Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer: Eine qualitative Längsschnittuntersuchung [1. Aufl.] 9783658313432, 9783658313449

Vor dem Hintergrund spezifischer Anforderungen im Feld der Tanzkunst wird aus einer praxeologischen Perspektive in den B

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German Pages VII, 229 [232] Year 2020

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Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer: Eine qualitative Längsschnittuntersuchung [1. Aufl.]
 9783658313432, 9783658313449

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VII
Einleitung (Jasmin Lüdemann)....Pages 1-6
Relevante Forschungsbezüge (Jasmin Lüdemann)....Pages 7-23
Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“ (Jasmin Lüdemann)....Pages 25-50
Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend (Jasmin Lüdemann)....Pages 51-80
Zwischenfazit (Jasmin Lüdemann)....Pages 81-85
Methodische und methodologische Rahmung: Dokumentarische Methode und Längsschnitt (Jasmin Lüdemann)....Pages 87-109
Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits (Jasmin Lüdemann)....Pages 111-160
Einbettung und theoretisierende Überlegungen (Jasmin Lüdemann)....Pages 161-201
Resümee und Ausblick (Jasmin Lüdemann)....Pages 203-209
Back Matter ....Pages 211-229

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Studien zur Schul- und Bildungsforschung

Jasmin Lüdemann

Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer Eine qualitative Längsschnittuntersuchung

Studien zur Schul- und Bildungsforschung Band 84 Reihe herausgegeben von Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland

In der Reihe „Studien zur Schul- und Bildungsforschung“ werden zentrale Ergebnisse der Forschungsarbeiten des „Zentrum für Schul- und Bildungsforschung“ (ZSB) publiziert. Hier lassen sich Projektmonographien, Sammelbände sowie herausragende Dissertationen zu vielfältigen Themen aus dem Spektrum der Forschungsschwerpunkte des ZSB finden. Diese umfassen die Lebensspanne von Kindheit und Jugend, die Entwicklung und Veränderung von Organisationen und Institutionen des Bildungssystems, Prozesse von Interaktionen in pädagogischen Handlungsfeldern sowie Untersuchungen zur Pädagogischen Professionalität und pädagogischen Berufen. Auf theoretisch und empirisch fundierte sowie interdisziplinäre Weise richtet sich die Reihe an Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler sowie an pädagogische Fachkräfte und Studierende.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12308

Jasmin Lüdemann

Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer Eine qualitative Längsschnittuntersuchung

Jasmin Lüdemann Zentrum für Schul- und ­Bildungsforschung Martin-Luther-Universität ­Halle-Wittenberg Halle (Saale), Deutschland Dissertation Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2019 u.d.T. Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer – Eine qualitative Längsschnittuntersuchung

ISSN 2512-2037 ISSN 2512-2045  (electronic) Studien zur Schul- und Bildungsforschung ISBN 978-3-658-31343-2 ISBN 978-3-658-31344-9  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31344-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Relevante Forschungsbezüge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1 Schwerpunkt: Dokumentarische Methode und Längsschnitt . . . . . . 8 2.2 Schwerpunkt: Tanz, Sport und Kunst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.2.1 Tanz, Tänzerinnen- und Tänzerbiographien. . . . . . . . . . . . . . 14 2.2.2 Exkurs: Sport, Sportlerinnen- und Sportlerbiographien . . . . . . 18 2.2.3 Exkurs: Kunst, Künstlerinnen- und Künstlerbiographien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3 Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“. . . . . . . . 25 3.1 Das Feld der künstlerisch-kulturellen Produktion nach Pierre Bourdieu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.2 Strukturelle und kontextuelle Rahmenbedingungen einer Tanzausbildung in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.2.1 Die institutionelle Struktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.2.2 Kontexte und aktuelle Debatten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3.3 Zusammenführung: Das Feld der Tanzkunst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4 Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend. . . . . . . . 51 4.1 Biographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4.1.1 Bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung. . . . . . 54 4.1.2 Bildung als Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen: kritische Bemerkungen. . . . . . . . . . . . . . 60 4.1.3 Sozialisationstheoretisch fundierte Biographieforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

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Inhaltsverzeichnis

4.2 Sozialisation und Jugend. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4.2.1 Soziale Lebenswelten, Felder und konjunktive Erfahrungsräume – systematische Bestimmungen . . . . . . . . 71 4.2.2 Jugend aus biographisch-sozialisationstheoretischer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 5 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 6 Methodische und methodologische Rahmung: Dokumentarische Methode und Längsschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 6.1 Das Erhebungsinstrument aus dem Projektkontext: Das narrative Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 6.2 Erkenntnisinteresse und Fragestellung: Tänzerische Werdegänge aus einer Prozessperspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 6.3 Die dokumentarisch-längsschnittliche Auswertungsstrategie. . . . . . 94 6.3.1 Die Dokumentarische Methode als übergeordnete Auswertungsinstrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 6.3.2 Die fallzentrierte Längsschnittanalyse: Zum methodischen Vorgehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 7 Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits. . . . . . . . . . . 111 7.1 Julian Hendrick: „ich war immer der Tänzer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 7.1.1 Der biographische Stellenwert des Tanzes. . . . . . . . . . . . . . . 116 7.1.2 Der Modus Operandi im Feld der professionellen Tanzkunst und der Zusammenhang zum biographischen Stellenwert des Tanzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 7.2 Freya Schubert: „ich hab schon immer getanzt, is wie so ne Art roter Faden“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 7.2.1 Der biographische Stellenwert des Tanzes. . . . . . . . . . . . . . . 135 7.2.2 Der Modus Operandi im Feld der Tanzkunst und der Zusammenhang zum biographischen Stellenwert des Tanzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 7.3 Elias Blum: „ich zieh das jetzt durch“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 7.3.1 Der biographische Stellenwert des Tanzes. . . . . . . . . . . . . . . . 143 7.3.2 Der Modus Operandi der Tanzkunst und der Zusammenhang zum biographischen Stellenwert des Tanzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Inhaltsverzeichnis

VII

7.4 Maria Fischer: „ich hab immer nur Sachen für den Tanz geopfert wie wärs wenn ich einfach mal den Tanz für irgendwas andere opfer“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 7.4.1 Der biographische Stellenwert des Tanzes. . . . . . . . . . . . . . . . 156 7.4.2 Der Modus Operandi der Tanzkunst und der Zusammenhang zum biographischen Stellenwert des Tanzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 8 Einbettung und theoretisierende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 8.1 Kontrastierungen und der Weg zur Abstraktion. . . . . . . . . . . . . . . . . 162 8.1.1 Der Modus Operandi im Feld der Tanzkunst – Kontrastierung der Rekonstruktionsergebnisse. . . . . . . . . . . . 162 8.1.2 Die normativen Handlungserwartungen im Feld der professionellen Tanzkunst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 8.1.3 Die Bewältigung des (Spannungs-)Verhältnisses von Normerwartungen und impliziten feldrelevanten Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 8.2 Vom Tänzerinwerden und Tänzerwerden – Das Charakteristische an einer Tanzkarriere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 8.3 Die Bedeutung einer professionellen Tanzausbildung für die Jugendphase. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 8.4 Zum Verhältnis von Biographie, Sozialisation und professionellem Tanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 8.5 Zur Dualität von Reproduktion und Transformation – kritische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 9 Resümee und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

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Einleitung

Von Bauman (1995) wurde der Mensch in der Postmoderne als Wanderer beschrieben: „Er weiß nicht, wie lange er dort, wo er ist, noch bleiben wird, und zumeist ist nicht er es, der über die Dauer seines Aufenthalts befindet. Unterwegs wählt er sich seine Ziele, wie sie kommen und wie er sie an den Wegweisern abliest; aber selbst dann weiß er nicht sicher, ob er an der nächsten Station Rast machen wird, und für wie lange. Er weiß nur, dass seines Bleibens wahrscheinlich nicht sehr lange dauern wird. Was ihn fortschreibt, ist die Enttäuschung über den Ort seines letzten Verweilens sowie die nie versagende Hoffnung, der nächste Ort, von ihm noch nicht besucht, oder vielleicht der übernächste möchte frei sein von den Mängeln, die ihm die bisherigen verleidet haben“ (ebd., S. 296). Folgt man Bauman, sind Menschen ständig in Bewegung und setzen ihre Ziele, wie sie kommen. Sie sind oftmals orientierungslos und gleichsam treibt sie die Hoffnung nach einem besseren Leben immer weiter an. Nach Bauman wandern wir durch unser Leben. Diese wohl aus Baumans Perspektive eher betrübliche Metapher lässt sich meines Erachtens vortrefflich darauf beziehen, wie wir unsere Vorstellungen vom Leben in biographische Narrationen übersetzten. Selbst wenn wir verharren, bzw., um es mit Bauman zu sagen, auf einer Bank Rast machen, dreht sich die Welt um uns herum weiter und egal, wie lange die Pause andauert, danach setzen wir den Wanderpfad weiter fort. Eine derartige Wanderung lässt sich nun aus verschiedensten Perspektiven resp. von verschiedensten Standorten aus erzählen. Biographisch-narrative Interviews etwa können zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Wanderung geführt werden (Interviews mit Kindern oder Jugendlichen) oder auch zu einem aus lebenszeitlicher Perspektive spätem Moment (Interviews mit Personen im hohen Alter). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lüdemann, Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer, Studien zur Schul- und Bildungsforschung 84, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31344-9_1

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1 Einleitung

Qualitative Einmalerhebungen haben in der Sozialforschung eine lange Tradition. Die Idee und die ersten Umsetzungen, die gleichen Menschen qualitativ mehrfach zu beforschen, sie also ein Stück weit auf ihrer Wanderung zu begleiten, steckt noch relativ in ihren Anfängen. Erst nach und nach werden in den letzten Jahren methodische und methodologische Reflexionen dazu angestoßen (vgl. Asbrand et al. 2013; Thiersch 2020). Die forschungspraktischen Entwicklungen zum qualitativen Längsschnitt fügen sich darüber hinaus in aktuelle Debatten in der empirischen Forschungslandschaft über triangulative Designs ein (vgl. Lüdemann/Otto 2019). Im Rahmen dieser Untersuchung wurden potentiell angehende Tänzerinnen und Tänzer zu insgesamt drei verschiedenen Zeitpunkten interviewt. Das erste Interview fand im Alter von 15 bis 16 Jahren statt, die darauffolgenden Interviews wurden ungefähr in einem Zeitabstand von anderthalb bis zwei Jahren geführt. Den vier Fällen dieses Samples ist gemeinsam, dass sie zum Zeitpunktpunkt des ersten Interviews ein Gymnasium mit tänzerischem Profil besuchen und dort parallel zu ihrer schulischen Ausbildung eine professionelle tänzerische Vorausbildung absolvieren, so dass davon auszugehen ist, dass sie durchaus ernsthafte Ambitionen haben könnten, das Berufsfeld der Tänzerin und des Tänzers anzustreben. Das empirische Material stammt aus dem Forschungsprojekt „Exklusive Bildungskarrieren von Jugendlichen und der Stellenwert von Jugendkulturen“ (vgl. 6) – eines der Teilprojekte der Forschergruppe „Mechanismen der Elitebildung im deutschen Bildungssystem“ – und wird im Rahmen dieser Arbeit aus einer anderen Perspektive und unter einem alternativen Erkenntnisinteresse beleuchtet. Im Vordergrund steht die Frage, wie sich biographische Prozesse des Tänzerin-Werdens und des Tänzer-Werdens vor dem Hintergrund des Feldes der Tanzkunst vollziehen? Ziel ist es, die persönlichen Wanderungen zur professionellen Berufstänzerin oder zum Berufstänzer prospektiv zu begleiten und somit auch aus triangulierender Perspektive einen umfassenderen Einblick in Biographisierungsprozesse zu erhalten. Mittels des qualitativen Längsschnitts liegen drei je spezifisch standortgebundene Narrationen für jeden Fall vor, die es kaleidoskopartig zusammenzuführen gilt (vgl. 6.3.2). Damit wird das Werden zur Tänzerin und zum Tänzer in den Blick genommen. Ein Thema, welches bis dato in der Forschungslandschaft nicht zu finden ist. Bislang gibt es, allerdings auch nur marginal, empirische Studien, die vornehmlich das Geworden-Sein untersuchen (vgl. 2.2.1). Was man mit einer derartigen Perspektive nicht in den Blick bekommt, sind diejenigen, die den Weg zur Tänzerin und zum Tänzer zwar begonnen haben, ihn aber dann abbrechen. Interessanterweise gibt es in diesem Sample eine Tänzerin und auch einen Tänzer, die an unterschiedlichen Bezugspunkten ihrer Tanzausbildung ihr zuvor verfolgtes

1 Einleitung

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Ziel, eine professionelle Berufstänzerin und ein professioneller Berufstänzer zu werden, aufgeben. Die empirischen Fallrekonstruktionen zeigen auf, dass sich die normativen Handlungsanforderungen des Feldes der Tanzkunst vor dem Hintergrund ihres Modus Operandi nicht mehr konfliktfrei bewältigen lassen. Nicht zuletzt wird auch anhand dieser Erkenntnis deutlich, wie relevant der Modus Operandi, den ich als feldübergreifend verstehe, dafür ist, wie sich bestimmte biographische Prozesse vollziehen bzw. wie das Spannungsverhältnis zu den normativen Handlungsanforderungen, die sich einem feldspezifisch stellen, bewältigt werden. Mit der dokumentarischen Längsschnittanalyse ließ sich aufzeigen, dass der feldrelevante Modus Operandi sich bei allen untersuchten Tänzerinnen und Tänzern in den jeweils drei geführten Interviews gleichsam persistent dokumentiert, also dynamisch fortgeschrieben wird, was auf eine gewisse Stabilität hindeutet. Wandlungen werden im Laufe der Tanzausbildung und dem steigenden Professionalisierungsgrad lediglich auf struktureller Ebene deutlich. Die Pfade und Wege der Wanderung verändern sich, die Art und Weise, wie die Personen wandern, bleibt gleich und bestimmt grundlegend die Route. In einem ersten Schritt (vgl. 2) werden relevante Forschungsbezüge dargelegt, wobei nicht nur thematisch bedeutungsvolle Verweise hergestellt werden, sondern der Blick zunächst auf das methodische Design gerichtet ist. Die Längsschnittanalyse bestimmt den Gegenstand maßgeblich mit. Bislang jedoch gibt es lediglich vereinzelte methodische und methodologische Reflexionen zu den neuen Herausforderungen, vor denen man steht, wenn man Mehrfacherhebungen mit der Dokumentarischen Methode analysieren möchte (vgl. Dreier et al. 2018; Kramer 2013; Lüdemann 2020). Daher ist ein Blick auf bisherige Längsschnittprojekte, die explizit mit der Dokumentarischen Methode arbeiten (vgl. Helsper et al. 2004; Helsper et al. i.E.; Krüger et al. 2012; Krüger et al. 2018; Niemann 2015; Köhler/Thiersch 2013; Litau et al. 2015) unabdingbar, weil sie Auskunft über Auswertungsstrategien geben (vgl. 2.1). Anschließend richtet sich das Interesse vornehmlich auf thematische Aspekte. Es werden Studien zum Tanz sowie zu Tänzerinnen und Tänzern fokussiert. Hier lassen sich nur wenige qualitativ ausgerichtete Studien nachzeichnen, was mich dazu veranlasst, ein wenig über den Rand zu schauen und überdies Inspirationen in empirischen Studien zu Sport, Sportlerinnen und Sportlern auf der einen und zu Kunst, Künstlerinnen und Künstlern auf der anderen Seite zu suchen. Es liegt nahe, den Blick auf diese zwei Bereiche auszuweiten, da der Tanz oft in der Dualität von Leistungssport und Kunst diskutiert wird. Hier schränke ich mich jedoch hinsichtlich meines Erkenntnisinteresses ein und führe lediglich Studien und auch Diskurse an, die im Verlauf der Arbeit von Relevanz sein werden (vgl. 2.2).

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1 Einleitung

Das folgende Kapitel (vgl. 3) widmet sich der gegenständlichen Rahmung, die zunächst mit Hilfe von Bourdieus (2016) Konzeption zum Feld der ­künstlerisch-kulturellen Produktion gefasst wird. Es ist nicht das Ziel, ungleichheitstheoretische Fragen aufzuwerfen, sondern vielmehr das Feld abzustecken. Ferner wird in diesem Kapitel die Tanzausbildung in Deutschland resp. der Weg zur Berufstänzerin und zum Berufstänzer fundiert beleuchtet. Einerseits wird der Versuch unternommen, die institutionell-strukturellen Bedingungen einer Tanz­ ausbildung nachvollziehbar zu beschreiben und abzubilden (vgl. 3.2.1) und anderseits werden aktuelle Diskurse und Kontexte im Feld der deutschen Tanzausbildung aufgezeigt (3.2.2). Die dargelegten Erkenntnisse beruhen auf umfassenden Recherchearbeiten und einem Experteninterview, das an dieser Stelle analytisch deskriptiv herangezogen wird. Letztlich wird in einem Unterkapitel (vgl. 3.3) argumentiert, warum ich vor dem Hintergrund der theoretischen Konzeption von Bourdieu und den kontextuellen und strukturellen Gegebenheiten der Tanzausbildung und der Berufsausübung von einem Feld der professionellen Tanzkunst spreche. Die vergleichsweise ausführliche gegenständliche Rahmung dient mir an späterer Stelle dazu, die normativen Handlungsanforderungen des Feldes der Tanzkunst begründet und nachvollziehbar beschreiben zu können (vgl. 8.1.2). Nach dem Kapitel zu den Gegenstandsbestimmungen folgt die theoretische Rahmung (vgl. 4). Ich lehne mich an eine sozialisationstheoretisch orientierte Biographieforschung und speziell mit Alheit und Dausien (2000) an eine konstruktivistische Perspektive an. Diesen Ansatz entwickle ich in Abgrenzung zur bildungstheoretisch fundierten Biographieforschung, die das Ziel hat, Bildungsprozesse zu identifizieren und diese als Transformationen fasst (vgl. 4.1.1). Problematisch hinsichtlich meines Zugangs erscheint mir dies, weil Transformation hier als eine Weiter- oder Höherentwicklung eines Selbst- und Weltverständnisses verstanden wird. Prozesse des Scheiterns etwa oder der Marginalisierung geraten unter dieser Perspektive nicht in den Blick (vgl. 4.1.2). Mit dem konstruktivistisch sozialisationstheoretischen Blick auf Biographie geraten Prozesse des Werdens in den Vordergrund. Biographische Entwicklungen oder Aneignungsprozesse sind aus meiner Sicht zwar immer Weiterentwicklungen im Zeitlichen, müssen aber nicht zwingend Höher- oder Besserentwicklungen sein (vgl. 4.1.3). Darüber hinaus wird in diesem Kapitel zusätzlich der Blick geweitet und es werden für diese Untersuchung relevante begriffliche Bezüge hergestellt (vgl. 4.2). Zunächst werden die Konstrukte der sozialen Lebenswelt, des Feldes und des Erfahrungsraumes zueinander diskutiert (vgl. 4.2.1). Es wird verdeutlicht, dass allen Konzepten ein Verweis auf sozialisatorische Kontexte inhärent

1 Einleitung

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ist. Den methodologischen und methodischen Prämissen der Arbeit anlehnend, werde ich vornehmlich mit dem Begriff des Erfahrungsraumes operieren. Aus sozialisationstheoretischer Perspektive fokussiere in dieser Untersuchung eine spezifische Lebensphase, die eher vage als augenscheinlich zu bestimmen ist. Daher wird in einem weiteren Unterkapitel eingehend erörtert, wie sich Jugend oder Jugendlichkeit als Gegenstand aus einer biographisch-sozialisatorischen Perspektive fassen lässt (vgl. 4.2.2). Für diese ­ Arbeit möchte ich mich zu dem Konzept des jungen Erwachsenen hinwenden und damit eine gewisse biographische Offenheit in der Entwicklung vom Jugendlichen zum Erwachsenen betonen. An dieser Stelle dann wird ein kurzes Zwischenresümee eingezogen, in dem die bisherigen Gedanken kondensiert auf den Punkt gebracht werden und zugespitzt dargelegt wird, unter welchen formaltheoretischen Ausgangspunkten das empirische Material zu beleuchten ist (vgl. 5). Dann folgt die Beschreibung der methodologischen und methodischen Grundlagen (vgl. 6). Während zu allererst der Projektkontext und das mir zur Verfügung gestellte empirische Material erläutert wird (6.1), bezieht sich ein zweiter Schritt darauf, das eigene Erkenntnisinteresse darzulegen (vgl. 6.2). Ich berufe mich auf die Prämissen der Dokumentarische Methode und orientiere mich weitgehend an den späteren Ausführungen von Bohnsack (2017) zur praxeologischen Wissenssoziologie (vgl. 6.3.1). Hinsichtlich des methodischen Vorgehens verfolge ich im Gegensatz zu bisherigen längsschnittlichen Forschungsdesigns eine verstärkt einzelfallzentrierte Herangehensweise, die vornehmlich intraindividuell kontrastiv operiert (vgl. 6.3.2). Das nächste Kapitel (vgl. 7) stellt die Rekonstruktionsergebnisse für die vier Tänzerinnen und Tänzer in Form von Fallverlaufsportraits dar. Für jeden Fall gibt es einen ersten Teil, der die erzählten biographischen Daten und Fakten, über die in allen drei Interviews berichtet wurde, in chronologischer Reihenfolge beschreibt. Der darauffolgende Teil des Fallverlaufportraits stellt die Rekonstruktionsergebnisse dar und zeigt auf, erstens welchen biographischen Stellenwert der Tanz für die jeweiligen Fälle einnimmt und zweitens welcher Modus Operandi sich in dem spezifischen Feld der Tanzkunst resp. in dem Erfahrungsraum dokumentiert und letztlich auch, wie dies miteinander zusammenhängt. Das achte Kapitel zeichnet schließlich die Vorgehensweise von den Rekonstruktionsergebnissen hin zu theoretisierenden Überlegungen nach. Während meine Analyse zunächst die Einzelfälle aus einer biographisch, sozialisationstheoretischen Perspektive fokussieren, versuche ich mittels der Kontrastierung der biographischen Prozesse, auf eine eher generalisierende Ebene zu gelangen.

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1 Einleitung

Die Ergebnisse der Kontrastierung und der Weg zur fallübergreifenden Abstraktion werden in einem ersten Unterkapitel angeführt (vgl. 8.1). Dort gehe ich in einem Dreischritt vor: Zunächst werden die rekonstruierten feldrelevanten Modi Operandi zueinander in Bezug gesetzt (vgl. 8.1.1). Anschließend wird verknappt dargelegt, mit welchen normativen Handlungsanforderungen sich die Tänzerinnen und Tänzer auf ihrem Weg in die tänzerische Berufswelt konfrontiert sehen (vgl. 8.1.2), um dann, letztlich darlegen zu können, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem jeweiligen Modus Operandi und den Normen im Feld bewältigt wird (vgl. 8.1.3), womit sich grundlegend auch die Forschungsfrage, wie sich biographische Prozesse des Tänzerin-Werdens und des ­Tänzer-Werdens vor dem Hintergrund des Feldes der Tanzkunst vollziehen, beantworten lässt (vgl. 8.1.3). Auch wenn die Generalisierungsbestrebungen nicht in eine Typologie, wie es die Dokumentarische Methode im Grunde vorsieht, überführt werden konnten, verweisen die Rekonstruktionsergebnisse auf spannende Aspekte, die in den weiteren Unterkapiteln (vgl. 8.2, 8.3, 8.4, 8.5) zusammengefasst werden. Zunächst werden die Rekonstruktionsergebnisse in den bisherigen Forschungsstand eingebettet, um letztlich aufzeigen zu können, was das Spezifische an dem Erleben einer professionellen Tanzausbildung ist (vgl. 8.2). Folgend wird die Bedeutung einer professionellen Tanzausbildung für die Jugendphase dargelegt (vgl. 8.3). Daran anschließend wird das Verhältnis von Biographie, Sozialisation und professionellem Tanz genauer beleuchtet (vgl. 8.4). Und letztlich wird die Frage, die sich als deutlich relevant für diese Arbeit erwies – die nach der Beschaffenheit von Reproduktion und Transformation – auf der Grundlage meiner theoretischen Ausgangslage sowie der Erkenntnisse aus den empirischen Rekonstruktionen erneut aufgeworfen und zu beantworten versucht (vgl. 8.5). Es wird verdeutlicht, dass der Modus Operandi resp. der Habitus eine stabile und dynamische Entität zugleich repräsentiert. Abschließend (vgl.  9) werden die wichtigsten Ergebnisse resümierend zusammengefasst, wobei auch kritisch auf die Defizite einer derartigen Herangehensweise verwiesen wird.

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Relevante Forschungsbezüge

Der Forschungsstand ist in zwei Teile untergliedert. In einem ersten Abschnitt liegt der Fokus auf der Darstellung von Studien, die hinsichtlich der methodischen Anlage dieser Untersuchung wegweisend sind. Methodische Diskurse in den Forschungsstand einzubetten, ist ungewöhnlich, macht in diesem Fall aber durchaus Sinn, da die Dokumentarische Längsschnittanalyse methodisch und methodologisch bisher nur marginal diskutiert wurde und somit Anhaltspunkte für forschungspraktische Längsschnittperspektiven in den Designs der längsschnittlichen Forschungsprojekten selbst zu finden sind. Fokussiert werden Projektzusammenhänge, die praxeologisch-wissenssoziologisch arbeiten und die Jugendphase in den Blick nehmen. Anschließend werden thematisch relevante Studien dargelegt (vgl. 2.2). Zunächst richtet sich der Fokus auf empirische Studien, die weitestgehend den Tanz oder Tänzerinnen- und Tänzerbiographien betreffen (vgl. 2.2.1), dann öffnet sich der Blick einerseits hin zum Thema Sport und Sportlerinnen- und Sportlerbiographien (vgl. 2.2.2) und anderseits hin zum Thema Kunst, Künstlerinnenund Künstlerbiographien (vgl. 2.2.3). Da der Tanz oftmals in dem Spannungsfeld zwischen Hochleistungssport und Ästhetik diskutiert wird, ist dieser Weitblick deutlich erkenntnisgenerierend für die Zielsetzung und Fragestellung dieser Arbeit.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lüdemann, Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer, Studien zur Schul- und Bildungsforschung 84, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31344-9_2

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2  Relevante Forschungsbezüge

2.1 Schwerpunkt: Dokumentarische Methode und Längsschnitt Qualitative Längsschnittstudien im deutschsprachigen Raum findet man derzeit hauptsächlich in der Schul- und Bildungsforschung (vgl. Asbrand et al. 2013; Kade 2011; Helsper et al. 2014; Kramer 2013; Krüger et al. 2018, Schneider 2018), insbesondere auch im Rahmen von Übergangsforschung (vgl. ­Leuthold-Wergin 2014; Niemann 2015; Petersen 2016; Schneider 2018), sowie vereinzelt in der Lebenslaufforschung (Holland 2011; Kluge/Kelle 2001) Organisationsentwicklung (Vogd 2006; 2007; Fölker 2014) und in der Entwicklungspsychologie (Witzel 2010) oder auch in der Erforschung von Berufsentscheidungen (Linde 1993), wobei es natürlich immer wieder Schnittstellen gibt zwischen den benannten Feldern. Die Gegenstandsbereiche qualitativer Längsschnittforschung sind mittlerweile entsprechend vielfältig: von Jugend, Familie und Biographie, über Schule und Unterricht, sowie Religion und Glaube (vgl. Thiersch 2020). Erste Ansätze einer Längsschnittanalyse wurden von Hurrelmann und Wolf (1986), die sich Bildungslaufbahnen im Jugendalter angeschaut haben, und auch von Heinz und Krüger (1991), die am Übergang von der Schule in den Beruf geforscht haben, entwickelt. Seither ist die Forschungspraxis auch hinsichtlich der methodischen und methodologischen Verortung breit aufgestellt. Es gibt vereinzelte Längsschnittstudien im Rahmen unterschiedlicher Methodenschulen (für die Objektive Hermeneutik siehe: Dreier 2017; für die Prozessstrukturanalyse siehe: Schneider 2018; für die Grounded Theory siehe Franzheld 2020; Ethnographie siehe Meier 2020). In den letzten Jahren wurden vermehrt auch Längsschnittstudien mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet (vgl. Kramer 2013; Krüger et al. 2012; Krüger et al. 2018; Niemann 2015; Petersen et al. 2020; Wittek et al. 2020). Doch im Grunde ist allen Auswertungsmethoden gemein, dass Prozess- und Strukturannahmen bereits in ihrer Methodologie eingelagert sind. Qualitative Forschungsmethoden zielen generell auf den Nachvollzug von Genese und Veränderungen sozialer Phänomene und formulieren den Anspruch, derartige Prozesse  zu erfassen (Thiersch 2020, S. 15). Es ließe sich also fragen, welchen Mehrwert qualitative Längsschnittstudien tatsächlich haben. Ist der erhöhte Aufwand der Mehrfacherhebungen und der umfangreichen Auswertungsphasen gerechtfertigt? Die Studie von Rosenberg (2011) verdeutlicht, inwiefern die Rekonstruktion von Habitustransformationen auf der Grundlage von Einmalerhebungen an ihre Grenzen kommen und verweisen damit gleichzeitig auf das Potential

2.1  Schwerpunkt: Dokumentarische Methode und Längsschnitt

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l­ängsschnittlich angelegter Untersuchungen: Auf der Grundlage von Einmalerhebungen zeigen sich Wandlungsprozesse weitestgehend auf der Ebene des „Was“ aber nicht auf der Ebene des „Wie“ (vgl. Rosenberg 2011, Kramer 2013). Eine Längsschnittperspektive ermöglicht, den Forschungsgegenstand in Entwicklung bzw. im Werden zu betrachten (vgl. Dreier et al. 2018). Erstmals vereint der Sammelband zur qualitativer Längsschnittforschung von Thiersch (2020) systematisch method(olog)ische und theoretische Perspektiven sowie erste forschungspraktische Reflexionen und zeigt überzeugend den Mehrwert auf. Längsschnittanalysen ermöglichen neue „Relation[en] und Verknüpfung[en] der Sinn- und Handlungsmuster“ (ebd., S. 19), was einen erkenntnislogischen Mehrwert hervorbringt, so das Resümee. Und dennoch steht die qualitative Längsschnittanalyse am Beginn ihrer forschungspraktischen Erprobung. Vor allem methodische und methodologische Auseinandersetzungen sowie theoretische Bestimmungen sind derzeit noch rar (vgl. 6.3). Aus diesem Grund soll im Rahmen dieses Kapitel auch ein Blick auf längsschnittliche Projektzusammenhänge geworfen werden, deren Analyseblick praxeologisch-wissenssoziologisch ausgerichtet ist und im Rahmen von Jugendforschung zu verorten sind. Ferner werden folgend Studien fokussiert, die abgeschlossen sind und als Ergebnis eine längsschnittliche Typologie aufweisen. An erster Stelle ist die Studie „Exklusive Bildungskarrieren und der Stellenwert von Peerkulturen“ zu erwähnen, da für diese Untersuchung das empirische Material des Projektes verwendet wird und damit ein enger Zusammenhang besteht (ausführlicher dazu vgl. 6). Das Projekt ist ein Teilprojekt der Forschergruppe 1612 „Mechanismen der Elitebildung im deutschen Bildungssystem“. Die insgesamt fast neunjährige von der DFG geförderte Längsschnittstudie untersucht unter einer sozialkonstruktivistischen und praxeologischen Perspektive bildungsbiografische Karrierewege, die Relevanz von außerunterrichtlicher und außer- bzw. nachschulischer Peerkulturen für diese sowie Deutungsmuster von Elite und Exzellenz von zunächst Jugendlichen der 10. Klasse und später dann jungen Erwachsenen. Dazu wurden Experteninterviews mit Schulleiterinnen und Schulleitern durchgeführt und im Abstand von ca. zwei Jahren Interviews mit Jugendlichen und Gruppendiskussionen mit ihnen und deren Peers erhoben und unter einer Längsschnittperspektive mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet. An dieser Stelle interessiert mich die Studie weniger unter inhaltlichen Gesichtspunkten, sondern explizit wegen des längsschnittlich angelegten methodischen Vorgehens, welches hier schemenhaft dargelegt und an anderer Stelle erneut eingeholt wird (vgl. 6.3). Auf der Grundlage der Typologien der Querschnitte – die bereits die individuellen und kollektiven Orientierungen miteinander relativieren und den Stellenwert der Peers in den Blick nimmt – wurden

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2  Relevante Forschungsbezüge

zwei L ­ ängsschnitttypologien erarbeitet: die Fortschreibung der Typologie der Relationen und die Relationen der Längsschnitte der Dimensionsausprägungen (vgl. Leinhos et al. 2018a/b). Die erste betrifft die Frage der Weiterentwicklung der akademischen und profilbezogenen Orientierungen und die zweite Längsschnitttypologie nimmt die Veränderung der Bedeutung der Peers für die Bildungswege im Zeitverlauf in den Blick. In ihren Längsschnitttypologien verbinden die Forscherinnen und Forscher eine relationale Typenbildung mit einer Mehrebenenanalyse. In den Begrifflichkeiten des Längsschnitts orientieren sich Leinhos et al. (2018a) an Kramer (2013). Eine Veränderung der Relevanz der Peers etwa wird als grundlegende Transformation bezeichnet, da sie hierauf den Fokus des Forschungsinteresses legen (Leinhos et al. 2018a). Ferner operieren sie mit den Begriffen der dynamischen Fortschreibung, des grundlegenden Wandels und des partiellen Wandels (ebd.). In der erstgenannten Längsschnitttypologie konnten folgende Typen erarbeitet werden: (1) Typus der dynamischen Fortschreibung sowohl akademischer als auch profilbezogener Orientierungen, (2) Typus der dynamischen Fortschreibung der akademischen Bildungsorientierungen bei partiellem Wandel profilbezogener Orientierungsgehalte hin zu freizeitlicher Ausübung und (3) Typus des grundlegenden Wandels akademischer und profilbezogener Orientierungen (ebd.). In einer zweitgenannten Längsschnitttypologie ließen sich zwei Typen rekonstruieren: (1) den Typus der dynamischen Fortschreibung und (2) den Typus der Transformation der Bedeutung der Peers von einer Parallelwelt zu einer Unterstützungsgemeinschaft (ebd.). Eng an diesen Kontext ist das Forschungsprojekt „Distinktion im Gymnasialen? Prozesse der Habitusbildung an ‚exklusiven‘ höheren Schulen“ gekoppelt. Es ist auch eines der Teilprojekte der DFG-Forschergruppe 1612 und wurde über einen Zeitraum von neun Jahren durchgeführt. In einer ersten umfangreichen Erhebungs- und Auswertungsphase wurden eine regionale und institutionelle Analyse der Gymnasien und die Rekonstruktion der Schülerhabitus an den exklusiven Gymnasien und den dazu kontrastierenden nichtexklusiven Gymnasien durchgeführt (vgl. Helsper et al. 2018). In einer zweiten Projektphase wurde eine relationale Längsschnitttypologie gymnasialer Passungsverhältnisse von der 8. bis zur 12. Klasse entwickelt (Helsper et al. i.E.). Diese beruht auf den Queranalysen der Passungsverhältnisse von schulund bildungsbezogenen Orientierungen der Schülerinnen und Schüler zu den rekonstruierten feldspezifischen Anforderungen der jeweiligen exklusiven und nicht-exklusiven Gymnasien, was als der institutionelle ideale Schülerhabitus der jeweiligen Gymnasien bezeichnet wird. Daraufhin stand die Frage, ob und wenn ja, wie sich die Passung der Schülerinnen und Schüler zum institutionellen idealen S ­ chülerhabitus von der 8. bis zur 12. Klasse verändert hat und ob sich

2.1  Schwerpunkt: Dokumentarische Methode und Längsschnitt

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die Passungskonstellationen transformiert oder reproduziert haben, leitend im ­Vordergrund. Es ließen sich vier Typen von Passungsverläufen rekonstruieren: Typ 1: Zunahme der Passung, Typ 2: Reproduktion der Passung, Typ 3: Passungsreduktion, Typ 4: Selbstexklusion durch Entwicklung von Passungsproblemen. Zudem gibt es verschiedenste Strukturvarianten der Typen, wie beispielsweise der Typ 1a, in dem es zu einer Verstärkung der Passung durch schulbezogene Enaktierung kommt; während es bei Typ 1b die Arbeit der Schülerinnen und Schüler an den Rahmenbedingungen zu einer besseren Passung führt; Typ 1c ist durch die Zunahme der Passung auf kommunikativer Ebene gekennzeichnet. In der gesamten Passungsverlaufstypologie dominieren reproduktive Entwicklungslinien. Transformationslinien fehlen gänzlich (ebd.). Als weiterer Referenzrahmen dient die Längsschnittstudie „Peergroup und schulische Selektion“, in der Bildungsbiographien und Freundschaftsbeziehungen von Kindern und Jugendlichen untersucht wurden (Krüger et al. 2012; 2014). Dafür wurden mit Kindern und Jugendlichen in der fünften, siebten und neunten Klasse narrative Interviews und Gruppendiskussionen geführt und mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet (ebd.). Anhand zehn ausgewählter Ankerfälle (Krüger et al. 2012, S. 33) wurden für jede Erhebungswelle individuelle und kollektive Orientierungen rekonstruiert, deren Passungsverhältnisse bestimmt und Quertypologien entwickelt. Auf der Grundlage der Quertypologien wurden dann sinngenetisch inspirierte Längsschnittmuster herausgearbeitet: Zunächst von der ersten zur zweiten und dann zur dritten Welle und dann in einem weiteren Schritt abstrahierend über den gesamten Zeitraum hinweg. Diese „Längsschnittbasistypologie“ (ebd., S. 59 ff.) beschreibt einerseits den Wandel des Passungsverhältnisses und anderseits den sich wandelnden Stellenwert der Peers. Beispielhaft sei hier der Typus der Reduktion pragmatischer schulischer Bildungsaspirationen und erneuter Wandel der Bedeutung der Peers vom Risikopotential zurück zur Parallelwelt (ebd., S. 50) erwähnt. Eine weitere für mein methodisches Vorgehen inspirierende Arbeit ist die Längsschnittstudie „Erfolg und Versagen in der Schulkarriere“, in der biographische Verarbeitungen schulischer Selektionsereignisse auf der Datengrundlage von narrativ-biographischen Interviews am Ende der vierten, zu Beginn der fünften und in der siebten Klasse untersucht wurden. Im Rahmen dieser Studie wurde eine Längsschnitttypologie entwickelt, die sich an den formaltheoretischen Dimensionen der Dokumentarischen Methode und deren Konzeption des Orientierungsrahmens und seiner Prägung durch den positiven und negativen Gegenhorizont und der Enaktierung orientiert (Helsper et al. 2004). Der Typus der dynamischen Reproduktion (1) etwa, ist gekennzeichnet durch Stabilität

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2  Relevante Forschungsbezüge

bzw. Kontinuität des Orientierungsrahmens, während der Typus des wachsenden Transformationsdrucks (2) sich dadurch auszeichnet, dass der Orientierungsrahmen (noch) dominant ist, sich allerdings zunehmend Spannungsmomente andeuten. In dem Typus des leichten Wandels (3) zeigen sich Veränderungen auf Ebene der Enaktierung, diese gehen aber noch nicht mit Verschiebungen in den Gegenhorizonten einher. Der Typus des mittleren Wandels (4) äußert sich durch Verschiebungen in den positiven und/oder negativen Gegenhorizonten bei gleichbleibender Enaktierung. Gedankenexperimentell wird ein fünfter Typus, der des starken Wandels (5) angeführt, in dem es zu Verschiebungen von positiven und negativen Gegenhorizonten sowie Veränderungen der Enaktierung kommt (Kramer 2013, S. 26 ff.). Niemann (2015) schließt mit ihrer Studie „Der Abstieg in die Hauptschule“ und ihrer längsschnittlichen Verlaufstypik des schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmens an die Forschungsdesigns von Krüger et  al. (2012) und Kramer et al. (2013) an (Niemann 2015, S. 79). Auf der Grundlage der Rekonstruktionen der Interviews der ersten Erhebung lässt sich bei allen vier untersuchten Jugendlichen ein Ambivalenzverhältnis zur Schule nachzeichnen. Aus einer Längsschnittperspektive wird nun im Material der zweiten Erhebung am Einzelfall danach gefragt, wie sich dieses Ambivalenzverhältnis weiterentwickelt hat. Letztlich konnten zwei Typen erarbeitet und ein weiterer gedankenexperimentell angeführt werden: Bei Typ (1) hat sich das Ambivalenzverhältnis verfestigt, bei Typ (2) hat es sich ausbalanciert und bei Typ (3) hätte es sich aufgelöst (ebd., S. 253). Des Weiteren ist die Längsschnittstudie von Litau et al. (2015) zum „Jugendkulturellen Alkoholkonsum“ für diese Studie – insbesondere für das methodische Vorgehen – richtungweisend. Dort wird anhand fünf ausgewählter Ankerfälle, die zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten interviewt wurden, das Zusammenspiel von biographischer Entwicklung und Gruppenprozessen untersucht. Für die Analyse wurde zunächst für jeden Fall ein Gerüst der relevanten biographischen Fakten angefertigt und dann wurde jeder Fall für sich entsprechend der Chronologie der Interviews ausgewertet und die Ergebnisse in einer Fallstruktur (ebd., S. 266) zugespitzt dargestellt. Mittels dieses fallorientierten Vorgehens ließen sich Wege in und Wege aus dem jugendlichen Rauschtrinken rekonstruieren und unter den zwei Prozesstypen, (1) den Typus Herstellen von Kontinuität und (2) den Typus (2) Herstellen von Wandel, systematisieren (ebd., S. 266). Die knapp skizzierten Dokumentarischen Längsschnittstudien und ihre Ergebnisse in Form von Typologien werfen verschiedene Fragen auf, die bislang gar nicht oder nur marginal methodisch und methodologisch reflektiert wurden. Im Folgenden werden diese kurz angesprochen und an einer anderen Stelle der Arbeit wieder eingeholt und vertieft beleuchtet.

2.1  Schwerpunkt: Dokumentarische Methode und Längsschnitt

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Erstens ist zu fragen, warum auf Ebene der Typologisierung lediglich zwei Erhebungsphasen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, obwohl die meisten Projekte drei Wellen erhoben haben. Leinhos et al. (2018b) begründen dies aus einer forschungspraktischen Perspektive und merken an, dass bei der Systematisierung aller Erhebungszeitpunkte die Spaltung der Typen drohen würde und somit die Generalisierungsfunktion einer praxeologischen Typenbildung nicht gewährleistet werden könne (vgl. ebd., S. 186). Daher bezieht sich ihre Typenbildung lediglich auf die Rekonstruktionen der ersten und dritten Erhebungswellen. Bisher gibt es noch keinen methodischen Weg, eine Typenbildung über mehr als zwei Erhebungszeitpunkte hinweg zu realisieren (vgl. 6.3). Darüber hinaus fällt in der Zusammenschau der längsschnittlich angelegten Forschungsprojekte auf, dass der Großteil dessen mit einem Vokabular, welches vornehmlich aus der Biographieforschung, aus der allgemeinen Soziologie oder auch aus der Entwicklungspsychologie stammt, operiert. Begriffe wie Transformation oder Wandel werden vornehmlich methodisch und methodologisch unreflektiert auf einen längsschnittlichen Forschungskontext bezogen (vgl. 4.1.2). Weiterhin ist anzumerken, dass bisher nicht geklärt wurde, um welche Form der Typenbildung es sich bei einer Längsschnittperspektive handelt. Krüger et al. (2012) legen eine sinngenetische Perspektive auf ihre Typenbildung, Leinhos et al. (2018a/b) verbinden eine relationale Typenbildung mit einer Mehrebenenanalyse. Eine soziogenetische Typenbildung im Längsschnitt gibt es bisher nicht, was Fragen aufwirft. Ob und wie genau soziogenetische Typen im Längsschnitt gebildet werden können, ist noch nicht beantwortet. Neben den zukünftig noch intensiver zu diskutierenden Herausforderungen einer dokumentarischen Längsschnittperspektive, müssen auch deren Erträge offensiver dargelegt werden. Welche Potentiale und Erkenntnisgewinne hat die Mehrfacherhebung im Gegensatz zu einer Einmalbefragung. Wie bereits in Bezug auf Rosenberg (2011) erwähnt, ermöglichen Mehrfacherhebungen, biographische Prozesse nicht mehr nur auf der Was-Ebene, sondern darüber hinaus auf der Wie-Ebene zu erfassen. Damit lässt sich ein umfassenderes Bild von Biographie zeichnen; dennoch aber keines, welches allumfassend ist. Aus der biographischen Momentaufnahme eines Interviews werden – in dieser Arbeit etwa – drei biographische Momentaufnahmen. Das Konstrukt Biographie wird von verschiedenen zeitlichen Blickwinkeln her betrachtet, die analytisch kaleidoskopartig zusammengeführt werden. Das analytische Vorgehen und was explizit unter einer kaleidoskopartigen Zusammenführung – im Grund ließe sich dies auch als Triangulation fassen (vgl. Lüdemann/Otto 2019) – zu verstehen ist, soll an anderer Stelle ausführlicher beschrieben werden (vgl. 6.3). Festzuhalten bleibt, dass im Rahmen qualitativer Längsschnittforschung mit der Dokumentarischen

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2  Relevante Forschungsbezüge

Methode bisher nur vereinzelt erprobte Auswertungsstrategie entwickelt wurde und eine Auseinandersetzung mit den methodologischen und methodischen Prämissen erst in den letzten Jahren in Schwung gekommen ist. Mit jedem Forschungsbeitrag wird der noch relativ junge Diskurs fortgeführt und trägt zu seiner Mannigfaltigkeit und Weiterentwicklung bei. Die bisherige Vagheit einer Längsschnittperspektive mit der Dokumentarischen Methode ermöglicht, als Forscherin und Forscher das zu tun, was rekonstruktive Sozialforschung ausmacht: eine Methodenentwicklung in der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material (vgl. Lüdemann 2020). Im Weiteren verschiebt sich der Fokus von einer methodischen und methodologischen Perspektive hin zu einem thematisch-gegenständlichen Blickpunkt, unter dem zunächst empirische Studien aufgezeigt werden, die im nahen oder entfernen Sinne das Aufwachsen als Tänzerin und Tänzer betreffen.

2.2 Schwerpunkt: Tanz, Sport und Kunst Zunächst wird ein Überblick über empirische Studien gegeben, die ihren Schwerpunkt auf den Tanz, Tänzerinnen- und Tänzerbiographien legen. Da der Tanz und seine Profession oftmals auch wegen der enormen körperlichen Belastung dem Hochleistungssport auf der einen und wegen der ästhetischen Komponente dem Kunstbereich auf der anderen Seite zugehörig gesprochen wird, werden entsprechende Exkurse angefügt (vgl. 2.2.2 und 2.2.3). Diese Verortung ergab sich aus den Feldrecherchen (vgl. 3.2) und aus den Interviews mit den jungen Tänzerinnen und Tänzern selbst. Die spezifische Herausforderung für die Tänzerinnen und Tänzer besteht darin, dem gewissen Zwischenstatus (zwischen Kunst und Sport), der sie letztlich auch besondert, gerecht zu werden, denn sie leisten körperlich ähnliches wie Hochleistungssportlerinnen und Hochleistungssportler, bewegen sich allerdings in einem Feld, welches vornehmlich von geistig-ästhetischen Bewertungskriterien geprägt ist.

2.2.1 Tanz, Tänzerinnen- und Tänzerbiographien Einzelne quantitative Studien drücken in Zahlen und Fakten aus, wie prekär der Berufsmarkt in der deutschen Kulturlandschaft tatsächlich ist (vgl. 2.2.3). Die 2011 erschienene Studie der International Federation of Actors (FIA) stellt unter anderem fest, dass es im Tanzsektor immer weniger Arbeitsstellen gibt und die Gehälter fortlaufend gekürzt werden (vgl. FIA 2011). Hinzu kommt die

2.2  Schwerpunkt: Tanz, Sport und Kunst

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bemessene Zeit bis zum Ende einer Tanzkarriere. Langsdorf (2004) merkt an, dass die von ihr befragten 27 Balletttänzerinnen und Balletttänzer im Durchschnitt mit Ende 20 bzw. Anfang 30 bereits aus dem Tänzerberuf ausgeschieden sind (ebd., S. 16). Eine weitere Unsicherheit stellt die immense Verletzungsgefahr dar. Dümcke (2008) führt aus, dass jede fünfte Tänzerin oder jeder fünfte Tänzer einer festen Kompanie in Deutschland aus Verletzungsgründen aus dem Beruf aussteigt (ebd., S. 23). Hartewig (2013) erwähnt die drohende Arbeitslosigkeit, die zum Berufsalltag dazu gehört, sowie die Unklarheiten bei der Absicherung im Krankheitsfall oder der Rente und genauso bei der Unterstützung von Umschulungen und Weiterbildungen (ebd., S. 130). Im Bereich der qualitativen Sozialforschung liegen einige, auch internationale Untersuchungen vor, die das Beenden einer professionellen Tanzkarriere und die Transition in ein anderes Berufsfeld thematisieren (vgl. Dümcke 2008; Jeffri/ Throsby 2004; Langsdorf 2004; Lenz 2013; Roncaglia 2010). Diese empirischen Studien liefern vor allem Informationen über physische und psychische Gründe für den Abbruch einer Tanzlaufbahn, wie die Transition selbst von den Tänzerinnen und Tänzern wahrgenommen wird, sowie wie sie ihr Leben nach der Tanzkarriere privat und beruflich gestalten. Derartige Studien verfolgen teilweise das Ziel, Handlungsanweisungen für betroffene Akteure zu entwickeln. Sie stellen in diesem Zusammenhang für mich lediglich marginale Anknüpfungspunkte dar und dienen hauptsächlich dazu, etwas über die soziale Welt des Tanzes zu erfahren (vgl. 3). Die Studie von Wippert (2011), die das Misslingen sportlicher und musikalischer Karrieren untersucht, sei an dieser Stelle exemplarisch ausführlicher zu erwähnen, da sie unter anderem Tänzerinnen und Tänzer führender Opern- und Balletthäuser in den Blick nimmt und sie während ihrer Karriere, nach dem Abbruch und noch weit darüber hinaus begleitet (ebd., S. 213). Wippert zeigt klassische Verarbeitungsphasen nach dem Karriereende auf und resümiert, dass diese deutliche Identitätsveränderungsprozesse bei den ehemaligen Tänzerinnen und Tänzern nach sich ziehen. Bei Betroffenen, die den Karriereabbruch als einschneidendes und belastendes Erlebnis wahrnehmen, lassen sich teilweise psychosomatische Symptome bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen feststellen. Insgesamt stellt Wippert fest, dass der Karriereabbruch als weniger belastend wahrgenommen wird, je höher die eigene Kontrollierbarkeit über den Ausstieg bewertet wird. Einen wichtigen Referenzrahmen stellt zudem die Studie von Pfaff (2018) dar, die biografische (Un)Sicherheiten bei Bühnentänzerinnen und Bühnentänzern untersucht und damit biographisch eher an die aktive Tanzkarriere anknüpft. In der Studie wird den Fragen nachgegangen, wie (Un)Sicherheiten in Biographien generell entstehen, welche biographischen Bereiche bedeutsam für die Frage der

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2  Relevante Forschungsbezüge

(Un)Sicherheiten in Tänzerbiographien sind und wie sie in Bezug auf die biographische Gesamtformung zusammenspielen. Insgesamt wurden 20 autobiografisch-narrative Interviews mit Tänzerinnen und Tänzern in Deutschland und den Niederlanden geführt sowie zusätzliches Datenmaterial, etwa ethnografische Beobachtungen erhoben und mit der Objektiven Hermeneutik ausgewertet. Pfaff zeigt auf, dass Unsicherheit von den Tänzerinnen und Tänzern weitgehend als normaler Bestandteil ihrer Biographie betrachtet wird und nicht unbedingt auf Ebene der persönlichen Identität ein Problem darstellt. Ganz im Gegenteil, Tänzerinnen und Tänzer grenzen sich stark von Normalarbeitsverhältnissen ab und bewerten beruflichen Stillstand als negativ. Vielmehr werden Freiheiten und Möglichkeiten der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung betont und darüber Unsicherheit aufgewertet. Dennoch, so betont Pfaff, geraten die positiven Bewertungen von biographischer Unsicherheit auch bei bestimmten Themen an ihre Grenzen, wie etwa bei der nicht zu kontrollierenden materiellen Körperdimension, da körperliche Probleme als identitätsbedrohlich wahrgenommen werden. Die Dimension des Zeitlichen wird ebenso kritisch verhandelt, da mit steigendem Alter die Flexibilität abnimmt. Auch die Beziehungsdimension kann zu Unsicherheiten hinsichtlich der Tanzkarriere führen, da Kinder und langfristige Beziehungen als hinderlich verhandelt werden, was teilweise zu Orientierungskonflikten führen kann. Interessant ist zudem die Rekonstruktion zweier Typen in Bezug auf den Grad der Inklusion in die soziale Welt des Tanzes: Pfaff unterschiedet den Typus der „Spezialisierten“ und den Typus der „Diversivizierten“. Während der erstgenannte Typus in seiner beruflichen Aktivität hochgradig spezialisiert ist, Berufs- und Privatleben weitgehend eins miteinander sind und Krisen meist mit einer Alles oder Nichts Logik gemeistert werden, steht der zweitgenannte Typus für ein breiteres Aktivitätsspektrum und somit für verschiedene berufliche Anschlussmöglichkeiten. Für diesen Typ stellt die Vergemeinschaftung in der sozialen Welt des Tanzes einen starken biographischen Referenzpunkt dar. Weitere biographieanalytische Arbeiten zu Tänzerinnen und Tänzern, wie die von Pfaff (ebd.), gibt es bisher nicht.1

1An

dieser Stelle sei auf die spannende Studie von Sabine Gabriel – derzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Quantitative und Qualitative Forschungsmethoden an der Universität Halle Wittenberg – verwiesen. Sie untersucht unter einer biographischen Perspektive die Bedeutung des Körpers für Berufstanzende und ist mit ihrem Erkenntnisinteresse genau an der Schnittstelle zwischen einer biographieanalytischen und ­körpersoziologisch-leibphänomenologischen Perspektive zu verorten.

2.2  Schwerpunkt: Tanz, Sport und Kunst

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Relevant ist zudem ein eigener Beitrag, der den Übergang von der professionellen Tanzvollausbildung in die Berufswelt des Bühnentanzes fokussiert. Dort wurde aufgezeigt, dass der Übergang, der als Eintritt in die Berufswelt verhandelt wird, von enormer Bedeutung für die weitere Tanzkarriere ist, da sich das Erahnungswissen über die zukünftigen feldinternen Regelhaftigkeiten des Berufs in ein Expertenwissen transformiert, welches im Laufe der Berufspraxis immer explorierter wird (vgl. Lüdemann 2018). Äußerst inspirierend ist überdies die ethnographische Studie von Wulff (1998). Auf der Grundlage intensiver Feldforschungen in großen Balletthäusern, wie dem Londoner Royal Ballet, dem American Ballet Theatre in New York, dem Royal Swedish Ballet und dem Ballett Frankfurt entwirf Wulff einen spannenden Blick hinter die Kulissen und zeigt auf, wie die Welt des Balletts funktioniert und deckt den Widerspruch zwischen der Wahrnehmung der Märchenwelt auf der Bühne durch das Publikum und die davon weit entfernen Erfahrungen der Tänzerinnen und Tänzer auf. Phänomene, wie ständige Müdigkeit, Schmerzen durch Verletzungen, ein andauernder innerer Druck, verwobene Intimitäten werden von Wulff, der selbst zum Tänzer ausgebildet wurde, anschaulich beschrieben. Die Studie stellt eine aufschlussreiche Auseinandersetzung darüber dar, was in den großen international angesehenen Tanzhäusern und -kompanien abseits der Bühne passiert. Eine Häufung von qualitativen Studien zum Tanz lässt sich im Bereich der Körpersoziologie verorten, deren Untersuchungen sich am Schnittfeld von Körper, Bewegung und Sport orientieren (vgl. Gugutzer 2013; Lüdemann 2016; Villa 2006). Beispielhaft möchte ich auf Gugutzer (2013) verweisen, der in seiner phänomenologisch-soziologischen Studie zu Leib, Körper und Dimensionen sozialer Identität neben Ordensangehörigen auch Balletttänzerinnen und Balletttänzer interviewte und die Relevanz des Leibes sowie des Körpers für die Identitätsentwicklung aufzeigt und letztlich dafür plädiert, dem Leib und dem Körper im Rahmen von Identitätstheorien größere Beachtung als bisher zuzuschreiben. Auch Villa (2006) sei zu nennen, die den argentinischen Tango aus ­soziologisch- feministischer Perspektive analysiert und vor diesem Hintergrund die wechselseitige Verschränkung von Kognition und Emotion aufzeigt. Villa verfolgt die These, dass sich in den Körperpraxen des Tangos einerseits spezifische Wissensbestände sowie anderseits leibliche Zustände resp. Emotionen formen und bedingen: „Kein Herzklopfen ohne technisches Wissen, keine Konstruktion kultureller Alterität ohne das Mitwippen des Fußes“ (ebd., S. 132). Und abschließend möchte ich in diesem Zusammenhang auf eine eigene kleinere empirische Untersuchung hinweisen, in der auf der Grundlage von Gruppendiskussionen mit jugendlichen Tänzerinnen und Tänzern deren Körperrepräsentationen in den Blick genommen werden. Die empirischen Rekonstruktionen deuten

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2  Relevante Forschungsbezüge

auf ein ambivalentes Körperverhältnis hin, welches zwischen Anerkennung bzw. Beherrschung und Übermächtigung zu verorten ist (vgl. Lüdemann 2016). Während der Körper von den jungen Tänzerinnen und Tänzern als bedeutsames Kapital verhandelt wird, stellt er gleichzeitig etwas dar, was sie behindert und was sie nicht manipulieren können. Resümierend lässt sich festhalten, dass es aus einer qualitativen Forschungsperspektive erstens soziologisch-körperzentrierte Untersuchungen zum Tanz gibt (vgl. Gugutzer 2013; Lüdemann 2016; Villa 2006), zweitens vermehrt praxisorientierte Forschung zum Beenden der aktiven Tanzkarriere (vgl. Dümcke 2008; Jeffri/Throsby 2004; Langsdorf 2004; Lenz 2013; Roncaglia 2010) und drittens vereinzelt Studien zu aktiven Tänzerinnen und Tänzern (vgl. Pfaff 2018; Wulff 1998). Bisher gibt es keinerlei qualitative Studien, die den Weg hin zur professionellen Berufstänzerin und zum professionellen Berufstänzer untersuchen. Mit einem derartigen Forschungsinteresse wird thematisch zweierlei beleuchtet: Es geraten das Werden einer Tänzerin und eines Tänzers und die soziale Welt des Tanzes in den Blick. Wegen der nur marginalen Forschungslage zu Tänzerinnen und Tänzern und, weil der Tanz einerseits als intensiver Sport und anderseits als Kunstform gilt, soll im Folgenden der Blick auf den Hochleistungsport und den Kunstbereich ausgeweitet werden.

2.2.2 Exkurs: Sport, Sportlerinnen- und Sportlerbiographien Auch im Rahmen des Themenfeldes Sport lassen sich gehäuft Studien finden, die das Karriereende von Spitzensportlerinnen und Spitzensportlern – oftmals aus einer psychologischen Perspektive – in den Blick nehmen (vgl. Abraham 1986; Alfermann 2007; Franke/Böttcher 1999). Derartige Studien setzten ihren Fokus auf belastungs- und bewältigungstheoretische Ansätze und betonen die enormen körperlichen sowie seelischen Erschwernisse, die zumeist in der erhöhten zeitlichen Inanspruchnahme Begründung finden. Etliche Studien betonen zudem den Konflikt der Sportlerinnen und Sportler zwischen sportlicher Aktivität und den Anforderungen abseits der Sportkarriere, wie Schule, Studium oder Beruf (vgl. Borggrefe 2012; Brettschneider 2001; Brettschneider et al. 1994; Conzelmann et al. 2001; Delow 2000; Richartz/ Brettschneider 1996). Conzelmann et al. (2001) etwa untersuchen den Einfluss der verwobenen Sport- und Bildungskarriere auf die persönliche Entwicklung oder Richartz und Brettschneider (1996) arbeiten in ihrer Studie verschiedene Balancemuster der Bewältigung von Sport und Schule heraus.

