeichnen. Man kann hier künstlerische Absichten nachweisen, man kann hier eine Beschränkung auf das für das Verständnis Notwendige feststellen;18 aber damit läßt man die Frage unbeantwortet, wie weit diese Kunst einem bestimmten Ziel untergeordnet wird, wie weit dem Leser ein bestimmtes Verständnis vermittelt werden soll. Welchen Absichten dienen die Prinzipien, die Caesar bei seiner Erzählung befolgt? Er schildert Personen und Ereignisse in einer Auswahl, Anordnung und (gelegentlich) Wertung, die von ihm bestimmt sind und seinen Standpunkt wiedergeben; er wählt aber zugleich die dritte Person und den nüchternen Stil des Berichterstatters, um den Eindruck höchster Objektivität zu erwecken. 19 So vermag Caesar, ohne sich selbst in den Vordergrund zu schieben, ohne sich selbst ausdrücklich zu rechtfertigen, (weitgehend) ohne zu falschen Behauptungen Zuflucht zu nehmen, durch eine geschickte Verbindung der über den Dingen stehenden Erzählweise, die von einer höheren Warte berichtet, mit einer durch seine personale Sicht geprägten Gestaltung des Stoffes den Leser für seine Darstellung zu gewinnen. Konnte Caesar wirklich hoffen, seine Zeitgenossen, sogar seine Standesgenossen auf diese Weise zu beeindrucken? 20 Wer sich verdeutlicht, mit welchen Mitteln antike Redner vor Gericht jeweils die Sachlage zu ihren Gunsten verschoben darzustellen wissen und welche Erfolge sie nicht nur in politischen Versammlungen durch ein solchcs Vorgehen zu erringen pflegen, sondern auch durch entsprechend abgefaßlc politische Reden und Flugschriften, die veröffentlicht in stärkerem Maße der Überprüfung durch das Publikum ausgesetzt sind, wird sich nicht über Caesar wundern, zumal er sich nicht auf das

Vgl. dazu A. Bachofen, Casars und Lucans Bellum Civile, Ein Inhaltsvergleich, Diss, phil. Zürich 1972, 2 und 54-55 (Lil.), und vor allem C. Bratscher, Analysen zu Suetons Divus Julius und der Parallclübcrlieferung, Bern 1958, (= Noeles Romanae 8) 67-110. Wenn man sich verdeutlicht, wie die Zeitgenossen auf den Übergang über den Rubikon reagiert haben - vgl. H. Strasburger, Caesar im Urteil seiner Zeitgenossen, Darmstadt 19682, 34 - 43 - muß man davon ausgehen, daß Caesar diesen Schritt aus wohl erwogenen Gründen nicht beschrieben hat. Vgl. Oppermann (s. A. 2) 15, ähnlich 16 u.ö. Dies sucht er ergänzend auch durch den Zusatz einer sachlichen Mitteilung zu erreichen (7, 8), deren Ton den Leser darüber hinwegtäuscht, daß sie inhaltlich nicht zutrifft, vgl. Barwick (s. A. 2) 30-31. Vgl. dazu Barwick (s. A. 2) 20.

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Verschweigen, Hervorheben und Fälschen oder Erfinden beschränkt, 21 sondern sich gern des Verschiebens bedient und vor allem seine Darstellung durchgehend in ein Gewand kleidet, das die Zweifler beeindrucken mußte: Inhalt und Form passen zueinander und verfolgen dasselbe Ziel. Wer die ersten Kapitel des Bellum Civile unvoreingenommen analysiert, ohne sich von Bewunderung oder abwertender Kritik leiten zu lassen, wird rasch sehr verschiedene Elemente erkennen, die alle auf ihre Weise geeignet sind, den Leser in einer bestimmten Weise zu beeinflussen: der sorgfältig registrierende Bericht, in dem einzelne Ereignisse geschickt verschoben sind, der nüchtern erscheinende Stil verknüpft mit Wertungen und Vergleichen, die distanzierte Darstellung der Vorgänge verbunden mit ausführlichen Angaben über die Motive der Beteiligten, auch der Motive Caesars. 22 Durch diese Mischung von Offenheit und Verstellung, die objektiv erscheinen soll und subjektiv geprägt ist, wird man sich warnen lassen, hier ein Werk sehen zu wollen, mit dem sich Caesar unmittelbar in die Reihe der römischen Geschichtsschreiber hat einordnen wollen, von denen sehr verschiedene Formen der Historiographie entwickelt waren; man wir sich aber auch warnen lassen müssen, hier den Versuch Caesars zu sehen, ein seinen stilistischen Tendenzen entsprechendes Genos der Geschichtsschreibung gleichsam neu in die Literatur einzuführen. Caesar wählt angesichts der ihm von der Tradition gebotenen Möglichkeiten den commentarius und gibt ihm ein ganz eigenes, unverwechselbares Gepräge, um auf diese Weise seine Absichten zu verwirklichen. So erweist sich das Bellum Civile als ein Werk des Politikers Caesar, für dessen Begabung und Geschick diese Darstellung seines Handelns ein beredtes Zeugnis abzulegen vermag.

Vgl. Barwick (s. A. 2) 17. Man solile nie vergessen, daß Asinius Pollio glaubte Gnind zu haben, die commentarli für parum diligenter parumque integra veritale compositi zu halten (Suet. Iul. 56, 4). Hat man Caesars Darstcllungstechnik und Absicht erkannt, wird man auch an dem unvermittelten A n f a n g nicht Anstoß nehmen; Caesar geht es nicht d a r u m , seine Forderungen zu verschweigen, sondern erst allmählich zu enthüllen, wo es ihm am wirkungsvollsten erscheint (9, 3; 34, 4).

Ciceros Kunst der Überredung Wer die Redekunst Ciceros 1 in ihren wesentlichen Zügen würdigen will, kann verschiedene Wege beschreiten: er kann eine einzelne Rede analysieren und zeigen, in welcher Weise Cicero die ihm gestellte besondere Aufgabe angesichts der Rechtslage, der politischen Situation und der Stimmung im Publikum löst; er kann die rhetorischen Handbüchcr heranziehen und aus der Fülle der Reden belegen, welche Regeln der Redner im einzelnen befolgt, 2 und er kann schließlich von den Reden ausgehend die verschiedenen Elemente zusammenstellen, derer sich der Redner bedient, um sein Ziel zu erreichen, und zu klären versuchen, welche Aufgabe ihnen im Prozeß der Überredung zugewiesen wird, unabhängig davon, wie weit die Theoretiker sie schon in der Zeit Ciceros berücksichtigen (hervorheben oder nur gelegentlich erwähnen) oder erst später entdecken und in ihr System einordnen. Hier soll der dritte Weg beschritten werden und dabei die Theorie insofern zur Geltung kommen, als zuerst Probleme der inventio, dann der disposino und schließlich der elocutio erörtert werden sollen. 1 Die Lektüre der Reden Ciceros läßt auch den oberflächlichen Leser rasch den Eindruck gewinnen, daß der Redner die für den jeweils zur Verhandlung stehenden Gegenstand wesentlichen Vorgänge und die entscheidenden Probleme oft reichlich knapp und bisweilen sogar unvollständig oder ungenau vorführt, während er eine Fülle von Aspekten einbezieht, die nicht unmittelbar zum Thema gehören, über das eine Entscheidung zu fällen ist, und höchstens indirekt zu dessen Klärung beitragen können. Trotzdem findet sich nur selten der ausdrückliche

Hier sind vor allem die Prozcßrcdcn mil Ausnahme der Verrinen berücksichtigt, während die politischen Reden außer den philippischcn nur ergänzend herangezogen worden sind. In der Regel ist eine verhältnismäßig große Zahl von Belegen gegeben, um einen Vergleich der einzelnen Reden zu erleichtern. Zitate mit Zeilenangaben beziehen sich auf die Oxford-Ausgabe von A. C. Clark und W. Peterson, doch sind auch die neueren Ausgaben durchgehend berücksichtigt. Aus der umfangreichen Sekundärliteratur sei hier nur verwiesen auf R. G. M. Nisbet, in: T. A. Dorey (Hrsg.), Cicero, London 1965, 4779; Chr. Neumeister, Grundsätze der forensischen Rhetorik, München 1964 (= Langue et Parole 3) (Lit.); W. Stroh, Taxis und Taktik, Stuttgart 1975 (Lit.). Vgl. F. Rohde, Cicero, quae de inventione praeeepit, quatenus secutus sit in oralionibus generis iudicialis, Diss. phil. Königsberg 1903, und R. Preiswerk, De inventione orationum Ciceronianamm, Diss. phil. Basel 1905; zur Analyse einer Einzelrede s. A. D. Leeman, in: B. Grange, O. Reverdin (Ilrsgg.), Éloquence et rhétorique chez Cicéron, Genf 1982 (= Entretiens Fondalion Hardt 28), 193-228.

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Hinweis, daß ein Stück Argumentation extra causam vorgetragen werde oder vorgetragen worden sei oder die Rede vom Gegenstand abgeschweift sei (digredì).3 Bisweilen räumt der Redner durch andere Formulierungen ein, daß er sich von der Sache entferne oder entfernt habe,4 häufiger bemerkt er, er wolle zum Fall (causa), zur Anklage, einem Punkt der Anklage oder einem Vorwurf (accusatio; crimen), zum Angeklagten oder zum vorher Behandelten .zurückkehren' oder zu dem, was er sich vorgenommen habe, 5 und gerade diese Formulierung läßt einen sorgfältigen Leser fragen, ob der eigentliche Gegenstand eines Prozesses oder einer Beratung gemeint ist6 oder einer, den sich der Redner selbst gewählt hat, um seine Ziele besser zu erreichen. Dem Hörer wird zu solchen Fragen kaum Gelegenheit gegeben; denn um nicht den Unwillen seines Publikums zu erregen, macht Cicero vielfach nachträglich das Voraufgegangenc als Abschweifung kenntlich,7 und wo er solche Abschnitte ankündigt, sucht er den Eindruck zu erwecken, daß ein weites Ausholen zum rechten Verständnis der Sache oder aus anderen Gründen unerläßlich sei. 8 Bisweilen zieht es der Redner auch vor, durch eine sorgfältige Disposition Aspekte, die nicht zur Sache gehören, gleichberechtigt neben den eigentlichen Redegegenstand zu stellen und damit deren gegenseitiges Verhältnis zu verdunkeln.9

Extra causam: Caecin. 94 (vorbereitend; sachlich unrichtig); dom. 32 und Mil. 92 (rückblickend); extra iudicium: Caecin. 104 (vorbereitend, anders: Verr. 2, 5, 174); digredii Verr. 2, 3, 163; 4, 35; 5, 59 (rückblickend). Vorbereitend: z.B. S.Rosc. 36; 83; Caecin. 10; Tüll. 37; Verr. 2, 3, 144; Q.Rosc. 1415; Cluent. 11; 66; 149; Sest. 96; Balb. 29-31; zurückblickend: z.B. S.Rosc. 47; Caecin. 55; Verr. 2, 3, 83; 5, 79; Q.Rosc. 31; Flacc. 12; Plane. 36; Mil. 23; vorausund zurückblickend: Verr. 2, 4, 105; Arch. 18 (vgl. 3); Sest. 31. Ad causam: Verr 2, 3, 84; Süll. 35; Phil. 6, 15; ad crimen et accusationem: Rab.Post. 20; ad crimen: Cael. 60; zum Angeklagten: Cael. 37; Plane. 67 (s. auch div. in Caec. 52); zum vorher Behandelten: Quinct. 84; Caecin. 89. Verr. 2, 2, 88; 186; 4, 5; 35; 120; 5, 59; Cluent. 112; dom. 136; Sest. 112; Pis. 17; Rab.Post. 34 (Zeugen); Lig. 9; Phil. 2, 70; 88; 100; 6, 12; zum Vorgenommenen: Mur. 67; Sest. 53. Daß der Gegner abschweift, behauptet Cicero mehrfach, z.B. Plane. 17. Daß er die Sache selbst oder was zu ihr gehört behandelt, hebt Cicero oft und gern mit immer neuen Formulierungen hervor, ebenso, daß er nicht weit ausholen will, etwas ausläßt oder sich der Kürze befleißigt; zu occultai io und reticentia s. S. Usher, AJPh 86, 1965, 175-192 (teilweise abgedruckt in B. Kylzler (Hrsg.), Ciceros literarische Leistung, Darmstadt 1973, 195-209). Zu verschiedenen, jeweils der Sache angepaßlen Formen des reditus ad rem vgl. J. C. Davies, Latomus 27, 1968, 894-903; eine nicht vollständige Liste der digressiones gibt H. V. Canter, AJPh 52, 1931, 352-353. S.Rosc. 83; Caecin. 10; TuU. 37; Q.Rosc. 15; Verr. 2, 3, 144; 4, 105; Quem. 11; 17; 20; 30; 66; 149; Sest. 31; 96. Quinct. 36; S.Rosc. 35-36; Verr. 2, 1, 34; Mur. 11; Scaur. 22. In der Rede für Cluentius gibt er (9) eine Gliederung überhaupt nur für die Aspekte, die nicht zur Anklage gehören.

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So begnügt sich Cicero schon in seiner ersten erhaltenen Rede, wie die pedantisch klingende partiiio ankündigt, nicht mit dem Versuch des Nachweises, daß Sex. Naevius die Güter des P. Quinctius nicht gemäß dem Edikt des Praetors besessen habe (36 Z. 6-7), indem er erst Argumente dafür anführt, daß Naevius die Güter nicht im Einklang mit dem Edikt habe besitzen können und besessen habe11 und dann Argumente dafür, daß er sie überhaupt nicht besessen habe. 12 Vielmehr sucht er im ersten Teil seiner Beweisführung zu zeigen, daß es für Naevius weder sachliche noch moralische Gründe gegeben habe, eine missio in bona zu fordern. 13 Unmittelbar also nach der ausdrücklichen Versicherung, sich der Kürze befleißigen und innerhalb klar festgelegter Grenzen argumentieren zu wollen (34-35), erörtert er einen Fragenkomplex, der für die sponsio rechtlich unerheblich ist, 14 mit dem Ziel, (nicht etwa zur Klärung der Rechtsfrage beizutragen, sondern) dem Richtcr Naevius' Persönlichkeit und Handlungsweise vor Augen zu führen, so wie er auch die vorausgehende Erzählung nutzt, mannigfache Vorurteile gegen Naevius und für seinen Mandanten zu wecken (11-34). In diesem ersten Teil der Argumentation bemüht er sich zwar, den Eindruck zu vermitteln, als ob das wesentliche Problem rasch zu lösen sei und man die Verhandlung dann beenden könne (44); 15 doch vermag er nicht zu beweisen, daß Quinctius kein vadimonium versäumt habe (56-58). Auch im zweiten Teil der Beweisführung (60-85) beschränkt sich Cicero nicht auf die rechtlich wesentlichen Aspekte, ob Quinctius eine der durch das Edikt geforderten Voraussetzungen erfüllt 16 und ob Naevius sich gemäß den

Vgl. dazu F. L. von Keller, Semestrium ad M. Tullium Cicerónem libri sex I, Zürich 1842-1851, 1-198; A. H. J. Greenidge, The Legal Procedure of Cicero's Time, London 1901, 531-541; M. Tullius Cicero, Pro P. Quinctio Oratio, Ed. T. E. Kinsey, Sydney 1971 und die dort nicht berücksichtigten Arbeiten von Β. Kiibler, ZRG 14, 1893 (Rom. Abt.), 54-88; H. J. Roby, Roman Private Law II, Cambridge 1902, 453-485; W. Oetling, Philologisch-juristischer Kommentar zu Ciceros Rede für P. Quinctius, in: Festschrift Gymn. Hamm, 1907, 20-91; H. J. Mette, Gymnasium 72, 1965, 10-15; seither: K. Kumaniecki, in: Studi classici in onore di Q. Calaudella, Catania 1972, ΠΙ 129-157; P. Militemi della Morte, Studi su Cicerone oratore, Napoli 1977, bes. 24-79. 60 Ζ. 10 - 85 Ζ. 24, vgl. 36 Ζ. 9-10; 16; 86 Ζ. 28 - 89 Ζ. 26. Wichtig ist das Element ex edicto (s. Oetling (s. Λ. 10) 80). Danach betont Cicero zuerst das non potuisse (60 Z. 10-11, vgl. 36 Z. 16; 64 Z. 2-5), dann non possedesse oder non possesso esse bzw. sum 65 Ζ. 9-10; 73 Ζ. 6-9; 76 Ζ. 14-15; 84 Ζ. 31-1, vgl. auch 30 Ζ. 4-5, femer 25 Ζ. 12-13; 30 Ζ. 26-27; 31 Ζ. 8-10; 45 Ζ. 27-28; 48 Ζ. 13; 50 Ζ. 3; 73 Ζ. 10; 76 Ζ. 9-10; 79 Ζ. 26-27; 83 Ζ. 23-26; 84 Ζ. 2-4. 36 Ζ. 10; 16, vgl. auch 89 Ζ. 26-90 Ζ. 7 und lul.Scv. Rhei. 16. 36 Ζ. 7-9; 15; 37-58, vgl. auch 60 Ζ. 7-10 und 85 Ζ. 11-86 Ζ. 27. Vgl. Oeding (s. Α. 10) 47-48; bedeutsam ist er nur für die Voraussetzungen der missio, die aber hier nicht zur Erörterung stehen, nachdem sie gewährt worden ist. Vgl. auch Q.Rosc. 14 (vorgetäuscht) oder Arch. 8; Balb. 15. 60 Z. 10 — 68 Z. 15: qui fraudationís causa latitarli, cui heres non exstabil, qui exsili causa solum verterit; ob auch qui absens iudicio defensus non fuerit gesondert im Edikt aufgeführt war, ist unsicher, mir aber wahrscheinlich, vgl. § 86 Z. 28-6 und Gaius Inst. 3, 78, dazu M. Käser, Das römische Zivilprozeßrecht, München 1966, 164 (Lit.), anders Mette (s. A. 10) 12.

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Bestimmungen des Edikts verhalten habe; er geht auch auf die Vorteile ein, die sich Quinctius angeblich früh bei den Auseinandersetzungen aus seinen politischen Verbindungen verschafft habe - dies in Vorwegnahme erwarteter Argumente der Gegner - und vor allem auf die Nachteile, die ihm jetzt aus den politischen Verbindungen des Naevius erwüchsen, 18 so daß dieser Abschnitt der Argumentation nur dazu dienen kann, Emotionen zu wecken, auch wenn Cicero mit einer Alternative endet, die diese Überlegungen zurücktreten läßt (73 Z. 69). Ebenso sind auch die knappen Bemerkungen über Naevius* Sozietät mit Quinctius beim Kauf der Güter des Alfenus 19 und vor allem der letzte erhaltene Abschnitt der Argumentation zu beurteilen, in dem Cicero wahrscheinlich macht, daß Naevius den Auftrag erteilt habe, Quinctius von seinem Gut in Gallien zu vertreiben, ehe er die missio in bona erwirkt habe, jedoch nicht beweist, daß Quinctius tatsächlich vor Gewährung der missio in Rom von seinen Gütern in Gallien vertrieben worden sei (77-83). 20 Damit zeichnen sich einige Faktoren ab, die Ciceros Strategie bei der inventio bestimmen: 1) Das Zurücktreten des eigentlich bedeutsamen Problems (vgl. 60-68; (73-76); 84-85); 2) die Erörterung dieses Problems, ohne dessen heiklen Aspekt zu klären, d.h. ohne dessen wirklich entscheidenden Punkt im Sinne der eigenen Argumentation zu beweisen bzw. zu widerlegen (60-61); 3) die Behandlung von Fragen, die mit dem zentralen Problem verknüpft werden können, also zur Sache zu gehören scheinen, aber streng genommen zu dessen Klärung nichts beitragen und nur den Eindruck vermitteln, als ob die Sache erörtert werde, und vor allem Vorurteile und Emotionen wecken (37-58); 4) die starke Berücksichtigung der beteiligten Personen, ihrer Wesensart und ihres Charakters, um aus ihnen auf die jeweils zu erwartende Handlungsweise zu schließen und damit bestimmte Sachverhalte wahrscheinlich zu machen oder auch wiederum an die Gefühle der Hörer zu appellieren (37-58; 68-73; 77-83); 5) die Zuflucht zu Parallelen oder zu allgemeinen Überlegungen, die gleichsam losgelöst vom Einzelfall eine wahrscheinliche Argumentation möglich machen (49-51; 54-55); 6) die Wiederholung und mehrfache Behandlung eines Vorwurfes oder eines Tatbestandes; 7) die Diskussion von Handlungen, die zu erwarten gewesen wären, aber nicht eingetreten sind, von Konsequenzen, die überraschenderweise ausgeblieben sind (73-76). Diese Züge sind weder ungewöhnlich noch neu; viele von ihnen finden sich in der Theorie oder in der Praxis der Griechen. Auffällig ist allein die bescheidene Rolle, die Cicero in seinen Prozeßreden den entscheidenden Rechtsfragen zubilligt, und andererseits das große Gewicht, das er allen möglichen anderen Aspekten beimißt - entsprechend auch in den Invektiven und den politischen Reden. In den Prozeßreden ist natürlich zu beachten, daß Cicero in vielen Fällen

73 Z. 10-76 Z. 22; vgl. auch 84 Z. 30-85 Z. 24; femer 88 Z. 10-16 und 89 Z. 23-26. Zuerst 68 Z. 6-12, dann 69 Z. 16-70 Z. 10 (Gegenvorwurf); Nachteile: 71 Z. 11-73 Z. 6, s. auch 87 Z. 6-10. 7 6 Z. 14-22, vgl. 88 Ζ. 16-18. Vgl. 88 Z. 18-22.

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nach anderen Verteidigern spricht, die Teile der Anklage berücksichtigt haben, so daß ihm die Aufgabe zufällt, abschließend die Hörer zu beeinflussen und das ganze Gewicht aller möglichen entlastenden Momente zur vollen Wirkung zu bringen. Dieser erste Eindruck, den Ciceros älteste Rede vermittelt, wirft zahlreiche Fragen auf: welcher Mittel bedient sich der Redner, um die Aufmerksamkeit der Hörer von den zentralen Problemen abzulenken und sie nur teilweise oder gar nicht zu behandeln; welche Aspekte läßt er stattdessen in den Vordergrund treten und wie gelingt ihm dies? Wie sich schon in der Quinctiana andeutet, befassen sich die nicht zum Gegenstand des Prozesses gehörenden Argumentationsabschnitte sowohl mit Personen als auch mit Sachfragen. Von einer Person auszugehen empfehlen die Regeln der Theorie für das exordium, um Wohlwollen (oder dessen Gegenteil) zu wecken, wenn von der Sache auszugehen nicht möglich ist - und zwar ab nostra, ab adversariorum, ab iudicum persona.21 Auch die Vorschriften für die Argumentation mit Hilfe des probabile legen nahe, sich auf das zu stützen, was zu einer Person und deren Leben gehört und auf dieser Grundlage Vermutungen anzustellen.22 In der Praxis begnügt sich Cicero keineswegs damit, die Person des Angeklagten 23 oder die des Klägers (bzw. der Kläger)24 zur Klärung des Cie. inv. 1, 2 2 , s. auch 2 3 - 2 4 ; Rhct. Her. 1, 8. auch 9, s. schon Arist. Rh. 3, 14, 1415 a 25-27. Cie. inv. 1, 13-36; 2 . 16; 2 8 - 3 7 ; Rhet. Her. 2, 5. S . R o s c . 15; 18; 2 0 ; 2 3 ; 2 4 ; 2 7 ; 3 0 ; 3 9 - 4 5 ; 7 4 - 7 5 ; 7 8 ; 8 1 ; 8 6 ; 88; 128; 1 4 3 - 1 4 5 ; Foni. 3 - 6 ; 12-16; 37; 4 0 - 4 1 ; 4 2 ; 4 8 - 4 9 ; Q . R o s c . 15-21; 2 2 - 2 6 ; 5 0 ; Cluent. 16; 18; 19-20; 4 2 ; 4 3 ; 6 3 - 6 4 ; 8 2 - 8 3 ; 133; 144; 167; 196; 2 0 2 ; Rab.perd. 2; 5 ; 8 ; 2 1 ; 3 6 ; Mur. 1-2; 8; 11-14; 15; 2 0 - 2 2 ; 3 4 ; 4 1 - 4 2 ; 5 3 ; 5 5 ; 8 6 - 9 0 ; Sull. 1; 15-17; 2 0 ; 3 7 ; 6 2 ; 6 8 ; 7 2 - 7 9 ; 8 8 - 9 1 ; Arch. 1; 3; 4 - 6 ; 11; 18; 1 9 - 2 1 ; 2 5 - 2 6 ; 3 1 - 3 2 ; Flacc. 1-2; 5 ; frg. Mediol.; frg. B o b . ; exe. Cus.; 6 - 8 ; 4 0 ; 81; 89; 1 0 0 - 1 0 6 ; Sest. 4; 5; 7 ; 8 - 1 3 ; 3 1 ; 7 1 ; 7 5 ; 8 3 ; 124; 144; vgl. auch Vatin. 11; 4 1 - 4 2 ; Cael. 1; 3 - 1 8 ; 4 4 - 4 7 ; 5 3 ; 7 2 - 8 0 ; Balb. 5 - 6 ; 1 8 - 1 9 ; 5 8 - 5 9 ; 6 3 - 6 5 ; Scaur, frg. b; 4 5 i; n; 4 6 ; 4 9 - 5 0 ; Plane. 1; 3; 4 ; 6; 17-18; 2 4 - 2 6 ; 2 7 - 3 1 ; 4 1 ; 4 3 ; 4 5 - 4 8 ; Mil. 1; 3; 5; 6; 2 5 ; 3 4 - 3 5 ; 4 0 - 4 1 ; 5 2 ; 5 5 ; 6 1 ; 6 6 ; 6 8 ; 9 2 - 1 0 2 ; Lig. 2; 4; 3 6 ; Dciot. 1-3; 8-10; 13-16; 2 0 ; 2 5 - 2 8 ; 3 6 - 4 0 ; wo Cicero die Kläger vertritt, greift er die Angeklagten in entsprechender Weise an: Quinct. 9; 11-14; 16; 19-22; 25-26; 29-30; 38-40; 43-44; 46-48; 52-53; 55-56; 66; 67; 70; 74; 76; 79-83; 9 2 - 9 3 ; 9 7 - 9 8 ; Caecin. 1-2; 4; 13-14; 17-19; 2 3 ; Tuli. 1 4 - 1 5 ; 17; 19; ebenso Verres (Verr. 1, 10-15; 2, 1 passim) und in den politischen Reden etwa Catilina, Clodius, Milo oder Antonius. Beachtung verdient die j e verschiedene Häufigkeit weitender Urteile über die Angeklagten und ihr Handeln in den einzelnen Reden und in den einzelnen Redeteilen. Zu den Personenschilderungen vgl. Preiswerk (s. A. 2 ) 7 6 - 9 6 , zu den von Personen genommenen Argumenten Rohde (s. A. 2 ) 4 8 - 5 7 . S . R o s c . 8; 13; 14; 2 6 - 2 7 ; 2 9 - 3 0 ; 3 5 ; 5 7 ; 7 8 ; 8 0 - 8 1 (Ankläger allgemein); 4 6 ; 5 5 (Erucius); 17; 2 1 ; 2 3 - 2 4 ; 3 5 ; 8 4 ; 8 6 - 8 8 ; 9 2 - 9 3 ; 9 5 ; 9 8 ; 104; 1 1 8 - 1 1 9 ( T . Roscius Magnus); Q . R o s c . 1-2; 4; 5; 8-9; 2 0 - 2 1 ; 2 2 ; 2 6 ; Rab.perd. 13; 2 2 ; Deiot. 2 - 3 ; 7 ; 17; 2 1 ; 2 6 ; 2 8 - 3 2 ; daneben stehen freundliche, oft ironisch-herablassende Bemerkungen über jugendliche Kläger: Cluent. 84; 156; Mur. 5 4 ; 5 6 ; 5 7 ; Sull. 51; Flacc. 2; 13-15; 18; 3 6 ; (Laelius, meist kritisch); frg. Bob.; 5 1 ; 7 0 - 7 7 ; 8 0 - 8 1 ; (Decianus); Cael. 2 ; 7; oder rücksichtsvolle Bemerkungen über erfahrene Standesgenossen: Mur. 3; 7 - 9 ; 1516; 19; 2 1 ; 3 2 ; 4 2 ; 5 4 ; 5 6 ; 5 8 - 6 0 ; 6 7 ; 7 6 ; 8 2 - 8 2 ; Sull. 2; 2 3 ; 3 0 ; 3 2 ; 3 4 ; 4 6 ; 5 0 , vgl.

