Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters 3893199993

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Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters
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Marshall McLuhan

Die Gutenberg-Galaxis Das Ende des Buchzeitalters

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ADDISON-WESLEV Bonn · Paris · Reading, Massachusetts · Menlo Park, Califomia New York · Don Mills, Ontario, Wokingham, England Amsterdam · Milan · Sydney · Tokyo · Singapore · Madrid San Juan · Seoul · Mexico City · Taipei, Taiwan

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme McLuhan, Marshall: Die Gutenberg-Galaxis: das Ende des Buchzeitalters I Marshall McLuhan. Bonn; Paris; Reading, Mass. [u. a.]: Addison-Wesley, 1995 ISBN 3-89319-999-3

Inhaltsübersicht Einleitung von Wolfgang Coy Prolog Die Gutenberg-Galaxis

© 1962 by Toronto University Press Titel der Originalausgabe: THE GUTENBERG GALAXY Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dr. Max Nänny © der deutschsprachigen Ausgabe: 1968 by ECON Verlag, Düsseldorf und Wien

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Die umstrukturierte Galaxis

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Anmerkungen

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Bibliographie

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Inhal tsverzeichnis

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© 1995 Addison-Wesley (Deutschland) GmbH Gesamtherstellung: Bercker Graphischer Betrieb, Kevelaer Lektorat: Rudolf Krahm Produktion: Claudia Lucht, Bonn Umschlaggestaltung: Michael Learo, Köln Titelbild: Mittelalterliches Weltbild, Z 36494, Bildarchiv Foto Marburg und Johannes Gutenberg, Stiftung Preußischer Kulturbesitz Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt und alterungsbeständig. Die Produktion erfolgt mit Hilfe umweltschonender Technologien und unter strengsten Auflagen in einem geschlossenen Wasserkreislauf unter Wiederverwertung unbedruckter, zurückgeführter Papiere. Text, Abbildungen und Programme wurden mit größter Sorgfalt erarbeitet. Verlag, Übersetzer und Autoren können jedoch für eventuell verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen weder eine juristische noch irgendeine Haftung übernehmen. Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren reproduziert oder in eine für Maschinen, insbesondere Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk und Fernsehen sind vorbehalten. Die in diesem Buch erwähnten Soft- und Hardwarebezeichnungen sind in den meisten Fällen auch eingetragene Warenzeichen und unterliegen als solche den gesetzlichen Bestimmungen.

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Einleitung

Von der Gutenbergsehen zur Turingschen Galaxis: Jenseits von Buchdruck und Fernsehen.

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as Fernsehen »betrachten wir als neueste Variation des mechani­ schen Filmprinzips, das Erfahrung mittels Wiederholung reprodu­ ziert. In einigen Jahrzehnten wird es nicht schwerfallen, die Revolution zu beschreiben, die das Betrachten des neuen mosaikartigen Netzes des Fernsehbildes in der menschlichen Wahrnehmung und Motivierung auslöste. Heute ist es zwecklos, darüber überhaupt zu diskutieren.« Damit eröffnete Herbert Marshall Mcluhan die Diskussion - ohne jahrzehntelange Abstinenz zu üben- und er wurde zum bedeutendsten Theoretiker des Fernsehens. Marshall Mcluhans Thema ist der Beginn der Gutenbergsehen Ära des Buchdrucks, dessen Jahrhunderte währen­ de Herrschaft als Kulturvermittler und seine Herausforderung durch die elektronischen Medien. Um den Angriff des Fernsehbildes auf das typographische System Gu­ tenbergs zu verstehen, analysiert Mcluhan die Einführung des Buch­ drucks. Die beiden Bände »The Gutenberg Galaxy« und »Under­ standing Media« beschreiben diese Spanne vom 15. Jahrhundert bis heute. In der Gutenberg-Galaxis beschreibt Marshall Mcluhan die typographisch bestimmten Formen der Wahrnehmung, des Denkens und der alltäglichen Erfahrung von Politik und Gesellschaft- ein Blick auf die Neuzeit mittels der Metapher des Buchdrucks. Dabei greift er zwei naive, aber weitverbreitete Vorstellungen an, nämlich einerseits die Idee, menschlicher Geist, Wahrnehmung und Denken seien inva­ riant gegenüber Kultur und Gesellschaft, und zum andern die Idee, ein Medium wie der Buchdruck, der Rundfunk oder das Fernsehen bestim­ me nur die Form der medialen Kommunikation, Unterhaltung oder Information, nicht aber deren Inhalte. Die Einführung der elektroni­ schen Medien bietet wie. die Einführung des Buchdrucks reichhaltiges Material zur Widerlegung dieser Annahmen. Die großen europäischen Entdeckungsreisen, die Renaissance der Kün­ ste und Wissenschaften, die Reformation und die damit verbundenen Revolutionen, aber auch das Schießpulver und die Neugestaltung der militärischen Techniken sind Kennzeichen der Neuzeit. Der Buchdruck ist der mediale Stoff, der diese Einzelentwicklungen vermittelt, verbrei­ tet und in steter Erweiterung reproduziert hat. Ohne die Hilfe von Büchern und Flugschriften wäre jede einzelne Bewegung langsamer abgelaufen, vielleicht auch zum Stillstand gekommen.

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Die Renaissance der klassischen Texte wurde von Druckern wie Aldus Manutius in Europa verbreitet, das Handwerk nutzte Fibeln und Hand­ bücher aller Art. Die Luthersche Reformation berief sich direkt auf den Text (der Bibel). Das dreifache Solus: Sola scriptura, solljl fide, sola gracia wurde zu Luthers erfolgreichem antipapistischen Schlachtruf. Auch Wyclif und Hus hatten den Text in das geistige Zentrum ihrer Reformationen gerückt, doch Luthers und Melanchtons Bibelüberset­ zungen waren mittels des Drucks mit beweglichen Lettern, durch das Gutenbergsehe System von Satz, Druck und Verlag verfügbarer, .ein­ setzbarer geworden. Flugblatt und Sendbrief bildeten die leichteren, aber durchaus effektiven Waffen dieser Umwälzungen. Flugschriften berichteten von den Entdeckungen der Neuen Welt wie von bäuerli­ chem und städtischem Ungehorsam und Aufruhr in der alten. Der Buchdruck definierte die bürgerliche Gesellschaft, indem durch das Gutenbergsehe System ein Kommunikations- und Informationswandel eingeleitet wurde, aus dem letztlich der radikale kulturelle und gesell­ schaftliche Wandel zur europäischen Neuzeit folgte. Die Vorstellung des bürgerlichen Individuums entstand aus Ideen des Humanismus, der Renaissance, der Reformation und gemeinsam mit der Konstruktion des modernen, universalen wissenschaftlichen Welt­ bildes. Der Buchdruck transformierte die oralen Gemeinschaften in Iiterale Gesellschaften mit Grammatiken und grapholektischen Hoch­ sprachen, aus denen nationale Kulturen und Literaturen hervorgingen. Sprache, Literatur, Recht, Nation, Wissenschaft und Handel: Sie alle hängen von den Techniken des Lesens, Schreibens und Rechnens ab. Die Nationalsprachen und ihre Grammatiken wurden erst über den Buchdruck zur Standardsprache und zur Basis nationaler Literaturen. Der politische Begriff der