2.2  Schwerpunkt: Tanz, Sport und Kunst

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Ferner gibt es Studien, die auf weitere Erwartungen und Verpflichtungen verschiedener Bezugsgruppen und -felder, wie Familie, Peers, Freizeit verweisen, wie die von Holz (1981). Verschiedene Rollenerwartungen können innere Spannungen verursachen, die dann möglicherweise zum Abbruch der Sportkarriere führen. Dies zeigt auch die Längsschnittstudie von Kröger (1987) zum Karriereabbruch von jugendlichen Volleyballerinnen und Volleyballern. Der Karriereabbruch wird auch von Bona (2001), unter der Frage, wer die jugendlichen Sportlerinnen und Sportler nach dem Abbruch emotional unterstützt und wie sich die Unterstützung ausgestaltet, beleuchtet. Als Ergebnis der Studie werden verschiedenste Bewältigungsmuster herausgearbeitet. Während einige Jugendliche regelrecht erleichtert über den Abbruch sind, können andere nur sehr schwer akzeptieren, dass die Karriere gescheitert ist. Oftmals verüben sie Schuldzuweisungen. Gründe, die für ein Karriereende angeführt werden, sind Verletzungen, sportliche Misserfolge oder Konflikte mit relevanten Personen, wie Trainerin oder Trainer. Für die emotionale Unterstützung beim Karriereende spielen die Familie und die Peers eine wesentlich bedeutsamere Rolle als Trainerinnen und Trainer (vgl. ebd.). Eine Reihe qualitativer Studien untersuchen jedoch auch die Sportkarriere an sich bzw. die Phase der Ausbildung bzw. des Karrierewegs: Aus sportpädagogischer Perspektive gehen Richartz und Wolf-Dietrich (1996) der Frage nach der alltäglichen Doppelbelastung von Schule und Sport von Hochleistungssportlerinnen und -sportlern auf den Grund. Mittels der qualitativen Inhaltsanalyse wurden 39 Interviews von Schülerinnen und Schülern der 8. und 11. Klasse zweier Gesamtschulen und eines Gymnasiums ausgewertet. Die Ergebnisse zeigen auf, dass die Doppelbelastung individuell sehr unterschiedlich erfahren wird, je nach sozialen Beziehungen, psychischer Verfassung und Lebenslage. Kreutzer (2006) arbeitet aus quantitativer Perspektive für jugendliche Fußballer und deren Karrierewege zum Profifußballer heraus, dass die Doppelbelastung von Sport und Schule mit einer Einschränkung von Peerbeziehungen einhergeht. Auf Grund der erhöhten zeitlichen Inanspruchnahme bleibt kaum die Möglichkeit für Freizeit wie z. B. den Besuch von Partys etc. (ebd., S. 46). Dennoch, dies zeigen etwa Studien von Borchert (2012) und Patrick et al. (1999), stellen Peers neben der Familie ein enorm hohes Unterstützungspotential für Sportkarrieren dar. Patrick et al. (ebd.) sprechen zudem von sehr engen kameradschaftlichen Peerbeziehungen der Sportlerinnen und Sportlern untereinander (ebd., S. 751). Für Peerbeziehungen von Jugendlichen mit einer dualen Karriere – in diesem Fall für Tanz und Fußball – verzeichnet Winter (2016) auf der Grundlage von

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2  Relevante Forschungsbezüge

Zwischenergebnissen aus der Studie „Exklusive Bildungskarrieren von Jugendlichen und der Stellenwert von Peerkulturen“ (vgl. 6) ein Spektrum zwischen den Polen „Peers als Familienersatz“ und „Peers als Aktivitätsnetzwerk“. Überdies stellt sie dar, dass die Jugendlichen vor der enormen Herausforderung stehen, die schulische und profilbezogene Karriere und die Beziehung zu den Peers in Einklang zu bringen. Aufwachsen im Leistungssport wird in der Forschungsliteratur oftmals different diskutiert (Brademann 2008, S. 12). Kritiker betonen die Opferrolle der Jugendlichen und jungen Erwachsenen und, dass sie von wichtigen Lebenserfahrungen ausgeschlossen werden. Zudem werden die vornehmlich determinierten kollektiven Sinnstrukturen im Sport negativ angesehen (vgl. Abraham 1986; Funke 1985; Weischenberg 1996). Befürworter hingegen bewerten die Strukturierung im Leistungssport als Orientierungshilfe und die spezifischen Erfahrungen für die Identitätsentwicklung als positiv (vgl. Rose 1991; Richartz/Brettschneider 1996). Die qualitative Studie von Delow (2000) untersucht an sechs Eckfällen die Identitätsentwicklung im und nach dem Leistungssport in der DDR und zeigt fünf verschiedene Muster der Sinnstrukturierung auf. Darüber hinaus wird verdeutlicht, wie sich der Leistungssport in die biographische Identität integriert und als „totale Institution“ relativ geschlossen gegenüber der Umwelt agiert. Kompetenzen für ein Handeln in anderen Lebenswelten werden kaum erworben, was nach Beendigung der Karriere zu Bewältigungsproblemen führt (vgl. ebd.). Die in vielen Studien erwähnte Doppelbelastung von Hochleistungssport und Schule (vgl. Güllich et al. 1998; Beckmann 2006; Borggrefe/Cachay 2010; Teubert 2009), führt sich auch im Studium fort (vgl. Bette/Neidhardt 1985; Tabor/ Schütte 2005). Die Studienzeit fällt häufig in die leistungssportliche Hochphase (mastery-Phase), was oft dazu führt, dass das Studium zeitlich verzögert wird (Wyllemann/Reints 2010, S. 91), was wiederum einen späten Berufseinstieg mit sich bringt. Wyllemann und Reints (ebd.) beschreiben einen derartigen Ablauf als typisch für Spitzensportlerinnen und Spitzensportler. Ausnahmen stellen die Einmündung in Berufe dar, die den Hochleistungssport institutionell unterstützen, wie etwa die Polizei oder die Bundeswehr (vgl. Conzelmann et al. 2001). Borggrefe und Cachay (2013; 2014) versuchen auf der Basis differenzierungs- und organisationstheoretischer Überlegungen mit Hilfe von qualitativen Interviews die Frage zu beantworten, wie sich Spitzensport und Berufskarriere koordinieren lassen. Dahinter verbirgt sich die Vorannahme, dass die Spitzensportler bereits während ihrer aktiven Zeit der Ausbildungs- und Berufskarriere ihre Existenz nach dem Ende der Sportkarriere vorantreiben und sichern müssen. Neben dem Ergebnis, dass sich das Problem berufstätiger Spitzensportlerinnen und Spitzensportler

2.2  Schwerpunkt: Tanz, Sport und Kunst

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vor allem in den drei Dimensionen Zeit, Finanzierung und Passung manifestiert, konnten zwei idealtypische Karriere- und Entscheidungsmuster identifiziert werden: Während der erste Typus die Berufskarriere in Abhängigkeit von den Anforderungen einer erfolgreichen Sportkarriere ausrichtet und für sportliche Erfolgschancen auch berufliche Nachteile in Kauf zu nimmt, legt der zweite Typus die Priorität hingegen eindeutig auf die Berufskarriere, deren Entwicklung durch die parallele Sportkarriere nicht beeinträchtigt werden soll (2013, S. 4). Conzelmann et al. (2001), die insgesamt 616 Olympiateilnehmerinnen und Olympiateilnehmer untersuchen, stellen überdurchschnittlich hohe Bildungsabschlüsse und Berufspositionen fest, was sie unter anderem auf bestimmte Schlüsselqualifikationen, wie Zielstrebigkeit und Durchhaltevermögen, zurückführen (vgl. ebd.). Generell zeigen die knapp skizzierten Ergebnisse der ausgewählten Studien erhöhte körperliche und psychische Belastungen der Spitzensportlerinnen und Spitzensportler auf. Der Dualität von Sport und Schule, Studium oder Beruf und auch außerinstitutionellen Anforderungen von Familie und Freunden zu genügen, sind Herausforderungen, die jedoch von jedem individuell unterschiedlich wahrgenommen und bewältigt werden. Überdies zeigt sich, mal implizit mal explizit in den Studien erwähnt, dass der Zeitaufwand und die Leistungsansprüche mit dem Karriereverlauf deutlich ansteigen und sich insbesondere zum Zeitpunkt kurz vor dem Abitur zuspitzen (vgl. Richartz 2000). Bereits die Ausbildungsphase einer sportlichen Karriere entspricht nahezu einer Vollzeitbeschäftigung, was insbesondere während der Studienzeit zu einer entschleunigten Bildungskarriere führt. Dennoch münden die Sportlerinnen und Sportler in hoch qualifizierte Berufe. Einzelne empirische Studien folgen jedoch schnell normativen Konzepten vom richtigen Aufwachsen oder stellen Vergleiche zu Normalbiographien an (Brademann 2008, S. 19). Während das Feld der Sportlerinnen und Sportler aus qualitativer Perspektive durchaus als beforscht gelten kann – so gibt es Studien zu profilbezogenen Karrieren, zu schulischen Bildungsverläufen und zur Bedeutung von Peers (vgl. Krüger/Keßler 2016, S. 82) –, fehlen derartige Studien im Kunstbereich bislang.

2.2.3 Exkurs: Kunst, Künstlerinnen- und Künstlerbiographien Im Kunstbereich lassen sich hingegen vermehrt arbeits-, wirtschafts- und organisationssoziologische Studien finden, die der Frage nachgehen, ob Künstlerinnen und Künstler als Vorreiter einer zeitgemäßen, flexiblen und kreativen

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2  Relevante Forschungsbezüge

Erwerbsarbeit zu stilisieren sind (vgl. Florida 2002; Menger 2006; Müller-Jentsch 2012). Loacker (2010) etwa untersucht in ihrer Studie aus einer ethnographischen Perspektive – drei Monate lang hat die Autorin die Akteure der freien Theaterarbeit beobachten und befragt – die künstlerische Arbeit. Sie konstatiert interessanterweise, dass sich die Künstlerinnen und der Künstler nicht als „postfordistisches Subjektideal“ bewähren (vgl. ebd.). Ganz im Gegenteil: Sie beziehen Stellung gegen die unterstellten Arbeitspraktiken, verstehen sich nicht als das „Unternehmerische Selbst“ (Bröckling 2007) und wollen nicht „als Projektionsfläche für die Heroisierung unsicherer und prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse benutzt werden“ (Loacker 2010, S. 413). Euteneuer (2011) geht in seiner Studie, in der er Interviews mit Kulturunternehmern, Freiberuflern aus den Bereichen Kunst und Medien sowie Kleinstunternehmern außerhalb des Kulturbereiches geführt hat, der Frage nach, ob der Kunst- und Kulturschaffende ein Vorbild für die moderne Berufs- und Unternehmenstätigkeit sei und kommt zu dem Ergebnis – ähnlich wie Loacker (2010) –, dass dies anzuzweifeln sei. Auch Röbke (2000), der die Arbeitssituationen von Kunstschaffenden anhand Sozial- und Wirtschaftsdaten sowie biographischen Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern sowie Expertinnen und Experten in der Bildenden Kunst untersucht und sich fragt, ob sich aus ihnen Rückschlüsse auf die Gestaltung der Arbeitswelten von morgen ableiten lassen, resümiert, dass sie eher negative „Vor-Bilder“ für den zukünftigen Arbeitsmarkt seien. Im Gegensatz dazu ­ bewertet er die Bewältigungsstrategien der Künstlerinnen und Künstler hinsichtlich der prekären Lebenssituation als vielversprechend und spricht in diesem Zusammenhang von positiven „Vor-Bildern“. Die zahlreichen biographischen Porträts in dem Buch zeigen nicht zuletzt auf, wie vielfältig die Formen der Selbstbehauptung und der Selbstverwirklichung sein können (ebd., S. 160). Darüber hinaus legen verschiedenste Studien dar, dass die Profession von Künstlerinnen und Künstlern eine prekäre sei, deren Professionalisierungsprozesse recht unterschiedlich verlaufen und weitgehend autodidaktisch sind (vgl. Müller-Jentsch 2005; Nölke 2000). Müller-Jentsch (ebd.) beispielsweise zeigt dies in den Dimensionen sozialer Status, Formen der Selbstorganisation sowie Künstlerhabitus auf und arbeitet heraus, dass sich das moderne Künstlertum einerseits durch Autonomie und Subjektzentriertheit auszeichnet und anderseits stark vom anonymen Kunstmarkt abhängig ist. Nölke (2000) betont, dass der Zugang zu den meisten Kunstbereichen offen und nicht durch formale Bildungsabschlüsse lizensiert ist. Darüber hinaus handelt es sich bei der Berufsbezeichnung nicht um eine juristisch geschützte. Der Beruf gestalte sich weniger im Sinne einer Erwerbstätigkeit, sondern aus einer inneren

2.2  Schwerpunkt: Tanz, Sport und Kunst

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Berufung heraus (ebd., S. 37). Der Künstlerin und dem Künstler wird von der Gesellschaft ein spezifischer Status zugesprochen, ein mystischer, ein zweckrationaler, ein triebhafter, ein exzentrischer. Die Kunstwissenschaftler Kris und Kurz (1995) decken aus historischer Perspektive die „Legende vom Künstler“ auf und beschreiben, dass die zugeschriebene Rolle übernommen wird und sich als Künstlerhabitus verinnerlicht. Besonders spannend an dieser Analyse ist, dass sie biographische Darstellungen von Künstlerinnen und Künstler aufdecken, für die oftmals kaum reale Daten und Ereignissen im Lebenslauf ausschlaggebend sind, sondern vornehmlich mit Klischees und Stereotypen operiert werden. Daneben existieren zahlreiche quantitative Veröffentlichungen von Daten und Zahlen im Kulturbereich, die die zunehmende Prekarität in dem Feld untermauern (vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2018) sowie überwiegend Ratgeberliteratur und auch Erfahrungsberichte, die Kunstschaffenden vermitteln wollen, wie sie auf dem Kunstmarkt erfolgreich bestehen können (vgl. Schwarzer 2007; Weinhold 2005). Zu konstatieren bleibt, dass die normative Prägekraft im Kunstbereich im besonderen Maße festzustellen ist. Soziologische Arbeiten legen dar, wie wechselvoll die Stellung der Künstlerin und des Künstlers in der Gesellschaft ist, jedoch sucht man weitestgehend vergeblich nach biographischen Studien, die die Künstlerinnen und Künstler oder deren Werdegang untersuchen. Einen systematischen Anknüpfungspunkt für mein Forschungsvorhaben stellen zudem die kunstsoziologischen Arbeiten von Bourdieu dar, in denen er Kunst, Künstlerinnen und Künstler sowie das künstlerische Feld theoretisch verortet, die, wegen der Zentralität des Zugangs für mein Forschungsinteresse nicht an dieser Stelle dargelegt, sondern im folgenden Kapitel ausgeführt werden.

3

Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“

In diesem Kapitel werden die zugrundeliegenden gegenstandsbezogenen Annahmen dargestellt. In einem ersten Teil führe ich hierzu das Konzept des Feldes der ­künstlerisch-kulturellen Produktion von Bourdieu aus. Mit Bourdieu habe ich eine systematische Ausarbeitung gefunden, die sich hervorragend dazu eignet, die Spezifik des Feldes der Tanzkunst in den Blick zu bekommen. Wichtig zu erwähnen ist, dass es mir, wenn ich an dieser Stelle Bourdieu einführe, nicht per se um Bourdieus theoretische Perspektive geht oder gar darum, die gesellschaftlichen Strukturbeschreibungen in eine Klassen- oder Ungleichheitstheorie zu überführen. Auseinandersetzungen mit Bourdieu sind schon längst nicht mehr nur „auf Fragen der Reproduktion sozialer Ungleichheit begrenzt, sondern fester Bestandteil vielfältiger erziehungswissenschaftlicher Diskurse“ (Niestradt/Ricken 2014, S. 100). In einem weiteren Schritt dann führe ich in diesem Kapitel Erkenntnisse aus einer intensiven Recherchearbeit zu den strukturellen Bedingungen einer Tanzausbildung an. Zusätzlich beschreibe ich in diesem Unterkapitel die kontextuellen Rahmenbedingungen einer Tanzausbildung in Deutschland und die aktuellen Debatten, die im Feld geführt werden. Hierzu ziehe ich ein Experteninterview mit einem Tanzpädagogen des Gymnasiums mit tänzerischem Profil heran, welches die jugendlichen Tänzerinnen und Tänzer in der ersten Erhebungswelle besuchen. Es wird aufgezeigt, dass die Tanzausbildung in Deutschland ein Legitimationsproblem hat, da sie von künstlerischer Freiheit auf der einen und von Standardisierung auf der anderen Seite bestimmt ist. Diesem Spannungsfeld in der Ausbildungsstruktur gerecht zu werden, geht mit spezifischen Herausforderungen einher.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lüdemann, Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer, Studien zur Schul- und Bildungsforschung 84, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31344-9_3

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3  Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“

Letztlich wird drittens aufgezeigt, dass der Tanz und seine „Spielregeln“ deutliche Bezüge zu der Konzeption des Feldes der künstlerisch-kulturellen Produktion nach Bourdieu (2016) aufweisen, weshalb im weiteren Verlauf vom Feld der Tanzkunst die Rede ist. Mit der Konzeption von Bourdieu beschränke ich mich lediglich auf die Erfassung des Feldes der Tanzkunst aus einer gegenstandsbezogenen Perspektive.

3.1 Das Feld der künstlerisch-kulturellen Produktion nach Pierre Bourdieu Bisher haben Bourdieus kunsttheoretische Ausführungen, jedenfalls im Vergleich zu seinen allgemeinen soziologischen Schriften, wenig Beachtung gefunden. Die „dispositionalistische“ (Bourdieu 2015b, S. 93)1 Theorie der Ästhetik wurde von ihm in mehreren kunstsoziologischen Werken entwickelt. Hervorzuheben sind: „Die Liebe zur Kunst“ (2006), welches er zusammen mit Alain Darbel verfasst hat, „Eine illegitime Kunst“ (2014), herausgegeben unter anderem zusammen mit Luc Boltanski, „Die feinen Unterschiede“ (2013a) – ein Werk, welches nicht gerade wegen den kunstsoziologischen Bezügen so berühmt geworden ist, diese aber von Bourdieu im Rahmen dieser Abhandlung immer wieder in den Blick genommen werden –, „Die Regeln der Kunst“ (2016), sowie die Aufsatzsammlungen Kunst und Kultur unter den Untertiteln „Zur Ökonomie symbolischer Güter“ (2014a) und „Kunst und künstlerisches Feld“ (2015a). Das künstlerische wie auch literarische Feld sei ein „relativ autonomes Universum“, schreibt Bourdieu und begründet dies mit der speziellen Beschaffenheit der symbolischen Güter, deren Logik auf der Spannung zweier Realitäten fußt: der reinen Kunstorientierung und der ökonomischen Marktorientierung (vgl. ebd.). Ersteres ist dem künstlerischen Ausdrucksstreben verpflichtet und vertritt selbstlose Interessen. Die französische Redewendung L’art pour l’art, was sich sinngemäß mit die Kunst um der Kunst willen, übersetzen lässt, bringt genau diese Logik zum Ausdruck. Die Kunst genügt sich selbst und unterliegt keinen Zwängen.

1Bourdieu

selbst bezeichnet seine Theorie als „dispositionalistisch“ (ebd.), betont damit die Zurückgebundenheit der Subjekte an die soziale Welt und grenzt sich damit bewusst von Kants (1968) Vorstellung der Regelfreiheit ab.

3.1  Das Feld der künstlerisch-kulturellen Produktion …

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Am entgegengesetzten Pol herrschen marktökonomische Prinzipien, die durch Profite und die Nachfrage der Kundschaft bestimmt sind. Der Wert eines Kunstwerkes wird entsprechend nicht nur von der Künstlerin oder dem Künstler erzielt, sondern maßgeblich durch das Produktionsfeld: „Künstlerische Kühnheiten, Neues oder Revolutionäres sind überhaupt nur denkbar, wenn sie innerhalb des bestehenden Systems des Möglichen in Form struktureller Lücken virtuell bereits existieren, die darauf zu warten scheinen, als potentielle Entwicklungslinien, als Wege möglicher Erneuerung entdeckt zu werden“ (Bourdieu 2016, S. 372).

Nur im bestehenden System sind die unkonventionellsten künstlerischen und literarischen Ideen möglich, so argumentiert Bourdieu an dieser Stelle. Eine künstlerische Schöpfung alleine bleibt dennoch unsichtbar. Erst die erfolgreiche Zuschreibung als ein Kunstwerk durch das künstlerische Feld und ein gewisser zeitlicher Abstand, konvertiert reine Kunst in ökonomisches Kapital. Es besteht jedoch immer die Gefahr des Misslingens der Bedeutungszuschreibung oder des Verfalls des Kunstwerkes im Zeitverlauf, welches dann wieder „in den Stand stofflich-materieller Gegenstände“ (ebd., S. 229) zurückfalle. Wertverlust lässt sich verhindern, so argumentiert Bourdieu, in dem die Produktionszyklen verkürzt werden und somit eine Anpassung an die Nachfrage der Kundschaft möglichst schnell gelingen kann. Profite werden unmittelbar – bevor das künstlerische Produkt veraltet – realisiert (ebd.). Erfolg hat, wer sich gut vermarkten kann und es schafft, zwischen den komplementären Wertlogiken zu vermitteln, was von Bourdieu als hochgradig kompliziert und widersprüchlich beschrieben wird. Misserfolg hat, wer unsichtbar bleibt: „Wer kein Publikum hat, hat kein Talent“ (ebd., S. 238). Die Wirkungsmacht im sozialen Raum ist misslungen. Der reinen Ästhetik zu gehorchen und damit das Kunstfeld als marktfern zu begreifen, würde ein Scheitern nach sich ziehen. Auch eine Deplatzierung innerhalb des Feldes der Produktion würde ein Misslingen bedeuten (ebd., S. 267). In der Auseinandersetzung mit Max Webers (1972) Religionssoziologie entwickelte Bourdieu Anfang der 1970er Jahre die Theorie des Feldes, deren Logik immer wieder als Spiel oder Kampf beschrieben wird und im Grunde auf das Zusammenspiel zweier Wirklichkeiten verweist.2 Einerseits auf die

2Ausführlicher

zum Feldbegriff: Müller 2014 oder auch Rehbein/Saalmann 2014.

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3  Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“

­ irklichkeit des Habitus und anderseits auf die Wirklichkeit des Feldes selbst. W Erst diese Dualität ermöglicht es, soziale Praktiken innerhalb der Felder näher zu beschreiben. Felder werden verstanden als zweidimensionale Räume, die ihre spezifische Struktur durch die konkurrierenden Positionen der Akteure innerhalb des Feldes erhalten (Bourdieu 2014b, S. 170). Akteure stellen aus der Feldperspektive keine Individuen dar, sondern handelnde Akteure, die das Spiel – metaphorisch gesprochen – am Laufen halten. Sie müssen an die Rechtmäßigkeit der feldspezifischen Wirklichkeit glauben und sich der Illusion, also dem kollektiven Glauben hingeben: „Die historisch gewachsenen Regeln des Feldes werden von den Mitspielern implizit und unreflektiert durch ihren Feldeintritt angenommen und akzeptiert. Diese Regeln werden als illusio bezeichnet“ (ebd., S. 110).

Die Illusio sorgt für Engagement der Akteure und treibt sie dazu, innerhalb der feldspezifischen Logik, nach Anerkennung und Ansehen zu kämpfen. Sie wollen Gewinne erzielen und im Feld aufsteigen. Dies setzt letztlich aber voraus, dass Konkurrenzverhältnisse innerhalb des Feldes hinreichend ausgeprägt sind und, dass die Akteure über eine grundlegende Übereinkunft der Spielregeln verfügen. Sprich: Es gibt ein elementares Interesse aller Akteure am Spiel, die die Existenz des Feldes selbst begründet (ebd., S. 109). Stillschweigend und ohne Bewusstsein darüber, wie genau die Regeln des Feldes befolgt werden, handeln die Akteure habituell und jeweils der spezifischen Erfahrungen, die sie bereits im Feld gemacht haben. Die Illusio gehört „zum Handeln, zur Routine, zu den Dingen, die man halt tut und die man tut, weil es sich gehört und weil man sie immer getan hat“ (Bourdieu 2013b, S. 129). Als dynamisch und veränderbar ist das Feld zu fassen, denn Akteure wandeln sich ebenso wie der Antrieb des Spiels. Machtgefüge verändern sich, Machtbalancen verschieben sich, je nachdem, wer wann das Feld betritt und wie darin handelt. Das Feld erscheint so als Möglichkeitsraum, in dem unendlich differenzierte Praktiken, die jedoch immer der feldimmanenten Logik entsprechen müssen, denkbar sind (Bourdieu 2016, S. 372). Die Komplexität des Feldes gerät erst dann an ihre Grenzen, wo die Feldeffekte aufhören, zu wirken (Bourdieu 2013c, S. 131) (Abb. 3.1). Die Theorie des künstlerischen Feldes lässt sich in ein abstraktes Modell (vgl. Abb. 3.1) überführen, welche durch vertikale und horizontale Achsen gekennzeichnet ist.

3.1  Das Feld der künstlerisch-kulturellen Produktion …

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Abbildung 3.1   Das Feld der künstlerisch-kulturellen Produktion nach Bourdieu (2016)

Die vertikale Achse grenzt die zwei Subfelder, wie sie von Bourdieu genannt werden, voneinander ab. Mit Subfeld meint Bourdieu – in Abgrenzung zu Luhmanns Konzeption von Subsystemen (vgl. Luhmann 2010) – Pole, die sich zwar voneinander abstoßen, sich dadurch allerdings erst legitimieren (vgl. Bourdieu 2013c, S. 132 ff.). Auf der horizontalen Achse lassen sich die bereits beschriebenen widersprüchlichen Wertlogiken des Feldes verorten.

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3  Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“

Auf der einen Seite steht das Ideal der reinen Kunst und deren Autonomie; dem gegenüber ist die ökonomische Logik zu verorten, die mit symbolischer Macht und symbolischem Kapital zusammenhängt. Innerhalb der zwei differenten Hierarchisierungsprinzipien, dem homonomen und dem heteronomen Prinzip verortet Bourdieu eben auch völlig unterschiedliche Logiken der Kunstproduktion. Das homonome Prinzip, welches das Subfeld der eingeschränkten Produktion darstellt, ist durch eine interne Hierarchisierung gekennzeichnet. Intellektuelle Kunst der Avantgarde beispielsweise ist nur für wenige Eingeweihte zugänglich und eben auch verständlich. Erfolg wird nicht am Interesse des breiten Publikums oder an den Verkaufszahlen gemessen, sondern an der Anerkennung Einzelner und vor allem an der Hochachtung der Kolleginnen und Kollegen. Der Ruf „wahrhafte“ Kunst oder Literatur steht in diesem Subfeld im Vordergrund, wobei es sehr lange dauern kann, einen derartigen Ruf als Künstlerin oder Künstler bzw. Literarin oder Literat zu erlangen. Oftmals wird ein solcher Status erst nach dem Ableben verliehen, im Sinne eines zu Lebzeiten verkannten Genies. Als Konsekration bezeichnet Bourdieu langwierige Prozesse der Anerkennung, die in der Regel über die Lebensdauer der Produzentinnen und Produzenten hinausgehen. Aus autonomen Künstlerinnen und Künstlern werden so „Bestseller in Langzeitperspektive“ (Bourdieu 2016, S. 237). Unser kulturelles Erbe enthält eine Vielzahl solcher Fälle (bspw. Mozart, van Gogh, Stieg Larsson). Ihre Werke wurden in den klassisch bildungsbürgerlichen Kanon aufgenommen und sind seither nicht mehr wegzudenken. Diese Werke überdauern Generationen. Demgegenüber steht das Subfeld der Massenproduktion, welches dem heteronomen, externen Hierarchisierungsprinzip folgt. Das heißt, Erfolg wird hier nicht daran gemessen, künstlerische Anerkennung zu erlangen, sondern daran, einen möglichst hohen finanziellen Gewinn zu erwirtschaften. Der kommerzielle Erfolg kann genauso schnell kommen, wie wieder gehen. Kurzfristigkeit bestimmt den Markt. Im Gegensatz zu den kulturellen Klassikern werden in diesem Subfeld Bestseller systematisch gemacht. Aus dem Feld der künstlerischen Produktion ausgeschlossen werden diejenigen, die Misserfolg im Subfeld der Massenproduktion haben und diejenigen, die im Subfeld der eingeschränkten Produktion geächtet bzw. keine Anerkennung im internen Kreis erfahren. Mittels der vertikalen Achse in der Abbildung 3.1 lassen sich die Positionen der Künstlerinnen und Künstlern in den jeweiligen Logiken der Subfelder differenzieren. Der bereits gefallene Begriff der Konsekration ist hier von Bedeutung. Bourdieu knüpft damit explizit an Webers (1972) Schriften an und veranschaulicht künstlerische Anerkennung mit dem Prozess der religiösen Weihung. Es geht um den Kampf der bereits legitimierten Künstlerinnen und

3.1  Das Feld der künstlerisch-kulturellen Produktion …

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Künstlern, die eine Machtposition innehaben, gegen diejenigen, die eine machtvolle Position anstreben, um Anerkennung ringen und (noch) nicht im Feld anerkannt sind. Der Kampf beruht darauf, dass auf dem Feld Konkurrenzverhältnisse herrschen. Die Machtvollen wollen ihre Position verteidigen und ihre Privilegien bewahren, während die nicht oder noch nicht etablierten Neukünstlerinnen und Neukünstler für ihre Legitimität kämpfen und sich gegen das bestehende künstlerische Establishment durchsetzen müssen. Der Kampf um Anerkennung und Aufstieg ist ein kontinuierlicher und stellt ein grundlegendes Element der Feldstruktur dar. Die Geschichte der Kunst wird von Bourdieu anhand dieser Logik erklärt: „Institutionen, Schulen, Werke und Künstler, die ‚Epoche gemacht‘ haben“, werden abgelöst vom Neuen, Revolutionären und dabei wird das Alte, Abgelöste entweder „aus der Geschichte verbannt oder in die Geschichte eingehen“ (vgl. Bourdieu 2016, S. 249). Der Kampf um die Position im Feld bedeutet ein „Kampf um das Monopol der Durchsetzung legitimer Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien“ (ebd., S. 253) zwischen den Priestern und den Propheten durch deren gegenseitige Distinktion. Wenn sich etwas Neues auf dem Feld platziert, verschieben sich die Kräfteverhältnisse und die bis dahin dominierenden künstlerischen Auffassungen werden in Frage gestellt. In der Kunstgeschichte wäre wohl das Aufkommen der Abstraktion als ein anschauliches Beispiel zu nennen. Mit der Entdeckung der Fotografie musste sich die Kunst neue Formen der Legitimation suchen. Die Wirklichkeit abzubilden, genügte vielen zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern als Anspruch nicht mehr. Die Kräfteverhältnisse des künstlerischen Feldes begannen sich zu verschieben. Anfang des 20. Jahrhunderts experimentierten verschiedenste Künstlerinnen, Künstler und sogar ganze Künstlergruppen, wie der Blaue Reiter und die Brücke, gleichzeitig an der Aufgabe des Verlustes der gegenständlichen Bezüge und dem Versuch, das Innere auf die Leinwand zu bringen. Der Kampf spiegelte sich auf Ebene plural ausgeformter Kunststile und deren Durchsetzung wieder. Priester wurden abgelöst und verdrängt; Propheten konnten sich etablieren und eine neue Position mit höherem Konsekrationsgrad einnehmen. Die Neulinge müssen Zugangsvoraussetzungen erfüllen, um auf dem Feld mitspielen zu können. Einerseits müssen sie an die feldinternen Regelhaftigkeiten glauben und anderseits müssen sie ein gewisses habituelles Fundament mitbringen, welches ihnen bei dem Kampf um Positionen auf dem Feld hilft. Dieses versteht Bourdieu im Zusammenhang mit dem sozialen Umfeld ausgebildet. Sozialisation und Bildungsniveau prägen ästhetische Einstellungen sowie andere genauso relevante Merkmale, die von Bedeutung sind, wenn es darum geht, sich im Feld der künstlerischen Produktion durchzusetzen.

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3  Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“

Dennoch ist festzuhalten, dass nicht etwa der Künstler, sondern alleinig das künstlerische Umfeld den Wert des Kunstwerkes bestimmt: „Produzent des Werts des Kunstwerks ist nicht der Künstler, sondern das Produktionsfeld als Glaubensuniversum, das mit dem Glauben an die schöpferische Macht des Künstlers den Wert des Kunstwerks als Fetisch schafft“ (ebd., S. 362). Einzig das kollektive Glaubensuniversum offenzulegen, also danach zu fragen, welchen gesellschaftlichen Mechanismen das „Spiel, das keiner erfunden hat“ (Bourdieu 2013c, S. 135) in seiner Komplexität und Fluidität folgt, erlaubt einen Zugang zu den wertschaffenden Subjekten des Feldes: „Man muß nur einmal die verbotene Frage stellen, um sogleich zu sehen, daß der das Werk schafft, selbst innerhalb des Feldes geschaffen wird: durch all jene nämlich, die ihren Teil dazu geben, daß er entdeckt wird“ (Bourdieu 2016, S. 271). Die Frage nach den Künstlerinnen und Künstlern zu stellen, bedeutet zugleich auch die Voraussetzungen für ihr Werden in den Blick zu nehmen. Damit verortet Bourdieu die Figur der Künstlerin und des Künstlers sozial und belässt die Analyse nicht auf Ebene der Subjekte. Die Verdeckung gesellschaftlicher Voraussetzungen hätte eine Mystifizierung und Verklärung der Subjekte zur Folge. Lediglich eine „schonungslose Objektivierung“ und ein Ausmerzen jeglicher „Spuren des Narzißmus“ (ebd., S. 306) ermöglicht die Offenlegung und damit Entzauberung. Um Dispositionen oder Habitus zu untersuchen, so argumentiert Bourdieu, muss man diese als Ergebnis eines gesellschaftlichen Werdegangs und einer bestimmten Position innerhalb eines spezifischen Feldes betrachten (vgl. ebd., S. 340). Zu fragen wäre, wie die Künstlerin oder der Künstler „aufgrund [der] sozialen Herkunft und der […] geschuldeten gesellschaftlich konstituierten Eigenschaften bestimmte gegebene Positionen einnehmen konnte“ (ebd., S. 341). Die Konstituierung von Eigenschaften und die damit einhergehende eingenommene Position sind als dynamisch zu verstehen. Das verdeutlicht Bourdieu an seiner Konzeption von Position (Stellung), Disposition (Habitus) und Positionierung (Stellungnahme) und deren wechselseitige Bezugnahme (vgl. ebd., S. 365 ff.). Mit Disposition sind die habituellen Voraussetzungen gemeint, die die Akteure mitbringen. Diese bestimmen wiederum die ästhetische Wahrnehmung, die im engen Zusammenhang mit der Positionierung, dem künstlerischen Output eines Akteurs, steht. Die geschaffenen Werke sind – und daher spricht Bourdieu eben von Positionierung – nur in Relation zu anderen Werken zu verstehen. Erst die in Bezugnahme, der immer auch einem distinktiven Gehalt anhaftet, können sich die Werke entfalten und sich in den „Raum der Werke“ einordnen (ebd., S. 328). Positionierungen stellen dementsprechend Strategien dar, um sich von der Konkurrenz abzugrenzen:

3.1  Das Feld der künstlerisch-kulturellen Produktion …

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„Jede (thematisch, stilistische usw.) Positionierung definiert sich (objektiv und manchmal auch absichtlich) durch ihren Bezug auf das Universum der Positionierungen und ihren Bezug auf den dort als Raum des Möglichen indizierte oder suggerierte Problematik“ (ebd., S. 368).

In Abgrenzung zu beispielsweise anderen Werken, Stilen und somit auch deren Vertreterinnen und Vertretern wird eine entsprechende Stellung bzw. Position im Feld der künstlerischen Position eingenommen, die je nach Disposition und Positionierung wandelbar ist. Die spannungsvolle Dynamik von Position, Disposition und Positionierung erhöht die Verflochtenheit des Spiels, „das viel fließender und komplexer ist als jedes nur denkbare Spiel“ (Bourdieu 2013c, S. 135). Eine weitere Dimension, die die Komplexität des Feldes maßgeblich mitbestimmt, ist die der ästhetischen Wahrnehmung und Bewertung. Bourdieus Vorstellung von Ästhetik steht in einem engen Zusammenhang mit der bereits beschriebenen Dualität der zwei Subfelder der künstlerischen Produktion und seiner Unterscheidung der drei Geschmacksformen, wie er sie in „Die feinen Unterschiede“ (2013a) beschreibt, zusammen. Zunächst zum Letzteren: Ästhetische Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien werden von Bourdieu auf unterschiedliche Lebensstile, die sich in den jeweiligen klassenspezifischen Praktiken äußern, zurückgeführt. Den drei grundlegenden Klassenhabitus werden drei grundlegende Geschmacksprofile zugeordnet. Die herrschende Klasse etwa bedient sich des legitimen Geschmacks, das Kleinbürgertum des mittleren Geschmacks und die Volksklasse des populären Geschmacks. Empirische Beispiele, die diese Einteilung verifizieren, finden sich zahlreich in „Die feinen Unterschiede“ (ebd.). Eines der wohl bekanntesten ist die Befragung zu einer Fotografie, die die Hände einer alten Frau zeigt. Während die untere Klasse die Fotografie rein praktisch kommentiert und keinerlei ästhetische Bezüge herstellt: „komisch verkrüppelte Hände“, „ist doch verstümmelt“, „die sind verknotet“ (Bourdieu 2013a, S. 86). Es wird angemerkt, dass die Frau mit den Händen wohl schwere körperliche Arbeit verrichtet haben muss. Die Aussagen der mittleren Klasse verweisen auf deren Strebsamkeit. Auch ästhetische Eigenschaften geraten in den Blick. In einem ganz anderen Duktus äußert sich hingegen die obere Klasse. Ihre Äußerungen sind abstrakt und sie betont die Ästhetik des Bildes und stellt Bezüge zu hochkulturellen Inhalten her. Bourdieu zitiert einen Ingenieur aus Paris: „Ich finde, daß das ein sehr schönes Foto ist. Es ist ganz Symbol der Arbeit. Es bringt mich auf die alte Bedienstete von Flaubert. Dem zugleich sehr demutsvollen Gestus der Frau […] Schade, daß Arbeit und Not dermaßen entstellen“ (ebd., S. 87). In Anlehnung an Kant (1968) verortet Bourdieu (vgl. 2013a, S. 83 f.) die sozialen Geschmacksdifferenzierungen in zwei entgegengesetzten Logiken: in der der reinen

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3  Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“

Ästhetik und der der populären Ästhetik. Diese Zweiteilung der Ästhetik folgt einer ähnlichen Argumentationsstruktur, die Bourdieu für die Erklärung der zwei Subfelder der künstlerischen Produktion und deren Grad an Autonomie anführt. So wird die Ästhetik zu einem weiteren felderklärenden Element. Die Logik der reinen Ästhetik würde sich dann in den linken Bereich der eingeschränkten Produktion und die Logik der populären Ästhetik in den rechten Bereich der Massenproduktion eingliedern (vgl. Abb. 3.1). Populäre Ästhetik, die das Zusammenspiel von Leben und Kunst herstellt, ist auf externen Zwecke beispielsweise der Unterhaltung ausgerichtet. Reine Ästhetik wiederum ist durch „Distanziertheit, Interessenlosigkeit [und] Gleichgültigkeit“ gegenüber der Welt gekennzeichnet: „[Ä]sthetische Theorie hat derart oft verkündet, sie allein ermöglichten, das Kunstwerk als das zu erkennen, was es wahrhaft sei, nämlich autonom, selbstständig, daß am Ende in Vergessenheit gerät, daß sie tatsächlich bedeuten: sich nicht einzulassen, distanziert und gleichgültig zu bleiben, die Weigerung also ‚sich einzubringen‘, (etwas) ernst zu nehmen“ (ebd., S. 68).

Diese Distanz zur Welt, so Bourdieu, stellt sich lediglich ein, wenn man frei ist gegenüber ökonomischen Zwängen. Der rein ästhetische Blick – und an dieser Stelle führt meine Argumentation wieder zurück zu Bourdieus empirischem Beispiel der Photographie der Hände der alten Frau – ist nur durch eine privilegierte Stellung im sozialen Raum überhaupt erst möglich (vgl. ebd., S. 100–104). Die Distanz zur Notwendigkeit kann sich nur leisten, wer umfassend frei ist.

3.2 Strukturelle und kontextuelle Rahmenbedingungen einer Tanzausbildung in Deutschland Nachfolgend werden die strukturellen und kontextuellen Rahmenbedingungen einer Tanzausbildung in Deutschland beschrieben. Dabei stehen zwei Fragen im Vordergrund: Wie ist eine Tanzausbildung strukturiert bzw. wie wird man eigentlich Berufstänzerin oder Berufstänzer und, über was wird bezüglich dessen im Feld selbst geredet bzw. was sind feldinterne Themen?

3.2.1 Die institutionelle Struktur Die Abbildung (Abb. 3.2) verbildlicht das folgend Beschriebene und ist zugleich der Versuch einer grafischen Systematisierung. Die Recherchen wurden im Juni 2015 durchgeführt und die daraus gewonnenen Erkenntnisse

3.2  Strukturelle und kontextuelle Rahmenbedingungen …

Abbildung 3.2   Institutionelle Wege einer Tanzausbildung in Deutschland

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3  Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“

stellen nicht zuletzt einen wesentlichen Teil des Erfahrungshorizontes der jungen Tänzerinnen und Tänzer dar. Generell lässt sich die Ausbildungsphase in zwei Bereiche untergliedern. Die Vorbereitung vor der professionellen Ausbildung, die sogenannte Tanzvorausbildung bezieht sich auf tänzerische Erfahrungen vor der eigentlichen Tanzausbildung, die dann als professionelle Vollausbildung bezeichnet wird. Unter dem Begriff der Vorausbildung wird jeglicher Tanzunterricht für Kinder und Jugendliche gefasst, der möglichst auf einen frühen Beginn von Bewegungserfahrungen setzt, da der Körper nur so auf konditionelle Höchstleistungen vorbereitet werden kann. Der überwiegende Teil der tänzerischen Vorausbildung wird von privaten Tanzausbildungsstätten geleistet. Ein Überblick ist wegen der Unüberschaubarkeit der Einrichtungen auf Grund von ständigen Neugründungen und Schließungen kaum möglich. Zudem variieren die Ambitionen, wie intensiv das Training auf den Beruf der Bühnentänzerin und des Bühnentänzers abzielt. Wird eine klassisch-akademische Tanzausbildung angestrebt, ist es schwer, ein seriöses Angebot im Privatsektor zu finden (vgl. Hartewig 2013). Daher ist es zwingend von Nöten, auf eine staatliche Tanzausbildungsstätte zu wechseln. Spätestens mit 12 Jahren sollte der Übergang erfolgen, wenn eine klassische Ballettkarriere verfolgt und spätestens mit 16 Jahren, wenn der Fokus auf einer zeitgenössischen Tanzausbildung liegt. Klassische Vorausbildungen werden neben den professionellen Tanzvollausbildungen an sechs der insgesamt elf staatlichen Hoch- oder Berufsschulen angeboten. In der Regel bieten die Vorausbildungsinstitutionen ein bis zwei Mal im Jahr Aufnahmetests an, in denen die Bewerberinnen und Bewerber vortanzen müssen und dann auf der Grundlage ihrer tänzerischen Fähigkeiten entschieden wird, ob sie in das Niveau der entsprechenden Tanzstufen oder -klassen integrierbar sind oder eben nicht. Mit Tanzstufen oder -klassen sind altersbedingte Entwicklungsstufen gemeint, die von Institution zu Institution unterschiedlich strukturiert sind: Die Hochschule für Musik und Theater München-Ballett Akademie beispielsweise untergliedert ihre Vorausbildung in die Vorstufe (7–10 Jahre), die Grundstufe (10–13 Jahre) und die Mittelstufe (14–16 Jahre). Die Palucca Hochschule für Tanz in Dresden wiederum differenziert nach Orientierungsklassen (5. und 6. Klasse) und Nachwuchsförderklassen (7.–10. Klasse). Die Besonderheit der tänzerischen Vorausbildung ist die Gleichzeitigkeit von Tanz und Schule, die parallel oder dual sein kann. Dualität ist gekennzeichnet von einer institutionellen Verwobenheit der Tanz- und Schulausbildungsstätte. An der Palucca Schule Dresden – Hochschule für Tanz ist es möglich, an der integrierten Sekundarschule einen Realschulabschluss neben der Tanzvorausbildung zu absolvieren. An der staatlichen Ballettschule Berlin/Schule

3.2  Strukturelle und kontextuelle Rahmenbedingungen …

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für Artistik, an der Folkwang Hochschule in Essen und an der Ballettschule Hamburg/Ballett John Neumeier kann man an angegliederten Schulen einen Abiturabschluss erlangen. Die Ballettschule John Neumeier, eine der drei staatlichen Berufsfachschulen, bietet zudem einen Fachabiturabschluss als Alternative an. Diese Schulen bieten eine Unterbringung im Internat an. Parallelität von Schul- und Tanzausbildung ist durch deren institutionelle Unabhängigkeit gekennzeichnet. Die Heinz-Bosl-Stiftung-Ballett-Akademie München und die John Cranko Schule – Ballettschule des Württembergischen Staatstheaters bieten zwar eine tänzerische Vorausbildung aber keine angegliederte Schulausbildung an. Der Übergang in die tänzerische Vollausbildung muss nicht zwingend nach Vollendung der akademischen Schulausbildung erfolgen. Häufig findet ein Wechsel auf die Tanzhochschulen oder die Berufsfachschulen statt, bevor die Tänzerinnen und Tänzer ihre Schullaufbahn abgeschlossen haben. Dies ist einerseits möglich, weil alle Tanzausbildungsstätten Kooperationen mit Schulen haben, in denen es möglich ist, abends den angestrebten Schulabschluss nachzuholen; beispielsweise das Abitur an einem Abendgymnasium. Für den Zugang zu den Berufsfachschulen wird mindestens ein Hauptschulabschluss benötigt, ähnlich wie in anderen Berufsausbildungen auch. Parallel zu der Tanzberufsausbildung lassen sich weitere höhere akademische Schulabschlüsse nachholen. Für den Zugang zu den staatlichen Tanzhochschulen – und dies ist ein Unterschied zu anderen Bewerbungsverfahren an Fachhochschulen – wird mindestens ein mittlerer Schulabschluss benötigt. Dies beruht beispielsweise in Sachsen auf § 17 Absatz 11 zum Hochschulzugang des Sächsischen Hochschulfreiheitsgesetzes, welches besagt, dass bei „besonderer künstlerischer Eignung“ auf den Nachweis der schulischen Qualifikation verzichtet werden kann. Die Palucca Hochschule in Dresden verzeichnet diesen Paragraphen in ihrer Zulassungsordnung (§1, Absatz 1 ZO). Allerdings ist dort auch festgehalten, dass die Kriterien für eine solche besondere künstlerische Eignung von der Hochschule selbst festgelegt werden (§4, Absatz 2 ZO). Andere Hochschulen verweisen in ihrer Zulassungsordnung ­ ebenfalls auf den entsprechenden Paragraphen zur besonderen künstlerischen Eignung in den Hochschulgesetzen der verschiedenen Bundesländer.3

3Etwa das Bundesland Berlin im § 10 Absatz 4 des Berliner Hochschulgesetzes oder das Bundesland § 44 Absatz 2 des Bayrischen Hochschulgesetzes oder beispielhaft auch das Bundesland Nordrhein-Westfalen im § 66 Absatz 5 des Nordrhein-Westfälischen Hochschulgesetzes.

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3  Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“

Die professionelle Vollausbildung kann in Deutschland in Form eines dreijährigen Studiums an insgesamt acht staatlichen Hochschulen oder einer zweijährigen Berufsausbildung an drei Berufsfachschulen absolviert werden. Der Zugang zu den Institutionen ist über einen Eignungstest geregelt, in dem sich bereits durch zuvor eingereichte Unterlagen – meist Lebenslauf, Zeugniskopien, ärztliches Attest und ein Formular, in dem der bisherige tänzerische Werdegang dargelegt werden muss und in einigen Fällen wird zudem ein Video angefordert – ausgewählte Bewerberinnen und Bewerber vor einer Fachkommission in Form eines Vortanzens (Audition genannt) beweisen müssen. Die Kriterien der Auswahl sind innerhalb der Institutionen unterschiedlich. Teilweise existieren Kataloge, in denen festgehalten ist, welche tänzerischen Fähigkeiten und welches technische Niveau als Standard gesetzt ist. Es wird auf Musikalität, Rhythmusgefühl, Gelenkigkeit und generell auf körperliche Voraussetzungen geachtet. Gewicht, Körpergröße und ästhetisches Erscheinungsbild zählen ebenso zu den Auswahlkriterien, wie, ganz elementar, das Alter: die Bewerberinnen und die Bewerber sollten möglichst jung sein. Die John Cranko Schule in Stuttgart beispielsweise nimmt nur Tanzauszubildende unter 18 Jahren. Nur wenige der Tanzinstitutionen führen zusätzlich zu den Auditions Gespräche, in denen Charaktereigenschaften und Persönlichkeit auf dem Prüfstand stehen (vgl. Hartewig 2013). Das Vortanzen ist gängige feldinterne Praxis und markiert institutionelle Übergänge in der Tanzausbildung und der späteren Berufswelt. Erfolgreich abschließen, lässt sich das Tanzstudium an den Hochschulen mit einem Bachelorabschluss – durch den sich dann die Anschlussmöglichkeit eines Masterstudiums ergibt – und an den Berufsfachschulen mit einer staatlichen Anerkennung. Beide Abschlussarten führen gleichermaßen in den Beruf der Bühnentänzerin oder des Bühnentänzers. Interessant ist, dass der Abschluss keine grundlegende Voraussetzung für die Einmündung in die Berufswelt ist. Und auch umgekehrt: Der Abschluss ist ebenso wenig Garantie dafür, den Beruf auch ausführen zu können. Eine Möglichkeit, die sich zwischen erfolgreich abgeschlossener Tanzvollausbildung und tatsächlicher Berufsausübung ansiedelt, ist ein meist einjähriges Volontariat zu übernehmen oder in einer Juniorkompanie tätig zu sein. Auch der Übergang in den Beruf erfolgt über Auditions. Berufstänzerinnen und Berufstänzer können in zwei Beschäftigungsformen tätig sein: in der abhängigen und der freien Szene (vgl. Pfaff 2018). Typische Arbeitsorte für abhängige Beschäftigungsformen sind Theater, Tanzhäuser, Tanzkompanien. In der Regel handelt es sich um spielzeit- oder projektbezogene befristete Arbeitsverträge, meist für ein bis zwei Jahre.

3.2  Strukturelle und kontextuelle Rahmenbedingungen …

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Die generelle Kurzfristigkeit ist ebenso charakteristisch für die freie Beschäftigungsszene, in der Tänzerinnen und Tänzer selbstständig innerhalb verschiedener Tanzprojekte oder innerhalb eines Tanzkollektives tätig sind. Klassische Balletttänzerinnen und Balletttänzer sind überwiegend in der abhängigen Szene beschäftigt, während zeitgenössische Tänzerinnen und Tänzer oftmals selbstständig tätig sind.

3.2.2 Kontexte und aktuelle Debatten Das Folgende ist eine Zusammenschau einer Recherche über aktuelle feldinterne Debatten bezüglich der Tanzausbildung in Deutschland. Auch diese Recherche wurde im Juni 2015 durchgeführt. Im Kern des Interesses stand die Frage, worüber bezüglich der Tanzausbildung gesprochen bzw. berichtet wird. Hierfür dienten einerseits Fachliteratur, die derartige Diskussionen festgeschrieben haben, wie etwa ein Beitrag der gemeinsamen Interessenvertretung „Ausbildungskonferenz Tanz“ (vgl. Diehl 2007). Anderseits wurde ein zu Beginn des Promotionsvorhabens geführtes Experteninterview mit Herr Heyden, den Fachvorsitzenden und Tanzpädagogen der Tanzvorausbildungsinstitution, die alle vier jugendlichen Tänzerinnen und Tänzer des Samples in der ersten Erhebungswelle besuchten, mit herangezogen. Diesem Experteninterview wird lediglich die Funktion der Erschließung des Feldes zugesprochen und findet in dem empirischen Teil der Arbeit daher keine Berücksichtigung. Dennoch soll ein kurzer methodischer Einblick gegeben werden: Der Expertenstatus – der kritisch betrachtet ein vom Forscher verliehener Status ist, da letztlich der Forscher den Experten als einen eben solchen identifiziert (Meuser/Nagel 2009, S. 468) – erklärt sich an dieser Stelle mit dem feldspezifischen Wissen, welches sie im Rahmen ihrer auszuführenden Tätigkeiten erworben haben. Das mich interessierende Handlungsfeld ließ sich durch derartige Innenperspektiven besser erschließen. Nur so ist es gelungen, institutionelle Maximen und Regeln sowie Aussagen über Struktur und Performanz der Lebensbedingungen der Tänzerinnen und Tänzer zu identifizieren. Dabei zielte das leitfadengestützte Interview auf zwei Wissensaspekte, die Meuser und Nagel als Betriebswissen und Kontextwissen bezeichnen (ebd., S. 471). Während das Betriebswissen auf die Rekonstruktion struktureller Bedingungen der Institutionen abzielt, stehen beim Kontextwissen Informationen zu den Lebensbereichen, Handlungsprinzipien und Routinen der Tänzerinnen und Tänzer allgemein im Fokus der Betrachtungen.

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3  Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“

Das Interview startet mit einem offenen Eingangsstimulus, der dazu auffordert, zu erzählen, wie sich die Tanzabteilung in den letzten Jahren entwickelt hat und wie die gegenwärtige Situation einzuschätzen ist. Danach erfolgen Nachfragen zum Konzept und Profil4 sowie zum Aufnahmeverfahren5 und zu den beruflichen Perspektiven von Tänzerinnen und Tänzern allgemein und zu denen der eigenen Schülerschaft6. Das Interview endet mit der Frage, wie es für die Tanzabteilung vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung weitergehen wird. Generell lässt sich festhalten, dass die Tanzausbildung in Deutschland ein Legitimationsproblem hat und die feldinternen Debatten verdeutlichen nicht zuletzt, dass sich das Feld der Tanzausbildung ihrer Problemlage stellt und nach „neue[n] Wege[n]“ (ebd., S. 299) in der Umsetzung sucht. Die Erkenntnisse der Recherche werden nun konzentriert themenförmig dargelegt und dann knapp erläutert. Dabei steht stets im Fokus, worüber geredet wird, um die Debatten bzw. Diskurse aufzeigen zu können. Die Themen werden an dieser Stelle aus Darstellungsgründen systematisch voneinander abgegrenzt, obwohl sie keineswegs unabhängig voneinander zu denken sind. Zum Thema 1: Das Reden über die Notwendigkeit von Institutionalisierung Im Feld herrschen unklare Maßstäbe und Kriterien. Tänzerische Leistungen sind nicht, wie im Sport, mess- und vergleichbar, sondern unterliegen subjektiven Beurteilungen und verändern sich fortwährend entlang unterschiedlichster Markttrends. Trotz dessen wird aktuell der Versuch unternommen, – nicht zuletzt auch um den Stellenwert der Tanzausbildung gegenüber anderen Berufsqualifikationen zu festigen (ebd., S. 302) – bestimmte Strukturen der Tanzausbildung verstärkt zu

4Erzählen

Sie doch bitte etwas über die Struktur und Organisation Ihrer Tanzausbildung! Wie sieht die Öffentlichkeitsarbeit der Tanzabteilung aus? Welche Kooperationspartner hat die Tanzabteilung (Schule, Hochschule, Stadt, Tanzensembles)? Wie ist die Außenwahrnehmung von der Tanzabteilung? Wodurch unterscheidet sich die Tanzausbildung hier von der Tanzausbildung woanders? 5Beschreiben Sie mir bitte ausführlich, wie das Aufnahmeverfahren bei Ihnen abläuft? Worauf achten Sie bei der Aufnahme neuer Tanzschülerinnen und Tanzschüler besonders? Wie sollte ein Schüler sein, den Sie gerne an Ihrer Tanzabteilung hätten? Erzählen Sie doch bitte mal, wie sich die Anmeldezahlen in den letzten Jahren so entwickelt haben. 6Können Sie bitte generell etwas zur Berufssituation von Tänzerinnen und Tänzern sagen und wie Sie diese einschätzen? Wie schätzen Sie die zukünftigen beruflichen Perspektiven ihrer Tanzschülerschaft ein? Gibt es eine Karrieregeschichte einer ihrer ehemaligen Schülerinnen oder Schüler, an die sie sich erinnern und etwas darüber erzählen können?

3.2  Strukturelle und kontextuelle Rahmenbedingungen …

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institutionalisieren. Damit ist der Anspruch erhoben, implizite Regelhaftigkeiten des Feldes sichtbarer und nachvollziehbarer zu gestalten. Diese Forderung, so scheint es, wird von der Gesellschaft generell an die Tanzkunst herangetragen. Dies hängt engt mit dem marginalisierten gesellschaftlichen Stellenwert des Tanzes zusammen resp. mit dem vergleichsweise geringen gesellschaftlichen Status einer Berufstänzerin und eines Berufstänzers, was sich nicht zuletzt auch darin zeigt, dass es kaum belastbare Zahlen und Fakten zur Ausbildung und zu Karrierewegen von Tänzerinnen und Tänzern gibt (Dümcke 2007, S. 308; 310 f.). Der Tanz wird weitgehend im Rahmen künstlerischer und auch sportlicher Berufe ausgeblendet. Um die gesellschaftliche Anerkennung von Tänzerinnen und Tänzern zu stärken, wird intern darüber diskutiert, wie sich die Tanzausbildung in Deutschland an die Strukturen anderer Berufsausbildungen anpassen lässt. Die Schwierigkeit dabei ist allerdings, dass sich Erfolg im Tanz nicht über Zertifikate, sondern über das zeigt, was man geleistet hat (Gause 2011, S. 67). Zudem ist Erfolg nicht statisch, sondern dynamisch zu denken: Er muss immer wieder aufs Neue hergestellt werden. Und vor allem ist er nicht institutionell gebunden bzw. baut nicht auf der Grundlage von Zertifikaten oder Abschlüssen auf, sondern auf ein ständiges Beweisen der Fähigkeiten, etwa in Auditions. Es wurde bereits dargelegt (vgl. 3.1), dass es nicht zwingend von Nöten ist, ein abgeschlossenes Tanzstudium nachweisen zu können, um in dem Beruf der Bühnentänzerin oder des Bühnentänzers tätig zu sein. Es gibt zwar Wege der Institutionalisierung im Rahmen einer Tanzausbildung, diese werden aber nicht streng eingehalten, sondern weichen ab, wenn eine Tänzerin oder ein Tänzer als besonders geeignet in den körperlichen Fähigkeiten und der geistigen Altersentwicklung erscheint. Die Kombination von Geist und Körper lässt sich nur schwer in ein vorgefertigtes institutionelles Rahmenkonzept übertragen. Vielmehr spielen Intuition und Einfühlung bei der Auswahl von Tänzerinnen und Tänzern eine Rolle, wie es Herr Heyden im Experteninterview betont: „man erfasst auch irgendwas anderes von den Menschen nicht nur was die kann oder der //I: mhm// sondern man erfasst auch noch irgendwas anderes ja? und mit der Zeit und mit der Erfahrung ja?“ Auch im weiteren Interview wird von Herrn Heyden verdeutlicht, dass institutionelle Standards im Tanz nur bedingt funktionieren, weil die tänzerische und geistige Entwicklung bei den jungen Tänzerinnen und Tänzern unterschiedlich ist und dementsprechend auch die Bedürfnisse andere sind. Seiner Meinung nach, müssen Entscheidungen nicht entlang der institutionellen Gegebenheiten getroffen werden, sondern müssen immer individuelle Einzelentscheidungen sein.