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Prozeßgegenstandes zu nutzen oder allgemeiner durch Bemerkungen zur Person, zu deren Charakter und Lebensweise oder früheren Taten den Wahrscheinlichkeitsgrad bestimmter Handlungsweisen zu erhöhen 25 - was in einzelnen Fällen mit großer Ausführlichkeit geschieht - und nur im prooemium die Richter 26 und sich selbst als patronos27 einzubeziehen. Oft spricht er die Richter in kürzeren, bisweilen auch in längeren Überlegungen an, 28 und seine eigene Person, seine Verpflichtungen, seine Leistungen, die ihm gezollte Anerkennung,29 aber auch auch 49; 81; Caci. 25; Plane. 2; 5-6; 9; 12-13; 18; 19; 23; 30; 51-53; 55; 58; 63; 67; 72-73; 78; 79; Rab.Posl. 7; Mil. 40; l.ig. 1; 10; 12-13; 20; 26-27; sie werden aber auch kritisiert oder ironisiert: Font.frg. 3 (Schoell); Mur. 22-30; 42-49; 52; Süll. 25; 44-45; 47; Plane. 12-13; 50; 79; Lig. 9-11; 13-15; 20; 22; 25; 26; 28. Die Kläger in den Prozessen gegen Scstius und Baibus werden dagegen überhaupt nicht namentlich erwähnt. In den Prozessen für Quinctius, Caccina und Tullius vertritt Cicero die Kläger, deren Wesen er entsprechend charakterisiert: Quinci. 2; 39; 59; 91-93; 97-99; Caecin. 1; 18; 22; 104, während er - selbst als jugendlicher Anwalt auftretend - Respekt gegenüber den patroni der Gegenseite zeigt: Quinci. 1; 7-8; 35; 44; 47; 63; 72; Tuli. 1. Auch die Gegner benutzen natürlich Argumente, die sich auf das Wesen der Mandanten Ciceros stützen, z.B. gegen den Kläger: Quinct. 83; Tuli. 3; gegen den Angeklagten: S.Rosc. 82; Cluent. 164; Rab.pcrd. 7-9; Mur. 11-14; Sull. 35; 40; Flacc. frg. Mediol.; Cael. 3-18; 23; 25; 27 etc.; Balb. 56-57; Plane. 30; Rab.Post. 8; 25; Deiot. 8, 26; auch gegen Cicero selbst (s. A. 29 und 92) und gegen Dritte: Sull. 62. Die Bedeutung der Lebensart betont Cicero nachdrücklich z.B. S.Rosc. 38; 53; 62; 68; 74-75; 101; 117-119; 134-135; Caecin. 104; Font. 27; 34; Q.Rosc. 17; 20; Cluent. 70; 124; Mur. 58; Sull. 69-79; Flacc.frg.Mediol.; 6; 100; Vatin. 1; Cael. 53-55; Plane. 3; Mil. 36; bisweilen sucht er dagegen deren Gewicht zu mildem (Quinct. 68, auch Tuli. 5; Plane. 63) oder bewußl auszuschalten (Mur. 58-60; 67: moralische Autorität). Wie die Taten eines Einzelnen durch seinen Charakter und seine Lebensform wahrscheinlich gemacht werden, dienen angeblich typische Merkmale eines Volkes oder einer Landschaft dazu, deren Vertreter (meist abwertend) zu charakterisieren, z.B. Verr. 2, 210; 2, 4, 106-108; 132-135 (positiv); Font. 4; 12-15; 17; 18; 21; 23; (vorbereitend); 26-33; 41; 49; Flacc. 3; exe. Cus. (vorbereitend); 9-12; 14-19; 23-24; 27; 36-38; 40; 57; 60-61; 65-66; 100; Scaur. 15; 17; 19; 20; 38-45 e; η; Rab.Post. 34-36; s. auch leg.agr. 1, 18-20; 2, 93; 95-97; Plane. 19-20. Quinct. 4-6; 10; S.Rosc. 8; 10-12; Caecin. 4; 6; 8-9; Cluent. 3-4; 6-8; Rab.perd. 3-5 (Volk); Mur. 2; Arch. 3; Flacc. 2-4; (dom. 1-2: pontífices)·, Sest. 2; Cael. 1-2; Balb. 2; 4-5; Plane. 2-3; Mil. 3-6; Lig. 1; Dciol. 4-7 (Caesar). Quinct. 1-4; 8; S. Rose. 1-5; 9-10; Caecin. 3; 5; Tuli. 1-5; Cluent. 2-4; Rab.perd. 1-4; Mur. 1-2; Sull. 1-2; Arch. 1-4; Flacc. 1-4; Sest. 2-4; Cael. 2; Balb. 1; 3-4; Plane. 1-4; (-6); Rab.Post. 1; Mil. 1-6; Lig. 1; Deiot. 1-7; vgl. dazu Ch. Köhler, Die Proömientechnik in Ciceros Reden, Diss. phil. (masch.) Jena 1968. Quinct. 17; 33-34; 47; 54 (mit consilium)·, S.Rosc. 36; 105-107; 118; 140; 151-154; Caecin. 73-77; 86; Tüll. 36; frg. 4; Font. 14-15; 21-28; 42-43; 48-49; Q.Rosc. 7; 15; 22; 38; (als .Zeuge'); Cluent. 29; 63; 80-81; 89; 95; 147; 148; 158 (-160); 164; 195; 198-200; 201; 202; Mur. 83-84; 86; Sull. 79; 92-93; Arch. 19; 32; Flacc. 6; 9; 12-13; 24; 26; 46; 66; 85; 94; 99-100; 105-106; (dom. 32-34; 38; 39; 43; 45; 69; 100; 104105; 127; 142); Sest. 31; 81; 101; 119; Cael. 20-22; 29; 70; 75; 79; Balb. 7; 19; 44; 59; 62; Plane. 39; 43; 56; 103-104; Rab.Post. 11-19; 44-45; Mil. 21-23; 33; 72; 7879; 81; 99-101; 104-105; Lig. 6; 10; 15-16; 18-19; 23-24; 29-32; 35-38; Deiot. 810; 12; 15; 19-21; 33-36; 38-43 (Caesar). Verpflichtungen und Verantwortung: Quinct. 77; S.Rosc. 31; 83; 129; 136; Q.Rosc. 14; Cluent. 50; 57; 117-118; 143-145; 149; 157-158; Rab.perd. 9-11; 19; 38; Mur. 210; 78; Sull. 3; 5; 7-10; 13; 17-21; 35; 45-50; 80; 86; 93; Sest. 45; 109; 112; 117;

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seine sittliche Persönlichkeit als Garant für die Haltung eines Einzelnen 3 0 bestimmen zahlreiche Abschnitte seiner Reden, bisweilen noch vor Beginn der Argumentation, um Vorurteile gegen den Verteidiger zu mildem. 31 Gern weist er auf Gemeinsamkeiten zwischen den Richtcrn und sich selbst als patronus, oder er bemüht sich, glcichsam cinc natürliche Front von Richtern, patronus und bisweilen auch seinen Mandanten aufzubauen. 32 Daneben werden auch Wesensart und Handlungsweise anderer Personen geschildert, die nur mittelbar mit dem Gegenstand verbunden sind. Gewiß macht die Erörterung der Anklage es nicht selten erforderlich oder läßt es jedenfalls ratsam erscheinen, über mehrere in die Vorgänge verwickelte Personen zu sprechen; doch geht Cicero dabei weit über das hinaus, was für das Verständnis des Geschehens notwendig ist. Ebenso wie er selbst viele Opfer des Verres eingehend schildert, 33 dürften seine Prozeßgegner ausführlich von denen gesprochen haben, die unter den Maßnahmen oder der Verwaltung seiner Mandanten gelitten hatten 34 oder gar angeblich von ihnen getötet waren wie Oppianicus (pro Cluentio), Saturninus (pro Rabirio perduellionis reo), Dion (pro Caclio) oder Clodius (pro Milone). 35 Dagegen sucht Cicero seinerseits Zeugen, auf die sich die Gegner stützen, 36 oder

145; 147; Balb. 17; 59-60; Scaur. 25-26; 27; Plane. 24-26; 68-102; Rab.Post. 33; Deiol. 39; Leistungen: Cluent. 17; 51; Rab.perd. 15-17; Mur. 3; 6; 17; 21; 51-52; 67; 78-80; 82; 86; Sull. 4-5; 8-10; 11; 14; 21; 23-29; 33-34; 40-43; 51; 67; 83-85; 87; 92; Arch. 28; Flacc. 52; 96-97; 102-103; (dom. 5; 7; 9; 14-18; 56-58; 63; 68-69; 7176; 82; 85; 87-88; 92-102; 105; 122; 131; 132; 134; 137; 145-146; har.resp. 16-17; 46; 58; 61); Sest. 11; 27; 33; 38-41; 47-49; 53; 73; 116; 120-125; 128-131; Vatin. 610; Cael. 6; (prov. 23-24; 41; 45); Balb. 58; (Pis. 4-7; 11; 15; 18; 20-21; 25; 32-36; 41; 51-52); Plane. 59; 64; 66-67; 92; Rab.Posi. 6; Mil. 12; 36-37; 82; 103; s. auch Α. 27, Α. 66 u. Α. 92; ferner J. Graff, Ciceros Selbstauffassung, Heidelberg 1963 (systematisch) und A. Thicrfelder, Gymnasium 72, 1965, 385-414 (wieder abgedruckt in Kytzler (s. A. 6) 225-266: chronologisch). Cael. 9-10; s. auch 39; 77; ähnlich im politischen Bereich Mur. 79-80. S. u. Α. 92. Richter und patronus z.B. Cluent. 6; 147-148; 155; Rab.perd. 4; Sull. 25; Rab.Post. 6; Richter und Angeklagter: Sull. 79; Flacc. 99; Sest. 81; Plane. 43; Deiol. 8-10; 13; 15; 19-25; 35-36; 38, s. auch A. 55. S. Ciceroniana N.S. 4, Atti del IV Colloquium Tullianum Palermo 1979, Roma 1980, 110-111, ebenso Opfer des Fabius: Tuli. 19; 20-22. Quinci. 25; 68-71; Font. 11-12; 17; 19-20; Q.Rosc. 10-12; 22; Cluent. 161-163; Flacc. 27; 34; 40; 44; 45; 55; 67; 77-78; 80; 84-85; 90; Cael. 19-20; 23; 30; Scaur, frg. h; i; 5-6; 21; Ug. 22. Cluent. 169-174 (Mordversuch, früherer Streit: 43-48), andere Opfer: 165-168; Rab.perd. 9; 18-19; Cael. 23-24; 51, s. auch Flacc. 41; zu Clodius s. A. 38. S.Rosc. 17; 35; 100-103; 107-110; 115-119; 122, auch 20; Caecin. 27; Rab.perd. 7; Flacc. 34-36; 39-41; 42-43; 45-50; 51; 52-54; 70-76; 81; 83; 84; 90-92, s. auch frg.Mediol.; frg.Bob.; exc.Cus.; 8; 22; 26; Sest. 132-135; Vatin. passim; Cael. 1-2; 18-20 (vorbereitend); 26; 31-36; 38; 47-50; 52-53; 57-70; 75-78; Scaur, frg. o; 8-13; 29; 38; Mil. 59-60; Deiol. 2-3; 17-18; 21-22; 26; 28; 30, s. ferner A. 25 (zu Font.; Flacc.; Scaur.; Rab.Post.), allgemeine Bemerkungen über Zeugen z.B.: Font.frg. 6 (SchoeU); 21; 23; Sull. 79; Flacc. 6; 12; 14; Cael. 21-22; Scaur. 15-16; Plane. 55; 57; s. auch St. Seliga, F.os 27. 1924. 101-109.

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diejenigen, die als Opfer seiner Mandanten geschildert werden, durch weitschweifige Schilderungen zur Person in schlechtes Licht zu rücken oder sogar als eigentlich Schuldige zu verdächtigen, 38 andererseits Personen, die für seine Mandanten eintreten oder an deren Seite gestellt werden können, positiv zu schildern, 3 9 als Kläger erzählt er nicht nur ausführlich vom Angeklagten, sondern in eindrucksvoller Lebendigkeit auch von dessen Gehilfen. 40 Vor allem bemüht er sich, Personen einzubeziehen, deren Charakter oder Gesinnung seinen Mandanten zu entlasten 41 oder seinen Gegner oder ganz allgemein ,die gegnerische Seite' zu belasten geeignet erscheinen. 42 Unter Verres' Opfern werden nicht nur diejenigen genannt, deren Schicksal Verres' Unterschlagungen belegt, sondern alle, deren Leiden die Grundssätze seiner Provinzialverwaltung verdeutlichen. 43 In der Rede für Cluentius läßt Cicero dessen angebliches Opfer als den wahren Übeltäter erscheinen (s.o. A. 37), schildert eingehend diejenigen, die von ihm ermordet sein sollen, 4 4 wie auch

Cluent. 19-42; 43-49; 54-56; 59-69; 78; 80-84; 100-102; 125; 163; 170-171; 175; 189 (Oppianicus); Rab.perd. 18-24; 35; Mil. 3; 6; 10; 18; 20; 24-30; 3 2 ^ 1 ; 43-45; 48; 52-55; 58-59; 72-75; 76; 78-79; 84-91; 94-95; s. auch, vor allem zur Rede für Flaccus, A. 25 und A. 36, ferner A. 23, A. 24 und A. 34. Oppianicus: Cluent. 20; 42; 47 etc.; Satuminus: Rab.perd. 20-21; Clodius: Mil. 6; 2632; 43; 48; 52, s. auch 18-20; 37; Mitschuld eines Mitanklägers: S.Rosc. 84; 92-93 (s. A. 24); Kläger ebenso .schuldig': Lig. 2; 9; 20-22. Beteiligte Verwandle und Freunde: Quinci. 11; 21; 27; 61-62; 68 (s. dazu A. 25); 87; S.Rosc. 15-16; 21; 24-25; 41; Caccin. 10-12; Cluent. 47; Rab.perd. 20-22; Sull. 5659; 62-66; Arch. 7; Flacc. 55-56; 59; Scsi. s. Α. 49; Cael. 3-5; 9; 61; 79; Plane. 31-35 (s. auch Α. 41); 77; Dciot. 14; 24-25; Zeugen und andere, auf die sich Cicero beruft: Quinci. 24; 58; 86; S.Rosc. 77; 119; Caccin. 77-79; Font. 14; 32; 35; Q.Rosc. 42-50; Cluent. 99; 165; 168; SuU. 41-42; Arch. 6-9; 11; 21-22; 31; Hacc. frg. Mediol; exc. Cus.; 20; 30; 62-64; 68; 76; 78; Scsi. 9-10; Cael. 24; 54-55; Balb. 41; Mil. 26; 38; 44; vgl. auch dom. 39-40; 68-69; 84; 113-114 und u. A. 47; Mitveiteidiger: Mur. 10; 48; Sull. 3-7; 9; 12-14; 22; 51; Flacc. 41; 54; Sest. 3; 14; 48 (39; 41); Cael. 9; 18; 23; Balb. 17; 50-51; 64 (s. A. 47); Plane. 37; Geiseln: Deiot. 41 (vgl. 33-34; 38). (S. A. 33) 94-110; ferner Quinci. 7; 9; 25; Tuli. 7; 21; 33-34; 40; 42; 53-54. S.Rosc. 27; 147-149; Font. 46-48; Cluent. 11; 13; 16; 29; 50; 52; 74; Mur. 11-12; 15; 20; 33-34; 53; 86; 88-90; Sull. 19-20; 75; Arch. 6-7; Hacc. 5; frg. Bob.; 6; 25; Sest. 6-7; Cael. 73; Balb. 5-6; Scaur, frg. a; 17; 45 n; 46-49; Plane. 19-24; 26-30; 32; 46; 61; Rab.Post. 3-4; Lig. 5; 11; 32-38; vgl. auch dom. 59; 65-66; 70; 132-133; 134. Einer Entlastung des eigenen Mandanten soll auch die Charakterisierung einer Kontrastfigur wie des Autronius dienen Sull. 1; 7; 15-19; 51-53; 66; 71; 76, s. ferner A. 47-48. Z.B. S.Rosc. 6-7; 20; 35; 49; 58; 105-108; 120; 122; 127-128; 130; 132-135; 138142; 144-146; 150; 19; Cluent. 172, s. A. 44; Rab.perd. 20-21; 23-25; SuU. 52; Cael. 36; Mil. 33; Dciol. 30; um den Gegner zu belasten, werden auch dessen Opfer geschildert z.B. Cael. 59-60; Mil. 37 oder dessen Gegner z.B. Mil. 91, s. auch Α. 47-48. Vgl. Verr. 2, 1, 34-102; 2, 2, 19-118; 2, 5 bes. 80-138 und 139-170, daneben auch 2, 3 und 2, 4, s. ferner ο. A. 33. Opfer: Cluent. 21-41; 125.

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jene, die ihm geholfen haben sollen, diejenigen, gegen die Cluentius zunächst prozessiert hat, Scamander und Fabricius, die patroni des letztgenannten und des Oppianicus und schließlich die Richter, die jener bestochen haben soll und die gegen sie gerichteten Verfahren und Maßnahmen. 46 Gewiß haben schon die Gegner die praeiudicia vorgeführt; bezeichnend für Cicero ist es, daß er vor allem die jeweils beteiligten Personen herausstellt und sich damit von einer sachbezogenen Argumentation entfernt. Ähnlich sucht Cicero auch politisch einflußreiche Persönlichkeiten durch wertende Charakteristiken für seinen Mandanten oder gegen seine Gegner zu nutzen, ob sie nun mit dem Verhandlungsgegenstand unmittelbar verbunden sind wie etwa Pompeius in den Verfahren gegen Baibus oder gegen Milo oder andere in anderen politischen Prozessen 4 7 oder ob er sie seinerseits einbezieht. 4 8 Entsprechend erweckt Cicero in seiner Rede für Sestius den Eindruck, als ob Clodius und er selbst sich gegenüberstünden - den Ankläger nennt er namentlich nicht 49 - und ähnlich gestaltet er auch die Reden über sein Haus und über das Gutachten der Haruspices, obwohl sie nicht vor einem Gericht gehalten sind, und sucht seinen Gegner durch dessen politische Freunde und Helfer zu belasten. 50

Sassia: 12-18; 26-28; 42; 169; 175-194; 199-202; AvUlius: 36-38; Q. Manlius: 3839; L. Clodius: 40; C. Fabricius: 46-47; 49; 56-59; 61-62; 105; Scamander: 47; 49-55; 61-62; 105. Caepasii: 57-59; L. Quinclius: 74; 77; 79; 90-94; 103; 107; 113; 130; 136-137; Richter: 55; 62; 65-76; 78-87; 89-116; 127-135; S u i e n u s ' Raigeber: 84-85. Rab.perd. 20-22; 26-31; 35; Vatin. 15; 22; 24; 38-39; Cael. 32; Balb. 1-17; 19; 32; 38; 40; 51; 64-65; Rab.Post. 6; 13; 19-21; 30-32; 33-37; 41-44; Mil. 2; 15-16; 18; 20-22; 31; 37; 39-40; 54; 65-74; 78-79; 87; Deiot. 9; 11-13; zur negativen Charakteristik der Gegner dienen Cicero auch oft deren angebliche Verbindungen zu Calilina und dessen Freunden, die er wirkungsvoll schildert. Fonl.frg. 9; 11 (Schoell); 14; 16; Mur. 40; Arch. 5-6; 19; 24; Flacc. 57-61 (zur Belastung der Asiaten); Balb. 43; 48; 61; 63-64; Plane. 93; Rab.Post. 41. s. auch A. 49. Cicero greift Clodius an: Sest. 15-16; 20; 25; 27; 33-35; 39; 43; 53-54; 56; 59; 66; 68-69; 73; 78; 79; 81; 82; 85; 88-89; 95; 106; 109; 116-118; 125; 129-130; Vatin. 33; 36; 40, und dessen Helfer und Freunde: Sest. 56; 68-69; 72; 74-85; 89; 94-95; 106; 110-112; 118; 125-127; 130; 132-135; Vatin. 1; 4-7; 9 - 4 0 ; 41-42, v o r allem Gabinius: Sest. 18; 20; 28-29; 93, Piso: Sest. 19-24; 94 oder beide zusammen: Sest. 17; 24-27; 32-35; 53-55; 58; 60; 65-66; 69-71; 89; 111; 135; Vatin. 18; 25; 36; dagegen stellt er sich (vgl. A. 29), seine Verwandten: Sest. 54; 68; 76; 145, seine Freunde: Sest. 26; 29; 68; 70; 72; 75; 76; 85-90; 92; 95; 107; 117; 120-124; 130131; 144-147; Vatin. 5; 40-42 bes. Pompeius: Sest. 15; 39 (gegen Anspruch des Gegners); 41; 58; 67; 69; 74; 107; 129; 133, daneben andere, die er für seine Position in Anspruch nimmt: Cato: Sest. 12; 60-63; Cotta: Sest. 73-74. Clodius als Gegner: dom. 2-6; 7; 10-15; 20-24; 25-26; 34-36; 40-42; 47-50; 53-55; 57; 59; 60; 63-69; 72; 79-82; 85; 87; 89; 91-92; 96; 99; 102-105; 107-110; 112117; 122; 124-127; 129-133; 137-141; har.resp. 1-2; 4-11; 15; 17; 22-30; 33-40; 4253; 55-59; ebenso dessen Freunde und Helfer Gabinius und Piso: dom. 23-24; 55; 58; 60; 62; 66; 70; 82; 91; 96; 102-103; 113; 119; 122; 124-126; 131; har.resp. 2-3; 35; 58, und andere: dom. 13; 14; 21; 25; 26; 47-50; 81; 83; 112; 116; 118; 134-135; 139141; har.resp. 1; 5; 11; 29; 31, 34; 59; als Gruppe: dom. 7; 15; 45; 48; 49; 58; 63; 76;