Nation

ist in erheblichem Maß Ausfluß der

Nationalsprache. Durch die globale elektrische Vernetzung steht dieser Begriff wieder zur Disposition. Diese McLuhansche Analyse identifi­ ziert eine angelegte strukturelle Tendenz. Ob und wie und auf welchen Umwegen sie eintrifft, wird sich zeigen. Der symbolische Raum der Bleilettern hat über eine Zeitspanne von drei Jahrhunderten eine geistige Welt geschaffen, in der Abstraktion, Verallgemeinerung, Öffentlichkeit, wissenschaftliche Erkenntnis und schriftlicher Diskurs das Denken prägten. Verallgemeinerter Erkennt­ nis folgt eine allgemeine Pädagogik, mit der Bildung, sprich Lesen, Schreiben und Rechnen, zur selbstverständlichen bürgerlichen Tugend Wird.

Mit dem Buchdruck wird der typographische Speicher in industrieller Weise vervielfacht. Dies ist die Voraussetzung eines verfügbaren und handhabbaren gesellschaftlichen Gedächtnisses und damit Basis moder­ ner Rechtssysteme ebenso wie der modernen Ökonomie. Die Speicher­ funktion des typographischen Gedächtnisses erlaubt die präzise Wiederholung des Notierten. Dies wiederum ändert die Form logischer Argumentationen und anderer Denklinien. Es wird möglich, Beweis­ oder Ableitungsketten aufzubauen, die ohne diese Hilfen unüberschau­ bar wären. Das formal-logische Denken, die moderne Mathematik und die darauf aufbauenden Naturwissenschaften sind ohne typo­ graphisches Gedächtnis und ohne ihre speziellen Notationen nicht vor­ stellbar. Die Folgen der Schrift und verstärkt die Folgen des Buchdrucks kon­ struieren den Euklidischen Raum und die formale Logik als scheinbar unumstößliche Wahrnehmungsformen- Formen, die in der Kantschen Erkenntnislehre zum formalen a priori menschlicher Wahrnehmung erklärt werden. Anthropologisch ist dieses a priori nicht belegbar, in der ethnologischen und psychologischen Feldforschung wird dies u. a. durch die Arbeiten Alexander R. Lurijas widerlegt. Mathematisch ist die Einzigartigkeit des Euklidischen Raums seit etwa 1830 durch Gauß, Bolyai und Lobatscheffskij widerlegt. Moderne kosmologische Theo­ rien haben sich Nicht-Euklidischen Raummodellen zugewendet. Mit dem Buchdruck und der allgemeinen Alphabetisierung hat die lange Vorherrschaft des Sehsinns über die anderen Sinne begonnen, die schon in der Transformation des gesprochenen Wortes in seine alpha­ betische Visualisierung angelegt wurde. Schreiben und Lesen ist der Wandel des Gesprochenen und Gehörten in eine räumliche, visuelle Sphäre. Mit der massenhaften Verbreitung gedruckten Materials erfolgt aber nicht nur ein allgemeiner Wahrnehmungswandel von Hörraum zu Sehraum. Der hinter dem visuellen Raum stehende sym­ bolische Raum übernimmt wesentliche Eigenschaften des visuellen Raumes wie Kontinuität, Uniformität oder örtliche Zuordnung. Mit dieser symbolischen Struktur generiert die Gutenberg Galaxis domi­ nante, raumhafte Ordnungen in der menschlichen Wahrnehmung. So rufen zeitliche Abläufe eine räumlich lineare Vorstellung hervor und lösen damit zyklische Zeitvorstellungen älterer Kulturen ab. Grafische Darstellungen von Funktionen, die Zusammenhänge zwischen Zahlen beschreiben, demonstrieren auf der Fläche oder im Raum die kontinu­ ierliche Nachbarschaft von Funktionswerten beieinanderliegender Argumentwerte -was vorher nicht wahrgenommen wurde. Aber es entstehen im typographischen Raum auch neue, vorher nicht sichtbare

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räumliche Nachbarschaften wie die alphabetisch lexikalische Ordnung. Kontinuität wird durch die Vorstellung räumlicher Nachbarschaft im­ pliziert. An den Grenzen des Typographischen bleibt ein diskontinuierlicher Bruch: Die Schrift kann nämlich schon selber als »digitale«, diskontinu­ ierliche Anordnung gesehen werden. Im Innern des typographischen Rasters, in seiner digitalen Grundstruktur ist bereits die Perspektive der Turingschen Galaxis angelegt, die Perspektive der elektronischen digi­ talen Medien, die nun beginnt, sich neben der Gutenberg-Galaxis zu etablieren. "