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3  Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“

Er bringt es in Bezug auf ein zwölfjähriges Mädchen, die zum Vortanzen kam, auf den Punkt: „ich meine äh ich hab schon Sachen erlebt aus [Kleinstadt] ein Mädchen zwölf zum Vortanzen hier die Eltern ja wir wollten das mal von Profis abklärn lassen obs Kind wirklich so begabt iss bei uns in der Ballettschule sagt die muss nach [Großstadt] (.) zwölf dann haben wir dieses Mädchen angeguckt dieses Mädchen war eine Primaballerina die hatte einen Körper alles was platzierungstechnisch da im Körper war fantastisch ja? und dann hat die Mutter mir das gesagt und dann hab ich gesagt also ganz ehrliche Meinung weil das iss immer nur ne Intuition oder nen Gefühl //I: mhm// ja? meine Meinung ist ihre Tochter sollte zumindest noch zwei drei Jahre hier bleiben wo wir weiter solide an der Basis arbeiten arbeiten können aber ne ich hab das Gefühl so weit weg von zu Hause und sofort an sone Schule mit der Konkurrenz (.) […] und dann hab ich ihr das gesagt ich hab gesagt das ist ein Angebot überlegen sie das sie haben das Kind angemeldet zur Aufnahmeprüfung in [Großstadt] es ist aufgenommen worden und nach nem halben Jahr is sie nach [Kleinstadt] zurück und hat aufgehört zu tanzen“

Diese Beispielgeschichte von Herrn Heyden verdeutlicht, dass der gradlinige Weg durch die Institutionen nicht zwingend der richtige Weg einer Tanzkarriere sein muss. Ganz im Gegenteil: Fehlentscheidungen können, wie bei dem zwölfjährigen Mädchen, dazu führen, dass die Tanzkarriere trotz enormen Potenzials früh abgebrochen wird. Der Spielraum der Entwicklung der tänzerischen und geistigen Fähigkeiten ist feldintern von hoher Bedeutung. Die Wege einer Tanzkarriere sind vielseitig und hochgradig individuell; und dies spiegelt sich auch in der Form der Institutionalisierung einer Tanzausbildung wieder (vgl. 3.2.1). Oft wird dies auch mit dem künstlerischen Anspruch des Tanzes bzw. dem Freiraum, den ein künstlerisches Schaffen benötigt, begründet. Nichtsdestotrotz sieht sich das Feld der Tanzausbildung fortwährend damit konfrontiert, Transparenz in den Ausbildungswegen herzustellen. Die Debatten verlaufen um den Konflikt zwischen künstlerischer Individualität und Standardisierung. Damit einher gehen auch die Diskussionen um die Anerkennung von Abschlüssen. Zum Thema 2: Das Reden über die Anerkennung von Abschlüssen Im Experteninterview mit Herrn Heyden zeigt sich die enorme Bedeutung von Tanzabschlüssen, insbesondere in der Beschreibung einer Zukunftsvision. Der zugrundeliegende Zustand hängt mit der Dualität von Tanz und Schule zusammen und, dass die Tänzerinnen und Tänzer, die zunächst das Abitur absolvieren und dann in die Tanzvollausbildung übergehen, älter sind, als diejenigen, die bereits etwa nach der 10. Klasse das Tanzstudium oder die Tanzausbildung begonnen

3.2  Strukturelle und kontextuelle Rahmenbedingungen …

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haben, „weil das Problem iss natürlich äh (.) wenn die das Abitur hier machen haben sie in dem Tanz im Grunde genommen nichts“. Geplant ist, so erzählt es Herr Heyden im Interview, Hochschulen als Kooperationspartner zu finden, die den Tanzschülerinnen und Tanzschülern bereits Bachelorpunkte vergeben, die dann im Studium anerkannt werden. Damit würden sie sich das erste Jahr eines Studiums an der Hochschule und somit kostbare Zeit einsparen: „jetzt müssen wir quasi überzeugen das wir sagen ja okay eure Autonomie wird überhaupt nich angegriffen weil ihr könnt euch hier reinsetzten und sagen (.) äh wir machen nen Curriculum (.) wo wir sagen das und das ist notwendig um diese Bachelorpunkte zu kriegen //I: mhm// ja? und ähm (2) ihr bestimmt wer die bekommt von den Schülern und wer nich also es iss nicht zwingend dass alle Schüler das bekommn also //I: aha// die die Idee die Grundidee is jetzt die das man sagt wir machen ne Abiturprüfung im Tanz //I: mhm// da sitzt die Hochschule mit am Tisch“

Das erste tatsächliche Tanzzertifikat ist der Bachelor im Rahmen des Studienabschlusses oder die staatliche Anerkennung als erfolgreiche Beendigung einer Tanzausbildung. Die gesamte Tanzvorausbildung ist ohne jegliche Zertifizierung geregelt. Obgleich wohl auch das Besuchen einer Tanzinstitution selbst auf der Grundlage von Ruf und Image als indirekte Zertifizierung im Feld gelten kann. Gibt man beispielsweise im Bewerbungsverfahren für eine Hochschule an, seine Tanzvorausbildung an einer namhaften und im Feld anerkannten staatlichen Institution absolviert zu haben, stehen die Chancen zumindest erst einmal auf dem Papier wohl besser, als eine Tanzvorausbildung in einer unbekannten privaten Institution nachweisen zu können. Daher ist der Wechsel von einer privaten zu einer staatlichen Tanzvorausbildungsstätte, wie bereits zuvor beschrieben wurde (3.1), unabdingbar. Mit diesem Wechsel geht ein Stück weit eine Standardisierung einher, die im privaten Sektor wegen der enormen Heterogenität des Feldes nicht gewährleistet werden kann. Im Feld besteht ein Wissen darüber, wie und welche Tanzstile an welcher staatlichen Tanzvorausbildungsstätte vermittelt werden. Tanzschülerinnen und Tanzschüler lassen sich dadurch verorten, getreu dem Motto, wer auf dieser Tanzinstitution war, kann was. Ein offizielles Zertifikat, welches dieses Können bestätigt, gibt es bisher im Feld jedoch nicht. Denn letztlich – genau dies ist das Dilemma des Feldes – entscheidet allein das tänzerische Können über Erfolg und Weiterkommen und nicht eine schriftlich nachweisbare Qualifikation. In diesem Zusammenhang wird zudem oft der Stellenwert der privaten Tanzausbildungsstätten diskutiert. Es herrscht Einigkeit im Feld darüber, so beschreibt

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3  Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“

es Herr Heyden, dass private Institutionen eine Tanzkarriere in frühen Jahren vorbereiten und ihre Aufgabe darin liegt, begabte Tänzerinnen und Tänzer an die staatlichen Institutionen weiter zu geben, „bis aus diesem begabten Kind ein gescheiter Tänzer geworden is“ (EI, E. Heyden). Wer auf eine vollends private Tanzvorausbildung setzt, dem fehlen Disziplin, Durchsetzungsvermögen und die Fähigkeit zum reflexiven Denken, so resümiert Herr Heyden: „null Disziplin //I: mhm// (3) kommen und gehen (2) ähm wenn sie in modern was nich können nur und und es iss alles irgendwie so ohne dieses Feuer ohne diese ja go for it ja? und das ist meiner Meinung nach dieser typische Privatschüler auf den alles hin ausgerichtet wurde ja? //I: mhm mhm// der gepämpert wurde bis ins geht nicht mehr inner Privatschule ja? und dann in so ner Situation mit plötzlich einer Konkurrenz ausgesetzt ist mit der er überhaupt nichts anfangen kann //I: mhm// ja? und und äh und er sagt was was er denkt was wir auch äh ganz gut gemacht haben hier iss das wir ihnen immer sagen schau auf das nächste Ziel das du erreichen willst ja? weil es geht immer weiter es iss nie so das irgendetwas fertig is ja? und und bei den Privatschulen ist es oft so äh dass diese Kinder so erzogen werden ja nich die Schwächen zu zeigen oder ja? sondern immer nur stark sein ja? und plötzlich können die das dann nich weil diese Basis wegfällt von der Schule die das stützt ja? […] ich empfind Privatschulen eher nicht als Konkurrenz zu ich bin froh wenn die gut arbeiten und die Kinder gut ausgebildet hier her schicken ja? oder egal auch woanders hinschicken“

An dieser Stelle findet eine starke Distinktion gegenüber den verhätschelten und unaufrichtig erzogenen Privatschülern statt, die sich letztlich als Tänzerinnen und Tänzer aufgrund ihrer untauglichen Ausbildung kaum eignen. Es lässt sich darlegen, dass es im Feld eine eindeutige Hierarchisierung von privater und staatlicher Tanzvorausbildung gibt. Wer professionelle Bühnentänzerin bzw. professioneller Bühnentänzer werden möchte, muss auf eine staatliche Einrichtung wechseln, am besten, wie Herr Heyden es empfiehlt, so früh wie nur möglich. An einer staatlichen Institution dann angekommen, funktioniert auch ein indirektes oder auch feldintern mehr oder weniger direktes Ranking. Wer beispielsweise das Tanzhaus des Gymnasiums mit ästhetischem Profil besucht, wie die jungen Tänzerinnen und Tänzer des Samples in der ersten Erhebungswelle, hat schon alleine wegen des guten Rufes der Tanzvorausbildung gute Chancen auf eine weitere Tanzkarriere. Das bedeutet im Grunde auch, dass es im Feld selbst keine Zertifizierungen braucht. Der Anspruch darauf wird vielmehr von außen an die Tanzwelt herangetragen. Hilfreich ist eine Zertifizierung lediglich hinsichtlich möglicher Zeiteinsparungen von Tänzerinnen und Tänzern im Rahmen ihrer

3.2  Strukturelle und kontextuelle Rahmenbedingungen …

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­ usbildungsphase; insbesondere, wenn sie dual mit dem Erwerb eines AbiturA abschlusses einhergeht. Wenn über die Anerkennung von Abschlüssen geredet wird, ist das stets eng gekoppelt mit dem Reden über Kompetenzen. Dahinter steht die Frage, welches Wissen bzw. welche Fähigkeiten denn zertifiziert werden könnten. Thema 3: Das Reden über Kompetenzen Was können und was wissen Tänzerinnen und Tänzer eigentlich? Und was lernen sie im Laufe ihrer Ausbildung? Diese Fragen sind auch insbesondere wegen des möglich frühen Übergangs in ein tänzerisches Hochschulstudium auf der Grundlage der besonderen künstlerischen Eignung (vgl. 3.1) bedeutsam und werden immer wieder an die Feldakteure der Tanzausbildung gestellt. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern steht Deutschland in der Debatte um Schlüsselqualifikationen in der Tanzausbildung noch ganz am Anfang (Diehl 2007, S. 302). Es herrscht jedoch Einigkeit darüber, welche Schlüsselqualifikationen bzw. „wertvolle Kompetenzen“ (Dümcke 2007, S. 309) sich Tänzerinnen und Tänzer während ihrer Ausbildungsphase aneignen sollten: „Disziplin, Ausdauer, Teamfähigkeit und Sprachkenntnisse“ (ebd.); dies sind jene, die über die spezifisch körperlichen Fähigkeiten hinausgehen und deren Aneignung für die berufliche Neuorientierung nach der Tanzkarriere von erhöhter Bedeutung sind. Die Feldakteure sind in den letzten Jahren sensibler dafür geworden, Tänzerinnen und Tänzer auch für das Berufsleben nach der aktiven Bühnentätigkeit auszubilden. Die schulisch-akademische Ausbildung gewinnt immer mehr an Bedeutung. Nicht mehr nur die körperliche, sondern gleichrangig auch die geistige Ausbildung spielt zunehmend im Feld eine Rolle. Das Problem ist allerdings ein zeitliches, wie auch Herr Heyden im Experteninterview betont: „es gibt nen Problem im Tanz wenn die Leute zu ihnen an die Hochschule kommen gibt zwei Gruppen entweder sie sind gut ausgebildete im Tanz haben aber keine schulische Abschluss //I: mhm// oder nur Realschulabschluss oder sie sind viel zu alt haben Abitur aber fangen zu spät an mit dem Tanz“

Im Grunde werden an die Tänzerinnen und Tänzer unvereinbare Anforderungen gestellt: Sie sollen einen höheren Schulabschluss haben und zudem frühzeitig in ein intensives Tanztraining einsteigen. Eine hohe akademische Schulbildung fördert das Reflexionsbewusstsein und die Selbstaufmerksamkeit; dies sind zentrale Anforderungen an Tänzerinnen und Tänzer. Herr Heyden plädiert eindeutig für eine gymnasiale Schulausbildung:

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3  Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“ „ich seh einfach das sich im Alltag sechzehn siebzehn achtzehn in den Köpfen in den Seelen der Menschen unglaublich viel tut ja? und und äh ich glaub einfach das das ganz wichtig iss dass die in der Zeit nicht einfach nur tanzen //I: mhm// (3) und deswegen find ich das gut dass es die Möglichkeit der gymnasialen Ausbildung gibt mhm ich glaub einfach das die Tänzer mehr im Kopf haben //I: mhm// das das liegt auf der Hand ja?[…] ja klar die haben die Erfahrung einfach nicht und die haben auch diese Auseinandersetzung im Kopf mit anderem Futter als den Tanz nicht ne?“

Hier verdeutlicht sich, dass höhere Bildung eine Art Input darstellt, die potentiell angehende Tänzerinnen und Tänzer reifen lässt. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive argumentiert Herr Heyden, dass gerade die Altersstufen 16–18 sehr bedeutsam für die weitere geistige Entwicklung sind und einem dafür etwas geboten bekommen muss, womit man sich gedanklich auseinandersetzen kann. Dieses Angebot stellt für ihn die gymnasiale Ausbildung dar. Wenn diese fehlt, bleiben dem Individuum bestimmte Erfahrungshorizonte vorenthalten. Einfach nur das Tanzen entspricht nicht dem Bildungskonzept von Herrn Heyden. Vielmehr dokumentiert sich eine Verbindung von Geist und Körper sowie ein symbiotisches Reifen auf beiden Ebenen. Des Weiteren führt Herr Heyden die Eltern der Tanzschülerinnen und Tanzschüler an, die größtenteils „mit Ballett oder Tanz eh nix anfangen [können] das heißt die sagen um Gottes willen also wenn schon dann Abitur“. An dieser Schnittstelle scheinen auch die Eltern eine maßgebliche Rolle zu spielen, da sie als Mitentscheider hinsichtlich schulischer Belange dargestellt werden. Die bildungsambitionierte Elternschaft fordert das Abitur als etwas Handfestes. Im negativen Gegenhorizont dazu steht dann der Tanz mit seinen prekären Verhältnissen, wie die Unsicherheit eines festen Einkommens, die ständige Gefahr der Beendigung der Karriere durch mögliche Verletzungen oder auch die große Konkurrenz um Aufträge überhaupt. Ein hohes Bildungsniveau stellt sicher, dass, wenn die Karrierepläne scheitern, die Möglichkeit besteht, an ein bereits erworbenes Wissen und vorhandene Kompetenzen anzuknüpfen, darauf aufzubauen und auf andere Berufsfelder zu übertragen (Dümcke 2007, S. 309). Thema 4: Das Reden über Transition nach der Tanzkarriere Eines der wichtigsten Themen – mittlerweile bereits schon im Rahmen der Tanzausbildung – ist das der Transition. Dahinter verbirgt sich die Frage, was beruflich nach der aktiven Tanzkarriere folgt. Mit Mitte 30 scheidet der Großteil der Tänzerinnen und Tänzer aus dem Beruf der Bühnentänzerin und des Bühnentänzers aus und muss sich mit Fragen nach Umschulung oder Weiterbildung beschäftigen (ebd., S. 308).

3.3  Zusammenführung: Das Feld der Tanzkunst

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Der Übergang ist damit integraler Bestandteil des Berufslebens (ebd.). Inzwischen – im Gegensatz zu Ländern wie Holland, England oder Staaten wie den USA oder Kanada, die schon seit Anfang der 80er Jahre Transitionszentren gegründet haben (ebd., S. 309) – gibt es auch in Deutschland Initiativen, wie die Stiftung Tanz, die sich mit dem Übergang beschäftigen und den „Status quo von instititionellen, strukturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen für Ausbildung und Umschulung“ analysieren (ebd., S. 312) und Tänzerinnen und Tänzer in der Übergangsphase unterstützend zur Seite stehen. Wichtige Impulse dazu kommen von Akteuren der Tanzszene selbst. Sie machen damit auf ihre berufliche Prekarität aufmerksam: Denn den Beruf, für den sie, um ihn ausüben zu können, jahrelang hart gearbeitet haben, können sie nur eine kurze Zeit tatsächlich ausüben; wenn sie nicht sogar auf Grund von Verletzungen bereits schon früher aus dem Beruf ausscheiden müssen. Die kurze Dauer der Berufsausübung ist auch einer der Gründe, warum so viel Wert daraufgelegt wird, möglichst jung in das Berufsfeld einzusteigen. In dem Zusammenhang mit dem Thema der Transition wird auch immer von der Tanzcommunity darauf aufmerksam gemacht, dass es kaum offizielle quantitative Daten über die bundesweite Tanzlandschaft in Deutschland gibt. Erste Versuche der Systematisierung und Aufarbeitung kommen von Vertreterinnen und Vertretern von Transitionsinitiativen. Die Ausgangslagen und Bedürfnisse von Tänzerinnen und Tänzern müssen zunächst erfasst werden, damit Argumente vorliegen, um sich für eine verbesserte Lage einsetzten zu können (ebd., S. 312). Im Großen und Ganzen geht es, wenn über die Notwendigkeit von Institutionalisierung (Thema 1) und über die Anerkennung von Abschlüssen (Thema 2) und über die Transition nach der Tanzkarriere (Thema 3) gesprochen wird, darum, den gesellschaftlichen Stellenwert des Tanzes zu rehabilitieren und sein Dasein in der Gesellschaft zu legitimieren.

3.3 Zusammenführung: Das Feld der Tanzkunst Es wurde aufgezeigt, dass der Tanz von der Dualität zwischen Kunst und Sport geprägt ist, und während beide Bereiche gesellschaftlich anerkannt sind, politisch wahrgenommen werden und auch medial eine große Reichweite haben, kämpft der Tanz um seine Akzeptanz. Er fällt Kulturkürzungen zum Opfer und muss sich, um mithalten zu können, immer wieder neu erfinden. Seine Akteure müssen flexibel und diszipliniert sein und mit beruflicher Unsicherheit und Prekarität

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3  Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“

umgehen können. Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer ist mit großen Mühen verbunden, etwa mit der Gleichzeitigkeit von schulischer und tänzerischer Ausbildung und bleibt dennoch Tag für Tag ungewiss. An keiner Stelle der Ausbildung gibt es eine Garantie dafür, es auch wirklich schaffen zu können und selbst wenn der Durchbruch gelungen ist, kann der Endpunkt sehr nahe sein. Eine Sicherheit für die berufliche Zukunft gibt es nicht. Das Feld der Tanzausbildung und auch dann das Feld des Tanzberufes folgen ihren eigenen spezifischen Logiken sowie inneren Mechanismen und Regelhaftigkeiten. Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer ist ein Werdegang abseits eingefahrener Karriereverläufe und Professionalisierungsprozessen, der maßgeblich, wie zuvor beschrieben, durch zwei Spezifika gekennzeichnet ist: Erstens wird der Versuch der Vereinbarkeit von Schul- und Tanzausbildung von den Institutionen strukturell gefördert. Denkbar möglich sind verschiedenste Modelle, in denen sich Schule und Tanz miteinander arrangieren lassen: Im Rahmen einer Tanzvorausbildung parallel oder dual ausgerichtet, im Bereich der Tanzvollausbildung nur noch dual organisiert. Der Weg zur Berufstänzerin oder zum Berufstänzer ist kein klassischer Ausbildungspfad, in dem zunächst eine akademische Schullaufbahn und sich nach Abschluss dieser eine Ausbildung oder ein Studium anschließt. Da die Tanzausbildung bereits in jungen Jahren, wegen der frühzeitigen Ausbildung des Körpers begonnen werden muss, und sich das Training von Jahr zu Jahr intensiviert, vor allem auch, was den zeitlichen Aufwand angeht, ist die Vereinbarkeit mit der akademischen Schulausbildung ein wesentliches Strukturmerkmal der Tanzausbildung. Gerade im Hinblick auf die zweite Karriere, also die Zeit nach Beendigung der Berufsausübung, ist ein (möglichst hoher) akademischer Abschluss enorm wichtig, da er Anschlussmöglichkeiten bietet, wie beispielsweise ein Masterstudium oder eine Weiterbildung oder Umschulung etc. Ein weiteres Spezifikum der Tanzausbildung ist zweitens die Strukturierung der institutionellen Übergänge innerhalb der Ausbildungsphase und auch die des Übergangs in den Beruf. Akademische Abschlüsse spielen auf der Grundlage der besonderen künstlerischen Eignung und der Tatsache, dass diese auch neben der Tanzausbildung und dem Tanzstudium nachgeholt werden können, eine untergeordnete Rolle. Das Vortanzen (Audition) ist von wesentlicher Bedeutung und der Gradmesser für das tänzerische Können. Auf dem Weg zur Tänzerin oder zum Tänzer kommt weiter, wer in den Auditions überzeugen kann und nicht, wer den besten Notendurchschnitt nachweisen kann. Leistungsmessung funktioniert hier anders:

3.3  Zusammenführung: Das Feld der Tanzkunst

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Nämlich auf Ebene einer spezifischen Praxis, die zu einem bestimmten Moment abgerufen wird (vgl. Lüdemann 2018). Die Tatsache, dass der Beruf der Tänzerin und des Tänzers auch ohne Studiums- oder Ausbildungsabschluss ausgeübt werden kann, beweist erneut, dass sich akademische Abschlüsse bzw. der Grad der akademischen Ausbildung und des Studiums der körperlichen Schulung unterordnen. Resümierend lässt sich festhalten, dass die „Spielregeln“ einer Tanzausbildung in Deutschland eigentümlich erscheinen und von Außenstehenden kaum zu begreifen sind. Die innere Logik folgt Wesenszügen, wie Bourdieu (2016) sie für das Feld der künstlerisch-kulturellen Produktion beschrieben hat. Ich habe bereits darauf aufmerksam gemacht, dass das Feld der künstlerischen Produktion durch zwei sich gegensätzlich bedingende Subfelder gekennzeichnet ist; die zudem im engen Zusammenhang mit Bourdieus Konzeption von Ästhetik stehen. Auf der einen Seite ist die wahrhafte, reine Kunst und Ästhetik anzusiedeln, die keinem Zweck unterliegt und lediglich um seiner selbst willen existiert. Erfolg bedeutet, Anerkennung in der jeweiligen Community und nicht vom öffentlichen Publikum zu erhalten. Auf der anderen Seite steht der kommerzielle Erfolg mit Kunst, die für die breite Masse geschaffen worden ist. Kunst, die leicht zugänglich und verständlich ist und sich immer wieder den neuen Bedingungen des Publikums anpassen kann. Erfolg hat, wer sich gut vermarkten kann. Auf dieser Seite steht für Bourdieu die populäre Ästhetik, welche auf das Leben und die Zweckmäßigkeit ausgerichtet ist. Von Bedeutung ist des Weiteren, dass Bourdieu das Feld der künstlerischen Produktion entlang des Konsekrationsgrades untergliedert. Dieser drückt im Grunde aus, welche Machtpositionen im Feld eingenommen werden und wie sich diese im Laufe der Zeit verschieben. Alt Bewährtes hat seinen festen Platz in der Feldstruktur, kann aber vom Neuen, Innovativen abgelöst werden. Um sich in der Kunstwelt einen Namen zu machen, muss man zunächst im Feld sichtbar sein, also quasi auf das Spielfeld treten und somit auch die impliziten und expliziten Regeln akzeptieren. Dann beginnt der Kampf um Anerkennung. Dieser Kampf um Anerkennung ist immer verbunden mit dem Zusammenwirken von Disposition, Position und Positionierung. In seinen Ausführungen bezieht sich Bourdieu hauptsächlich auf Schriftsteller und Maler wie etwa Flaubert und Manet und nimmt entsprechend das Feld der literarischen und das Feld der künstlerischen Produktion in den Blick. In seinem Werk „Die Regeln der Kunst“ (2016), schreibt er jedoch, dass, „der Leser das Wort Schriftsteller jeweils durch Maler, Philosoph, Wissenschaftler usw. und literarisch durch künstlerisch, philosophisch, wissenschaftlich usw. ersetzen

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3  Gegenständliche Rahmung: Der Tanz und seine „Spielregeln“

[kann]“ und fügt hinzu, dass dies nicht bedeutet, „dass wir keine Unterschiede zwischen den Feldern sähen“ (Bourdieu 2016, S. 341). Die Variation liege in der „Heftigkeit der Auseinandersetzung“ (ebd.). Mit Bourdieu als Referenzrahmen bietet es sich an, für diese Ausführungen von einem Feld der Tanzkunst zu sprechen und dieses als grobe Struktur zu konzeptualisieren. Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer ist ein individueller Prozess, der sich allerdings im Rahmen vorgegebener grober Strukturen vollzieht. Um diese analytisch trennscharf von möglicherweise vorurteilsbehafteten eben nicht feldspezifischen Vorannahmen abgrenzen zu können, soll Bourdieus Perspektive herangezogen werden. Die Konzeption des Feldes der Tanzkunst in Anlehnung an Bourdieu soll an späterer Stelle ihre Bedeutung für diese Arbeit entfalten. Es ist noch aufzuzeigen, dass das Feld der Tanzkunst den konjunktiven Erfahrungsraum resp. den Orientierungsrahmen im weiteren Sinne für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen dieses Samples darstellt. Die erarbeitete gegenständliche Rahmung ermöglicht es mir, die normativen Handlungserwartungen (Orientierungsschemata) des Feldes der Tanzkunst, zu denen sich die jungen Tänzerinnen und Tänzern im Verhältnis zu ihrem Modus Operandi der Handlungspraxis (Orientierungsrahmen im engeren Sinne) verhalten (müssen), vor dem Hintergrund einer theoretischen Einbettung, wie sie auch Bohnsack (2017) vielfach anstrebt, vorzunehmen. Eine weitere Konkretisierung des Feldes der Tanzkunst wird entsprechend vorgenommen, wenn die Interpretationsergebnisse zueinander kontrastiv diskutiert werden (vgl. 8.1.2).

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Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend

In diesem Kapitel werden die theoretischen Vorannahmen dargelegt, die sich thematisch erstens mit dem Konstrukt Biographie und zweitens mit Sozialisation im Lebenslauf beschäftigen. Zunächst werde ich einen biographietheoretischen Referenzrahmen erarbeiten (vgl. 4.1). Um dies zu erläutern, bedarf es eines Dreierschritts: Zunächst wird ausgehend von einer bildungstheoretisch orientierten Perspektive auf Biographie, etwa die von Marotzki (1990), die exemplarisch im Mittelpunkt steht (vgl. 4.1.1), argumentiert, weshalb ich mich für diese Arbeit von einer derartigen Perspektive eher abwende (vgl. 4.1.2), um letztlich zu begründen, warum ich für diese Untersuchung in Anlehnung an Alheit (1990) und Dausien (1996) vornehmlich eine sozialisationstheoretisch fundierte und konstruktivistische Perspektive auf Biographie einnehme (vgl. 4.1.3). Diese Argumentation erscheint mir besonders wichtig, da sie begründet, warum ich ein von bisherigen Längsschnittstudien (vgl. 2.1) abweichendes methodisches Vorgehen anstrebe. Ausgangspunkt für diese Argumentationslinie ist ein Beitrag von Wieczorek (2017), in dem sie für die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung zwei Zugänge nachzeichnet, erstens die bildungstheoretisch fundierte und zweitens die sozialisationstheoretisch ausgerichtete Perspektive auf Biographie. Beiden Strängen ist das Interesse an individuellen Lern- und Bildungsprozessen gemein. Dennoch unterschieden sie sich in dem, welche Aspekte genau geschärft werden, so Wieczorek (vgl. ebd.). Der erst genannte Zugang konzeptualisiert Bildung als transformatorischen Prozess im Sinne einer Erweiterung (vgl. Marotzki 1990, Nohl 2006; Koller 2012a, Rosenberg 2011). Der zweitgenannte Zugang geht weniger der Frage nach der Identifizierung von Bildungsprozessen nach (vgl., S. 30), sondern fokussiert viel stärker „Prozesse der Gestaltung der eigenen Biographie über die aktive Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lüdemann, Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer, Studien zur Schul- und Bildungsforschung 84, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31344-9_4

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4  Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend

Gegebenheiten“ (ebd.). Mit Blick auf die methodische Umsetzung bisheriger längsschnittlich angelegter Forschungsprojekte (vgl. 2.1) wird meines Erachtens mit beiden Strängen gleichermaßen gearbeitet. Entscheidend jedoch ist, dass eine sozialisationstheoretische Perspektive auf Biographie in den Querschnittanalysen einen enormen Stellenwert einnimmt, in der längsschnittlichen Auswertung dann aber keine Rolle mehr zu spielen scheint. Der längsschnittliche Blick auf Biographie erfolgt bislang, so meine These, aus einer strikten bildungstheoretischen Perspektive, was sich im methodischen Vorgehen zuspitzt (vgl. 6.3.2). Ich unternehme mit dieser Arbeit den Versuch, einen sozialisationstheoretischen Zugang auch im Längsschnitt anzulegen. Darüber hinaus werde ich anschließend in diesem Kapitel die sozialisationstheoretische Rahmung ausführlicher darlegen (vgl. 4.2). Dabei sind zwei Themenschwerpunkte für diese Arbeit von besonderem Interesse. Erstens werden bestimmte Begriffskonstrukte aufgerufen, die im hier Zusammenhang mit Theorie, Gegenstandstheorie und Methode stehen, die m.E. inhaltlich ähnlich gefüllt sind. Während die Sozialisationstheorie vornehmlich von komplexen individuellen und kollektiven Lebenswelten spricht, nutzt Bourdieu den Feldbegriff (vgl. 3.1), um Möglichkeitsräume für differenzierte Praxen beschreiben zu können. Die Begriffe des individuellen und konjunktiven Erfahrungsraums, die für die praxeologisch-wissenssoziologische Grundlagentheorie, insbesondere für die neueren Entwicklungen in der Dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2017), einen zentralen Stellenwert einnehmen, beziehen sich ebenso auf gemeinsame oder strukturidentische erfahrene Handlungsräume (ebd., S. 138). Ziel ist es, die Begrifflichkeiten Lebenswelt, Feld und Erfahrungsraum zueinander zu diskutieren und herauszustellen, dass sie trotzt verschiedenster theoretischer Perspektiven konstitutive Annahmen teilen (vgl. 4.2.1). Ferner erörtere ich in einem weiteren Unterkapitel, wie der Gegenstand Jugend aus einer sozialisationstheoretischen Perspektive zu fassen ist (vgl. 4.2.2). Im Rahmen dieser Längsschnittstudie wurden Jugendliche über einen Zeitraum von sechs Jahren untersucht. Hier stellt sich die Frage, wie sich aus dieser längsschnittlichen Perspektive Jugend resp. Jugendlichkeit im Verlauf angemessen berücksichtigen lässt. Während einerseits aufgezeigt wird, welche begrifflichen Konstrukte in der Arbeit aufgerufen werden, soll anderseits Erwähnung finden, dass mit dieser Längsschnittuntersuchung keine Statusübergänge in den Blick geraten, sondern einzig die biographisch offen zu gestaltenden Entwicklungsprozesse der Jugendlichen.

4.1 Biographie

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4.1 Biographie Innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung ist eine Heterogenität von Konzepten und Begrifflichkeiten zu beobachten: „Biographizität“ (vgl. Alheit 1996; Kohli 1988; Schulze 2006), „Biographisierung von Erfahrungen“ (vgl. Fischer/Kohli 1987, Marotzki 1991), „Biographiearbeit“ (vgl. Gudjons et al. 2008), „biographische Arbeit“ (vgl. Kraul/Marotzki 2002), „biographische Selbstreflexion“ (vgl. Gudjons et al. 1999), und „biographisches Lernen“ (vgl. Alheit 2003; Vogt 1996) sind Begriffe und Begriffspaare, die im sozialwissenschaftlichen, anwendungsbezogenen Umgang mit Biographieforschung verwendet werden. Die Aufzählung verdeutlicht, dass es keinen einheitlich systematischen Begriffsgebrauch gibt, sondern, dass einzelne Autorinnen und Autoren spezifische Begrifflichkeiten in ihrer Weise verwenden. Miethe (2011) bemerkt ein Umgehen definitorischer Festlegungen, in dem meist nur Beschreibungen der Ziele gegeben werden (ebd., S. 22) und Griese (2010) führt als Begründung für die definitorischen Schwierigkeiten die Vielfältigkeit der Untersuchungsgegenstände, die Interdisziplinarität der Bezüge und die unterschiedlichen Interpretationsverfahren an (ebd., S. 7). Es gibt nicht die Biographieforschung und nicht den Begriff, der theoretisch zu fassen vermag, was biographische Narrationen im Kern ausmachen, was keineswegs als eine Schwäche der Biographieforschung, sondern vornehmlich als großer Anknüpfungspunkt unterschiedlichster Erkenntnispotenziale gesehen werden kann. Die Biographieforschung bietet einen vielfältigen Pool unterschiedlichster Methoden und Gegenstände, deren kleinster gemeinsamer Nenner das Konstrukt Biographie ist. In der Tradition der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung lassen sich dennoch grob zwei Traditionen unterscheiden: eine bildungstheoretisch und eine sozialisationstheoretisch orientierte Biographieforschung (vgl. Wiezorek 2017). Diese Unterscheidung dient mir im Folgenden maßgeblich dazu, ein formaltheoretisches Verständnis davon zu entwickeln, mit welchem Fokus ich auf das empirische Material blicke. Obwohl eine sozialisationstheoretisch orientierte Biographieforschung eine historisch längere Tradition aufweist, möchte ich diametral dazu zunächst meine Ausführungen mit der jüngeren bildungstheoretisch fundierten Biographieforschung beginnen.

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4  Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend

4.1.1 Bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung Bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung geht grundlegend zurück auf die Arbeiten von Kokemohr und Marotzki (Kokemohr 1989; Kokemohr 2007; Marotzki 1990; 1991; 2006). Seit Ende der 1980 Jahre entwickelten sie methodische und methodologische Überlegungen zur Untersuchung von Bildungsprozessen. Im Vordergrund steht die Frage, was unter Bildung verstanden werden soll. Eine Vielzahl empirischer Studien knüpfen an diese Traditionslinie an (vgl. Koller 2012a; Nohl 2006; Rose 2012; Rosenberg 2011) und konzeptualisieren Bildung als Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen (vgl. Wiezorek 2017). Derartige Studien stärken auch empirisch Marotzkies These, dass Individuen im Zuge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse zunehmend aufgefordert sind, Lern- und Bildungsprozesse selbst zu initiieren. Ferner wird betont, dass Lern- und Bildungsprozesse in lebensgeschichtlichen Zusammenhängen zu rekonstruieren sind. Ausgangspunkt für hiesige Argumentation findet Marotzki in der These des Individualisierungstheorems von Beck (1986). Marotzkis e­xistentiellphänomenologischer Ansatz steht exemplarisch für eine derartige, dem qualitativem Paradigma zuzuordnende Forschungsausrichtung und wird im Folgenden genauer in den Blick genommen. Marotzki wird vornehmlich im phänomenologischen Denken verortet (Rosenberg 2011, S. 20). Überdies lassen sich bei Marotzki etliche Bezüge zu Sartre finden, weshalb er selbst von einer e­ xistentiellphänomenologischen Sinnproduktion spricht: „Die Zukunft konstituiert den Sinn des gegenwärtigen Für-sich als Entwurf von Möglichkeiten“ (Marotzki 1990, S. 137). Und weiter heißt es bei Marotzki, dass die Zukunft, und eben nicht die Vergangenheit der Gegenwart ihren Sinn verleiht (vgl. ebd.). Während zunächst explizit auf Marotzkis Perspektive verwiesen wird, soll anschließend exemplarisch aufgezeigt werden, wer dem Konzept gefolgt ist und inwiefern eine Weiterentwicklung des Ansatzes stattgefunden hat. Der existentiell-phänomenologische Ansatz von Marotzki Erziehungswissenschaftlich ausgewiesene Biographieforschung, argumentiert Marotzki, stellt Lern- und Bildungsprozesse (vgl. Marotzki 1991, S. 128; Marotzki 1997, S. 85; Marotzki 2002, S. 59) unter der Frage, wie eine Wandlung beim Einzelnen vonstattengeht (vgl. Marotzki 1991, S. 198) in den Fokus des Interesses. Wenn sich erziehungswissenschaftliche Biographieforschung „für

4.1 Biographie

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konkrete Bildungsfiguren, ihr Entstehen und ihre Wandlungen“ interessiere, so Marotzki (ebd.), dann sei sie „modern“ (ebd., S. 199). Unter Bildung versteht Marotzki (1990) „den reflexiven Modus des menschlichen In-der-Welt-seins“ (ebd., S. 61). Dieser Auffassung zur Folge kennzeichnet einen gebildeten Menschen nicht sein faktisches Wissen, sondern sein Vermögen zur Reflexion (vgl. Paschelke 2013, S. 59). Bildung überwindet Unbestimmtheitspotentiale und stellt Bestimmtheit her (Marotzki 1990, S. 149). Marotzki legt in seiner Schrift „Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie“ (1990) dar, wie Unbestimmtheit überwunden werden kann und wie eine Veränderung der grundlegenden Welt- und Selbstsicht theoretisch zu denken und empirisch nachzuweisen ist. Der anspruchsvolle Versuch Bildungstheorie und Bildungsforschung miteinander zu verbinden, ist Marotzki durchaus gelungen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die These der hohen gegenwärtigen gesellschaftlichen Komplexität (ebd., S. 52) – Marotzki bezieht sich auf die Individualisierungs- und Kontingenzsteigerungsdebatte (ebd., S. 19–31) – und der damit verbundenen Notwendigkeit von Bildungsprozessen, die für ihn „Lernprozesse auf höherstufigen Niveaus“ darstellen (ebd., S. 52). Die zunehmende Individualisierung sowie Risiko- und Kontingenzsteigerung von Lebensläufen und die Auflösung Orientierung bietender Sozialstrukturen wirft die Subjekte verstärkt auf sich selbst zurück und macht sie zu Planer ihrer eigenen Biographie, in der sie stets auf Neues angemessen reagieren und dementsprechend Sinnhaftigkeit herstellen müssen. Für Marotzki stellen Bildungsprozesse die Möglichkeitsstrukturen dar, um in der gesellschaftlichen Modern bestehen zu können. Anhand des Stufenmodells von Bateson (1964) unterscheidet Marotzki zwischen Lernen und Bildung und verortet seine daraus entwickelte Sichtweise in Anlehnung an Günthers (1959) Überlegungen zu „Kontextualität“ und dessen grundlegendende Unterscheidung von „Kompliziertheit“ und „Komplexität“ innerhalb eines strukturalen Verständnisses. Lernen ist nach Marotzki interaktionsgebunden, vollzieht sich im Kontext eines spezifischen Rahmens (1990, S. 52) und kann als quantitativ im Sinne einer Anhäufung „analytisch-enzyklopädisches Wissen“ (ebd., S.  221) verstanden werden. Der Rahmen, in dem Lernen stattfindet, bezeichnet Marotzki mit Günther (1959) als „Kontextur“. Dieser ist relativ stabil und dauerhaft: „Diese Rahmen legen die Interpunktionsweise von Welt- und Selbstauslegung fest. Sie sind in gewisser Weise falsifikationsresistent, haben einen Selbstbestätigungscharakter, können nur qualitativ überwunden werden“ (Marotzki 1990, S. 52). Lernprozesse vollziehen sich innerhalb des Rahmens und berufen sich auf geltende Routinen (ebd., S. 153).

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4  Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend

Lernprozesse, die den Rahmen transformieren, bezeichnet Marotzki als Bildungsprozesse (ebd.). In ihnen werden „[i]ntakte Routinen der Selbstund Weltauslegung […] außer Kraft gesetzt; sie werden würdig, befragt zu werden, also fragwürdig“ (ebd., S. 153). Wenn Routinen gelockert oder gar aufgebrochen werden, wird Unbestimmtheit und damit eine „Dialektik von Ordnung und Unordnung“ (ebd.) erzeugt. In Anlehnung an psychologische Konzepte, spricht Marotzki (ebd.) in diesem Zusammenhang von Angst, aus der etwas Neues entstehen kann. Die Angst ist Resultat gescheiterter routinierter Erfahrungsverarbeitungen und das Erreichen einer semantischen Wissensgrenze. Das Subjekt bezieht eine „experimentelle Haltung gegenüber sich wie auch gegenüber der Welt“ (ebd., S. 159). An diese Stelle tritt bei Marotzki (ebd.) das Konzept der „Modalisierung“, in der bisher validierte Erfahrungsverarbeitungsweisen negiert und „Übergänge von einem bestimmten Komplexitätsniveau der Selbst- und Weltreferenz zu einem höheren eingeleitet werden“ (ebd.). Diese qualitativen Übergänge, die als Transformation der Selbst- und Weltverhältnisse bezeichnet werden, gilt es, genauer zu untersuchen, so resümiert Marotzki (ebd., S. 53). Lernprozesse können als Inhaltsnegationen und Bildungsprozesse als Strukturnegationen beschrieben werden. Bei einer Strukturnegation kommt es zu einem neuen existentiellen Ort im Sein (ebd., S. 134), wodurch die Welt und das Selbst grundlegend anders gesehen werden. Für Marotzki sind Transformationsprozesse per se als Weiterentwicklungen im Sinne einer qualitativen Veränderung zu denken, dessen Ergebnisse umfassendere Reflektiertheit und höhere Verantwortlichkeit sind. Die implizite These von Marotzki lautet, zugespitzt formuliert: Transformatorische Bildungsprozesse sind zwingend vonnöten, damit die Subjekte in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Komplexität bestehen können (ebd., S. 52). Transformation ist nicht nur wünschenswert, sondern existentiell. Kontinuität und Beharrlichkeit sind in dieser Konzeption nicht angelegt. Ziel ist es, Bildungsprozesse zu identifizieren, von denen angenommen werden, dass sie das Selbst- und Weltverständnis grundlegend verbessern. Dies ist eine Implikation, die hochgradig normativ ist, wie noch aufzuzeigen ist (vgl. 4.1.2). Zuvor soll allerdings knapp skizziert werden, wer dem Ansatz gefolgt ist und inwiefern eine theoretische Erweiterung stattgefunden hat. Das Konzept transformatorischer Bildungsprozesse von Marotzki ist bis heute eine der systematischsten Auseinandersetzungen mit dem Bildungsbegriff und wurde von verschiedensten Seiten aufgegriffen.

4.1 Biographie

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Anschlüsse an Marotzkis Ansatz der transformatorischen Bildungsprozesse Gemeinsam ist den Arbeiten, die sich auf Marotzki beziehen, dass sie erstens Bildungsprozesse als Transformationen auffassen, die nicht nur einzelne Aspekte des Wissens, sondern das gesamte Welt- und Selbstverständnis umfassend betreffen (vgl. Koller 2016). Zweitens teilen sie die Annahme, dass Bildungsprozesse nicht aus einem inneren Drang heraus angestoßen werden, sondern dass sie auf eine „gesellschaftlich auferlegte Problembearbeitung“ (Marotzki 1990, S. 52) zurückzuführen sind. Individuen reagieren auf soziokulturelle Herausforderungen und wenn diese nicht mehr angemessen bewältigt werden können, entstehen neue Handlungsmuster (vgl. Koller 2016). Und drittens wird davon ausgegangen, dass Transformationsprozesse nicht nur Altes umstrukturiert, sondern dass sich im Verlauf grundlegend neue Figuren des Welt- und Selbstverständnisses herausbilden (vgl. Koller 2016). Die Theoretisierung von Lern- und Bildungsprozessen aus einer bildungstheoretischen Perspektive wurde auf der Grundlage von Marotzkis Ausführungen empirisch wesentlich vorangetrieben (vgl. Kokemohr 2007; Koller 2016; Koller 2012b; Lüder 2007; Nohl 2006; Nohl et al. 2015; Rosenberg 2011). In enger Verschränkung von Theorie und Empirie werden zusätzliche Kriterien und Qualitätsmerkmale transformatorischer Bildungsprozesse konzipiert, bei denen dabei immer wieder ersichtlich wird, dass individuelle Bildungsprozesse weder planbar, noch steuerbar sind. Sie werden durch krisenhafte Erfahrungen ausgelöst, etwa „wenn Menschen mit neuen Problemlagen konfrontiert werden, für deren Bewältigung die Figuren ihres bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht mehr ausreichen“ (Koller 2012a, S. 15). Doch das Neue im Leben kann sehr fokussiert oder auch beiläufig und „nichtdeterminiert“ (Nohl et al. 2015, S. 34) entstehen. Nohl et al. (2015) sprechen von „inspirierenden Situationen“ (ebd., S. 101) und verstehen darunter jene, die im Handeln probehaft – mal bewusst, mal unbewusst – zum Ausdruck gebracht werden und möglicherweise einen beginnenden Bildungsprozess darstellen. Aus einer pragmatischen Theorietradition heraus, betont Nohl (2006), dass Bildungsprozesse spontan, „plötzlich, ungeplant, ohne Distanz der Reflexion“ (ebd., S. 7) einsetzten und fokussiert damit das Wechselverhältnis von a-reflexiven und reflexiven Handlungsmomenten. Ein routiniertes Handeln fasst Nohl mit Dewey als Habit und spontane Handlungsaspekte als Impulse. Können Routinen nicht mehr bezwungen werden und der Habit gerät an die Grenzen der Bewältigungsfähigkeit, kann es durch Impulse zu einem reflexiven

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4  Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend

­ rkundungsprozess (inquiry) kommen, der das Erlernen neuer Handlungspraxen E ermöglicht. Überdies betonen Nohl et al. (2015) die fallübergreifende Phasenlogik von Bildungsprozessen und zeigen auf, dass, wenn Akteurinnen und Akteure Bildungsprozesse durchlaufen, diese auf strukturgleichen Erfahrungen beruhen (vgl. ebd.). Das Verwerfen tradierter Wissensbestände und das Einüben von neuen Handlungspraktiken führen Nohl et al. allerdings nicht auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse zurück (vgl. Wieczorek 2017), sondern auf die Auflösung von milieubezogenen Lebensformen (vgl. Nohl et al. 2015), was zu einer Kritik derartiger bildungstheoretischer Arbeiten insgesamt geführt hat (vgl. Wieczorek 2017). Wigger (2004) etwa spricht von einer „Weltvergessenheit“ (Wigger 2014, S. 52) und mahnt damit an, dass die bildungstheoretische Biographieforschung das differenzierte Verhältnis von Mensch und Welt bislang weitgehend missachte (vgl. Dausien 2016). Ferner, so betont es auch Wieczorek (2017), wird missachtet, dass „sowohl das Individuum konstruiert ist als auch sich die Konstitution des Gesellschaftlichen im alltäglichen (auch individuellen) Handeln vollzieht“ (ebd, S. 26). So ließe sich entsprechend auch bei jenen empirischen Studien, die den Versuch unternehmen, der Kritik der Weltvergessenheit zu begegnen – etwa Rosenberg (2011), der biographische Analysen mit diskursanalytischen Feldbestimmungen verknüpft –, anmerken, dass auch diese Gesellschaft immer nur aus der Perspektive der Akteure rekonstruieren und nicht selbst zum Gegenstand der Forschung gemacht wird (vgl. Wieczorek 2017). Rosenberg (2011) beschäftigt sich in Anlehnung an Bourdieu mit der Frage, wie eine Transformation eines Habitus zu denken ist (ebd., S. 14). Er formuliert eine Bildungstheorie im Zusammenhang mit einer Gesellschaftstheorie und ergänzt den bisherigen Bildungsbegriff um soziale und gesellschaftliche Aspekte, die er mit Hilfe des Feldbegriffs empirisch einholt. Die von Rosenberg ausgearbeitete praxeologische Bildungstheorie findet Anklang bei qualitativen Längsschnittvorhaben (vgl. Helsper et al. i.E.; Krüger et al. 2018; Leinhos et al. 2018a/b; Winter et al. 2019), denn, während Rosenberg (ebd.) Habitustransformationen und -reproduktionen auf der Grundlage von Einmalerhebungen rekonstruiert und selbst anmerkt, dass in den Interviews die Veränderungen vornehmlich auf der „Was“ und nicht auf der „Wie“-Ebene liegen, haben Mehrfacherhebungen im Längsschnitt durch ihre per se zeitliche Differenz durchaus größeres Veränderungspotential auf der „Wie“-Ebene (vgl. 2.1). Während Nohl (2006) und Rosenberg (2011) aus w ­issenssoziologischpraxeologischen Perspektiven an die existentiell-phänomenologische Bildungstheorie anknüpfen, entwickelt Koller (1999) sprach- und diskurstheoretisch fundierte Bezüge. Koller geht von einer Pluralisierung von Diskursarten und

4.1 Biographie

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einer wachsenden Legitimationsproblematik hinsichtlich verschiedener Wissensformen aus. Bildungsprozesse fasst er als sprachliche Prozeduren auf, „in denen ein Widerstreit bezeugt wird – sei es durch Offenhalten eines bereits artikulierten Widerstreits oder durch das (Er-)Finden eines neuen Idioms zur Artikulation eines bislang verborgenen Widerstreits“ (Koller 2016; S. 159). Bildung vollzieht sich durch die Erfindung neuer Diskursarten resp. neuer sprachlicher Figuren. An diesen Gedanken knüpft Lüders (2007) an. Unter einer foucaultschen Perspektive konzeptualisiert sie eine Bildungstheorie zwischen den Polen Subjektivierung und Entsubjektivierung also auch Unterwerfung und Widerstand. Bildung ist für Lüders der Prozess, „in dem durch Selbstpraktiken die im Symbolischen gegebene Subjektivität irritiert und ein Anderswerden als Verhalten zur eigenen Seinsungewissheit möglich wird“ (ebd., S. 257). Bei Koller (1999) und Lüders (2007) werden Reproduktion und Transformation zu historischen Produkten symbolischer Machtkämpfe. Beide entwerfen eine Bildungstheorie, bei der die „Seinsgewissheit“ auf dem Spiel steht (vgl. Nohl et al. 2015). Auch die Argumentation von Kokemohr (2007) knüpft hier an. Er verweist auf das Fremde und auf das Nicht-Verstehen-Können, aus dem heraus sich Bildungsprozesse vollziehen, die dieses Nicht-Verständnis zu beantworten suchen. Damit sind nur einige Arbeiten erwähnt, die den Bildungsbegriff nach Marotzki (1990) theoretisch weiter ausbuchstabiert und empirisch fundiert haben. Der Bildungsbegriff bleibt dennoch aufgeladen mit normativen Implikationen. Auch der bildungstheoretischen Biographieforschung wird immer wieder ein normativ ausgerichtetes Selbstverständnis vorgeworfen, denn im Kern fragt sie danach, „ob bzw. inwiefern sich die in der biographischen Erzählung dokumentierten Sinnkonstruktionen als Bildung qualifizieren lassen oder nicht (bzw. nur als Lernprozess)“ (Dausien 2016, S. 32). Bildung wird als Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen verstanden (vgl. Marotzki 1990) resp. als ein qualitativer Sprung, in dem Neues entsteht (vgl. ebd.). Der damit gewissermaßen verbundene diagnostische und stark wertende Blick (vgl. Dausien 2016) wurde auch wiederholt von Autorinnen und Autoren, die bildungstheoretisch arbeiten, selbstkritisch reflektiert (vgl. Felden 2014; Fuchs 2014; Koller 2016; Rosenberg 2014; Wischmann 2014). Interessanterweise werden oftmals Transformationsprozesse, die sich etwa in Erzählungen beobachten lassen, nicht als Bildung bezeichnet (vgl. Fuchs 2014) oder aber rekonstruiert, dass keine Bildungsprozesse, sondern lediglich Lernprozesse stattgefunden haben (vgl. Rosenberg 2014). Überdies wird auch angeführt, dass sich „lediglich erste Schritte eines Bildungsprozesses“ zeigen (Felden 2014, S. 122), oder

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4  Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend

aber Bildung wird nicht mehr als der Sprung zum Neuen verstanden, sondern als kontinuierlicher und verwobener Prozess beschrieben (vgl. Wigger 2014). Auch die kritischen Bemühungen und die vorsichtigen Strategien des Umschiffens des Bildungsbegriffs, in dem „man die identifizierte Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses nicht allzu hoch aufhäng[t]“ (Fuchs 2014, S. 146), verdeutlichen nicht zuletzt die unvermeidbar normativen Implikationen (vgl. Dausien 2016), die einer derartigen Perspektive inhärent sind. Im Folgenden soll systematisch skizziert werden, mit welchen normativen Implikationen das transformatorische Bildungsmodell konfrontiert ist. Gleichzeitig soll mit diesen kritischen Bemerkungen der Übergang zu einem weiteren Strang der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung, zu dem der sozialisationstheoretisch fundierten Biographieforschung, geebnet werden.

4.1.2 Bildung als Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen: kritische Bemerkungen Verschiedenste Reformulierungen des Bildungsbegriffes haben verdeutlicht, dass eben nicht nur von der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen als solcher auszugehen ist, sondern, dass weitere Kriterien für die Richtung oder Qualität von Bildungsprozessen entscheidend sind (vgl. Kokemohr 2007; Koller 1999; Lüder 2007; Nohl 2006). Dennoch, so wird es von Wiezorek (2017) kritisch angemerkt, finden längst noch nicht alle Bedingungen theoretische Beachtung. Sie führt beispielhaft an, dass experimentelle Suchprozesse auch zugelassen werden müssen und, dass neu erworbene Handlungspraktiken Möglichkeitsräume benötigen, um sich entfalten zu können. Darüber hinaus müssen Relevanzverschiebungen sozial anerkannt sein, um als Neues überhaupt wahrgenommen zu werden (ebd., S. 25). Eine wesentliche Problematik im Rahmen bildungstheoretischer Biografieforschung ist, dass „Biographieträger[n] entweder Bildungsprozesse zu[ge] schrieben oder ih[nen] diese ab[ge]spr[o]chen“ werden (ebd.). Auch Koller und Wulftange (2014) stellen folgende kritische Fragen an eine bildungsorientierte Biographieforschung: „Wie können die normativen Implikationen des Bildungsbegriffes im Rahmen solcher Forschung angemessen berücksichtigt werden? Ist es möglich, sich dabei auf einen rein deskriptiven Begriff von Bildung(sprozessen) zu beschränken, oder sollte(n) Bildung(sprozesse) darüber hinaus auch als wünschenswerte Transformationen des Welt- und Selbstverständnisses in einem näher zu bestimmenden Sinn qualifiziert werden?“ (ebd., S. 9).

4.1 Biographie

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Die Kritik der Normativität eines Bildungsverständnisses, welches Bildung im Wesentlichen als Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen denkt, wird auf mehreren Ebenen eingebettet. Erstens beruht das Konzept auf der Annahme, dass ein bereits, wie auch immer, ausgeformtes Selbst-Welt-Verhältnis vorhanden ist, welches sich dann im Rahmen eines Bildungsprozesses transformiert. Die Setzung eines Ausgangspunktes und der damit einhergehenden Setzung von einem vorausgehenden Bildungsstand hat zur Folge, dass vornehmlich adulte Bildungsprozesse theoretisiert werden (können). Kindliche Lern- und Entwicklungsprozesse geraten unter dieser Perspektive in den Hintergrund (Wieczorek 2017, S. 27 f.). Zweitens wird Transformation verstanden als eine Weiter- oder Höherentwicklung eines Selbst- und Weltverständnisses. Prozesse des Scheiterns oder der Marginalisierung geraten unter dieser Perspektive nicht in den Blick. Drittens besagt das Konzept, dass krisenhafte Erfahrungen und ein daraus resultierender experimenteller Suchprozess nach neuen Handlungspraktiken eine Transformation auslöst. Der Transformationsprozess ist dann abgeschlossen, wenn sich der neu erworbene Modus Operandi bewährt hat. Krisenhafte Erfahrungen sind weder planbar noch von außen zu steuern. Sie stellen aber die Grundvoraussetzung für Bildungsprozesse dar. Zugespitzt ließe sich formulieren: ohne Krise kein Bildungsprozess. Doch ist eine Krise der tatsächliche Garant für die Herausbildung eines neuartigen Modus Operandi oder bedarf es weiterer bzw. anderer Bedingungen? Denn, wenn (nur) eine Krise Bildungsprozesse in Gang bringt, dann müsste sich Transformation auch immer, quasi fallübergreifend, an strukturgleichen Erfahrungen, wie etwa der Adoleszenzkrise, vollziehen. Damit wäre aber nicht berücksichtigt, dass die Wirkmächtigkeit derartiger strukturaler Krisen, von den Subjekten biographisch different wahrgenommen werden. Viertens sind die Suche und das Auffinden von Bildungsprozessen auf sprachlicher Ebene fundiert. Fröhlich (2006) kritisiert, dass Biographieforschende immer nur das Mitgeteilte in ihrer Analyse berücksichtigen (ebd., S. 55) und Bildung dementsprechend an ein sprachlich vermitteltes reflexives Selbstverständnis geknüpft ist. Gerade vor dem Hintergrund der Spezifik milieubezogener Kommunikationsformen (vgl. Wieczorek/Grundmann 2013; Dieminger u. a. 2013) würde dies bedeuten, Interviewten mit einer anderen Sprechweise, mögliche Bildungsprozesse abzusprechen. Fünftens und letztens bezieht sich eher auf eine grundlegende Kritik an Bildungsforschung: Denn Bildung selbst ist Ausdruck kultureller Praxis, die auf gesellschaftliche Anerkennung angewiesen ist (Wiezorek 2017, S. 26). Was als bildungsrelevante Handlungspraxis gilt, unterliegt einer gesellschaftlichen

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4  Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend

Normierung. Wiezorek (ebd.) verweist in diesem Zusammenhang auf die Studie von Nohl (2016), in der die vornehmlich gewaltförmigen Handlungspraxen von Hooligans als bildungsfern interpretiert werden (ebd., S. 28). Die Kritikpunkte lassen sich alle zu einem Grundproblem zusammenführen: Bildungstheoretisch orientierte Biografieforschung hat das Ziel, Bildungsprozesse oder eben (nur) Lernprozesse zu identifizieren. Die entsprechenden theoretischen Auseinandersetzungen geraten jedoch bei der Frage, was genau aus einer bildungstheoretischen Perspektive als Bildung konzeptualisiert wird, an ihre Grenzen. Ansätze, die dem Transformationsmodell folgen, entwickeln vornehmlich Strategien, um der Rigorosität der Stufenarchitektur des Modells zu entkommen, betonen aber letztendlich nur wieder, wie gesetzt und behaglich der Bildungsbegriff im Grunde ist (vgl. Wieczorek 2017). Dem Bildungsbegriff lasten ungeachtet zahlreicher theoretischer wie methodischer Neuorientierungen nach wie vor normative Implikationen an. Eine alternative biographietheoretische Perspektive, deren Hauptaugenmerk nicht auf der theoretischen Schärfung des Bildungsbegriffes liegt, ist die der sozialisationstheoretisch fundierten Biografieforschung, die viel stärker aufzeigt, „wie sich konkrete Prozesse des jeweiligen So-Geworden-Seins“ in der Komplexität und Verwobenheit verschiedenster Lebensbereiche vollziehen (vgl. Helsper/Bertram 2006) und dementsprechend verstärkt die konkreten Kontexte von Bildungsgeschehen mitberücksichtigen (vgl. Wieczorek 2017).