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Daß Cicero auch in den politischen Reden seine Polemik vielfach gegen den Charakter oder die Lebensweise einzelner und deren typische Handlungsweisen richtet, ist nicht iibcrraschend; auch dabei scheut er sich nicht, bisweilen nicht unmittelbar beteiligte Personen und sogar nicht zum Thema gehörige Vorgänge und Ereignisse einzubeziehen. 51 Wie nämlich die Quinctiana weiter lehrt, ist auch die Auswahl der Sachfragcn, die der Redner in seine Erwägungen einbezieht, nicht davon abhängig, ob sie unmittelbar zur Klärung des Prozeßgegenstandes beizutragen geeignet sind. Vielmehr lassen sich mehrere Gruppen von Problemen unterscheiden, die zwar mit dem einzelnen Fall in Beziehung stehen oder sich mit ihm verbinden lassen, jedoch für dessen juristische Beurteilung durchaus entbehrlich sind: mit dem Thema verknüpfbare Sachfragen; Vorgänge, Handlungen oder Verhaltensweisen post rem; Parallelfälle und besonders allgemeine juristische, politische, sittliche und religiöse Erwägungen, die den Eindruck erwecken, als solle der Einzelfall in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden, talsächlich aber dem Redner ermöglichen, losgelöst von den konkreten (oft mißlichcn und belastenden) Fakten zu argumentieren. Besonders umfangreiche Erörterungen .überflüssiger', d.h. nicht zur Sache gehöriger, aber rhetorisch ergiebiger Probleme finden sich, wie angedeutet, schon in der Rede für Quinctius, andere oft nicht viel kürzere in fast allen anderen Reden, so daß sie nicht alle aufgezählt werden können. Eine Ausnahme bilden, wenn ich recht sehe, vor allem die Reden für Fonteius, für Flaccus und für Scaurus, die alle in Repetundenprozessen gehalten sind. Handlungen und Ereignisse post rem52 schildert und erörtert Cicero ausführlich in der Rede für Sex. Roscius Amcrinus, um die Roscier Magnus und Capito zu belasten, 53 oder in der Rede für Milo, um dessen Unschuld wahrscheinlich zu machen. 54 Auch wo er mit den Motiven der Beteiligten argumentiert, spricht er gern von dem, was sie sich für die Zeit nach der Tat erhoffen, also nicht von Fakten, sondern von Erwartungen post rem (z.B. Mil. 32-33: Clodius* Hoffnungen; 34: Milos Hoffnungen). Daneben rückt er allgemeinere

79; 89; 108; 110; 122; 131; dagegen stellt Cicero seine Leistung (s. o. A. 29), seine Familie: 59; 96, und seine Freunde: 7; 30; 65-66; 70-71; 75; 125; 132; 134; har.resp. 2; 12; bes. Pompcius: dom. 3; 13; 16; 18; 19; 25-31; 66; 67; 69; 110; 129. Nichlbeteiligte Personen: Pis. 8-11; 14-15; 19; 21; 23; 26; 27-28 (Clodius); 8; 23 (Sex. Cloclius); 68-74 (Philodem); prov. 15-16 (T. Albucius); Ereignisse: Manil. 7; 11; leg.agr. 2, 95; prov. 27; 42-43; vgl. auch die den calilinarischen Reden später eingefügten Partien. Cie. inv. 1, 48; Top. 51; inv. 1, 42 und 43; 2, 39-42 (wo es heißt: quaeruntur ea, quae gestum negotium confeslim aul intervallo consequunlur)\ ausführlicher Rhet. Her. 2, 8, auch 49; zuerst Rhet. ad Alex. 13, 1430 b 30-32. 95-123 innerhalb des Abschnittes 83-123, vorbereitet durch die narralio 19-26, vgl. auch Stroh (s. A. 1) 166 zur Rede für Tullius und Rohde (s. A. 2) 92-93; 119-120. 57-66: Freilassung der Sklaven (57-58): Milos Haltung (61-64).

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Zukunftserwägungen und Hinweise auf die Konsequenzen, die sich aus der Entscheidung der Richter ergeben können.55 Ebenso wie die Darlegung angeblicher Erwartungen und Pläne es dem Redner ermöglicht, ganz unbegründete Vermutungen vorzutragen, fühlt er sich auch bei der Auswahl und Erörterung von Parallelfällen sehr frei; er wagt es, analoge, aber auch nicht eigentlich gleichgelagerte Fälle heranzuziehen und durch deren Schilderung seinen Mandanten oder seine Gegener in das von ihm selbst gewünschte Licht zu rücken und die Überlegungen oder die Gefühle der Hörer in seinem Sinn zu beeinflussen. 56 Ähnliche Möglichkeiten eröffnen dem Redner auch die Rückgriffe auf die Geschichte, vor allem auf die Vorfahren57 - und gelegentlich sogar auf den Mythos 58 - die er gern nutzt, um einen Gegensatz herauszustellen59 und die Richter damit abzulenken. Die allgemeinen Überlegungen, die Cicero in der gleichen Absicht einflicht, entsprechen in ihrer Vielfalt dem Reichtum der Anregungen, die die Theorie bereitstellt und die er mit Geschick auszuwählen und auszugestalten weiß. So sucht er etwa, wo es seinem Ziel dienlich ist, die grundlegende Bedeutung der Gesetze und ihrer strikten Beachtung mit ebensolcher Überzeugungskraft hervorzuheben, 60 wie er in anderem Zusammenhang unter Hinweis auf die Armut der Sprache fordert, die Absicht eines Gesetzgebers über den Wortlaut seines Gesetzes zu stellen.61 Das Recht auf Tötung unter gewissen Umständen leitet er

Z.B. Quinci. 5; 94; S.Rosc. 129; 131; 139-142; 152; Caecin. 5; 38-40; 75-76; Tuli. 36; 40; frg. 4; Fonl.frg. 2 (Schocll); 17; 36; 42-43; Cluenl. 123; 155; 157-158; Rab.perd. 2-3; Mur. 79; Sull. 79; Arch. 23; Flacc.frg.Mediol.; 24; 99-106; Balb. 2224; Plane. 14-15; 56-57; Rab.Post. 13-19; Mil. 4; 78, s. auch dom. 37-38; 45-47; 106; 119-120; 123; und die politischen Reden. Vgl. z.B. S.Rosc. 33-34; 46-48; 64-65; Caecin. 35-38; 89; 97; TuU. 29-30; 53; Font. 2; 43; Q.Rosc. 30; Cluent. 32; 94; 126; Rab.perd. 8; SuU. 6-7; Flacc. 98; Balb. 45-55. Vgl. H. Schoenberger, Beispiele aus der Geschichte, Ein rhetorisches Kunstmittel in Ciceros Reden, Diss. phil. Erlangen 1910 (= Schulpr. Augsburg 1910/1911); R. S c h ü t z , Ciceros historische Kenntnisse, Diss. phil. Gießen 1913; M. R a m b a u d , Cicéron et l'histoire romaine, Paris 1953, 25-35, s. auch H. Roloff, Maiores bei Cicero, Diss. phil. Leipzig 1936 (Güttingen 1938). F. Sauer, Über die Verwendung der Geschichte und Altertumskunde in Ciceros Reden I, Schulpr. Ludwigshafen 1910, bes. 5-6; Schütz (s. A. 57) 15; M. Radin, CJ 6, 1910/11, 209-211. Verr. 2, 51, s. auch Caci. 33-35. Cluent. 146-148; 150-151; 155-159, vgl. inv. 2, 125. Allgemeine Bemerkungen zu Recht, Rechtsgrundsätzen, Rechtsprechung etc. finden sich z.B. Quinct. 33; S.Rosc. 62; 69-72; 84-85; 113; 123; Caecin. 5; 6-9; 32-40; 96-102 (s. auch A. 61); Tuli. 8-12; 32-33; 42-45; Font. 21; Q.Rosc. 1; 10-11; 13; 16; 24; 32; 35; 53-56; Cluent. 5; 104; 117-122; 1 2 8 - 1 2 9 ; 150-151; M u r . 3 - 4 ; 10; 25-28; Sull. 39; 7 8 ( F o l t e r ) ; Flacc.exc.Cus.; 57; 98; Scst. 30; Caci. 6; Balb. 20-37; 38-44; Plane. 40-42; Rab.Post. 7; 9-10; 31; Mil. 32; 52-60; Lig. 30; Deiol. 3-4; 30; 40; vgl. auch dom. 34-38; 45; 77-80; 107; 109; 137; har.rcsp. 32, s. auch A. 62. Caecin. 51-54, mit Beispielen, vgl. schon 37; 49; 50, dann 55-66, auch 79; 81; 83; 85 in Auseinandersetzung mit Piso, der ähnlich argumentiert halte, während Cicero die Bedeutung der Rechtskundigen und des ius civile beloni (67-77), vgl. dazu Stroh (s. A. 1) 83-98; s. ferner Plane. 39; 42.

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zu Beginn seiner Rede für Milo mit gleicher Leidenschaft aus Formulierungen der Zwölf Tafeln ab, 62 mit der er in der Rede für Tullius das Gegenteil aus denselben Formulierungen zu beweisen bemüht ist, um seine Gegner zu widerleg e n . 6 3 Häufiger stellt Cicero allgemeine Erwägungen über die Rolle und Verpflichtungen der Richter an, 6 4 aber auch über die Aufgaben eines A n k l ä g e r s , 6 5 um das eigene Vorgehen zu rechtfertigen oder um die Handlungsweise, das Auftreten oder die Absichten des Gegners dagegen abzusetzen. 66 Noch lieber greift Cicero zu allgemeinen politischen Überlegungen, die sich zwar besonders leicht mit dem Prozcßgcgcnstand verbinden lassen, wenn politische Motive die Anklage bestimmen, deren Erörterung aber zur Aufklärung der einzelnen Tatbestände gar nichts beiträgt. Während derartige Aspekte in den Privatreden meist nur knapp angedeutet werden, 67 treten sie schon in der frühen Strafprozeßrede für Sex. Roscius Amerinus deutlich hervor, 68 und auch die Verteidigung des Cluentius stellt Cicero unter politische Gesichtspunkte. 69 In den späteren Reden für Rabirius, für Murena, für Sulla oder für Flaccus nehmen

Mil. 9, vgl. den ganzen Abschnitt 7-11, ähnlich ohne Berufung auf die Gesetze Rab.perd. 19, auch 31; zur Berufung auf die ΧΠ Tafeln s. auch dom. 43; Sest. 65, auf andere Gesetze z.B. Caecin. 96; dom. 33; 127; Cael. 70; Balb. 19; Rab.Post. 8-9; 12. Tuli. 47-52. S.Rosc. 84-85; Verr. 2, 77; 3, 94-95; 223; Font.frg. 5 (Schoell); Cluent. 60; 115-116; 120; 121; 159-160; Phil. 1, 20; 22; 5, 12-16; kurz: Quinci. 64; Caecin. 65; Verr. 2, 4, 34; Mur. 59; Arch 27; Flacc. 98; Scaur. 17; Plane. 14, s. auch ο. Α. 28. S.Rosc. 38; 53-62; 83; Caecin. 5; Mur. 59-60; Flacc.frg.Mediol.; 13-15; 22-23; Scaur. 24-27; 29; Lig. 10-16; Dciot. 30. vgl. ferner div.in Caec. 6-7; 27-31; 73; Verr. 2, 176; 4, 2; 5, 19; Mur. 11; 46; Süll. 31; Scst. 89; Caci. 2; Phil. 1, 22, s. auch Rhet. Her. 4, 47 (Crassus?). Vgl. vor allem die Divinatio, in der Cicero sich zunächst bemüht, als Verteidiger zu erscheinen (1-6, auch 41 - und ebenso in den Verrinen bis zum Schluß 2, 5, 189; die Behauptung, er sei bisher immer als Verteidiger aufgetreten (div. in Caec. 1) gilt nur für Strafprozesse; denn in den Reden für Quinctius, Caecina und Tullius unterstützt er jeweils die Kläger, wenn er auch dort die Rolle des Verteidigers für sich beansprucht (Quinci. 8-9; 11; 19; 30-33; Caecin. 5) oder sich wenigstens milde gibt: Tuli. 5; dagegen wird Caecilius als ungeeignet für die Aufgaben eines Anklägers hingestellt, s. auch VerT. 1, 34-37; 2, 1, 21; 25; 98; 2, 1-2; 118; 179; 3, 1-7; 164; 5, 177; 179; 183; Tuli. 5. Bemerkungen über Ciceros Rolle als Verteidiger sind häufig: S.Rosc. 30-31; 83; 91; 95; 136; Cluent. 17; 49-54; 57; 117-118; 149; 157-158; Rab.perd. 2; Mur. 8; 10; Sull. 6; 10; 17-20; 48-50; Arch. 1-2; 12; Flacc. 24; Sest. 2; Vatin. 5; Cael. 32; Balb. 1; Plane. 3; 5; 84; Mil. 3; 94. Quinct. 30-31; 68-73; Caecin. 95; 97; Q.Rosc. 33. 138-142, vgl. schon 1-3; ferner 21-22 (Sulla, auch 6; 25-26; 110; 125; 128: Proskriptionen; 130-131; 136; 143; 146); 80-81 (Hinweis der Gegner); 80-94; 136143; 146; 153, ebenso Font. 17; 36; 42-43, s. auch 6. Cluent. 3-4; 25; 61; 77-79; 80-81; politische Aspekte früherer Prozesse: 89-96; 103; 108-112; 130; 136-139; 152-159.

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politische Argumentationen immer stärker überhand, bis sie schließlich die Rede für Sestius fast ganz beherrschen. 70 Daß nicht allein die sachliche Notwendigkeit, den jeweiligen politischen Hintergrund zu zeichnen, diese langen Ausführungen inspiriert, ergibt sich daraus, daß Cicero bisweilen ähnlich allgemeine Erwägungen kulturellen, religiösen oder sittlichen Inhaltes vorbringt Die Ausführungen über den Wert wissenschaftlicher und künstlerischer Tätigkeit in der Rede für den Dichter Archias sind für uns heute sehr aufschlußreich; aber zur Klärung der Sachfrage des Prozesses tragen sie nichts bei, vielmehr lenken sie von ihr ab, und darin liegt ihre Aufgabe. 7 1 Dagegen sollen die Bemerkungen zum sittlichen Verhalten der Heranwachsenden in der Rede für Caclius (39-47) auf entsprechende Vorwürfe der Gegner antworten (27-30). Ähnlich sind etwa auch die Abschnitte über den Vatermord (S. Rose. 37-38; 62-72) oder über verschiedene Aspekte des Verhältnisses der Römer zu ihren Bundesgenossen in der Rede für Baibus 72 als Teil der Strategie des Redners zu verstehen. Der Neigung, Gegenstände, Vorgänge und Personen einzubeziehen, die entbehrlich sind, und allgemeine Erwägungen einzufügen, die die konkreten Fragen nicht klären, entspricht Ciceros immer wieder beobachtbares Geschick, mit dem er die jeweils wesentlichen Probleme gar nicht erörtert oder deren Behandlung nur vortäuscht. Schon die Darlegung des Sachverhaltes in der narratio ist nicht immer vollständig, sondern bricht oft gerade am entscheidenden Punkt ab, wobei der Abbruch der Schilderung mit stilistischen Mitteln verdeckt wird (s.u. S. 152 mit A. 113). Besondere Sorgfalt pflegt Cicero auf seine Beweise oder seine Widerlegungen gegnerischer Argumente zu verwenden. Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg ist die rechte Auswahl des Ausgangspunktes der ganzen Argumentation, eines Argumcntationsabschniltes oder eines einzelnen Argumentes. Um die zentralen Probleme auszuschließen, scheut sich der Redner nicht, den zur Verhandlung stehenden Gegenstand selbst von vornherein falsch oder ungenau anzugeben, um damit die gesamte Argumentation auf das einzu-

Rab.perd. 2-5; 9-17; 18-37; Mur. 1-2; 3-5; 78-83; 83-88; Sull. 32-35; 83-87; Flacc. 3; 5; 87; 94-106; Sest. 1-2; 15-35; 53-74; 81-82; 85; 93-95; 96-131; 132-147; s. auch 36-52. 12-30, vorbereitet durch 2-4, vgl. dazu M. von Albrecht, Gymnasium 76, 1969, 419429; jetzt auch H. Eiscnbcrger, W S 92, 1979, 88-98. Der Antwort auf die Gegner (19-) 22-28 folgen 29-32 (allgemeine Bemerkungen) und 32-37 (Eingehen auf den Gegner), dann allgemeine Erwägungen (38-44, bes. 42-44); allgemeine Bemerkungen zu verbreiteten Anschauungen, üblichen Erfahrungen oder herkömmlichen Maßsläbcn finden sich etwa Quinci. 48-51; 52-56; 95; S.Rosc. 43-45; 47-51; 75 (vgl. zur Form P. Cornelius Scipio Africanus Minor, frg. 32 Malcovati); 91; 111-112; 116; 130-131; 146; Caccin. 2; 43; Foni. 1-2; 42-43; 46; Q.Rosc. 3; 5-8; 31; 46; Clucnl. 17; 67; 84; 95; 111-112; 128; 169-171; 183; 190; 194; 195; Rab. perd. 16; 29-30; Mur. 3-4; 8-10; 11; 18-19; 21-25; 29-30; 35-36; 37-41; 44-46; 69-70; 7277; Sull. 23-25; 32; 48-50; 63; Flacc.cxc.Cus.; 15; 28; 77-78; 87; Sest. 21; 28; 77; 91-92; Vatin. 10; 36; Caci. 11; 28; 41-48; 75-77; Balb. 3; 15; 18; 26; 42; 60; 62; Scaur, frg. p; r; s; 2-5; 33; Plane. 5; 7-8; 9-17; 22; 25; 29; 31; 33; 45; 60; 62; 68; 7273; 80; Rab.Post. 2; 24; Mil. 30; 42; 55; 58; 61; 64-69; 82; 83; 92; 96-97; Lig. 11; 28; Deiot. 15; 26; 34.

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schränken - oder auszudehnen - , was ihm vorteilhaft erscheint. 73 Dasselbe erreicht er bisweilen auch im Laufe der Argumentation dadurch, daß er sie auf bestimmte Äußerungen oder Sachfragcn eingrenzt Ähnlich geht Cicero vor, um einzelne mißliche Aspekte auszuschließen oder leicht widerlegbare Argumente zu gewinnen: er zitiert Texte falsch oder unvollständig, 74 er entstellt Vorwürfe seiner Gegner, 75 oder er erfindet Vorwürfe, um dann die von ihm selbst geprägte Formulierung wirkungsvoll zu widerlegen. 76 Besonders falsche Alternativen erlauben ihm, unbequeme Probleme auszuschalten oder keineswegs notwendige Konsequenzen als unvermeidlich hinzustellen. 77 Gern täuscht Cicero die Widerlegung gegnerischer Argumente oder Einwände vor, indem er den jeweiligen Komplex gleichsam .zerredet', etwa Unwissenheit oder Unklarheit vorgibt 78 und Fragen stellt 79 und vielleicht auch einige ent-

Balb. S, vgl. 7; Mil. 23; 31 (vorbereitend: 6); Lig. 1, auch 9 (vgl. dagegen Quint. Inst. 9, 1, 80), vgl. auch S.Rosc. 6; Scst. 78; Cael. 30; 51; Plane. 47 (nach 36); Rab. Post. 12; der Gegenstand ausgeweitet Manil. 6; 27 (wie im Vorjahr: 52) statt richtig: 3. Z.B. Quinci. 60 (vgl. Octling (s. Λ. 10) 66 und A. 16); oder Stroh (s. A. 1) 82-83 und 94 zu Caecin. 90-93 und 38; aus den 40 Kapiteln des Gesetzentwurfes des Rullus (leg.agr. 3, 4) zitiert er nur, was er für seine Argumentation brauchen kann: er beginnt mit dem ersten Kapitel (2, 16), läßt das zweite folgen (2, 18), aber dann werden seine Bemerkungen vage und lassen nicht mehr deutlich werden, wo die einzelnen Bestimmungen stehen (z.B. 2, 47). Mur. 15; 68-69; unvollständig: Flacc. 35; 40; 44 (bei Zahlungen an Flaccus gibt er nicht deren Zweck an); irreführend? Zusammenstellung von Anklagepunkten und Vorwürfen Cluent. 1-2; Mur. 11; Cael. 23; Formulierungen der Gegner entstellt: leg.agr. 2, 67; 74 u.ö., angeblich unklar: 2, 35-36. Cicero erfindet Züge, die sein Mandant haben müßte, und zeigt, daß er sie nicht hat z.B. S.Rosc. 39 (auch 53); Caci. 44-49, oder erfindet Verbrechen und zeigt, daß sein Mandant sie nicht begangen hat (Dciol. 18), vgl. auch Stroh (s. A. 1) 93 A. 43. Quinci. 41; 73; 81; 94; S.Rosc. 88; 93; 129; 141-142; 150; Caecin. 47; 76; Font. 15; Cluent. 64 (vgl. 81; 102); 85; 129; 135; 169-170; Mur. 77; Sull. 10; 25; dorn. 2; 100; 125; Caci. 19; 32; 50; 52; (vgl. 53; 58; 61; 62); 55; Balb. 65; Scaur. 18-19; Plane. 6; 14-15; 91; 101; Rab.Posl. 10; Mil. 30; 31; Lig. 29, vgl. auch Rohde (s. A. 2) 70-76 (zu den complexiones). Z.B. S.Rosc. 74; 76; Font. 11-12; Clueni. 138; Sull. 21; Flacc. 56-58; Cael. 51-55; 56-61; Rab.Post. 30, s. auch A. 79; gern täuscht Cicero Unwissenheit durch nescio quis, credo, opinar etc. vor. Fragen, bald Gruppen von kürzeren, bald einzelne längere, stiften schon in der narratio Verwirrung oder später in der argumentatio oder lenken diese in bestimmte Bahnen, schränken sie auf begrenzte Aspekte ein, verunsichern den Gegner oder wecken Emotionen: s. vor allem Quinci. 41-45; 48-49; 52; 56; 73-76; 81-84; S.Rosc. 54; 74; 76; 80; 96-98; 108; 113; 125; 130; Caecin. 24; 29-31; 33; 35-37; 39; 41; 43-45; 4850; 51; 93-94; Tuli. 24-25; 31; 38; 48; 54-56; Font. 11; 27; 32-33; Q.Rosc. 5-9; 12; 16-19; 22; 25; 36-38; 41-42; 45; 51; 53-55; Clueni. 55; 60-62; 65; 80-81; 82-83; 87; 113; 129; 136-137; 147-148; 167; 169-173; 181-183; 186-187; Rab.perd. 11; 20; 27-29; Mur. 68-70; 73; 76-77; Sull. 26-27; 44-45; 53; 70; 72; 77; Arch. 10; 17-19; Flacc. 21-22; 32-33; 52; 60-65; 78-81; 83-84; 88-89; 92-93; (dom. 34-35; 44; 50-53; 56-59; 72; 75-77; 80; 82; 83; 85; 112; 125; 127); Sest. 30; 32-33; 43; 47; 66; 78; 80-81; Vatin. 10-24; 26-27; 29-37; 40-41; (har.resp. 33); Cael. 13; 50; 52-54; 56-58; 60-61; 65-66; 68; Balb. 33; 46; 50; 53-54; Scaur. 19; 23-25; Plane. 16; 18; 32-39;

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rüstete Ausrufe hinzufügt 8 0 oder mit allgemeinen Überlegungen oder Teilerörterungen beginnt, um dann nach einigen Sätzen den Eindruck zu erwecken, als ob das Problem erledigt, das Argument widerlegt sei, ohne tatsächlich den harten Kern der Sache auch nur berührt oder den entscheidenden Punkt beantwortet zu haben. Nicht selten vermittelt Cicero den Eindruck einer Widerlegung, indem er dem Gegner nicht auf gleicher Ebene begegnet, sondern Allgemeines durch Spezielles, Spezielles durch Allgemeines beantwortet, 81 von einer Person und ihren Motiven her argumentiert oder sich auf schiefe Vergleiche stützt 8 2 Bisweilen versucht Cicero auch mit dem Gegner zu handeln und ihm ein Zugeständnis zu machen, um ein ebensolches zu erreichen. 83 Auch echte Fehlschlüsse finden sich, doch werden sie in ein undurchsichtiges sprachliches Gewand gehüllt, so daß der Hörer ihre Schwäche nicht gleich durchschaut. 84 An das Ende eines Schlusses stellt Cicero gern eine conclusio, die über das hinausgeht, was er bewiesen (oder widerlegt) hat, wie er auch in den überleitenden Abschnitten bisweilen den Eindruck zu vermitteln weiß, mehr bewiesen.