Wenn man die Erfindung der Schrift als den Beginn der Medien ansieht, so ist im europäischen Kulturraum die Einführung der phone­ tischen Notation mittels des griechischen Alphabets der zweite wesent­ liche mediale Einschnitt. Die Transformation auditiven Materials in die visuelle Form eröffnet die Möglichkeit der präzisen Speicherung jen­ seits der Erinnerung, außerhalb des Kopfes und, unter Nutzung dieses Speichers, die Konstruktion philosophischer und dramatischer Texte. Der Buchdruck ist die dritte mediale Revolution und er ist bislang die umfassendste und tiefgreifendste. Die Schrift und der Buchdruck ordnen die Welt neu. Es gilt, das »Buch der Natur«, das laut Galilei in mathematischer Sprache geschrieben ist, zu entziffern und mit Descartes das »Buch der Welt« zu verstehen. Dem derart unverzichtbar gewordenen Hilfsmittel des Buchdrucks fol­ gen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die elektrischen und optisch­ chemischen Bildmedien. Optische und elektrische Telegrafie, Fotografie und Phonagrafie sind erweiterte Methoden des Schreibens, deren Ko­ dierungen mit der Maschine oder dem Netz übertragen werden. Ihre Zeichenkodes werden zunehmend unlesbarer für die Menschen. Film, Telefon, Funk und Fernsehen sind mediale Brüche, die sich noch weiter von der Schrift entfernen - und ihr doch verhaftet bleiben. Unmittelbar sichtbares Leitmotiv dieser Entwicklung ist die Verlänge­ rung und Wandlung menschlicher Sinne, deren übertragung von Ort zu Ort mittels Draht- und Funknetzen sowie deren zeitliche Speiche­ rung und Verzögerung. Dieser Sinneswandel - Transformation der Sinne mittels medialer Formen- ist wie die Änderung des Alltags- und Weltverständnisses Fokus einer Medienanalyse und Mediengeschichte, für die die Arbeiten Marshall McLuhans zentral stehen. Wahrnehmung ist in literalen und medialen Gesellschaften vor allem visuelle Wahrnehmung. Gesellschaften mit verbreiteter Schriftkultur

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sind visuell orientierte Gesellschaften, die sich prinzipiell von den audi­ tiv engagierteren, schrift- wenngleich nicht bildlosen, oralen Kulturen oder Gemeinschaften unterscheiden. Die elektrischen und chemisch­ optischen Medien fördern nun die Bildwelten gegenüber der Schrift, was gelegentlich von engagierten Schriftgelehrten als Wende herausge­ stellt wird. Nun sind aber Bilder ebenso wie Schrift visuelle Wahrneh­ mungsobjekte. Eine Positionierung von Schrift gegen Bild ist daher problematisch. Die Schrift hat allerdings einen ausgeprägten symboli­ schen Charakter, den die Bildsprachen des Films, des Fernsehens oder der Werbung nicht in der gleichen Weise einnehmen. Mit der Verbrei­ tung dieser visuellen Wahrnehmungsformen ist also eine Änderung der Abstraktionsvorgänge zu erwarten -und vielleicht schon zu beobachten. Marshall McLuhans strukturalistischer Ansatz versucht, einer Bewer­ tung der beobachteten Umwälzungen aus dem Weg zu gehen. »Dieses Buch handelt nicht davon, ob am Buchdruck etwas Gutes oder etwas Schlechtes sei, sondern es will zeigen, daß eine Unkenntnis der Auswir­ kungen irgendeiner Kraft verhängnisvoll ist, besonders dann, wenn es sich um eine Kraft handelt, die wir selber geschaffen haben.« Marshall McLuhans Duktus schwankt zwischen Lehrsatz und Aphoris­ mus - zwei in der wissenschaftlichen Buchwelt im allgemeinen un­ vereinbaren Ausdrucksformen, die aber genau dem Schwebezustand zwischen Gutenbergscher und Post-Gutenbergscher Galaxis entspre­ chen. Viele seiner Aussagen stehen beinhart in der literaturwissen­ schaftliehen gelehrten Tradition, aus der McLuhan kommt, andere sind den Slogans der Werbung oder der Sprache der Tagesschau näher als wissenschaftlich abgesicherten Aussagen. Dies ist eine gefährliche Methode, die eines großen Überblicks, meisterlicher Beschränkung und Sicherheit bedarf. Doch wenn sie aufgeht, folgt die Erleuchtung beim Leser. Es ist eine Art Zen, mit zeitgenössischen Koans, selten mit eindeutiger Auflösung. McLuhan bewältigt diesen Balanceakt scheinbar mühelos (anders als seine zeitgenössischen Anbeter in und außerhalb der Medien). Seine Prophezeiungen lassen zwar gelegentlich histori­ sche Determinismen durchschimmern, die sich auf eindeutige Wirkun­ gen der Produktivkräfte zu berufen scheinen; der durchgängige Witz seiner Schreibweise stellt diesen Determinismus aber wieder in Frage: auch dies Puzzles für intelligente Leser. Angesichts des umfassenden Bögens, der die Kulturgeschichte der Neu­ zeit als Mediengeschichte interpretiert, schießen Details der Analysen gelegentlich über allseits abgesicherte wissenschaftliche Fakten hin­ aus - Marshall McLuhan liebt stichhaltige Vermutungen, besonders wenn sie ihre Stichhaltigkeit durch McLuhansche Theoriebildung ge-

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winnen. Manche Mutmaßungen über die Mitte und den Osten Europas mögen derart als Schielen über den Eisernen Vorhang gesehen werden, der auch dem McLuhanschen Denken ein Lager zuwies. Hier bleibt McLuhan ein nordamerikanischer Denker, der 1962 mitten im Kalten Krieg, notiert: »Eine Marktwirtschaft >kann nur in einer Marktgesell­ schaft existieren Tis all in pieces, all coherence gone; All just supply, and all Relation: Prince, subject, Father, Son, are things forgot, For every man alone things he hath got To be a Phoenix . . . [8]

Wird »der Sinne reichster Umkreis« zerstört, so bedeutet das, daß die Sinne sich aufgrund unterschiedlicher Stärkegrade isoliert haben, woraus sich Unvernunft und ein Konflikt zwischen den fünf Sinnen, Personen und Funktionen ergibt. Diese Zerstörung der Verhältnisse zwischen den Sinnen, Personen und Funktionen ist der Gegenstand des späteren Shakespeare.

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Als Cordelia die falsche Behendigkeit Conerils und Regans, dieser Spe­ zialistinnen der Tochterliebe, bemerkt, sagt sie: Meine Lieb', ich weiß, Wiegt schwerer als mein Wort. Ihre Fülle der Vernunft fällt gegenüber der Spezialisierung ihrer Schwestern nicht ins Gewicht. Sie hat keinen festen Standpunkt, von dem aus sie ihre Pfeile der Beredsamkeit losschießen kann. Ihre Schwe­ stern sind auf besondere Geschäfte eingespielt, durch die Fragmentie­ rung der Sinne und der Motive sind sie der methodischen Berechnung fähig. Sie sind wie Lear avantgardistische Machiavellisten, die es ver­ stehen, mit Angelegenheiten wissenschaftlich und explizit fertig zu werden. Sie sind entschlossen, und sie haben sich nicht nur des ausge­ wogenen Sinnesverhältnisses bewußt entledigt, sondern auch dessen moralischen Gegenstücks, des »Gewissens«. Denn dieses die Beweg­ gründe beherrschende Verhältnis »macht Feiglinge aus uns allen«. Und Cordelia ist feige, weil sie durch die Komplexität ihres Gewissens, ihrer Vernunft und ihrer Rolle von einer spezialisierten Handlung abgehal­ ten wird.