4.1.3 Sozialisationstheoretisch fundierte Biographieforschung Sozialisationstheoretisch orientierte Biographieforschung richtet ihre Perspektive auf Entwicklungsprozesse überhaupt; eben auch auf solche, die in dem Verständnis von Marotzki (1990) nicht als Bildungs- oder gar Lernprozesse identifiziert werden. Es stehen sowohl Prozesse der Entwicklung und Erhaltung von Handlungsfähigkeit als auch Prozesse von Gefährdung und Beschneidung, die den Verlust der Handlungsfähigkeit bedeuten können, im Untersuchungsfeld (Wiezorek 2017, S. 30). Institutionelle und pädagogische Einflüsse auf biographische Entwicklungsprozesse rücken in den Fokus des Interesses. Es geht darum, zu rekonstruieren, wie Individuen auf ihre ganz eigenwillige Art mit gesellschaftlichen Gegebenheiten umgehen bzw. sie bewältigen: Wie wird die eigene Biographie gestaltet? Fragen nach Sozialisation und dem Zusammenspiel von individuellem Handeln und gesellschaftlichen Strukturen sind aus einer sozialisationstheoretischen

4.1 Biographie

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Perspektive auf Biographie leitend. Insbesondere unter einem erziehungswissenschaftlichen Fokus geraten handlungsfeld- bzw. institutionsbezogene Bedingungen einerseits und sehr detaillierte biographische Entwicklungsprozesse von Einzelfällen anderseits in den Blick. Damit lässt sich aufzeigen, „wie tiefgreifend und umfassend bzw. komplex, aber auch widersprüchlich durch institutionelle Kontexte und pädagogisches Handeln in Identitätsbildungsprozesse eingegriffen wird“ (Wiezorek 2017, S. 32). So betont Höblich (2010) etwa Schule als Ort der Gendersozialisation oder beispielsweise wird in verschiedensten schülerbiographischen Studien deutlich, wie zentral die Schule für den Prozess umfassender Identitätsbildung ist (vgl. Helsper et al. 2014; Kramer 2002). Überdies werden auch peerkulturelle Einflüsse auf bildungsbiographische Verläufe identifiziert (Krüger et al. 2008; Krüger et al. 2010) oder die Bedeutung bzw. die enorme Verantwortung von Lehrerinnen und Lehrern für Identitätsbildungsprozesse aufgezeigt (vgl. Nittel 1992; Kramer 2002; Höblich 2010). Insgesamt lässt sich beobachten, dass empirische Studien, die eine sozialisationstheoretisch fundierte Biographieforschung verfolgen, ganz unterschiedliche Aspekte in den Blick nehmen, sich in ihren Spielarten stark voneinander unterscheiden und theoretisch vornehmlich verschiedene Aspekte schärfen. Eine der ersten kritischen Auseinandersetzungen zu den bildungstheoretischen Arbeiten von Marotzki (1990) legt Alheit (1992) vor. Er stellt auf der Grundlage historischer Analysen fest, dass aktuelle Veränderungstendenzen, wie die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung, deutlich überbewertet werden (ebd., S. 19), was „an der sozialen Realität des Biographischen vorbei[geht]“ (ebd., S. 36). Im Rahmen biographischer Forschung plädiert Alheit für eine weitreichendere Verbindung von Gesellschaft und Subjekt und begründet dies im Konzept der biographischen Konstruktion (ebd., S. 36 ff.). Er entwirft das Konstrukt des „biographischen Lernens“ (vgl. Alheit 1995) und das der „Biographizität“ (vgl. Alheit 1990; Dausien 1996). Wie eingangs erwähnt, lässt sich innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung eine heterogene Begriffsausdehnung beobachten, die teilweise ein definitorisches Durcheinander auslöst. Daher entscheide ich mich ganz bewusst an dieser Stelle, Alheit und auch Dausien und ihrer Konzeptualisierung von Biographie zu folgen. Insbesondere vor dem Hintergrund einer p­raxeologisch-wissenssoziologischen Perspektive (vgl. Bohnsack 2017), die ich in dieser Untersuchung verfolge, erscheint mir das Konzept sehr gewinnbringend, da es Prozesse der Aneignung im Zusammenspiel von Individuum und Gesellschaft unter einer habitustheoretischen Sichtweise verstärkt in den

64

4  Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend

Blick nimmt und somit den Konstitutionsaspekt schärft. Zudem geht der Ansatz von einer konstruktivistischen Perspektive aus, die im Zusammenhang mit qualitativen Mehrfacherhebungen und unter der Frage, wie die Akteure mehrfach zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihre Biographie narrativ ausgestalten und generell, wie Zeit und Zeitlichkeit im qualitativen Längsschnitt konstruiert wird, überaus anschlussfähig ist. Der sozialkonstruktivistische Ansatz von Alheit Während die Frage der Interdependenz von Subjektivität und Struktur bei Marotzki (1990) nicht ausreichend geklärt ist, enthalten die Überlegungen von Alheit (1990; 1995) und auch Dausien (1996) fokussierte Auseinandersetzungen dazu. Sie weisen darauf hin, dass das Innere äußere Einflüsse in ihrer Eigenlogik verarbeitet. Mit dieser Argumentation wird Bildung als biographische Konstruktion betrachtet, was wiederum bedeutet, dass nicht organisierte Bildungsprozesse biographische Konstruktionen statuieren, sondern, dass biographische Konstruktionen, die immer auch konstituiert sind, Bildungsprozesse bestimmen. Unter „Biographizität“ verstehen Alheit und auch Dausien „die prinzipielle Fähigkeit, Anstöße von außen auf eigensinnige Weise zur Selbstentfaltung zu nutzen, also (in einem ganz und gar unpädagogischen Sinne) auf eine nur uns selbst verfügbare Weise zu lernen“ (Alheit 2010, S. 240). Es geht dementsprechend im Kern darum, dass Menschen generell in der Lage sind, mit eigenen Erfahrungen an neue gesellschaftliche Anforderungen anzuschließen und eben auch für individuelle, soziale Probleme immer wieder neue Ideen haben. Biographizität wird damit zu einer notwendigen Kompetenz in modernen Gesellschaften. Lernen stellt unter jener Perspektive die Entdeckung verborgener Ressourcen dar, die sich in den biographischen Erfahrungen unentdeckt halten (Alheit 2003, S. 17). Alheit (2003) bezieht sich hier auf das von Victor von Weizsäcker (1956) geprägte Begriffspaar des „ungelebten Lebens“, welches eine ganz zentrale Ressource für Entwicklungsprozesse darstellt (ebd., S. 15): „Unser heimliches Wissen von den nicht oder noch nicht realisierten Lebenskonstruktionen, die uns begleiten, hält die bewusst verfügbare Selbstreferenz prinzipiell offen und schafft die Voraussetzung dafür, dass wir zu uns selbst eine andere Position einnehmen können, ohne dabei jenen versteckten ‚Sinn‘ zu revidieren“ (ebd.).

Lebenskonstruktionen meinen weitaus mehr, als Lebensgeschichten überhaupt aussagen können. Im Laufe unseres Lebens erzeugen wir Sinnüberschuss, den wir aus unserer selbstthematisierenden, biographischen Perspektive nicht überschauen können (Alheit 1992, S. 31).

4.1 Biographie

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Diese Sinnüberschüsse unserer Lebenserfahrungen können als Chance für bewusste Veränderungen der Selbst- und Weltreferenz nutzbar gemacht werden (vgl. ebd.). Diese Argumentation knüpft in gewisser Weise an das Konzept der Modularisierung von Marotzki (1990) an, wie Alheit selbst bemerkt. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass Alheit und Dausien stärker das Potential zur Veränderung von Strukturen betonen: „Damit enthält biographisches Wissen die Bedeutung eines befreienden Konflikt- und Veränderungspotentials in gesellschaftlicher Perspektive“ (vgl. ebd., S. 32). So wird auch das Verständnis von Lernen bzw. biographischen Lernprozessen zwischen den Polen von Subjekt und Struktur verortet und von Alheit als einen „sensible[n] Synchronisationsversuch des Außen- und Innenaspekts“ (Alheit 1993, S. 389) beschrieben. Die meisten Lernprozesse verlaufen implizit und formieren sich wie selbstverständlich zu Erfahrungsmustern und Handlungsdispositionen (vgl. Alheit/Felden 2009), aus denen sich ein „Aneignungsyststem“, also ein System übergeordneter Handlungsund Wissensstrukturen, entwickelt (ebd., S. 10). Bourdieu (1976) spricht in diesem Zusammenhang von Habitusformation, Marotzki (1990) konzeptualisiert jene als Konstruktion von Selbst- und Weltreferenzen. Alheit wiederum schreibt dazu: „Alle diese Erfahrungsprozesse bilden den biographischen Wissensvorrat einer Person (vgl. Alheit 1993; Alheit/Hoerning 1989), der wie eine Landschaft aus verschiedenen Schichten und Regionen abgestufter Nähe und Ferne besteht und sich in der Zeit (eben durch Lernen) verändert […] Wir ›bewegen‹ uns gewissermaßen in unserer biographisch gewachsenen Wissenslandschaft, ohne dabei jeden einzelnen Schritt, jede Wegbiegung und jedes Wegzeichen bewusst zu bedenken“ (Alheit 2009, S. 10).

Es liegt bei den Trägerinnen und Trägern der Biographie selbst, Handlungsautonomie aufrecht zu erhalten, einzuschränken oder zu erweitern. Wenn das nun im Grunde dauernd lernende Subjekt und die umgebenden strukturellen Kontexte, die „Strukturen der ganzen Landschaft“, wie Alheit es beschreibt (Alheit 2003, S. 16), sich verändern, handelt es sich um einen transitorischen Bildungsprozess, der reflexiv ist und als Moment von Selbst-Bildung interpretiert werden kann (vgl. Alheit 1993; Alheit/Felden 2009). Das neue Wissen, welches immer ein biographisches Wissen ist, „wird nicht nur in das bestehende Gebäude biographisch akkumulierten Wissens eingebaut. Es verändert dieses Wissensgebäude. Transitorische Bildungsprozesse sind gewissermaßen abduktiv“ (Alheit 2003, S. 16). Bildungsprozesse sind also jene, die unsere Erkenntnisse grundlegend erweitern. Biographizität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass wir unser Leben immer wieder neu im Rahmen der strukturellen Möglichkeitsräume auslegen und gestalten können und somit auch das Potenzial unseres „ungelebten Lebens“ wahrnehmen (ebd.).

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4  Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend

Alheit (1992) führt die Metapher des Metro-Netzes von Bourdieu an, die verdeutlicht, wie die individuelle Biographie in ihren strukturalen Kontexten zu denken ist: Metro-Netze bestehen aus verschiedenen Linien, die durch gezielte Wechsel der Züge, planbare Fahrtstrecken ermöglichen. Während die Linien die grobe Struktur darstellen, auf die die Individuen angewiesen sind, zeigt sich der Eigensinn in der Entscheidung, welche Linie man fährt und welche eben nicht, an welchen Haltestellen man ein- und aussteigt, wo man eventuell verweilt (ebd., S. 24). In diesem Bild ist zudem aufgehoben, was Alheit unter einer Veränderung der Selbst- und Weltreferenz versteht: Wir nehmen uns als Planerinnen und Planer unserer eigenen Biographie wahr, so Alheit (vgl. ebd.; Alheit/Dausien 2000, S. 274); die Handlungs- und Planungsautonomie liegt auf der Seite der Subjekte. Wir machen uns einen Plan darüber, welche Metrolinie wir fahren und welche wir weiter fahren wollen und auf dieser Grundlage beschreiben wir retrospektiv die Strecke, die wir bereits zurückgelegt haben. Zwischen der „Außenwelt“ (Linien des Metro-Netzes) und der „Innenwelt“ (Planungsperspektive) entstehen biographische Konstruktionen, deren Konturen weich und flexibel sind, und deren Charakter transitorisch ist (ebd. 275 f.).1 Biographische Konstruktionen sind „individuelle Semantiken, deren Performanzebene an kollektive Sprachspiele anschließbar bleib[en]“ (ebd., S. 276). Sie sind eine Art Erfahrungscode. Geraten wir nun in eine Situation, in der wir nicht auf unseren Erfahrungscode zurückgreifen können, sind wir zunächst irritiert; „es fehlt uns das Instrumentarium, damit umzugehen“ (ebd.). Unser Grundgefühl, wir seien Akteure unserer Biographie, gerät ins Schwanken. Es entsteht der Eindruck von Konsistenz- und Kohärenzverlust (Alheit 2010, S. 239), der zum Verlust intentionaler Handlungsfähigkeit führen kann (Alheit 1992, S. 28). In Bezug auf die Metapher des Metro-Netzes bedeutet dies, dass wir unsere Planungsperspektive (kurzfristig) verlieren und möglicherweise zunächst orientierungslos hin und her fahren. Der vorgegebenen Struktur des Metro-Netzes und seinen Linien können wir jedoch nicht entkommen; unsere biographischen Alternativen sind strukturell begrenzt. Im Rahmen dessen allerdings gibt es unendlich viele Möglichkeiten (ebd., S. 32).

1Gabriele

Rosenthal (1995) spricht in diesem Zusammenhang von der Gestalt oder auch von einer Art Prozessskript unseres konkreten Lebens. Außeneinflüsse werden mit der eigenen Logik wahrgenommen und verändern sich selbst in dem Prozess.

4.1 Biographie

67

Alheit und Dausien stehen innerhalb der Biographieforschung für eine Perspektive, die biographische Entwicklungs- und Aneignungsprozesse allgemein in den Blick nimmt und nicht Bildungsprozesse an sich zu identifizieren versucht, wie es bildungstheoretisch ausgerichtete Biographieforschung (Marotzki 1990; Koller 1999; Rosenberg 2011) fokussiert. Während Marotzki, so kritisiert es Alheit (1992), in seinem existentiell-phänomenologischen Ansatz das Subjekt und die individuellen ­ Veränderungen überbewertet, betont Alheit mit dem Konzept des biographischen Konstruktes die Verbindung von Subjekt und Struktur (ebd. S. 36). Damit überwinden Alheit und auch Dausien eine weitestgehend mikrosoziologische Perspektive und betrachten stattdessen Biographien als Ausdruck gesellschaftlicher Makrostrukturen (ebd., S. 39), da sie immer eine Dialektik einer individuellen besonderen Lebensgeschichte und eines Dokuments einer gesellschaftlich-historischen Geschichte darstellen (Alheit 2010, S. 227). Die Vermittlungsebene zwischen Individuum und Struktur wird von Alheit und Dausien als „eigene Realitätsdimension“ rekonstruiert, die sie als Biographizität kennzeichnen (Alheit 1992, S. 32; vgl. Dausien 1996). Anhand von Biographien lassen sich „durch die Subjekte hindurch“ Bildungsprozesse rekonstruieren (Alheit 1992, S. 45), wobei Bildung dann „eben nicht allein als Vorgang interner Verarbeitung der Subjekte“ zu verstehen ist, „sondern auch als Kommunikation mit strukturalen Bedingungen“ (ebd., S. 48). Während Marotzki (1990) aus existentiell phänomenologischer Perspektive ein dominantes Transformationsverständnis konzeptualisiert, dass davon ausgeht, dass Transformationen im Sinne einer biographischen Weiterentwicklung zwingend stattfinden müssen, haben Alheit und auch Dausien eine vergleichsweise rezessive Vorstellung davon, was als transformativ gefasst wird. Sie gehen nicht von einer Notwendigkeit transformatorischer Prozesse unter einer Entwicklungsperspektive aus, sprechen die Möglichkeit dessen jedoch auch nicht ab. Beachtenswert ist die Bemerkung von Alheit und Dausien, dass eine Transformation erhebliche Auswirkungen auf die Konstruktion von Biographie hätte. Demzufolge würde sich der Blickwinkel, aus der – um mit Alheit und Dausien zu sprechen – biographisiert wird, grundlegend verschieben. Es wäre in dem Sinne keine andere Biographie und auch kein anderer Lebenslauf, sondern die Art und Weise der Akteure, ihre Biographie zu erzählen (zu konstruieren) wäre elementar divergent. Das Wissensgebilde verändert sich, was nach Alheit der spezifischen Schlüsselqualifikation der Biographizität bedarf. Darunter versteht er „die Fähigkeit, moderne Wissensbestände an biographische Sinnressourcen anzuschließen und sich mit diesem Wissen neu zu assoziieren“ (Alheit 1993, S. 387). Kritisch ließe sich hier fragen, wie diese Schlüsselqualifikation zu

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4  Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend

erwerben, bzw. auszubauen ist und ob nicht damit ein ähnlich normativer Anspruch, wie es der bildungstheoretischen Biographieforschung vorgeworfen wird, impliziert ist. Dennoch möchte mit der Perspektive von Alheit und Dausien an einen vornehmlich rezessiven bildungstheoretisch formulierten Transformationsbegriff anknüpfen und dementsprechend auf das empirische Material schauen. Es geht mir nicht darum, zu identifizieren, ob und wann Transformationsprozesse stattfinden, sondern darum, zu rekonstruieren, wie sich biographische Entwicklungsund Aneignungsprozesse im Feld der Tanzkunst vollziehen und erst dann zu analysieren, ob sich in dem Sprechen über die Lebensgeschichte (also dem biographischen Konstruktionsprozess) Brüche oder Ambivalenzen dokumentieren, die auf mögliche Transformationsprozesse hinweisen. Damit wird erneut deutlich, dass nicht das Individuum, sondern das „soziale Konstrukt Biographie“ (vgl. Fischer/Kohli 1987) in den Mittelpunkt rückt, welches stets das Zusammenspiel von Individuellem und Gesellschaftlichem betont. Biographie wird so zu einem komplexen sozio-historischen Konstruktionsprozess, der nicht unabhängig von sozialisatorischen Instanzen zu denken ist (Dausien 2018, S. 199). Die Ansätze von Biographie und Sozialisation sind wechselseitig aufeinander bezogen und werden dennoch oftmals unreflektiert miteinander verknüpft. Impulse für eine Verbindung der beiden Konzepte liefert der Sammelband von Hoerning (2000) und einzelne Beiträge etwa von Dausien (2018) oder Ahmed et al. (2013), die jedoch nicht klären, ob es sich bei dem Verhältnis von Sozialisation und Biographie um „konkurrierende Pradigmen handelt oder um eine bislang noch wenig diskutierte Wahlverwandschaft“ (Dausien 2018, S. 204). Auch wenn bisher das Verhältnis nur wenig explizit diskutiert wurde, so lässt sich das sozialisationstheoretische Subjektverständnis (Leu/Krappmann 1999, S. 77), welches etwa dem Konzept von Biographizität nach Alheit und Dausien (vgl. Alheit 1990, Dausien 1996) inhärent ist, wohl kaum abstreiten. Wenngleich ich nicht vorhabe, die Konzepte Biographie und Sozialisation theoretisch umfassend miteinander zu verbinden, sollen dennoch marginale Anknüpfungspunkte aufzeigt werden (vgl. 5). Zuvor wird jedoch von Interesse sein, was genau unter Sozialisation zu verstehen ist. Im Zentrum stehen dabei Fragen nach Begrifflichkeiten und ihren Anwendungen in Bezug auf jugendliche Lebenswelten. Dafür soll zunächst diskutiert werden, inwiefern soziale Lebenswelten, Felder und konjunktive Erfahrungsräume, obwohl sie aus verschiednesten Theorietraditionen kommen, ein Stück weit sinnähnlich angewandt werden können (vgl. 4.2.1). Nachfolgend wird bestimmt, wie Jugend aus einer ­ biographisch-sozialisationstheoretischen Perspektive gefasst wird (vgl. 4.2.2).

4.2  Sozialisation und Jugend

69

4.2 Sozialisation und Jugend Sozialisationsforschung ist wie die Biographieforschung ein weites Feld und umfasst diverse Ansätze und Konzepte (vgl. Helsper 2004; Hurrelmann/Bauer 2015; Hurrelmann et al. 2015), die jedoch allesamt Sozialisation im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft verorten (vgl. Helsper 2004)2. Verschiedenste Theoriestränge betonen, dass sich Personen nur in sozialen Interaktionen bilden können (vgl. Oerter 1986), in dessen Rahmen unterschiedliche Lebensentwürfe möglich werden und sich die einmalige, ganz individuelle Lebensgeschichte aufbaut (vgl. Helsper 2004). Sozialisation ist ein lebenslanger Prozess, der verschiedenen Phasen (primär, sekundär, tertiär) umfasst, die sich wiederum in unterschiedlichen Feldern oder Institutionen (Familie, Schule, Peers, Vereine, Medien etc.) vollziehen. Bis zum Erwachsenenalter differenzieren sich diese immer weiter aus. Während zunächst die Familie als weitgehend einzige Sozialisationsinstanz gelten kann, nimmt die Anzahl anderer Sozialisationsinstanzen und deren Einfluss im Lebensverlauf deutlich zu. Oftmals entstehen Spannungsverhältnisse zwischen verschiedenen Feldern, wie etwa Familie und Peers (ebd., S. 86). Darüber hinaus werden unterschiedliche Dimensionen von Sozialisation unterschieden. Hurrelmann und Ulich (1991) sprechen unter anderem von der kognitiven und sprachlichen Sozialisation und von der Sozialisation der Motive, Gefühle und Identität. In der phänomenologischen Soziologie resp. der Wissenssoziologie dominiert die Annahme, dass im Rahmen der Sozialisation psychische und physische Fähigkeiten habitualisiert werden, die in der jeweiligen Lebenswelt erforderlich sind:

2Dennoch

ist die Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Gesellschaft weitgehend umstritten und in verschiedenen Theoriesträngen unterschiedlich diskutiert. Besonders deutlich wird dies an der Kindheitsforschung. Frühe sozialisationstheoretische Perspektiven auf Kinder betonen vornehmlich deren defizitäre Stellung als noch nicht vollständig sozialisierte Individuen und verweisen damit auf eingeschränkte Handlungsautonomie, während spätere sozialkonstruktivistische Positionen Kinder und Jugendliche als eigenständige Akteure und Kokonstrukteure ihres Selbst und ihrer Umwelt begreifen (vgl. Honig et al. 1996, Qvortrup et al. 1994).

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4  Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend „Sozialisation führt als Resultat dazu, dass ein Akteur in der Lage ist, aufgrund des gemeinsamen Wissensvorrats und entsprechender Fähigkeiten anderer Akteure und Situationen in einer Lebenswelt zu verstehen und sein Handeln daran routinehaft zu orientieren“ (Mühler 2008, S. 243 f.).

Die Betonung liegt darauf, dass zwischen Akteur und Gesellschaft ein kognitiver Zusammenhang besteht (vgl. ebd.). Individuelle sozialisatorische Prozesse vollziehen sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Strukturen. Geulen (1989) formuliert dies wie folgt: „Im Prozess der Sozialisation wird der Mensch durch die Gesellschaft und ihre jeweils historischen, materiellen, kulturellen und institutionellen Bedingungen konstituiert und geformt, und zwar in seinem eigensten Wesen als Subjekt“ (ebd., S. 11).

Die Definition von Geulen macht nicht zuletzt auf die Komplexität von Sozialisationsprozessen aufmerksam. So sind sie abhängig von Zeit, Raum, Kultur und Materie und werden damit in ein weites sozial-historisches Spektrum eingeordnet (vgl. Mühler 2008). Ferner wird betont, dass Akteure geformt und konstituiert werden und sie wiederum durch die erworbenen Fähigkeiten Einfluss auf die soziale Welt nehmen. In den Sozialisationstheorien werden den sozialen Lebensräumen eine hohe Bedeutung eingeräumt. Einerseits sind sie kollektiv geprägt und von Normen und Erwartungen bestimmt. So sind Kenntnisse von Regeln unabdingbar, um erfolgreich in einem bestimmten Feld handeln zu können (vgl. Geulen 2009). Anderseits entspringen diese nicht der Willkür des Subjektes, sondern werden aus deren spezifischer Realität entnommen, oder wie Geulen schreibt, „aus ihr extrahiert“ (ebd., S. 31). Er geht von der These aus, dass das Subjekt aus seinen Erfahrungen im sozialen Feld die Normen und Regeln herauszieht. Deutlich würde dies, so Geulen, wenn man als Neuling ein Feld betritt: Zunächst wird beobachtet, was geschieht, dann erfasst, was zusammengehört und ständig auf Rückmeldungen gewartet, ob und inwieweit das eigene Verhalten mit den Anforderungen des Feldes übereinstimmen bzw. ob die Beobachtungen richtig sind. Gegebenenfalls werden Aushandlungsprozesse nötig sein, „in denen die eigene Identität bzw. Vorschläge zur Modifikation des Systems zur Geltung gebracht werden“ (ebd.). Das Verständnis von Regeln und Normen ist eingebettet in komplexe situative Zusammenhänge und sie werden von den Subjekten je nach Erfahrungen erfasst und konstruiert. Zugespitzt ließe sich formulieren, dass im Sozialisationsprozess die subjektive Konstruktion von Realität erlernt wird, was wiederum die weitere Sozialisation ermöglicht.

4.2  Sozialisation und Jugend

71

4.2.1 Soziale Lebenswelten, Felder und konjunktive Erfahrungsräume – systematische Bestimmungen Verschiedenste sozialisationstheoretische Ansätze beziehen sich, wie zuvor schon ausgeführt wurde, auf die Begrifflichkeiten der individuellen und kollektiven Lebenswelten, die in ihrer gegenseitigen Bezugnahme soziale Lebenswelten reproduzieren. Dies sind eben jene, die vor dem Hintergrund kollektiv gesellschaftlicher Strukturen je individuell wahrgenommen werden. Ein Subjekt, so die Grundannahme, kann lediglich Erfahrungen im Rahmen der Umwelt machen, in der es sich bewegt (vgl. Geulen 2009). Der Begriff des Feldes von Bourdieu (2013c), wie er bereits in Bezug auf die gegenständliche Verortung skizzenhaft angeführt wurde (vgl. 3.1) aber auch der Begriff des Feldes von Lewin (1963) verweisen ebenso auf sozialisatorische Kontexte. Lewin bezeichnet als Feld den Lebensraum einer Person und entwickelt eine Formel, die das Verhalten von Subjekten als Funktion von Personenund Umweltvariablen darlegt (vgl. ebd.). Bourdieu argumentiert, dass Felder komplexe Phänomene sind, verweist auf das enge Zusammenspiel von Feld und Habitus und betont damit, wenn auch weitestgehend theoretisch nicht expliziert, den sozialisatorischen Prozess des Habitus (vgl. Mühler 2008, S. 210). Der Habitus wird gedacht als Synthese kollektiver und individueller Erfahrungen. Primäre soziologische Prozesse seien für die Herausbildung des Habitus von besonderer Bedeutung, wobei die Sozialisation lebenslang währt. Krais und Gebauer (2002) beschreiben, dass in den späteren Sozialisationsphasen bei einem Eintritt in ein neues Feld, möglicherweise Anpassungs- und Kompatibilitätsbemühungen notwendig werden, um einen feldkonformen Habitus herauszubilden. Ähnlich wie das Konzept der individuellen und kollektiven Lebenswelt fokussiert auch Bourdieu mit dem Feld- und dem Habitusbegriff die Verwobenheit von Akteur- und Strukturperspektive. Auch Mannheim (1980) betont mit dem Terminus des konjunktiven Erfahrungsraums ein soziales Phänomen, welches die individuelle Teilhabe in sozialen Lagerungen betont. Ferner lässt sich auch dieser Begriff auf einen sozialisatorischen Gehalt hin lesen (vgl. Nohl 2019). So beschreibt Mannheim etwa die Entstehung eines Erfahrungsraums als eine existentielle seelische und körperliche Berührung, die eine „völlig unmittelbare Aufnahme eines einmalig Qualitativen“ beinhaltet (ebd., S. 209). Das Neugeborene verbindet sich mit seinen engsten Bezugspersonen (vgl. ebd.). Mannheim spricht von einer Kontagion (Mannheim 1980, S. 209). Der in der Regel erste Erfahrungsraum für das Kind ist die Familie, die eine spezifische Perspektivität (ebd., S. 229) – etwa im Rahmen

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4  Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend

familiärer Praxen – impliziert. Derartige Interaktionserfahrungen prägen jegliche weiteren Erfahrungen, stellen den „Hintergrund für alles neu Hinzukommende“ dar und sind damit „Grundlage jeder späteren konjunktiven Erfahrung“ (ebd., S. 215), die zwar dynamisch, jedoch in diesem Sinne nicht beliebig sind (ebd., S. 214). Die Familie stellt einen gruppenspezifischen konjunktiven Erfahrungsraum dar. Erst allmählich erschließt sich das Kind Erfahrungsräume außerhalb der Familie, die nun strukturidentisch mit anderen Menschen sind. Bohnsack (2010) spricht unter anderem von milieuspezifischen oder auch geschlechtsspezifischen Erfahrungsräumen. Auch wenn das Kind zunächst weitestgehend in den Erfahrungsraum Familie sozialisiert wird, gehört es auch anderen Erfahrungsräumen an. Erfahrungsräume überwölben oder übergreifen sich, so Mannheim. Aus Überwolbungen verschiedener ineinander verschachtelter Erfahrungsräume ergeben sich Dynamiken, die durchaus krisenhaft erlebt werden können (Mannheim 1980, S. 244 ff.). Übergreifen sich Erfahrungsräume durch Teilhabe, auf Grund der spezifischen „Lagerung im sozialen Raum“, ergeben sich keine Spannungen (ebd., S. 526). Wie der kollektive bzw. der konjunktive Erfahrungsraum, sei es strukturidentisch oder auch gruppenspezifisch, vom Subjekt wahrgenommen wird, ist jedoch eng verwoben mit den individuellen Ausprägungen resp. Orientierungen, die wiederum von den kollektiven Erfahrungsräumen geprägt sind. Die Konstrukte der sozialen Lebenswelt, Felder und konjunktiven Erfahrungsräume stammen zwar aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven; sie sind sich jedoch in ihrer grundlegenden Logik durchaus ähnlich: Sie verorten sich stets zwischen Selbst- und Fremdreferenz und haben einen konstitutiven Charakter. Im Rahmen der Dokumentarischen Methode und einer praxeologischen Wissenssoziologie folge ich im weiteren Verlauf der Arbeit der Begrifflichkeit des konjunktiven Erfahrungsraums und verstehe nach Bohnsack (2017) darunter „die Relation des inkorporierten und habitualisierten Wissens, also des konjunktiven Wissens, zu den als exterior erfahrenen Bereichen der normativen Erwartungen, der Rolle und der Identitätserwartungen, also zum kommunikativen Wissen“ (ebd., S. 103). Der konjunktive Erfahrungsraum wird von Bohnsack als das kollektive Gedächtnis beschrieben, das sich auf zwei Arten von Erinnerungen stützt: auf die selbsterworbenen, performativen Erinnerungen und auf die angeeigneten, kommunikativen Erinnerungen (ebd., S. 109). Vergemeinschaftung im Sinne eines konjunktiven Erfahrungsraums ist an einen existentiellen Hintergrund und an gemeinsame „Strecken des Erlebens“ gebunden (ebd., S. 116). Für die potentiell angehenden Tänzerinnen und Tänzern dieses Samples stellt die Tanzausbildung im Feld der Tanzkunst (vgl. 3) das gemeinsam geteilte Erleben

4.2  Sozialisation und Jugend

73

dar. Darüber hinaus teilen sie einen generationalen Zusammenhang in einer spezifischen Lebensphase. In dem Erfahrungsraum der Lebensphase Jugend spielen sich komplexe Orientierungs, Entscheidungs- und Handlungsprozesse ab. (vgl. Kreuz/ Hüfner 2019). Das von Bröckling (2007) beschriebenen Subjekt des „unternehmerischen Selbst“, das die spätmodernen gesellschaftlichen wie auch individuellen Anforderungen in Eigenregie bewältigen muss, steht in der Lebensphase des Übergangs vom Jugend- zum Erwachsenenalter vor spezifischen Herausforderungen: „Die Vielfalt der Optionen der Lebensgestaltung [stellt] sie permanent vor der Anforderung, Entscheidungen treffen zu müssen, obwohl sie das Ausmaß und die Konsequenzen kaum überblicken können“ (Stauber/Walther 2013, S. 280). Das unternehmerische Selbst ist in der Übergangsphase noch drastischer auf sich selbst gestellt und ungeheuren Dynamiken seiner Umwelt ausgesetzt (vgl. Stauber et al. 2007). In der Literatur werden diese Herausforderungen auch oft mit der Suche nach dem passenden Weg beschrieben (vgl. Knauf/Rosowski 2009; Oechsle 2009; Stauber/Walther 2013). Ansätze erziehungswissenschaftlicher Transitionsforschung betonen vornehmlich die Bedeutung des Übergangs von der Kindheit zum Erwachsenenalter für die Vorbereitung der späteren Rolle in der Erwachsenenwelt. So merken Köngeter und Zeller (2011) an, dass eine zentrale Herausforderung der Sozialpädagogik darin besteht, biographische Übergangsprozesse in dem Wechselspiel von institutionellen Vorgaben und individuellen Handlungsmustern erfolgreich zu bewältigen, denn ansonsten drohe, so das Autorenteam, eine Generation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die „lost in transition“ sind (vgl. Köngeter/Zeller 2011, S. 15). Mit hiesiger Argumentation haftet dem Übergangsprozess etwas zu Überwindendes und erfolgreich zu Absolvierendes an. Ein Verweilen im Übergang wird mit einer aussichtslosen Zukunftsperspektive assoziiert. Im Gegensatz dazu argumentieren andere Jugendforscherinnen und Jugendforscher, dass die Übergangsphase als Entwicklungsprozess mit eigenem Wert ganz jenseits der Vorbereitungsfunktion und ebenso abseits der normativen Kategorisierung von gelungenen oder gestörten Statuswechseln anzusehen sei (vgl. Reinders/Wild 2003; Reißig 2016; Truschka 2013). Oftmals wird die Idee des Moratoriums aufgegriffen, womit keine ausgearbeitete Theorie gemeint ist, sondern betont wird, dass „Jugendlichen eine Auszeit gewährt wird“ (vgl. Reinders/Wild 2003, S. 24). Ferner wird dafür plädiert, die individuellen, kulturellen und sozioökonomischen Voraussetzungen, die innerhalb dieser Phase eine Rolle spielen, intensiver in den Blick zu nehmen (vgl. Krüger/Grunert 2012; Riegel 2018; Scherr 2014).

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4  Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend

Der Jugendphase aus einer derartigen Perspektive haftet eben kein zwingend zu bewältigender Zwischenstatus (zwischen Kind und Erwachsenen) an. Vor diesem Hintergrund wird Jugend als „uneinheitlich und von Überlagerungen und Ungleichzeitigkeiten geprägt“, beschrieben (Riegel 2018, S. 565). Damit geht zudem eine definitorische Entgrenzung der Übergangsphase vom Kind zum Erwachsenen einher: „Wir müssen heute davon ausgehen, dass Jugend eine Plastizität gewinnende und dennoch eigenständige Lebensphase ist – mit typisch ausgeprägten und dennoch eigensinnigen und vielfältigen Verhaltensweisen. Denn das Ziel, Ich-Identität zu gewinnen, mit sich selbst identisch Werden und damit den Erwachsenstatus zu erlangen, ist, was das Tempo angeht, erheblich gebremst und nicht mehr als einziges soziales und psychisches Antriebsmuster so dominant, wie noch vor einigen Jahrzehnten“ (Ferchhoff 2011, S. 24).

Mittlerweile ist es empirisch nicht mehr haltbar, Jugend als eine trennscharfe Phase zwischen Kindheit und Erwachsensein zu definieren. Jugend muss individuell erworben werden und ist weitaus mehr als nur eine Lebensphase, die auf den Erwachsenenstatus vorbereitet (vgl. ebd.). Zusammenfassend lässt sich darlegen, dass mit der zunehmenden Individualität und Heterogenität von Jugendlichkeit und insbesondere mit der damit zusammenhängenden Aufhebung der definitorischen Grenzen, auch eine Pluralisierung der Erfahrungsräume von Jugendlichen und jungen Erwachsenen stattfindet. Teilweise zahlreiche Überwölbungen und Überlappungen (vgl. Mannheim 1980) von Erfahrungsräumen in der Übergangsphase weisen nicht zuletzt auf Suchbewegungen und Warteschleifen von Heranwachsenden hin. Damit werden biographische Wege im Vergleich zu früheren Generationen variabler, diskontinuierlicher und disparater. Während in der Rekonstruktion vergangener Jugend noch von einer Generation die Rede ist (vgl. Preuss-Lausitz 1983), untersucht pädagogisch interessierte Jugendforschung heute „die Lebenswelten, die Problemwahrnehmung, die Selbstdefinition, die Identitäts- und Lebensentwürfe von Jugendlichen in ihren unterschiedlichen Lebenswelten“ (Hornstein 1997, S. 22). Im Folgenden soll erneut und etwas ausführlicher an der soeben implizierten Problematik der sozialen Konstruiertheit von Jugend als Statuskonfiguration zwischen Kindheit und Erwachsensein angeknüpft werden. Aufzuzeigen ist, dass Jugend als eigenständige und je individuelle Lebensphase gilt, deren Übergänge fließend sind. Es geht im Folgenden nicht darum, ein „wahrhaft enzyklopädisches Unternehmen“ zu vollziehen (vgl. Krüger 1988, S. 13), welches die Geschichte und die Theorietraditionen der Jugendforschung darlegt, sondern um den Versuch, die Lebensphase, die in dieser Arbeit fokussiert wird, begrifflich zu

4.2  Sozialisation und Jugend

75

umreißen. Mit dem mir vorliegendem Sample fokussiere ich Entwicklungs- und Aneignungsprozesse im Feld der Tanzkunst von zunächst Jugendlichen und später jungen Erwachsenen, wobei mit dieser Formulierung keineswegs ein Übergang, eine Höherstufung oder eine Weiterentwicklung impliziert ist, sondern vielmehr ein flexibler und individueller biographischer Pfad in den Blick gerät.

4.2.2 Jugend aus ­biographischsozialisationstheoretischer Perspektive Das Gegenstandsfeld der Jugend ist gegenwärtig durch ein „verwirrendes Bild“ gekennzeichnet (Mey 2011, S. 27). Dies zeigt sich überdeutlich auch in dem Ringen innerhalb der Jugendforschung um eine Kennzeichnung der Lebensphase. Die Jugendphase ist „zu einer generell in ihrer inhaltlichen Bestimmung und zeitlichen Erstreckung wenig festgelegten Lebenslaufphase geworden“ (ebd., S. 37). Klar voneinander abzugrenzende Statuspassagen auszuloten, scheint angesichts zunehmender gesellschaftlicher Ausdifferenzierungsprozesse illusorisch. Stattdessen werden definitorische Grenzen aufgebrochen, was allerdings mit einer Herausforderung für die Jugendforschung einhergeht, denn dem Forschungsgebiet scheint sein Gegenstand zu entgleiten (vgl. Merkens 2008). Mitte der 1960er Jahre etabliert sich eine Jugendforschung, die Erkenntnisse über die Jugend liefert (vgl. Bernfeld 1931; Bühler 1929; Spranger 1949). Es sind vornehmlich entwicklungspsychologische Arbeiten auszumachen, die die Jugendforschung zu quantifizieren und standardisieren versucht und die Beurteilungen zu körperlichen und kognitiven Entwicklungen vornimmt (vgl. ebd.; Ewert 1983; Nickel 1974). Hinter einem derartigen Forschungsinteresse verbirgt sich die Frage, welcher allgemeinen Gesetzmäßigkeit die menschliche Entwicklung folgt. Auf der Grundlage von Tagebuchmaterial, das als Protokoll jugendlicher Lebenspraxis gelesen wurde, haben etwa Spranger (1949) und Bühler (1929) versucht, die Stimmungs- und Gefühlswelt der Jugendlichen zu verstehen. Die Jugendphase gilt als Lebensphase der körperlichen und psychischen Umwälzung, die nach Spranger (1949) von identitären Krisen und Ablehnungen gegenüber der Erwachsenenwelt geprägt ist.3 Die damalige Jugendforschung war

3Spranger

kann drei zentrale krisenhafte Problembereiche der Jugendzeit identifizieren: den Trieb der Selbstdurchsetzung, Schwierigkeiten und Krisen im Hineinwachsen in (neue) Gesellschaftsformen und Jugendbewegungen als gesellschaftliche Erscheinungen (vgl. Spranger 1949).

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4  Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend

eine typisierende Verstehenspsychologie, die sehr stark von biologistischen und evolutionstheoretischen Annahmen geprägt ist; so unterschiedet Bühler (1929) beispielsweise drei Typen der Mädchenentwicklung (ebd., S. 33 ff.). Darüber hinaus beruhen die damaligen Forschungsergebnisse auf noch stark rudimentäre forschungspraktische Verfahren. Kritisiert wird an einem derartigen Forschungszugang zudem, dass „Aussagen über die Jugend generiert wurden, ohne ausreichend das Spezifische der Jugendphase herauszuarbeiten – noch zu klären, ob es überhaupt jugendspezifische Probleme sind“ (vgl. Mey 2011, S. 33). Zugespitzt fragt sich Ferchhoff (1986), ob die Jugendforschung die Jugend, die sie untersuchte, überhaupt kennt (vgl. ebd., S. 228). Auch Fend (1990) problematisiert an einer entwicklungspsychologischen Jugendforschung, dass sie das Seelenleben der Jugendlichen nicht richtig verstehe. Erst in den 1970er und 1980er Jahren sind vermehrt Studien auszumachen, die nach Selbstentwürfen und jugendkulturellen Orientierungen fragen (vgl. Bucher/Pohl 1986). Unter dem Individualisierungstheorem (vgl. Beck 1986) und zunehmenden gesellschaftlichen Wandlungs- und Transformationsprozessen formiert sich zunehmend eine sozial- und kulturwissenschaftliche Jugendforschung, deren Vertreterinnen und Vertreter die Kontingenz individueller Entwicklungen berücksichtigen (Riegel 2018, S. 565) und den jugendkulturellen Eigenwert herausstellen. Seither differenziert sich die Jugendforschung immens aus (vgl. Mey 2011). Hagedorn (2013) identifiziert drei zentrale Problemdimensionen hinsichtlich des Jugend(kultur)begriffs: Erstens spricht er von einer Differenzierungsproblematik und meint damit das Verschwinden der jugendlichen Protest- und Widerstandsfunktion. Jugendkulturen fehle zunehmend der absetzenden Bewegung gegenüber des Anderen, womit die Funktion der Jugend als gesellschaftlicher Innovationsmotor verloren geht. Zweitens identifiziert Hagedorn (ebd.) ein Differenzierungsproblem der jugendkulturellen Landschaft. Pluralisierungs- und Individualisierungsdynamiken tragen dazu bei, dass sich jugendkulturelle Stile und Ausdrucksformen dermaßen ausdifferenzieren, dass sich kaum noch Unterscheidungen „zwischen authentischen Jugendkulturen und kurzfristig erlebnisorientierten Freizeitstilen“ treffen lassen (ebd., S. 24). Drittens wird eine Entgrenzungsproblematik markiert, die eng mit der Erschließung neuer medialer Räume zusammenhängt. Fraglich ist dabei, ob sich die Jugendlichen nur medial präsentieren, oder ob die digitalen Räume neue Möglichkeiten für die Präsenz von Jugendkulturen darstellen. Die These des Verschwindens der Jugend wird auch aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive geäußert (vgl. Beck 1986). Mierendorff und Olk (2002) führen hierfür unter anderem die Erosion von Normalerwerbsverläufen, den

4.2  Sozialisation und Jugend

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Wandel und die Pluralisierung von Familienformen, die Mediatisierung und die Globalisierung der Gesellschaft an (ebd., S. 127). Mit Blick auf die mittlerweile divergent und heterogen gewordene Jugendforschung überhaupt (vgl. Hornstein 1997), lassen sich unterschiedliche Umgangsweisen finden, die versuchen, den Forschungsgegenstand Jugend (neu) zu konturieren. Oftmals werden pragmatische Operationalisierungen hinsichtlich der Jugendphase vorgenommen, die altersspezifisch orientiert sind. Beispielhaft seien hier groß angelegte quantitativ-repräsentative Studien zu nennen, wie die Shell-Studien und die DJI-Surveys. In der Shell-Studie von 2010 gelten die 12–25-Jährigen als Jugendliche (Shell Deutschland Holding 2010), während das DJI-Survey AID:A die Altersspanne deutlich ausweitete, auf die 12–32-Jährigen (Rauschenbach/Bien 2012). Derartige Studien erzeugen generalisierende Beschreibungen von Jugend oder Teilgruppen Jugendlicher. Scherr (2014) fordert diesbezüglich ein Offenlegen des Konstruktionscharakters auf und plädiert für eine stärkere Integration von Analysen gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen (vgl. Scherr 2014, S. 45). Im Gegensatz zu Gegenstandsbestimmungen von Jugend, die stark an das Alter gekoppelt sind, gibt es wissenschaftliche Bemühungen, insbesondere aus ungleichheitstheoretischer Perspektive, zwischen Jugenden zu differenzieren (vgl. Krüger/Grunert 2012; Schäfer/Scherr 2005), was nicht zuletzt zu einem heterogenen Forschungsfeld führt, „dessen einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass Datenerhebungen und Interpretationen sich auf diejenigen beziehen, die jeweils als Jugendliche gelten“ (Scherr 2014, S. 31). Aus einer solchen Perspektive werden nicht mehr die Gemeinsamkeiten, sondern die internen Differenzierungen in den Blick genommen und nach Strukturen und Praktiken gefragt und, wie sich diese auf die Lebensbedingungen der Heranwachsenden auswirken und letztlich, durch welche Praktiken sich Heranwachsende mit den strukturellen Bedingungen auseinandersetzten (vgl. Scheer 2014). Held et al. (1996) weisen mit dem Begriff der „gespaltene[n] Jugend“ ebenfalls auf die soziale Spaltung und die ungleichen Lebenschancen von Heranwachsenden hin. Auch Olk etwa (1985) resümiert, dass „die einheitliche kollektive Statuspassage Jugend zerfällt“ (ebd., S. 293). Es sei „zunehmend unplausibel […], von generellen Problemlösungsstrategien und Verhaltensstilen der Jugend zu sprechen“ (ebd.). Theoretisch konsequent ist es, so Olk, Jugend „in eine Vielzahl subsystemspezifischer Übergangsphasen mit je eigenen Erscheinungsformen und Zeitstrukturen [zu zerlegen]“ (ebd., S. 294). Neben der altersspezifischen Operationalisierung der Jugendphase einerseits und der Betonung der Ausdifferenzierung von Jugenden anderseits, gibt es Bestrebungen, die starren Statuskonfigurationen ein Stück weit aufzubrechen

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4  Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend

und die Behäbigkeit der Jugendphase hervorzuheben. Vordefinierte Statuspassagen treten zunehmend in den Hintergrund, während die Alltagspraxen und Selbstkonzepte der Heranwachsenden an Bedeutung gewinnen. Hier entscheidet weniger das biologische Alter über „mehr oder weniger an Jugendlichkeit“ (Abels 2008), sondern beispielsweise die Platzierung im sozialen Raum. Neidhardt (1975) beschreibt Lehrlinge im Gegensatz zu Gymnasiasten als weniger jugendlich und kinderlose Verheiratete gelten jugendlicher als junge Eltern (ebd., S. 70). Der Übergang insbesondere nach hinten zum Erwachsenen ist unscharf geworden, vornehmlich von individuellen Vorstellungen geprägt und hat sich im Vergleich bis zu den 1950er Jahren vom Alter her deutlich nach hinten verlagert, was Zinnecker (1981) mit dem Begriff der „Postadoleszenz“ verdeutlicht (ebd., S. 103). Neidhardt spricht in diesem Zusammenhang von jungen Erwachsenen (ebd., S. 15). Der Diskurs um junge Erwachsene taucht erstmalig in den 1990er Jahren in der deutschen Jugendforschung auf (Walther 1996, S. 11). Wenn von jungen Erwachsenen die Rede ist, dann ist damit gemeint, dass diese „in der Abfolge der Lebensalter zwischen Jugend und Erwachsensein nicht so klar zu verorten sind“ (ebd., S. 9). Jugendliche und junge Erwachsene organisieren ihre Biographie nach eigenen Vorstellungen und eben nicht mehr entlang der Normalbiographie (vgl. Walther 1996) und anhand normativ geprägter Vorstellungen von Statuspassagen. Helsper (1991) beispielsweise zeigt Veränderungen in verschiedenen Lebensbereichen (Schule, Familie, Freizeit) auf und identifiziert eine „Verselbständigung gegenüber den Herkunftsfamilien“ sowie eine „reflexive Auseinandersetzung mit sozialen Regeln“ (ebd., S. 77). Die Heranwachsenden stehen „ausdifferenzierten und widerspruchsvollen systemischen Anforderungen gegenüber“ und sie müssen „zugleich in pluralisierten, inkonsistenten Sozialräumen handeln, die ihrerseits wieder zahlreiche Optionsmöglichkeiten und Individualisierungschancen beinhalten“ (ebd., S. 75). Mit dem Konstrukt des jungen Erwachsenen wird semantisch die Verlängerung und Entstrukturierung der Jugendphase zu fassen versucht. Empirisch zeigt sich die Ausdehnung der Jugendphase zudem offensiv etwa in dem von Müller (1990) rekonstruierten biographischen Bewältigungstypus des „Sich-Optionen-Offen-Haltens“ (ebd., S. 152 ff.): „Die Erwachsenen sind eben fertig, sind unflexibel und am Ende ihrer Entwicklungsmöglichkeiten angelegt. Sie sind, im Ganzen gesehen, die Generation des ›Stillstands‹ und der Abgeschlossenheit“ (ebd., S. 149). Die Lebenslage der jungen Erwachsenen zeichnet sich demnach durch eine biographische Offenheit aus. Verschiedenste Jugenduntersuchungen proklamieren ein Bild von Heranwachsenden, die sich in ihrem sozialen Status wohl fühlen und ihn lange aufrechterhalten wollen (vgl. Abels 2008).

4.2  Sozialisation und Jugend

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Während derartige Argumentationen vornehmlich das Verschwimmen von Statusgrenzen und die Verlängerung der Jugendphase hervorheben, gibt es eine Theorie aus der US-amerikanischen Forschungslandschaft, die mittlerweile auch vermehrt im deutschsprachigen Diskurs rezipiert wird (vgl. Hurrelmann/ Quenzel 2016), die die neue Zwischenzeit als eigenständige Entwicklungsphase konzipiert. Mit dem Konzept des „emerging adulthood“ proklamiert der Entwicklungspsychologe Arnett (2000; 2015) eine zusätzliche Phase beim Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen. Das aufkommende Erwachsenenalter wird auf 18–25 Jahre fixiert, wobei das Ende sehr unterschiedlich ist und sich oft auch bis ins Alter von 30 Jahren zieht (Arnett 2015, S. 7). Arnett benennt fünf Besonderheit, die wesentlich für diese Phase sind (ebd., S. 9): Die Lebensphase ist gekennzeichnet durch endlose Gestaltungsmöglichkeiten (open possibilities) und bietet den Heranwachsenden weitreichende Gelegenheiten für Identitätserkundungen (identity explorations). Zugleich ist es eine unsichere und zeitlich unbeständige Lebensphase (instability), in der die Heranwachsenden im erhöhten Maße auf sich selbst gestellt sind. Die Phase des Erwachsenwerdens geht mit dem Gefühl einher, sich zwischen dem Jugend- und Erwachsenenalter zu befinden (feeling inbetween). Kritik erfährt das Konzept hinsichtlich der Fixierung der Altersstufen und, weil Ausgrenzungs- und Marginalisierungsprozesse von Heranwachsenden mit niedrigen Bildungsabschlüssen keinerlei Berücksichtigung finden (Stauber/Walther 2013, S. 271). Die Konturierung des Forschungsgegenstandes von Jugend kann auf sehr unterschiedliche Art und Weise, die stets im engen Zusammenhang mit dem Forschungsinteresse steht, geschehen. Aus einer stark generalisierenden Perspektive wird Jugend altersspezifisch operationalisiert, aus einer ungleichheitstheoretischen Perspektive wird zwischen Jugenden differenziert, aus einer vornehmlich biographisch-sozialisationstheoretischen Perspektive wird die Verlängerung der Jugendphase und das Verschwimmen der Statuspassagen von Jugend- und Erwachsenheit proklamiert und aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive wird das Erwachsenwerden als eigenständige Entwicklungsphase hervorgehoben. Die zunehmend unsicheren Gegenstandsbestimmungen von Jugend und Jugendlichkeit, die von historisch, sozio-kulturell und auch generational divergenten Bedeutungszuschreibungen bestimmt und stets in machtförmige Strukturen eingebettet sind, sollten stets mitreflektiert werden (vgl. ebd.). Nicht zuletzt auch, um der Gefahr zu entgehen, den Forschungsgegenstand derart zu konturieren, dass sich normative Einschätzungen überzeichnen (vgl. Neumann-Braun/Deppermann 1998, S. 239). Für diese Ausführungen wende ich mich dem Konstrukt des Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu. Es bleibt festzuhalten, dass, wenn aktuell von

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4  Theoretische Rahmung: Biographie, Sozialisation und Jugend

J­ugendlichen und jungen Erwachsenen die Rede ist, zwar durchaus altersspezifische Annahmen wirken, – ausgesprochen weit gefasst, ließe sich von einem mittleren Lebensalter sprechen – diese aber nicht im Sinne von Statuskonfigurationen zu verstehen sind. Vielmehr wird betont, dass sich Jugendliche und junge Erwachsene im Rahmen gesellschaftlicher Teilhabe in einem biographisch offen zu gestaltenden Entwicklungsprozess befinden, der nicht vordefiniert ist. So lässt sich auch der Übergang vom Jugendlichen zum jungen Erwachsenen wenig konkretisieren. Die Transitionen sind fließend und vielseitig und lassen sich daher empirisch nur schwer nachzuvollziehen. Demnach kann es nicht Ziel dieser Untersuchung sein, Übergänge vom Jugendlichen zum Erwachsenen zu identifizieren oder gar zu beurteilen, welche Handlungsroutinen eher jugendlich oder erwachsen anmuten. Auch aus einer Längsschnittperspektive, in der zwar stärker in situ Veränderungen der Lebenswelten in den Blick geraten – etwa Ablösungsprozesse aus dem Elternhaus –, kann nicht empirisch bestimmt werden, wann die Jugendlichen zu Erwachsenen werden. Insbesondere auch vor dem Hintergrund normativer Implikationen jugendlicher und erwachsener Lebenswelten sollen hier keine Verallgemeinerungen vorgenommen werden. Dennoch soll im Rahmen der Theoretisierung auf die Bedeutung einer professionellen Tanzausbildung für die Jugendphase hingewiesen werden, wobei Jugendphase als biographisch offen zu verstehen ist und keine vorgegebenen Übergänge impliziert werden (vgl. 8.3).

5

Zwischenfazit

In einem sehr bekannten Aufsatz von Bourdieu mit dem Titel „Die biographische Illusion“ stellt er die durchaus provokante Frage, „wer […] davon träumen [würde], sich eine Reise vorzustellen, ohne eine Idee von dem Land zu haben, in dem sie sich ereignet?“ (Bourdieu 2000, S. 59). Mit diesen Worten übt Bourdieu indirekt Kritik an der Biographieforschung. Er wirft ihr vor, einzig und allein das Subjekt als Referenzrahmen zu nehmen und die gesellschaftlichen Strukturen zu vernachlässigen. Diese kritische Annahme Bourdieus wurde mehrfach zurückgewiesen (vgl. Liebau 1990; Niethammer 1990). Alheit (1992) betitelte sie als „strukturalistische Provokation“ (ebd. S. 22) und argumentiert, dass Individuen zwar auf die „grobe Struktur angewiesen sind, [es jedoch genügend] Raum für erstaunlichen Eigensinn [gäbe]“ (ebd., S. 24). Individuelle Handlungsfähigkeiten und subjektive Entitäten stehen in einem verwobenen Spannungsverhältnis zu kollektiven und institutionalisierten Strukturen und Normen. Dies hat, wie aufgezeigt wurde, sowohl die Biographie- als auch die Sozialisationsforschung im Blick. Die Perspektive ­ einer sozialisationstheoretisch orientierten Biographieforschung verknüpft biographische und sozialisatorische Ansätze miteinander; wohlbemerkt bisher wenig systematisch (vgl. Dausien 2018). Dennoch bin ich davon überzeugt, dass ein derartiger theoretischer Blick für mein Erkenntnisinteresse gut geeignet ist. Mich interessiert der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer. Mit Weg meine ich nicht den strukturell vorgegebenen Institutionendurchlauf, sondern die Gestaltung der eigenen Biographie im Rahmen gesellschaftlicher Gegebenheiten bzw. in diesem Fall ließe sich zugespitzt sagen, im Rahmen internen Feldlogiken der Tanzkunst. Dabei wird „die Bewältigung sozialweltlicher Anforderungen aus der Binnensicht des Subjektes betrachtet“ (Bourdieu 2000, S. 24). Ferner interessieren, in Anlehnung © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lüdemann, Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer, Studien zur Schul- und Bildungsforschung 84, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31344-9_5

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5 Zwischenfazit

an den sozialkonstruktivistischen Ansatz von Alheit und auch Dausien (Alheit 1990; Dausien 1996) und deren sozialisationstheoretische Perspektive auf Biographie, Prozesse des Werdens. Biographische Entwicklungen sind zwar immer Weiterentwicklung im Zeitlichen durch Erfahrungen, die fortlaufend gesammelt werden, müssen aber nicht zwingend Höher- oder Besserentwicklungen sein, wie etwa Marotzki (1990) es unterstellt. Mit einer bildungstheoretisch orientierten Perspektive auf Biographie geht ein spezifisches Verständnis von Sozialisation einher, welches von Oevermann (2004) als „Prozess der Krisenbewältigung“ beschrieben wird: „Der Sozialisationsprozess verläuft in sich krisenhaft, er ist ein Krisenverlauf par excellence und muss es sein, damit sich aus ihm eine autonome Lebenspraxis der Chance nach entwickeln kann“ (ebd., S. 164). Damit werden Krisenerfahrungen zu einem bedeutenden Bestandteil von Sozialisationsprozessen. In der Kindheit und Jugend finden entscheidende Bildungs- und Sozialisationsprozesse statt, die großes Transformationspotential beinhalten (vgl. Fend 2005). Insbesondere das Jugendalter (und die Adoleszenz) gilt als Lebensphase mit hohem Transformationspotential (vgl. Helsper et al. 2014; Helsper et al. i.E.,; King 2002). Entwicklungspsychologische Ansätze etwa zweigen auf, dass sich die Interaktion zwischen Eltern und ihren Kindern im Jugendalter deutlich verändert und die vorher bestehende Asymmetrie auffallend abflacht (vgl. Kreppner/Ullrich 2003). Auch habitustheoretische Perspektiven betonen die enorme Bedeutung der Jugend- und Adoleszenzphase für Habitusgenesen und -transformationen (Krüger et al. 2010; Krüger et al. 2018; Kramer 2013; Helsper et al. 2014; Helsper et al. i.E.). Insbesondere für den Schülerhabitus konnte empirisch aufgezeigt werden, wie wandelbar er ist (vgl. Heslper et al. 2014). Allerdings konnte bislang kein Fall der grundlegenden Transformation des Schülerhabitus nachgewiesen werden (vgl. Kramer 2013). Auch Helsper et al. (i.E.) verweisen auf die Dominanz der Reproduktion und begründen dies mit der Homogenität der Schülerschaft im exklusiven gymnasialen Feld durch die vielfältigen Aus- und Anwahlprozesse. Auch Krüger et al. (2018) verweisen in ihrer empirischen Studie auf eine weitgehende Persistenz der schulbezogenen Orientierungen. Sozialisationskontexte und Bildungsprozesse bedingen einander und sind durch ein Wechselspiel charakterisiert (Krüger/Deppe 2014, S. 254). Und dennoch wird unter einer bildungstheoretischen und sozialisationstheoretischen Perspektive Verschiedenes in den Blick genommen: Eine bildungstheoretisch fundierte Forschungsperspektive interessiert sich primär für Veränderungsprozesse, während eine sozialisationsorientierte Forschungsperspektive verstärkt Prozesse des Werdens in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stellt.