44; 59-60; 70-71; 75; 78; 83; 85-86; 89; Rab.Post. 10-11; 12; 31; 37-39; Mil. 15; 35; 36; 43-46; 48-49; 53-54; 57; 59; 79; Lig. 9-11; 13; 18-19; 24; Deiot. 20-22; 2526; 32-34; 37; die Verteilung der Fragen auf eine Rede und deren Gestaltung lassen jeweils unmittelbar wichtige Aspekte der Strategie des Redners erkennbar werden. Vgl. nur Quinci. 79-80; S.Rosc. 77; Q.Rosc. 4; 24; 26; 28-29; Cluent. 48; Sull. 51; Cael. 51; Balb. 13; Rab.Post. 45; Deiot. 16-17; Ausrufe allein z.B. S.Rosc. 101; Cael. 63-64; Balb. 20. Zum Beweis für einen guten Gcsamlcharakler genügen einzelne Handlungen (entsprechend negativ: A. 105; eine allgemeine Seeräuberplage wird erwiesen durch einen Einzelfall: Flacc. 31) ebenso wie umgekehrt schlechte Einzelhandlungen unwahrscheinlich (oder wahrscheinlich) gemaehl oder gar geleugnet werden können mit Hilfe eines positiven Gesamlurtcils oder dem Fehlen eines negativen, s.o. A. 25, auch A. 22 (oder umgekehrt), oder einzelne Maßnahmen gerechtfertigt werden durch allgemeine Grundsätze (s.o. A. 72), ähnlich einzelne Personen durch den Hinweis auf allgemeine Tendenzen der Zeit: Caci. 28-30; Mur. 68; 70. Auch die Gegner nutzen verbreitete Strömungen der Zeit, um einzelne zu charakterisieren (vgl. etwa S.Rosc. 81; Cael. 25) oder einzelne Vorkommnisse, um eine Person insgesamt in Mißkrcdit zu bringen, vgl. A. 34. Vgl. S.Rosc. 40-41 (auch: 57; 61; 62; 72-73); 86-88; 92; Tuli. 55-56; Q.Rosc. 17; 22; 26; Cluent. 20; 43; 64; 167; 169-171; (Motive der Gegner: 44; 83; 183); Flacc. 37; 41; Cael. 56; Rab.Post. 38; Mil. 32; Deiot. 20, s. auch Rohde (s. A. 2) 110-114; zu den Vergleichen s. A. 56. Vgl. z.B. Cluent. 146; Sull. 68; ferner Quinci. 68; Flacc. 37-38. S. nur Quinci. 37-41 (keine Schulden); 56-58 (kein vadimonium; nur Termin widerlegt); 60-62 (Alfenus immer bereit); S.Rosc. 76-82 (keine gedungenen Mörder); Caecin. 9093 (s. dazu Stroh (s. A. 1) 82-83); Tüll. 26-35 (dolus malus beim Täter); 38-46 (iniuria nicht bedeutsam); 47-56 (Fabius handelte widerrechtlich); Q.Rosc. 53-54; 55; 56 (s. dazu Stroh (s. A. 1) 129-130); Cluent. 64 (vgl. 9: Richter nicht von Cluentius bestochen); Flacc. 27-33; 55-59 (Flaccus kein Geld widerrechtlich behalten); Cael. 51-55 (kein Gold als Mörderlohn); 58-61 (kein Giftmordversuch); Balb. 20-26; 27-31 (s. M. Fuhrmann (Hrsg.), Cicero, Sämtliche Reden VI, Zürich 1980, 98, zu 54 ebda. 130 A. 57). Vgl. femer durchgehend den Kommentar von J. Th. Freigius, Ι/ΙΠ, Basel 1583.

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widerlegt oder erledigt zu haben, als er tatsächlich geleistet hat.85 Ehe wir damit zu Problemen des Aufbaus übergehen, können wir zusammenfassend festhalten, daß die inventio nicht von dem Bemühen bestimmt ist, die jeweilige Sache zu klären, d.h. weder die Vorgänge selbst, die die Grundlage eines Prozesses bilden, noch die Überlegungen, auf die ihre rechtliche Beurteilung sich gründen kann, sondern von dem Versuch, den Mandanten den Richtern gegenüber jedenfalls für den Augenblick 86 sympathisch und unschuldig (oder im Recht) erscheinen zu lassen, die Gegner, also meistens die Kläger, deren Hintermänner und Freunde und oft genug auch die Opfer der Angeklagten, als unzuverlässig, bösartig und rachsüchtig, so daß ihre Anklage durch ihren Charakter oder ihre politischen Ambitionen bedingt, aber nicht sachlich fundiert erscheint. Für die juristische, politische und rhetorische Beurteilung ergibt sich damit, daß äußerste Vorsicht bei der Auswertung der Reden geboten ist, d.h. mit nicht zur Sache gehörigen (.überflüssigen') Abschnitten ebenso gerechnet werden muß wie mit bewußten Entstellungen rechtlicher und historischer Tatbestände. II Wenngleich die Erfindung und Auswahl dessen, was zu behandeln ist, als besonders schwierig gilt,87 ist die Anordnung nicht weniger wichtig. Zwar nehmen die Regeln für die disposino etwa beim Auetor ad Herennium nur geringen Raum ein, 88 doch spiegelt sich darin nicht deren geringe Bedeutung, sondern die Schwierigkeit, thcorctischc Vorschriften für die Gliederung zu formulieren, und diese Schwierigkeit zeigt sich auch darin, daß man neben die ab inslilutione artis entwickelte Anordnung die mit Hilfe des iudicium des Redners ad casum temporis accomodata stellt (Rhct. Her. 3,16 und 17). Die klügste Erfindung und die geschickteste stilistische Gestaltung nützen nichts, wenn das einzelne Argument oder Ereignis nicht im rechten Augenblick vorgebracht wird, d.h. den Hörer nicht nach entsprechender Vorbereitung oder in der günstigsten Stimmung trifft. Entsprechend ist Flexibilität höchstes Gebot für den Aufbau, und es kann nicht überraschen, sondern beweist nur Ciceros Meisterschaft, wenn er nicht immer alle fünf Redeteile in der üblichen Reihung aufeinander folgen läßt;89 eine narratio fehlt z.B. stets, wenn Ciceros Rede Teil einer von mehreren patroni vorgetragenen Verteidigung ist.90

S. z.B. Quinci. 41; 47; 62; S.Rosc. 82; Clucnl. 62; 64; Cael. 6 6 u.ö. Grundsätzlich ist zu bedenken, daß das, was Cicero in den Prozeßreden sagt, eher im Augenblick wirken als für die Dauer gelten soll; in diesem Sinn ist auch die oft zitierte Bemerkung Clucnl. 139 zu verstehen, ebenso etwa auch der Angriff auf den Zeugen Vatinius. Dagegen geben die politischen Reden, die als Flugschriften veröffentlicht worden sind, deutlicher die Auffassungen des Autors wieder. Rhet. Her. 2, 1; 3, 15. Rhet. Her. 3, 16-18; vgl. auch Cie. De orat. 2, 307-332; 1, 142-143; orat. 50. Dies ist oft als Nichtbeachtung der rhetorischen Vorschriften mißverstanden worden. Also in den Reden für Murena, für Sulla, für Flaccus, für Sestius, für Caelius, für Baibus, f ü r Scaurus, für Plancius (zur Widerlegung einzelner Punkte finden sich auch dort

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Die Regel, die wirkungsvollsten Elemente an den Anfang oder an das Ende einer Rede oder auch eines Argumentationsabschnittes zu rücken,91 befolgt (oder modifiziert) Cicero insofern, als er sich bemüht, zu Beginn - oft in Verbindung mit der Einleitung - entweder belastende Momente aus dem Weg zu räumen, ob er sich nun selbst rechtfertigt,92 seinen Mandanten gegen allgemeine Vorwürfe, ein verbreitetes Vorurteil, konkrete praeiudicia oder die Anklage selbst verteidigt 93 oder Zeugenaussagen zu entkräften sucht, 94 oder allgemeine Erwägungen anzustellen, die ein leichteres Argumentieren erlauben als die harten Fakten. 95 In der Rede für Baibus stellt er Pompeius als den eigentlich Angegriffenen und Verantwortlichen hin und erinnert sogleich an dessen Verdienste, ehe er sich den komplizierten Rechtsfragen widmet (8; 8-17). Zugleich sucht er früh die Emotionen der Richter, an die er meist schon im Prooemium appelliert, weiter zu schüren und vollends zu wecken, um sie für den eigenen Mandanten und gegen die andere Seite einzunehmen.96 Dem letzten Abschnitt der Reden verleiht Cicero gern dadurch eine nachhaltige Wirkung, daß er noch einmal scharfe Angriffe gegen den Gegner richtet oder besonders eindrucksvolle allgemeine Überlegungen vorträgt, die dann zum Epilog überleiten.97 Die Rede für Scstius hat Cicero so angelegt, daß sie als Teilnarrationes); die jeweils besonders gearteten Verfahren gegen Rabirius Poslumus und den König Dciolarus machen cine Erzählung überflüssig; auch die Rede für Rabirius im Perducilionsvcrfahrcn verzichici auf eine narralio\ s. femer A. 100. Rhet. Her. 3, 18; Cie. De oral. 2, 314; dieses Schema gilt auch für die Reihenfolge, in der die Zeugenaussagen erörtert werden, wie neben der Rede für Flaccus Caecin. 28 zeigt. Mur. 2-10; Sull. 3-10; 17-20; 21-29; dorn. 3-32; vgl. auch Rab.perd. 10-17, Sest. 3652 und A. 27 und 29. Allgemeine Vorwürfe: Font. 6; Rab.perd. 7-9; Mur. 11-14 (15-42); Sull. 14-20; Flacc. 5-9; Sest. 6-14; Cael. 3-50; Scaur. init.-14; Plane. 5-11; Rab.Post. 6-7; Deiot. 8-14; 15-16; verbreitetes Vorurteil: Cluent. 1-8; praeiudicia: Mil. 7-22; Anklage: Q.Rosc. 113; Arch. 8-11; Balb. 18-22 (schon 6-8; 13-14); vgl. Aristoteles" Empfehlung Rh. 3, 14, 1415 a 28-29. Rab.perd. 7; Flacc.frg.Mediol.; Caecin. 23-31 sucht Cicero einige Zeugenaussagen gleich für sich zu nutzen. Caecin. 32-40; 51-54, auch 41-48; 49-50; 65-79, so daß fast die ganze Rede das Wesentliche vermeidet; Tuli. 8-12; Rab.perd. 10-17, vgl. schon 3-5; Mur. 13; Flacc. (6-) 9-12; 15-21; 21-22; Sest. 15-35; Scaur. 15-16; 18-20; 22; Plane. 12-16; Rab.Post. 8-19; für das Verständnis der Rede für Ligarius ist es wichtig, daß nach der narratio zuerst um Caesars Wohlwollen geworben wird (Lig. 6-9). Bald wählt er die direkte Anrede (vgl. A. 28), bald die entsprechend gestaltete Darstellung der Fakten (s. Λ. 100), bald eine durch Fragen und Ausrufe an die Gefühle appellierende Argumentation (s. A. 79), bald besonderen Aufgaben gewidmete Abschnitte: s. A. 93-95. Dies entspricht einer schon von Aristoteles gegebenen Empfehlung (Rh. 3, 14, 1415 b 29-30), s. S.Rosc. (124-) 132-142 (Angriff auf Chrysogonos); Font. 21-33 (Angriff auf die Zeugen, verbunden mit einer Empfehlung des eigenen Mandanten); Cluent. 175194 (Angriff auf Sassia, s. A. 45); Mil. 72-79; (80-) 84-91 (Angriffe auf Clodius); in der Rede für Rabirius im Perducllionsprozeß ist die ganze Argumentation von scharfen Angriffen auf Labicnus durchzogen; dagegen verzichtet Cicero auf solche Attacken am Schluß, wo er gut bekannten Slandcsgenossen gegenübersteht (s. A. 24), und betont stattdessen das öffentliche Interesse (Mur. 78-83; Flacc. 94-99, ausgeweitet: Sest. 96-

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Ganzes im Rahmen der Gesamtverteidigung gleichsam zum allgemeinen Schlußappell wird, der auf die Erwähnung der Anklage fast völlig verzichtend endgültig alle Vorurteile auszuräumen und durch allgemeine Argumente die Emotionen im Hinblick auf das Urteil zu wecken bemüht ist. 98 Zwar packt Cicero in mehreren Reden die Entlastung von der Anklage schon früh an (s. A. 93); doch häufiger versteckt er den zentralen Teil der Argumentation, die Widerlegung der eigentlichen Anklage, oder er verschiebt ihn bis zu einem Zeitpunkt, an dem der Hörer ermüdet oder mindestens (im Sinne Ciceros) hinreichend vorbereitet i s t . " Oberstes Prinzip bleibt die Flexibilität. Überall beherrschend ist das Bemühen des Redners, die wirklich bedrohlichen Aspekte nicht in ihrem Wesen erkennbar werden zu lassen, die Gefühle der Hörer auf die Sicht des Redners einzustimmen und sie zu seiner Beurteilung der Sachverhalte hinzuführen. Diesem doppelten Ziel der emotionalen und sachlichen Vorbereitung dienen neben den Prooemien und den angeführten vorgeschalteten Abschnitten die jeweiligen Darstellungen (,narrationes'y 0 0 und vor allem diejenigen Teile der Argumentation, die allgemeinen oder nicht zur Sache gehörigen Fragen gewidmet, der Behandlung der Kernprobleme vorausgehen.101 Dabei weiß Cicero - wie oft auch schon in den exordia und narrationes - durch solche für die Sache unwesentlichen, voraufgeschickten Passagen die beteiligten Personen zu charakterisieren. Auch die Widerlegung selbst beginnt er gern mit Fragen nach den Motiven, dem probabile e vita, und erst wenn er solche und andere Wahrscheinlichkeitserwägungen (probabile e causa) oder allgemeine Überlegungen angestellt hat und die Hörer dadurch glaubt gewonnen zu haben, wendet er sich der zentralen Problematik zu. 102 143) oder die Vorzüge seines Mandanten: Sull. 69-87, vgl. auch die Rede für Baibus, wo sich die wichtigsten Bemerkungen über Baibus am Schluß finden (56-59), zusammen mit Hinweisen auf die politische Bedeutung des Falles (59-63) und die Rolle des Pompeius (59; 64) und Caesars (63-64); der Übergang zur per oratio ist fließend, vgl. auch Lig. 29-38; zu den Schlußabschnitten s. Rohde (s. A. 2) 131-144 und Preiswerk (s. A. 2) 14-24. Anklage: (75-) 80-85; 90; zur Parallele der Struktur einer Einzelrede und einer Redengruppe s. De oral. 2, 313; daß die Reden nicht immer aufeinander abgestimmt waren, lehrt Brut. 208-209. Quinci.: s. Α. 16 u. 17; S.Rosc. 73-82; Caecin. (90-) 94-95 (s. Stroh (s. A. 1) 98); Cluent. 165-194; Rab.pcrd. 18-31; Mur. 57; 67-77; Sest. (s. A. 98); Cael. (23-24); 5169; Plane. 36-49; Mil. 53-60; Deiot. 17-22; auch dom. 106-137, zu den Reden für Tullius und Q. Roscius s. Stroh (s. Α. 1) 170 und 146. Auch in der interrogado in Vatinium kommt Cicero erst am Schluß auf die Sache (40-42). Quinci. 11-35; S.Rosc. 15-29; Caecin. 10-23; Tuli. 13-23; Arch. 4-7; Mil. 24-29; Lig. 2-5; Cluent. 10-81 sind narralio und argumentatio miteinander verschmolzen, ebenso in den folgenden Teilen der Rede wie auch in der zweiten Rede gegen Verres und in anderen, in denen bisweilen auch Erzählungen zu Teilproblemen eingefügt werden s. A. 90; zu den narrationes s. Preiswerk (s. A. 2) 28-34 und D. Berger, Cicero als Erzähler, Frankfurt 1978. S. A. 95, auch A. 93-94, femer A. 60 und A. 72. Zum probabile e vita s. Α. 23 und Α. 24 und 25, zum Fragen nach den Motiven s. A. 82, auch A. 79, zum probabile e causa s. Rohde (s. Α. 2) 58-64.

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Neben den vielfälligen Arien der Vorbereitung sucht Cicero den Vorwürfen und vor allem den Anklagepunkten noch auf eine andere Weise ihre Kraft zu nehmen, nämlich indem er jeweils zusammengehörige Argumente und Tatbestände, die sich gegenseitig stützen, trennt. Auf diese Tatsache habe ich in meiner Analyse der Rede für Caelius hingewiesen, und W. Stroh hat sie in den Privatreden für Caecina, Tullius und Roscius comoedus beobachtet. 103 Leider wissen wir nicht, wie weit auch bei der Aufteilung der Verteidigung auf mehrere Redner Zusammengehöriges getrennt wurde. Immerhin zeigt Ciceros Rede für Sulla, daß Hortensius die erste catilinarische Verschwörung behandelte, Cicero die zweite, während die Gegner gewiß beide zusammen beurteilt wissen wollten (11-14).104 Auch die oben beschriebene Technik, erst praeiudicia oder aus der Lebensführung des Angeklagten gewonnene Behauptungen zu widerlegen, entspringt demselben Bemühen, da die Argumente e vita ante acta vom Gegner natürlich unmittelbar zur Stützung der Anklage herangezogen werden, während Cicero sie bewußt getrennt von ihr und zugleich vorweg entlastend aus dem Wege räumt. Wie Cicero im großen Vorwürfe aus dem Kontext der Argumentation herauslöst, beraubt er auch Einzelheiten ihrer Wirkung und versucht sie sinnlos zu machen, indem er sie aus ihrem Zusammenhang reißt, etwa wenn er unterstellt, Murena sei sein Aufenthalt in der Provinz Asia vorgeworfen (Mur. 11 : obiecta est... Asia und noch einmal 12: non Asiae nomen obiciendum Murenae fuit), während es tatsächlich um Murenas Lebensführung dort geht, was Cicero jeweils nur sehr knapp andeutet, allerdings - die biographischen Gegebenheiten nutzend - mehrfach, um mehrfach Murenas militärische Leistungen dagegenzusetzen;105 Catos Vorwurf,saltator' handelt er gesondert ab (13), und auch dessen Vorwurf bellum illud omne... cum mulierculis esse gestum (31) widerlegt er erst später, um erneut Murenas Tätigkeit als Legat Luculis loben zu können (34, vorher: 20) Darin zeigt sich, daß Cicero die Trennung von Zusammengehörigem oder die mehrfache Behandlung eines Gegenstandes nicht nur nutzt, um seine Gegner wirkungsvoll zu widerlegen, sondern auch das Gewicht seiner eigenen Argumente nachdrücklich zu verstärken. So spricht er in der Rede de lege Manilia mehrfach von Pompcius' Erfolgen und nennt sie einmal als Belege für dessen scientia rei militaris (28), ein zweites Mal als Belege für dessen virtus (29-35, teilweise vorbereitet schon 10 und 13 und dann wieder

C. J. Classen, A N R W I, 3, 1972, 65-66; 72-73; Slroh (s. A. 1) 91-92; 100-102 (Caecin.); 136-137 (Q.Rosc.); 169 (Tuli.); 178 (div. in Caec.); 255-257 (Cael.); vgl. auch die jeweils getrennte Widerlegung der einzelnen praeiudicia, die gegen Cluenlius sprechen sollen (Cluenl. 88-134). Es ist natürlich weder a b z u s c h l i e ß e n , daß mehrere Kläger denselben Anklagepunkt behandelten, noch daß mehrere Verteidiger über denselben Komplex sprachen; zur Abgrenzung von den Vorrednern s. z.H. Mur. 54; Caci. 23; Balb. 17; s. auch Α. 98. 11: voluplas el luxuria; 12: luxuria, 20: avarilia, luxuria·, ähnliche Vorwürfe gegen Flaccus weist Cicero auch nur zurück, indem er dessen militärische Leistungen betont

(5).

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genannt 45, 48 und vor allem 61-62). 1 0 6 Daß er ähnlich einzelne Vorwürfe immer neu wiederholt, wird unten noch kurz angedeutet werden (s. S. 150-151). Schließlich weiß Cicero bestimmte Gesichtspunkte so zu trennen, daß ihre Inkonsequenz den Hörern nicht bewußt wird, etwa wenn er sich generell gegen Zeugen und Zeugenaussagen wendet und sich selbst auf Zeugen beruft und stützt.107 Denn er wünscht sich ebensowenig, daß sein Publikum über die innere Logik eines Plaidoyers insgesamt nachdenkt wie über die Konsequenzen, die sich aus einzelnen Äußerungen ergeben würden, wenn man sie bis zu Ende denkt.108 Stärker noch als die Auswahl ist der Aufbau der Reden also nicht von einem Schema, sondern von einem Höchstmaß an Flexibilität geprägt. Sie zeigt sich auch darin, daß der Redner bald eine (angebliche) Gliederung einfügt, um die Vollständigkeit seiner Argumentation zu unterstreichen, bald bewußt auf eine partitio verzichtet, wenn es seinen Zwecken dienlich erscheint.109 Denn oberstes Gesetz auch für den Aufbau ist der Erfolg. 111

Aus der Fülle dessen, was zum Wortgebrauch und zur stilistischen Gestaltung der Reden Ciceros gesagt werden könnte, seien nur wenige Erscheinungen herausgegriffen, zunächst die häufige Wiederholung einzelner Wörter als Mittel ständiger Beeinflussung der Hörer und vor allem als Element sowohl der Vorbereitung der Argumentation als auch ihrer Rekapitulation am Schluß.

Vgl. auch die Äußerungen über Pompcius' Milde (13 und wieder 36 und 67), über die günstige Gelegenheit seines Aufenthaltes im Osten (13 und 45), über die Gefährdung des Imperiums (33-35 und 55), über die P.rmordung der Römer durch Mithridates (7 und 11), s. ferner S.Rosc. 54 und 58; Tuli. 7-12 und 38-43 (Stroh (s. A. 1) 166); in dieser Rede (Tuli.) nutzt Cicero die Erörterung des Begriffes dolo malo, um immer wieder von den Untaten des Prozcßgcgncrs zu sprechen: 32-34; 40, 42; 53; 55; Font. 14 und 45-46 (Zeugen aus Massilia und Narbo). Cicero wendet sich generell gegen Zeugen (nicht nur die gallischen) Font.frg. 6 (Schoell); 21-28, und beruft sich selbst auf Zeugen Font. 18; 45-46, und fordert weitere 11; 16; ähnlich beruft er sich auf eigene Zeugen Cael. 24; 54, zeigt Verachtung für die der Gegner 19; 20; 66; in dieser Rede tritt er auch als Garant für Caelius' sittliches Verhalten auf (9-10) und äußert selbst laxe Anschauungen (28; 39-43). In der Rede für Cluentius stützt er sich auf praeiudicia gegen Oppianicus (49-62), fordert dagegen von den Richtern Unvoreingenommenheil (6) und wertet die gegen Cluentius sprechenden praeiudicia gering (88-137); einen plötzlichen Tod nimmt er dort als Zeichen eines Giftmordes (30-31), doch nicht, wo er Cluentius rechtfertigt (166-168; 174). Die widersprüchlichen Meinungen, die Cicero in verschiedenen Reden äußert, sind so zahlreich, daß sie hier nicht aufgeführt werden können. Vgl. dazu Classen (s. Α. 103) 81; Clucnt. 54 behauptet Cicero, im Scamanderprozeß sei dieser nur verbo Angeklagter gewesen, re vera Oppianicus; das hieße, daß Cicero re vera Oppianicus verteidigt hätte. Vgl. u. S. 131 mit A. 9, ferner C. J. Classen, RhM 108, 1965, 126-127 mit A. 82 und 84; zur Rede für Caecina s. Stroh (s. A. 1) 93; 100.

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Schon in seiner ersten Rede betont Cicero die Bedrohung seines Mandanten, indem er in immer neuer Wiederholung mit mancherlei Variation unterstellt, Naevius trachte nach dessen Vermögen, Ruf, Existenz oder sogar Leben (fortume, fama et fortunae, caput, vita, sanguis), während er daneben Macht, Einfluß und Redekunst seiner Gegner hervorhebt, opes, gratia, eloquentia, oder wie er später mit bezeichnender Erweiterung auch formuliert, vis et gratia, gratia et potentia und gratia, vis et potentia, zu denen er iniquitas und iniuria gesellt, durch die die Wahrheit und Billigkeit (d.h. die eigene Sache) gefährdet werden. Die häufige Verwendung von ius und aequitas (auch aequus) in der Rede für Caecina lehrt unmittelbar, auf welchem Wege Cicero den Ansprüchen seines Mandanten zum Erfolg zu verhelfen bemüht ist, ebenso die mehrfach wiederkehrende Bezeichnung des Gegners als stultus und improbus, des gegnerischen Anwaltes als callidus\uo in der Rede für Cluentius sucht Cicero die Richter durch besonders betonte Verwendung der Bezeichnung mater für die Unmutter Sassia zu beeindrucken. Die Plaidoyers in politischen Prozessen lassen politische Schlagwörtcr in den Vordergrund treten, in der Verteidigung des C. Rabirius gegen die Perduellionsklage etwa popularis und libertas und zur Charakterisierung des Anklägers T. Labienus, der auf das alte Verfahren zurückgreift, crudelis, in den Reden für Murena, für Sulla, für Flaccus und für Sestius res publica, civitas, salus, senatus, boni, daneben metus und terror, zur Bezeichnung der Gegner scelus, audacia und vis. Zugleich fällt die Vielfalt der Schimpfwörter auf, mit deren Hilfe Cicero Clodius in den Augen der Hörer herabzusetzen bemüht ist. Ähnlich sucht er Clodius selbst nach dessen Tode in der Rede für Milo in ein ungünstiges Licht zu rücken durch die häufige Wiederholung von scelus, audacia, vis und furor und zugleich für den Zusammenstoß mit Milo verantwortlich zu machen durch Bezeichnungen wie insidiator und latro, während er für Milo ein Eintreten für den Staat und das öffentliche Interesse und das Allgemeinwohl in Anspruch nimmt (salus, res publica, boni, merita). Auch die Reden vor Caesar haben politischen Charakter; doch zeigen die Schlagwörtcr, die hier immer neu begegnen, in welcher Weise Cicero sich der politischen Entwicklung anpaßt: in der Rede für Ligarius begegnen misericordia, venia, ignoscere, dementia und im Hinblick auf den Angeklagten erratum und error, in der Rede für den König Deiolarus noch häufiger dementia, während die Anklage als crimen fictum, einer der Ankläger als servus und fugitivus, der Angeklagte betont als rex herausgestellt wird. Noch stärker als die Prozcßredcn sind natürlich die politischen Reden von politischen Schlagwörtern geprägt. Doch fällt daneben in der Rede de lege Manilia die Verwendung von unus auf, die, die Widerlegung der gegnerischen Argumente vorbereitend, Pompeius frühzeitig als einzig möglichen Kandidaten empfehlen soll, der den Königen im Osten - auch auf rex, regius, regnum und regnare liegt

Die Häufigkeit von vis ist durch die Formulierung des Ediktes bestimmt, auf die sich Aebutius stützt.