König Laar bietet ein Varsuchsmodall jenes Entäu�arungsprozassas, durch den die Manschen aus einer Welt der Rollen in eine Welt dar Jobs geführt wurden.

l'i önig Lear liefert eine Art wohldurchd�cht�r Anamnese von Leu­

ten, die sich aus einer Welt von Rollen m eme neue Welt von Jobs übersetzen. Es handelt sich hier um einen Prozeß der Entäußerung, der nur in der künstlerischen Vision unmittelbar abläuft. Aber Shakespeare erkannte, daß dieser sich zu seiner Zeit ereignet hatte. Er sprach nicht über die Zukunft. Die alte Welt der Rollen lebte jedoch als Spukgestalt weiter, genau wie nach einem Jahrhundert Elektrizität das Abendland immer noch die Präsenz der älteren Werte des Alphabetismus, der Privatsphäre und der Isolierung spürt. Kent, Edgar und Cordelia sind, in der Sprache von W. B. Yeats, »außer Phase«. Ihre absolute Treue, die ihrem Gefühl nach ihren Rollen natur­ gemäß zukommt, ist »feudal«. In ihrer Rolle üben sie keine delegierte Machtbefugnis oder Autorität über andere aus. Sie sind autonome Zentren. Georges Poulet weist darauf hin: [9] »Für den mittelalterli-

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chen Menschen gab es nicht nur eine Dauer. Es gab verschiedene Formen der Dauer, die übereinander rangierten, nicht nur in der Uni­ versalität der äußern Welt, sondern in ihm selber, in seiner eigenen Natur, in seiner eigenen menschlichen Existenz.« Der ungezwungene Habitus der Konfiguration, der mehrere Jahrhunderte hindurch domi­ nierte machte in der Renaissance kontinuierlichen, linearen und uni­ form:n Reihen Platz, in die sowohl die Zeit, der Raum und die persön­ lichen Beziehungen gezwängt wurden. Und die analogen Welten der Rollen und Sinnesproportionen werden plötzlich von einer neuen li­ nearen Welt abgelöst, wie wir sie in Troilus und Cressida (III,3) finden: Verfolge ja den Pfad, der vor dir liegt, Denn Ehre wandelt in so engem Hohlweg, Daß einer Platz nur hat. Drum bleib im Gleise! Denn tausend Söhne hat die Ruhmbegier, Und einer drängt den andern; gibst du Raum, Lenkst du zur Seit' und weichst vom gradsten Weg, Gleich eingetretner Flut stürzt alles vor Und läßt dich weit zurück Der Gedanke, Personen, Beziehungen und Funktionen homogen zu segmentieren, konnte dem 16. Jahrhundert nur als Auflösung aller Sinnes- und Vernunftbande erscheinen. König Lear zeigt eingehend, was es bedeutete, den Wandel des Raum- und Zeitgefühls des Mittelal­ ters zu jenem der Renaissance, d. h. eines inklusiven zu einem exklusi­ ven Verständnis der Welt, zu durchleben. Lears veränderte Haltung gegenüber Cordelia spiegelt genau die Vorstellung der Reformatoren von der gefallenen Menschennatur. Poulet schreibt (S. XI): »Auch für sie waren sowohl der Mensch wie die Natur von Gott beseelt. Auch für sie hatte es eine Zeit gegeben, in der die Natur und der Mensch an der Schöpferkraft teilgehabt hatten . . . Aber diese Zeit existierte für sie nicht mehr. Die Zeit, in der die Natur göttlich gewesen war, war abgelöst worden von der Zeit einer gefallenen Natur; gefallen durch ihren eigenen Fehler, durch die freie Tat, in deren Folge sie sich von ihrem Ursprung entfernt, sich von ihrer Herkunft losgetrennt, Gott geleugnet hatte. Und von diesem Augenblick an hatte sich Gott von der Natur und vom Menschen zurückgezogen.« Lear stempelt Cordelia ausdrücklich zu einer Puritanerin: Stolz, den sie Gradheit nennt, vermähle sie ! Bei ihrer Betonung des individuellen Amtes und der Unabhängigkeit hatten die Reformatoren natürlich keinen Sinn für all die Förmlichkei­ ten, die mit völlig unpersönlichen Rollen in der Gesellschaft verbunden

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sind. Es ist indessen den Zuschauern klar, daß es eigentlich Cordelias Hingabe an ihre traditionelle Rolle ist, die sie so hilflos macht gegen­ über dem Individualismus Lears und ihrer Schwestern: Ich lieb' Eur Hoheit, Wie's meiner Pflicht geziemt, nicht mehr, nicht minder. Sie weiß sehr wohl, daß ihre hingebungsvolle Rolle vom Standpunkt des neuen verbissenen und größenwahnsinnigen Individualismus aus gesehen »nichts« wert ist. Nach den Worten Poulets (S. IX) ist diese neue Welt »nichts anderes mehr als ein ungeheurer Organismus, ein riesiges Netz von Wechselbeziehungen und gegenseitigen Beeinflus­ sungen, das beseelt, das innerlich in seiner zyklischen Entwicklung durch eine Kraft gelenkt wird, die überall dieselbe ist und ständig variiert und die man unterschiedslos Gott, Natur, Weltseele oder Liebe nennen kann. «

Dia Oual der dritten Dirnansion erhält mit König Laar ihren ersten sprachlichen Ausdruck in der Dichtungsgeschichta. hakespeare dürfte nie die gebührende Anerkennung dafür gezollt

S worden sein, daß er in König Lear das erste und meines Wissens

das einzige Beispiel einer dreidimensionalen sprachlichen Perspektive in der Literatur überhaupt geboten hat. Erst mit Miltons Verlorenem Paradies (II, 2, 1-5) wird dem Leser wieder bewußt ein fester visueller Standpunkt gegeben: Hoch auf dem Thron von königlichem Prunk, der all den Reichtum Indiens und Ormuz's Wie den, wodurch des Ostens reiche Hand mit Perl' und Gold die Fürsten überströmt, Weit überstrahlte, saß der Satana. Die willkürliche Auswahl eines einzelnen ruhenden Standortes schafft einen perspektivischen Raum mit einem Fluchtpunkt. Dieser Raum kann Stück um Stück ausgefüllt werden; er unterscheidet sich völlig vom nicht perspektivischen Raum, in dem jedes Ding einfach mit­ schwingt oder seinen eigenen Raum in visuell zweidimensionaler Form moduliert.