5 Zwischenfazit

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Auch wenn Prozesse des Werdens in den Fokus rücken, geht es mir nicht um eine strukturelle Analyse der biographischen Erfahrungsaufschichtungen (vgl. Schütze 1983; 1993), also etwa um die Identifikation der Prozesse an sich, sondern darum, aufzuzeigen, wie die Tänzerinnen und Tänzer ihren (möglichen) Weg durch das Feld der Tanzkunst bewältigen. Die kontextuellen und strukturellen Bedingungen einer Tanzausbildung in Deutschland erschließe ich mir einerseits mit Hilfe des Experteninterviews und einer Recherche zu aktuellen Debatten und zur Ausbildungssituation (vgl. 3.2) und anderseits anhand der Konzeption Bourdieus zum Feld der ­künstlerisch-kulturellen Produktion (vgl. 3.1). So bekomme ich die strukturellen Rahmenbedingungen nicht nur über die Binnensicht der Subjekte in den Blick, sondern erschließe mir zunächst auf einer theoretischen Ebene die normativen Handlungsanforderungen, mit den die angehenden Tänzerinnen und Tänzer konfrontiert sind. Mit den Konzeptionen von Bourdieu beschränke ich mich lediglich auf die Erfassung des Feldes der Tanzkunst. Es ist nicht Ziel, die gesellschaftlichen Strukturbeschreibungen in eine „renovierte Klassentheorie“ (Bude 1998, S. 247) zurückzuführen. Das Interesse an Gesellschaft, wie es die Soziologie vornehmlich mit der Lebenslaufforschung verfolgt wird (vgl. Krüger 2006; vgl. Marotzki 2002), ist nicht Anliegen dieser Arbeit. Darüber hinaus beziehe ich mich in Anlehnung an Bourdieu auf das Konzept des individuellen Habitus resp. Modus Operandi als Ausdruckgestalt eines gewordenen und werdenden Individuums durch ein komplexes Zusammenspiel von biographischen Erfahrungen in verschiedensten konjunktiven Erfahrungsräumen (vgl. Bohnsack 2017). Der Habitus wird hier im Sinne einer praxeologischen Wissenssoziologie verhandelt und kann weitgehend synonym zu dem neueren Konzept des Orientierungsrahmens im engeren Sinne von Bohnsack (ebd.) verhandelt werden, welches im folgenden Kapitel ausführlicher beschrieben wird (vgl. 6). Der Zugang zur Biographie erfolgt hier aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive, in der Lebensgeschichten als Lerngeschichten aufgefasst werden (vgl. Krüger 2006, S. 16). Mit meiner theoretischen und gegenständlichen Rahmung gehe ich von weiteren heuristischen Vorannahmen aus. Zunächst ist davon auszugehen, dass das Feld der Tanzkunst aus sozialisationstheoretischer Perspektive hochbedeutsam für die Biographie der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist. Sie werden in einem sehr frühen Alter in das Feld reinsozialisiert. Teilweise findet dies parallel zu der primären Sozialisationsphase statt, in der oftmals nur die Familie oder die Institution Kindergarten relevant sind. Ferner ist der zeitliche

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5 Zwischenfazit

Aufwand, der mit einer Tanzkarriere einhergeht, aus sozialisationstheoretischer Perspektive nicht zu unterschätzen. Es stellt sich die Frage, inwiefern vor dem Hintergrund der wenigen freien Zeit andere sozialisationsrelevante Felder an Bedeutung gewinnen können. Dies ist aus einer jugendtheoretischen Perspektive spannend, die die Variabilität von biographischen Wegen betont und darlegt, dass die Lebensphase durch ein Ausprobieren von Handlungsoptionen geprägt ist (vgl. 4.2.1; 4.2.2). Das Feld des Tanzes wird verstanden als Sozialisationsinstanz, die die Jugendlichen und jungen Erwachsenen sehr unterschiedlich durchleben. Davon abhängig sammeln sie subjektive Erfahrungen im Feld und bearbeiten diese in einem reflexiven Prozess different und konstruieren aus ihrer Akteursperspektive heraus entsprechend ihre je spezifischen Abbilder sozialer Wirklichkeit, was in diesem Zusammenhang als Biographizität (vgl. Alheit 1996) bezeichnet werden kann. Die Jugendlichen und später jungen Erwachsenen sind gefordert, biographische Sinnhaftigkeit herzustellen und zu präsentieren. Angesicht gesellschaftlicher Problemlagen und Herausforderungen, die sich in ihrem spezifischen Erfahrungsraum der Tanzkunst stellen, obliegt es ihnen, ihr Leben mit Sinn zu versehen und es entsprechend der Möglichkeitsräume zu gestalten (vgl. Riegel 2018). Die eigensinnigen Verarbeitungsprozesse (vgl. Alheit/Dausien 2000), die sich dann in den Narrationen der Interviews als komplexe Zeitgestalten (vgl. Dausien 2018) widerspiegeln, wirken einerseits auf sich selbst zurück und leiten anderseits künftiges Handeln an. Mit einer Längsschnittperspektive werden in diesem Fall drei komplexe Zeitgestalten erfasst, die nicht als drei voneinander weitestgehend unabhängige biographische Formationen verstanden werden (vgl. 2.1), sondern aus einer biographisch-sozialisatorischen Perspektive werden diese Zeitgestalten als sinnhafte Entwicklungen des Selbst wahrgenommen, wobei Entwicklung nicht im Sinne einer älteren Entwicklungspsychologie zu verstehen ist (vgl. Geulen 2009), sondern als biographischer Aneignungsprozess. Eine derartige theoretische Rahmung muss hinsichtlich des methodischen Vorgehens Berücksichtigung finden. So wurde bereits zu Beginn der theoretischen Rahmung die These aufgestellt, dass sich die qualitative Längsschnittforschung bislang aus einer bildungstheoretischen Perspektive formiert, was meines Erachtens sehr eng mit dem methodischen Vorgehen zusammenhängt und der starken Fokussierung auf Veränderungen sowie der Subsumierung der längsschnittlichen Perspektive am Ende des Forschungsprozesses. Beachtlich ist, dass die querschnittlichen Fallanalysen sehr wohl sozialisationstheoretisch fundiert sind, dann aber im Längsschnitt vor dem Hintergrund der temporal vergleichenden Perspektive verloren zu gehen scheinen. Diese Untersuchung unter-

5 Zwischenfazit

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nimmt den Versuch, eine sozialisationstheoretisch orientierte Analyse konsequent auch im Längsschnitt vorzunehmen. Im folgenden Kapitel werden nun die methodologischen und methodischen Prämissen dargelegt, in dem aufgezeigt wird, wie die bisherige Dokumentarische Längsschnittforschung vorgeht und welchen Weg der Längsschnittanalyse ich vorschlage.

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Methodische und methodologische Rahmung: Dokumentarische Methode und Längsschnitt

Die Idee zu dieser Untersuchung entstand im Rahmen des Forschungsprojektes „Exklusive Bildungskarrieren von Jugendlichen und der Stellenwert von Peerkulturen“, welches von Prof. Heinz-Hermann Krüger geleitet und am Zentrum für Schul- und Bildungsforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg durchgeführt wurde. Die geplant sechsjährige – und tatsächlich ausgeführte achtjährige – Längsschnittuntersuchung ist eines von insgesamt sieben Teilprojekten der DFG-Forschergruppe 1612 „Mechanismen der Elitebildung“1. Das Forschungsprojekt untersuchte die bildungsbiografischen Wege sowie die Deutungsmuster von Exzellenz und Elite in offiziell drei (durch die Verlängerung des Projektes gab es gar vier) Untersuchungsphasen (10. Klasse, 12. Klasse und zwei Jahre nach dem Übergang in die Hochschule bzw. den Beruf und schließlich noch weitere zwei Jahre später) beginnend mit Jugendlichen aus drei Gymnasien mit kontrastreichen Exklusivitätsansprüchen und einem Gymnasium mit einem alternativen Konzept. Zudem interessierte die Relevanz der außerunterrichtlichen und außerschulischen Peerkulturen für die Karriereverläufe. In den Untersuchungsphasen wurden Interviews mit den Jugendlichen und später jungen Erwachsenen sowie Gruppendiskussionen mit deren Peergroups geführt. In der ersten Phase und zweiten Phase wurden zusätzlich Experteninterviews mit Schulleiterinnen und Schulleitern der ausgewählten Gymnasien geführt

1Die Forschergruppe insgesamt untersuchte Prozesse der sozialen Konstruktion und Herstellung von Elite und Exzellenz in zentralen Bildungsinstitutionen und Bildungsorten in Deutschland vom Kindergarten, über die Grundschule und das Gymnasium bis zur Hochschule (vgl. Helsper et al. 2019).

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lüdemann, Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer, Studien zur Schul- und Bildungsforschung 84, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31344-9_6

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6  Methodische und methodologische …

(vgl. Krüger et al. 2016; Krüger et al. 2018). Der Materialkorpus wurde mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet und am Ende unter einer Längsschnittperspektive typologisiert (vgl. ebd.; Leinhos et al. 2018a; 2018b). Aus eben diesem Forschungskontext entstammen auch die Interviews mit den Tänzerinnen und Tänzern, auf die ich für meine Sekundäranalyse zurückgreife. In einem ersten Schritt wird das Erhebungsinstrument – das narrative Interview –  und, wie es im Projekt angewandt wurde, erläutert und das Sample, auf das ich mich beziehe, aufgezeigt (vgl. 6.1). In einem zweiten Schritt wird dann von der Projektlogik abgegrenzt, mein spezifisches Erkenntnisinteresse dargelegt (vgl. 6.2). Das Auswertungsverfahren wird in einem dritten Schritt thematisiert: Ausgehend von den Grundannahmen der Dokumentarischen Methode (6.3.1) wird anschließend der Blick auf eine Längsschnittanalyse mit der Dokumentarischen Methode gerichtet und das explizite methodische Vorgehen aufgezeigt (6.3.2).

6.1 Das Erhebungsinstrument aus dem Projektkontext: Das narrative Interview Als Instrument der Erhebung diente das narrative Interview, welches ursprünglich von Fritz Schütze Ende der 1970er Jahre entwickelt wurde und sich auf verschiedene soziologische Ansätze bezieht, die jedoch allesamt die Annahme teilen, „dass die soziale Wirklichkeit nicht außerhalb des Handelns der Gesellschaftsmitglieder existiert, sondern jeweils im Rahmen kommunikativer Interaktionen hergestellt wird. Die soziale Wirklichkeit wird nicht als etwas Statisches, sondern als ein Prozessgeschehen verstanden, das prinzipiell in jeder Interaktionssituation aufs Neue aktualisiert und ausgehandelt wird und werden muss, in einem ongoing social process“ (Küsters 2009, S. 18).

Entscheidend für das narrative Interview ist die Rekonstruktion sozialer Wirklichkeiten, die mittels kommunikativer Interaktion hergestellt werden. Bei der Interviewinterpretation wird daher die Analysefrage nach dem Wie in den Mittelpunkt gerückt und erkundet, wie soziale Wirklichkeit hergestellt wird. Somit geht die Analyse deutlich darüber hinaus, zu erfassen, was explizit geäußert wurde und fokussiert vornehmlich implizite und symptomatische Wissensbestände (vgl. Schütze 1993). Dementsprechend ist die Interviewsituation möglichst offen angelegt und die Interviewfragen zielen darauf ab, dass die Interviewten selbst Schwerpunkte setzten können und, dass so ganz offenherzig Erzählungen generiert werden.

6.1  Das Erhebungsinstrument aus dem Projektkontext: Das narrative …

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Die im Projekt geführten Interviews untergliedern sich grob entsprechend der Erhebungslogik narrativer Interviews in zwei Teile: einen n­ arrativ-biographischen Abschnitt und einen thematisch-strukturierten Nachfrageteil (Kruse 2015, S. 151). Der biographisch angelegte Eingangsteil fragt nach der bisherigen gesamten Lebensgeschichte in der ersten Erhebungswelle (Ich interessiere mich für deine gesamte Lebensgeschichte. Denk doch mal bitte an deine Kindheit zurück und fang von dort an zu erzählen.) und zielt in den darauffolgenden Interviews auf Entwicklungen seit dem letzten Gespräch (Ich möchte wissen, wie dein Leben seit unserem letzten Gespräch im … verlaufen ist.). Daran anschließend, also, wenn der Interviewte oder die Interviewte die autobiographische Anfangserzählung abgeschlossen hat – oftmals endet sie mit einer Erzählkoda wie „so, das war’s“ (Nohl 2012, S. 18) und/oder einer gewissen Schweigepause –, folgt der narrative Nachfrageteil, zu Themen und Inhalten, die bereits angesprochen wurden, allerdings noch mal vertieft werden sollten. Auch diese Fragen haben einen immanenten Charakter und sollen den Erzählfluss weiter anregen, etwa: Du hast doch gerade erwähnt, dass … Kannst du das noch mal etwas genauer erzählen und wie das kam und wie das von dort an weiter ging? Die erweiterte Eingangserzählung ist dann abgeschlossen, wenn der immanente Nachfrageteil beendet ist. Jetzt folgt der zweite Interviewteil, in dem zwar ebenso offen angelegte Fragen gestellt werden, die allerdings thematisch eingegrenzt sind. Entsprechend der Längsschnittlogik wird in der ersten Erhebungswelle nach den Themen in Bezug auf das bisherige Leben gefragt, wie: Ich möchte gerne mal ausführlich wissen, wie sich das so mit deinen Freunden entwickelt hat. Die Fragen der nachfolgenden Erhebungswellen zielen dann auf die Entwicklung seit dem letzten Gespräch. Themen, die sich der Anlage der Studie ergeben und angesprochen werden sind Familie, Peers, Freizeit und Karriere. Schließlich werden noch Fragen zur persönlichen und beruflichen Zukunft und nach einer Bilanz des bisherigen Lebens gestellt. Abschließend wurde danach gefragt, was die Jugendlichen und später jungen Erwachsene unter Elite, Exzellenz und gleiche Bildungschancen verstehen. Generell geht es darum, möglichst erzählgenerierende Fragen zu stellen. Denn Schütze (1977) geht davon aus, dass gerade in den Stegreiferzählungen wegen der Dynamik ihrer Zugzwänge über Erfahrungen berichtet werden und Dinge zur Sprache kommen, die, wenn man Leute direkt darauf anspricht, eben nicht thematisiert werden. Schütze (ebd.) vermutet eine enge Verknüpfung zwischen erzählter und erlebter Erfahrung; und auch Wohlrab-Sahr (2002) betont den engen „Zusammenhang zwischen der Erfahrung vergangener ­ Ereignisse

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– also bereits in selektiver Weise kognitiv aufbereiteter und bewerteter ‚Realität‘ – und der Erzählung dieser Ereignisse“ (ebd., S. 8). Und dennoch handelt es sich immer um eine retrospektiv konstruierte Geschichte und nie um das wahre Geschehen selbst, denn Erinnerungen verschwimmen, Perspektiven verändern sich und Erfahrungen werden überlagert. Es wird nicht die Wahrheit oder Falschheit von Aussagen überprüft oder die faktischen Geschehensabläufe hinterfragt, sondern der Anspruch erhoben, die erzählten Erfahrungen als die erlebten Erfahrungen zu rekonstruieren, die stets aus einer bestimmten Momentperspektive (vgl. Gregor 2015; Rosa 2014) heraus erzählt werden. Die biographischen Narrationen stellen somit nie die „(wirklich) erlebte Geschichte, sondern immer nur die Deutung im ‚hic et nunc‘ – aus der Perspektive im ‚Hier und Jetzt‘“ (Kruse 2014, S. 152) dar. Neben den Erzählungen – die als Ablauf von Geschehnissen berichtet werden und somit einen Anfang und ein Ende haben und durch spezifische Orts- und Zeitbezüge gekennzeichnet sind, identifiziert Schütze drei weitere Textsorten, die in den Interviews enthalten sein können: Beschreibungen, Argumentationen und Bewertungen. Diesen Formen allerdings, räumt Schütze zunächst keinen sonderlichen Stellenwert zu, da sie von der Kommunikationssituation des Interviews und der Erzählzeit zu stark beeinflusst sind und keine Rückschlüsse auf die Erfahrungsaufschichtungen zulassen (vgl. Nohl 2012). Im Interview vermischen sich die Textsorten jedoch häufig und lassen sich als ­Vordergrund-Hintergrund-Konstruktionen beschreiben. Nohl (ebd., S. 22) führt dies beispielhaft wie folgt aus: „Eine Haupterzählung wird durch eine Hintergrundkonstruktion im Modus der Beschreibung unterbrochen, innerhalb derer sich dann wieder eine weitere Hintergrundkonstruktion, nun im Modus der Bewertung findet, die selbst wieder durch eine Hintergrundkonstruktion gestützt wird, die vielleicht eine Erzählung ist. Schließlich kehrt der Informant wieder zur Haupterzählung zurück.“

Begründung findet diese Vermischungen der Textsorten – Erzählung, Beschreibung, Argumentation – in der Tatsache, dass biographische Erzählungen von dem Interviewten oder der Interviewten immer wieder räumlich und zeitlich eingebunden und bestimmte Handlungen oder Hintergründe gerechtfertigt werden müssen, um die Haupterzählung überhaupt verstehen zu können. Kallmeyer und Schütze (1977) sprechen in diesem Zusammenhang von den „Zugzwängen des Erzählens“, die sich entfalten, wenn die oder der Interviewte regelrecht ins Erzählen gerät und letztlich dem Detaillierungszwang, dem Gestaltschließungszwang und dem

6.1  Das Erhebungsinstrument aus dem Projektkontext: Das narrative ...

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Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang (vgl. Küsters 2009; Nohl 2012) komplett unterworfen ist. Während Schütze (1983) in seiner frühen Narrationsstrukturanalyse lediglich Erzählungen interpretiert und Argumentationen und Beschreibungen keinerlei analytische Beachtung findet, wird im Rahmen dieser Analysen – im Sinne einer Weiterentwicklung durch die Dokumentarischen Methode – den anderen Textsorten ebenso Beachtung zugesprochen: „Anstatt ihrem wörtlichen Sinngehalt zu folgen, kann man auch die Herstellungsbzw. auch Konstruktionsweise [beispielsweise] der Argumentationen rekonstruieren und auf diese Weise herausarbeiten, wie [hervorgehoben im Original] jemand seine Handlungsweisen rechtfertigt bzw. bewertet“ (Nohl 2012, S. 44).

Nohl (ebd.) argumentiert weiter, dass eben auch die Dokumentarische Interpretation an dieser Stelle aufschlussreich in Bezug auf den Modus Operandi sein kann (ebd.). Oftmals lassen sich in den Interviewtexten wenig erzählende Passagen finden oder das Forschungsinteresse fokussiert Themen, die in der Art und Weise zu reden, eher argumentativ angelegt sind, wie etwa die Frage nach den Zukunftsvorstellungen (Maxelon et al. 2018). Auch Schütze selbst revidiert in einem Nachtrag (2016) sein resolutes Vorgehen der Eliminierung aller nicht-narrativen Passagen und betont, dass er keineswegs „die Bedeutung von argumentativen oder abstrakt beschreibenden Textstücken in ­autobiographisch-narrativen Interviews für die analytische Rekonstruktion von biographischer Entfaltung und biographischer Arbeit für unwichtig“ hält (Schütze 2016, S. 66). Maxelon et al. (2018) verweisen ebenso auf die Bedeutsamkeit von Argumentationen als Teil der sozialen Praxis und legen dar, dass die Rolle des Subjektes in sozialen Vollzügen – wie eben auch einer Interviewsituation – „selbst je spezifisch in individuellen Gesprächs- und Argumentationspraktiken“ hervor[tritt]“ (ebd., S. 187). Dennoch findet die formale Textsortentrennung bei der Analyse der Interviews Beachtung; ihnen wird jedoch kein elementarer Stellenwert im Sinne der Aussortierung der zu interpretierenden Passagen eingeräumt. Vielmehr dient sie im Rahmen der Reflektierenden Interpretation dazu, zu identifizieren, wo das Erzählschema von den Interviewten zeitweilig unterbrochen wird und welche Stellung diese Unterbrechung einnimmt (ebd.). Im Projektkontext wurden insgesamt 66 Fälle erhoben; darunter 42 echte Längsschnittfälle (vgl. Krüger et al. 2018). Ich greife auf vier der Längsschnittfälle zurück, denen gemeinsam ist, dass sie alle in der ersten Erhebungsphase

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die 10. Klasse eines Gymnasiums mit speziell ästhetisch ausgerichtetem Profil besuchen und zu diesem Zeitpunkt durchaus ernsthafte Ambitionen hegen, eine professionelle Tanzkarriere anzustreben. Das Sample setzt sich aus zwei Tänzerinnen (Maria und Freya) und zwei Tänzern (Julian und Elias) zusammen, deren institutionelle Basis – die Tanzklasse des Gymnasiums – zum Zeitpunkt der ersten Erhebungswelle dieselbe ist, ihre weiteren institutionellen Wege allerdings sehr unterschiedlich verlaufen. Von allen vier Fällen gibt es insgesamt drei Interviews beginnend in der 10. Klasse mit 15 bis 16 Jahren und dann jeweils im Abstand von ungefähr anderthalb bis zwei Jahren. Von den geführten Interviews wurden Volltranskripte angefertigt. Ich blicke mit einem anderen Forschungsinteresse, als das des Projektes, auf das mir vorliegende empirische Material. Dieses soll im Folgenden zum Thema werden.

6.2 Erkenntnisinteresse und Fragestellung: Tänzerische Werdegänge aus einer Prozessperspektive Im Fokus der Untersuchung steht die Frage, wie Jugendliche und dann junge Erwachsene, die später einmal Tänzerinnen oder Tänzer werden wollen, ihren Weg dorthin bewältigen. Dabei wird eine Prozesssperspektive eingenommen. Es wird also nicht etwa – wie es sich bei einer Einmalerhebung anbietet –, retrospektiv rekonstruiert, wie man zur Tänzerin oder zum Tänzer geworden ist, sondern in situ nachgezeichnet, wie jemand zur Tänzerin oder zum Tänzer wird bzw. wie jemand diesen Weg beschreitet. Es interessiert, wie sich Dynamiken des Werdens gestalten: Wie vollziehen sich biographische Prozesse des Tänzerin-Werdens und des Tänzer-Werdens vor dem Hintergrund des Feldes ­ der Tanzkunst? Mit dieser Fragestellung wird eine Entwicklungs- und Prozessperspektive im Forschungsdesign vorab konstruiert und mit konzeptualisiert, die sich auf die sozialisationstheoretische Perspektive zurückführen lässt. In einem Interview lassen sich Entwicklungen rückblickend beobachten (vgl. von Rosenberg 2011). Dennoch bleibt zu berücksichtigen, dass ein Interview im Grunde keine allumfassende Biographie, sondern lediglich eine gegenwartsfixierte Momentaufnahme darstellt (vgl. Rosa 2005) oder, wie Gregor (2015) es formuliert, „als (Zwischen)ergebnis verzeitlichter Prozesse der Subjektivierung, die zum Zeitpunkt des Interviews immer eine bestimmte Perspektive repräsentieren, aus der heraus eine Rechenschaft von sich selbst abgelegt wird“, zu verstehen ist (ebd., S. 147). Im Interview wird Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges aus einer Momentperspektive erzählt; verschiebt sich der Moment,

6.2  Erkenntnisinteresse und Fragestellung …

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verschiebt sich auch die Perspektive auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auch drei mit derselben Person zu unterschiedlichen Zeitpunkten geführte Interviews stellen nichts Anderes als drei gegenwartsfixierte Momentaufnahmen dar. Eine Längsschnittperspektive, wie ich sie im Folgenden entwerfe, ermöglicht es jedoch, den Blick für biographische Prozesse zu schärfen, da sie sich retrospektiv – auf der Grundlage von Erfahrungen – und prospektiv – auf der Grundlage von Erwartungen – verfolgen lassen (Dreier et al. 2018). Eine derartige Perspektive ermöglicht insbesondere durch Umdeutungen und auch Neudeutungen, einen umfassenderen Blick auf die biographischen Konstruktionen der Akteure. Erst die Zusammenschau aller geführten Interviews, die ich als kaleidoskopartig verstehe, wie noch auszuführen ist, erzeugt erkenntnisgenerierende Momente (vgl. ebd.). Denn es geht mir nicht darum, Prozesse des Werdens an sich zu identifizieren; diese erfasse ich auch mit mehrfachen Interviewerhebungen nicht, da sich die Prozesse, die zwischen den Interviews stattfinden, nicht rekonstruieren lassen. So würden wahrscheinlich qualitativ arbeitende Längsschnittforscherinnen und Längsschnittforscher nicht behaupten, dass sie Prozesse, sondern Differenzen zwischen verschiedenen Erhebungszeitpunkten untersuchen und daraus schlussfolgern, ob sich was verändert hat oder im Sinne einer dynamischen Reproduktion gleichgeblieben ist. Meines Erachtens ist Differenz, verstanden als etwas dynamisch Andersartiges, immer schon in Biographie bzw. in das Sprechen über Biographisches eingeschrieben. Es ist mir nicht daran gelegen, diese Andersartigkeit zu identifizieren. Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich rekonstruieren, wie bzw. auf welche Art und Weise sich die biographischen Prozesse – von denen ich ausgehe, dass sie sich vollziehen –, ausgestalten. Von einem Ansatz, der Differenzen zu identifizieren vermag, abweichend, verstehe ich auch die verschiedenen Interviews entsprechend nicht als zueinander in Kontrast stehend, sondern begreife sie als zusammengehörig im Sinne einer Multiperspektivität. Diese hole ich durch die Mehrfachinterviews ein, die dann kaleidoskopartig zusammengeführt werden. In dieser Untersuchung wird ein feldspezifischer Ausschnitt des biographischen Rahmens konstruiert, der durchaus in seiner inneren Beschaffenheit brüchig und ambivalent anmuten kann. Wenngleich ich Entwicklungen des Tänzerin-Werdens und des Tänzer-Werdens untersuche, gehe ich nicht per se davon aus, dass die Jugendlichen und später jungen Erwachsenen meines Samples auch tatsächlich in den Beruf der Bühnentänzerin und des Bühnentänzers münden. Ausgangspunkt ist die erste Erhebungswelle, in der alle Tänzerinnen und Tänzer äußern, diesen Weg gehen zu wollen. Insbesondere die Längsschnittperspektive ermöglicht nun, diesen Weg umfangreich und multiperspektivisch untersuchen zu können. Erst das Zusammenspiel der

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v­erschiedenen Interviews zu unterschiedlichen Zeitpunkten zeigt auf, wie die Jugendlichen und dann jungen Erwachsenen die Feldanforderungen bewältigen. Es wurde bereits angedeutet, dass sich sowohl die theoretischen Vorannahmen – insbesondere die der sozialisationstheoretischen Biographieforschung – und jetzt entsprechend, dass sich das Erkenntnisinteresse und die Fragestellung auf das methodische Auswertungsvorgehen im Längsschnitt auswirken. Nachfolgend wird das angewandte dokumentarisch-längsschnittliche Auswertungsverfahren erläutert, welches sich explizit von bereits verwendeten forschungsmethodischen Strategien unterscheidet.

6.3 Die dokumentarisch-längsschnittliche Auswertungsstrategie In den letzten Jahren werden in den empirischen Sozialforschungen immer mehr qualitative Längsschnittstudien durchgeführt, die oft mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet werden (vgl. Helsper et al. 2018; Kramer et al. 2013; Krüger et al. 2012; Krüger et al. 2018; Niemann 2015; Petersen et al. 2020; Litau et al. 2015; Wittek et al. 2020). Dem Trend folgend, lässt sich nun auch ein beginnender Diskurs um methodische und forschungspraktische Auseinandersetzungen beobachten (vgl. Dreier 2018 et al.; Kramer 2013; Leinhos et al. 2018a; 2018b; Thiersch 2020). Kramer (2013) etwa arbeitet aus einer verbindenden strukturtheoretischen und wissenssoziologischen Perspektive für die Dokumentarische Methode erstmals Verfahrensschritte einer Längsschnittuntersuchung heraus und plädiert in diesem Zusammenhang für die erhöhte Bedeutung des Einzelfalls. Nohl (2016) beschreibt den Längsschnitt in einem Beitrag als eine Innovation in der Dokumentarischen Methode und zeigt auf der Grundlage von bis dato bereits erarbeiteten Längsschnitttypologien ein verknapptes Verfahrensvorgehen auf. Dreier et al. (2018) diskutieren vornehmlich kritisch die Herausforderungen des Dokumentarischen Längsschnittdesigns, betonen jedoch letztlich trotz der Komplexität eines qualitativ längsschnittlichen Vorgehens die Erträge des Längsschnitts als eine „Synthese der Perspektiven auf den Gegenstand zu den einzelnen Erhebungszeitpunkten, da Zeitlichkeit als Topos dem Zugang eingeschrieben ist und den Gegenstand in raumzeitlicher Perspektive zu erweitern vermag“ (ebd., S. 166). Auch Leinhos et al. (2018a; 2018b) führen nicht nur die Resultate ihrer Längsschnittuntersuchung an, sondern reflektieren zudem methodische und methodologische Schwierigkeiten, wie die Verbindung mehrerer Aggregierungsebenen im Längsschnitt. Eine erste systematische und differenzierte Auseinandersetzung bietet der Band von Thiersch (2020) zur

6.3  Die dokumentarisch-längsschnittliche Auswertungsstrategie

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qualitativen Längsschnittforschung. Er versammelt unterschiedliche methodische und theoretische Perspektiven und forschungspragmatische Erfahrungen im Umgang mit dem qualitativen Längsschnitt. In diesem Zusammenhang sei auf zwei besonders relevante Beiträge aus dem Band hingewiesen: Grimm und Schütt (2020) diskutieren forschungsethische und –praktische Herausforderungen und Probleme qualitativ längsschnittlicher Forschung, wie die Rolle der Forscherinnen und Forscher und das wachsende Vertrauensverhältnis durch die mehrfache Beforschung, aber auch die gesteigerten Anforderungen bezüglich der Anonymität und des Datenschutzes. Ein eigener Beitrag (Lüdemann 2020) sichtet längsschnittliche Typologien und verweist mittels der Kontrastierung verschiedener Studien auf drei übergreifende Aspekte: Multidimensionalität wird im Zusammenhang mit Auswahl- und Relationalisierungsproblemen des Tertium Comparationis thematisiert, Prozessualität spielt hinsichtlich des Erkenntniswerts gegenüber rekonstruktiven Auswertungsverfahren eine Rolle und Finalität wird vor dem Hintergrund der Frage nach dem Ziel einer längsschnittlichen Typenbildung diskutiert. Trotz erster method(olog)ischer, theoretischer und forschungspraktischer Auseinandersetzungen zum qualitativen Längsschnitt, muss die Diskussion in den nächsten Jahren systematisch und reflektiert und insbesondere im Zusammenhang mit der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Forschungspraxis in unterschiedlichen Gegenstandsfeldern weitergeführt werden. Diese längsschnittliche Untersuchung versteht sich als eine Weiterentwicklung bisheriger methodischer Verfahrensweisen, da sie einen alternativen Ansatz verfolgt: Die Längsschnittperspektive wird nicht erst am Ende des Forschungsprozesses – auf Ebene einer Typologisierung – angelegt, sondern bereits von Beginn der Auswertungsphase mitgedacht. Warum ich in diesem Zusammenhang von einem zeitzentrierten oder auch interindividuell kontrastiven Längsschnitt und einem fallzentrierten oder auch intraindividuell kontrastiven Längsschnitt spreche, soll nachfolgend erläutert werden (vgl. 6.3.2). Bevor das explizit längsschnittliche Auswertungsverfahren erläutert wird, muss vorgelagert an dieser Stelle die Dokumentarische Methode in ihren methodischen und methodologischen Grundzügen dargestellt werden.

6.3.1 Die Dokumentarische Methode als übergeordnete Auswertungsinstrumentarium Als grundlegendes Auswertungsverfahren diente die Dokumentarische Methode, die sich in ihren Grundzügen auf die wissenssoziologischen Arbeiten von Karl Mannheim (1964; 1980) und der kritischen Analyse der Ausführungen Harold

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Garfinkels (1967) stützt und seit den 1980er Jahren von Ralf Bohnsack (1989) zu einem forschungspraktischen Analyseinstrument der qualitativen Sozialforschung entwickelt wurde und bis heute einer ständigen kritischen Reflexion und Weiterentwicklung unterliegt (vgl. Bohnsack 2017; B ­ ohnsack/Nentwig-Gesemann/Hoffmann 2018; Nohl 2017). Jüngst wurden von Bohnsack (2017) selbst teilweise bedeutende Grundzüge der Dokumentarischen Methode reformuliert und insbesondere die dokumentarische Bildanalyse weiterentwickelt. Insgesamt werden von Forscherinnen und Forschern, die mit der Dokumentarischen Methode arbeiten, auch je nach dem, was sich im empirischen Material zeigt, unterschiedliche Relevanzen in die forschungsmethodische Umsetzung gelegt. Darüber hinaus gibt es Uneinigkeiten zwischen einzelnen Autorinnen und Autoren bezüglich der Auswertungsstrategien, so dass man nicht sagen kann, dass es die eine Dokumentarische Methode gibt, sondern dass deren methodischen und methodologischen Feinheiten bzw. deren Akzentuierungen durchaus gegenstandsbezogen und auch standortbezogen voneinander differenzieren, was nicht zuletzt auch mit der permanenten Fortentwicklung der Methode zusammenhängt. Während für einige Bildungsforscherinnen und Bildungsforscher etwa die analytischen Begriffe des positiven Gegenhorizontes und des negativen Gegenhorizonten und der der Enaktierung, zwischen denen sich der Orientierungsrahmen aufspannt – wie Bohnsack es in seinen früheren Schriften (vgl. Bohnsack 1989) formuliert –, eine bedeutsame Rolle spielen, wie zum Beispiel in der Längsschnittstudie von Helsper et al. (2014), nehmen diese Analysekategorien für andere Forscherinnen und Forscher eine eher untergeordnete Position ein und auch in jüngeren Darstellungen von Bohnsack (2017) selbst kommen sie in dieser Form nicht mehr vor. Hier wird eher die Relation von Orientierungsrahmen im engeren Sinne und Orientierungsschemata in den Blick genommen, dass sich nach Bohnsack als Ausdruck des Spannungsverhältnisses resp. notorischer Diskrepanz zwischen Norm und Habitus verstehen lässt (ebd., S. 103). Das Forscherteam der Längsschnittstudie zum Berufseinstieg von Lehrerpersonen (KomBest-Studie) folgt beispielsweise neueren Entwicklungen der Dokumentarischen Methode und nutzt dafür das konzeptionelle Schema von Orientierungsrahmen im weiteren Sinne und Orientierungsschemata. Doch ganz unabhängig davon, ob man den früheren oder späteren Schriften von Bohnsack folgt, geht es stets im Sinne einer praxeologischen, wissenssoziologischen Analyseeinstellung um die Annahme impliziter, handlungsleitender Wissensbestände, die eben nicht Gegenstand des Denkens sind, „sondern [wir] in ihnen leben“ (ebd., S. 65). Im Folgenden wird die grobe Architektur der Dokumentarischen Methode dargelegt, also das, was man den Common Sense – dem geteilten Wissen bzw. die

6.3  Die dokumentarisch-längsschnittliche Auswertungsstrategie

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geteilten methodischen methodologischen Prämissen – der Dokumentarischen Methode nennen könnte. An ausgewählten, relevanten Stellen soll Erwähnung finden, inwiefern Bohnsack selbst seine method(olog)ischen Annahmen weiterentwickelt hat. In einem weiteren Schritt dann, wird detailliert auf das längsschnittliche Vorgehen im Rahmen der Dokumentarischen Methode eingegangen und dargelegt, welche spezifischen Analyseinstrumente und -begrifflichkeiten im Fortlauf benutzt werden. Innerhalb der Erziehungs- und Sozialwissenschaften findet die Dokumentarische Methode als Auswertungsstrategie auch neben Längsschnittanalysen ein breites Anwendungsfeld (für die Analyse von Interviews: vgl. Nohl 2017, für die Auswertung von Gruppendiskussionen: vgl. Bohnsack 2010; ­Liebig/Nentwig-Gesemann 2009; Przyborski 2004, für die Interpretation von Bild- und Filmmaterial: vgl. Bohnsack 2017; Bohnsack et al. 2015). Die Dokumentarische Methode ist ein rekonstruktives Auswertungsverfahren. Das bedeutet, dass im Fokus der Interpretation die Rekonstruktion von Lebensorientierungen steht, also die Frage, wie gesellschaftliche Tatsachen hergestellt werden. Sie fragt nicht danach, was Realität an sich ist, sondern danach, wie diese in praktischen Erfahrungszusammenhängen konstruiert wird und bezieht sich folglich auf die einer Praxis zugrundeliegenden Perfomativität. Das inkorporierte Erfahrungswissen bzw. der Habitus als „generative Formel“ (Bourdieu 2013a, S. 729) und damit auch überindividuelle Formel (vgl. Bohnsack 2017) steht im Mittelpunkt der Rekonstruktionsbemühungen. Um einem geeigneten Zugang zur Indexikalität fremder Erfahrungsräume methodisch gerecht zu werden, unterscheidet man in der Dokumentarischen Methode analytisch zwischen dem immanenten und dem dokumentarischen Sinngehalt. Diese, auf Mannheim (1964) zurückzuführende methodologische Leitunterscheidung zweier Sinnebenen, dient der Rekonstruktion von Erfahrungen und Orientierungen von Menschen. Im Grunde geht es darum, zu rekonstruieren, was die Akteure wissen, allerdings nicht detailliert wiedergeben können. Dahinter verbirgt sich die Frage, wie die Akteure soziale Realität herstellen (vgl. Bohnsack 2017). Die Dokumentarische Methode holt dieses stillschweigende Wissen durch die Differenzierung zweier Sinnebenen ein: Während sich der immanente Sinngehalt auf die wörtlichen, expliziten Erfahrungsberichte von Menschen, also dem Common Sense thematischer Gehalte, dem Was bezieht, verweist der dokumentarische Sinngehalt auf den modus operandi, also auf die Konstruktionsweise sozialer Gebilde, dem Wie (vgl. ebd.). Der immanente Sinngehalt wird in einen subjektiv gemeinten intentionalen Ausdruckssinn, wobei es sich um konkrete kommunikative Absichten und Motive beim Erzählen handelt, und in einen Objektsinn, bei dem es sich um eine allgemeinere Bedeutung eines Textinhaltes oder einer Handlung handelt, untergliedert (vgl. Nohl 2017). Ein entscheidendes

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methodologisches Prinzip der Dokumentarischen Methode ist die Einklammerung des Geltungscharakters (vgl. Mannheim 1980; Bohnsack 2017). Das heißt, dass es nicht darum geht, faktisch zu prüfen, ob das Erzählte wahr oder falsch ist; denn es ist ganz unabhängig davon Ausdruck der handlungsleitenden Praxis. Der Wechsel vom Was zum Wie, beziehungsweise der Prozess vom Verstehen zum Interpretieren vollzieht sich dann im Übergang von der immanenten Ebene auf die Ebene des Dokumentensinns. Es geht darum, die geschilderten Erfahrungen als Dokument einer Orientierung entsprechend zu rekonstruieren, also die Herstellungsweise, wie der Text oder die berichtete Handlung konstruiert ist, in den Blick zu nehmen. Das „Wie des Vollzugs“, wie Marotzki es betitelt (1995, S. 118), veranschaulicht Mannheim mit dem bekannten Beispiel des Knotenbindens (1980, S. 73 ff.): Wird ein Schuhknoten gebunden, kann er als solcher eindeutig thematisch identifiziert werden (Objektsinn), während die Intention dahinter – sich die Schuhe zuzubinden – empirisch nicht erfasst, sondern nur unterstellt werden kann (Ausdruckssinn). In der Handlungspraxis liegend, steckt der Dokumentensinn. Dahinter steht in diesem Fall die Frage, wie man einen Knoten knüpft. Dies verbal zu explizieren, fällt enorm schwer und ist genau der Prozess, den es empirisch zu rekonstruieren gilt. Diese auch in der Interpretationspraxis bisher sehr stark leitende Differenz zwischen dem Was und dem Wie bricht Bohnsack (2017) neuerdings ein Stückchen weit auf, wie sich in seiner Auseinandersetzung zum impliziten Wissen, zur propositionalen Logik und zur performativen Logik verdeutlicht. Dass, was Bohnsack mit propositionaler Logik meint, ist nunmehr das kommunikative Wissen und wird von ihm als das Orientierungsschemata bezeichnet. Dass, was er mit performativer Logik meint, ist das konjunktive Wissen bzw. der Modus Operandi der Handlungspraxis und wird von ihm als der Orientierungsrahmen im engeren Sinne bezeichnet (vgl. ebd. S. 103). Damit verschwimmen die zuvor klar voneinander abgesteckten Grenzen vom Was und vom Wie und gewissermaßen auch die Grenzen von konjunktiven und kommunikativen Erfahrungen. Während die konjunktiven Erfahrungen auf einer Ebene der Handlungspraxis intuitiv geschehen und auf einem damit verbundenen atheoretischen Wissen beruhen, beziehen sich kommunikative Erfahrungen auf einer b­egrifflich-theoretischen Explikation von konjunktiven Erkenntnissen und implizitem Wissen (vgl. Nohl 2017; Bohnsack 2017). Das bedeutet, dass der methodische Zugang zum kommunikativen Wissen relativ unproblematisch ist, dieses Wissen kann einfach ab- beziehungsweise nachgefragt werden, wohingegen sich das konjunktive Wissen erst durch die Handlungspraxis erschließt. Es ist eher ein intuitives Wissen, welches auf Gewohnheit und Wiederkehren beruht, also eben nicht auf der Ebene des bewusst Gesprochenen, sondern auf einer impliziten Ebene habituellen Handelns stattfindet (vgl. Bohnsack

6.3  Die dokumentarisch-längsschnittliche Auswertungsstrategie

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1996). Interessant ist nun an der jüngst erschienenen Monographie von Bohnsack (2017), dass er stärker die Verwobenheit von kommunikativen und konjunktiven und von den Analyseperspektiven des Was und des Wie beschreibt und damit die Verflechtung von Habitus und Norm betont. Das habituelle Handeln umfasst nicht nur einzelne Personen, sondern ganze Gruppen, die durch gleichartige Handlungspraxen und Erfahrungen miteinander verbunden sind. Mannheim spricht in diesem Zusammenhang von den „konjunktiven Erfahrungen“ (1980, S. 225). Gemeint sind nicht etwa konkrete, sondern auf eine gewisse Abstraktheit bezogene Gruppen, die an gemeinsamen Handlungspraxen teilhaben und dadurch über gleiche Wissens- und Bedeutungsstrukturen verfügen (vgl. Pryzborski/Wohlrab-Sahr 2014). Diese Erfahrungsräume können beispielsweise geschlechtsspezifisch, institutionenspezifisch, milieuspezifisch, generationsspezifisch sein. Demzufolge hat jedes Subjekt mehrerer solcher Erfahrungszusammenhänge, die sich immer auch überlagern und nur auf einer analytischen Ebene getrennt voneinander betrachtet werden können (vgl. Bohnsack 2017). Die (wenn auch mittlerweile nicht mehr so starke) methodologische Unterscheidung von immanentem und dokumentarischem Sinngehalt schlägt sich innerhalb der Forschungspraxis in einem sequenzanalytischen und rekonstruktiven Interpretationsverfahren nieder. Zunächst erfolgt entsprechend der zuvor eingeteilten Sequenzen eine ausführliche formulierende Interpretation, vorzugsweise in der Sprache der Erforschten; das bedeutet, innerhalb des jeweiligen Kommunikationsund Sinngehaltes des Materials zu bleiben und die zusammenfassenden Formulierungen im Rahmen dessen zu finden (vgl. ebd.). Zum einen geht es bei der formulierenden Interpretation um das Offenlegen der immanenten Sinngehalte, zum anderen geht es darüber hinaus um die begriffliche Erfassung von Themen und Inhalten, die im Material nicht expliziert werden (vgl. Bohnsack 2003). Neuere forschungspragmatische Tendenzen zeigen jedoch, dass der formulierenden Interpretation längst nicht mehr ein allzu großer Stellenwert wie noch vor einigen Jahren zu Beginn der Methodenetablierung eingeräumt wird.2 Meines Erachtens variiert die Bedeutsamkeit der formulierenden Interpretation je nach Standortgebundenheit.

2So

etwa Kramer, der in seinem Vortrag „Habitusanalyse im Längsschnitt, dokumentarische Methode und sequenzanalytische Habitusrekonstruktion“ am 23.04.2015 im Rahmen eines Methodenworkshops der DFG-Forschergruppe 1612 „Mechanismen der Elitebildung im deutschen Bildungssystems“ auf die reduzierte Bedeutung der formulierenden Interpretation verweist.

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6  Methodische und methodologische …

Die daran anschließende reflektierende Interpretation versucht, ­ theoretischbegrifflich das zu fassen, was theoretisch gegeben ist. Hier geht es darum, herauszuarbeiten, auf welche Art und Weise, also Wie ein Thema behandelt wird, um dann den Modus Operandi rekonstruieren zu können. Dieser erfasst, was sich im empirischen Material über die zu Erforschenden hinsichtlich der entsprechenden Forschungsfrage dokumentiert (vgl. Bohnsack/Nohl 2001). Ein möglicher forschungspraktischer Umgang an dieser Stelle ist es, die positiven und negativen Gegenhorizonte sowie Enaktierungen zu identifiziert, zwischen denen sich Orientierungen aufspannen (vgl. Bohnsack 2003; Kramer 2013). Bohnsack grenzt sich jedoch, wie bereits erwähnt, in neueren Arbeiten von einem derartigen Vorgehen ab und zielt nun verstärkt unter anderem auf die Konzeptualisierung des Orientierungsrahmens im weiteren Sinne und des Orientierungsrahmens im engeren Sinne sowie auf die Differenzierung des impliziten Wissens, die durch die analytische Trennung von performativer sowie proponierter Performanz beschrieben wird. Ferner hebt er die bisher strikte Trennung der Analyseebene auf, womit unter anderem auch aus der Textsorte der Beschreibungen ein Zugang zur Handlungspraxis generiert werden kann (vgl. Bohnsack 2017). Ein entscheidender Arbeitsschritt der Dokumentarischen Methode ist die komparative Analyse, also die Explikation des Modus Operandi resp. der Handlungspraxis im empirischen Fallvergleich; der fallintern als auch fallextern sein kann. Die Art und Weise, also Wie etwas bearbeitet wird, lässt sich am besten rekonstruieren, wenn man vergleichbares empirisches Material dagegenhält, in denen dieselben oder auch kontrastiv unterschiedliche Themen behandelt werden. Der Vergleich zu anderen kontrastierenden Modus Operandi dient der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit; denn generell gilt, je mehr Vergleichshorizonte man empirisch fundieren kann, umso methodisch kontrollierbarer wird die gesamte Analyse (vgl. Bohnsack 2007). Die komparative Analyse ist zudem wesentlich für nächsten Arbeitsschritt der Dokumentarischen Methode, der Bildung von Typen. Die Typenbildung ermöglicht eine Ablösung von den Einzelfällen hin zur Ausarbeitung zum Typus. Denn wenn nicht nur ein Fall, sondern in mehreren Fällen ein Problem auf eine ganz bestimmte Art und Weise bearbeitet wird und sich dann der Modus Operandi zudem von kontrastierenden anderen Bearbeitungsweisen derselben Problemstellung unterscheiden lassen, kann man anhand der differenten Modus Operandi bestimmte Typen herausarbeiten (vgl. Nohl 2006). Es gibt zunächst zwei geläufige Arten, eine Typenbildung zu konzeptualisieren: sinngenetisch, d.h. eine

6.3  Die dokumentarisch-längsschnittliche Auswertungsstrategie

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auf die Fragestellung bezogene, und soziogenetisch, d. h. eine auf soziale Kategorisierungen und sozialstrukturelle Merkmale bezogene. Überdies ließe sich eine relationale Typenbildung erarbeiten, die auf die Relationierung typisierter Orientierungen abzielt oder auch ein Mehrebenenvergleich, der verschiedene Ebenen des Sozialen gegenüberstellt (vgl. Nohl 2013). Wie eingangs erwähnt, lässt sich nicht von einer einheitlichen Herangehensweise der Dokumentarischen Methode sprechen, sondern lediglich von geteilten methodologischen Prämissen, die in eine methodische Vielfalt münden. Die vielfältigen Ansätze, die sich unter den Stichworten der rekonstruktiven praxeologischen Wissenssoziologie subsumieren lassen, verdeutlichen nicht zuletzt, wie offen die Dokumentarische Methode gegenüber Weiterentwicklungen und Innovationen ist, wie auch Nohl es formuliert hat (vgl. Nohl 2017). Das Vorhaben, qualitatives Längsschnittmaterial mit der Dokumentarischen Methode auszuwerten, ist, dies zeigt die aktuelle Forschungspraxis (vgl. 2.1), in Gegenstandsfeldern der Bildungsforschung vornehmlich angekommen. Nunmehr ist auch eine entsprechende methodische und methodologische Reflexion angestoßen, in der etwa ein Blick auf derartige Projektzusammenhänge und insbesondere auf die Ergebnisse geworfen wird. Es gibt nicht die Verfahrensweise der qualitativen Längsschnittanalyse mit der Dokumentarischen Methode und auch nicht den Königsweg der Typenbildung, sondern bislang ganz differenzierte Erprobungsstrategien (vgl. ebd.), die meines Erachtens jedoch einen experimentellen Rahmen für die methodische und methodologische Weiterentwicklung eröffnen. Vor diesem Hintergrund und angesichts einer gegenstandsangemessenen Rekonstruktion und Reflexion schlage ich ein Längsschnittvorgehen mit der Dokumentarischen Methode vor, wie es bislang noch nicht explizit erprobt wurde.

6.3.2 Die fallzentrierte Längsschnittanalyse: Zum methodischen Vorgehen Wie bereits erwähnt, ist die qualitative Längsschnittanalyse mit der Dokumentarischen Methode und die Reflexion darüber noch in den Anfängen ihrer Entwicklung (vgl. Thiersch 2020). Dies lässt einerseits Spielraum für Innovatives; anderseits gibt es wenige Bezugspunkte, die ausreichend Orientierung bieten können. Bislang sind derartige Studien im Bereich der Schul- und Bildungsforschung zu verorten (vgl. 2.1). Auch wenn die

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6  Methodische und methodologische …

e­rkenntnistheoretischen Implikationen der Studien auf Ebene des Längsschnitts sehr unterschiedlich sind3, ist es ihr gemeinsames Anliegen, Veränderungen oder Reproduktion a priori und a posteriori in einer vergleichenden Perspektive zu untersuchen (vgl. Kramer 2013; Krüger et al. 2012, Leinhos et al. 2018a, 2018b). Der Längsschnitt wird hier, wie auch Nohl es formuliert, als eine „zusätzliche Vergleichsdimension“ (Nohl 2016, S. 346) am Ende des Forschungsprozesses konzeptualisiert. Auf forschungspraktischer Ebene bedeutet dies, dass die empirischen Materialien verschiedenster Erhebungszeitpunkte zunächst getrennt voneinander analysiert werden, wie Köhler und Thiersch (2013) es betonen, „recht offen […] damit die Analyse des Datenmaterials der zweiten Erhebungswelle nicht durch die Frage nach möglicher Stabilität oder Transformation der Orientierungen vorschnell enggeführt wird“ (ebd., S. 37). Die Querschnittanalysen folgen den methodischen und methodologischen Prämissen der Dokumentarischen Methode, wie etwa dem sequenzanalytischen Vorgehen und dem komparativen Fallvergleich, um den „inkorporierten“ Modus Operandi (Bohnsack 2007; 2010; 2017) rekonstruieren zu können. Ziel der Querschnittanalysen sind jeweils für sich stehende soziogenetische oder relationale Typenbildungen. Die Längsschnittperspektive setzt dann erst auf Ebene der bereits vorher entwickelten Typologien an und verfolgt die Absicht, so formuliert es Nohl, eine „längsschnittlich fundierte, prozessanalytische Typenbildung“ (Nohl 2016, S. 345) zu generieren. In der Forschungspraxis ist diese von Nohl angedachte Prozesstypik um weitere Relationierungen erweitert worden: Wie etwa Krüger und sein Team, die die soziogenetische Einbettung von schulischen und familiaren Bildungsmilieus in die „Längsschnittbasistypologie“ einarbeiten (Krüger et al. 2012, Krüger/Deppe 2014) oder auch Leinhos u. a. mit ihrem Konzept der „mehrebenenrelationierenden Typenbildung“ (Leinhos et al. 2018).

3Nicht zuletzt geht dies mit der „steigende[n] Komplexität“ (Asbrand/Pfaff 2013, S. 4) einer Längsschnittanalyse und der spezifischen Verortung des Gegenstandes in der Typologie einher (vgl. Lüdemann 2020). Die in der Studie „Peergroups und schulische Selektion“ entwickelte Längsschnitttypologie ist beispielsweise dicht an den Gegenstandsfeldern und ihren mannigfaltigen Interdependenzen zu verorten (vgl. Krüger et al. 2012; Lüdemann 2020). Während im Gegensatz dazu andere Typologien vornehmlich Veränderungen in den Fokus stellen und scheinbar den Gegenstand verloren haben (vgl. Dreier et al. 2017; Lüdemann 2020).

6.3  Die dokumentarisch-längsschnittliche Auswertungsstrategie

103

Während ein derartiges methodisches Vorgehen Prozessualität subsumtionslogisch erst am Ende des Forschungsprozesses konzipiert, plädiere ich dafür, den Längsschnitt und seine Entwicklungsperspektive von Anfang an mit zu konzeptualisieren. Das bedeutet, den Fall als Ganzen in seiner biographischen Entwicklung zu betrachten und nicht den Fall in drei unabhängig voneinander stehenden Beharrungsmomenten zu untergliedern, die dann erst fallübergreifend auf einer abstrakten Ebene der Typenbildung zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die folgenden Abbildungen (Abb. 6.1 und 6.2) verdeutlichen den expliziten Unterschied des methodischen Vorgehens, wie es grundlegend bisher verfolgt (Abb. 6.1) und, wie es für diese Untersuchung durchgeführt wurde (Abb. 6.2). Beiden Grafiken liegt zu Grunde, dass für jeden Fall jeweils drei Interviews zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben wurden. Das methodische Vorgehen, welches in Abb. 6.1 aufgezeigt ist, teilt den Fall 1 in drei verschiedene zeitliche Momente ein, die auf Fallebene keinerlei Berührungen miteinander haben. So funktioniert die komparative Analyse nur fallübergreifend innerhalb der unterschiedlichen Zeitpunkte der Erhebung. Das Interview von Fall 1 zu Zeitpunkt 1 wird nicht in der Analyse des Interviews von Fall 1 zu Zeitpunkt 2 berücksichtigt usw., was vor dem Hintergrund der Prämisse der Offenheit qualitativer Forschung problematisch erscheint, da ein Unwissen bezüglich des Falls bei den Folgeanalysen inszeniert wird (vgl. Dreier et al. 2018; Thiersch 2020). Bei einem derartigen forschungsmethodischen Vorgehen ist die Falllogik der Zeitlogik untergeordnet. Die Auswertung und insbesondere die Kontrastierung, so ließe sich resümieren, folgt einer zeitlichen und interindividuellen Folgerichtigkeit4.

4Die

Verwendung der Begrifflichkeiten inter- und intraindividuell ist gewissermaßen auf Prof. Jochen Kade zurückzuführen, der bei einem Workshop zum Thema Längsschnitt am 22./23.10.2018, organisiert von der FOR1612 im Zentrum für Schul- und Bildungsforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, diese im Rahmen einer längsschnittlichen Fallinterpretation anwandte. Allerdings – und dies verdeutlicht sich in einer aktuellen Publikation (vgl. Kade 2020) – werden die Begrifflichkeiten von Kade anders als in diesem Zusammenhang verwendet: Die interindividuelle Perspektive ist bei Kade (ebd.) die Bildungsbiographie im Zeitverlauf und die intraindividuelle Perspektive entspricht der Bildungsgestalt (ebd., S. 32).

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6  Methodische und methodologische …

Abb. 6.1   Zeitzentriertes (interindividuelles) Längsschnittdesign

Exemplarisch für ein zeitzentriertes und interindividuelles Längsschnittdesign lassen sich die Längsschnittstudien von Krüger et al. (2012; 2018) anführen, die sich zunächst auf die Auswertung im Querschnitt konzentrieren und erst abschließend vergleichend über die Querebenen hinweg eine Längsschnittperspektive unter dem Fokus von Veränderungen und Beharrungen anlegen (vgl. 2.1). Dass die Falllogik in den Hintergrund tritt, zeigt sich in zugespitzter Form auch bei Leinhos et al. (2018b), die für ihre mehrebenenrelationierende Typenbildung beschreiben, dass bei möglich auftretender Panelmortalität ein neuer Fall in die Systematik eingeordnet werden kann.

6.3  Die dokumentarisch-längsschnittliche Auswertungsstrategie

105

Abb. 6.2   Fallzentriertes (intraindividuelles) Längsschnittdesign

Das methodische Vorgehen, welches in Abb. 6.2 dargestellt ist, folgt im Gegensatz dazu einer fallorientierten und intraindividuellen Folgerichtigkeit, die den Fall in seiner Ganzheit zu analysieren vermag. Die Vergleichsdimension ist eben nicht das Zeitliche, sondern der Fall an sich. Die komparative Analyse erfolgt dementsprechend zunächst fallintern und eine mögliche Typenbildung entlang der Fälle in ihrer Komplexität. Der entscheidende Unterschied einer zeitzentrierten oder interindividuell kontrastiven und fallzentrierten oder intraindividuell kontrastiven Längsschnittanalyse liegt in der Herstellung der Ergebnisse. Während der zeitzentrierte oder interindividuell kontrastive Längsschnitt eine typenvergleichende Perspektive einnimmt, geraten im fallzentrierten oder intraindividuell kontrastiven Längsschnitt Verläufe und Entwicklungen der Einzelfälle in den Blick. Mit dieser Differenzierung soll betont werden, dass je nach Erkenntnisinteresse und theoretischer Verortung beide Formen des Längsschnitts ihre Berechtigung haben. Für mein Forschungsinteresse verfolge ich eine fallzentrierte oder intraindividuell kontrastive Längsschnittanalyse anhand vier Fälle, von denen

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6  Methodische und methodologische …

mir jeweils drei biographisch-narrative Interviews vorliegen. Auf Grundlage der Transkripte wurden die Interviews teilweise in Gruppen, teilweise alleine interpretiert. Zumindest wurden die Eingangserzählungen, da ihnen eine besondere Bedeutung innerhalb des Interviews zukommt (vgl. Nohl 2012), in Interpretationsgruppen analysiert; weitere thematisch relevante Passagen wurden weitgehend selbst interpretiert. Zu der Auswertung muss erwähnt werden, dass sie erst begann, als alle Interviews erhoben waren. Das ist ein großer Vorteil, der lediglich auf Grund der engen Zusammenarbeit mit dem Forschungsprojekt „Exklusive Bildungskarrieren von Jugendlichen und der Stellenwert von Peerkulturen“ und auf den Rückgriff auf das empirische Material beruht. Ansonsten lässt sich bei Längsschnittprojekten von einer relativ hohen Panelmortalität ausgehen (vgl. Leinhos et al. 2018a). Man ist immer der Gefahr ausgesetzt, dass einen die Fälle wegbrechen. Die Panelpflege ist eine der größten Herausforderungen für qualitative Längsschnittuntersuchungen (vgl. Grimm/Schütt 2020). Einzig durch die enge Projektanbindung war es mir möglich, einen Forschungszeitraum von sechs Jahren in den Blick zu nehmen. Forschungspraktisch ist ein solch langer Erhebungszeitraum im Rahmen von Qualifikationsarbeiten sonst wohl kaum umsetzbar. Auf der Grundlage der versammelten Interviewvolltranskripte begann die Auswertungsphase: Zunächst wurde in Anlehnung an Rosenthal (1995) für jeden Fall ein Gerüst der biographisch relevanten Daten erstellt und in einem Zeitstrahl festgehalten. Für das zuerst geführte Interview ergibt sich entsprechend dem Eingangsstimulus eine mögliche Zeitspanne von der Geburt bis zum 16./17. Lebensjahr. Die Interviews der zweiten und dritten Erhebungsphase setzten dann mit ihren Eingangsstimuli genau an die Zeit des letzten Interviews an, so dass der Zeitstrahl jeweils fortgeführt werden kann. Allein das biographische Gesamtbild, welches sich durch eine derartige Zusammenstellung formt, ermöglicht eine erste – nur auf Faktenebene – Kontrastierung der Fälle. Diese Rekonstruktion der Erfahrungsaufschichtung im Zeitlichen beruht auf der formulierenden Ebene und beschreibt weitgehend das „Was“ der Lebensgeschichte, wobei eine derartige Zusammenstellung der biographischen Daten und Fakten eine Konstruktion der Zusammenhänge auf zweiter Ebene darstellt. Die Konstruktion der ersten Ebene stellt die der Interviewten dar und die Konstruktion zweiter Ebene die unvermeidlich lineare Auflistung der Forschenden. Der Zeitstrahl erweist sich in der Forschungspraxis als sehr hilfreich, da biographische Informationen aus insgesamt drei Interviews berücksichtigt werden müssen. Erst in einem zweiten Schritt, auf der Grundlage des Wissens um die biographischen Daten und Fakten, über die in allen drei Interviews berichtet

6.3  Die dokumentarisch-längsschnittliche Auswertungsstrategie

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wurden, erfolgt der Einstieg in die reflektierende Interpretation, die von Beginn an kontrastiv ist. Das heißt, dass die Eingangssequenzen sowie weitere thematisch relevante Stellen des ersten, zweiten und dritten Interviews im Verhältnis zueinander interpretiert wurden. Der fallimmanente (interindividuelle) komparative Vergleich ist elementarer und strukturierender Bestandteil der Fallinterpretation. Darüber hinaus wurden, wie es in den Prämissen der Dokumentarischen Methode angelegt ist, komparative Vergleiche zwischen den Fällen (fallexmanent bzw. interindividuell) hergestellt. Der interpretative Auswertungsprozess ist iterativ und dynamisch angelegt; das bedeutet, dass immer wieder innerhalb der Interviews eines Falls Vor- und Rückbezüge hergestellt werden. Das ist ein entscheidender Unterschied zu bisherigen längsschnittlichen Auswertungsverfahren (vgl. 2.1), in denen die Ergebnisse der einzelnen Interviews für sich als abgeschlossen galten und weitgehend in den Interpretationen keine Bezüge zwischen den Interviews eines Falls hergestellt wurden. Die Interpretationen werden in dieser Studie kaleidoskopartig zusammengeführt und verstehen sich nicht als abgeschlossene, feststehende biographische Formation, sondern als sich entwickelnde Gebilde, so dass nie seine vollkommene Abgeschlossenheit erreicht wird. Die Rekonstruktionsergebnisse zeigen lediglich einen beharrlichen Moment, ein Stillgestelltsein in der Vielfältigkeit der Bilder der Biographie bzw. des membranen biographischen Rahmens. Entsprechend diesen zwei geteilten methodischen Vorgehen sind auch die Fallverlaufsporträts aufgebaut, die im nachfolgenden Kapitel (vgl. 7) in komprimierter Form zu lesen sind. Der erste Teil stellt die erzählten biographischen Daten und Fakten, über die in allen drei Interviews berichtet wurde, in chronologischer Reihenfolge dar. Der zweite Teil stellt die Rekonstruktionsergebnisse dar und zeigt auf, erstens welchen biographischen Stellenwert der Tanz für die jeweiligen Fälle hat, also welche Relevanz die feldspezifische Orientierungsfigur für den biographischen Rahmen hat und zweitens, was sich vom Modus Operandi der Handlungspraxis im Feld der Tanzkunst dokumentiert und letztlich auch, wie dies miteinander zusammenhängt. Der Modus Operandi oder auch der individuelle Habitus ist Ausdruckgestalt eines gewordenen und werdenden Individuums durch ein komplexes Zusammenspiel von biographischen Erfahrungen in verschiedensten konjunktiven Erfahrungsräumen (vgl. Bohnsack 2017). Dem Erkenntnisinteresse entsprechend rückt der Modus Operandi der Handlungspraxis im Feld der Tanzkunst in den Fokus resp. der Habitus, der für den Erfahrungsraum Tanz von Bedeutung ist.