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der Ton - entgegenzutreten in der Lage ist.111 Polemische Reden wie die gegen Catilina heben die Verantwortung des Konsuls für den Staat (salus, res publica, boni) und die eigenen Verdienste und Vorsichtsmaßregeln hervor {diligentia, praesidia, vigilare, auch conservare) ebenso wie die Gefahren, die von den Gegnern drohen (pernicies, incendia, fiamma, mors, interitus), und deren Verwerflichkeit (scelus, audacia, furor, pestis). Dankreden wie die nach der Rückkehr Ciceros aus dem Exil unterstreichen neben der Sorge für das Allgemeinwohl {res publica, salus) vor allem die eigenen Verdienste und deren Anerkennung durch das römische Volk (merita, beneficia, dignitas, auctoritos). Aufschlußreichcr für Ciceros Methode sind fast die Prozcßreden, in denen das politische Element zurücktritt: In der Verteidigung des Archias stellt er artes, artium studia, disciplina, ingenium und litterae besonders heraus, in der Verteidigung des Plancius vor allem dessen dignitas und virtus, in der Verteidigung des C. Rabirius Postumus die Probleme dessen, der sich mit einem König (rex) und dessen libido einläßt, dazu ganz freimütig die temeritas und stultitia des Mandanten. So spiegeln die Wörter, mit denen Cicero eine Rede durchzieht, nicht nur die jeweilige Ausrichtung seiner Verteidigung (bzw. seines Angriffs). Sie lassen auch leicht erkennbar werden, wie Ciceros Vorgehen nicht nur auf der Auswahl und Anordnung der Argumente beruht, sondern auch auf der Sprache. Sie wird zum grundlegenden Element der rhetorischen Strategie, die sich unabhängig von den Sachproblcmen auf Wörter mit hohem emotionalen Gehalt stützt und diese in psychologisch überlegter und wirksamer Form verwendet, d.h. gern frühzeitig, aber nicht immer gleich betont, einführt und dann häufig wieder verwendet und ihnen damit den Charakter des Selbstverständlichen, Natürlichen, Angemessenen gibt, um das subjektive, wertende, polemische Element nicht spürbar werden zu lassen. Über die stilistischen Mittel, die Cicero in seinen Reden einsetzt, ließe sich ein Buch schreiben.112 Besonders auffällig ist ihr Einsatz in den einleitenden und abschließenden Partien. Hier können nur noch ein paar Bemerkungen folgen, die zeigen, wie Cicero sie für seine Darstellungen der Tatbestände und seine Argumentationen nutzt. Wo Cicero in einer Schilderung an einen heiklen Punkt gelangt, bedient er sich verschiedener Auswege. Wie schon oben angedeutet (s. S. 142), bricht er eine Erzählung gern ab, indem er erstaunte oder entsetzte Ausrufe einfügt oder Fragen stellt, und wenn die Hörer dann nicht mehr ganz sicher sind, ob ihnen die

Unus: 5; 13; 27; 28; 29; 31; 33; 35; 44; 46 als Vorbereitung der Widerlegungen 52-56 und 59-63, dann 67-68. S. zuletzt M. von Albrecht, Artikel .Tullius 29", in RE Suppl. ΧΠΙ, 1237-1347, bes. 1241-1252; 1289-1293; 1300-1314 (Lit.); wichtig: L. Laurand, Études sur le style des discours de Cicerón, Paris 4 1936-1938; einige weitere Literatur zitiert bei J. B. Hofmann, A. Szantyr, Latcinischc Syntax und Stilistik, München 1965, LVHI-LIX.

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Fakten alle vorgelegt worden sind, erklärt er die Darlegung für abgeschlossen.113 In der Rede für Milo beschreibt Cicero die Streitigkeiten zwischen Clodius* und Milos Anhängern, erst den Angriff der Clodianer, dann die Reaktion der Milonianer. „Von den Sklaven Milos, die ihrem Herrn treu ergeben und kampfbereit waren", so sagt er, „wurde ein Teil getötet, ein Teil tat, da er sah, daß am Wagen gekämpft wurde, da er gehindert wurde, seinem Herrn zu Hilfe zu eilen, da er von Clodius selbst hörte, daß Milo getötet sei, und er dies auch selbst tatsächlich glaubte - ich will nämlich offen reden, nicht um die Anklage zu widerlegen, sondern wie es geschehen ist - ein Teil tat ohne Befehl, Wissen oder auch nur Anwesenheit seines Herrn das, was jeder sich von seinen Sklaven in einer solchen Lage gewünscht hätte" (29). Mit dieser Formulierung läßt Cicero den Tod des Clodius unerwähnt und die Rolle Milos weitgehend unklar, und doch fährt er fort: llaec siculi exposui ita gesta sunt, iudices, um dann gleichsam das Resultat des vorher vage mit facere umschriebenen Vorgehens der Sklaven Milos zusammenzufassen: insidiator superatus est, vi vieta vis (!) vel potius oppressa virtute audacia est (30). Mit Ausrufen und Fragen beginnt Cicero auch, wo er sich mit einem mißlichen Argument auseinanderzusetzen hat. Ausrufe ermöglichen es ihm, einen Vorwurf oder einen Einwand der gegnerischen Seite von vornherein ungünstig zu bewerten, Fragen, ihn zu .zerreden', zu mildem, einzuengen, zu verändern oder von ihm abzulenken. 114 So läßt die stilistische Gestaltung oft unmittelbar spürbar werden, ob sich der Redner dem Gegner überlegen fühlt oder ob er dessen sichere Position nur mit dem Einsatz verstärkter Emotionen glaubt zum Wanken bringen zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, weiß Cicero auch andere Möglichkeiten der Sprache zu nutzen. Belastende Formulierungen des Gegners werden von ihm bewußt vermieden oder abgewandelt115 und in der Regel nur dann aufgenommen, wenn ein Vorwurf oder ein Anklagepunkt überzeugend widerlegt erscheint oder der Gegenseite angelastet werden soll.116 Denn Wortwahl und Stil dienen nicht nur der Verteidigung (durch Verharmlosung und Abschwächung), sondern auch dem Angriff, der Intensivierung oder der Dramatisierung einer Aussage, die den Gegner herabsetzen oder treffen oder die von ihm drohende Gefahr hervorheben soll z.B. - um nur einige Erscheinungen aufzugreifen - durch singulare Wörter,

Clucnt. 47-48, dann 49; Caci. 61-66; vgl. auch Lig. 2-5; sehr kurze Darstellungen des eigentlich Wesentlichen: S.Rosc. 18 (19-29: Vorgänge posi rem)·. Tuli. 21 (14-20: Vorgänge ante rem)·. Arch. 6-7 (4-6: ante rem). S. o. A. 78-80. Vgl. o. A. 73. S. Classen, (s. Α. 103) 71-72 (Caci. 10; 15), ebda., 82 auch zum Gegenvorwurf, vgl. f e m e r S.Rosc.: occidisse Roscium patrem (37) dem Gegner vorgeworfen: 32 u. ö., entsprechend Cluent. Giftmord (165; 166; 169): 30; 31; 40; Sest. Gewalt (75 Z. 30; 77 Z. 24; 80 Z. 16; 24): 76 Z. 6; 13; 78 Z. 14; 22-24; 92 Z. 19; Vatin. Tyrann: 23; Mil. insidine (28; 47; 49; 52, vgl. auch 23; 31): 6; 27; 30; 32; 60; 88, vgl. 37.

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durch geistreiche oder klangvolle Wortspiele, 117 durch ironische Bezeichnungen, 118 durch bildliche Wendungen, 119 durch Dichterzitate,120 durch Sprichwörter und Sentenzen, 121 überhaupt durch einzelne Wörter oder wirkungsvoll gestaltete Sätze, die besonders eindringlich an die Gefühle der Hörer appellieren.122 Auch der plötzliche Wechsel des Tones bei der Schilderung eines Vorganges oder innerhalb einer Argumentation wird seine Wirkung auf die Hörer ebensowenig verfehlt haben 123 wie die insinuierende Beschreibung, für die ein schönes Beispiel schon in der ersten Rede begegnet. Nach einem weitgehend nüchtern gehaltenen Bericht über C. Quinctius und Nacvius heißt es (14): moritur in Gallia Quinctius, cum adesset Naevius, et moritur repentino. Mag der Zusatz cum adesset Naevius noch als Zcichcn des Bemühens um vollständige Information erscheinen; die korrigierte Wiederholung et moritur repentino soll fraglos einen Verdacht gegen Naevius wecken, ohne daß der Redner ihn ausspricht.124 Will man Ciceros Kunst der Überredung erkennen und verstehen, würdigen oder entlarven, darf man sich nicht damit begnügen, die einzelnen Phänomene zu registrieren; man muß ihre Funktion zu ermitteln suchen, indem man die ihnen jeweils zugrundeliegendc Absicht, ihre wechselseitige Bedingtheit und ihr Zusammenspiel erfaßt - etwa wie mit Mitteln der elocutio eine Schilderung so gestaltet wird, daß eine wesentliche Handlung unerwähnt bleibt (inventio), damit sie später auch in der Argumentation übergangen werden kann (disposino), oder wie ein Vorgang durch eine entsprechende sprachliche Einkleidung so entstellt

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Vgl. A. Haacke, De Ciceronis in oralionibus faceliis, Schulpr. Burg 1886, 3-16; H. Holst, Die Wortspiele in Ciceros Reden, SO, Fase. Supplei. 1, Oslo 1925 (Ambiguum und Paronomasie; vieles bleibt dabei unberücksichtigt). Vgl. dazu nur A. llaury, L'ironie et l'humour chez Cicéron, Leiden 19SS, dessen Beispiele sich leicht vermehren lassen. Das Thema verdiente eine neue Untersuchung, da die alten Arbeiten nicht ausreichen: J. Straub, De tropis et figuris, quae inveniunlur in oralionibus Demoslhenis et Ciceronis, Diss. phil. Würzburg 1883; M. Wicgandl, De mclaphorarum usu quodam Ciceroniano, Diss. phil. Rostock 1910. Eine Liste gibt M. Radin, CJ 6, 1910/11, 211-213, vgl. auch 209-211; ich vermute, daß z.B. auch Quinci. 10 (mullís iniuriis iactatam atque agiiatam aequilatem in hoc tandem loco consistere) auf einen Vers anspielt, vgl. Verg. Aen. 1, 628-629. M. Swoboda, De proverbiis a Cicerone adhibiiis, Torun 1963, beschränkt sich auf die Sprichwörter und läßt Sätze wie mors honesta saepe vitam quoque turpem exornat, vita turpis ne morti quidem honestae locum relinquit (Quinci. 49) unberücksichtigt, vgl. auch Quinci. 12 (wie Aischin. 3, 78). J. C. Davies betont, daß .phrasal abundanlia' vor allem der verstärkten Beeinflussung der Hörer dient, und zwar durch Verdeutlichung der Sachaussage ebenso wie durch Verstärkung des Appells an die Gefühle (CQ 60, 1968, 142-149, s. auch 303-314). S. auch S. 151-152 mit A. 113. Zu anderen plötzlichen Todesfällen s. A. 107 und Cluenl. 27; 40 (vgl. 22); Scaur, frg. h (auch 1 = Marl. Cap. 5, 441); Cael. 58; insinuierende Bemerkungen oder Schilderungen: S.Rosc. 18; dom. 36; 83; 92 (vgl. Sest. 116; har.resp. 9; Cael. 32; 36 u. ö.); 139; Cael. 59-60.

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wird, daß der Redner später seine Argumente auf .seine' Fassung aufbauen kann, oder wie mit Hilfe von Sprache und Stil eine Person oder ein Ereignis eingeführt wird, das nicht zur Sache gehört, aber dem Redner die Möglichkeit gibt, Emotionen zu wecken. Das alles kann nur am Beispiel einer einzelnen Rede aufgezeigt werden. Welches sind die Absichten und Ziele, die Cicero mit seiner Redekunst verfolgt? E r will den Hörer j e w e i l s zu der Sicht und Beurteilung der zur Verhandlung oder Beratung stehenden Vorgänge und Personen führen, die er selbst sich wünscht, indem er einen von ihm bestimmten Ausschnitt aus dem Gesamtgeschehen vorführt, bestehende Vorurteile abbaut und neue weckt und sich eher an die Gefühle als an das Denkvermögen seines Publikums wendet. Um dies zu erreichen, bemüht sich der Redner, eine für den Zeitpunkt, die Hörer und den Gegenstand passende Auswahl von Tatsachen, Personen und Argumenten in wohl überlegter Anordnung und wirkungsvollem Ton vorzulegen und damit seine ganze Kunst in allen Aspekten der Beeinflussung des Publikums zu widmen. 1 2 5

Ausführlicher sind die hier angedeuteten Probleme behandelt in: C. J . Classen, Recht Rhetorik Politik, Darmstadt 1985.

Ciceros orator perfectus: ein vir bonus dicendi peritusl Im Jahre 1943 veröffentlichte W. L. Grant einen kleinen Aufsatz, 1 in dem er zu beweisen sucht, daß Cicero entgegen der Auffassung von L. Radermacher2 die Forderung moralischer Vollkommenheit an seinen orator perfectus stellt Grant hält Radermacher entgegen, daß Cicero durch sein Interesse an der Philosophie und durch praktische Überlegungen dazu gebracht wurde, „to devote a fair amount of attention to the moral character of the orator"; 3 dabei beruft er sich auf eine Reihe von Stellen, die teilweise jedoch wenig geeignet sind, seine These zu stützen. Ziel dieses kleinen Beitrages soll es sein zu klären, ob und wann Cicero auf moralische Aspekte der Beredsamkeit eingeht, welche moralischen Forderungen er an den Redner stellt und aus welchen Gründen er auf deren systematische Erörterung in De oratore verzichtet. Zunächst sei der Aussagewert einiger der Stellen überprüft, die Grant anführt, um seine Auffassung zu belegen. Er verweist, um zu zeigen, daß „if a man delivers himself of, say, a scathing vituperation, there naturally will arise in the minds of his hearers the question of his right to judge others", 4 auf einen Abschnitt im zweiten Buch De oratore (348-349 Antonius spricht). Doch geht es dort allein um das Problem, daß ein Redner, der Lobreden zu halten hat, alle virtutes kennen muß, nicht etwa darum, daß der sie auch besitzen muß. Daß eine solche .sokratischc' Konsequenz (vgl. de or. 1, 204) nicht gezogen zu werden braucht, nicht einmal gezogen werden darf, ergibt sich schon daraus, daß Antonius gleich anschließend von tadelnden Reden spricht, die aber natürlich nicht voraussetzen, daß der Redner selbst auch alle Laster hat, sondern nur, daß er sie alle kennt; die Formulierung vir bonus, die hier begegnet, wird für den Gelobten, also den Gegenstand der Rede, verwendet, nicht für den Redner selbst.5 Allein von philosophischer Kenntnis (nicht vom Besitz der Tugenden usw.) spricht Cicero auch im dritten Buch De oratore (142-143), wo er Crassus die Forderung nach dem orator doctus wiederholen läßt, dem die größte Anerkennung gebührt, größer als dem Philosophen, der sich nicht auszudrücken

W. L. Grant, α 38, 1943, 472-478. L. Radcrmachcr, RhM 54, 1899, 285-292. Grani (s. Α. 1)472. Grant (s. Λ. 1) 472-473. 2, 349: simul est illud ante oculos, nec bonum virum proprie el copiose laudari sine virtulum, nec improbum notori ac vituperari sine vitiorum cognitione satis insignite atque aspere posse.

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vermag. Auch dieser Abschnitt kann nicht als Beleg dafür zitiert werden, daß die virtus oratoria „will result especially from the author's study of philosophy."6 Denn wenn es auch heißt in oratore perfecto inest illorum omnis scientia (3, 143; vgl. schon 1, 20), so ist schon vorher deutlich geworden, worauf sich dieses Wissen vor allem bezieht (3, 80 s. u. A. 27); und selbst wenn es die Tugenden einschlösse, würden deren Besitz und Anwendung nicht unmittelbar daraus folgen.7 Schließlich kann auch die Antwort, die Cicero seinen Sohn in den partitiones oratoriae geben läßt (83), nachdem er selbst die laudandi vituperandique rationes vorgeführt hat (70-82), Grants These nicht stützen. Denn Q. Cicero sagt mit keinem Wort, daß eine Beziehung zwischen dem Lob anderer und dem Gelobtwerden besteht oder daß erworbene (erlernte) moralische Qualitäten dazu führen, daß er als Redner gelobt wird. Wichtiger und aufschlußreicher für Ciceros Position sind die Ausführungen, die er Antonius im zweiten Buch De oratore in den Mund legt: valet igitur multum ad vincendum probari mores el instituía et facta et vilam et eorum, qui agent causas, et eorum pro quibus, et item improbari adversoriorum, animosque eorum apud quo s agetur, conciliari quam maxime ad benevolentiam cum erga oratorem tum erga ilium, pro quo dicet orator ( 1 8 2 ) . Die folgenden Sätze lehren, welchem Aspekt Antonius die größte Bedeutung beimißt und wie er sich dessen Verwirklichung vorstellt. 8 Er geht aus vom conciliari, das sich durch dignitas, res gestae und existimatio vitae erreichen läßt, und fährt fort, quae facilius ornari possunt, si modo sunt, quam fingi, si nulla sunt. Nicht also was tatsächlich an dignitas usw. gegeben ist, ist allein ausschlaggebend, sondern was sich daraus machen läßt, wobei dem Redner äußere Faktoren wie lenitas vocis, vultus (pudoris significatio),9 verborum comitas ebenso helfen können wie facilitatis, liberalilatis, mansuetudinis... signa, kurzum alles das, was probi und demissi eignet. Sie sollen die Rede bestimmen, weil es gilt, durch die Rede die mores... iustos, Íntegros, religiosos, tímidos, perferentes iniuriarum der Betroffenen zum Ausdruck zu bringen, und weil sie

Grant (s. A 1) 473 mit Α. 7 und 8. Die Formulierung virtus oratoria ist irreführend und wird nicht durch part. 79 gedeckt (noch weniger durch Brutus 221). Darin, daß die Stoiker die eloquentia als eine der virlutes ansehen und als sapientia bezeichnen (de orat. 3, 65; cf. 1, 83; 2, 55), zeigt sich, daß man in ihr mehr als eine copia dicendi sehen kann; diese Auffassung wird von Cicero aber nur zitiert, nicht übernommen (cf. 1, 83). Nach Grant (s. Α. 1) 474 zeigt dieser Abschnitt, daß „Cicero refers to the bias... that previous knowledge of the speaker's character produces." Vgl. zur Formulierung Cicero, De oratore, Ed. A. S. Wilkins, Oxford 1892, 316, der auf E. M. Cope, An Introduction to Aristotle's Rhctoric, London 1867, 151, verweist, der seinerseits von Quintilians und Ciceros auetoritas spricht, aber nur Quinlilian zitiert (inst. 4, 1, 6-12). Tatsächlich läßt Cicero Antonius im Anschluß an seine allgemeine Behauptung valet multum ad vincendum probari mores... nur konkrete Ratschläge geben, wie man im Einzelfall sein ήθος als Redner zur Wirkung bringen kann - nichts also zur „previous knowledge" sagen. Zum Text s. Cicero, De oratore, lid. Κ. Kumaniecki, Leipzig 1969.

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gleichzeitig durch eine gefühlsbeslimmte Form die mores des Redners (allerdings nur dem Anschein nach: quasi) wiedergeben kann 10 und zu bewirken vermag, ut probi, ut bene morati ut boni viri esse videantur (se. oratores). Was Antonius hier fordert, ist eine Redeweise, die den Redner als einen braven Mann erscheinen läßt, weil es zum Erfolg beiträgt (ad vincendum), wenn die Persönlichkeit und das Verhalten eines Redners Billigung finden; er fordert aber nicht, daß der Redner tatsächlich gewisse moralische Eigenschaften besitzen muß, um reden zu können oder als guter Redner zu gelten. Und wenn es von der eindrucksvollen Darstellung der mores des Angeklagten heißt, sie habe, wenn ansprechend und mit Einfühlungsvermögen vorgebracht, solche Kraft, daß sie oft mehr vermöge als die Sache selbst (2,184), so wird vollends deutlich, nach welchen Maßstäben hier geurteilt wird." Gewiß verweist Antonius auch später noch auf seine Ausführungen (2,211; 213); doch machen seine Formulierungen auch dort deutlich, daß es darum geht, durch die stilistische Gestaltung das Bild eines vir bonus zu wahren, also einen solchen Eindruck zu vermitteln. Ergänzend sei an die Behandlung des ηθικόν im Orator erinnert (128), zu der J. E. Sandys bemerkt: 12 „To ηθικόν is here described as ,that which bears upon men's different natural dispositions and characters, and all the associations of life.' In this vague description Cicero makes no effort to discriminate clearly (as Aristotle does) between the character of the speaker and that of the audience, but leaves us to conclude that the proper province of To ηθικόν lies in that relation between the two which is brought about by speech." 13 Offensichtlich ist sich Cicero also der Bedeutung bewußt, die der Persönlichkeit des Redners und deren Qualitäten für den Erfolg der Rede zukommt. Allerdings genügt nach seiner Auffassung für den Erfolg offenbar, daß der Redner den Hörern den Eindruck vermittelt, positive Eigenschaften zu besitzen, ein vir bonus zu sein. Andererseits ist daran zu erinnern, daß Antonius gleich zu Beginn des Programms, das er im zweiten Buch De oratore skizziert, formuliert: Sit enim mihi tinetus litteris, audierit aliquid, legerit, ista ipsa praecepta aeeeperit; temptabo quid deceat, quid voce, quid viribus, quid spiritu, quid lingua efficere possit. si intellegam posse ad summos pervenire, non solum hör tabor ut elabore i, sed etiam, si vir quoque bonus mihi videbitur esse obsecrabo. tantum ego in excellente oratore et eodem bono viro pono esse, ornamenti universae civitati. sin videbitur, cum omnia summe fecerit, tarnen ad me-

Wilkins (s. A. 8) 317 übersetzt „seems to give a picture of the character;" vgl. videantur im folgenden Salz. Vgl. auch die folgende Erörterung (185-216) über die Bedeutung der Erregung von Affekten bei den Zuhörern. Cicero, Orator, Bd. J. Ii. Sandys, Cambridge 1885, 131. Aristoteles unterscheidet in der Rhetorik drei Auffassungen von dem, was das ήθος des Redners zur Wirkung der Rede beiträgt, 1) ήθος wie es sich in der Rede zeigt 1356 a 5-9; 2) ήθος wie es dem Hörer vorher bekannt ist 1356 a 9-10; 3) ήθος trägt nicht zur Wirkung bei 1356 a 10-13.