Das einzigartige Beispiel dreidimensionaler Wortkunst, das wir in Kö­ nig Lear nun aber finden, ist die 6. Szene im 4. Akt. Edgar bemüht sich,

den blinden Gloucester glauben zu machen, sie ständen am Rande eines steilen Felsens:

Edgar: Gloucester: Edgar:

Horcht! Hört Ihr nicht die See ? Nein, wahrlich nicht! Dann werden Eure andern Sinne stumpf Durch Eurer Augen Schmerz . . . Kommt, Herr, hier ist der Ort: steht still ! wie graunvoll Und schwindelnd ist's, so tief hinabzuschaun !

Die Illusion der dritten Dimension behandelt ausführlich E. H. Goro­ hrich in seinem Buch Art and Illusion. Die dreidimensionale Perspekti­ ve ist keineswegs eine normale Sehweise, sondern eine auf einer Kon­ vention beruhende Sehweise, die genauso erworben wurde wie die Fähigkeit, die Buchstaben des Alphabetes zu erkennen oder einer chro­ nologischen Erzählung zu folgen. Daß es sich um eine erworbene Sin­ nestäuschung handelt, wird uns klarer, wenn wir lesen, was Shake­ speare über die anderen Sinne und ihren Bezug zum Sehen sagt. Clou­ cester ist reif für die Sinnestäuschung, weil er plötzlich das Augenlicht verloren hat. Sein visuelles Vorstellungsvermögen ist nun von seinen anderen Sinnen gänzlich losgelöst. Und dieser von den anderen Sinnen vorsätzlich isolierte Gesichtssinn ist es, der dem Menschen die Illusion der dritten Dimension verschafft, wie Shakespeare hier ausführlich darstellt. Es bedarf dazu aber auch der Fixierung des Blickes: Kommt, Herr, hier ist der Ort: steht still! wie graunvoll Und schwindeln ist's, so tief hinabzuschaun! Die Krähn und Dohlen, die die Mitt' umflattern, Sehn kaum wie Käfer aus; - halbwegs hinab Hängt einer, Fenchel sammelnd, - schrecklich Handwerk! Mich dünkt, er scheint nicht größer als sein Kopf. Die Fischer, die am Strande gehn entlang, Sind Mäusen gleich; das hohe Schiff am Anker Verjüngt zu seinem Boot; das Boot zum Tönnchen, Beinah' zu klein dem Blick; die dumpfe Brandung, Die murmelnd auf zahllosen Kieseln tobt, Schallt nicht bis hierher. - Ich will nicht mehr hinabsehn, Daß nicht mein Hirn sich dreht, mein wirrer Blick Mich taumelnd stürzt hinab. Shakespeare stellt hier fünf zweidimensionale Bildtafeln hintereinan­ der auf. Indem er diesen flachen Tafeln eine diagonale Drehung gibt,

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erscheinen sie hintereinander sozusagen in einer Perspektive vom »Stillstand«-Punkt aus. Er ist sich völlig bewußt, daß sich die Neigung zu dieser Art von Illusionismus aus der Trennung der Sinne ergibt. Nachdem Milton blind geworden war, lernte er die gleiche Art einer visuellen Illusion zu schaffen. 1709 brandmarkte Bischof Berkeley in seinem Versuch einer neuen Theorie der Gesichtswahrnehmung den visuellen Raum Newtons als eine rein abstrakte, vom Tastsinn getrenn­ te Illusion und als völlige Absurdität. Die Trennung der Sinne und die Störung ihres taktil-synästhetischen Wechselspiels dürfte wohl eine der Auswirkungen der Gutenberg-Technik gewesen sein. Dieser Prozeß der Trennung und Einschränkungen von Sinnesfunktionen hatte si­ cherlich im frühen 17. Jahrhundert, als König Lear erschien, einen kritischen Punkt erreicht. Wenn wir aber feststellen wollen, inwieweit eine solche Revolution im menschlichen Sinnenleben durch die Guten­ berg-Technik ausgelöst worden sein konnte, dann müssen wir die Frage anders angehen; es kann nicht genügen, aus einem großen Drama der entscheidenden Periode einige Stellen zu zitieren, die sich auf die Sinne beziehen.

König Lear ist eine Art von Exemplum, wie es in den Predigten des Mittelalters verwendet wurde, oder von induktivem Beweis, mit dem die Verrücktheit und die Armseligkeit des neuen aktiven Lebens der Renaissance dargetan wird. Shakespeare erklärt ausführlich, daß das eigentliche Prinzip der Aktion in der Aufspaltung der gesellschaftlichen Vorgänge und des persönlichen Sinnenlebens in spezialisierte Segmen­ te besteht. Der daraus sich ergebende wilde Drang, ein neues umfassen­ des Wechselspiel der Kräfte zu entdecken, sorgt für eine ungestüme Aktivierung aller Komponenten und Personen, die vom neuen Drang befallen sind. Cervantes war sich dessen gleichfalls bewußt, und sein Don Quichotte wurde von der neuen Form des Buches ebenso angeregt wie Machiavelli von jenem besonderen Segment der Erfahrung hypnotisiert wurde, das er bis zur höchsten Bewußtseinsstärke zu steigern beliebte. Denn Ma­ chiavellis Loslösung oder Abstraktion des persönlichen Machtbereichs vom sozialen Unterbau kann mit der viel früheren Loslösung des Rades von der Tiergestalt verglichen werden. Eine solche Abstraktion gewährt ein viel größeres Tempo. Die Vision eines Shakespeare und Cervantes drückt die Sinnlosigkeit eines Tempos und einer Aktion aus, die einem Hang zum Fragmentieren und Spezialisieren entspringen. W. B. Yeats hat den Gegenstand von König Lear und Don Quichotte in einem Epigramm verschlüsselt:

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»Locke sank in tiefe Ohnmacht. Der Garten welkte hin. Gott nahm die Spinnmaschine Von seiner Seite ihm.« Die Lockesche Ohnmacht war jene hypnotische Trance, die dadurch zustande kam, daß die visuelle Erfahrungskomponente dermaßen ver­ stärkt wurde, daß sie zuletzt das ganze Feld der Aufmerksamkeit in Beschlag nahm. Nach der Definition der Psychologen besteht die Hyp­ nose darin, daß ein einziger Sinn den ganzen Aufmerksamkeitsbereich ausfüllt. In einem solchen Augenblick welkte »der Garten«. Mit andern Worten: Der Garten deutet auf das Wechselspiel aller Sinne in hapti­ scher Harmonie. Wenn das Interesse sich übermäßig nur auf einen Sinn bezieht, dann entwickelt sich das mechanische Prinzip der Ab­ straktion und Wiederholung in expliziter Form. Technik ist Explizität, wie Lyman Bryson sagte. Und Explizität heißt: das Ausbuchstabieren einer einzigen Sache aufs Mal, eines einzigen Sinnes aufs Mal, eines einzigen geistigen oder körperlichen Vorganges aufs Mal. Da dieses Buch die Ursprünge und Formen der von Gutenberg bewirkten Kon­ stellation der Ereignisse erkennen möchte, ist es angebracht, die Aus­ wirkungen des Alphabets auf die heutigen Naturvölker zu studieren. Denn im gleichen Verhältnis, in dem diese zum phonetischen Alphabet heute stehen, standen einst wir.

Die Einbeziehung der Technik des phonetischen Alphabets führt den Menschen aus der magischen Welt des Ohres hinaus in die neutrale visuelle Walt. n einem Artikel über »Culture, Psychiatry and the Written Word«

I (Psychiatry, November 1959) berichtet J. C. Carothers über eine

Anzahl Beobachtungen, die den Gegensatz zwischen schreibunkundi­ gen und schreibkundigen Eingeborenen und allgemein zwischen dem nicht-alphabetischen Menschen und dem abendländischen Menschen zeigen. Er beginnt (S. 308) mit der bekannten Tatsache, daß »infolge der Art der erzieherischen Einflüsse, denen die Afrikaner als Säuglinge, als Kinder und praktisch ihr ganzes Leben hindurch ausgesetzt sind, der Mensch sich mit der Zeit eher als ein unbedeutender Teil eines größe­ ren Organismus betrachtet - der Familie und des Klans - und nicht als eine selbständige, unabhängige Zelle. Der persönlichen Initiative und

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dem Ehrgeiz wird wenig Spielraum gelassen, und eine sinnvolle Inte­ gration seiner Erfahrung auf einer individuellen, persönlichen Grund­ lage wird nicht vollzogen. Im Gegensatz zur Beschränktheit auf der intellektuellen Ebene wird ihm auf der Ebene des Temperaments eine große Freiheit gelassen, und es gilt als selbstverständlich, daß der Mensch sehr stark im >Hier und Jetzt< lebt, daß er in hohem Grad extravertiert ist und seinen Gefühlen völlig freien Ausdruck gibt. « Mit einem Wort: unsere Vorstellungen vom »ungehemmten« Eingebo­ renen ignorieren die völlige Hemmung und Unterdrückung seines gei­ stigen und persönlichen Lebens, was in einer nicht-alphabetischen Welt unvermeidlich ist: »Während das abendländische Kind schon früh mit Bauklötzen, Schlüsseln, Schlössern, Wasserhähnen und den vielfähig­ sten Dingen und Vorgängen vertraut wird, die es zwingen, in Begriffen raumzeitlicher Beziehungen und mechanischer Ursächlichkeit zu den­ ken, erhält das afrikanische Kind statt dessen eine Erziehung, die viel ausschließlicher auf dem gesprochenen Wort beruht und die verhält­ nismäßig stark mit Dramatik und Emotion geladen ist.« (S. 308) D. h., ein Kind in irgendeinem westlichen Milieu ist von einer abstrak­ ten, expliziten, visuellen Technik umgeben, die auf einer uniformen Zeit und einem uniformen, kontinuierlichen Raum beruht, von einer Technik, in der einzig eine Abfolge von Wirk-»Ursachen« gilt und in der sich die Dinge auf unabhängigen Einzelebenen und in regelmäßiger Reihenfolgec bewegen und ereignen. Das afrikanische Kind hingegen lebt in der impliziten magischen Welt des zum Mitvollzug zwingenden gesprochenen Wortes. Es stößt nicht auf Wirkursachen, sondern auf Formalursachen in einem Feld von Konfigurationen, wie sie jede nicht­ alphabetische Gesellschaft entwickelt. Carothers betont immer wieder, daß »die Afrikaner auf dem Lande weitgehend in einer Welt des Schal­ les leben - einer Welt, die für den Hörer von direktem Belange ist währenddem der Westeuropäer viel mehr in einer visuellen Welt lebt, die ihm im großen ganzen gleichgültig ist.« Da die Welt des Ohres eine »heiße, hyperästhetische und die Welt des Auges eine verhältnismäßig » kühle«, neutrale Welt ist, erscheint der Abendländer den Menschen der Ohren-Kultur als ausgesprochen kalter Mensch. [10] Carothers untersucht auch die bekannte nicht-alphabetische Vorstel­ lung von der »Macht« der Wörter, bei der das Denken und Verhalten vom magischen Zwang der Wörter zum innern Mitvollzug, von ihrer Macht, ihre Voraussetzungen unerbittlich aufzuzwingen, abhängen. Er zitiert, was Kenyatta von der Liebesmagie bei den Kikuyu sagt: »Es ist äußerst wichtig, daß man sich den richtigen Gebrauch der magischen Wörter und ihrer richtigen Intonierungen aneignet, denn