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6  Methodische und methodologische …

Lebensgeschichtlich wird dieser feldspezifische Habitus bereits früh entwickelt, oftmals parallel zu der primären Sozialisation im familiären Raum. Er wird im Sinne einer praxeologischen Wissenssoziologie verhandelt und kann auch weitgehend synonym zum Orientierungs(-rahmen-)konzept (vgl. Bohnsack 1996) und dem neueren Konzept des Orientierungsrahmens im engeren Sinne verstanden werden (vgl. Bohnsack 2017). Ich knüpfe für diese Untersuchung an die neuere konzeptionelle Rahmung an. Bohnsacks (ebd.) Weiterentwicklungen der Dokumentarischen Methode und ihrer wissenssoziologischen Grundlagentheorie bieten ein der Fragestellung angemessenes Analyseinstrument, da es einerseits die normativen Anforderungen des konjunktiven Erfahrungsraums und den entsprechenden Modus Operandi der Handlungspraxis berücksichtigt und anderseits das Verhältnis zwischen Norm und Habitus in den Blick nimmt, was für diese Untersuchung maßgeblich ist für die Beantwortung der Frage, wie die Jugendlichen und jungen Erwachsenen ihren Weg hin zur professionellen Tänzerin und zum professionellen Tänzer bewältigen.

Abbildung 6.3   Orientierungsrahmen. (Nach Bohnsack 2017, S. 203)

6.3  Die dokumentarisch-längsschnittliche Auswertungsstrategie

109

Wie auf der Abbildung (vgl. Abb. 6.3) zu sehen, stellt der Orientierungsrahmen im weiteren Sinne den konjunktiven Erfahrungsraum dar. In diesem Fall ist dies das Feld der Tanzkunst, welches ich mir mit Bourdieu (2016) theoretisch erschlossen habe (vgl. 3.1). Darin spannt sich der Orientierungsrahmen im engeren Sinne auf, der den Modus Operandi resp. den Habitus bezeichnet, und den normativen Handlungserwartungen, die von den Individuen zwar auf der kommunikativ-wissensvermittelnden Ebene („Was“) scheinbar gleichermaßen verfügbar sind, diese jedoch je nach Habitus sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Auf der Grundlage struktureller und kontextueller Rahmenbedingungen einer Tanzausbildung in Deutschland (vgl. 3.2) sowie themenrelevanter Inhalte aus den Interviews mit den angehenden Tänzerinnen und Tänzern erschließe ich mir die normativen Anforderungen im Feld der Tanzkunst (vgl. 8.1.2). In der Überlappung zwischen Norm und Habitus ergibt sich letztlich ein ­(Spannungs-) Verhältnis, welches aufzeigt, wie die Normen und Anforderungen individuell wahrgenommen und vor dem Hintergrund des Habitus bewältigt werden. Dieser konzeptionelle Rahmen soll nach der Darstellung der Fallverlaufsportraits, die nun zunächst folgen, erneut aufgegriffen und mit den Rekonstruktionsergebnissen gefüllt werden.

7

Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits

In diesem Kapitel werden nun systematisiert die Rekonstruktionsergebnisse dargelegt. Dies erfolgt für jeden Fall in einem Dreischritt: Zunächst werden in einem ersten Schritt die biographisch relevanten Daten und Fakten chronologisch sortiert. Das, was die Jugendlichen und dann jungen Erwachsenen in den mit ihnen insgesamt drei geführten Interviews erzählt haben, wird entlang eines Zeitstrahls sortiert. Auf dieser Ebene wird weitestgehend auf die Reflektierende Interpretation der Daten und Fakten verzichtet. Hier verbleibe ich auf der Ebene der Formulierenden Interpretation, wenngleich die chronologische Sortierung durchaus einem interpretativen Verfahren erster Ordnung gleichkommt. Es geht jedoch an dieser Stelle um die Systematisierung des „Was“ und nicht um die Rekonstruktion des „Wie“. Auf dieser Grundlage wird in einem zweiten Schritt aufgezeigt, welchen Stellenwert bzw. welche Relevanz der Tanz in den Biographien der Tänzerinnen und Tänzer einnimmt. Erst in einem dritten Schritt werden die Modi Operandi, die sich im Feld der Tanzkunst als relevant zeigen, dargelegt. Damit ist klar, dass ich eine Facette des Habitus oder des Modus Operandi rekonstruiere und nicht den Anspruch erhebe, die Vielfältigkeit, Zerrissenheit und Allumfasstheit dessen herausarbeiten zu können. Mit Blick auf das Feld der Tanzkunst rekonstruiere ich den spezifisch in diesem Feld wirksam werdenden Aspekt des Habitus. In den folgenden Falldarstellungen werde ich die Formulierung Orientierung an benutzen, womit ich das meine, was im Orientierungsrahmen im engeren Sinne vor dem Hintergrund des Feldes der Tanzkunst aufgehoben ist. Die Fallverlaufsportraits sind auf mein Erkenntnisinteresse zugespitzt ausformuliert. Eine Folge dessen ist die ungleichmäßige Textdichte; so ist das Portrait von Julian verhältnismäßig ausgedehnter, was sich dadurch begründet, dass er in den Interviews noch viel ausgiebiger über Tanz und über sich als Tänzer erzählt. Freya © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lüdemann, Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer, Studien zur Schul- und Bildungsforschung 84, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31344-9_7

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7  Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits

hingegen beschränkt sich in ihren Ausführungen oftmals auf das Wesentliche. Dementsprechend ist auch das Fallverlaufsportrait knapper. Ferner habe ich mich dafür entschieden, die Begrifflichkeiten der Dokumentarischen Methode zu Gunsten der besseren Lesbarkeit möglichst zu reduzieren1. Damit ist zudem klar, dass es sich bei dem Folgenden um Falldarstellungen handelt, die dazu dienen sollen, die Fälle vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses und dem theoretischen Gerüst, nachvollziehbar darzulegen. Der gewählte Dreierschritt entspricht einer Darstellungslogik und nicht explizit dem methodischen Vorgehen (vgl. 6.3). Julian und Freya, als diejenigen die tatsächlich in den Beruf der professionellen Bühnentänzerin und des professionellen Bühnentänzers einmünden, werden zu Beginn porträtiert; gefolgt von Elias und Maria, eine Tänzerin und ein Tänzer, die aus dem Feld der professionellen Tanzkunst aussteigen.

7.1 Julian Hendrick: „ich war immer der Tänzer“ Julian wurde das erste Mal im April 2012, das zweite Mal knapp anderthalb Jahre später, im September 2013, und das dritte Mal, etwas über zweieinhalb Jahre später, im Mai 2016, interviewt. Das erste Interview In dem ersten Interview knüpft Julian problemlos an den Eingangsstimulus an und erzählt, von einer „wunderschönen Kindheit“ in einem großen Dorfkontext mit vielen Bekanntschaften und Festen sowie Gelegenheiten, zu denen sich alle treffen. Seine Familie beschreibt er als sportlich. Während sein Vater und sein Zwillingsbruder aktiv Fußball spielen, stellt er seine Mutter und sich als tänzerisch aktiv dar. Bereits in jungen Jahren tritt Julian zwei Sportvereinen bei. Mit vier Jahren beginnt er mit Fußball, kurz danach ist er zudem im Tennisverein. Mit fünf Jahren beginnt er zusätzlich mit Kindertanz. Seine Großeltern haben ihn auf die Tanzschule aufmerksam gemacht. Sie selbst haben damals einen Tanzkurs dort absolviert und dachten, dass das was für Julian sein könnte. Fußball und Tennis spielt Julian insgesamt sechs Jahre. Er hört damit auf, weil es ihm

1In

den Fallstudien, die auf der Grundlage der Interpretationsprotokolle angefertigt wurden, wird wesentlich stärker mit den Begrifflichkeiten der Dokumentarischen Methode und insbesondere mit der Textsortentrennung gearbeitet. Die Fallverlaufsportraits sind im Gegensatz dazu bereits eine zugespitzte Form der Abstraktion.

7.1  Julian Hendrick: „ich war immer der Tänzer“

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keinen so großen Spaß bereitet; im Gegensatz zum Tanzen, da „hängt [s]ein Herz dran“. Mit 12 Jahren tanzt Julian in einer Show-Dance Gruppe, mit 13 als damals jüngster Tänzer in einer vom tänzerischen Niveau her höheren Gruppierung. Er erreicht mit seinen Show-Dance Gruppen stets Top-Platzierungen auf Meisterschaften und wirkt auch an tänzerischen Großproduktionen mit, in denen verschiedenste Tanzstile aufgeführt werden. Julian ist schon immer ein guter Schüler mit Noten im Einserbereich. Er wechselt nach der Grundschule auf ein städtisches Gymnasium und verbringt dort die Klassenstufen fünf bis sieben. Diese Zeit ist für Julian krisenbehaftet. Er wird als „schwuler Tänzer“ abgestempelt, erzählt von Ausgrenzungserfahrungen und von dem „großen Problem [s]einer Kindheit“. Mit ungefähr vierzehn oder fünfzehn Jahren, als Julian noch in der Show-Dance-Formation tanzt, erfährt er von einer Freundin von einer anderen Tanzschule, in der Ballett unterrichtet wird. Julian lässt sich zu einem Probetraining überreden. Die Tanzlehrerin ist sofort begeistert von Julians tänzerischen Fähigkeiten und großem Talent und bietet ihm an, er könne kostenlos an dem Tanzunterricht teilnehmen. Julian ist begeistert von der Professionalität der Lehrerin und davon, dass er dort viel lernen und sich weiterentwickeln kann. Während er die Show-Dance Gruppe mit „Austoben und Abzappeln“ assoziiert, verbindet er mit dem Ballettunterricht Ernsthaftigkeit. Es kommt zu einem Zwist zwischen Julian und der Tanzlehrerin der Show-Dance Gruppe. Sie will nicht, dass Julian noch woanders tanzt; sie macht Julian Vorwürfe und schikaniert ihn vor den anderen Tänzerinnen und Tänzern der Gruppe. Julian trifft eine Entscheidung: Er verabschiedet sich von seiner Show-Dance Gruppe und steigt intensiv in das Balletttraining ein. Nebenher sucht er sich eine andere Show-Dance-Formation, in der er an den Choreographien mitwirkt. Unter anderem gewinnt er mit dieser Formation die Deutschen Meisterschaften. In der 7. Klasse hat Julian davon „Wind bekommen“, dass es eine Schule gibt, in der man Tanzen als Abiturfach belegen kann. Er ist sofort begeistert von der Idee; findet es „der Hammer“. Mit seiner Mutter geht er zu der Aufnahmeprüfung, besteht diese mit großem Erfolg und ist „überglücklich“, weil damit „der erste Schritt zum Tänzer werden“ gemacht ist. Er kann nun verwirklichen, was „immer so =  n Traum war“. Zur 8. Klasse wechselt Julian auf das Gymnasium mit spezifischen Tanzprofil und pendelt jetzt täglich anderthalb Stunden von zu Hause zur Schule und wieder zurück. Sofort findet er freundschaftlichen Anschluss zu den anderen Tänzerinnen und Tänzern der Schule und kann sich dort vollends entfalten. Er fühlt sich nicht mehr missverstanden, wird nicht mehr von Mitschülerinnen und Mitschülern schikaniert und kann sein Tänzerdasein unbeschämt ausleben. Niemand bezeichnet ihn als schwulen Tänzer oder redet schlecht hinter seinem Rücken über ihn. Für seine tänzerischen Leistungen

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7  Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits

bekommt Julian große Anerkennung. Obwohl er zunächst den „Spaß am Tanzen“ an der Schule „erst wiederfinden“ musste, findet er sich passförmig in die schulischen und tänzerischen Strukturen ein. Zum Zeitpunkt des ersten Interviews ist Julian ein halbes Jahr auf der Schule. Zukünftig geht es dort für ihn, so sagt er, „bergauf auf jeden Fall“. Er will Tanz als Leistungskurs belegen und ins Tanzinternat ziehen. Sein Traum ist es, Tänzer zu werden. Alternativ könnte er sich vorstellen, sich in die Richtung Eventmanagement, Tourismus oder Kultur zu orientieren, möglicherweise auch ins Ausland zu gehen. Das zweite Interview In den Sommerferien 2012 arbeitet Julian, um sich Geld dazu zu verdienen, auf einem Bauernhof. Generell berichtet er von kleineren Jobs, wie Tanzworkshops, die er an Wochenenden gibt. Im November 2012 zieht Julian in das Tanzinternat. Der Umzug hat enorme Auswirkungen auf seinen Tanzalltag. Während er zuvor immer auf die Abfahrtzeiten der Bahn angewiesen und deshalb „bisschen blockiert war“, kann er sich jetzt „fallen lassen“, vor allem im Tanztraining. In den weiteren anderthalb Jahren auf der Schule erzielt Julian große tänzerische Erfolge. Er wird ausgewählt, an einem internationalen Tanzwettbewerb als Vertreter des Tanzhauses der Schule teilzunehmen. Er hat neben der Schule und dem eigentlichen Tanzunterricht zahlreiche Extraproben und durchlebt in dieser Phase „Hochs und Tiefs“. Er will niemanden enttäuschen, denn schließlich hegen alle um ihn herum große Hoffnung auf eine erfolgreiche Teilnahme. Nicht zuletzt deshalb arbeitet er hart an sich. Tatsächlich kann er auf dem weltweit medial beachteten Wettbewerb den zweiten Platz belegen. Dieser beachtliche und vor allem für jedermann sichtbare Erfolg bringt Julian große Anerkennung als Tänzer. Selbst diejenigen, die sich in seiner Kindheit über seine Leidenschaft zum Tanz lustig gemacht haben, gratulieren ihm zu seiner Leistung. Daneben ist Julian in diesen anderthalb Jahren an zahlreichen weiteren Aufführungen und Galas als Tänzer beteiligt. Er strebt nach wie vor an, Tänzer zu werden. Nach dem Abitur möchte er ein Tanzstudium absolvieren. Alternativ möchte er etwas Kreatives oder etwas mit Menschen machen. Das dritte Interview Zwischen dem zweiten und dem dritten Interview sind knapp zweieinhalb Jahre vergangen und Julian merkt an, dass sich „so so viel verändert“ hat, dass es sich „fast gar nicht in Worte […] fassen“ lässt. Auf dem Gymnasium mit tänzerischem Profil kann Julian an seine bisherigen Erfolge anknüpfen. Er nimmt an mehreren Tanzwettbewerben teil und belegt stets Topplatzierungen. Vor der Abiturendphase arbeitet Julian in den Ferien als choreographischer Assistent im Theaterhaus und

7.1  Julian Hendrick: „ich war immer der Tänzer“

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bekommt so Einblicke in organisatorische Abläufe und Strukturen. In dieser Zeit verletzt er sich zudem am Fuß und kann kurze Zeit nicht mittrainieren. Er beendet ungefähr in dieser Zeit seine Beziehung zu einer jungen Frau, verliebt sich in einen jungen Tänzer und outet sich als bisexuell. Sein Abitur absolviert er mit einer Durchschnittsnote von 1,6. Bereits während der schulischen Abschlussphase bewirbt er sich an drei Tanzhochschulen, kann dort an den Auditions teilnehmen und bekommt Zusagen von allen drei Institutionen. Er entscheidet sich „aus dem Bauch heraus“ für eine namhafte Tanzhochschule in Ostdeutschland. Nach den Auditions wird Julian das erste Mal an der Hüfte, die sich bereits zu stark abgenutzt hatte, operiert. Er zieht in die Stadt, in der er seine Tanzvollausbildung absolvieren wird. Geographisch gesehen, befindet sie sich im Verhältnis zu seinem Heimatort am anderen Ende von Deutschland. Er nimmt sich zusammen mit Freya (vgl. 7.2), einer befreundeten Tänzerin, die er aus seiner Schulzeit kennt und auch an der Tanzhochschule studieren wird, eine kleine Wohnung. Julian beginnt das Tanzstudium und kann zunächst nicht mittrainieren, da er kurz vor Beginn des Studiums noch ein zweites Mal an der Hüfte operiert wurde. Diese Situation ist sehr „frustrierend“ für ihn. Doch die Heilung verläuft problemlos und Julian kann schon bald wieder mittrainieren. Er nimmt an etwaigen Workshops, Auftritten, Tanzprojekten, Sommerkursen und Kooperationen teil und bekommt von dem Direktor der Tanzhochschule ein Stipendium angeboten. Er als Tanzstudent soll die Institution repräsentieren und das Aushängeschild der Tanzabteilung der Hochschule werden. Julian erhält eine Begabtenförderung; extra für ihn werden namhafte Choreographen eingeladen und Extratrainings organisiert. Als er im vierten Semester ist, tanzt er auf einer in der Tanzwelt sehr angesehenen Gala und wird von einem bekannten Choreographen gesehen. Dieser will ihn unbedingt und sofort für seine Company haben. Er lädt Julian zu einem Probetraining ein und dieser ist begeistert. Julian ist allerdings hin und her gerissen, da er ja noch nicht einmal sein Tanzstudium beendet hat. Dennoch ergreift er die Chance und unterschreibt einen Arbeitsvertrag für die nächsten zwei Jahre. Zukünftig erwartet Julian eine Anstellung als professioneller Bühnentänzer in einer namhaften deutschen Company; in nur drei Monaten wird er sich dieser neuen Herausforderung stellen. Bis dahin muss er umziehen und das vierte Semester beenden. Er plant, trotz Vollzeitbeschäftigung als professioneller Bühnentänzer, sein Studium zu beenden. Zum Zeitpunkt des dritten Interviews ist er gerade mitten in der Planungs- und Aushandlungsphase diesbezüglich mit der Hochschule. Julian will zukünftig als professioneller Berufstänzer tätig sein. Falls er sich erneut verletzen sollte und nicht weiter tanzen könnte, würde er einen Masterstudiengang im Bereich Tanz absolvieren.

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7  Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits

Anmerkung Im Januar 2019 führte ich für das rahmende Forschungsprojekt (vgl. 6) ein weiteres, viertes Interview mit Julian. Zu diesem Zeitpunkt tanzt Julian in der besagten namhaften Company und hat es geschafft, nebenbei sein Studium – er betont, als einer der Besten – zu beenden. Zusammen mit seinem Partner lebt er in einer deutschen Großstadt. Julian berichtet von den harten Anforderungen als Tänzer in der Company, davon, dass zwar die Tänzerinnen und Tänzer zusammenhalten, die Zusammenarbeit mit dem Choreographen jedoch äußerst strapaziös sei. Er hat mit der Company Gastauftritte in der ganzen Welt und genießt den internationalen, modernen Lifestyle. Er postet regelmäßig von sich selbst inszenierte Selbstbildnisse auf Instagram. Den ganzen „Psychoterror“ in der Company hält er aber bestimmt nicht mehr länger als die nächsten zwei Jahre aus, so resümiert Julian. Dann will er sich beruflich umorientieren. Er will zwar in der Branche bleiben, aber nicht mehr als Tänzer tätig sein. Überdies hat er angefangen, zu malen. Er hat mir ein Bild gezeigt: Ein kleinformatiges Leinwandbild, auf dem ein Kopf eines Indianers mit aufwendiger Federhaube zu sehen ist. Es gefällt mir und soweit ich das beurteilen kann, sieht es ­zeichnerisch-technisch versiert aus. Einige seiner Bilder hat er bereits verkauft und bis zu 300 € dafür bekommen. Von einem befreundeten Künstler seiner Eltern wird ihm Talent zugesprochen. Darüber hinaus entspannt er sich viel in seiner wenigen freien Zeit; insbesondere vor dem Hintergrund der harten körperlichen Anstrengungen. Er gelangt oftmals körperlich und seelisch an seine Grenzen, hat aber gelernt, damit umzugehen und die Belastungen bewusst auszugleichen. Als ich Julian im Januar 2020 auf einer Premierenvorstellung seiner Company begegne, berichtet er mir, dass er nun angefangen hat, einen berufsbegleitenden Master in Arts and Cultural Management zu studieren. Er meint, es sei viel anstrengender als gedacht, aber eine „schöne Challenge“.

7.1.1 Der biographische Stellenwert des Tanzes Mit fünf Jahren beginnt Julian mit dem Kindertanz. Zeitgleich spielt er Fußball und Tennis im Verein. Während er von seiner Zeit beim Fußballverein über vorwiegend negative Assoziationen berichtet: „war mir immer zu kalt aufn Platz ­// hm-hm// oder soJ oder ich hab ähm kein Bock gehabt auf Asche zu (.) zockn, // hm// und dann war Regn“, beschreibt er den Kindertanz als inspirierend und reizvoll: „wo man erstma ähm sein Körper kenngelernt hat und sch- spielerisch irgndwie was gemacht hat, und ähm […] halt die Lust, an Bewegung //hm// son

7.1  Julian Hendrick: „ich war immer der Tänzer“

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bisschn nah gebracht wurde (.) dann ähm (.) ja gabs immer Auftritte, un das (.) das war halt auf ner großn Bühne stehn, (.) mit Licht, und mit (.) Show, und da ähm das hatte immer das hat schon immer gereizt“. Die Erfahrungen beim Kindertanz und beim Fußball stehen im maximalen Kontrast zueinander und führen letztlich dazu, dass Julian nur noch deutlicher weiß, was ihm vorher schon implizit zugänglich war: „es wurd eim immer bewusster so (.) ähm was //hm-hm// man, (.) lieber mag un wo wo sein Herz hängt, und (.) //hm// ähm (.) womit man auch in Verbindung gebracht wird“. Als naturwüchsig und angeboren wird die Passion zum Tanz von Julian dargestellt. Die Zeit im Fußball- und Tennisverein werden als Irrwege verhandelt, die ihn letztlich nur darin bestärkt haben, herauszufinden, dass er sich unverkennbar mit dem Tanzen identifizieren kann: „Ich war immer der Tänzer; (.) ähm und, (.) ja das war halt immer mein Ding“. Julian erzählt über alle drei Erhebungszeiträume hinweg eine steile Aufstiegsgeschichte im Tanz, deren Beginn jedoch eher von Unsicherheiten und Ängsten gekennzeichnet ist. Er beschreibt sich als einen guten Tänzer, der gefördert wird und bereits in jüngeren Jahren in Gruppen mittanzen darf, die älter und erfahrener sind als er selbst: „dass man mehr in Richtung der ähm (.) der Gutn eingeordnet wurde“. Trotz der großen Ehre die Julian entgegen gebracht wird, in dem man ihm mehr zutraut, als den Tänzerinnen und Tänzern seiner Altersgruppe, macht ihm das höhere Niveau der Tanzgruppen Angst: „wurde auch schon vorher mal gefragt, (.) //hm-hm// ob ich mit ähm mit (.) den großn Jungs ma n Stück machn will für ne Show un da war ich total perplex und hab gesagt nein nein ich will da nich hin, und (.) die sind so alt und so groß und, (.) ich weiß nich, und //hm// nee hab nen da gabs schon, (.) weiß ich nich (.) Heulkrämpfe und (.) ähm ja da hab ich mich irgnwie total angestellt (.) weil ich nich da nich mitmachn wollte“.

Hier verdeutlichen sich gewisse Zweifel in Bezug auf die tänzerischen Fähigkeiten, die allerdings eher mit der altersbedingten tänzerischen Entwicklung zu begründen sind, als mit grundsätzlichen Zweifeln an ihm selbst. Dennoch kann Julian mit den älteren und größeren Jungs mithalten und betont immer wieder, dass er innerhalb der Gruppe „mit einer der Bestn“ und „auf jedn Fall der Jüngste“ ist. Mit der Tanzgruppe, die dem Show-Dance zu zuordnen ist, tanzt Julian auf Wettbewerben unter anderem auch auf der Deutschen Meisterschaft und erreicht Topplatzierungen. Immer wieder betont er den Spaß an der Sache und verdeutlicht seine Weiterentwicklung und seinen Willen, durch seine Fähigkeiten zu wachsen:

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7  Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits

„hat mich das aber trotzdem alles rundherum (.) mitgerissn weil das Tempo jetz so angezogn wurde und man hat, //hm// sich wirklich für sich alleine plötzlich mal arbeitn könn, //hm-hm// und da:ran bin ich echt gewachsn“.

Julians Wunsch, seine tänzerischen Fähigkeiten und gerade auch seine Technik weiter zu verbessern, führt ihn zu seiner ersten Ballettstunde. Eine Freundin nimmt ihn mit. Zuvor hat Julian einige Vorurteile gegenüber dem klassischen Tanzstil: „ähm ich war sehr sehr skeptisch, (.) erst weil ich ähm mir dachte (.) da sind überall Mädchn in Tütüs (.) und ne strenge Lehrerin, //hm// und ich (.) konnte mir darunter nichts vorstelln“. Mit dem Besuch der ersten Ballettstunde eröffnen sich für Julian ganz neue Imaginationen in Bezug auf den Tanz. Ihm werden gute Voraussetzungen und ein großes tänzerisches Talent bestätigt. Die Ballettlehrerin bietet ihm sogar ein Stipendium an, da sie ihn unbedingt fördern wolle. Julian ist von der Atmosphäre beim Ballett stark beeindruckt, da es vordergründig darum ginge, die Leute zu fördern und Geld, im Gegensatz zu der anderen Tanzschule, keine Rolle spielt. Auch die Ballettlehrerin hat bleibenden Eindruck auf ihn hinterlassen: „wie sie einfach so- (.) den Raum erfüllt wenn sie reinkommt, ne Aura, (.) weiß ich nich das war es is halt ganz anders gewesn viel mehr Temperament […] wirklich mit dem Charme, denn sie hatte n englischn Akzent, //hm-hm// son bisschn ähm (.) ja das war (.) total süß immer das Training hat echt Spaß gemacht //hm// und hat wirklich aufs Niveau geguckt“.

Die Ballettlehrerin eröffnet Julian erstmalig die Welt des professionellen Tanzens und er ist von all dem, was sie umgibt, sehr beeindruckt. Ihm gefällt das, was man vorsichtig als einen Tänzerinnen- und Tänzerhabitus benennen könnte. Der Kontrast der Tanz- und der Ballettschule ist biographisch ein einschneidendes Erlebnis für Julian, da er die Unterschiede zwischen Show-Dance und klassischen Tanz bemerkt: In der Tanzschule zahlt man viel Geld für ein Hobby, „die Leute gehn dahin weil sie ma abzappeln wolln son bisschn am Wochnende“, während der klassische Ballettunterricht eine professionelle Tanzvorausbildung darstellt. Julian trifft die Entscheidung, der Tanzschule den Rücken zu kehren, auch weil er die Tanzlehrerin dort wenig schätzt sowie das Regime, welches beim Training dort herrscht. Er fühlt sich ausgebeutet und nicht genug gefördert. Dennoch führt er den Show-Dance als Hobby in einer anderen Formation weiter, weil „das is son Teil das wollt ich nicht, (.) missn, dieses //hm// Showdance un das Austobn, und //hm// wirklich raushaun“. Julian schätzt am Show-Dance, dass der Spaß im Vordergrund steht. Im Gegensatz dazu steht die professionelle Tanzvorausbildung, „die hart [ist] //hm// und man muss den Spaß am Tanzn erst wieder

7.1  Julian Hendrick: „ich war immer der Tänzer“

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finden“. Auch wenn die Show-Dance-Formation für ihn ein Hobby darstellt, betont Julian, dass er mittlerweile der Aufwärmer ist und bei dem Prozess des Choreographierens hilft: „also da bin ich dann auch jetz (.) zu was gewordn“. Für seine tänzerischen Leistungen wird Julian wertgeschätzt, sogar so sehr, dass er führende Positionen, wie die des Aufwärmers, zugesprochen bekommt. Auch im Ballett findet er Anerkennung: „dass ich gut tanze, un //hmm// dass ich dass man mich bewundert“. Während die anderen Jungs im Dorf Fußball spielen, ist Julian der einzige Tänzer: „hat mans langsam begriffn so okee ich mach was Anderes, //hm// ich bin was Anderes“. Zunächst kann Julian nicht mit dieser Andersartigkeit umgehen und nimmt sich die Nachrufe wie „Schwuchtel“ sehr zu Herzen: „ich hab mich wirklich abhängich gemacht von so was //hm// meine s- meine meine m- meine Gefühle, meine Stimmung war richtich abhängich von so was“. Julian berichtet, dass, wenn er die Leute beispielsweise auf einer Party nicht kennt, er sich stark zurückhält, weil er Angst hat, dass sie über ihn reden und ihn als schwul abstempeln. Die krisenhaften Erfahrungen der Stigmatisierung als schwuler Tänzer werden von Julian biographisch reflektiert, bearbeitet und damit schließlich überwunden: „und auch wenn ich da wirklich zusammgebrochn bin, (.) weiß ich jetz dass ichs überwundn hab //hmm// un dass es weitergeht, un dass immer wieder welche kommn werdn und mir sowas sagn werdn, //hm// und ähm (.) ich da im Prinzip drauf scheißn muss. //hm// un das is ähm (.) sowas macht mich stark“.

Er beschreibt retrospektiv eine krisenhafte Erfahrung, die ihn letztendlich bestärkt und vorangetrieben hat. Das Zitat mutet metaphorisch an und erinnert an das Aufsteigen des Phönixes aus der Asche: Nach dem Zusammenbruch entsteht ein neuer und stärkerer Julian. An dieser Stelle inszeniert Julian eine Art Weiterentwicklung seines Selbst, einen Lernprozess, der sich wirkmächtig in ihn eingeschrieben hat. Julian hat gelernt, so sagt er, Ehrgeiz und Selbstbewusstsein zu entwickeln, was sich auch in seiner Bühnenpräsenz niederschlägt. Der biographische Moment der Überwindung findet jedoch erst statt, als Julian als erfolgreicher Tänzer Anerkennung findet, wie noch aufzuzeigen ist. Mit dem Wechsel auf das Gymnasium mit tänzerischem Profil jedoch brechen die Ausgrenzungserfahrungen ab. Julian pendelt jeden Tag zu der Schule und verlegt damit aus zeitlicher Perspektive seinen Lebensmittelpunkt in eine andere Stadt. Der Kontakt zu den Leuten aus seinem Heimatdorf, von denen er sich schlecht behandelt gefühlt hat, bricht ab. Hingegen wird er an der neuen Schule bedingungslos in den Freundeskreis der Tänzerinnen und Tänzer aufgenommen. Hier fühlt er sich verstanden und akzeptiert. Die jungen Tänzerinnen und Tänzer,

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die sich als „Familie“ bezeichnen, teilen einen gemeinsamen Erfahrungshorizont miteinander: die schulische Tanzvorausbildung. Der Übergang auf die Schule mit ästhetischem Profil ist biographisch hoch bedeutsam für Julian. Einerseits findet er dort soziale Bestätigung und Anerkennung, anderseits nimmt er den Übergang als den „ersten Schritt ähm zum Tänzer werdn“ wahr. Für ihn stellt die bestandene tänzerische Aufnahmeprüfung des Profilgymnasiums ein besonderes Ereignis dar: „und dann ähm wurde halt gesagt dass wir genomm sind und da hab ich echt [holt Luft] weiß ich nich so was hatt = ich hab ich noch nie: gespürt, dass ich = s mich jetzt dann so angestrengt hab und ich hab echt mich zu meiner Mama umgedreht, die umarmt, und hab- ähm Tränen in den Augen gehabt //hm-hm// weil ich sowas erreicht habe, //hm-hm// und weil es jetzt losgeht und weil ich sowas verwirklichen kann was immer so = n Traum war“.

Mit dem Schulwechsel ist Julian seinem Ziel, professioneller Tänzer zu werden, einen wesentlichen Schritt näher gekommen. Auch auf dem Tanzgymnasium bekommt er große Anerkennung für seine tänzerischen Leistungen. Julian berichtet, dass er auserwählt wurde, sich als einer der Besten unter den Tänzerinnen und Tänzern der Schule an einem internationalen Tanzwettbewerb zu bewerben. Neben ihm wurden ein weiterer Tänzer aus seiner Klassenstufe (Elias, vgl. 7.3) und zwei Tänzerinnen aus dem Abschlussjahrgang von den Tanzpädagoginnen und Tanzpädagogen der Schule auserwählt, sich an diesem international renommierten Wettbewerb bewerben zu dürfen und damit das Tanzhaus der Schule zu vertreten. Für Julian ist alleine die Tatsache, dass er zu den Auserwählten gehört, eine große Ehre; er assoziiert dies mit einem „Ritterschlag“ und verdeutlicht mit dieser Fokussierungsmetapher, dass die Auswahl eine Art Initiationsritus für ihn selbst darstellt. Dennoch bedeutet es für ihn neben Schule und täglichem Training obendrein Stress durch Extraproben. Zusätzlich fühlt er sich stark verantwortlich und setzt sich unter Druck, da er immer wieder beweisen will, dass er gerechtfertigt zu den Besten zählt: „weil dann irgnd = n gewisser Druck auf ei = m //hm// […] und ich plötzlich in eine Schublade einsortiert werde mit den besten hier irgndwie auf der Schule; un = das war für mich schon so = n bisschen eigentlich müsste ich weil der Lehrer der Tanzabteilung ist mein Ballettlehrer ähm und ich hab mir zwischendurch immer wieder gesagt eigntlich mit diesm Status den er mir dann grade (.) den er mir dann grade aufbrummt quasi den er mir aufaufsetzt dadurch dass ich jetz grade auserwählt bin einer von den v- diesen vier irgndwie zu sein; //hm// den müsste ich im Prinzip in jedem Training festigen dass ich ebn in jedm Training genau noch wieder zeige dass ich eigntlich das verdient habe dass er mich auserwählt hat und das is dann- hahat

7.1  Julian Hendrick: „ich war immer der Tänzer“

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immer wieder ma zu so Situation geführt wenn man einfach sich dachte scheiße das kannst du nich un = das is- das is ja gar nich möglich //hm// im Endeffekt (.) seh ich das viel viel entspannter aber ähm ich- ich kam ganz ganz oft in Situationen wo ich mir dachte scheiße du (.) wirst hier in den siebten Himmel gelobt und is- im Endeffekt (.) kannst du das gar nicht alles erreichen was man dir- oder was man von dir erwartet“.

An dieser Stelle verdeutlicht sich, dass Julian die Drucksituation bewusst wahrnimmt und diese auf ihm lastet. Er will immer wieder überzeugen, muss immer wieder seine Rolle als einer der Besten bestätigen. Es genügt nicht, einmal dazu ernannt worden zu sein. Ganz im Gegenteil: Eine solche Auswahl bedeutet, dass man nach mehr streben sollte, so dokumentiert es sich in der angedeuteten wörtlichen Rede, die Julian von seinem Tanzlehrer anführt. Julian selbst äußert sich stets bescheiden und demütig über seinen Erfolg. Er wurde ausgewählt, ist vollkommen überrascht deswegen und will sich auf gar keinen Fall auf diesem Statuszugewinn ausruhen. Interessant ist, dass Julian seinen neuen Status als einer der Besten nicht unkritisch hinnimmt. Er reflektiert es ebenso als Bürde, die ihm auferlegt worden ist: „dass Komplimente im Prinzip das Druckmittel für die Zukunft sind (.) das hab ich viel zu st- streng gesehen und da hab ich mir im Prinzip selber meine ne Wand gebaut wo ich dann im Prinzip gegengerannt bin weil wenn ichnatürlich macht man mal Sachen falsch auch in dieser Probenzeit ganz viele Sachen sind falsch gelaufen und ähm dann bin ich auch = ma auf die Fresse geflogen und bin auch ma ausgerutscht und hab Sachn- Fehler gemacht, die ich noch nie gemacht habe und ähm (.) das hat mich dann zur Verzweiflung gebracht weil ich dann dieses dieses was ich mir da total eingeredet hab mit dieser- mit diesem oben schweben und dass ich da hin kommen muss dass ich da immer wieder weiter dann ge- gescheitert bin und das hat mich total fertig gemacht und im Endeffekt (.) musst ich mir einfach klar darüber werden dass das gar nich- dass es gar nicht so is //hm// dass ich das im Prinzip dass das Situationen sind und dass es- un = dass jeder neu wieder seine Meinung und seine weiß = nich seine Gedanken sammelt […] (.) ich weiß nich so = ne Entwicklung in meim Kopf hat dann irgendwie stattgefunden zum Glück früh genug“.

Julian reflektiert über eine krisenhafte Erfahrung: Er selbst hat sich enormen Druck ausgesetzt. Für die Beschreibung dessen verwendet er starke Metaphern, wie er sei auf die Fresse geflogen oder er habe sich selber eine Wand gebaut. Eine Art Künstlerkrise wird hier dargestellt: Du musst unten sein, leiden und dann mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen wieder auferstehen. Julian hat verstanden, dass der Druck, den er spürt, ein innerer ist und er lernen muss, damit umzugehen und ihn effektiv zu nutzen, um gute Leistungen im Tanz zu erbringen. Als einen

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7  Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits

Entwicklungsprozess, der sich in seinem Kopf vollzogen hat, wird diese Erkenntnis verhandelt. Auch das Stück selbst, welches er vortanzt und auf Grund dessen dann tatsächlich zu dem internationalen Tanzwettbewerb eingeladen wird, erzählt über persönliche Erfahrungen: „es handelt davon dass man irgendwie so = n bisschen von außen bisschen hin und her gerissen wird man wird so = n bisschen man- manipuliert man ähm (.) is nie wirklich irgendwie Individuum und s- wird die ganze Zeit hin und her gerissen ­// hm-hm// und d- die Welt macht das einfach und man kann nichts dagegn machn wir alle wir sind irgndwie so ähm (.) kleine Püppchen in manchen Situationen aber dann gibt es Momente in denen man echt- wo man wo man merkt wie man durchatmet und wie man- wie man sich fallen lassen kann und diese Momente wbeschreib ich- beschreibe ich dann als zu Hause […] bei meiner Familie“.

Julian hat das Tanzstück zu seinem gemacht, ihm eine Geschichte gegeben, die er mit Emotionen verbindet. Zu Hause bei seiner Familie kann er sich fallen lassen, er kann er selbst sein, während er außerhalb dieser Schutzhülle fremdbestimmt ist und zu funktionieren hat. Es verdeutlicht sich, dass dem Tanz von Julian eine Rolle zugeschrieben wird, die reflexiv und kritisch ist, gesellschaftliche Aspekte in den Blick nimmt und vor allem sehr persönlich anmutet. Nicht die Bewegungen stehen im Vordergrund, sondern die Geschichte dahinter. Julian will mit seinem Tanz etwas erzählen, etwas Persönliches, etwas Echtes, etwas, was er selbst spürt: „im Endeffekt war = s dann aber so dass ich erkannt habe (.) dass die Perfektion nur durch ne Emotion erreichbar ist also wenn- wenn ich (.) es ehrlich tanze und das is mir auch in- in dieser Periode so = n bisschen bewusst geworden dass ne Ehrlichkeit in- in- in nich dann nich nur im Tanz sondern in der ganzen Präsenz in der ganzen Person irgendwie dass das so viel ausmacht und so viel Authenzität“.

Emotionalität spielt für Julian im Tanz eine wichtige Rolle und, dass die Emotionen echt sind bzw. authentisch. Auch diese Erkenntnis stellt Julian als einen wichtigen und auch schwierigen Prozess heraus. Im Grunde ist die Erfahrung der Teilnahme an dem internationalen Tanzwettbewerb für Julian mit einschlägigen Horizonterweiterungen verbunden, die er explizit als persönliche und damit auch als tänzerische Weiterentwicklungen herausstellt. Denn durch das persönliche Wachsen ist er auch tänzerisch erfolgreich, so resümiert er selbst. In diesem Zusammenhang erwähnt er, dass er den zweiten Platz auf diesem Tanzwettbewerb belegt hat. Dies ist sehr beachtlich, da es sich um einen medial ausgetragenen, international ausgerichteten Wettbewerb handelt. Julian hat im Zuge dessen die Aufmerksamkeit der Medien um seine Person erlebt: „wir wurden

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behandelt wie Sta:r“. Julian holt seinen Erfolg nicht in erster Instanz auf Ebene tänzerischer Fähigkeiten ein, sondern zunächst einzig und allein auf Ebene seiner Person. Die Wahrhaftigkeit seiner Empfindungen hat ihn emotional tanzen lassen und das wiederum ist für Julian letztlich der Schlüssel zum Erfolg. Das erste Mal in Julians bisheriger Tanzbiographie ist er sichtbar als erfolgreicher Tänzer: „also mein ganzes unser ganzes ganze Dorf is irgendwie gekomm zum public viewing“. Julian bekommt große Anerkennung für seine Leistung auch außerhalb der Tanzwelt. Besonders wichtig ist ihm jedoch, dass er Beachtung findet bei Personen, die seine Leidenschaft zum Tanzen vorher nicht erst genommen haben. Das sind hauptsächlich die Männer und Jungen in seinem Heimatdorf, denen „Fussball und Bier und Co“ wichtig sind: „jetz bin ich derjenige der da nich irgendwie außergewöhnlich ist weil er was total komisches macht sondern der außergwewöhnlich ist weil er was erreicht hat und die andern Kinder spieln halt im Dorf noch Fußball und leben ihr Null Acht Fufzehn Leben was jeder in Dorf lebt und ich hab schon so viel erreicht und ich glaube mittlerweile werden alle so klein mit Hut und niemand sagt mehr was und alle sagen nur noch Gutes und ähm da freu ich mich im Prinzip für diese Situation w:o ich glaube dass es sie gab ähm wo man son bisschn ma son (.) son son schiefes Lächeln eigentlich auf die Leute herablassen könnte die dann irgendwie was Doofes gesagt haben“.

Julian distinguiert sich von denjenigen, die noch nicht so viel erreicht haben wie er. Es gibt ihm ein erhabenes Gefühl; ein Gefühl, es allen gezeigt und bewiesen zu haben. Im Gegensatz zu den Leuten, die noch immer im Dorf Fußball spielen, vollbringt er Erfolge, die dazu führen, dass die Leute ihn als Tänzer akzeptieren und ihn dafür wertschätzen. Die biographisch krisenhaften Ausgrenzungserfahrungen seiner Kindheit scheinen mit diesem Ereignis überwunden zu sein. Von seinen Eltern wird er immer unterstützt: Sie sind stolz auf ihn, da das mit dem Tanzen sein „Ding is“. Er weiß, dass die Tatsache, dass seine Eltern hinter ihm stehen, „total wertvoll“ ist. Dennoch befindet sich Julian in einem direkten elterlichen Ablösungsprozess. Er ist von zu Hause ausgezogen und seine Eltern sind nicht mehr tagtäglich unterstützend an seiner Seite. In der Regel sehen sie sich nur noch an den Wochenenden und auch in der Woche hat Julian kaum Zeit zum Telefonieren. Mit dem Umzug in das Tanzinternat schafft er bewusst bessere Bedingungen für seine Tanzkarriere. Das vorherige täglich anderthalbstündige Pendeln aus seinem Heimatdorf zum Profilgymnasium und nach dem Schultag wieder zurück hat Julian stark unter Druck gesetzt, beispielsweise während des Trainings, da er wusste, dass er noch nach Hause fahren und unbedingt pünktlich am B ­ ahnhof

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sein muss, da er sonst seinen Zug verpassen würde: „dann erlebt man halt irgndwie den Stress seines Lebens wenn du- wenn man- wenn man die ganze Zeit nur so drüber nachdenkt in = em Training sich fallen lassen möchte aber nich kann“. Er resümiert weiter, dass sich die Situation nach dem Umzug deutlich verbessert hat und er den Tanz nun deutlich „intensiver“ wahrnehmen kann. Die Metapher der Intensität spielt in Julians Ausführungen eine zentrale Rolle und wird immer wieder angeführt. Er benutzt sie, um das Leben von Tänzerinnen und Tänzern zu beschreiben. An dieser Stelle zieht Julian als Abgrenzungsfolie seinen Bruder bzw. dessen Leben an, welches „auf ner Linie verläuft“. Julian stellt ein Leben, welches gleichmäßig und stetig ist in den negativen Gegenhorizont: So spielt sein Zwillingsbruder immer noch Fußball, hat den gleichen Freundeskreis wie schon immer und besucht nach wie vor das Gymnasium, auf dem auch Julian früher mal war. Ein Leben voller „Höhen und Tiefen“ mit „richtig schönen und richtig schlechten“ Momenten, mit Extremen und auch Zweifel an der eigenen Existenz werden im Gegensatz dazu von Julian als erstrebenswert bewertet. Er fasst ein derartiges Leben mit dem Wort „intensiv“ zusammen: „wir müssen immer wieder s- sind immer wieder so tief unten das man das man ganz ganz Gedanken hegt und das man ähm und es is echt n Auf und Ab und das deswegen sag ich es passiert so viel in so nem kleinen Zeitraum hier an der Schule oder in dem Leben was wir Tänzer leben ähm das es das es eim so intensiv vorkommt und das es (.) ja intensiv is eigentlich das das einzige und richtige Wort was man dafür irgendwie nehm kann“.

Stillstand und Stetigkeit stehen einer Prozesshaftigkeit gegenüber, die kreativ und neuschöpfend ist, aus der man sich weiterentwickeln kann und Erfahrungen sammelt, aus denen man wächst. Julian prognostiziert eine Art Künstlerleben, bei dem man nicht weiß, was morgen ist und welche Chancen sich ergeben oder eben auch nicht. Unsicherheit wird als persönlicher Zugewinn sowie Chance und nicht als hinderlich gedeutet. Gerade in der Ungewissheit liegt seiner Meinung nach Entwicklungspotenzial. Julian will professioneller Bühnentänzer werden und bringt für das Erreichen seines „Traum[s]“ enormes Enaktierungspotential auf. Es stellt für ihn eine klare Entscheidung dar, nach dem Abitur Tanz zu studieren. Er bewirbt sich an drei Hochschulen und nimmt an den Auditions teil. Zusagen bekommt er von allen Institutionen. Er entscheidet sich für die eine Tanzhochschule auf Grund von Wohlbefinden und der „schönste[n] Atmosphäre“ dort. Am Ende war es nicht entscheidend, so wie er zuvor betonte, welches Profil die Hochschule hat oder welche Dozentinnen und Dozenten dort unterrichten, sondern das Gefühl von Willkommen sein. Ein Karrierekalkül lässt sich hier ausschließen. Es verdeutlicht sich, dass Julian die Entscheidung eben nicht aus

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strategischen Gründen getroffen hat, sondern aus einer Stimmung heraus. Etwas später im Interview dokumentiert sich dies erneut, wenn er davon spricht, dass er sich bewusst gegen eine der anderen Hochschule entschied, obwohl auch innerhalb seiner vorherigen Tanzschule und auch bei seinem vertrauten Tanzlehrer diese Hochschule als absoluter Favorit für eine professionelle Tanzausbildung gilt. Während der Zeit der Audition an der Hochschule spürt Julian, dass „Unterschwelliges (.) in der Luft“ liegt und ihn diese Atmosphäre vom Tanzen abgelenkt hätte. Obwohl aus karrierestrategischen Gesichtspunkten alles für diese Tanzinstitution gesprochen hat, hat Julian ganz bewusst die Entscheidung gegen eine dortige Tanzausbildung getroffen. Mit „Unterschwelliges“ meint Julian den großen Konkurrenzdruck, den er dort gespürt hat; den, wie er sagt, er selbst hätte standgehalten können, er das Scheitern der Anderen aber nicht ertragen hätte: „ich glaube ich wäre das durchgehalten aber ich möchte auch keine Leute scheitern sehen um mich herum (.) ich hab keine Lust (.) das alles auseinander bricht das totale das die Leute um mich herum einfach (.) die Lust am Tanz verliern“.

Der Gedanke, dass er selbst die Lust am Tanzen verlieren oder Scheitern könnte, ist nicht in seinem Horizont verankert. Trotz zwei Operationen an seiner Hüfte und einer langen Phase des Nichttrainierens zu Beginn des Studiums findet Julian problemlos den Einstieg in das Hochschulstudium. Er schätzt, dass er sich nun nicht mehr parallel mit schulischen Inhalten auseinandersetzen muss, sondern sich voll und ganz auf den Tanz konzentrieren kann: „kein ähm \\hmm\\ blödes Schulfach (2) sondern hier gehts tatsächlich nur um Tanz und das hab ich sehr sehr genossen irgendwie den Kopf mal frei zu bekomm von Allem (.) ähm (.) und sich echt (.) der diesem Tänzerdasein son son großes Schritt zu nähern“.

Mit dem Wechsel auf die Hochschule ist Julian „in ne Welt (.) [gekommen] die ganz anders is (2) und da muss man sich erstmal da muss man sich erstmal (2) dran gewöhn“. Ihm gelingt der institutionelle Übergang dennoch scheinbar unproblematisch und er beschreibt sich als nunmehr vollkommen angepasst. Er sei ein „sehr kommunikativer Mensch“, kann sich „sehr gut zurechtfinden“, kann sich „sehr gut präsentiern“ und ist „diszipiliniert genug (2) für son Kontext“. Julian kann an seine bisherige Erfolgsgeschichte im Rahmen der Tanzvorausbildung anknüpfen und berichtet weiterhin über zahlreiche Tanzprojekte, an denen er mitwirken „durfte“. Auch die Nominierung der Hochschule für ein Stipendium ehrt Julian sehr:

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„alleine dieser Nomi- Nominierung von meim (.) von meim Lehrer immerhin hat ers begründet mit (2) wir würden dich gerne da hin senden weil wir glauben dass du die (.) Ideale der Schule repräsentierst und ähm uns sehr gut (.) ja präsentiern könntest da und wir glauben \\°hmm°\\ dass du das sehr gut dass du da sehr gut hingehörst (.) und das war nach nem Jahr hier hab ich schon (2) ne super Ehre“.

Der Rektor der Hochschule meint, Julian sei ein passender Repräsentant für die Ideale der Schule und hat ihn deswegen und wegen seiner hervorragenden tänzerischen Leistungen für das Stipendium ausgewählt. Erneut berichtet Julian von einer Erfolgsgeschichte, die von Dankbarkeit und Demut gekennzeichnet ist: „sone Nomination womit du einfach nicht rechnest die aber so (.) so viel wert ist (2) u:nd (2) ja da bin ich erstmal hinten drübber gefalln […] ich hab mir dann (.) ähm (2) zwei Soli aussuchen müssen […] und dann musst ich noch eine Choreographie selber machen […] wie gesagt da hat sich was cooles daraus ergeben nämlich eine Pädagogin von uns hat (2) sich dann drum gekümmert dass ich tatsächlich für diese beiden Repertoire Soli (2) Leute bekomme zur Unterstützung die mi- die mir das einstudiern (.) das warn sehr coole (.) Stunden (.) die ich da verbring durfte mit diesen Profis und (.) äh wirklich (.) one an one (.) und (2) ja (2) dann hab ich noch an meim eigenen Solo gearbeitet“.

Über seinen Erfolg – denn er bekommt das Stipendium – und seine tänzerisch sehr guten Leistungen berichtet Julian nicht. Stattdessen erzählt Julian davon, wie ihn die gemeinsame Arbeit mit anderen Tänzerinnen und Tänzern inspiriert hat. Gerade die choreographische Arbeit hebt Julian besonders hervor: „[das] mach ich sehr gerne und (.) ich finde das ist immer scho- sone (.) Momentaufnahme wo du dich grade befindest als Tänzer […] es is im Endeffekt (2) wie n (.) wie so ne Frage wie gehts dir grade wie is den Leben grade (.) das spiegelt sich halt alles \\°hm-hm°\\ in deiner Choreographie wieder dis is wie n Künstler (.) der mmalt an einem Tag anders als an nem andern“.

An dieser Stelle vergleicht Julian sich in seiner Rolle mit einem Künstler und symbolisiert eindeutig den Bezug zum Ästhetischen und auch, dass Tanz für ihn bedeutet, sich mit sich selbst auseinander zu setzen. Tanz und Identität sind für Julian eng miteinander verwoben. Der Prozess des Choreographierens wird hier als ein persönlicher und intimer beschrieben. Zudem ist er flüchtig und nur momentan einfangbar, so Julian. Des Weiteren berichtet Julian von einigen Tanzprojekten, für die er zusätzlich zu seinem Tanzstudium ausgewählt wurde, so dass er insgesamt in den ersten Semestern „ganz weit oben (.) ähm (.) vom Trainingspensum [ist]“. Teilweise realisiert Julian mehrere Projekte parallel. Im Gegensatz

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zu seinen Kommilitoninnen und Kommilitonen wird Julian oft ausgewählt, Solist zu sein, was ihn auf besondere Weise fordert. Kurz vor dem letzten Interview ist dann, wie Julian es ankündigt, „das aller aller größte wichtigste aufregendste“ passiert. Auf einer Gala tanzt er sein selbst choreographiertes Solo vor, welches er zuvor für die Stipendiumvergabe einstudierte. Anwesend sind unter anderem Tänzerinnen und Tänzer einer namhaften deutschen Company, die dort ebenfalls etwas vorführen. Julian ist begeistert von deren tänzerischen Leistungen, fühlt sich zwar „eingeschüchtert“ aber dennoch empfindet er sich als ebenwürdig: „war auf so auf eine auf einer Ebene irgendwie mit den Profitänzern und und das hab ich echt genossen weil wir warn beide letztendlich Acts in dieser Gala“. Für seinen Soloauftritt bekommt Julian großes Lob und Wertschätzung ausgesprochen. Auf der Aftershowparty dann lernt Julian den Direktor der Company kennen und dieser bekundet ganz offensichtlich Interesse an ihm und bietet Julian an, an einem Workshop teilzunehmen, in dem er seine tänzerischen Leistungen in den von ihm konzipierten Tanzstücken einschätzen will. Julian beschließt aus einer „Bauchentscheidung“ heraus, an dem Workshop teilzunehmen, da er es als Chance sieht und es „erstmal ausprobiern“ und sehen will, „was da so abgeht“. Tatsächlich bekommt er danach ein Engagement in der Company angeboten. Für Julian stellt dies einen entscheidenden Schritt in seiner Karriere dar, da er einen Übergang von der professionellen Tanzausbildung in die tänzerische Berufswelt markiert. Dennoch zweifelt Julian zunächst, da er sein Bachelorstudium noch nicht abgeschlossen hat: „worauf sollte mich dieser Job oder dieses Studium nicht vorbereiten oder an worauf sonst sollte es mich vorbereiten als auf ein Job“. Zu diesem Zeitpunkt befindet Julian sich im zweiten Jahr seines Tanzstudiums. Er trifft die Entscheidung, den Vertrag zu unterschreiben und den Weg in die Berufswelt zu wagen. Aber dennoch plant Julian, parallel dazu seinen Bachelor zu Ende zu bringen. Die Möglichkeit, das Studium neben einem Vollzeitberuf abzuschließen, ist nicht wirklich von Seiten der Hochschule gegeben. Ganz im Gegenteil: Die Hochschule will sich zunächst nicht darauf einlassen. Julian selbst setzt sich dafür ein und findet heraus, dass im Deutschen Hochschulgesetz keine Anwesenheitspflicht gefordert ist. Er führt Gespräche mit der Hochschulleitung und den einzelnen Lehrkräften und es kommt zu einer Einigung. Julian kann sein Studium beenden, teilweise ohne Anwesenheitspflicht und teilweise mit Anwesenheit zu bestimmten Testaten und Prüfungen. Obwohl er für seinen weiteren Weg als Tänzer diesen Abschluss nicht zwingend benötigt, ist es ihm wichtig, diesen zu erzielen. Es kommt für ihn nicht in Frage das Studium

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a­ bzubrechen. Auch, weil er nicht als derjenige dastehen möchte, der den Weg der harten professionellen Tanzausbildung vorzeitig abbricht: „es ist nich einfach das was ich grade mache ich such mir kein leichteren Weg aus ganz im Gegenteil (.) ich werds viel viel schwerer haben als alle die hier versuchen ihren Bachelor zu machen (.) weil ich all das was die hier machen versuche (.) neben meinem Vollzeit (.) Job zu machen als Tänzer \\aha\\ (.) ich werde mich genauso körperlich betätigen ich werde genau die gleichen Erfahrungen machen vielleicht auf anderen Wegen“.

Auf keinen Fall möchte Julian als derjenige gelten, der den einfacheren Weg gegangen ist und nicht hart genug dafür gearbeitet hat. Julian ist erfolgreicher Tänzer und bald schon wird er in die Berufswelt einmünden. Oftmals muss Julian sich vor anderen Tänzerinnen und Tänzern für seine verhältnismäßig erheblichen Erfolge rechtfertigen: „ich arbeite auch dafür (.) ich weiß dass ich (2) ich weiß dass ich was dafür tue das mir das nicht in den Arsch geschoben wird (2) und ähm da bin ich stolz drauf […] ich bin (.) darf mich ab August professioneller Tänzer nenn und bin genau das was ich immer sein wollte“.

Julian hat erreicht, wovon er immer geträumt hat. In wenigen Monaten wird er professioneller Bühnentänzer sein. Resümierend lässt sich festhalten, dass der Tanz für Julian biographisch eine enorme Bedeutung hat und identitätsstiftend wirkt. Er fängt früh mit dem Tanz an und ist seither ein „Tänzer“; er überträgt somit den Status in sein Identitätskonzept. Biographische Entscheidungen wie die Schulanwahl und der Auszug von zu Hause richten sich stets nach dem Tanz: Die Schule mit tänzerischem Profil wählt Julian, weil er Schule und Tanz dort verbinden kann; die Ferne zum Heimatort spielt keinerlei Rolle dabei. Der spätere Umzug ins Tanzinternat und somit der Auszug aus dem Elternhaus erspart ihm das lange und nervenaufreibende Pendeln. Er kann sich nun besser auf den Tanz konzentrieren. Julian bringt Opfer für das Tanzen. Er hat kaum Zeit für Freundschaften außerhalb des Tanzkontextes, er sieht seine Familie nur selten und Freizeit spielt nur eine marginale Rolle in seinem Leben. Er kämpft, um sein Ziel zu erreichen. Er trainiert immer mehr als die anderen Tänzerinnen und Tänzer; vornehmlich im Modus des lässigen und optimistischen Strebens. Er hat keine Zweifel an seinen tänzerischen Fähigkeiten, denn er gehört immer mit zu den Besten und immer wieder wird ihm sein großes Talent bestätigt.

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Eine biographische Krise deutet sich in Julians Kindheit an. Er wird als einziger Tänzer im Dorf zu einem Außenseiter und muss sich den Beschämigungen der anderen Jugendlichen aussetzen. Mit dem Wechsel auf das Gymnasium mit tänzerischem Profil, dem Eingebundensein in die Gruppe der Tänzerinnen und Tänzer und spätestens mit der erfolgreichen Teilnahme an dem internationalen medial beachteten Tanzwettbewerb ist für Julian die Krise überwunden. Auf der Schule kann er sich als Tänzer entfalten und mit wachsender Anerkennung wächst auch sein Selbstbewusstsein und damit seine Bühnenpräsenz. Julians Tanzgeschichte ist eine Erfolgsgeschichte. Schritt für Schritt entwickelt er sich den Feldanforderungen entsprechend mit. Er hat keine Anpassungsschwierigkeiten. Größere Misserfolge oder Rückschläge, die biographisch zu bearbeiten wären, gibt es für Julian nicht. Lediglich kleine Hürden gilt es, zu bewältigen. Diese werden von Julian aber als zwingend notwendig für die persönliche Weiterentwicklung beschreiben. Julian gelingt es, sein Leben positiv gestimmt und erfolgreich entlang des Tanzes auszurichten. Dabei werden die Unsicherheiten, die eine Tanzkarriere mit sich bringt, vornehmlich als Chance beschrieben.