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diocris oratores esse venturas, permitlam ipsi quid velit; molestus magno opere non ero. (2, 85). Die Bedeutung von vir bonus ist verschieden interpretiert worden, man hat die politische Komponente betont,14 das Element des Wissens und den moralischen Aspekt. 15 Selbst wenn man den anderen Faktoren das größere Gewicht beimißt, wird man die ethische Seite nicht leugnen können. Schließlich betont W. L. Grant, daß „the moral ideal that Cicero sets up" dignitas und gravitas fordert,16 die ihn die Größe und das Ausmaß der Aufgaben erkennen lassen, die er als Redner auf sich genommen hat. Die genannten Begriffe sind zu komplex, als daß sie hier erörtert werden könnten. 17 Die von Grant zitierte Passage (2, 333-334) betont speziell die Bedeutung der gravitas (333) oder dignitas (334) für die symbulcutische Rede und nennt dann drei Aspekte, die wesentlich sind: nam et sapientis est consilium explicare suum de maximis rebus et honesti et diserti, ut mente providere, auctoritate probare, oratione persuadere possis. Zuglcich machen die weiteren Ausführungen deutlich, daß Antonius sie als wünschenswerte Faktoren ansieht (2, 334), 18 die er jedoch nicht als unerläßlich bezeichnet. Darüber hinaus ist daran zu erinnern, daß es sich um Begriffe handelt, die keineswegs uneingeschränkt als moralisch gelten können. 19 Dignitas kann durch das Mienenspiel bewirkt werden (jedenfalls der

Cicero, De oratore. Ed. K. W. Pidcrit, Leipzig 18734. 204 „tüchtige conservative Gesinnung;" zögemd Wilkins (s. A. 8) 269 zur Stelle „of sound political principles;" vgl. auch allgemein zu dem Redner Cicero, Brutus, Ed. A. E. Douglas, Oxford 1966, XLn, der zugleich die moralische Komponente betont. A. Gwynn, Roman Education, Oxford 1926, 231; H.-K. Schulte, Orator, Frankfurt 1935, 45, überhaupt 41-47; K. Harwick, Das rednerische Bildungsideal Ciceros, Berlin 1963, 35; A. Michel, Rhétorique et philosophie chez Cicéron, Paris I960, erörtert den Begriff ausführlich in seiner Vielfalt und historischen Entwicklung, 11-46; SO; 64; 7879; 604-606; 655 und zeigt die Verflechtung von politischen und ethischen Aspekten 15-16; 655; vgl. auch die Unterscheidung von Cicero, De offieiis, Ed. H. A. Holden, Cambridge 1899®, 165 (zu 1, 20): „Vir bonus in a political sense is either .the patriot' or .the aristocrat' (de leg. ΙΠ 2), in a legal sense ,lhe man of honour' (II 38, ΙΠ 77), in a philosophical sense .the righteous man,' the .wise man' (Tuse. V 28)"; T. Sinko, De Romanomm viro bono, Rozprawy Akademii Umiejçtnosci Wydziaï Filologiczny, ser. II, 21, Krakau 1904, 251-300 versucht verschiedene Bedeutungsnuancen aus den verschiedenen Zusammenstellungen mit anderen Epitheta zu ermitteln (253-258), ehe er einige Gruppen charakterisiert, auf die Cicero (und andere) die Bezeichnung (vir) bonus oder (viri) boni anwenden (269-287). Grant (s. Α. 1)474. J. Hcllcgouarc'h, Le vocabulaire latin des relations et des partis politiques sous la république, Paris 1972 2 , bcs. 388-411 (dignitasJ; 279-290 (gravitasj; 295-314 (aucioritas). Ergo in suadendo nihil est oplabilius quam dignitas; vgl. auch die weiter von Grant zitierte Stelle off. 2, 48. Vgl. Hellegouarc'h (s. A. 17) 306 (auetoritas)\ 279 (gravitas; teilweise moralisch); 391 (dignitas).

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Eindruck von dignitas: orat. 60 ) und kann nicht zuletzt selbst durch eloquentia erzeugt werden.21 Einige kurze Bemerkungen seien zu den beiden Aspekten angeschlossen, auf die Grant ergänzend eingeht, die Ehrlichkeit der Gefühle und die Grenzen der Bereitschaft des Redners, Verteidigungen zu übernehmen oder im Interesse des Klienten die Unwahrheit zu sagen. Für den ersten Komplex verweist er auf die Forderung, die Cicero Anonius in den Mund legt, daß die jeweiligen Gefühle, die der Redner zeigt, „absolutely sincere" sein müssen, und verweist auf de orat. 2, 189-190 und 195. 22 Tatsächlich berichtet Antonius dort aus seiner eigenen Erfahrung, daß er nie bei den Richtern Gefühle habe erregen wollen, die er nicht selbst empfunden habe (2, 189; 194-196); er fügt hinzu, daß dies keineswegs leicht zu verwirklichen sei, zeigt dann aber, wie es geschehen kann, wie die Sache den Redner packt oder richtiger der Redner selbst von der Sache gepackt wird, gerade weil es auch um ihn selbst geht (192, seine fides, officium, diligentia)', die Echtheit der Gefühle ist verknüpft mit der Echtheit der Sorge um den eigenen Ruf, der Sorge, für einen vir bonus gehalten zu werden (2, 192). Ausschlaggebend ist also nicht, daß die Gefühle ehrlich gemeint sind, sondern daß sie ehrlich erscheinen.23 Auch hier zeigt sich deutlich, daß Cicero davon ausgeht (und impliziert), daß der Redner vir bonus ist und jedenfalls mit Gewinn einen solchen Eindruck erweckt. Das Problem der Bereitschaft, einen Klienten zu verteidigen, wird von Cicero in De oratore nicht systematisch erörtert, und die Frage, ob ein patronus im Interesse seines Klienten die Unwahrheit sagen, Fakten entstellen 24 oder Argumente unterdrücken darf, wird höchstens gestreift. Damit ergibt sich, daß Cicero die Darstellung des orator perfectus nicht zum Anlaß nimmt, die auf Cato zurückgeführte Definition vir bonus dicendi peritus zu zitieren, geschweige denn zu interpretieren. Andererseits vertritt er nicht nur die Meinung, daß zur Wirkung eines Redners beiträgt, wenn er als vir bonus erscheint (dem Publikum den Eindruck vermittelt, vir bonus zu sein). Er fordert S. auch z. B. Brutus 239 {malus). Vgl. Hellegouarc'h (s. A. 17) 404 A. 8 (mit Verweis auf comm. pet. 2; de orat. 1, 34 (nicht geeignet); off. 2, 66; ad. Q. fr. 2. 15, 1); s. femer de inv. 1, 5, Z. 13-14; Phil. 7; auch auctorilas kann durch eloquentia gewonnen oder vermehrt werden, Hellegouarc'h ebda. 302 A. 13 (mit Verweis auf Mur. 24); die übrigen dort genannten Stellen (Plane. 62; de orat. 1 , 3 1 ; Brut. 239; 156) sind weniger passend. Grant (s. Α. 1) 476; vgl. dagegen C. J. Classen, Ciceros Kunst der Überredung, in: B. Grange, O. Reverdin (Ilrsgg.), Éloquence et rhétorique chez Cicéron, Genf 1982 (= Entretiens Fondation Hardt 28) 149-184 (= dieser Band S. 130-154). Wichtig ist außerdem, daß diese Gcfühlsausbniche ihre Wirkung tun; Grant (s. Α. 1) 476, Α. 38 zitiert neben de orat. 2, 188-190 orat. 131-132. Grant (s. Α. 1) 477-478 zitiert neben Stellen aus de invenlione zur wahrscheinlichen narralio (1, 9; vgl. auch de oral. 2, 80;) und zu Wahrscheinlichkeitsargumenten (1, 83; vgl. auch part. 5) oral. 50 (falsch zitiert) und de oral. 2, 314 (zur Stellung bzw. Berücksichtigung schwacher Argumente; s. auch 2, 294). Vgl. f e m e r die allgemeinen Bemerkungen part. 90-92 und off. 2, 51 iudicis esl semper in causis verum sequi, patroni nonnumquam verisimile eliam si minus sit verum, defendere, wofür er sich auf Panaitios beruft (s.o. S. 164).

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durch Crassus' Mund sogar, daß die eloquenlia mit probitas und prudentia verbunden werden sollte, da ohne diese Eigenschaften auch die Redefähigkeit (copia dicendi) niemanden zum Redner macht, sondern nur Wahnsinnigen eine Waffe in die Hand gibt.25 Doch ohne auf die Bedeutung dieser Forderung einzugehen, beschränkt er sich auf einen historischen Rückblick, der zeigt, daß die ursprüngliche Einheit von „recht handeln" und „gut reden" durch Sokrates zerstört wurde (3, 57-61; 72). Er tritt dabei zwar für deren erneute Verbindung ein (3,64), läßt aber keinen Zweifel, daß der Redner, dessen Aufgaben in großer Mannigfaltigkeit aufgezählt werden,26 von den Philosophenschulen nur lernen soll oder kann, was ihm für das Argumentieren nützlich ist:27 in utramque partem dicere; in omni causa duas contrarias orationes explicare; contra omne quod proposition est disserere (3, 80). In der folgenden Erörterung vom Wert und Ausmaß des Lernens begegnet der Begriff bonus mehrfach (3,84; 86), aber gerade nicht, um moralische Qualitäten zu bezeichnen; und wo von summa virtus gesprochen wird, ist es nicht etwa die, die vom vollkommenen Redner gefordert wird, sondern die eines einzelnen (Q. Tubero: 3, 87; vgl. Brutus 117). Die Eigenart der Erörterungen in den Büchern De oratore wirft zunächst die Frage auf, ob in anderen Schriften Ciceros moralische Qualitäten des Redners gefordert oder geschildert oder vorausgesetzt werden. Um nicht den Eindruck der Voreingenommenheit zu erwecken, beginne ich mit einer Reihe von Aussagen Ciceros über Wesen und Aufgaben des Orator, die W. Neuhauser zu diesem Thema zusammengestellt hat.28 Sie sind nicht vollständig; aber die von Neuhauser als repräsentativ angesehene Auswahl scheint mir sehr aufschlußrcich zu sein. Denn sie betont nicht nur die (selbstverständlichen) Forderungen, der Redner müsse zum Reden geeignet sein (Tuse. 1, 5) und angemessen, klar und „mit Schmuck" reden können (off. 1, 2); sie lassen alle anderen Aspekte zurücktreten, z.B. die eruditio (Tuse. 1,5) oder die philosophia (off. 1, 2). Wenn Cicero schließlich Cato von der Gefahr sprechen läßt, daß der Redner im Alter nachlassen könne, weil die Erfüllung seiner Aufgaben nicht nur von den geistigen, sondern auch von den physischen Kräften abhänge (Cato 28), so macht auch diese Stelle deutlich, wie gering die Rolle der moralischen Qualitäten angesehen wird, von denen man erwarten würde, daß sie im Alter zunehmen, ebenso wie jene, die Grant hervorhebt, dignitas, auetoritas, gravitas.

De orat. 3, 55, abschließend von Grant (s. Α. 1) 478 zitiert. 3, 76; vgl. auch schon 1, 32; 202-203; 2, 34-36. 3, 80; vgl. auch orat. 46; vgl. auch unten A. 31; Brutus 119-120 spricht vom Stil. Hier (de orat. 3, 80) heißt es: Wer mit der Disputierkunst der Philosophen rednerische Erfahrung verbinden kann, is sil verus, is perfeclus, is solus orator (ohne den geringsten Hinweis auf moralische Qualitäten). W. Neuhauser, Patronus und Orator, Eine Geschichte der Begriffe von ihren Anfängen bis in die augusteische Zeit, Innsbruck 1958, 158-159; es werden nur Stellen behandelt, an denen das Wort orator vorkommt. Für die vorliegende Fragestellung unergiebig: ac. 1, 10; leg. 3, 40; Dciot. 5.

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Auch die Vergleiche zwischen orator und anderen .Berufen', die W. Neuhauser zusammenstellt, ergeben keinen Hinweis auf moralische Eigenschaften, die den Redner auszeichnen (sollen); 29 im Gegenteil sei - im Hinblick auf Grants Ausführungen - ausdrücklich auf Tusc. 4, 55 hingewiesen: oratorem vero irasci minime decet, simulare non dedecet.30 Der Wert philosophischer Studien wird, wie in De oratore (3, 80), in dem gesehen, was die Philosophen zur Argumentationskunst oder zum Reichtum der Rede beizutragen vermögen.31 Die hier behandelten Stellen haben gezeigt, daß Cicero „the moral character of the orator" keineswegs vollkommen unberücksichtigt läßt, andererseits aber auch nicht so stark hervorhebt, wie man es im Hinblick auf das Cato zugeschriebene Dictum erwarten würde, das übrigens in keiner Schrift Ciceros zitiert wird. Es soll daher zunächst noch eine Auswahl einiger weiterer Stellen kurz erörtert werden, die die Rolle verdeutlichen können, die Cicero der Persönlichkeit, vila et mores, des Redners beimißt. In seiner Frühschrift De inventione nennt er unter den Faktoren, mit deren Hilfe das Wohlwollen der Hörer gewonnen werden kann, nostra persona und führt dazu aus: si de nostris factis et offieiis sine arrogantia dicemus; si crimina inlata et aliquas minus honestas suspiciones iniectas diluemus; si qua incommoda acciderint aut quae instent difficultates proferemus; si prece et obsecratione humili et supplici utemur. Neben Problemen und Möglichkeiten, die sich unmittelbar aus der konkreten Situation ergeben, nennt er (1,22) wie der Auctor ad Hcrcnnium (1,8) frühere Leistungen (oder Fehlleistungen und darauf aufbauende Vorwürfe), aber keine dem Redner eigenen Qualitäten, 3 2 während schon Aristoteles kurz bemerkt: εις δε εύμάθειαν οίπαντα άνάξει, εάν τις βούληται, καί τό επιεική φαίνεσθαι (rhet. 1415 a 37-38) und sich Quintilian in diesem Zusammenhang ausführlich mit der Person des Redners befaßt (inst. 4,1,6-10). Gleich sein erstes Lob der Beredsamkeit und des Redners im ersten Buch De oratore schließt Crassus mit den Worten: sic enim statuo, perfecti oratoris moderatione et sapientia non solum ipsius dignitatem sed et privatorum plurimorum et universae rei publicae salutem maxime contineri (1,34). Während sapientia hier sowohl an praktisch-politische Klugheit wie an Wissen und Bildung denken läßt, 33 deutet moderatio eher auf die Fertigkeit, diese mit Blick für das

159-163; höchstens Tusc. 4, 53 (foriiluäo). Es folgt eine Gegenüberstellung mit dem Schauspieler (ähnlich de orat. 3, 215) - dies im Gegensatz zu de oral. 2, 189-195 (Antonius s. o.). Neuhauser (s. A. 28) 161 zitiert ac. 2, 115 (unergiebig); fat. 3; ac. 1, 5; Tusc. 2, 5; vgl. auch A. 27. Antonius beschränkt sich de orat. 2, 320-321 in seinen Bemerkungen zum exordium ex nostra persona ganz auf den Klienten, während Cicero part. 28 sagt: ... initia benevolenti conciliandae comparantur aut meritis nostris aul dignitate aut aliquo genere virtutis et maxime liberalitatis offici iustitiae fidei. Vgl. U. Klima, Untersuchungen zu dem Begriff sapientia, Bonn 1971, 105-107.

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Angemessene zu nützen, als auf die Mäßigung als allgemeine sittliche Qualität;34 es geht um die Art der Anwendung der Beredsamkeit Im Rahmen der Schilderung seiner Verteidigung des Norbanus erinnert Antonius daran, daß er äußerste Zurückhaltung bei der Darstellung seiner eigenen mores gezeigt habe (de orat. 2,201); 35 die mores des Redners werden also von ihm selbst vorgeführt, aber es handelt sich nur um einen ganz beschränkten Aspekt seines Handelns (mores erga meos necessaries). Wie vielfältig Cicero den Begriff mores verwendet, lehrt eine Formulierung, die er Caesar Strabo in den Mund legt: Wer scherzhaft reden will, muß gleichsam mit einer für solche Dinge passenden Art von Wesen (natura) et moribus ausgestattet werden, daß auch sein Gesichtsausdruck sich jeder Art von Spaß anpassen kann (2,289). 36 An anderer Stelle jedoch (1, 222) läßt Cicero deutlich werden, daß wesentliche Charakterzüge und moralische Eigenschaften die Rede eines einzelnen prägen und ihr Überzeugungskraft und damit Erfolg verleihen. Entsprechend setzt Cicero im Brutus die Beredsamkeil einzelner mit deren mores37 oder deren vita3t unmittelbar in Beziehung. Es ist nicht möglich und nicht nötig, hier alle Belege dafür zu zitieren; es genügt zu betonen, daß die Darstellung der Geschichte der römischen Beredsamkeit Cicero dazu bringt, immer neu die Bedeutung des Charakters und der moralischen Grundsätze für die Wirksamkeit eines Redners herauszustellen. Aber auch andere Überlegungen und Erörterungen lassen immer wieder die moralischen Probleme erkennbar werden, vor die der Redner gestellt wird, und damit die von ihm zu fordernden Eigenschaften und Qualitäten. Ich nenne vor allem die Bemerkungen über die Macht und die Möglichkeiten der Rhetorik (und deren Mißbrauch) und die Hinweise auf die Aufgaben des Redners und auf die Erwartungen, die man ihm gegenüber hegt. Neben das schon zitierte Lob der Beredsamkeit, das Cicero zu Beginn des ersten Buches De oratore Crassus in den Mund legt, ist das Prooemium des ersten Buches De inventionc zu stellen (1, 1-5),39 in dem er davon ausgeht, daß die Beredsamkeit positive und negative Auswirkungen haben kann, wie die Geschichte lehrt. Schaden pflegt die Beredsamkeit anzurichten, wenn sie sich nicht mit sapientia verbindet, und das erläutert Cicero mit folgender Bemerkung: si quis omissis reclissimis atque honeslissimis studiis rationis et officii consuThLL VID, c. 1208, 1. 50 (Λ. Lumpe) schcint rei publicae mil moderalione zu verbinden; das ist sichcr nicht möglich. ut ... in meis moribus erga meos necessarios declarandis mansueiissimus viderer; man beachte viderer. paît. 22 betont Cicero, daß diejenige stilistische Gestaltung besonders wirkungsvoll ist, quae significai oratoris ipsius amabiles mores. Brutus 101; 238 und dazu allgemein K. Hacnni, Die lillcrarische Kritik in Ciceros „Brutus", Diss. phil. Fribourg 1905 (Samen 1905), bes. 45-48. Brutus 95; 108; 117; 132; s. auch 265 (es sind nur Stellen notiert, an denen das Wort vita verwendet wird). Hierher gehört auch die von Grant (s. Λ. 1) 474 Α. 28 zitierte Passage leg. 1, 62, auch de orat. 1, 30-34; 2, 33-37; 3, 76; nat. deor. 2, 148 (mit vielen traditionellen Elementen, vgl. Schulte (s. A. 15)9-25.

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mit omnem operam in exercitatione dicendi, is inutilis sibi, perniciosus patriae civis ali tur.40 Cicero läßt eine historische Analyse folgen, die die Leistungen der Beredsamkeit - ex honestissimis causis natum atque optimis rationibus profectum (1,2 Z. 16-17) - erkennbar werden läßt,41 zugleich aber auch angesichts der Möglichkeiten negativer Entwicklung 42 die moralische Verantwortung des Redners. Gleichzeitig betont er, daß der Mißbrauch gerade die Tüchtigsten veranlaßt, sich von ihr abzuwenden, allerdings nicht alle, denn z.B. Cato, Laelius, Scipio Africanus und den Gracchen eignete summa virtus et summa virtute amplificata auctoritas et ... eloquentia, von der er sagt quae et his rebus ornamento et rei publicae praesidio esset (1, 5 Z. 3-5). Cicero spricht hier nicht davon, daß der orator ein vir bonus sein muß, wohl aber davon, daß viri boni eloquentia besitzen sollten (1, 5, Z. 5-17) und leitet damit ausgerechnet seine trockene und wenig vollständige Darstellung der Regeln zur inventio mit einer Forderung ein, die Cato in die Worte vir bonus dicendi peritus gekleidet zu haben scheint. Nicht nur allgemeine Erwägungen über die Beredsamkeit geben Anlaß, die Forderungen an den orator zu erörtern. Sowohl in den philosophischen und rhetorischen Schriften wie in seinen Reden hat Cicero immer neu Gelegenheit, von den Aufgaben und Pflichten des Redners zu sprechen, und deutet damit auf die Fülle moralischer Probleme, vor die der Redner ständig gestellt ist. An erster Stelle steht für den Redner stets die Frage, ob er einen Fall übernimmt oder nicht, d.h. ob er einen Angeklagten aus öffentlichem Interesse,43 aus persönlichen Gründen, d.h. aus Freundschaft 44 oder Respekt45 oder aus allgemeinem Mitgefühl 46 verteidigt, um officium,41 fides4* oder religio49 Genüge zu tun oder nicht.50 Es soll hier keine Ethik des patronus entfaltet werden. Aber es sei an die Fülle der Formulierungen erinnert, mit denen das Verhalten derjenigen beschrieben wird, die sich der Übernahme eines Prozesses entziehen,51 und es sei

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1, 1 Z. 5-8, Cicero, De inventione, Ed. E. Ströbel, Stuttgart 1965 2 . Cicero verzichtet interessanterweise darauf, diesen Gedanken weiter auszuführen. 1, 2-5; Cicero spricht sowohl von den allgemeinen Leistungen der Beredsamkeit wie von den Wirkungen der einzelnen Redner, z. B. 1, 3 Z. 18-23. 1 , 3 Z . 26-30; Z. 31-4; Z. 17. salus rei publicae: Rab. perd. 2; cf. Mur. 3; Anklage: Vcrr. 2, 3, 1-7. amieiiia: Rab. perd. 2; cf. Mur. 5; 8; Plane. 72; vgl. ferner C. J. G a s s e n , RhM 122, 1979, 278-302, 291 A. 98 und 99. dignilas hominis: Rab. perd. 2; Mur. 8. ratio humanitalis: Rab. perd. 2; cf. Clucnt. 17-57; Mur. 6; Fremde: de orat. 2, 192. Mur. 3; 5; 6; 10; 45; 46; 86; cf. Clucnt. 51; Rab. perd. 2 (consulare officium)·, de orat. 2, 192. Zum Problem persönlicher Verpflichtung s. auch Plane. 68-69; 72-73. Mur. 10; cf. div. in Caec. 25; de oral. 2, 192. Mur. 10; vgl. Sulla 10. nemini umquam infuno maiores nostri patronum deesse voluerunl (Mur. 10). improbitas: Mur. 9; nefarius: Mur. 10; crudelilas, crudelis: Mur. 8; 10; vgl. Sulla 8; 20; inhumanitas: Mur. 9; superbia, superbus: Mur. 8; 9; 10; inertia: Mur. 9; desidia: Mur. 9. Die Belege können leicht vermehrt werden.

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zugleich daran erinnert, daß Wendungen wie aequum (aequius) oder rectum (rectius) est oder debere begegnen, 52 um die Übernahme eines Falles zu rechtfertigen: der Redner steht vor einer moralischen Entscheidung. Denn es kann auch Zeichen von impudentia sein, einen eigentlich schon entschiedenen Fall retten zu wollen; 53 und wenn es auch Pflicht ist, improbi anzuklagen, 54 ergibt sich ein schwieriges Problem, wenn es zu entscheiden gilt, ob man einen Schuldigen zu verteidigen bereit ist. Der Philosoph Panaitios glaubte es in leichteren Fällen rechtfertigen zu können, wie Cicero unter Berufung auf multitude, consuetudo und humanitas billigend zitiert (off. 2, 51; vgl. Sull. 6); er selbst hat sich offenbar eher von politischen Erwägungen leiten lassen, wie sowohl seine Bemerkungen in der Rede für Cluentius als auch seine Rechtfertigung der Verteidigung des P. Cornelius Sulla lehren. 55 Allgemein faßt er zusammen: hoc remedium est aegrotae ac prope desperatae rei publicae iudieiisque corruplis et contaminatis paueorum vilio ac turpitudine, homines ad legum defensionem iudicorumque auetoritatem quam honestissimos et inlegerrimos diligentissimosque accedere (div. in Cacc. 70). Auch die Durchführung eines Prozesses stellt den Redner vor die Fragen, ob er seinen Pflichten genügt, d.h. ob er die notwendigen Gesamtkenntnisse besitzt, 56 ob er das erforderliche Fachwissen hat, 57 ob er sich hinreichend in den Einzelfall eingearbeitet hat, 58 sich überhaupt in der von ihm erwarteten Weise einsetzt, 59 d.h. mit dem nötigen Geschick vorgeht, 60 zugleich Vorsicht walten läßt, 61 daß er das rechte Maß einhält, 62 die natürlichen Empfindungen nicht verletzt, 63 wenn schon nicht nützt, wenigstens nicht schadet. 64

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rectum!rectius: Mur. 3; aequius: Mur. 3; debere: Mur. 3; bei der Durchführung; Cael. 32. Cluent. 57. div. in Caec. 70; cf. 26; Verr. 2, 3, 1-3; off. 2, 49-51; dagegen verurteilt Cicero natürlich die Anklage Unschuldiger (off. 2, 51). Cluent. 49-51; Sulla 6-7; vgl. dazu Classen (s. Α. 44) 292-294. de orat. 1, 17-22; 48-79; 165; 219-233; 3, 69-90; 120-143; orat. 11-19; 113-119; 120. de orat. 1, 166-184; (Unkenntnis: Zeichen von stultitia; turpitudo; inertia; impudentia; segnitia: 166; 169; 172; 173; 185); 1. 234-245; 246-253 (dort 247 Zusammenfassung: quod vero viros bonos iure civili fieri putas, die erneut die Frage nach der Bedeutung des vir bonus aufwirft); orat. 120. Die Stellen, an denen Cicero im Brutus auf die philosophische, juristische, historische und literarische Bildung einzelner Redner hinweist, hat Douglas (s. A. 14) X U zusammengestellt. de oral. 2, 99-101 (diligentia; Fehler: neglegentia; perfidia; inertia; tarditas). labor: div. in Cacc. 71; Mur. 46 (in accusando); de orat. 2, 150; Studium: Rab. perd. 2; Mur. 45; div. in Cacc. 71; diligentia: Rab. perd. 9; de oral. 2, 99; 147-150; 192; 363; prudentia: de oral. 2, 149. Verr. 2, 2, 191; Flacc. 22. de orat. 2, 330 (Fehler: perfidia). Cluent. 51 (Fehlverhalten Zcichen von impudentia, perfidia, neglegentia)·, cf. de orat. 2, 296-297. Cluent. 17.