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der Fortschritt im wirkungsvollen Anwenden der Magie hängt davon ab, ob man diese Wörter in ihrer rituellen Abfolge ausspricht . . . Wer diese Handlungen der Liebesmagie vornimmt, muß eine magische For­ mel aufsagen . . . Nach dieser Rezitation ruft er den Namen des Mäd­ chens laut aus, und dann beginnt er sie anzureden, als ob sie zuhörte.« (S. 309) Worum es hier geht, ist, was Joyce einmal »rite words in rote order« nannte. Aber auch das abendländische Kind wächst heute in dieser Art magischer Welt der Wiederholungen auf, wenn es die Werbesendun­ gen am Radio und Fernsehen hört. Carothers fragt dann (S. 310), wie der Alphabetismus in einer Gesell­ schaft bewirken konnte, daß sich die Vorstellung, die Wörter seien einbeziehende, lebendige, handelnde Naturkräfte, zu jener Auffassung wandelte, die in den Wörtern einen rein geistigen »Sinn« oder eine »Bedeutung« sah. »Ich vermute, daß erst mit dem Zeitpunkt, da das geschriebene und vor allem das gedruCkte Wort auf der Bildfläche erschien, die Wörter ihre magischen Kräfte und Anfälligkeiten verlieren konnten. Wie kam das? Ich habe in einem früheren Artikel über Afrika den Gedanken ausge­ führt, daß die schriftunkundige Landbevölkerung weitgehend in einer Welt des Ohres lebt, im Gegensatz zu den Westeuropäern, die vorwie­ gend in einer Welt des Auges leben. Töne sind in einem gewissen Sinne dynamisch oder wenigstens immer Anzeichen von dynamischen Din­ gen - von Bewegungen, Ereignissen, Tätigkeiten, vor denen der Mensch, wenn er im Busch oder Feld vor Lebensgefahren weitgehend ungeschützt ist, immer auf der Hut sein muß . . . In Westeuropa verlie­ ren die Töne vieles von dieser Bedeutung, da hier der Mensch oft die bemerkenswerte Fähigkeit entwickelt - und sie entwickeln muß -, sie zu mißachten. Während im allgemeinen für die Europäer der Satz »Sehen heißt Glauben« gilt, scheint für die ländlichen Afrikaner die Wirklichkeit viel eher in dem zu bestehen, was man hört und was man sagt . . . Man sieht sich sogar zur Annahme gedrängt, daß viele Afrika­ ner das Auge weniger als Empfangsorgan betrachten, sondern vor allem als ein Instrument des Willens, wobei das Ohr das hauptsächliche Empfangsorgan ist.« Carothers betont immer wieder, daß der westliche Mensch auf einen hohen Grad der visuellen Gestaltung raumzeitlicher Beziehung ange­ wiesen ist, die es ihm erst ermöglicht, den mechanischen Sinn für Kausalbeziehungen zu besitzen, der für unsere Lebensordnung so wich­ tig ist. Aber die völlig anderen Voraussetzungen des Wahrnehmungs-

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Iebens der Eingeborenen haben ihn zur Frage geführt (S. 311), welche Rolle möglicherweise geschriebene Wörter bei der Verlagerung der Wahrnehmungsgewohnheiten vom Auditiven aufs Visuelle gespielt haben: »Wenn Wörter geschrieben werden, dann werden sie natürlich ein Teil der Augenwelt. Wie die meisten Elemente der Augenwelt werden sie zu statischen Dingen und verlieren als solche den Dynamismus, der für die hörbare Welt im allgemeinen und für das gesprochene Wort im beson­ deren so charakteristisch ist. Sie verlieren vieles von ihrem persönli­ chen Charakter in dem Sinne, daß das gehörte Wort meistens an einen selber gerichtet ist, während das gesehene Wort dies gewöhnlich nicht ist und ganz nach Belieben gelesen werden kann oder nicht. Sie verlie­ ren ihren emotionellen Beiklang und ihre Betonung, wie sie z. B. Mon­ rad-Krohn beschrieben hat . . . So gesellen sich im allgemeinen Wörter dadurch, daß sie sichtbar werden, zu einer Welt, die dem Betrachter verhältnismäßig gleichgültig ist - eine Welt, der die magische >Macht< des Wortes entzogen worden ist.« Carothers dehnt dann seine Beobachtungen auf das Gebiet der »freien Ideenbildung« aus, deren alphabetische Gesellschaften fähig sind, die . bei oralen, nicht-alphabetischen Gemeinschaften aber völlig ausge­ schlossen ist: »Die Vorstellung, daß das sprachliche Denken vom Handeln getrennt werden kann, daß es wirkungslos und auf das Innere des Menschen beschränkt sei oder sein kann . . . hat wichtige soziale sowie kulturelle Folgen. Nur bei Gesellschaften nämlich, die erkennen, daß sprachliche Gedanken dermaßen aufs Innere beschränkt werden können und nicht ihrer Natur nach auf den Schwingen der Macht herausdringen, können - wenigstens in der Theorie - soziale Verhaltenszwänge es sich leisten, die freie Ideenbildung zu ignorieren.« (311) So waren die Menschen im Westen auch dermaßen überrascht, als in einer zutiefst oralen Gesellschaft wie Rußland, wo mit dem Ohr und nicht mit dem Auge spioniert wird, bei den berühmten »Säuberungs«­ Prozessen der 30er Jahre viele sich als vollkommen schuldig bekannten, und zwar nicht aufgrund ihrer Handlungen, sondern aufgrund ihrer Gedanken. In einer in hohem Grade alphabetischen Gesellschaft schafft also die visuelle und verhaltensmäßige Konformität dem Individuum die Freiheit der inneren Abweichung. Anders verhält es sich jedoch in einer oralen Gesellschaft, wo eine innere Verbalisierung schon eine wirksame soziale Handlung bedeutet:

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»Unter diesen Umständen ergibt sich von selbst, daß Verhaltenszwänge den Zwang des Denkens in sich schließen müssen. Da das gesamte Verhalten in solchen Gesellschaften nach ausgesprochen gesellschaftli­ chen Grundsätzen gelenkt und begriffen wird; und da das gelenkte Denken für jedes Individuum eigentlich nur persönlich und einmalig sein kann, ergibt sich ferner aus der Haltung dieser Gesellschaften, daß schon die bloße Möglichkeit solchen Denkens kaum erkannt wird. Wenn daher ein solches Denken auf einer anderen als der streng prak­ tischen und pragmatischen Ebene dennoch vorkommt, sieht man es wahrscheinlich als ein Werk des Teufels oder anderer böser Einflüsse an, als etwas, das man bei sich und den anderen fürchten und meiden muß.« (S. 312) Es mag vielleicht etwas überraschen, wenn von den starren Zwangs­ schemen einer zutiefst oral-auditiven Gemeinschaft gesagt wird, sie würden »in starkem Maße von gesellschaftlichen Grundsätzen her be­ herrscht und ersonnen«. Denn nichts kann den Automatismus und die Starre einer oralen, nicht-alphabetischen Gemeinschaft in ihrer unper­ sönlichen Kollektivität übertreffen. Wenn westliche alphabetische Ge­ meinschaften auf die verschiedenen »primitiven« oder auditiven Ge­ meinschaften stoßen, die es auf der Welt noch gibt, entsteht große Verwirrung. Gebiete wie China und Indien sind zur Hauptsache immer noch gehör- und tastorientiert. Soweit der phonetische Alphabetismus dort Eingang gefunden hat, hat er sehr wenige Änderungen hervorge­ rufen. Selbst Rußland ist seiner Neigung nach zutiefst oral. Nur all­ mählich ändert der Alphabetismus die Fundamente der Sprache und des Empfindens. Alexander Inkeles beschreibt in seinem Buch Public Opinion in Russia, wie selbst in den gebildeten russischen Kreisen diese allgemeine und unbewußte Neigung sich in einer Richtung entwickelt, die allem entge­ gensteht, was eine Gemeinschaft, die schon seit langem vom Alphabet geprägt worden ist, als »natürlich« bezeichnen würde. Diese russische Neigung bedeutet wie die jeder anderen oralen Gesellschaft eine Um­ kehrung unserer Akzente: »In den Vereinigten Staaten und in England ist es die Freiheit, sich zu äußern, das Recht an sich abstrakt genommen, das geschätzt wird . . . In der Sowjetunion andererseits hat man zunächst die Auswirkungen des Freiheitsgebrauchs im Auge, und die Beschäftigung mit der Freiheit als solcher ist zweitrangig. Aus diesem Grunde führen die Verhandlungen zwischen sowjetischen und anglo-amerikanischen Vertretern über be­ stimmte Vorschläge bezeichnenderweise zu keinem Ergebnis, obwohl beide Seiten erklären, daß es die Pressefreiheit geben sollte. Der Ame-

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rikaner spricht gewöhnlich von der Freiheit, sich zu äußern, vom Recht, gewisse Dinge zu sagen oder nicht zu sagen, einem Recht, das nach seiner Behauptung in den Vereinigten Staaten besteht, aber nicht in der Sowjetunion. Der Sowjetvertreter redet gewöhnlich vom Zugang zu den Äußerungs-Mitteln, nicht vom Recht, überhaupt etwas zu sagen; und dieser Zugang ist nach seiner Behauptung den meisten in den Vereinigten Staaten versagt, besteht aber für die meisten in der Sowjet­ union.« Das sowjetische Interesse an den Auswirkungen der Medien ist jeder oralen Gesellschaft eigen, in der jegliche Interdependenz die Folge einer augenblicklichen Wechselwirkung von Ursache und Wirkung in der Gesamtstruktur ist. Dies kennzeichnet auch den Charakter eines Dorfes oder, seit den elektrischen Medien, des globalen Dorfes. Und die Wer­ be- und Public-Relations-Kreise sind es, die sich dieser neuen Dimen­ sion globaler gegenseitiger Abhängigkeit am meisten bewußt sind. Wie der Sowjetunion geht es auch ihnen um den Zugang zu den Medien und deren Auswirkungen. Es geht ihnen nicht um den Selbst-Aus­ druck, und sie wären entsetzt über jeden Versuch, eine öffentliche Anzeige, sagen wir für öl oder Koks, als Medium einer privaten Mei­ nung oder eines persönlichen Empfindens zu gebrauchen. Auf die glei­ che Weise können sich die gebildeten Bürokraten der Sowjetunion nicht vorstellen, daß jemand die öffentlichen Medien für private Zwek­ ke benützen möchte. Diese Haltung hat dabei nichts zu tun mit Marx, Lenin oder dem Kommunismus. Es handelt sich hier um die normale Stammeshaltung einer jeden oralen Gesellschaft. Die Sowjetpresse ist das russische Gegenstück zu unserer Madison Avenue, welche die Pro­ duktion und die gesellschaftlichen Vorgänge lenkt.

Schizophrenie ist vielleicht eine notwendige Folge des Alphabetismus. ls die phonetische Schrift Denken und Handeln noch nicht ausein­ andergerissen hatte - so betont Carothers -, konnte man nicht umhin, alle Menschen für ihre Gedanken im seihen Maße verantwort­ lich zu machen wie für ihre Handlungen. Carothers' Verdienst besteht darin, daß er auf den Bruch zwischen der magischen Welt des Ohres und der neutralen Welt des Auges hinwies und daß er zeigte, wie diese Spaltung das Individuum aus dem Stammesverband riß. Daraus folgt natürlich, daß der alphabetische Mensch, wie wir ihm in der griechi-

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sehen Welt begegnen, ein gespaltener Mensch, ein Schizophrener ist, wie alle alphabetischen Menschen es seit der Erfindung des phoneti­ schen Alphabetes sind. Die Schrift allein besitzt indessen noch nicht das eigentümliche Vermögen der phonetischen Technik, den Menschen aus dem Stammesverband zu sprengen. War einmal das Alphabet mit sei­ ner Abstraktion der Bedeutung vom Laut und mit der Übertragung des Lautes in einen visuellen Kode gegeben, mußten sich die Menschen mit einer Erfahrung auseinandersetzen, die sie verwandelte. Keine pikto­ graphische, ideographische oder hieroglyphische Schreibweise hat die den Stammesverband sprengende Macht des phonetischen Alphabets. Keine andere Schriftform außer der phonetischen hat je den Menschen aus der Bindung einer totalen gegenseitigen Abhängigkeit und Wech­ selbeziehung herausgeführt, die das auditive Geflecht darstellt. Von der magischen resonanten Welt gleichzeitiger Beziehungen, wie sie der orale und akustische Raum bildet, führt nur ein Weg zur Freiheit und Unabhängigkeit des vom Stammesdasein emanzipierten Menschen. Dieser Weg verläuft über das phonetische Alphabet, das den Menschen schlagartig alle Schattierungen einer dualistischen Schizophrenie auf­ zwingt. Bertrand Russel beschreibt in seiner Geschichte der abendlän­ dischen Philosophie (S. 36-37) den Zustand des griechischen Alter­ tums, als es von den ersten Spaltungswehen und vom Trauma des Alphabetismus heimgesucht wurde: »Nicht alle Griechen, wohl aber viele, waren leidenschaftlich, unglück­ lich, mit sich selbst uneins, vom Verstand nach der einen, von ihren Leidenschaften nach der anderen Seite getrieben. Mit den Kräften ihrer Phantasie vermochten sie sich den Himmel, mit ihrer selbstbewußten Überheblichkeit die Hölle zu schaffen. Sie hatten den Grundsatz >Nichts im Übermaß