7.1.2 Der Modus Operandi im Feld der professionellen Tanzkunst und der Zusammenhang zum biographischen Stellenwert des Tanzes Für Julian ließ sich über die drei Interviews hinweg eine Orientierung an Weiterentwicklung des Selbst rekonstruieren. Julian hat Talent zum Tanzen, dies wird ihm von verschiedensten Tanzlehrerinnen und Tanzlehrern immer wieder bestätigt, er galt schon immer als einer der Besten, bekommt finanzielle Förderung in Form von Stipendien, wird des Öfteren auserwählt, ganze Tanzinstitutionen auf Wettbewerben zu vertreten, er bekommt Einzelunterricht, für ihn persönlich werden Choreographinnen und Choreographen eingeladen, selbst in jungen Jahren ist er medial als erfolgreicher Tänzer sichtbar. Verschiedene Akteure im Feld wollen ihn und sein Talent fördern. Damit ist Julian eine enorm bedeutsame Basis gegeben, an die er anknüpfen kann. Die Kombination von körperlichem Talent auf der einen, als gewissermaßen natürlich gegebener Konstante, und der Orientierung an Weiterentwicklung des Selbst auf der anderen Seite steht in Julians Fall für eine steile Tanzkarriere. Negative Aspekte des Feldes der Tanzausbildung und des Berufsfeldes, wie etwa der harte Konkurrenzdruck oder die prekären Beschäftigungsverhältnisse,

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7  Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits

werden in den Interviews nicht als hinderlich und belastend thematisiert. Sie werden gar als treibende Kraft von Julian wahrgenommen: „Konkurrenzkampf is notwendig in jeglicher Hinsicht um im Leben einfach weiter zu kommen und nicht auf der Stelle zu treten“. Hier dokumentiert sich Julians Orientierung an Weiterentwicklung des Selbst: Auf der Stelle zu treten, stellt den negativen Gegenpol dar; weiter zu kommen, liegt im positiven. Jegliche Kritik wird von Julian optimistisch gedeutet. Sie gehört dazu, man muss mit ihr umgehen können und aus ihr lernen: „und es kommt wieder so was und ich muss damit umgehn und ich glaube das macht mich einfach nur stärker“. Es deutet sich immer wieder an, dass Julian im Laufe seiner Tanzkarriere auch kritische Momente hat, diese werden aber stets als notwendig und als elementare Lernprozesse von ihm verhandelt. Insbesondere in den ersten beiden Interviews gibt es Stellen, an denen Zweifel laut werden, bestimmten Dingen nicht gewachsen zu sein: „frag ich mich ob ich zu unprofessionell bin für den Tänzerberuf weil ich oftmals weiß ich nich mich also zu emotional irgendwie auch Fehlern gegenüber stehe“. Diese Erkenntnis jedoch stellt für ihn keine negative Erfahrung dar, sondern er fragt sich, „wie würdest du das als Profi weitermachen“ und sucht damit bei sich selbst nach möglichen Lösungsansätzen. Julian ist optimistisch und beharrt im Modus des positiv kämpferischen: „man muss auch ma ähm (.) scheiß Phasen haben“. Insbesondere im zweiten Interview nutzt er dafür die Metapher des „intensiven Lebens“ und grenzt sich damit von einem Dasein ab, welches „auf einer Linie verläuft“. „Auf die Schnauze fliegn“, wieder aufstehen und daraus lernen: Das sind Metaphern, die Julian dafür verwendet, seine positive Art zu denken, zum Ausdruck zu bringen. Immer wieder nimmt Julian sich neuen Herausforderungen an, selbst wenn er „echt Schiss“ hat. Die Chancen, die sich ihm bieten, ergreift er: „du bist alles, was du gemacht hast“. Und mit jedem weiteren Wettbewerb oder jeder weiteren Gala, versteht er ein bisschen mehr, wie man als professioneller Tänzer zu sein hat. Schritt für Schritt entwickelt sich Julian so mit einer gar betonten Lässigkeit im Feld: „ich mach mir einfach nicht so viel Druck wie andere“. Die Orientierung an Weiterentwicklung des Selbst zeigt sich wohl auch in der Tatsache, dass obwohl Julian schon bald professioneller Bühnentänzer sein wird, plant, sein Studium dennoch abzuschließen. Und, auch wenn er seinen Traum vom Tänzerdasein verwirklichen kann und damit ein biographisch hochbedeutsames Ziel erreicht hat, er sich zukünftig nicht darauf ausruhen will: „ich hab nich als Ziel (2) in der letzten Reihe irgendwo in nem Ballett zu stehn […] wenn man (.) die Ziele tief stapelt (.) fängt man nie an (.) richtich zu beißen und das is der falsche Beruf dafür“.

7.1  Julian Hendrick: „ich war immer der Tänzer“

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Bereits im ersten Interview formuliert Julian den Wunsch, professioneller Tänzer werden zu wollen und er glaubt fest daran, dies auch verwirklichen zu können. Nach und nach nähert er sich sehr vielversprechend seinem Traumziel ohne größere Hindernisse. Julian „reißt sich den Arsch auf“ und bringt enormes Enaktierungspotential hinsichtlich seiner Tanzkarriere auf. Anerkennung und Wertschätzung treiben ihn an. Darüber hinaus nimmt er sich die Hinweise der Tanzpädagoginnen und Tanzpädagogen sowie Choreographinnen und Choreographen stets an: „desto schneller reif ich als Tänzer und desto (.) vielfältiger bin ich“. In der Orientierung an Weiterentwicklung des Selbst ist auch eine Überzeugung von Authentizität aufgehoben. Julian distinguiert sich in allen der drei Interviews von Emotionslosigkeit und Oberflächlichkeit und konstatiert die enorme Bedeutung von Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Einfühlungsgabe. Er macht nichts, zudem er nicht steht oder wobei er sich unwohl fühlen könnte. Julian gibt, wenn er tanzt, nicht nur seine körperlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern sich als ganze Person hin: »wie ich wie ich die Ehrlichkeit im Tanz kennen gelernt hab in der Zeit und ne Ehrlichkeit in der Person wollt ich dann auch ehrlich sein und mal mich falln lassen«. Diese Hingabe von Leib und Seele zugleich hat er erst durch den klassischen Tanz erlernt. Im Show-Dance ist es gegensätzlich, „da macht man Show und Show heißt einfach was aufsetzn um irgendwas zu zeigen was Fiktives“. Der klassische Tanz stellt für Julian kein bloß zu erfüllenden Job dar, sondern er betrifft ihn allumfassend als Person. Julian verstellt sich nicht; er lebt das aus, was ihm gefällt. Auch in jungen Jahren, während die anderen Jungen im Dorf Fußball spielen und Julian als der „schwule Tänzer“ ausgegrenzt wird, bleibt er sich und seiner Leidenschaft treu. Julian trägt seine innere Gefühlswelt nach Außen: „Ehrlichkeit in- in- in nich dann nich nur im Tanz sondern in der ganzen Präsenz in der ganzen Person irgendwie dass das so viel ausmacht und so viel Authentizität (.) ähm (.) ja dann im Prinzip dar bringt dass man- dass man viel echter wirkt und nicht oberflächlich; un = das is im echten Leben genauso wie im Tanz“. Die Prinzipien, die Julian im Leben verfolgt, überträgt er auf den Tanz und umgekehrt: Wahrhaftig sein, sich nicht verstellen, an seinen Prinzipien festhalten, überzeugt sein, von dem, was man tut und vor allem ehrlich zu sich selbst sein. Resümierend lässt sich darlegen, dass Julian erstens über gute tänzerische Grundvoraussetzungen verfügt, er zweitens optimistisch strebend im Feld agiert und durch stets zusätzliche Engagements viele Erfahrungen sammeln kann, und sich so drittens die feldinternen Regelhaftigkeiten teils bewusst teils unbewusst aneignet. Insgesamt durchlebt Julian mit einer beachtlichen Lässigkeit seinen Weg hin zum professionellen Bühnentänzer.

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7  Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits

7.2 Freya Schubert: „ich hab schon immer getanzt, is wie so ne Art roter Faden“ Zum Zeitpunkt des ersten Interviews, im April 2012, ist Freya 15 Jahre alt. Knapp anderthalb Jahre später, im November 2013 wird Freya das zweite Mal und im Mai 2016, knapp zwei Jahre und acht Monate später, das dritte Mal interviewt. Das erste Interview Freya geht mit drei Jahren in den Kindergarten und beginnt gleichzeitig mit Kinderballett, womit für sie, retrospektiv gesprochen, ein Wunsch wahr wurde. Denn durch ihre Mutter, die zu diesem Zeitpunkt selbst tanzt und Freya oft mit zu den Proben nimmt, hat Freya ersten Kontakt zur Tanzwelt und möchte seither selbst unbedingt zum Ballett gehen. Mit fünf Jahren wird sie eingeschult und wechselt dann zur fünften Klasse auf ein städtisches Gymnasium. In dieser Zeit tanzt sie im jungen Ensemble eines namhaften Tanzhauses und ist Statistin im Opernhaus. Mit dem Wechsel auf das Gymnasium trennen sich Freyas Eltern. Von da an lebt sie mit ihrer Mutter und ihrer größeren Schwester in dem Familienwohnhaus. Ihren Papa, der eine neue Lebensgefährtin hat, die auch zwei Kinder mit in die Beziehung bringt, sieht sie gelegentlich an den Wochenenden. Ihr Vater und die neue Partnerin haben vor anderthalb Jahren noch gemeinsam ein Kind bekommen, Freyas über zwölf Jahre jüngere Halbschwester, zu der sie allerdings auch nur selten Kontakt hat. Freyas leibliche Schwester tanzt auch; gemeinsam waren sie bei der Aufnahmeprüfung für das junge Ensemble. Während Freya zunächst eine Absage bekommt, weil sie „zu klein und zerbrechlich“ für den zeitgenössischen Tanz wirkt, kann ihre Schwester die Prüfung erfolgreich absolvieren und tanzt, allerdings nur für kurze Zeit, in dem Ensemble. Denn sie wiederum war die älteste und „einfach technisch schon viel weiter“, da sie bereits zuvor an der Opernschule getanzt hat. Durch den Weggang der großen Schwester wird ein Platz in dem Ensemble frei. Freya bekommt diesen. Auf einem Gastspiel des jungen Ensembles erfährt Freya von dem Gymnasium mit tänzerischem Profil. Ihre Mutter hilft ihr bei der Anmeldung und sie fahren gemeinsam zu der Aufnahmeprüfung. Freya besteht diese und könnte von Seiten der Schule direkt einsteigen. Das ist mitten im siebten Schuljahr. Freya entscheidet sich, dieses noch an dem Stadtteilgymnasium zu beenden und wechselt dann im Sommer zum neuen Schuljahr auf das Gymnasium mit tänzerischem Profil.

7.2  Freya Schubert: „ich hab schon immer getanzt, is wie so ne Art …

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Zum Zeitpunkt des ersten Interviews ist sie seit anderthalb Jahren auf der Schule mit Tanzprofil. Sie ist eine gute Schülerin mit einem Durchschnitt von 1,7. Auch ihre tänzerischen Leistungen sind beachtlich. Für die schulisch ausgerichteten Tanzabende darf sie mit den 12. Klassen trainieren und erhält Extraproben. Die Mutter und die große Schwester kommen zum Zeitpunkt des ersten Interviews „nicht so gut miteinander klar“. Freya berichtet von häufigen Streits. Freya wiederum hat ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter, ebenso wie zu ihrer Schwester, von der sie sagt, dass sie „eher so ne Art Bezugsperson schon eher wie so ne Art Mutter irgendwie auch“ für sie ist, seitdem die Eltern sich haben scheiden lassen. Die Schwester habe „relativ viel Verantwortung übernommen“, was „ihr nicht sonderlich gut bekommen ist“, sagt Freya dazu. Freya berichtet von zahlreichen freundschaftlichen Beziehungen, die teilweise seit ihrer Kindheit halten oder auch weggebrochen sind oder sich neu entwickelt haben. Aktuell ist sie in die Freundesgruppe der Tänzerinnen und Tänzer, die als „Familie“ von ihr betitelt wird, eingebunden. Freya ist aber auch bemüht, Kontakt zu älteren Freundinnen aufrecht zu erhalten. Zukünftig möchte Freya am liebsten was auf der Bühne machen; vielleicht etwas mit Tanz oder alternativ Schauspiel. Nach dem Abitur möchte sie ins Ausland gehen und danach möglicherweise eine Tanzhochschule besuchen. Alternativ zum Tanzen kann sie sich vorstellen, Psychologie oder Sonderpädagogik zu studieren. Das zweite Interview Zwischen dem ersten und zweiten Interview vergingen knapp anderthalb Jahre. Freya ist zum Zeitpunkt des zweiten Interviews in ihrem letzten Abiturjahr auf dem Gymnasium mit tänzerischem Profil. Sie ist in der Tanz-Leistungskursklasse. Wie in dem Jahr zuvor, wirkt sie an den Tanzabenden mit. Eine für Freya wichtige Freundschaft zu einer Tänzerin aus ihrer Klasse ist zerbrochen, weil sich diese dazu entschied, das Tanzen aufzugeben. Die beiden finden nun kaum noch Zeit füreinander. Freya ist allerdings nach wie vor eng in die Freundesgruppe der Tänzerinnen und Tänzer eingebunden. Zudem hat sie seit März 2013 einen festen Freund. Die beiden kennen sich aus der Schule. Jedoch, so bemerkt Freya, führen sie „keine normale Beziehung“, da sie sich nur selten „alle zwei Wochen an den Wochenenden“ sehen, weil Freya nur wenig Zeit neben dem Tanztraining hat und diese auch gerne mal für sich selbst nutzt: „okay ich brauch auch irgendwann mal Zeit für mich“.

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Im Oktober 2013 zieht sie mit der Mutter zusammen in eine Wohnung. Zuvor wohnten sie noch zusammen mit der Schwester in dem Familienhaus. Die Schwester ist dann allerdings zum Vater gezogen und so haben auch Freya und ihre Mutter, da das Haus viel zu groß und viel zu teuer ist, eine neue Wohnung gesucht. Für Freya ist dies nur eine kurz andauernde Übergangslösung. Sie wird so und so bald in eine andere Stadt ziehen, resümiert sie. Freya möchte ihr Abitur absolvieren und danach Tanz studieren. Sie hätte gute Voraussetzungen, sagt sie. Sie möchte nun auch kein Auslandsjahr mehr machen, da sie keine Zeit verlieren will. Sie plant, sich an vielen Hochschulen in Deutschland und auch im Ausland zu bewerben, um ihre Chancen für einen Studienplatz zu erhöhen. Das dritte Interview Freya absolviert im Frühjahr 2014 das Abitur. Fast zeitnah beendet sie die Beziehung zu ihrem Freund und tanzt an drei Hochschulen vor. Sie bekommt von allen der drei Hochschulen relativ zeitgleich eine Zusage und sagt die anderen bereits geplanten Auditions an weiteren Hochschulen ab. Freya fällt es schwer, sich zwischen zwei der drei Hochschulen, von denen sie Zusagen für das Tanzstudium bekommt, zu entscheiden. Die eine Hochschule fällt schnell raus, da ihr diese zu modern ausgerichtet ist. Eine Pro- und Contra-Liste hilft ihr bei der Entscheidung. Vor dem Studienbeginn zieht Freya in ihre neue Heimat. Die Stadt ist ca. sechs Autostunden von ihrem zu Hause entfernt. Zusammen mit einem Freund namens Julian (vgl. 7.1), den sie bereits aus der Tanzklasse kennt und auch an derselben Hochschule Tanz studieren wird, bezieht sie eine kleine Wohnung. Ihr erstes Jahr an der Hochschule läuft zwar „tänzerisch ganz gut“ für Freya, sie hat jedoch große Schwierigkeiten, sich sozial zu integrieren. Sie fühlt sich von ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen „in eine Schublade gesteckt“ und missverstanden. Zum Jahresabschluss ist sie sozial und emotional „ausgelaugt“ und hofft, über die Sommerpause, in der sie an einem Improvisationsprojekt teilnimmt, Abstand gewinnen zu können. Das zweite Studienjahr läuft dann „better“, so resümiert Freya. Freundschaftsgefüge haben sich verschoben und Freya hat „Frieden geschlossen“ mit der „Situation“. Zu ihrem Vater und ihren zwei Stiefgeschwistern und ihrer Halbschwester hat sie nun kaum noch Kontakt. Ihr Vater ist mittlerweile getrennt von seiner Lebensgefährtin. Ihre leibliche Schwester kämpft mit Depressionen, hat das Tanzen aufgegeben und angefangen, Sozialwissenschaften zu studieren, was der Schwester und ihrem Verhältnis zueinander guttut. Die Mutter ist nach wie vor eine wichtige Bezugsperson für Freya.

7.2  Freya Schubert: „ich hab schon immer getanzt, is wie so ne Art …

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In zwei Wochen wird sie auf einem Tanzfestival in Amerika sein und dann erwarten sie im nächsten Jahr nach dem Studienabschluss die Auditions, um einen Job als Bühnentänzerin zu bekommen. Anmerkung Tatsächlich arbeitet Freya ein Jahr nach dem zuletzt geführten Interview als professionelle Berufstänzerin in einem städtischen Theater in Österreich. Ich habe dies von Julian erfahren und es auf der Homepage des Stadttheaters überprüft.

7.2.1 Der biographische Stellenwert des Tanzes Freyas Tanzgeschichte ist eng in familiäre Dimensionen verwoben. Als Freya noch ganz klein ist, nimmt ihre Mutter, die selbst auch mal professionelle Tänzerin werden wollte, sie mit zum Tanzunterricht. Ihre große Schwester tanzt indes auch. Mit drei Jahren durfte Freya „halt auch zum Kinderballett endlich“. Seither nimmt der Tanz einen enormen Stellenwert in ihrem Leben ein. Ihre Mutter unterstützt Freya sehr in ihrer Tanzkarriere und ist ihr über die gesamte Dauer hinweg eine wichtige Bezugsperson. In dem ersten Interview erwähnt Freya, dass ihre Mutter durchaus erfreut wäre, wenn sie professionelle Tänzerin werden würde, aber auch, dass sie sich diesbezüglich „nicht wirklich gedrängt fühle von ihr“. Obwohl, „es gab mal ne Zeit, da hatte [sie] das Gefühl es wäre vielleicht so“. Freya fühlt sich mehr oder weniger unterschwellig getrieben von ihrer Mutter, die unbedingt möchte, dass ihre Tochter Tänzerin wird und sie sehr unterstützt in ihrer Tanzkarriere. Zu ihrem Vater hat sie nach der Trennung der Eltern kaum noch Kontakt. Das Verhältnis zum Vater verschlechtert sich über die Jahre. Sie ist „enttäuscht“ darüber, dass er „seine erste Familie“ so vernachlässigt und sich selbst nicht um seine kleine Tochter, also Freyas Halbschwester kümmert, die er zusammen mit seiner neuen und zum Zeitpunkt des dritten Interviews auch Ex-Partnerin hat. Im ersten Interview berichtet Freya von der Trennung ihrer Eltern: „Das war für mich eigentlich im Grunde okee weil also ich glaub ich bin damit ganz gut umgegangen […] die Sache mit dem Tanzen dann halt schon intensiver wurde für mich ehm ja hat sich das dann irgendwie verflüchtigt“.

An dieser Stelle verdeutlicht sich, dass die krisenhafte Erfahrung der Trennung der Eltern von Freya nicht bearbeitet, sondern vornehmlich verdrängt wurde. Der Tanz und die wenige Zeit, die ihr daher blieb, entzogen ihr im Grunde,

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einen Umgang mit der Trennung der Eltern zu finden; das Problem hat sich „verflüchtigt“, so Freya. Der Tanz dient Freya als Ablenkung. Die Krise wird von Freya nicht biographisch bearbeitet, sondern in erster Linie unterdrückt. In dem dritten Interview sagt Freya selbst von sich, sie hätte ein „verstecktes Kindheitstrauma“, was erneut auf ihre nicht bearbeiteten Konflikte hindeutet. Das Verhältnis zu ihrer zwei Jahre älteren Schwester ist ebenfalls konfliktbehaftet, weil sie im Tanz Konkurrentinnen sind; zwar nicht in Bezug auf die Tanzkarriere selbst – so ist die Schwester körperlich auf Grund ihres Alters viel fortgeschrittener – aber beide stehen in einem innerfamiliären Vergleichsverhältnis zueinander: „es war eigentlich immer eher so dass meine Schwester diejenige war die Tänzerin werden wollte und nicht ich“. Die Tanzkarriere der Schwester wird von Freya als brüchig und vielschichtig beschrieben; mal tanzt sie, dann hat sie wieder aufgehört und woanders vorgetanzt, wo sie aber nie hingegangen ist. Beispielsweise hat die Schwester einige Zeit vor Freya auch auf dem Gymnasium mit tänzerischem Profil an dem Vortanzen teilgenommen und wurde auch ausgewählt, ist selbst aber nie auf die Schule gewechselt. Oder den freigewordenen Platz in der Tanzschule bekam Freya nur, weil ihre Schwester nicht mehr dort tanzen wollte. Erst als die Schwester endgültig mit dem Tanzen aufhört, verbessert sich ihr Verhältnis der Geschwister untereinander. Darüber hinaus verstehen sich die große Schwester und die Mutter überhaupt nicht. Freya betont, dass es immer wieder zu Streits kommt und die Schwester deshalb auch zum Vater zieht. Freyas Tanzkarriere verläuft mehr oder minder naturwüchsig. Einzig die institutionellen Übergänge werden im Modus der Verunsicherung thematisiert: „Ungefähr vier Stunden geschlafen […] mir war am Morgen kotzübel […] also hab ich mich auch darauf eingestellt, dass mich niemand will“, sagt Freya in Bezug auf den Wechsel auf die Hochschule. „Es kann immer noch schief gehen oder das ist zumindest mein (.) sind zumindest meine Gedanken“, erwähnt sie hinsichtlich der Jobsuche, die bald auf sie zukommt. An der Glücksspielmethapher „Jackpott“, die Freya benutzt, um zu beschreiben, dass sie von allen drei Tanzhochschulen eine Zusage hat, wird deutlich, warum Freya an den Übergängen unsicher ist: Es liegt nicht in ihrer Hand, selbst wenn sie ihr Bestmöglichstes gibt, ist ein Scheitern nicht ausgeschlossen: „man kann gedehnt sein aber man muss trotzdem nicht gut sein“. Freya bezeichnet den Tanz als den roten Faden in ihrem Leben. Die Übergänge und die damit verbundene Möglichkeit des Scheiterns, quasi die Option des Durchtrennens des Fadens, sind die Momente, in denen Freya Unsicherheit verspürt und Zweifel in ihr aufkommen lassen. Sie bewirbt sich „überall und nirgens“ an Tanzhochschulen, damit die Chance irgendwo angenommen zu werden, höher ist.

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Der Tanz als biographische Konstante steht im Vordergrund. Irrelevant ist zunächst, wo die Tanzhochschulen sind und wie sie tänzerisch ausgerichtet sind. Hauptsache ist, sie wird angenommen, wo auch immer. Schon sehr früh hat Freya ein Verständnis davon, was es heißt, Tänzerin werden zu wollen. Vor allem heißt es für sie, keine Zeit nebenher zu haben für Freundschaften oder einen festen Freund: „ich hatte mich darauf versteift das ich jetzt keinen Freund will und das auch eigentlich gar nicht kann und keine Zeit hab“. In dem zweiten Interview erzählt Freya ausgiebig über ihren inneren Konflikt, den sie lange mit sich geführt hat, ob sie einen Freund haben kann oder nicht, bzw. ob es „funktionieren“ kann oder nicht. Freya entscheidet sich für eine Beziehung, die „keine normale“ ist, da sie sich nur sehr selten sehen. Der Tanz beeinflusst klar die Beziehung, so Freya. Das Motiv, keine Zeit zu haben, findet sich auch in den anderen Interviews. Im dritten Interview spitzt es sich zu. Freyas gesamte Zeit und ihre Routinen sind um den Tanzalltag herum organisiert. Von der Stadt, in der sie zum Zeitpunkt des dritten Interviews mittlerweile seit über zwei Jahren lebt, hat sie kaum was gesehen. Von morgens bis abends ist sie an der Hochschule, an den Wochenende hat sie Extraproben und kümmert sich um den Haushalt. Manchmal fährt sie in die Bücherei. Sie erzählt in dem dritten Interview von einem jungen Musiker, den sie über Opernauftritte kennengelernt hat. Mit ihm beginnt sie, Dinge zu unternehmen. Er zeigt ihr die Stadt, und wie man Schlagzeug spielt. Nach dem Interview erzählt sie mir, dass die Beziehung zu dem Musiker so langsam „gefährlich“ für sie werde, da sie merkt, worauf das alles hinauslaufen könnte und sie wirklich keine Zeit für einen Freund hat. Freya verfolgt die Prämisse, sich voll und ganz auf ihre Tanzkarriere zu konzentrieren. Ihr wurden mehrmals „gute Voraussetzungen“ bestätigt; auf diese will sie sich aber nicht verlassen: „hard work beats Talent when talent does not work hard und ich (.) hatte immer meeehr [schnippt mit den Fingern] irgendwie diesen (.) den Biss und den Willen“. An dieser Stelle deutet sich bereits eine Orientierung an Rationalität an, die sich für Freya rekonstruieren ließ und im Folgenden ausführlich herzuleiten ist. In Bezug auf den biographischen Stellenwert des Tanzes für Freya lässt sich jedoch zuvor festhalten, dass dieser einerseits in familiäre Strukturen eingebettet ist. Insbesondere die Beziehung zur Mutter, die sich wünscht, Freya würde Tänzerin werden, als auch die Beziehung zu der Schwester, die von Freya als „Rebellin“ beschrieben wird und vornehmlich ein Konkurrenzverhältnis darstellt, bestärken Freya darin, zu tanzen, und erwecken enormen Ehrgeiz in ihr. Anderseits stellt der Tanz eine Art unterbewusste Ablenkungsmaßnahme dar, sich mit k­ risenbehafteten

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Situationen, wie etwa die der Trennung der Eltern, nicht auseinandersetzen zu müssen. Der Tanz ist die Konstante in Freyas Leben, das, im Gegensatz zu anderen Themen, wie Freunde oder Freizeit, was ihr Dasein ausmacht und strukturiert. Sie ist enorm diszipliniert und arbeitet hart und bedingungslos daran, Tänzerin zu werden.

7.2.2 Der Modus Operandi im Feld der Tanzkunst und der Zusammenhang zum biographischen Stellenwert des Tanzes Wie bereits erwähnt, konnte für Freya eine Orientierung an Rationalität rekonstruiert werden. In dem ersten Interview zeigt sich dies insbesondere dort, wo Freya von getroffenen Entscheidungen, die stets Vernunft geleitet in Bezug auf die Tanzkarriere sind, spricht. Der Wechsel auf das Gymnasium mit Tanzprofil war zwar von Freya ein gewollter; an keiner Stelle erwähnt sie jedoch, warum genau sie auf diese Schule wechseln wollte. Sie war „beeindruckt“ von einer Tanzaufführung von Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums und hat dann mit zwei Freundinnen aus der Tanzschule die Aufnahmeprüfung gemacht. Es ließ sich rekonstruieren, dass der Übergang auf das Gymnasium mit Tanzprofil einen selbstverständlichen Weg für Freya darstellt. Um in der Tanzkarriere voranzukommen, wechselt sie folgerichtig die Schule, ohne „explizit drüber nachgedacht [zu haben] was da sozusagen alles noch mit dranhängt“. Der Wechsel bedarf keiner besonderen Begründung und auch keiner affektiven Vergewisserung. So ist der Schulwechsel etwa mit dem Wegbruch vieler bis dahin stabiler Freundschaften verbunden, der von Freya vornehmlich nüchtern betrachtet wird: „also ich glaube einerseits wärs vielleicht schön gewesen dort geblieben zu sein // hm// und die alten Freunde behalten zu haben und vielleicht auch ins Ausland gegangen zu sein aber ich glaube im Endeffekt wars doch ganz gut dass ich hierher gewechselt bin noch mal was anderes gesehn also noch mal was anderes sehe und und noch mal ne ganz andere Sorte von Freunden vielleicht einfach finde“.

Freyas Bilanzierung verdeutlicht, wie kognitiv sie den Wechsel wahrnimmt. Im Endeffekt war es ganz gut, so Freya, um eine „andere Sorte von Freunden“ zu finden. Während sie emotional an alten Freunden hängt – dies zeigt sich immer wieder im empirischen Material; insbesondere im ersten Interview –, gibt sie sich dem Gefühl nicht hin, sondern bewertet etwas als scheinbar positiv, was es für sie selbst gar nicht ist: eine andere Sorte von Freunden.

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Eine ähnliche Situation findet sich auch im dritten Interview. Sie beschreibt ihren „Gedankenwirrwarr“ hinsichtlich der Frage, welche der Tanzhochschulen, von denen sie Zusagen für das Studium bekommen hat, auswählen soll. Sie trifft eine Entscheidung, die sie wie folgt begründet: „damals habe ich gesagt okay (.) ‚weißte was ich hab eigentlich keine Ahnung‘ (betont) weil das Gras kann immer woanders grüner sein weil man es einfach nicht weiß“. Die Metapher verdeutlicht erneut, dass Freya darauf bedacht ist, die Dinge ganz rational zu bewerten. Auch ihre Bemerkung in dem ersten Interview, sie sei mit der Trennung der Eltern „ganz gut umgegegangen“ erscheint vollkommen abgeklärt. „Das“, also die Trennung der Eltern, hat sich dann „irgendwie verflüchtigt“, als „die Sache mit dem Tanzen halt schon noch intensiver wurde“. Freya hat bzw. nimmt sich wenig Zeit, um das krisenhafte Erlebnis zu bearbeiten. Es scheint, als wäre der Tanz das Instrument, um die Krise zu unterdrücken. Vorstellbar wäre auch, dass der Tanz als Medium dabei hilft, die Krise zu verarbeiten und zu überwinden. Bei Freya ist es umgekehrt: Der Tanz übernimmt eine Art Widerstandsfunktion. Dies zeigt sich deutlich in den darauffolgenden Interviews. Freya wert sich regelrecht dagegen, ein Privatleben zu haben. Beispielsweise will sie sich nicht verlieben, weil sie keine Zeit dafür hat. Sie diszipliniert sich selbst: „also ich bin n Mensch ich will immer alles kontrolliern“. Von Emotionen lässt sich Freya wenig anleiten; ihr Handeln ist vornehmlich rational bestimmt. In diesem Zusammenhang grenzt sich Freya von ihrer Schwester, die mit Depressionen kämpft, ab: „ich bin auch einfach glaub ich emotional nich so impacted wie (.) wie sie“. Der Tanz und die damit zusammenhängende wenige Zeit werden immer als Legitimation dafür angeführt, keine engen emotionalen Beziehungen führen zu können: „ich brauch viel Freiraum ich brauch emotionalen Freiraum und sobald ich das Gefühl hab dass das auch also (.) normalerweise passiert mir das eher mit Jungs dass wenn ich das Gefühl hab mir kommt jemand zu nah irgendwie oder willlll = is mir einfach schon (.) zu nah dann dann fang ich an das weg zu stoßen weil mir das zu viel is“.

Auch der Tanz selbst hat nichts mit ihr als Person zu tun. In ihren Erzählungen über Tanzauftritte oder ähnlichem geht es um reine Informationenwiedergabe und nicht darum, was das Stück eventuell in ihr bewirkt hat. Das steht in einem starken Kontrast zu Julian (vgl. 7.1), der den Tanz als Medium seiner Gefühle nutzt. Freya hingegen, so lässt sich zugespitzt formulieren, tanzt, um zu ­verdrängen.

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Zusammenfassend lässt sich darlegen, dass der Tanz für Freya der unhinterfragbare „rote Faden“ in ihrem Leben darstellt, der, um es metaphorisch auszusprechen, krisenhafte Erfahrungen wie die Trennung der Eltern, die zerrütteten Familienverhältnisse sowie der Wegbruch enger Freundschaften aus der Kindheit und ihre Emotionen generell eng umwebt hat. Freyas Orientierung an Rationalität ist biographisch gewachsen und stellt einen Umgang mit unterdrückten Konflikten dar. Sie will sich und ihre Umgebung kontrollieren und disziplinieren. Freya tanzt nicht, weil sie sich fallen lassen oder sich ihren Emotionen hingeben will, Freya tanzt, weil sie implizit Widerstand gegen ihr Innerstes leistet.

7.3 Elias Blum: „ich zieh das jetzt durch“ Elias erstes Interview fand im September 2012 statt. Fast genau ein Jahr später wurde Elias erneut interviewt. Zwischen dem zweiten und dem dritten Interview, welches im November 2015 stattfand, vergingen dann etwas über zwei Jahre. Das erste Interview In dem ersten Interview berichtet Elias – dem Stimulus entsprechend – von der Zeit seit seiner Kindheit an bis zum Zeitpunkt des Interviews, zu dem er 16 Jahre alt und kurz davor ist, in die 12. Klasse zu kommen. Elias redet recht wenig über seine Kindergarten- und Grundschulzeit, betont jedoch oft, dass diese sehr glücklich und unbeschwert waren. Er spricht von einem Aufwachsen unter vielen Bekannten, Freunden und der „perfekten Familie“. In seinen Erzählungen kommen die Eltern, die Großeltern, die Patentante und der Patenonkel als auch sein vier Jahre älterer Bruder sowie viele Freundschaften noch aus Kinderzeiten vor. Im Gegensatz zu seinem Bruder, den Elias als den „Naturwissenschaftler“ betitelt, sagt er, er sei schon immer an Kunst und Kultur interessiert gewesen und hätte sich eben nicht für „typische Jungenthemen“ wie Fußball, Cowboy und Computer begeistern können. Seine Hobbies liegen in den Bereichen Mode, Photographie und Entertainment. Mit vier Jahren beginnt Elias mit Kindertanz. Seine Mutter hat ihm das vorgeschlagen, weil er sich immer und überall, wo Musik lief, dazu bewegen musste. Nach drei Jahren, in denen er begeistert am Kindertanz teilnimmt, lernt Elias – nun im Alter von sechs Jahren – eine Hip-Hop-Formation kennen, tanzt seither dort mit großer Begeisterung und Euphorie und nimmt an zahlreichen Meisterschaften teil. Der Hip-Hop-Tanzstil wird zu Elias Passion.

7.3  Elias Blum: „ich zieh das jetzt durch“

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Wegen der in der Kindheit geweckten Leidenschaft zum Tanz und Elias unerschütterlichem Engagement für die Hip-Hop-Formation schlagen ihm die Eltern für seine Schulausbildung nach der Grundschule ein nahegelegenes Gymnasium mit paralleler Tanzausbildung vor. Zunächst ist Elias skeptisch, vor allem wegen des klassischen Tanzstils, mit dem er zuvor nicht in Berührung gekommen ist. Bisher identifiziert Elias sich vornehmlich mit dem H ­ ip-Hop-Tanzstil. Aber da er damals Musicaldarsteller werden wollte, erschien es ihm sinnvoll, bereits in der Schulzeit mit der Tanzausbildung zu beginnen, „weil man die dann noch nicht zusätzlich machen muss und das wär dann wieder Zeitaufwand“. Elias geht zu der Aufnahmeprüfung, besteht diese erfolgreich und wechselt zur 5. Klasse auf das Gymnasium mit Tanzprofil. Zusätzlich tanzt er in den ersten Jahren auf dem Gymnasium dank der engen Kooperationsarbeit des Gymnasiums mit der Tanzhochschule im städtischen Theater und wirkt an verschiedensten Aufführungen als Kinderdarsteller mit. Elias berichtet hocherfreut über diese Erfahrung und überdies auch von Auslandsauftritten mit der gesamten Company. Das Tanzen im städtischen Theater hat allerdings sein Ende, als Elias zu groß und somit aus der Rolle eines Kinderdarstellers herausgewachsen ist. In der 10. Klasse macht Elias ein Praktikum bei einem namhaften deutschen Designer, das ihm zum Zeitpunkt des ersten Interviews so beeindruckt hat, dass er nach dem Abitur vorhat, eine zweijährige Schneiderlehre zu absolvieren und danach eventuell im Ausland Modedesign zu studieren. Anfang der 11. Klasse geht Elias für ein halbes Jahr ins Ausland und besucht dort die Schule. In dieser Zeit tanzt und trainiert er nicht. Zum Zeitpunkt des ersten Interviews ist Elias erst vor kurzer Zeit wieder von dem Auslandsaufenthalt zurückgekehrt und besucht weiterhin die 11. Klasse und hat als Leistungskursfach Tanz gewählt. Das zweite Interview In dem zweiten Interview erzählt er beginnend von dieser Zeit (September 2012) an bis zum September 2013. Elias besucht nun die 13. Klasse und tanzt weiterhin in der Hip-Hop-Formation, in der er allerdings nun mehr Verantwortung hat, da er an den Choreographien mitwirkt. Im Winter 2012, kurz nach seiner Rückkehr von dem Auslandsaufenthalt, so berichtet Elias, durchlebt er eine „nicht so schöne Zeit“. Er spricht von einem „Loch“, in das er gefallen ist und von einem „Gedankenwirrwarr“ in seinem Kopf. Er spricht darüber, dass er wegen des Auslandsaufenthalts in der Schule und beim Tanzen viel nachholen muss, er plötzlich kein Selbstbewusstsein mehr hat und er viel darüber grübelt, was andere von ihm denken.

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Ab Februar 2013 geht es „wieder aufwärts“, so Elias. Die zuvor von ihm beschriebene kritische Phase ist beendet. Er führt an, dass er seither viel mit den anderen Tänzerinnen und Tänzern redet und insbesondere mit Julian (vgl. 7.1), einem der Tänzer aus seiner Klasse, zu dem sich eine intensive Freundschaft aufbaut. Im Frühjahr und Sommer 2013 besucht Elias verschiedene auch internationale Tanzwettbewerbe; bei dem einen wurde er in der Vorrunde „aussortiert“, bei einem anderen belegte er ganz zu seinem Verwundern den ersten Platz. Mitte Juli finden die jährlichen Tanzabende des Tanzhauses statt, an denen Elias mitwirkt. In den sich danach anschließenden Sommerferien ist er zunächst mit einigen Tänzerinnen und Tänzern und dann noch mit Freunden aus seiner Heimatstadt im Urlaub. Zum Zeitpunkt des zweiten Interviews äußert Elias bezüglich seiner Zukunftsvorstellungen, dass er im nächsten Jahr an den Auditions der Hochschulen teilnehmen möchte, um Tanz zu studieren. Nach dem Bachelorabschluss möchte er sich dann aber beruflich in eine kreative Richtung umorientieren. Falls das mit dem Tanzstudium nicht klappt, möchte er erneut ins Ausland gehen und dort arbeiten und das Land erkunden. Danach könnte er sich vorstellen, Photographie zu studieren oder eine Lehre im Modebereich zu machen. Das dritte Interview Das dritte Interview betrifft die Erlebnisse seither bis zum November 2015 und bezieht sich daher auf einen Zeitraum von etwas über zwei Jahren. Nach wie vor tanzt Elias in der Hip-Hop-Formation und hat enormen Anteil an der Erstellung der Choreographien. Kurz vor der Kursfahrt der Tanzklasse im Frühjahr 2014 – in der den jungen Tänzerinnen und Tänzern einige Tanzhochschulen gezeigt werden und sie dort am Tanztraining teilnehmen können – beginnen starke Schmerzen am Fuß, so dass Elias nicht richtig mittrainieren kann. Damit beginnt für ihn ein „Diagnosepingpong“ und eine Phase des Zweifelns. Alle Ärzte beteuern ihm, dass aus physiologischer Sicht mit seinem Fuß alles in Ordnung sei. Tanzt Elias Hip-Hop, spürt er keinen Schmerz, sobald er an der Stange steht, resigniert sein Körper. Elias weiß sich nicht zu helfen und ist frustriert, weil er spürt, dass ihn etwas „blockiert“, er aber nicht wirklich fassen kann, was. Im Sommer 2014 in der späten Abiturphase trifft er eine Entscheidung. Nach dem Abitur möchte er nicht klassisch professionell weitertanzen, sondern sich eine Auszeit nehmen. Nachdem dieser Entschluss gefallen ist, genießt Elias die letzte Zeit und die letzten Tanzabende an der Schule. Er fühlt sich befreit und gut mit der Entscheidung, seine Tanzkarriere nicht weiter zu verfolgen.

7.3  Elias Blum: „ich zieh das jetzt durch“

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Das Abitur absolviert Elias erfolgreich und seit Oktober 2014 gibt er wöchentlich Hip-Hop-Workshops an seiner ehemaligen Schule, macht seine Führerscheinprüfung, für die in der Abiturphase keine Zeit war und absolviert Foto- und Softwarekurse sowie ein längeres Praktikum in einer Werbeagentur. In dieser Phase wächst der Gedanke in ihm, Kommunikationsdesign studieren zu wollen. Daher arbeitet er intensiv an einer Bewerbungsmappe für ein künstlerisches Studium, mit der er sich im Sommer 2015 dann erfolgreich bewirbt. Im Oktober 2015 beginnt Elias mit dem Kommunikationsdesignstudium und ist mit seiner Wahl sehr zufrieden. Zum Zeitpunkt des dritten Interviews ist er inmitten der ersten Vorlesungs- und Veranstaltungsphase, lernt seine Kommilitoninnen und Kommilitonen kennen und fühlt sich in sein Studentendasein ein. Für seine Zukunft wünscht er sich, auch weiterhin in der Hip-Hop-Formation zu tanzen und erfolgreich den Bachelor abzuschließen. Einen Masterabschluss braucht er nicht zwingend, er möchte stattdessen so schnell wie möglich in die Berufswelt einsteigen. Weiterhin plant er, von zu Hause auszuziehen.

7.3.1 Der biographische Stellenwert des Tanzes Elias beginnt im Alter von vier Jahren mit Kindertanz in einer freizeitlichen Tanzgruppe an einer Tanzschule. Seine Mutter dachte, dass das was für ihn sein könnte, da er sich immer und überall zur Musik bewegt. Drei Jahre tanzt Elias dort und wechselt dann in eine Hip-Hop-Formation, in der er fortan kontinuierlich dabeibleibt. Das energische Tanzen bereitet ihm großen Spaß. Darüber hinaus bekommt er im Laufe der Zeit immer mehr Verantwortung zugesprochen, denkt sich Choreographien aus, kümmert sich um das Bühnenbild und die Kostüme. „I:ch ähm tanze halt gerne in meiner Frei:zeit“, resümiert Elias. Das semiprofessionelle Tanzen in der Hip-Hop-Formation stellt für Elias einen positiven Gegenhorizont dar. Er kann sich körperlich auspowern und seine vielen Ideen etwa in der Choreographie und dem Bühnenbild zum Ausdruck bringen. Er ist mit Leidenschaft dabei und fühlt sich vollends – auch in der dortigen Tanzgemeinschaft – aufgehoben. In der Grundschule wächst bei Elias der Kindertraum, mal Musicaldarsteller zu werden. Er selbst wollte damals eine Kinderrolle in König der Löwen übernehmen; gesucht wurden allerdings nur Kinder mit „bräuneren Hauttyp“. Die Eltern schlagen ihm wegen seiner großen Begeisterung für das Tanzen das Gymnasium mit paralleler Tanzausbildung vor. Zunächst ist Elias abgeschreckt: „nur reiner klassischer Tanz da meint ich schon so oh Gott nein das will ich auf

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7  Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits

keinen Fall machen“. Dennoch sieht Elias einen Vorteil an der schulischen Tanzausvorausbildung: „damals wollt ich auch auch son bisschen in die Musicalrichtung geh:n und dann hat man schon so dran gedacht ja wenn = ich das dann später studiere wär dann das ja schon ganz gut wenn ich das dann schon Ausbildung hätte“.

Aus vornehmlich pragmatischen Gründen entscheidet Elias sich dafür, dem Ganzen eine Chance zu geben und es auszutesten, immer mit dem Hintergedanken, aufzuhören, wenn es ihm nicht mehr gefällt: „ich probier das einfach mal aus […] kann ich immer noch aufhören wenns nicht klappt“. Elias wechselt zur 5. Klasse auf das Gymnasium und darf von Beginn an als Kindertänzer bei den Produktionen des Stadttheaters mitwirken, was, wie er anmerkt, ein „Ansporn“ war, „dass man dann auch weiter macht“. Elias fühlt sich wohl in dem sozialen Arrangement, er lernt viele Tänzerinnen und Tänzer, Choreographinnen und Choreographen sowie Ballettdirektorinnen und Ballettdirektoren kennen und ist begeistert von der kreativen Arbeit dort. Elias wird körperlich zu groß, um weiterhin als Kindertänzer im Stadttheater tätig zu sein. Den Wegbruch dieser kreativen Umgebung bedauert er sehr. Elias überlegt, ob er die schulische Tanzvorausbildung überhaupt noch fortführen soll. Diese Phasen des Zweifelns, so beschreibt es Elias, kamen immer wieder: „es ga schon immer so Momente wo man gedacht hat boar nee jetzt will ich nich = mehr jetzt hör ich auf das = is mir zu viel“. Trotz der Zweifel und der phasenweise geringen Motivation hinsichtlich der Tanzvorausbildung, bleibt Elias in der Tanzklasse. Ein Hauptgrund dafür ist „der Spaß mit den Leuten“. In der Gesellschaft der Tänzerinnen und Tänzer, die von ihm als „Familie“ betitelt wird, fühlt er sich außerordentlich wohl und gut aufgehoben. Zudem betont er immer wieder, dass er noch der Einzige ist, der konstant seit der fünften Klasse dabei ist. Die anderen Tänzerinnen und Tänzer, die mit ihm angefangen haben, sind bereits gegangen und neue Tänzerinnen und Tänzer sind seither gekommen. Des Öfteren benutzt Elias die Formulierungen, er wolle das „jetzt durchziehen“ und „zum Ende bringen“, womit er die Tanzvorausbildung parallel zur Schulausbildung meint. Auch beruflich möchte er nichts mit Tanz machen. Er strebt etwas an, was ihm „besser gefällt“. Er erfülle sowieso nicht die „körperlichen Voraussetzungen“. Zu diesem Zeitpunkt strebt Elias mit dem Abiturabschluss zusammen die Beendigung seiner Tanzkarriere an.

7.3  Elias Blum: „ich zieh das jetzt durch“

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Elias entwickelt andere Interessen, ist fasziniert von Mode und Photographie, macht in der 10. Klasse ein Praktikum bei einem berühmten deutschen Designer und merkt, dass ihm diese Welt gut gefällt. Er trifft den Entschluss, später etwas mit Mode machen zu wollen; vielleicht zunächst eine Schneiderlehre, danach möglicherweise ein entsprechendes Studium. Dennoch nimmt das schulische Tanzen einen Großteil seiner Zeit ein; er fühlt sich dort unter Druck gesetzt: „is schwierig es ist so auslastend und hast jeden Tag Training“. Das Tanzen bestimmt maßgeblich seinen Alltag und strukturiert seinen Erfahrungsraum. Es ist nicht wirklich möglich, Interessen fernab des Tanzens nachzugehen, da es kaum Auszeiten davon gibt. Elias nimmt sich eine Art Moratorium und entscheidet sich dafür, für sechs Monate ins Ausland zu gehen. Er erhofft sich einen „Neustart“, wenn er wieder zurückkommt. In dieser Zeit trainiert Elias nicht, was nicht zuletzt den doch eher geringen Stellenwert des professionellen Tanzes verdeutlicht, da jede trainingsfreie Zeit einen körperlichen Abbau bedeutet. Elias genießt die vielen vor allem zeitlichen Freiräume während seines Auslandsaufenthaltes. Der erhoffte Neubeginn nach seiner Rückkehr prophezeit sich allerdings nicht. Es verläuft nach dem Auslandsaufenthalt in den gewohnten Bahnen weiter: eine anstrengende Schulwoche mit intensiven Tanztrainings; Ausgleich stellt die ­Hip-Hop-Formation dar, in der er sich „austoben“ kann. Elias fällt in ein „Loch“, durchlebt „eine nicht so schöne Zeit“ und gerät in eine Identitätskrise: „ich war irgendwann an dem Punkt (.) wo ichs (.) nicht wirklich sagen konnte wer ich bin“. Er zieht sich zurück, redet kaum noch; bis ihn seine Englischlehrerin darauf anspricht und er daraufhin psychologische Beratung bei seiner Religionslehrerin in Anspruch nimmt. Er vertraut sich seinem Tanzlehrer an und spricht mit anderen Tänzerinnen und Tänzern. Besonderen Halt und Unterstützung findet er bei Julian (vgl. 7.1), einem Tanzkameraden aus seiner Klasse. Dank ihm, so resümiert Elias, ging es wieder „bergauf“. Julian stellt in diesem Zeitrahmen eine wichtige Bezugsperson für Elias dar; er unterstützt ihn auch in Bezug auf den Tanz. Sie treffen sich außerhalb des Tanzhauses, um gemeinsam zu trainieren. Zusammen erleben sie tänzerische Erfolge auf internationalen Tanzwettbewerben. So gewinnen sie etwa beide auf dem einen Wettbewerb eine Goldmedaille. Julian ist Elias nicht nur eine emotionale Stütze, er motiviert und spornt ihn an, so dass er den „Spaß am Tanzen wiedergefunden hat“. In dieser Phase strebt er nun doch ein Tanzstudium an und verfolgt damit auch nach dem Schulabschluss eine weitergehende Tanzkarriere. Er hat Angst vor „so = n cut“ und der „komplette[n] Lebensumstellung“. Es scheint, als habe sich

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7  Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits

Elias wieder in der Tanzwelt eingefunden. Er ist wieder motiviert, erzielt Erfolge und hat in Julian jemanden gefunden, der ihn mitzieht. Dennoch sieht er sich implizit nicht in der Rolle eines professionellen Berufstänzers, denn nach dem Tanzstudium will er sich umorientieren und was Kreatives in Richtung Mode oder Photographie machen. Auch wenn Elias zu diesem Zeitpunkt seine Tanzkarriere weiterverfolgen möchte und einen Übergang in die Tanzhochschule anstrebt, plant er für die ferne Zukunft einen beruflichen Abbruch und Neubeginn. Er weiß bereits, dass er kein professioneller Bühnentänzer werden kann. Der Absprung aus den Strukturen der Tanzausbildung scheint erschwerend für ihn zu sein, da er biographisch verlagert wird. Während er zum Zeitpunkt des ersten Interviews seine Tanzkarriere nach dem Abiturabschluss beenden möchte, will er zum Zeitpunkt des zweiten Interviews von der Tanzvorausbildung nach dem Abitur in die Tanzvollausbildung in Form eines Studiums übergehen und erst nach Beendigung dieser die Tanzkarriere ad acta legen. Zum Zeitpunkt des dritten Interviews hat Elias seine Tanzkarriere nun doch – parallel zum Abiturabschluss – beendet. Diese Entscheidung ist ihm allerdings nicht leichtgefallen. Kurz vor der Abschlussfahrt der Tanzklasse bekommt Elias „Fußprobleme“. Die Abschlussfahrt wird zu einer Odyssee für ihn. Die jungen Tänzerinnen und Tänzer schauen sich verschiedene Tanzhochschulen an, sprechen mit Berufstänzerinnen und Berufstänzern und dürfen an den Trainings teilnehmen. Elias kann auf Grund von Schmerzen im Fuß nicht richtig mittrainieren und sich vor den Dozentinnen und Dozenten nicht gut „präsentieren“. Er zieht sich zurück und wird nachdenklich. Wieder zu Hause angekommen, besucht Elias mehrere Ärzte, um abklären zu lassen, was mit seinem Fuß nicht in Ordnung ist. Alle bestätigen ihm, dass aus physiologischer Sicht alles funktionstüchtig mit seinem Fuß sei. Und dennoch, sobald er klassisch tanzt, hat er unbeschreibliche Schmerzen. Beim Hip-Hop verspürt Elias keinerlei Einschränkungen am Fuß. Es beginnt eine Phase der Verunsicherung, denn er weiß, „irgendwas blockiert [ihn]“; die Fußprobleme müssen psychischer Art sein. Die Blockade löst sich erst, als er öffentlich verkündet, „es ist Ende (.) es wird kein Tanzstudium für für mich geben“. Als einen „Moment der Befreiung“ beschreibt Elias diese Entscheidung. Trotzdem ist er „stolz“ auf sich, dass er „das durchgezogen hat mit dem Tanzen“ bis zum Ende der Vorausbildung. In seiner Freizeit tanzt er Hip-Hop weiter und gibt Workshops für Schülerinnen und Schüler. In dem Jahr nach dem Abitur nimmt Elias sich „ein Jahr Pause“ und probiert Dinge aus, für die er vorher keine Zeit hatte. Er ist froh über seine Entscheidung, den Weg zum professionellen Berufstänzer nicht

7.3  Elias Blum: „ich zieh das jetzt durch“

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gegangen zu sein. Jetzt kann Elias das entfalten, wofür er vorher keine Kraft und Zeit hatte: Er kann kreativ sein. Zugespitzt lässt sich formulieren, dass die klassische Tanzvorausbildung für Elias biographisch eine Blockade darstellt. Aus einem zögerlichen „ich probier das mal aus“ ist ein „ich zieh das jetzt durch“ geworden. Elias leidet regelrecht unter der Last des schulischen Tanzens. Im Gegensatz dazu kann er sich in der Hip-Hop-Formation verwirklichen und seine kreativen Ideen umsetzten. Generell ist bei Elias der Hang zum Kreativen stark ausgeprägt. Der Tanz hindert ihn daran und das führt ihn letztlich in eine biographische Krise, die jedoch zunächst nicht aufgelöst wird. Ganz im Gegenteil; durch einen guten Tänzerfreund, der ihn stark motiviert, findet Elias scheinbar doch wieder Gefallen an der Tanzausbildung und möchte sie gar fortführen. Erneut wird deutlich – denn schließlich wechselt er auf Empfehlung seiner Eltern auf das Gymnasium mit Tanzprofil –, dass Elias einen Antrieb von außen benötigt, um das professionelle Tanzen fortführen zu können. Ebenso war es auch gleich zu Beginn der Tanzvorausbildung. Das Mittanzen im Stadttheater beeindruckt Elias so sehr, dass er entgegen seiner Gefühle aufhören zu wollen, doch weiter in der Tanzklasse bleibt. Der Antrieb ist stets extern gesteuert und von besonderer Bedeutung sind die Leute wie auch der spezielle familiäre Zusammenhalt der Tänzerinnen und Tänzer und das kreative Umfeld, das ihn umgibt. Er fühlt sich wohl in der kreativen Ballettwelt, jedoch nicht in seiner Rolle als Tänzer. Einfach mit der Tanzvorausbildung aufhören, scheint jedoch undenkbar für Elias. Er will das durchziehen und zu Ende bringen. Die Fußprobleme, die nicht vom Körper herrühren, sondern die auf ein psychisches Leiden zurück zu führen sind, geben Elias Grund genug dafür, die klassische Tanzkarriere nicht weiter fortzuführen. Er beendet die Tanzvorausbildung, möchte aber nicht in die Tanzvollausbildung übergehen. Mit der Verkündung dieser Entscheidung ist eine große Last von ihm abgefallen. Er fühlt sich danach unbeschwert, hat Freiraum für kreative Entfaltung und verfolgt weiterhin das semiprofessionelle ­Hip-Hop-Tanzen.

7.3.2 Der Modus Operandi der Tanzkunst und der Zusammenhang zum biographischen Stellenwert des Tanzes Für Elias ließen sich in allen drei Interviews erstens eine Orientierung an Kreativität und zweitens eine Orientierung an Wohlbefinden in sozialen Kontexten

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7  Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits

rekonstruieren, deren Zusammenwirken den biographischen Stellenwert des Tanzes erklärt. Elias ist schon als Kind voller Energie („war son kleiner Zappelphilipp“) und Ideenreichtum. Er berichtet begeistert davon, dass er Talentshow mit Freuden gespielt hat und er selbst stets der Moderator war. Er hat kindliche Visionen und wünscht sich als großer Musicalfan sehnlichst, bei König der Löwen als Kinderstatist mitzuspielen. Er fotografiert gerne und interessiert sich für Mode und macht sogar ein Praktikum bei einem Designer. In der Hip-Hop-Formation kann er beim Choreographieren seine Kreativität voll ausschöpfen. Auch seine vielfältigen Zukunftsvorstellungen, die in jedem Interview etwas anders gelagert sind, verweisen darauf, dass er viele Ideen und Vorstellungen hat und nicht auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitet. Es dokumentiert sich eine gewisse Experimentierfreude. Elias probiert gerne Dinge aus und lehnt sie nicht im Vorhinein kategorisch ab. Genauso verhält es sich mit dem klassischen Tanz. Seine Eltern schlagen ihm die Schule mit tänzerischem Profil vor und trotz seiner Skepsis probiert er es erstmal aus. Langeweile und Einfallslosigkeit bewertet Elias als negativ. Schon in seinen Kindheitserzählungen wird von ihm betont, dass er „nich son Compterkind is son oder son typischer Junge mit Fußball oder weiß nicht ich nich Cowboy oder Indianer Pistole solche Sachen halt […] würd auch glaub heute nich auf die Idee kommen irgendwelche Ballspiele zu spieln“. Elias ist daran orientiert, sich kreativ zu entfalten, Neues auszuprobieren und Originelles zu erschaffen. Die Orientierung an Kreativität führt Elias letztlich auch zum klassischen Tanz. Obwohl er skeptisch hinsichtlich dessen ist, lässt er sich darauf ein und will es „einfach mal ausprobiern“. Die Option, damit aufzuhören, lässt er sich offen. Elias Orientierung an Kreativität kann zu Beginn der schulischen Tanzvorausbildung erfüllt werden, da er im Stadttheater als Kindertänzer tätig sein kann. Später dann, als dies sein Ende nimmt, beginnen die ersten Zweifel an der Tanzvorausbildung. Die Orientierung an Kreativität wird nun nicht mehr bedient, denn die klassische Tanzausbildung, wie er sie wahrnimmt, stellt einen Widerspruch zu dieser Orientierung dar; sie bedeutet nicht nur, in vorgegebenen Strukturen funktionieren zu müssen, sondern überdies auch, Stress und Druck Stand halten zu müssen und zeitlich vollends ausgelastet zu sein. Der Freiraum für Kreativität ist für Elias unter jenen Voraussetzungen nicht gegeben. Das schulische Tanzen bereitet ihm keinen Spaß mehr. Kontrastiv dazu steht das Tanzen in der Hip-HopFormation. Hier kann sich die Orientierung an Kreativität entfalten. Dass Elias den klassischen Tanz fortführt, obwohl er in seiner Orientierung an Kreativität nicht aufgeht, lässt sich mit seiner Orientierung an Wohlbefinden in sozialen Kontexten erklären. Elias wächst in einem engen und stabilen

7.3  Elias Blum: „ich zieh das jetzt durch“

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Familien- und Freundeskreis auf. Das Eingebundensein in soziale Netzwerke hat enorme Bedeutung für ihn. Darüber hinaus ist aber wichtig, dass er sich in diesen Kontexten wohl und akzeptiert fühlt. Die intensiven Freundschaften zu den Tänzerinnen und den Tänzern seiner Klasse, der „Tänzerfamilie“, geben ihm den entscheidenden Halt dafür, weiter zu tanzen: „mit den Leuten macht das Spaß“, resümiert er. Nur deshalb hält er durch. Die engen Peerbeziehungen sind für Elias hochgradig bedeutsam und führen dazu, dass er sich mit der ihm wenig Spaß bereitenden Tanzausbildung arrangieren kann. Auch die Universität, an der er studiert, wählt Elias danach aus, ob er sich dort wohl fühlt. Der einen Universität sagt er ab, weil »vom Empfinden her (.) [war es dort] relativ kühl […] ann muss ich mich wohl fühlen und irgendwie so ne gewisse Wärme (.) //hm// vom menschlichen her spüren und das (.) hat ich da irgendwie nicht also es war irgendwie alles so (.) distanziert«. An der Universität, für die er sich entschieden hat, ist »alles sehr (.) familiär (.) auch mit den Professoren und mit den anderen Studierenden […] das man auch zu Kursen geht wo man eigentlich nicht so Lust drauf hat aber mit den Leuten wird das dann lustig“.