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Es ist leicht ersichtlich, daß der Redner damit ständig vor moralische Entscheidungen gestellt wird,65 und daß es sich um solche handelt, wird nicht nur durch das Vokabular angedeutet, das Cicero verwendet; er läßt es Antonius ausdrücklich aussprechcn: et ne hoc ... uccidere miremur, cum agitur non solum ingeni nostri existimatio ... sed alia sunt maiora multo, fides, officium, diligentia, quibus rebus adducti, etiam cum alienissimos defendimus, tarnen eos alíenos, si ipsi viri boni volumus haberi, existimare non possumus (de orat 2, 192). Auch hier begnügt sich Cicero (Antonius) damit, vom viri boni... haberi zu sprechen; aber es stellt sich abschließend doch die Frage, warum eine systematische Behandlung dieses Aspektes oder - um es unmißverständlich zu sagen, wenn man vir bonus für mehrdeutig hält - der moralischen Verantwortung des orator in den drei Büchern De oratore fehlt, obwohl sie in früheren Erörterungen oft genug betont wird.66 Während L. Radermachcr67 behauptet, daß Cicero „die Forderung moralischer Vollkommenheit" des Redners „ausgemerzt hat", vertritt J. Cousin 68 die Auffassung, Cicero bestehe nicht auf der Notwendigkeit, daß der Redner vir bonus sein müsse, und erinnert daran, daß er die rhetores Latini nicht unter moralischen Gesichtspunkten verurteilt (de orat. 3,93). W. Steidle69 meint, für Cicero sei das „Problem des Verhältnisses zwischen Rhetorik, der Kunst des Überredens und den Grundsätzen der Moral" vor allem angesichts der „römischen Verbindung von Redekunst und politischem Führertum und den moralischen Gegebenheiten des Patronats" „nicht in selbem Maße brennend" wie für die Griechen. M. Winterbottom vermutet schließlich sehr viel nüchterner und plausibler, daß Cicero es als führender Redner seiner Zeit als „indelicate" empfunden haben dürfte zu betonen, daß der Redner ein guter Mann sein müsse.70 Zunächst ist zu bemerken, daß in der catonischen Formulierung vir bonus nicht eine Forderung, sondern gleichsam die Beschreibung einer gegebenen Größe war. Mit Redcfahigkcit ausgestattet, ist der vir bonus ein orator, mit der colendi peritia ein Landmann (frg. 6 p. 78 Jordan; s. auch de agr. praef. 2). Damit ist die Frage nach Ciceros Urteil nicht beantwortet. Denn ob man nun vir bonus eher als politischen oder ethischen Begriff ansetzt; das Problem der moralischen Verantwortung des orator, des Redners und des Politikers, bleibt beste-

de oral. 2, 295-297; 301-306 (Fchlvcrhallen Zeichen von improbitas, perfidia). Zu den Methoden, derer sich Cicero selbst bedient, s. Classen (s. Α. 22) 149-184 (= dieser Band S. 130-154). Neben die Verantwortung gegenüber den Klienten tritt die gegenüber der Allgemeinheit und sie schützenden Gesetzen (vgl. zu Ciceros Einschätzung der Gesetze C. J. Classen, Latomus 37 1978, 597-619). Vgl. Schulte (s. A. 15) 21-37. RhM 54, 1899, 292. Études sur Quintilien I-II, Paris 1935, I 639. MH 9, 1952, 29 (= ders. in: B. Kytzler (Hrsg.), Ciceros literarische Leistung, Darmstadt 1973 (= WdF Bd. 240) 400-401); M. Winterbottom, JRS 54, 1964, 90 nennt als Möglichkeit, daß Cicero eine solche Darstellung für „superfluous" hielt. Winterbottom (s. A. 69) 90.

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hen und ebenso die Tatsache, daß Cicero sie nicht behandelt, obwohl er sich dieser Verantwortung offensichtlich bewußt ist. Die alten Maßstäbe gelten auch in späterer Zeit, also zur Zeit von Crassus und Antonius, aber auch von Cicero insofern weiter, als es offensichtlich wünschenswert ist, als vir bonus zu erscheinen. Wenn Cicero diese Formulierung gelegentlich mit probus, bene moratus verknüpft (de orat. 2, 184), so ist nicht zweifelhaft, daß er sie (jedenfalls auch) moralisch versteht Warum erläutert er sie nicht näher und stellt die Möglickeiten des Erwerbs moralischer Qualitäten nicht dar? Steidle hat sichcr rccht, daß die Frage nicht ohne Berücksichtigung der realen Gegebenheiten in Rom beantwortet werden kann. Doch ein Hinweis auf den Patronat und auf die aus ihm sich ergebenen moralischen Verpflichtungen allein genügt nicht, die Erörterung überflüssig erscheinen zu lassen. Ein Blick auf jene Jahre, in denen Cicero in Rom lätig ist und dann die Bücher De oratore verfaßt, lehrt, daß es neben tüchtigen Rednern auch weniger tüchtige gab, neben verantwortungsbewußten auch weniger verantwortungsbewußte, 72 und Cicero selbst war sich dieser Tatsache sehr wohl bewußt, wie sein Brutus zeigt, der die zahllosen völlig unbedeutenden Figuren ohnehin übergeht. Nicht jeder, der einen Prozeß übernahm, tat dies aufgrund eines echten, lang bestehenden und bewährten Klientelverhältnisses; das gilt nicht nur für so jämmerliche Figuren wie die Caepasii (Cluent. 57-59), es gilt auch für Cicero selbst, der bekanntlich bereit war, oder sich bereit finden mußte, den vorher von ihm angegriffenen Vatinius zu verteidigen.73 Die Maßstäbe, die Cicero in der Erörterung zwischen Crassus und Antonius für den orator summus, perfectas, d.h. doctus, entwickelte und nach denen gemessen zu werden er selbst sich nicht zu scheuen brauchte, solange es um Bildung und praktische Erfahrung als orator ging, konnten nicht entsprechend für den vir bonus, probus, bene moratus entwickelt werden, weder in der Art, daß zwei voneinander abweichende Positionen schließlich zu einer Synthese gebracht werden, die das Ideal beschreibt, noch mit einem Ergebnis, als dessen reale Verwirklichung Cicero selbst, wenn auch unausgesprochen, hätte angesehen werden können. 74 Insofern beschränkt sich Ciceros Werk auf Teilaspekte und verzichtet darauf, ein umfassendes Bild aller Qualitäten, die der Politiker besitzen sollte, und der Möglichkeiten, sie zu erwerben, zu zeichnen. Die

Die Tatsache, dati Cicero gem ethische Termini für .Äußerlichkeiten' wie Bewegung und Diktion verwendet, darf nicht zu dem falschen Schluß führen, daß er die moralischen Elemente gering achtet; hier spiegelt sich vielmehr die Einheit der mores, die in Gesinnung, Diktion und Körperhaltung ihren Ausdruck findet. Vgl. Steidle (s. A. 69) 30 A. 97 (= 402 A. 100). Vgl. dazu M. Gelzer, Cicero, Wiesbaden 1969, 195; ebda. 108 zu den Hintergründen der Rede Ciceros für Sulla; 200-202 zu den Prozessen gegen Gabinius. Das trifft natürlich auch auf alle seine Zeitgenossen oder die oraleres der voraufgegangenen Generation, die den Dialog de oratore führen, zu. Zu den Maßstäben, an denen Cicero seine eigene Beredsamkeit orientiert, s. Classen (s. Α. 22) 149-184 (= dieser Band S. 130-154).

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Orator perfectus

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Darstellung des oplimus civis, des moderator rei publicae bleibt einem zweiten Werk vorbehalten, und es ist gewiß kein Zufall, daß Cicero sie in den größeren Rahmen einer Erörterung De re publica stellt und überdies historisch anlegt.76 Dagegen rücken seine systematisch angelegten Bücher De officiis weder den Redner (orator) noch den Politiker (princeps civitatis) in den Mittelpunkt. Wenn Quintilian hundertfünfzig Jahre später die moralischen Elemente in die Institutio oratoria einbezieht,77 so ist das nicht nur notwendig, weil es sich um ein um Vollständigkeit bemühtes Lehrbuch handelt, und nicht nur verständlich, weil er sich über die Mißstände seiner Zeit entrüstete.78 Es ist vor allem auch möglich, weil der Beredsamkeit andere Funktionen zugefallen waren. Sie war nicht mehr eine der entscheidenden Waffen in den Auseinandersetzungen auf der politischen Bühne, als die jedenfalls Cicero sie ansah, der den Gebrauch anderer Waffen mißbilligte, zugleich aber die Tatsache akzeptierte, daß die wichtigsten Prozesse seiner Zeit durch politische Faktoren ihr Gepräge erhielten; die Redekunst hatte ihre zentrale Bedeutung verloren, und wo sie überhaupt noch im politischen Raum oder vor Gericht ein Betätigungsfeld fand und sich nicht ganz in Deklamationen erschöpfte, hingen keine wesentlichen Entscheidungen von ihr und ihren Meistern ab. Für den politisch aktiven Redner hat auch Quintilian keine moralischen Maßslübc aufgestellt.

Vgl. ad. Q. fr. 3, 5, 1; Au. 8, 11, 1. Über die Struktur des fünften Buches de re publica ist schwer zu urteilen; die Kardinaltugenden scheinen mit Modifikationen und Ergänzungen genannt worden zu sein; aber ob sie das Gerüst des Ganzen gebildet haben, ist höchst zweifelhaft. Vgl. dazu C. J. Classen, Mil, 22, 1965, 181-190. Iis sei hier nachgetragen, daß Calos Formulierung in Piaions Thcactct ihren ältesten Vorgänger hat (167 C 2-3). Winterbollom (s. Λ. 69) 90-97.

Horaz - ein Koch? Der typischste Zug aller Satiren ist offenbar, daß sie sich jedem Definitionsversuch zu entziehen scheinen. Obwohl die Forschung sich in den letzten Jahren intensiv mit der Satire beschäftigt hat,1 ist es bisher nicht gelungen, eine Begriffsbestimmung zu finden, die auf allgemeine Zustimmung gestoßen ist. Jedoch scheint die römische Verssatire mehr oder minder die Ausnahme zu sein, die die Regel bestätigt. Denn angesichts der Aussagen, die die bedeutendsten Vertreter dieser literarischen Gattung selbst über die Satire gemacht haben, besteht bei den modernen Kritikern weitgehend Einigkeit über deren wichtigste Charakteristika. 2 Trotzdem werden einige Gedichte, die die antiken Satiriker in ihre Sammlungen aufgenommen haben, von einigen zeitgenössischen Gelehrten nicht als Satiren anerkannt,3 während sich andere Gedichte einer befriedigenden Deutung entzogen haben wie z.B. die vierte Satire des zweiten Buches des Horaz. In seinem meisterhaften Horazbuch, das so viel zu einem besseren Verständnis des schwierigen Dichtcrs beigetragen hat,4 schreibt Eduard Fraenkel über das zweite Satirenbuch: „... daß es Horaz im weiteren Verlauf seiner sermones an passenden Gegenständen und Gestaltungsmöglichkeiten zu fehlen begann." 5 Er begnügt sich dann damit, nur die Einleitung der vierten Satire zu erläutern und als Motto für sie (und für die achte) Matrons δείπνα μοι εννεπε, ΜοΟσα,6 vorzuschlagen; damit deutet er an, daß es Horaz vornehmlich um die

Vgl. I. Hantsch, Bibliographie zur Galtungspoetik (2), Theorie der Satire (1900-1971), Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 82, 1972, 153-156; J. Brummack, Zu Begriff und Theorie der Satire, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45, 1971, Sonderhefte Forschungsreferate 275-377. Besondere Beachtung verdienen die Bücher von A. Kernan (1959, 1962 und 1965), R. C. Elliott (1960), L. Feinberg (1963 und 1967), U. Gaier (1967) und J. Schönen (1969). Frühere Untersuchungen zur Satire führt W. W. Ehlers an in: U. Knoche, Die römische Satire, Göttingen 1982 4 , 123-137; für die jüngste Literatur ist auf L'année philologique zu verweisen. Vgl. ζ. B. Brummack (s. A. 1) 276, dagegen C. J. Classen, Gymnasium 80, 1973, 235250 oder P. L. Schmidt in einem Vortrag vor der Mommsengesellschaft in Trier am 18.4.1974. L. Docderlein (Hrsg.), Ilorazcns Satiren, Leipzig 1860, 253-255 bestritl sogar, daß dieses Gedieht (2, 4) eine Satire sei. Horaz, Darmstadt 1963; zu den Problemen eines Buches über Horaz s. W. H. Friedrich, GGA 212, 1958, 173-178. Fraenkel (s. A. 4) 163, vgl. auch 172. Fraenkel (s. A. 4) 162-163; das Zitat stammt vom Anfang des Convivium Atticum Matrons (Corpusculum Poesis Epicae Graccae Ludibundae I, Parodorum Epicorum Graecorum et Archestrali Reliquiae, Ed. P. Brandt, Leipzig 1888, 60). N. Rudd, The Satires of Horace, Cambridge 1966, 206 versteht diese Satire als eine „disquisition on

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Zubereitung von Mahlzeiten geht und zugleich darum, ein Stück Lehrdichtung zu parodieren. Obwohl in jüngster Zeit verschiedene Arbeiten zur Parodie in den Satiren des Horaz erschienen sind, 7 hat dieses Gedicht kaum Beachtung gefunden. Was ist die Absicht des Horaz hier und wie versucht er, sie in dieser Satire zu verwirklichen?8 W. S. Anderson hat mit Recht bemerkt, daß „the opening of S. 2.4 might remind an educated reader of Plato's Phaedrus by its dramatic setting". 9 Doch Fraenkels Behauptung, daß es nicht nur die ersten drei Wörter sind, die aus dem Phaedrus übersetzt sind, sondern daß „die ganze Stelle (d.h. die ersten drei Verse) nichts anderes ist als eine elegante Umformung des Anfangs des Phaidros", 10 ist von N. Rudd kritisiert worden, der es mit Recht vorzieht, hier eine ganz allgemeine Anspielung auf Platon zu sehen. 11 Überdies gibt Fraenkel der Vorliebe des Horaz in dieser und in anderen Satiren des zweiten Buches für Formulierungen, die an Piaton erinnern, nur eine wenig konkrete Deutung und läßt völlig im Dunkeln, wie der Hörer möglicherweise reagiert haben mag, der gerade das Gespräch des Horaz mit Damasipp oder vielmehr den zuletzt Genannten gehört hat, wie er Stcrtinius' Argumente für das stoische Paradox wiederholte, daß alle Mcnschcn außer dem Weisen töricht sind, und der als nächstes nun wohl nicht einen .platonischen' Dialog erwartete.

eating and drinking", durch die Horaz „is making fun of Calius", ohne „really attacking luxury" (213), ähnlich W. Ludwig, Poetica 2, 1968, 307-308; s. ferner die knappen, aber eher befriedigenden Bemerkungen von W. S. Anderson, The Roman Socrates: Horace and His Satires, in: J. P. Sullivan (Hrsg.), Critical Essays on Roman Literature: Satire, London 1963, 33-34 (wieder abgedruckt: Ders., Essays on Roman Satire, Princeton 1982, 45-46) und Π. S. Ramage (D. L. Sigsbee, S. C. Fredericks), Roman Satirists and Their Art, Park Ridge 1974, 84. Kürzlicher hat M. Coffey, Roman Satire, London 1976, 85 bemerkt: „To assess the lone and intention of this work is unusually difficult." Vgl. z.B. R. Schröter, Poetica 1, 1967, 8-23; V. Buchheil, Gymnasium 75, 1968, 519555; W. Scheiter, A&A 17, 1971, 144-161; Κ. Sallmann, Hermes 98, 1970, 178-203 und in: U. Reinhardt, K. Sallmann (Hrsgg.), Musa Iocosa, FS A. Thierfelder, Hildesheim 1974, 179-206; D. West, in: T. Woodman, D.West (Hrsgg.), Quality and Pleasure in Latin Poetry, Cambridge 1974, 67-80; allgemein: J. P. Cèbe, La caricature et la parodie dans le monde romain des origines a Juvénal, Paris 1966, der 301-302 Parodien in der Salire 2, 4 auf der Grundlage von G. Leich, De Horath in Saturis sermone ludibundo. Diss. phil. Jena, Weimar 1910, erörtert. Bei der Interpretation hora/.ischcr Satiren muß man zwei Aspekte berücksichtigen, das ridentem und das dicere verum, und deswegen scheint es nicht ausreichend, sich auf die Elemente von Parodie und Humor zu konzentrieren, wie es Sallmann (s. A. 7) in seinem Beitrag aus dem Jahre 1974 zur Salire 1, 5 tut, vgl. C. J. Classen, German Studies 9, DI, 1976, 46-47, vgl. auch Sallmann selbst (s. A. 7, 1970) 181. Anderson (s. A. 6) 33 ( = 45). Fraenkel (s. A. 4) 162. Auf zahlreiche ähnliche Formulierungen bei Piaton und Horaz verweist D. Heinsius, De Salyra Iloraliana Liber, Leiden 1612, 62-69; 131-132, s. auch 118-120. Rudd (s. A. 6) 301 A. 21; er erwähnt die an Fraenkel anknüpfenden, weitergehenden Vermutungen von A. M. Prowse, Orazio Serm. Π 4 e il Fedro di Platone, RFIC 91, 1963, 199-202 nicht.

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In der Tat, ehe der Hörer die Parallele zu Piaton voll in sich aufgenommen und gewürdigt haben kann, muß ihn etwas anderes überrascht haben, das nicht in den platonischen Zusammenhang paßt, der Name Catius; und man muß sich fragen, welche Assoziationen dieser Name vermutlich bei den Gebildeten unter den Hörern des Horaz geweckt haben dürfte. Der Name selbst ist selten, 12 doch weder der Militärtribun C. Catius Vestinus, den Plancus einmal in einem Brief an Cicero erwähnt (fam. 10, 23, 5), kommt als möglicher Kandidat in Frage noch der sonst unbekannte Rhetor Catius Crispinus, den der ältere Seneca gelegentlich anführt (suas. 2, 16). 13 Ein Scholion zu Vers 47 dieser Satire spricht von einem Autor, der De opere pistorio schrieb, 14 Catius Miltiades, während wir bei Cicero, C. Cassius, Quintilian und dem jüngeren Plinius von einem epikureischen Philosophen hören, der 46 oder 45 v. Chr. Geb. starb und von dem Porphyrio berichtet, er habe vier Büchcr De rerum natura et De summo bono verfaßt. 15 So haben wir die Wahl zwischen dem Freigelassenen Catius Miltiades, dem epikureischen Philosophen Catius, den Cassius als einen der mali verborum (sc. Epicuri) interpretes charakterisiert (fam. 15,19,2), oder dem Träger eines Pseudonyms 16 oder einem bedeutungslosen Namen. Denn der Name Catius selbst kann weder den .bcdcutungsirächtigen' Namen zugeordnet werden noch denen, die einen typischen Charakter bezeichnen. Während es voreilig wäre, dieses Problem schon jetzt lösen zu wollen, scheint es nicht überflüssig, sich daran zu erinnern, daß Horaz in den einleitenden Versen seiner Satiren entweder Namen einführt, mit denen die Mehrzahl seiner Zeitgenossen vertraut gewesen sein müssen, wie Maecenas oder Trebatius (beide noch am Leben: 1, 1; 1, 6; 2, 1) oder M. Tigellius (jüngst verstorben: 1, 2; 1,3) oder die komischen Dichter Eupolis, Kratinos und Aristophanes (1,4) oder literarische Gestalten (Teircsias: 2, 5; Davus: 2, 7) oder einen Gott (Priapus: 1,8). Oder er wählt Namen, von denen er erwartet, daß sie wenigstens seinem Freundeskreis bekannt sind wie Hcliodorus, der die Gruppe der Reisenden

Anders P. Lcjay (Hrsg.), Oeuvres d'Horace, Satircs, Paris 1911, 447 und A. Kiessling, R. Heinze (Ilrsgg.), Q. Horalius Flaccus, Satiren, Berlin 1957 6 , 267, die behaupten, „das Geschlecht der Catii wird nicht selten erwähnt". Catia, auf die sie verweisen, bezeugt durch ihre Erwähnung in der Salire 1, 2, 95 ihren eigenen schlechten Ruf, nicht die Verbreitung ihrer gens; zu späteren Trägern des Namens s. E. Groag, A. Stein (Hrsgg.), Prosopographia Imperii Romani saec. I. II. ΙΠ., 2, Berlin 1936, 129-131 (Nr. 562-574). Das trifft auch auf Q. Catius Aemilianus zu (Cie. Tuli. 19). Variante: de opera pisloria·. Pseudacronis Scholia in Horatium vetustiora. Ed. O. Keller, 2 Bände, Leipzig 1902-1904, II 166. Cie. fam. 15, 16, 1; 15, 19, 1; 2; Quint, inst. 10, 1, 124; Plin. epist. 4, 28, 1; Pomponi Porfyrionis commcnlum in Horatium Flaccum, Ed. A. Holder, Innsbruck 1894, 308 zu sat. 2, 4, 1. Ζ. Β. für C. Malius, vgl. J. C. I·'. Manso, Vermischte Abhandlungen und Aufsätze, Breslau 1821, 284-288, akzeptiert von A. Palmer (Hrsg.), The Satires of Horace, London 1883, 314—315 und Ii. P. Morris (Hrsg.), Horace, The Satires, New York 1909, 202 und nicht ohne Zögern von Rudd (s. Λ. 6) 148, auf dessen Kategorien (vgl. 133) ich im nächsten Satz zurückgreife. Als ich die vorstehenden Überlegungen 1976 in Cambridge vortrug, schlug ein 1 lörer vor, ein Wonspiel Catius / calus zu erwägen.

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nach Brindisi begleitete (1, 5), 17 wie Nasidienus Rufus, der Gastgeber, der Maecenas und einige seiner Freunde bewirtete (2,8), wie P. Rupilius Rex (1,7) oder wie Ofellus (2, 3), von denen beiden er schon früher zu seinen Freunden gesprochen haben dürfte. Welche Motive Horaz in jedem einzelnen Fall auch gehabt haben mag, es kann für mich kein Zweifel daran bestehen, daß er stets entweder bestimmte Persönlichkeiten oder eindeutig definierte Typen (Davus) meint; und so hat man zu vermuten, daß auch Catius mehr als ein leerer, bedeutungsloser Name ist. Da wir heute weniger gut Bescheid wissen als die Zeitgenossen des Horaz, an die er sich vor allem mit seinen Satiren wendet,18 müssen wir auf alle nur denkbaren Andeutungen achtcn, die uns helfen können, die Wahl des einen bestimmten Namens zu verstehen. Die ersten drei Verse der vierten Satirc des zweiten Buches beschränken sich nicht darauf, an Piatons Phacdrus zu erinnern. Sic beschreiben auch Catius sehr genau als jemanden, der in großer Eile ist, da er besorgt ist, sich einige Vorschriften sorgfältig geordnet einzuprägen, von denen er sagt, sie überträfen die des Pythagoras, des Sokratcs und Piatons. Indem Horaz Catius sowohl die Neuartigkeit (2) als auch die besondere Bedeutung dieser Vorschriften betonen läßt (2-3), versucht der Dichter offensichtlich im Einklang mit wohlbekannten Regeln der Rhetorik 19 die Neugier der Hörer oder Leser zu wecken und sie ebenso lernbegierig wie aufmerksam zu machen. Der Satiriker selbst dagegen fragt nicht neugierig nach weiteren Einzelheiten (wie man vielleicht erwarten könnte), sondern entschuldigt sich nur für die Störung zu so unpassendem Augenblick:20 peccatum fateor, cum le sic tempore iaevo irtierpellarim; sed des veniam bonus, oro (4-5).

Er fügt eine schmeichelnde Bemerkung hinzu, die so offensichtlich unpassend ist, daß sie nur lächerlich wirken kann (6-7). Catius verleiht erneut seiner Sorge Ausdruck, daß er etwas vergessen könnte, und deutet zugleich ganz vage sowohl auf den Inhalt wie auf die Form der neuen Lehre:

Der Vorschlag von T. Trank, CPh 15, 1920, 393, Hcliodoros mit Apollodoros gleichzusetzen, schcint mir nicht akzeptabel zu sein, vgl. Gymnasium 80, 1973, 238 A. 21. Dieser charakteristische Zug der Satire, mit Recht betont von F. L. Ilcindorf (Hrsg.), Des Quinlus Horalius Maccus Satiren, Breslau 1815, 337 und von späteren Autoren zur Theorie der Satire oft genannt, sollte nie übersehen werden, wenn man Satiren interpretiert; doch sollte ihm auch nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden (s. u. A. 117). In der Tat schließt er nicht die Absicht eines Verfassers von Satiren aus, sich an Leser späterer Generationen zu wenden, vgl. L. Fcinbcrg, Introduction to Satire, Ames 1967, 8. Cf. Cie. inv. 1, 23; Rhct. Her. 1. 7. Der gebildete Hörer oder Leser, der gerade an die großen griechischen Philosophen erinnert worden ist, mag wohl daran denken, wie Sokrates von Strepsiades gestört wurde (Ar. Nu. 133-137), vgl. A. Dacier, N. K. Sanadon (Ilrsgg.), Oeuvres d'Horace, 8 Bände, Amsterdam 1735, VI 156.

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quin id erat curae, quo pacto cuneta lenerem utpote res tenuis, tenui sermone peradas (8-9),

und obwohl der Satiriker ihm ein Kompliment gemacht hat, lassen ihn die Worte, die Horaz ihm in den Mund legt, doch ziemlich hilflos erscheinen: Offensichtlich ist er kein selbständiger Denker, nicht einmal ein sehr begabter Schüler. Doch unbeirrt wendet sich der Satiriker erneut vertrauensvoll an ihn: ede hominis nomen, simul et, Romanus an hospes (10).

Dabei parodiert er den Stil des Epos und verspottet zugleich den, der noch eben als eifrig bemüht geschildert worden war, sich die gerade erworbene neue Weisheit einzuprägen. Doch plötzlich schcint Cali us nicht mehr in Eile zu sein noch geplagt von Zweifel oder irgendwelchen Skrupeln. Obwohl er nur gebeten war, den Namen seines Lehrers zu nennen, zeigt er sich jetzt nur allzu bereit, seinerseits einen Vortrag über die neuen Vorschriften zu halten, den er in großartiger Weise ankündigt (canam); dafür glaubt er sich auf sein Erinnerungsvermögen verlassen zu können (memor) und beansprucht für sich selbst, Autorität zu besitzen, während er seinen Meister in den Hintergrund treten läßt (celabitur auetor). Der Hörer wird erneut seine Freude haben an der Parodie der epischen und der didaktischen Dichtung und auch an dem unerwarteten Wechsel von Catius' Haltung, der ihn wie einen Toren wirken läßt. Denn es zeigt sich, daß weder seine Behauptung, in Eile zu sein, noch seine Sorge, sich an alles zu erinnern und nichts zu vergessen, emst genommen zu werden verdienen. Zugleich wird jedermanns Ncugicr noch gesteigert. Wer in Catius den Epikureer sieht, mag fragen, warum der auetor hier im Verborgenen bleiben soll, während doch Epikur selbst sonst mit größerer Achtung und Ergebenheit von seinen Anhängern verehrt zu werden pflegt als jedes andere Haupt einer Philosophenschule; und diejenigen, die hinsichtlich der Identität des Catius nicht sicher sind, werden mit noch größerem Interesse fragen, was die neue Lehre zum Inhalt hat. Ziemlich hastig stürzt Catius sich ohne jede Einleitung in seine Darlegungen: longa quibus facies Ovis erit, illa memento, ut suci melioris et ut magis alba rotundis, ponere.

Diese ersten Worte müssen jeden Hörer überraschen, sogar verwirren. Illa memento erinnert eindeutig an didaktische oder protrcptische Dichtung, 21 und erst die folgenden Verse lösen die Spannung (die zunächst durch longa quibus facies ovis erit noch weiter gesteigert war) und lüften das Geheimnis: Es geht Catius hier ums Essen, um die Auswahl und die Zubereitung der besten Art von

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Vgl. Rudd (s. A. 6) 211; für weitere Beispiele des „majestueux impératif memento, courant dans la grande poésie" vgl. mit Cebe (s. A. 7) 301 A.7. im AnschluB an Leich (s. A. 7) Lucr. 2, 66; Verg. ecl. 3, 7; georg. 2, 259; Aen. 2, 549; 6, 851 u. Ö.

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Essen und Trinken, um .Gastrosophie'. So erweisen sich die res tenues, bei denen man an schwierige philosophische Probleme in subtiler Terminologie hatte denken können, als Nebensächlichkeiten, 23 und das läßt Catius noch törichter erscheinen und dient der weiteren Erheiterung des Hörers. Es ist nicht erforderlich, Catius' Vortrag Vers für Vers durchzugehen. Vielmehr scheint es ratsam, einige Aspekte der Satire systematisch zu erörtern, das Wesen der Vorschriften und deren Anordnung, die Anspielungen auf andere literarische Werke und Genera und anderes. Die Vorschriften werden in verschiedener Form gegeben, entweder als allgemeine Aussagen 24 (daß etwas ist oder sein wird, oder daß etwas bekömmlich, tauglich oder passend ist 25 ) oder als persönlich formulierte Aussagen (daß du etwas tun wirst 26 ) oder als Ratschläge; 27 alle diese Formen sind aus antiken oder modernen Kochbüchern geläufig. 28 Sic betreffen die Herkunft und das Wesen von Speisen und Getränken 2 9 oder weisen auf die beste Art hin, sie zuzubereiten 30 (sie zu mischen 31 ). Catius sagt nur, daß etwas gut, besser oder sehr gut 32 ist oder sein wird oder gesund oder verträglich oder nicht, 33 ohne klar zu machen, welchc Maßstäbc er anlegt oder welche Kriterien er dabei gebraucht. Und obwohl er seinen .Schüler' warnt, nicht den Anspruch zu erheben, die Kunst des Kochens zu beherrschen, wenn er nicht vorher ein sorgfältig ausgeklügeltes System von Geschmacksvarianten (35-36: ratio saporum) entwickelt hat, gibt er selbst keineswegs immer Begründungen für seine Behauptungen oder seine Ratschläge. 34 Immerhin weist er gelegentlich neben der Bekömmlichkeit 35

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Diesen Ausdruck verwendet Ch. M. Wieland (Hrsg.), Horazens Satiren aus dem Lateinischen übersetzt, 2 Bände, Leipzig 1786, II 148. Zur Doppcldeutigkeit von tenuis s. die treffenden Bemerkungen zu Vers 9 von H. Schütz (Hrsg.), Q. Horalius Flaccus, Satiren, Berlin 1881, 212. Dieses Gedicht ist voll von Wortspielen und Doppeldeuligkcilcn - typischen Elementen jeder echten Satire. Doch würde ich nicht so weil gehen wie K. Witte, der behauptet, daß immorsus (61) nicht nur „doppelsinnig" ist, sondern sowohl als immorsus wie als in morsus zu verstehen ist (Die Geschichte der römischen Dichtung im Zeitalter des Augustus Π, Erlangen 1931, Horaz I, Horazens Sermoncndichlung 102; 105). 15-16; 20-21; 27-29; 30-34; 37-39; 40-41; 42; 43; 44; 47; 48-50; 55-57; 59-62; 6366; 70-71; 76-77; 78-80; 81-82 (Frage). 25-26; 64-66; 71; das Gegenteil: 42; 76-77; 82. 17-20; 51-54; 58-59; 67-69; 72; 83-88; auch einzeln in der ersten Person: 45-46; 7375 oder in der dritten: 21-23; 24-26; Warnungen: 35-36; 48-50. 12-14; 26-27. A. Cartaull, Étude sur les satires d'Horace, Paris 1899, 265 betont mit Recht „la variété très grande de la forme donée aux préceptes". Vgl. die Sammlung, die Apicius zugeschrieben wird: Ed. J. André, Paris 1965 oder die Fragmente der Kochbücher, die F. Bilabcl aufführt (Artikel .Kochbücher', in: RE XI, 1922, 932-944). 12-14; 15-16; 20-21; 30; 31-34; 40-41; 42; 43; 44; 45-46; 59-60; 60-62; 70-71. 17-20; 51-54; 58-59; 72; s. auch 23 (Auswahl). 24-26; 27-29; 37-39; 55-57; 63-66; 67-69; 73-75, vgl. allgemein 35-36; 49-50. 13; 20; 27; (32); 56; schlecht: 18; 21; 42; 49. 38; 64-66; 71; 72; Gegenteil: 25. 12-14; 16; 20; 25-26; 40-41; 53-54; 55-57; 59-60; 71.

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auch auf den Wohlgeschmack der einzelnen Gerichte und Getränke. Sein eigener Geschmack zeigt keine Spur von besonderer Erlesenheit oder Extravaganz, eher nur den Grad von Raffinesse, den man bei jedem normalen Menschen erwartet, der gutes Essen zu genießen pflegt, aber besondere Vorkehrungen treffen muß, wenn plötzlich ein unerwarteter Gast auftaucht (1719). Denn während die meisten Speisen und Getränke ebenso wie die meisten Zutaten und Gewürze, die erwähnt werden, aus Italien stammen, 37 also nicht importiert sind - übrigens in deutlichem Gegensatz zu vielen Rezepten bei Apicius - scheinen mehrere Vorschriften nicht in Einklang mit der allgemeinen Praxis der Römer und deren Eßgewohnhcitcn zu stehen. Einige der älteren Kommentatoren wie A. Dacier und Ν. E. Sanadon sind in ihrer Kritik zu weit gegangen, da sie bisweilen die antiken Maßstäbe des Geschmacks ignorierten; 38 und doch hatten sie recht, diesen Aspekt hervorzuheben, 39 dem moderne Kritiker zu wenig Beachtung geschenkt haben. Denn es gibt eine ganze Reihe von Neuerungen und Merkwürdigkeiten in Catius' Vorschriften; und es scheint daher nur angemessen zu vermuten, daß Catius' Darlegungen Horaz' Zeitgenossen in hohem Maße wenigstens irritiert, wenn nicht sogar zum Lachen gebracht haben müssen. Dies trifft vor allem auf die Entdeckungen zu, die Catius mit so viel Nachdruck herausstellt, zumal die erste

21-23; 26-27; 27-29; 38; 59-60; negativ: 24-26. 15-16; 19-20; 38-39; 40-41; 43; 44; 45-46; 48-50; 51-54; 58-59; 60-62; 70; 73-75. Dies ist von mehreren Kommentatoren hervorgehoben worden, vgl. z.B. Lejay (s. A. 12) 450-451; Rudd (s. A. 6) 212 nennt vier Ausnahmen: koischen Wein (29), afrikanische Schnecken (58), Lake aus Byzanz (66; genau genommen kommen aus Byzanz nicht allein Lake oder Faß, sondern auch die Thunfische darin) und Safran vom Berg Korykos - nicht sehr viel, wie mir scheint, in der Weltstadt Rom; für koischen Wein gibt sogar Cato (agr. 112) ein Rezept. Vgl. z.B. Dacier (s. A. 20) 164 zu Vers 44: „Jamais on n ' a préféré les épaules du lièvre au rabie" (trotz Horaz* eigenem Zeugnis sat. 2, 8, 89-90); Sanadon ebda. 159 zu Vers 15 bemerkt nur: „Autre précepte faux", ähnlich 160 und 161 zu 20 und 22, ohne seine Urteile durch Belege aus antiken Autoren zu stützen, vgl. auch seine Anmeikungen 164 zu Vers 42 und allgemein 154. Vgl. z.B. Dacier (s. A. 20) 161 zu Vers 25: "Voici encore un goût general que ce Philosophe condamne", auch Sanadon ebda, und L. Müller (Hrsg.), Q. Flacci Sermonum et Epistulamm Libri, 2 Bände, Prag 1891-1893,1 214 zu 24-27, der auf Plin. nat. 22, 113 verweist; s. f e m e r Dacier (s. A. 20) 160 zu 22-23 und 164 zu 42; I. G. Orellius, W. Mewes (Hrsgg.), Q. Horatius Flaccus II, Berlin 1892 4 , die 221 zu 22-23 auf Plin. nat. 23, 135 und Celsus 2, 29 und 224 zu 41 auf Stat. silv. 4, 6, 10 verweisen oder L. Müller 216 mit Hinweis auf Mart. 10, 45, 3-4, s. allgemein Schütz (s. A. 23) 213 und Orelli, Mewes 218; dagegen Doedcrlcin (s. A. 3) 254; 256. Zu Vers 15 bemerkt Dacier 159 nach einem Zitat aus Plin. nat. 19, 8 (der die gleiche Meinung vertritt wie Catius) „Palladius n'éloit pas de ce sentiment" (gemeint ist Pall. 3, 24, 5-6) und bezeichnenderweise hinzufügt „nos jardiniers n ' e n sont pas non plus". Während die antiken Autoren natürlich zu zahlreichen Hinzclfragcn verschiedene Standpunkte vertraten, erweist sich C a t i u s ' Vortrag insgesamt als eine merkwürdige Mischung von ganz Üblichem und höchst Ungewöhnlichem, eine „mélange d'indications sérieuses et de prescriptions ridicules", wie H. de Saint-Denis, lissais sur le rire et le sourire des Latins, Paris 1965, 174 A. 11 formuliert.

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Gruppe tatsächlich nicht neu (45-46) und die zweite Gruppe (73-75) nicht besonders großartig ist. So kann man zusammenfassend festhalten, daß die Vorschriften selbst, die Mischung von ganz gewöhnlichen Rezepten mit völlig unüblichen und auch nicht immer Appetit anregenden Vorschlägen die Hörer des Horaz zum Lachen gebracht haben müssen, und sie sind daher als eines der Elemente anzusehen, mit deren Hilfe der Satiriker sein Ziel erreichte. Die moderne Forschung hat auch keine Einigung hinsichtlich der Reihenfolge erzielen können, in der die einzelnen Speisen erörtert werden. Während es offensichtlich ist, daß Horaz mit dem beginnt, was üblicherweise zum Hors d'oeuvre gehört und mit Obst schließt,41 ist das Übrige nicht ganz so eindeutig, wie einige Kommentatoren meinen. Auf Bemerkungen zu Eiern und Kohl - beide Bestandteil der gustatio42 - folgen Ratschläge, wie ein Huhn bei Zeitmangel zuzubereiten ist (17-20).43 Ist das als Ersatz für das Hauptgericht zu verstehen oder wird es als unerläßlicher Teil der gustatio angesehen, wenn es einen Gast zu bewirten gilt (obwohl sich dafür keine Parallele anführen läßt)? Als nächstes werden Pilze erwähnt, die nirgends sonst zur gustatio gerechnet werden.44 Man hat daher kein Rccht, prandio im nächsten Rezept als gustatio zu verstehen, nur um die Reihenfolge zu retten. 45 In der Tat, da Horaz zunächst davor warnt, Aufidius' Beispiel zu folgen, und dann den Ratschlag gibt, wie man eine gute Verdauung sicherstellt, fragt man sich, ob es nicht allgemeine Überlegungen zur Bckömmlichkcit und Gesundheit sind, die er besonders herausstellen will. Doch der Katalog verschiedener Arten von Schalentieren und Muscheln soll wahrscheinlich zur gustatio zurückführen, und die allgemeine Bemerkung zur ratio saporum lenkt gewiß zurück auf die Rolle des Geschmacks, wobei der Dichter betont, daß der Auswahl der Speisen eine angemessene Art der Zubereitung entsprechen muß. Der methodische Hinweis (35-36 mit passender Illustration 37-39) trennt deutlich die früheren Abschnitte von den folgenden zu den am besten schmeckenden Formen der (Haupt)gerichte: Bär, Wild und Hase werden knapp charakterisiert, ehe Calius stolz verkündet: piseibus alque avibus quae natura et foret aetas, ante meum nulli patuit quaesila palatum (45-46).

Er fügt eine polemische Bemerkung hinzu, mit der er einmal mehr die Notwendigkeit sorgfältiger Zubereitung und wohlübcrlcgtcr und angemessener Vgl. Kiessling, Ilcinze (s. A. 12) 273, die Archestratos frg. 3 zitieren. Ab ovo usque ad mala (sat. 1, 3, 6-7), von Porphyrìo (s. A. 15) 308-309 zu Vers 12 zitiert Die Kommentatoren sind völlig uncins hinsichtlich der Erklärung der Anordnung, so daß man zögern muß, das Urteil von Kiessling, Heinze (s. A. 12) 266 zu akzeptieren: „Klar und durchsichtig ist der Aufbau." Kohl wird von Cato agr. 156 empfohlen. Rudd (s. A. 6) 209-210 bemerkt, daß es eine moderne Parallele für dieses Verfahren gibt, das jedoch nicht sehr verbreitet sei. Kiessling, Heinze (s. Λ. 12) 270 scheinen zu bezweifeln, daß überhaupt ein Zusammenhang besteht. Vorschlag von Müller (s. A. 39) 213 zu Vers 22 unter Hinweis auf Lipsius; dagegen wenden sich Orclli, Mcwcs (s. A. 39) 221 ad loc.

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Mischung der verschiedenen Arten von Speisen und Getränken hervorhebt. Nachdem der Wein hier zur Illustration herangezogen worden ist, fährt Catius mit einigen weiteren Bemerkungen zum Wein fort, die erneut seine Sorge zeigen, den guten Geschmack sicherzustellen und die Bedeutung sorgfältiger Zubereitung und Mischung zu betonen, ehe er erläutert, wie man die Aufmerksamkeit des milde werdenden Gastes post vinum wieder wecken kann. Warum der Abschnitt über die Saucen, auf die schon vorher angespielt wurde (38), als nächstes folgt, ist nicht leicht zu sagen, sofern man nicht vermutet, daß sie sich nur mit Garnelen, Krabben und Schnecken, Schinken und Würstchen verbinden lassen. 46 Doch das ist unwahrscheinlich, da diese nur als Mittel genannt werden, um des Gastes Interesse am Essen neu zu beleben. Völlig angemessen folgen Äpfel und Trauben am Schluß; doch endet der Lehrvortrag mit ihnen keineswegs. Die getrockneten Trauben geben Catius erneut die Möglichkeit, auf weitere Entdeckungen hinzuweisen (73-75), und eine von ihnen erinnert ihn an einige Versäumnisse und Mißgriffe beim Servieren. Es gibt eine gewisse Ordnung hier; doch ist sie sehr allgemeiner Art, und man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, daß Catius sich von eher zufälligen Assoziationen leiten läßt. Jedenfalls würde niemand dies einen sorgfältig argumentierenden Lehrvortrag nennen, obwohl bisweilen eine Begründung für eine einzelne Behauptung oder für ein Rezept gegeben wird: So bestätigen der Aufbau und die Ausgestaltung von Catius' Darlegungen im einzelnen, was die meisten Hörer oder Leser empfinden müssen, wenn sie zunächst mit Catius' Behauptung konfrontiert werden, daß seine Vorschriften die des Pythagoras, Sokrates und Piaton übertreffen, und dann mit einigen Rezepten für bekömmliche Esscnszubereilung. Dieser Widerspruch, den niemand übersehen kann und der manchen Hörer erheitern dürfte, wird im Laufe des Vortrags immer neu hervorgehoben durch den Ton des Ganzen, durch die Ernsthaftigkeit und Sorgfalt, mit der die nebensächlichsten Dinge vorgetragen werden, und durch die Wahl solcher Formulierungen wie doctus eris (19), nec satis est ... ignarum (37-38), sapiens (44), est operae pretium (63), rectius (72), immane est Vitium (76) oder flagitium ingens (82). Noch lächerlichcr sind natürlich polemische Wendungen wie (35-36) nec sibi cenarum quivis temere arroget artem, non prius exacta tenui ratione saporum und (4748) sunt quorum ingenium nova tantum crustula promit; nequaquam satis in re una consumere curam4'

Der durch Heinze (s. Kiessling, bekanntes

est operae prelium markierte Einschnitt spricht dagegen, anders Kiessling, A. 12) 275-276 zu Vers 63, akzeptiert von Witte (s. A. 23) 105. Heinze (s. A. 12) 274 vermuten, Vers 48 „parodiert gewiß ... ein den Lesern Dichterwort."

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angesichts der Neuerungen, auf die Calius mit so viel Stolz verweist und mit so viel freudiger Erregung; 48 in der Tat paßt der Ton des Ganzen immer wieder überhaupt nicht zum InhalL Welch eine Art von Vorschriften, die Piaton in den Schatten stellen! Dies allein mag vollauf genügen, ein Publikum zu erheitern: der Anspruch mehr zu sein, als man eigentlich ist; 49 und durch geschickt gewählte Ausdrucksmittel vermag Horaz dies deutlich zu unterstreichen. Denn Catius, den er zu Beginn als bonus bezeichnet (5), wird von ihm jetzt - aufgrund des Vortrages, wie es scheint - als doctus angesprochen (88), und er wird von Horaz gebeten, ihn zum Meister selbst zu führen 50 und zu den fernen Quellen der Weisheit, von denen der Satiriker sich die Regeln für ein glückliches Leben zu holen wünscht (94-95). Diese Verse spielen offensichtlich auf Lukrez an 51 und erinnern daran, daß es neben dem, was ich den Mangel an innerer Geschlossenheit des Gedichtes nennen möchlc, den typisch satirischen Zügen, die bisher herausgestellt wurden, andere gibt, mit denen Horaz wenigstens seine Zeitgenossen amüsiert und die besonders Gebildeten unter seinen späteren Lesern. Denn durchgehend gibt es zahlreiche literarische Reminiszenzen und Anspielungen in diesem Gedicht, die dazu dienen, jenen Zwiespalt zwischen der Haltung, die Catius einnimmt, und dem Inhalt seiner Darlegungen zu unterstreichen. Ein Lehrvortrag über die rechte Auswahl und Vorbereitung verschiedener Speisen konnte den gebildeten Leser an Archestratos' Hedypatheia erinnern, eine Art gastronomischen Pcriplus, in dem der Autor in der Sprache der älteren Dichter52 die Spezialitäten der einzelnen Landschaften und die besten Jahreszeiten für eine jede von ihnen verzeichnete.53 Dieses Gedicht war Horaz und seinen Zeitgenossen wohlbckannt, wenn nicht im Original, dann sicher in Ennius'

45-46; 73-75; Ludwig (s. A. 6) 308 vergleicht Lucr. 1, 66; 3, 2. Feinberg (s. A. 18) 3 bemerkt: „The essence of satire is revelation of the contrast between reality and pretense", vgl. auch ebda. 176-205 und J. Schönen, Roman und Satire im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1967, 10-11. So wird Calius entlarvt; denn obwohl er hier als doctus bezeichnet wird, erweist sich all sein Wissen letztlich als weder ausreichend noch befriedigend, vgl. Sanadon (s. A. 20) 172-173 zu Vers 88 oder Q. Morati i Flacci Eclogae, Ed. W. Baxter, London 1701, 353 zu Vers 88. Cf. Lucr. 1, 927-928 (= 4, 2-3) und die Erläuterungen in den meisten Kommentaren. Wer zweifelt, daß Iloraz an Lukrez denkt, sollte nicht vergessen, daß Horaz nicht Lukrez zitiert, sondern nur auf dessen Lehrgedicht anspielt, wie er es in gewisser Weise durchgehend in dieser Satire tut, d.h. sowohl auf einzelne Passagen als auch auf charakteristische Züge ganz allgemein (vgl. o. A. 48 und u. A. 78), und zwar parodierend, vgl. G. Highet, The Anatomy of Satire, Princeton 1962, 68, auch 128-131, vgl. femer u. A. 113. Deswegen nennt ihn Athenaios (310 Α) ό των ό γ ο φ ά γ ω ν 'Ησίοδος ή θ έ ο γ ν ι ς und die Gedichte χρυσά ϊττη (320 F), eine Formulierung, die im Hinblick auf den dritten Vers dieser Satire interessant ist. Nicht weniger bedeutsam ist, daß Archestratos also offensichtlich auch den Weg zu einem besseren Leben zeigen wollte. Vgl. Brandt (s. A. 6) 123-124 (Einleitung), wo 140-170 jeweils auch die imitierten Verse notiert sind.

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Adaption. 54 Außerdem hatte Archestratos' Dichtung zusammen mit anderen, vor allem frühen Werken zur Kochkunst den griechischen Komödiendichtern neue Themen für ihren Spott nahegelegt. Von den frühesten Vertretern an ist die griechische Komödie voll von Bemerkungen über Köche und Kochkunst, es begegnen lange Listen von einzelnen Delikatessen oder Küchengeräten oder Beschreibungen der Zubereitung einzelner Gerichte - was immer lohnend erscheinen mochte, um komische Effekte zu erzielen. 55 In der neuen Komödie, auf die ich meine Bemerkungen hier beschränken möchte, wird das Kochen als eine Kunst besonders herausgestellt, die man von einem Lehrer lernen muß 5 6 und die mit anderen, ergänzenden Künsten verbunden werden muß, 57 häufig begegnen auch Erfindungen und Neuerungen aus diesem Bereich. 58 Da aber als das Ziel des Kochens, gut zu leben und Vergnügen zu schaffen, angegeben wird, 5 9 ist es nicht überraschend, daß sich nicht nur Anspielungen auf und Vergleiche mit philosophischem Unterricht finden, 6 0 sondern vor allem Hinweise auf Epikur mit dem Ziel, ihn und seine Anhänger lächerlich zu machen. 61 Epikur selbst sah schon die Notwendigkeit, angesichts einer Lehre, daß „der Anfang und die Wurzel alles Guten die Lust des Magens ist", 62 vor Mißverständnisscn zu warnen; „denn", so schreibt er an Mcnoikcus (132), „nicht fortgesetztes Trinken und Feiern, nicht die Befriedigung der Lust durch den Verkehr mit Knaben und Frauen und nicht durch den Genuß von Fischen und allem, was ein rcichcr Tisch bietet, schaffen ein angenehmes Leben, sondern eine

Cf. Ennianae Pocsis Reliquiae, Π