Auch hier verdeutlicht sich, dass strukturelle und organisationale Gegebenheiten in den Hintergrund treten, wenn das soziale Umfeld für Elias stimmig erscheint. Er muss sich wohl und auf irgendeine Art und Weise familiär eingebunden fühlen. Das Tanzen im Stadttheater zu Beginn der klassischen Tanzausbildung stellen positive Erfahrungen für Elias dar. Er berichtet aber nicht vom Tanzen selbst, sondern von den Leuten, „mit denen so zusammen[ge]wachsen“ ist. Auch das Schülerpraktikum bei einem Designer wird von Elias als angenehme Erfahrung auf Grund der wohlwollenden Atmosphäre verhandelt: „aso die warn alle total freundlich da war familiär und ähm (.) ich hab mich direkt wohl gefühlt“. Die Orientierung an Wohlbefinden in sozialen Kontexten zeigt sich, wie soeben aufgeführt, in verschiedensten Zusammenhängen. In jeglichen strukturellen Kontexten, sei es Schule, Tanz, Studium oder Praktikum, ist ein harmonisches, soziales Gefüge für Elias Wohlbefinden enorm ausschlaggebend. Als einen eher vagen Grund für seine krisenhafte Phase nach der Rückkehr von dem sechsmonatigen Auslandsaufenthalt benennt er, dass in die Tanzklasse neue Leute dazu gekommen sind, mit denen hat er sich „nicht ganz so gut verstanden“. Sein Selbstbewusstsein schwindet; er denkt viel darüber nach, „was andere (.) über [ihn] denken oda (.) sagen könnten (.) oda was auch immer, einfach was den so durch den Kopf geht“. Er fühlt sich in dem sozialen Klassengefüge nicht mehr wohl. Und darüber hinaus zweifelt er an der klassischen Tanzausbildung. Elias baut eine intensive Freundschaft zu Julian auf. Er ist einer

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der neuen Tänzer in der Klasse. Mit ihm findet Elias wieder in die Gruppe der Tänzerinnen und Tänzer zurück. Des Weiteren findet er in Julian einen leidenschaftlichen und auch erfolgreichen Tänzer, der Elias beim Tanzen unterstützt und ihn maßgeblich motiviert. Mit dieser neuen Freundschaft, so könnte man formulieren, kann Elias (kurzzeitig) den Tanz wieder mit seiner Orientierung an Kreativität in Einklang bringen sowie zurück in die Gruppe der Tänzerinnen und Tänzer finden und so auch seine Orientierung an Wohlbefinden in sozialen Kontexten aufwarten. Dennoch führt Elias eine Art inneren Kampf, denn implizit merkt er, dass er sich zukünftig nicht in der Rolle des Tänzers sieht. Insbesondere die Erwartungen der Anderen machen ihm zu schaffen, denn die wollen natürlich, dass er seine Tanzkarriere weiterführt. Die Tanzpädagoginnen und Tanzpädagogen halten viel von seinen tänzerischen Leistungen. Er selbst denkt, dem Druck nicht standhalten zu können und die körperlichen Voraussetzungen nicht mitzubringen. Der innere Konflikt und die Tatsache, dass Elias selbst die Entscheidung, die Tanzkarriere zu beenden, nicht treffen kann, spitzen sich derartig zu, dass er psychisch begründbare Probleme am Fuß bekommt. Auf Basis dieses vornehmlich explizit körperlichen und implizit psychischen Defizitzustandes entscheidet sich Elias dafür, die Tanzkarriere nicht weiter fortzuführen. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Orientierung an Kreativität Elias zum Tanzen geführt hat. Der schulische Tanz selbst ist allerdings in dieser Orientierung nicht aufgehoben. Die Anreize, das Tanzen fortzuführen, hängen mit der Orientierung an Wohlbefinden in sozialen Kontexten zusammen. Der Schulabschluss und der Abschluss der tänzerischen Vorausbildung stellen für Elias einen Umbruch dar. Das Studium der Kommunikationswissenschaften ist in der Orientierung nach Kreativität vollends aufgehoben; ebenso wie die ­ Hip-Hop-Formation, die er weiterhin fortführt. Überdies fügt sich seine Orientierung an Wohlbefinden in sozialen Kontexten im Studienkontext harmonisch. Zum Zeitpunkt des dritten Interviews stehen die rekonstruierten Orientierungen in einem harmonischen Wechselspiel zueinander.

7.4 Maria Fischer: „ich hab immer nur Sachen für den Tanz geopfert wie wärs wenn ich einfach mal den Tanz für irgendwas andere opfer“ Maria ist zum Zeitpunkt des ersten Interviews – im April 2012 – 16 Jahre, zum Zeitpunkt des zweiten Interviews – im Juli 2013 – 17 Jahre und zum Zeitpunkt des dritten Interviews – im April 2016 – 20 Jahre alt.

7.4  Maria Fischer: „ich hab immer nur Sachen für den ...

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Das erste Interview Maria wächst in intakten Familienverhältnissen auf. Zu ihren Eltern, ihrer zwei Jahre älteren Schwester und ihrem fünf Jahre jüngeren Bruder hat sie enge Beziehungen. Zusammen unternehmen sie viel, reden über alles und unterstützen sich gegenseitig: „die gebn mir einfach auch so Kraft und kann ich irgendwie auftanken“. Maria bezeichnet sich selbst als „Familienmensch“. Maria geht in den Kindergarten, wechselt danach auf eine Montessori Grundschule und dann zunächst auf ein städtisches Gymnasium. Mit drei Jahren beginnt sie mit dem Ballettunterricht, ab 10 Jahren tanzt sie nach erfolgreicher Aufnahmeprüfung im Opernhaus. Mit 12 Jahren wechselt sie auf das Gymnasium mit tänzerischem Profil. Sie wird in die 7. Schulklasse und wegen ihrer fortgeschrittenen tänzerischen Leistungen in die 8. Tanzklasse geschult. Bereits zuvor – wann genau bleibt leider unklar – absolviert Maria die Aufnahmeprüfung an dem Gymnasium mit tänzerischem Profil und bekommt auch eine Zusage, aber zu diesem Zeitpunkt, so resümiert sie, wäre der Wechsel „noch nich so in [ihrem] Interesse irgendwie“ gewesen. Auch der spätere tatsächliche Übergang auf das Gymnasium mit Tanzprofil beschreibt Maria eher als spontan und zufällig passiert. Ihre Mutter hat ihr vorgeschlagen, zu der Nachaufnahmeprüfung – die Mutter erfährt kurzfristig von dem Termin, der eigentlich ein schulinternes Zusammentreffen ist, bei dem Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums die Chance bekommen, dort vorzutanzen und eventuell in die Tanzklasse aufgenommen zu werden – zu fahren, um „zu gucken wie [sie] steh[t]“. Maria ist einverstanden und geht zu dem Vortanzen. Zusammen mit einem anderen Mädchen durchlebt sie die Aufnahmesituation. Während das Mädchen eine Absage bekommt und tränenverströmt den Raum verlässt, was Maria sehr leidtut, wird sie angenommen. Maria selbst weiß nicht, ob sie „wirklich jetzt das möchte“. Im Gespräch mit den Tanzpädagogen wurde Maria gesagt: „ja wenn du denn Tänzerin werdn möchtest“ – und das will Maria – „dann musst du jetzt hier her kommen“. Retrospektiv betrachtet, fühlt sie sich „überredet“. Der Wechsel ist nicht leicht für Maria. Sie hat zahlreiche feste Freundesbeziehungen in der alten Schule und selbst noch Freunde aus früheren Zeiten, zu denen sie stets engen Kontakt hat. Trotz der wenigen Zeit, die Maria neben Schule und Tanztraining bleibt, versucht sie, die Freundschaften aufrecht zu erhalten. Maria berichtet umfassend über ihre Peers, mit wem sie was macht und welche Eigenarten jeder hat. Auf dem Gymnasium mit tänzerischem Profil hat sie sich „direkt total wohlgefühlt“ in der Gemeinschaft der Tänzerinnen und Tänzer und auch in die der Schule generell. Maria findet schnell Anschluss und kann zahlreiche

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neue Freundschaften knüpfen. In der Schule ist sie „disziplinierter geworden“ und hat noch bessere Schulleistungen als zuvor auf dem Gymnasium. Maria ist umfassend über Beziehungsgefüge – wer mit wem kann und wer nicht und warum nicht – informiert. Allerdings kommt es zu Konflikten in ihrer Tanzklasse. Maria fühlt sich ausgeschlossen. Sie tanzt in einem Stück der höheren Tanzklassen mit, bekommt daher intensive Einzelförderung und vermutet, dass es daran liegen kann, dass einzelne Tänzerinnen und Tänzer ihrer Klassenstufe sie nicht mehr in Aktivitäten integrieren. Maria ist enttäuscht und distanziert sich. Dieser Konflikt löst sich jedoch auf, als zum neuen Schuljahr neue Tänzerinnen und Tänzer in die Klasse kommen und andere die Klasse verlassen. In der 10. Klasse absolviert Maria zusammen mit einem Tänzer aus ihrer Tanzstufe eine Aufnahmeprüfung an einer namhaften deutschen Hochschule. Sie bekommt eine Zusage für ein Tanzstudium. Maria hat „Angst“ vor dem „Abenteuer“, möchte „die Chance aber nutzen“. Ab September wird Maria mit nur 16 Jahren weit weg von ihrer Familie und ihren Freunden sein und Tanz studieren. Nebenbei möchte sie auf einem Abendgymnasium ihr Abitur absolvieren. Sie wünscht sich, dass sie das „durch[hält] und trotzdem dabei irgendwie zufrieden bleib[t]“. Das zweite Interview Zum Zeitpunkt des zweiten Interviews, ein Jahr und vier Monate später, studiert Maria Tanz und besucht nebenbei am Abend das nahegelegene Gymnasium, an dem sie parallel zum Tanzstudium ihr Abitur absolviert. Maria setzt mit ihren Interviewausführungen direkt an das Erzählte des letzten Interviews an und berichtet von einer Klassenfahrt, von den letzten Tanzabenden der Schule und von dem Urlaub mit der Familie. Im September 2012 zieht Maria in die Großstadt, in der sie zukünftig leben, studieren und ihr Abitur absolvieren wird. Sie ist nun grob überschlagen sechs Autostunden von ihrer Familie und ihrer Heimatstadt entfernt. In den ersten zwei Monaten wohnt Maria bei einem Kollegen ihres Vaters, danach zieht sie in ein Studentenwohnheim, in dem sie die einzige Tänzerin ist. Maria knüpft sehr schnell viele Freundschaften in ihrem Wohnheim, zu den Tänzerinnen und Tänzern aus der Hochschule und auch zu Klassenkameradinnen und Kameraden am Abendgymnasium. Sie hat ein breites soziales Umfeld und berichtet von vielseitigen Freizeitbeschäftigungen in der wenigen Zeit, die ihr neben Studium und Schule noch bleibt. Unter anderem hat Maria einen festen Freund. Er ist auch Tänzer. Jedoch ist er sehr eifersüchtig und die beiden streiten sich häufig. Marias Familie lernt ihren

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Freund auch kennen und sie sind nicht begeistert von ihm. Schließlich trennt Maria sich von ihm, weil sie die ständige Kontrolle und die schlechte Laune nicht ertragen kann. Doch auch nach der Trennung haben die zwei oft Streit. Generell hat Maria „viel Stress“ mit der Schule und mit dem Tanzen. Ihr Tagespensum ist beachtlich. Dennoch erbringt sie gute bis sehr gute Leistungen in der Schule und besteht im Tanzen die Halbjahresprüfung und die Ganzjahresprüfung, die zeitgleich mit der Prüfungsphase auf dem Abendgymnasium stattfindet. In der Semesterpause ist Maria mit ihrer Familie im Urlaub und zum Zeitpunkt des zweiten Interviews nimmt sie gerade an einem Tanzworkshop teil. Ihre Zukunft ist „relativ ungewiss“, so Maria. Das nächste Jahr, so vermutet sie, wird es noch mal hart und sie ist bereits jetzt an ihre „Grenzen“ gestoßen. Sie möchte ihr Abitur abschließen und sich dann voll und ganz auf das Tanzen konzentrieren. Dann werden auch schon die Auditions kommen. Das dritte Interview Zum Zeitpunkt des dritten Interviews, nicht ganz zwei Jahre später, lebt Maria in Australien. Seit dem letzten Gespräch sei viel passiert, so Maria. Nach der semesterfreien Zeit bekommt Maria eine neue Ballettlehrerin, die nach der strengen Wagonowa-Methode unterrichtet. Diese zielt vor allem auf die korrekte Ausführung einzelner Bewegungen sowie Standposen und nicht auf Dynamik und Energie ab. Maria fühlt sich in Bewegungen gezwungen, die ihr Körper nicht im Stande ist, durchzuführen. Zudem bekommt sie von der Lehrerin oftmals gesagt, dass sie körperliche Defizite hätte und nicht schön genug sei. Maria verliert die Lust am Tanzen. Trotzdem bemüht sie sich, alles richtig zu machen und ihrer Lehrerin gerecht zu werden. Sie meldet sich mit einer Freundin im Fitnessstudio an, um auch weiterhin an ihrer Kondition zu arbeiten. Maria fühlt sich sozial zu wenig eingebunden, da sie mit dem Studium und den Abiturvorbereitungen enorm viel zu tun hat. Es bleibt so gut wie keine frei verfügbare Zeit mehr, um Freunde zu treffen. Nach den Abiturprüfungen verbringt Maria einen Urlaub mit der Familie, muss allerdings wegen eines Tanzprojektes – Maria tanzt in einer Wertheriade2 – eher abreisen. Im Oktober 2013 verletzt Maria sich am Fuß und kann drei Monate lang nicht tanzen, erst im Januar 2014 beginnt sie mit dem „eintrainieren“ und fühlt sich wenig vorbereitet auf die anstehenden Auditions. Nicht nur der immer noch

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Wertheriade ist ein Tanzstück, das sich am Vorbild von Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ orientiert.

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schmerzende Fuß macht ihr zu schaffen, auch das vorherige wagonow´sche Tanztraining, meint Maria, habe sie nicht sonderlich für die Auditions befähigt. Für Maria folgt eine kritische Phase: Sie durchlebt eine regelrechte Auditionsodyssee. Maria nimmt an zahlreichen Vortanzen an unterschiedlichen Orten teil, teilweise an den Wochenenden. Zudem erleidet sie mehrere Zusammenbrüche während des Tanzunterrichts. Sie ist „down“ und empfindet Druck von allen Seiten: Sie bekommt nur Absagen in den Auditions; ihre Lehrerin sagt ihr, dass sie nicht elegant genug und zu wenig talentiert sei, um als Tänzerin standhalten zu können; ihre Eltern wollen wissen, was sie zukünftig machen möchte; zudem sieht sie sich zunehmend sozialen Konflikten ausgesetzt. Ein enger Freund ist depressiv und mittlerweile in Behandlung. Maria will ihm helfen, stattdessen gesteht er ihr seine Liebe. Für ihr Engagement, wie etwa das Herrichten eines Gemeinschaftsraumes für die Tänzerinnen und Tänzer, bekommt sie keine Anerkennung, was sie sehr ärgert. Sie fühlt sich „körperlich und seelisch tot“. Zwischen den vielen negativen Momenten bekommt Maria eine Anfrage von der Company aus Australien, bei der sie sich eher aus der Not heraus beworben hat und nicht wirklich plant, dort hinzugehen. Sie solle unbedingt Videos schicken und könne eventuell in der nächsten Saison in deren Junior Company trainieren. Zunächst ignoriert Maria die Anfrage und antwortet nicht. Als sie zunehmend mehr Druck empfindet, weil sie noch keine Zusage für eine Anstellung erhalten hat und ihre Eltern langsam ungeduldig werden, sieht sie in dem Angebot eine Chance. Sie schneidet zusammen mit einem Freund ein Video zusammen, schickt es dem Direktor der Company und bekommt einen Einjahresvertrag in der Juniorcompany angeboten. Maria sagt zu und muss sich nun um viele organisatorische Angelegenheiten kümmern. Ihre Familie ist nicht begeistert davon, dass Maria nach Australien gehen will. Maria nimmt nur noch Vorwürfe seitens ihrer Familie wahr. Dennoch besteht sie ihre tänzerische Abschlussprüfung. Von insgesamt 13 Tänzerinnen und Tänzer, die das Studium begonnen haben, schaffen drei den Bachelorabschluss. In dem nach dem Studienende stattfindenden Familienurlaub kommt es zu einer versöhnenden Aussprache mit der Familie. Maria sagt ihnen, dass sie sich in der Abschlussphase des Studiums und während der Auditionstour von den Eltern unter Druck gesetzt und nicht verstanden gefühlt hat. Aus dem Urlaub wieder zurück, organisiert Maria eine Abschlussfeier mit vielen ihrer Freundinnen und Freunde. Zudem absolviert sie ihre theoretische Führerscheinprüfung, für die sie vorher kaum Zeit zum Lernen hatte. Sie besteht diese nicht und fährt direkt im Anschluss an die nicht bestandenen Prüfung mit ihrer Mutter in ihre Heimat. Die Hälfte der Autofahrt weint sie durchgängig, einerseits wegen der

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­ isslungenen Prüfung und anderseits, weil sie traurig ist, all ihre Freundinnen m und Freunde und ihr Leben dort zu hinterlassen. Kurze Zeit später geht ihr Flieger nach Australien. Der Direktor der Company holt sie vom Flughafen ab. Maria lernt auch gleich die anderen Tänzerinnen und Tänzer kennen und fühlt sich direkt willkommen. Insbesondere ist sie vom Tanztraining dort beeindruckt. Der Direktor möchte, dass die Tänzerinnen und Tänzer Spaß am Tanz haben und in den Choreographien selbst kreativ werden. Maria findet ihre Leidenschaft zum Tanz wieder und knüpft schnell soziale Kontakte. Sie geht aus und unternimmt Ausflüge. In einem Pub lernt sie Jonathan kennen. Die beiden werden ein Paar. Durch das intensive Training bekommt sie erneut Probleme mit dem Fuß. Zunächst versucht Maria, die Schmerzen zu ertragen, was allerdings zunehmend unmöglicher wird. Sie kann nicht mittrainieren und wird dementsprechend für Besetzungen nicht eingeteilt. Zwischenzeitlich arbeitet Maria als Kellnerin in einem nahegelegenen Pub. Im März 2016 geht sie für drei Wochen auf Auditiontour durch Europa, wohlgemerkt mit einem schmerzenden Fuß. Sie bekommt keinen Job und auch in ihrer Company sind die Verträge für die Hauptcompany schon vergeben. Nach der Auditiontour, die Maria in mehrere Städte führte, macht sie einen Stopp bei ihrer Familie und feiert dort ihren 20. Geburtstag. In ihrer Heimatstadt wird sie am Fuß operiert. Insgesamt ist Maria drei Monate nicht in Australien. Ihren Job in dem Pub musste sie kündigen. Zurück in Australien kann sie immer noch nicht mittrainieren. Sie geht zur Physiotherapie und unternimmt viel mit Jonathan. Mit den Tänzerinnen und Tänzern der Company hat sie nur noch wenig Kontakt, da diese oft zu erschöpft vom Training sind, um was zu unternehmen. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Maria deprimiert und fühlt sich alleine. Jonathan ist für drei Wochen unterwegs und die Tänzerinnen und Tänzer sind gerade von einer Tournee wiedergekehrt und vollkommen mitgenommen und ausgelaugt. Sie skypt derzeit viel mit Freundinnen und Freunden und recherchiert intensiv im Internet darüber, was sie studieren könnte, falls sie sich gegen den Tanz entscheiden sollte. Es sei gerade nur eine echt blöde Woche, so Maria. Nächste Woche wäre sie „sozial wieder eingebundener“. Sie fängt in einem anderen Pub an zu arbeiten und Jonathan kommt dann auch wieder. Marias Zukunft ist zum Zeitpunkt des dritten Interviews ausgesprochen ungewiss. Sie zweifelt daran, überhaupt noch Tänzerin werden zu können. Sie will zwar tanzen, aber nicht mit all dem „drum herum“. Sie ist nicht bereit, noch mehr für den Tanz zu opfern. Vor allem ist sie nicht bereit, ihr soziales Leben

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7  Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits

für den Tanz zu opfern. Sie sieht keinen Sinn darin, irgendwo für eine oder zwei Saison(s) zu tanzen und dann zu wissen, dass sie wieder den Standort wechseln und neue Freundschaften finden muss. Für die nächste Saison hat sie keinen Vertrag bekommen. Vielleicht beginnt sie, etwas anderes zu studieren, etwa Psychologie, und tanzt parallel dazu auf Auditions und versucht, einen Vertrag zu bekommen. Oder auch nicht. Sie ist sich zudem unsicher, an welchen Standort sie zukünftig sein möchte. Geht sie zurück zu ihrer Familie oder zurück in die Großstadt, in der die meisten ihrer Freundinnen und Freunde sind, oder bleibt sie in Australien wegen Jonathan, in den sie sich verliebt hat. In nur wenigen Monaten läuft ihr Vertrag in der ­Junior-Company aus und Maria hat keine Pläne, wie es weiter gehen soll. Anmerkung Im Dezember 2016 wurde ich von einer Kollegin auf einen Zeitungsartikel aufmerksam gemacht. Sie sagte, das könnte mich bestimmt interessieren, denn in dem Artikel ginge es um Tänzerinnen und um Vortanzen. Gespannt las ich den Bericht, in dem der Autor davon berichtet, wie er insgesamt über drei Monate hinweg zwei Tänzerinnen vor und nach einem Vortanzen begleitet hat. Ganz zufällig ist eine der Tänzerinnen Maria. Der Autor berichtet von einem für sie erfolgloses Vortanzen. Es muss in der Zeit gewesen sein, in der Maria für drei Monate in Deutschland war und die Auditiontour durchlebt hat, denn der Autor berichtet auch davon, dass sie nach dem Vortanzen operiert wurde. Darüber hinaus wird in dem Artikel erwähnt, dass Maria schon bald an einer Universität Psychologie studieren wird.

7.4.1 Der biographische Stellenwert des Tanzes Maria findet eher zufällig den Weg zum professionellen Tanzen. Als Kind geht sie zum Ballett und hat großen Spaß daran. Sie findet schnell Freunde und fühlt sich „gut aufgehoben“. Der Übergang auf das Gymnasium mit Tanzprofil erfolgt nicht aus einem Karrierekalkül heraus. Ganz gegenteilig: Maria nimmt eher zufällig an der Aufnahmeprüfung teil und die Tanzpädagoginnen und Tanzpädagogen müssen sie regelrecht „überreden“: Wenn sie Tänzerin werden möchte, muss sie unbedingt auf diese Schule kommen. Maria will Tänzerin werden bzw. möchte sie das „Tänzerleben“ führen, welches für sie ein Leben mit vielen Freunden und Bekanntschaften bedeutet. In ihren Ausführungen geht es vornehmlich nie um den Tanz an sich oder gar darum, Erfolg damit zu haben, sondern stets um Peerbeziehungen. Wann hat

7.4  Maria Fischer: „ich hab immer nur Sachen für den ...

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sie wie mit wem getanzt und was wurde neben dem Tanz zusammen erlebt. Das sind die Themen, die Maria in allen drei Interviews ausführt. Das Soziale und menschliche Miteinander im Tanz stehen für Maria im Mittelpunkt. Sie ist daran interessiert, dass sich die Tanzgruppe weiterentwickelt; Einzelerfolge sind kaum von Bedeutung für sie. Maria fühlt sich in funktionierenden Gruppengefügen wohl. Problematisch wird es dann, wenn Beziehungen konflikthaft werden. Es lässt sich nachzeichnen, dass Maria immer Auswegentscheidungen trifft, die sich auf die Intensivierung der Tanzkarriere richten, wenn es zwischenmenschlich kompliziert ist. Auf dem Tanzgymnasium etwa fühlt sich Maria von einigen Tänzerinnen und Tänzern ausgeschlossen. Sie spricht sogar von „Mobbing“, ist enttäuscht und zieht sich zurück. Zu diesem Zeitpunkt entschließt sie sich, auf die Tanzhochschule in einer entfernten Großstadt zu wechseln. Vor einer ähnlichen Situation steht Maria am Ende ihres Studiums. Sie muss sehr viel für ihren Abiturabschluss und ihren Bachelorabschluss gleichzeitig machen, sie fühlt sich sozial nicht mehr eingebunden, ihre Tanzlehrerin sagt ihr ständig, sie sei nicht grazil und nicht begabt genug, einer ihrer besten Freunde ist depressiv, sie hat Probleme am Fuß, in den Auditions bleibt sie erfolglos und ihre Eltern üben zunehmend Druck bezüglich ihrer Zukunft auf sie aus. Maria bricht mehrmals während des Tanztrainings zusammen. Sie empfindet nur noch „Druck“: „Ich war halt einfach tot […] Ich konnte nicht mehr […] war halt einfach (.) körperlich seelisch und moralisch (.) war ich halt unten“. Sie sieht einen Ausweg in dem Angebot, für ein Jahr in einer Junior Company in Australien tanzen zu können. Maria nimmt das Angebot an. Mit erst 19 Jahren ist dies bereits der zweite biographische „Neuanfang“ für Maria, den sie als „Befreiung“ empfindet. Zum Zeitpunkt des dritten Interviews befindet sie sich in einer biographischen Misslage. Ihre Zukunft ist auf verschiedensten Ebenen ungewiss. Sie weiß nicht, ob sie weiter tanzen will. Das Tanzen an sich macht ihr nach wie vor Spaß, aber sie will das „ganze Drama drum herum“ nicht mehr. Ihr Fuß ist verletzt. Eine Anstellung für die nächste Saison hat sie nicht. Ihre Zeit in Australien in der Junior Company geht zu Ende. Allerdings hat sie sich dort in einen jungen Mann verliebt. Maria ist ratlos. Geht sie zurück in ihre Heimat zu ihrer Familie, zu der sie ein sehr gutes, inniges Verhältnis hat oder kehrt sie zurück in die Großstadt, in der sie studiert hat und in der die meisten ihrer engsten Freundinnen und Freunde sind oder bleibt sie bei Jonathan in Australien? „Mein Glück ist überall verteilt“, resümiert Maria. Maria möchte vielleicht Psychologie studieren. Sie ist an einem Punkt ihrer Biographie angekommen, in der sie eine mögliche weitere Tanzkarriere hinterfragt: „vielleicht bin ich halt nicht gut genug […] vielleicht soll ich halt nicht tanzen“. Sie möchte nicht alleine sein und „von Stadt zu Stadt reise[n]“. Maria hat in der Vergangenheit genug gekämpft:

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7  Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits

„Ich hab halt auch gesagt dass ich nicht weiß ob ichs noch weiter versuchen möchte weil (.) es mich einfach so kaputt macht (.) und weil es mir halt auch so viel (.) ehm (1) Selbstbewusstsein nimmt (.) weil ich halt nie:: irgendwie was (.) bekomme (.) obwohl ich halt immer dafür kämpfe [..] da geht es nicht mehr um Technik oder wie gut man is (.) da geht’s nur um Geschmack (1) und was soll ich da ändern ich bin wer ich bin [..] is halt so gemein im Tanzen (.) das ist halt (.) so unmenschlich und so: (.) respektlos“.

Obwohl Maria Spaß am Tanzen hat und bisher dafür sehr hart gearbeitet hat, kritisiert sie an dieser Stelle, dass der Tanz allzu große persönliche Verluste nach sich zieht, die sie nicht mehr bereit ist, diese zu ertragen. Unmenschlichkeit und Respektlosigkeit wirft sie der Tanzwelt vor. Die für Maria rekonstruierte Orientierung sowie die strukturellen Gegebenheiten im professionellen Tanz stehen in einem Ambivalenzverhältnis zueinander. Im Folgenden soll dies ausführlicher dargelegt werden. Zunächst muss jedoch festgehalten werden, dass Maria anfänglich daran interessiert ist, beim Tanzen Spaß zu haben und Freundinnen und Freunde zu treffen. Die Intensivierung der Tanzkarriere geht weniger von ihr aus, als von Leuten, wie etwa ihrer Mutter, die sie davon überzeugt, zu der Aufnahmeprüfung der Schule mit Tanzprofil zu gehen oder die dortigen Tanzpädagoginnen und Tanzpädagogen, die sie gar überreden, auf das Tanzgymnasium zu wechseln. Mit dem steigenden Grad der Professionalisierung verliert Maria fortlaufend den Spaß am Tanzen und kritisiert zunehmend die strukturellen Bedingungen der Tanzwelt. Kurz vor dem möglichen Übergang in den tatsächlichen Beruf der professionellen Bühnentänzerin sind ihre Zweifel so groß, dass sie ernsthaft überlegt, gegebenenfalls ihre Tanzkarriere abzubrechen.

7.4.2 Der Modus Operandi der Tanzkunst und der Zusammenhang zum biographischen Stellenwert des Tanzes Für Maria ließ sich eine Orientierung an Sozialität rekonstruieren. Im Grunde beinhalten alle drei mit Maria geführten Interviews dichte Erzählungen zu Freundesbeziehung, in denen sie ausführlich über Personen in ihrem Umkreis und deren „Schwäche[n und] jede Stärke[n]“ berichtet. Maria erlebt viel mit ihren Freunden und ist stets in feste Peernetzwerke eingebunden. Darüber hinaus pflegt sie Freundschaften zu verschiedenen Peergroups. Sie hat immer Freundinnen und Freunde aus der Gruppe der Tänzer und auch Freundinnen und Freunde außerhalb des Tanzes. Letzteres ist ihr besonders wichtig:

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„Es ist halt auch gut einfach in = ner anderen Welt noch zu sein als in meiner kleinen Tanzwelt die ja doch wohl sehr begrenzt ist das tut dann manchmal gut wenn man das = n bisschen vor Augen geführt bekommt“.

Maria verortet sich an dieser Stelle primär in einer Art Tanzwelt. Überdies ist es ihr wichtig, mit Leuten außerhalb dessen zu tun zu haben. Auf dem Internat zu Studienzeiten ist sie die einzige Tänzerin. Dort findet Maria mit den vielen Freundschaften, die sie schließt und den zahlreichen Aktivitäten, die sie in dieser Zeit unternimmt, eine Art Parallelwelt zum Tanz: „man möchte ja auch soziale Kontakte irgendwie knüpfen und pflegen“, resümiert sie. Maria braucht immer Leute um sich herum: „bin ich halt wirklich so ich kann nich alleine sein so weil ich brauch irgendwie immer irgendwelche Leute um mich weil ich das so gewohnt bin“. Maria wächst in stabilen Familienverhältnissen auf. Zu ihren Eltern und ihren zwei Geschwistern hat sie ein sehr gutes Verhältnis. In der Familie unterstützen sich alle gegenseitig und haben immer ein offenes Ohr füreinander. Von den Eltern lernt Maria, über sich nachzudenken: „meine Eltern haben uns auch beigebracht uns selber zu analysiern zu reflektiern“. In der Tat ist Maria sehr selbstreflexiv und darüber hinaus hat sie stets Verständnis für das Verhalten ihrer Mitmenschen, selbst wenn sie es nicht gutheißt. Sie will Freunden, die sich in kritischen Situationen befinden, wie etwa ihren an Depression erkranktem Freund, helfen. Sie ist offen und kommunikativ, weiß über jegliche Belange ihrer Freundinnen und Freunde Bescheid und ist tief verwurzelt in verschiedenste Beziehungsgefüge. Maria fühlt sich wohl in Gemeinschaft und ist überdies auch immer an deren Wohl orientiert. In der „Gruppe sind wir stark […] dass mich das noch mehr weiterbringt als wenn ich sage oh ich bin jetz Einzelkämpferin“ formuliert Maria. In erster Linie geht es Maria darum, in einer Gemeinschaft aufgehoben zu sein: „So = n bisschen Angst so: wie wird das sein und so, aber als ich dann das erste Mal bei der Balletttruppe war war ich irgendwie so total glücklich und wusste irgendwie dass ich gut aufgehoben bin“, resümiert sie über den Wechsel ihrer Ballettgruppe. Es fällt Maria gar nicht schwer, sich in soziale Gefüge einzugliedern. Sie findet schnell Kontakt zu anderen. Die institutionellen Wechsel stellen hinsichtlich ihrer Peerkontakte keinerlei Probleme dar. Konflikthaft wird es, als Maria wegen der wenig frei verbleibenden Zeit neben Studienabschluss und gleichzeitigem Abiturabschluss kaum noch Kontakt zu ihren Freundinnen und Freunden hat. Sie fühlt sie „sozial isoliert“. Maria lernt viel für die Schule und trainiert gleichzeitig hart und intensiv. Ihre Orientierung an Sozialität kann zu diesem Zeitpunkt nicht entfaltet werden:

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7  Empirische Rekonstruktionen: Die Fallverlaufsportraits

„Ich habe keine Lust me::hr einfach wegen (.) Ballett mich jetzt die ganze Zeit (2) sozial zu isolieren weil ich eigentlich auch n Mensch bin der das unheimlich braucht und der eigentlich auch Energie aus sozialen Kontakten zieht“.

Hier dokumentiert sich der innere Widerspruch für Maria: Der professionelle Tanz und ihr starker Wunsch nach sozialer Eingebundenheit stehen einander entgegen. Maria begreift, dass, wenn sie sich nur auf den Tanz fokussiert, sie unzufrieden ist: „und ich dann wieder rausgegangen bin son bisschen normales Leben bisschen auch hatte [hat mir] so unheimlich viel Energie gegeben und einfach irgendwie wieder Lebensfreude und halt auch so bisschen das Gefühl okay hallo es gibt auch noch was anders als Tanz“.

Das normale Leben stellt an dieser Stelle eine positive Orientierungsfolie dar, welches ihr – ganz im Gegensatz zum Tanz – Energie und Lebensfreude gibt. Maria tankt Kraft in ihren sozialen Kontakten. Aus der krisenhaften Erfahrung, dass Maria die vollkommene Konzentration auf den Tanz nicht ausfüllt und sie gar bekümmert, weil sie als Konsequenz keine sozialen Kontakte aufrecht erhalten kann, zieht Maria einen Entschluss: „Ich will nich wieder (.) in ner Selbstkrise aufgehen und ich will nicht wiede::r alleine sein“. Hier ließ sich erneut rekonstruieren, dass dies in einem ambivalenten Verhältnis dazu steht, was Maria als Erwartung an den Tanz formuliert: „ich glaub als Tänzer is man alleine […] generell das is halt (.) man tanzt alleine und man muss alleine die Leistung erbringen […] Tanzen bedeutet alleine zu sein, es bedeutet, Einzelkämperin“ zu sein und es bedeutet, im Privatleben Opfer zu bringen: „Die Idee dass ich wieder auch privat von Anfang anfangen muss (.) für den Tanz […] deshalb weiß ich nicht (2) privat gibt’s bei mir halt nicht wenn ich weiter auf den Tanz setze“. Maria befindet sich zum Zeitpunkt des dritten Interviews in einer unauflöslichen Ambiguität. Der Tanz an sich macht ihr Spaß; von all dem, was mit dem Tanzen einhergeht, ist sie „so unheimlich enttäuscht“. Im sich immer weiter professionalisierenden Tanz kann die Orientierung an Sozialität nicht hinreichend bedient werden. Sie steht vor einer weitreichenden Entscheidung: „ich hab immer nur Sachen für den Tanz geopfert wie wärs wenn ich einfach mal den Tanz für irgendwas andere opfer“. Maria denkt ernsthaft darüber nach, das Tanzen aufzugeben. Es lässt sich festhalten, dass Maria auf ihrem Weg hin zur professionellen Tänzerin zunehmend in einen inneren Konflikt gerät, der unmittelbar mit ihrer Orientierung an Sozialität zusammenhängt. Je intensiver die Tanzausbildung wird, desto weniger Zeit verbleibt Maria für Freunde, Familie und Freizeit. Zudem fällt es ihr immer schwerer, auch strukturelle Anforderungen mit ihrem Modus Operandi zu vereinbaren.

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Einbettung und theoretisierende Überlegungen

Das letzte Kapitel unternimmt den Versuch der Abstraktion der konkreten Rekonstruktionsergebnisse bis hin zu theoretisierenden Überlegungen. Der erste Teil legt systematisch die Kontrastierung der empirischen Ergebnisse dar und zeigt Stück für Stück die weitere abstrahierende Vorgehensweise auf (vgl. 8.1). So kann letztlich dargelegt werden, wie sich biographische Prozesse des Tänzerinnen-Werdens und des Tänzer-Werdens vor dem Hintergrund des Feldes der Tanzkunst vollziehen (vgl. 8.1.3). Ferner werden in diesem Kapitel die gewonnenen Erkenntnisse der Studie in den Forschungsstand eingebettet, um herauszustellen, was das Charakteristische an dem Weg zur Tänzerin und zum Tänzer im Rahmen der Tanzausbildung in Deutschland ist (vgl. 8.2). Letztendlich gilt es dann noch drei Aspekte, die meines Erachtens zentral für diese Arbeit sind, unter einer theoretisierenden Perspektive in den Blick zu nehmen. Zunächst sollen jugendtheoretische Überlegungen im Zusammenhang mit dem Tanz und der Tanzausbildung angestellt werden (vgl. 8.3), dann wird das Verhältnis von Biographie, Sozialisation und Tanz genauer skizziert (vgl. 8.4) und schließlich wird der Frage nach der Beschaffenheit von Reproduktion und Transformation nachgegangen (vgl. 8.5). Hier entwickle ich die Idee des biographischen Rahmens, mit Hilfe dessen ich aufzeige, wie stabil und gleichzeitig fluide der Habitus ist. Stabilität und Transformativität sollten in ihrer Verwobenheit diskutiert und nicht als zwei Seiten der Medaille in Augenschein genommen werden.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lüdemann, Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer, Studien zur Schul- und Bildungsforschung 84, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31344-9_8

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8.1 Kontrastierungen und der Weg zur Abstraktion Zunächst sollen die Modi Operandi, die in dem spezifischen Feld der Tanzkunst als relevant rekonstruiert wurden, für jeden Fall erneut aufgerufen werden (vgl. ausführlicher dazu 7). Den Modus Operandi der Handlungspraxis bezeichne ich als Orientierung an. Die auf das Forschungsinteresse zugespitzten Falldarstellungen stellen einen ersten Schritt der Kontrastierung der Ergebnisse dar, die sich jedoch nicht vom Einzelfall lösen. Anschließend wird erneut einzuholen sein, was die normativen Handlungserwartungen des Feldes sind. Diese erschließe ich mir in Anlehnung an Bourdieu (vgl. 3.1) und mittels der Rechercheergebnisse zu den strukturellen und kontextuellen Rahmenbedingungen einer Tanzausbildung in Deutschland (vgl. 3.2). Damit soll ein Rückbezug zu meiner gegenständlichen Rahmung gelingen (vgl. 3), die nun allerdings vor dem Hintergrund der empirischen Rekonstruktionen in den Blick gerät. Im Vordergrund steht die Beantwortung der Frage, mit welchen feldrelevanten normativen Handlungsanforderungen sich die Tänzerinnen und Tänzer konfrontiert sehen. Das, was ich als das Feld der Tanzkunst systematisiere, kann mit Bohnsack (2017) als der Orientierungsrahmen im weiteren Sinne gelten (vgl. 6.3.2). In einem dritten Schritt, werden die Erkenntnisse zu den normativen Handlungsanforderungen, die in dem Feld der Tanzkunst wirkmächtig sind und die Rekonstruktionsergebnisse schließlich zueinander geführt. Diese Zusammenschau verdeutlicht, wie genau sich das Werden in dem Feld vollzieht, also im Grunde, wie das Spannungsverhältnis von Norm und Habitus von den Tänzerinnen und Tänzern bewältigt wird. Ziel ist es also, das Analyseinstrument nach Bohnsack (2017) Stück für Stück mit den hiesigen Forschungserkenntnissen zu füllen. Dieses Vorgehen bietet sich an, um einerseits dicht am Einzelfall zu bleiben und anderseits einen Weg der Abstraktion voranzutreiben.

8.1.1 Der Modus Operandi im Feld der Tanzkunst – Kontrastierung der Rekonstruktionsergebnisse Gemeinsam ist den Jugendlichen und später jungen Erwachsen des Samples der frühe Beginn mit dem Tanz, meist in Form von Kindertanz bereits im beginnenden Kindergartenalter. Diese Zeit wird von ihnen als unbeschwert und spaßig beschrieben.

8.1  Kontrastierungen und der Weg zur Abstraktion

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Die Wege zum Tanz sind vielfältig: Elias erfährt von seiner Mutter von der Tanzschule. Sie schlägt ihm ein Besuch in der Tanzschule vor, da er sich ständig rhythmisch bewegt und sie denkt, dass Tanzen was für ihn sein könnte. Freya kommt schon sehr früh in Kontakt mit dem Tanz, da ihre Mutter sie bereits als Kleinkind mit zu ihren Balletttrainings nimmt. Bereits in jungen Jahren weiß Freya, dass sie, wie ihre Mutter, die vor der Geburt ihrer zwei Töchter professionelle Bühnentänzerin werden wollte, tanzen möchte. Julian entdeckt seine Leidenschaft zum Tanz erst in Abgrenzung zu den Sportarten Fußball und Tennis, die er im Verein ausübt. Maria äußert sich darüber, warum sie mit dem Tanzen angefangen hat, nicht. Sie entwirf weder eine Erzählung darüber, dass sie als Kind, quasi im Naturell liegend, besonders körperlich aktiv war, wie etwa Elias und auch Julian es tun. Überdies konstruiert sie keine Geschichte darüber, wie sie mit dem Wunsch tanzen zu können, einem Vorbild nacheifern wollte, wie etwa Freya dies tut. Während Maria und Freya durchgehend dem Tanzstil des Balletts verfolgen – das bedeutet von Beginn an die Strukturen des klassischen Tanzes erlernen – finden Elias und Julian ihre Wege in den klassischen Tanz zunächst über alternative Tanzstile. So tanzt Elias in seiner Freizeit in einer Hip-Hop-Formation und Julian in einer Show-Dance Gruppe. Eher mit Skepsis und stigmatisierenden Vorurteilen, wie der abwegige Gedanke von sich in engen Leggings, finden sie dennoch zum klassischen Tanz. Julian gefällt die Ernsthaftigkeit und, dass er intensiv gefördert wird, im Gegensatz zum Show-Dance, was für ihn lediglich ein Hobby darstellt. Elias lässt sich vornehmlich aus Neugier auf den klassischen Tanz ein, immer mit dem Hintergedanken, er könne wieder aufhören, wenn es ihm nicht mehr gefallen sollte. Mit dem Übergang auf das Gymnasium mit tänzerischem Profil, den alle Jugendlichen spätestens zur 9. Klasse vollziehen, wird aus der zuvor freizeitlich ausgeübten Hingabe zum Tanz, bei der der Spaß im Vordergrund steht, Ernst. Es ist ein bedeutsamer Schritt in Richtung tänzerischer Professionalisierung (vgl. 3.1). Die Dualität von Schule und Tanzausbildung verlangt den Jugendlichen enorm viel ab. Sie arbeiten hart an sich und ihren schulischen und tänzerischen Leistungen. In der Schule erbringen die Tänzerinnen und Tänzer ausnahmslos sehr gute Leistungen. Überdies trainieren sie jeden Tag bis in die Abendstunden, danach oder auch zwischen Schule und Training lernen sie und machen Hausaufgaben. Hinzu kommt beispielsweise bei Julian in dem ersten Schuljahr auf dem Gymnasium ein langer Anfahrtsweg zur Schule, so ist er nach dem Training noch anderthalb Stunden mit der Bahn unterwegs, ehe er zu Hause ist. Um ein derartiges Tagespensum erfüllen zu können, erfordert es eine Menge Disziplin und

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

Organisation. Hinzu kommt, dass sie kaum Zeit für Freunde, Familie und Freizeit haben. In der Gruppe der Tänzerinnen und Tänzer, die von allen als „Familie“ bezeichnet wird, fühlen sie sich aufgehoben. Sie teilen nicht nur die Leidenschaft zum Tanz, sondern folglich auch eine Menge Zeit miteinander. Im Gegensatz zu den häufig losen Freundschaften außerhalb des Tanzes, durchleben sie strukturähnliche Erfahrungen miteinander. Es ließ sich jedoch fallspezifisch unterschiedliches implizites Wissen bezüglich der Wege im konjunktiven Erfahrungsraum rekonstruieren. Für Julian konnte eine Orientierung an Weiterentwicklung des Selbst, für Freya eine Orientierung an Rationalität, für Elias eine Orientierung an Kreativität sowie eine Orientierung an Wohlbefinden in sozialen Kontexten und für Maria eine Orientierung an Sozialität rekonstruiert werden (vgl. 6). Julian ist umfassend daran orientiert, sich fortwährend weiter zu entwickeln und an seinen Erfahrungen zu wachsen. Von klein auf inszeniert er sich als der Tänzer, der zunächst wegen seiner Leidenschaft zum Tanz missachtet und verkannt wird. Er wird als schwuler Tänzer und als andersartig stigmatisiert. Seine Eltern unterstützen ihn und sind stolz auf Julian, der sich von den Ausgrenzungen nicht tiefgehend beirren lässt. Er geht seinen Weg und entscheidet sich an bestimmten Schneisen ganz bewusst immer für die tänzerische Professionalisierung und damit für eine Weiterentwicklung, wie etwa die Entscheidung die Show-Dance Gruppe zu verlassen und stattdessen fortan zum Ballettunterricht zu gehen, da er dort mehr gefördert werde. Julian ist immer einer der Besten. Er bekommt Einzelförderungen und Stipendien angeboten, ist Repräsentant des Tanzhauses des Gymnasiums und später auch Repräsentant der Tanzhochschule, nimmt an bekannten und medial ausgetragenen Tanzwettbewerben teil und kann sich sehr schnell an die Feldanforderungen anpassen. Die sich andeutenden krisenhaften Ausgrenzungserfahrungen seiner Kindheit sind teilweise überwunden, als Julian auf das Gymnasium mit tänzerischem Profil wechselt und nun unter den Tänzerinnen und Tänzern nicht mehr andersartig, sondern gleichartig ist. Und ganz überwunden ist das Krisenempfinden, als Julian auf einem internationalen Tanzwettbewerb den zweiten Platz belegt und nun als erfolgreicher Tänzer anerkannt ist. Unbeirrt von den strukturellen Anforderungen der Tanzvorausbildung, ohne jegliche Zweifel und Versagensängsten, absolviert Julian seinen Weg und geht in die Tanzvollausbildung in Form eines Studiums über. Er kann an seine Erfolge anknüpfen, weiß, was von ihm gefordert wird und kann dies stets abrufen: Man habe sich anzupassen, muss sich auf neue

8.1  Kontrastierungen und der Weg zur Abstraktion

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Bedingungen einlassen, hat sein Bestes zu geben und muss dem Druck und der Konkurrenz standhalten können, so Julian. Er nutzt jede Chance, die sich ihm bietet. Er hat internalisiert, dass mit jeder Erfahrung im Feld das Bewusstsein für die internen Spielregeln steigt. Julian fügt sich mit der für ihn rekonstruierten Orientierung an Weiterentwicklung des Selbst harmonisch in das Feld der Tanzkunst ein und beschreitet mit einer beachtlichen Lässigkeit und bereits vor Beendigung des Studiums seinen Weg zum professionellen Bühnentänzer in eine namhafte deutsche Company. Ebenfalls harmonisch fügt sich Freya in das Feld der Tanzkunst ein. Für sie ließ sich eine Orientierung an Rationalität rekonstruieren. Freya verfolgt sehr verbissen und ehrgeizig ihren Weg zur Bühnentänzerin und verzichtet ganz bewusst auf alles, was sie von ihrem Ziel abhalten könnte. Der Tanz steht an erster Stelle und dient insbesondere auch dafür, sich von Problemen wie etwa der Trennung der Eltern und den angespannten Verhältnissen zur Schwester, zum Vater und zur Mutter abzulenken. Die Beschäftigung mit den familiären Schwierigkeiten oder auch mit Problemen auf Peerebene schiebt Freya auf und verdrängt sie gar mittels der fortwährenden Intensivierung des Tanzes. Sie entwirft sich weitgehend als Einzelkämpferin im Feld, die sich nicht beirren lassen will. Vernunftgeleitet wägt sie ihre Optionen ab und verhält sich stets angemessen, aber eben nicht, weil sie die Mechanismen des Feldes internalisiert hat, wie Julian etwa, sondern weil sie sich das Wissen darüber logisch und nüchtern aneignet. Im Gegensatz zu Julian kann Freya nicht von großen Erfolgen berichten; bildlich gesprochen, könnte man sagen, sie schwimmt vornehmlich mit der breiten Masse mit. Dennoch mündet Freya in den Beruf professionelle Bühnentänzerin in einem städtischen Theater in einer mittelgroßen Stadt in Österreich. Während sich für Julian und Freya resümieren lässt, dass beide Wege in die Berufswelt des Tänzers und der Tänzerin einmünden, kann man bei Elias und Maria davon sprechen, dass sie ihr professionelles Tänzerinnen- und Tänzerdasein unterbinden. Für Elias ließen sich eine Orientierung an Kreativität und eine Orientierung an Wohlbefinden in sozialen Kontexten rekonstruieren. Elias ist umfassend interessiert und hat viele künstlerisch motivierte Hobbys. Bereits in der Kindheit ist er in seinen Spielen einfallsreich, vielfältig und expressiv. In der ­Hip-Hop Formation, in der Elias zunächst tanzt, kann er all dies umsetzen. Überdies probiert er gerne neue Dinge aus. So gerät er auch zum klassischen Tanz und auf das Gymnasium mit tänzerischem Profil. Zunächst ist er skeptisch und zweifelt daran, dass ihm ein anderer Tanzstil überhaupt gefallen könnte. Da

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Elias neugierig und an Kreativität orientiert ist, lässt er sich auf die schulische Tanzvorausbildung ein; immer mit der Option, wieder damit aufzuhören, wenn es ihm nicht gefällt. Und tatsächlich fühlt er sich in der Rolle des Tänzers deplatziert, da er seine Orientierung an Kreativität nicht entfalten kann. Immer wieder zweifelt er daran, Tänzer werden zu wollen, konstruiert alternative Entwicklungspläne für sich und schaut umfassend über die Optionen der Tanzwelt hinaus. Er macht ein Praktikum bei einem Designer und unternimmt einen halbjährigen Auslandsaufenthalt. Elias sucht nach einem Ausweg aus der klassischen Tanzvorausbildung. Wiederum kann er sich ein Leben, das nicht dermaßen von Schule und Tanz strukturiert ist, schwer vorstellen. Auch die Freundschaften zu den Tänzerinnen und Tänzern, die von ihm, wie von allen Jugendlichen des Samples, als familienähnlich beschrieben werden, möchte er nicht missen. Seine Orientierung an Wohlbefinden in sozialen Kontexten hält ihn in der Tanzwelt. In Elias wächst ein innerer Konflikt: Zunehmend spürt er, dass er den Weg zum professionellen Berufstänzer nicht gehen möchte. Er kann dort, im Gegensatz zum Hip-Hop, seine Orientierung an Kreativität nicht ausleben. Klassischer Tanz bedeutet für Elias Anspannung und Täuschung. Anderseits fühlt er sich wohl in der Gemeinschaft der Tänzerinnen und Tänzer und auch in der Welt der Tanzkunst. Aber eben nicht in seiner Rolle als Tänzer. Der Konflikt und das Krisenempfinden spitzen sich zu, so weit, dass er Schmerzen am Fuß bekommt, die sich nicht physisch, sondern psychisch begründen lassen. Die Entscheidung nach dem Abitur nicht in die Tanzvollausbildung überzugehen, empfindet Elias als eine große Befreiung. Für Maria ließ sich eine Orientierung an Sozialität rekonstruieren, die sich vornehmlich darin zeigt, dass ihr stets daran gelegen ist, sich vielfältig in soziale Kontexte einzubringen und sie sich enorm engagiert, wenn es um menschliches Miteinander geht. Zudem ist sie umfassend über ihre Mitmenschen informiert, weiß über deren Stärken und Schwächen und steht ihnen immer unterstützend zur Seite. Maria hat einen großen Freundeskreis, ist in verschiedene Freundesgruppen vollends integriert und genießt es, mit ihren Freundinnen und Freunden, die sowohl inner- als auch außerhalb der Gruppe der Tänzerinnen und Tänzer auszumachen sind, Zeit zu verbringen. Mit dem Tanz beginnt Maria im Alter von 3 Jahren. Dort findet sie schnell viele Freundinnen und fühlt sich eingebunden und aufgehoben. Auch auf der Montessorischule und später auf dem Gymnasium hat Maria einen großen Freundeskreis. Eher zufällig und auf Zureden der Mutter geht Maria zu der Aufnahmeprüfung des Gymnasiums mit tänzerischem Profil. Sie besteht diese mit Bravour, ist sich aber unsicher, ob sie die Schule wechseln

8.1  Kontrastierungen und der Weg zur Abstraktion

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und aus dem Ballettverein aussteigen möchte. Der Gedanke, die Freunde nicht mehr täglich sehen zu können, ist sehr unangenehm und schmerzlich für Maria. Die Tanzpädagoginnen und Tanzpädagogen reden auf sie ein und sagen ihr, dass, wenn sie Tänzerin werden wolle, sie jetzt auf diese Schule wechseln müsse. Maria willigt ein und ist gleichzeitig zutiefst betrübt darüber, dass sie ihre Freunde nun nur noch selten sehen wird. Auf dem Gymnasium mit tänzerischem Profil kann Maria sich sehr schnell in die Peernetzwerke integrieren. Sie fühlt sich wohl, bis sie auf Grund ihrer hervorragenden tänzerischen Leistungen und daher ihrer besonderen Stellung in der Tanzklasse, als diejenige, die vorzugsweise Einzelförderung erhält, von den Tänzerinnen und Tänzern teilweise ausgeschlossen wird. Das ist der Zeitpunkt, an dem sie beschließt, sich an einer Tanzhochschule – die weit entfernt von ihrer Heimatstadt ist – zu bewerben, auf die sie schließlich nach der 10. Klasse hin wechselt. Im Alter von 16 Jahren studiert Maria Tanz an einer namhaften Balletthochschule und absolviert nebenher auf einem Abendgymnasium ihr Abitur. Gleichzeitig ist sie in Peernetzwerke in dem Studentenwohnheim, in Peernetzwerke in der Gemeinschaft der Tänzerinnen und Tänzer und in Peernetzwerke auf dem Abendgymnasium eingebunden und genießt ihre Zeit fernab der elterlichen Fürsorge. Sie geht in Bars und auf Partys, hat zwischenzeitlich einen festen Freund und hin und wieder Flirts mit jungen Männern. Das unglaublich intensive Tanzstudium und die Schule am Abend sind enorm kräfteraubend. Überdies versucht Maria, die vielen Freundschaften aufrecht zu erhalten, für die sie im Grunde gar keine Zeit hat. Die Situation spitzt sich zu. Maria bricht im Training des Öfteren zusammen. Ihr fehlen die Kräfte. Hinzu kommt, dass sie nach dem erfolgreich absolvierten Bachelorstudium und der erfolgreich absolvierten Abiturprüfung und nach einer regelrechten Auditionodyssey keine Anstellung als Bühnentänzerin findet und sich notgedrungen dazu entschließt, nach Australien zu gehen und dort in einer Großstadt für ein Jahr in einer Juniorcompany zu tanzen. Tänzerisch läuft es dort für sie nicht gut, sie verletzt sich und muss operiert werden und kann lange Zeit nicht mittrainieren, so dass die Option nach dem einen Jahr in die richtige Company aufgenommen zu werden, nicht besteht. Dennoch genießt sie ihre viele freie Zeit, die sie nun hat. Sie ist viel unterwegs, hat viele Freunde vornehmlich außerhalb des Tanzes und verliebt sich in einen jungen Mann. Sie ist an einem Punkt angekommen, an dem sie nicht weiß, wie es für sie weitergehen wird. Maria hat für den Tanz immer Opfer gebracht, die sie nun nicht mehr bereit ist, zu erbringen. Die Unmenschlichkeit im Tanz kann sie nicht mehr ertragen, so resümiert sie.

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

Die kontrastierenden Fallbeschreibungen verdeutlichen nicht zuletzt, dass alle vier Tänzerinnen und Tänzer ihren Weg in und durch das Feld der Tanzkunst sehr unterschiedlich durchlaufen. Die feldrelevanten Modi Operandi, die für die Fälle rekonstruiert wurden, lassen sich meiner Meinung nach nicht angemessen typisieren – was sicherlich auch mit der kleinen Fallzahl an sich zu tun hat –, so dass sie zunächst auf Ebene des Einzelfalles verbleiben. Dennoch soll ein Weg gefunden werden, der zu einer Abstraktion der Rekonstruktionsergebnisse führt. Dazu gilt es in einem weiteren Schritt, zunächst die normativen Handlungserwartungen des Feldes der professionellen Tanzkunst zu systematisieren und so das Analyseinstrument nach Bohnsack (2017) ein Stückchen weit mit den Rekonstruktionsergebnissen zu füllen.

8.1.2 Die normativen Handlungserwartungen im Feld der professionellen Tanzkunst In Anlehnung an Bourdieus Ausführungen zum Feld der künstlerisch-kulturellen Produktion (vgl. 3.1) und der Recherche über strukturelle und kontextuelle Rahmenbedingungen der Tanzausbildung in Deutschland (vgl. 3.2) sowie aus Erkenntnissen vorheriger quantitativer und qualitativer Studien (vgl. 2.2) soll nun pointiert dargelegt werden, mit welchen normativen Handlungserwartungen des Feldes der Tanzkunst die Tänzerinnen und Tänzer konfrontiert sind. Meines Erachtens ist eines der entscheidenden Spezifika des Feldes, dass es ein Feld des Aufstiegs ist, welches sich in stetiger und kurzweiliger Bewegung befindet (vgl. Lüdemann 2018). Dies fordert den Akteurinnen und Akteuren enorm viel ab. Die Schnelllebigkeit zwingt sie dazu, hochgradig flexibel zu sein und sich immer wieder neu zu erfinden. Der Beruf der Bühnentänzerin und des Bühnentänzers passt sich nicht an die Lebensphären an, sondern umgekehrt: Das Leben passt sich an den Beruf an. Befristete Arbeitsverträge für in der Regel eine Saison oder auch zwei Spielzeiten, egal wo auf der Welt, erfordern ein Höchstmaß an Flexibilität und Unabhängigkeit, was den jungen Tänzerinnen und Tänzern bereits in der Ausbildungsphase vermittelt wird (vgl. ebd). Pfaff (2018) zeigt auf, dass mit steigendem Alter die Flexibilität bei den Tänzerinnen und Tänzern abnimmt. Das bedeutet, dass zu Beginn der Tanzkarriere die Anpassungsfähigkeit höher ist und diese dann im Verlauf abnimmt, was vermutlich auch mit altersspezifischen Entwicklungen, wie der womöglich

8.1  Kontrastierungen und der Weg zur Abstraktion

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aufkommende Wunsch nach einem Kind oder einer festen Partnerschaft, zusammenhängt. In der Studie von Pfaff (ebd.) zeigt sich, dass Kinder und langfristige Beziehungen als hinderlich für die Tanzkarriere verhandelt werden. Im Feld der Tanzkunst wandeln sich die Ansprüche schneller als vergleichsweise in anderen Feldern, was mit dem Innovationsprinzip in der Kunst (vgl. Bourdieu 2016) zusammenhängt. Ewig unabhängig und ungebunden zu sein, etwa von Familie, Freunden, der Partnerin oder dem Partner oder gar einem Kind, ist eine normative Handlungsanforderung im Feld. Hinzu kommt, ewig flexibel zu sein, was den Ort, an dem man arbeitet, angeht. Der Arbeitsmarkt für Tänzerinnen und Tänzer ist international ausgerichtet. Bereits in der Phase der Tanzvollausbildung versammeln sich Tänzerinnen und Tänzer aus der ganzen Welt. Das Tanzstudium wird daher in englischer Sprache absolviert. Dies fordert von den angehenden Berufstänzerinnen und Berufstänzern nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine interkulturelle Kompetenz und darüber hinaus ein identifikatorisches Bewusstsein für ein international ausgerichtetes Berufsleben. Überdies sind Erwartungen an ein Bestreben der ständigen Verbesserung und Optimierung der tänzerischen und körperlichen Fähigkeiten an die Feldakteurinnen und -akteure gerichtet. Die Leistungsfähigkeit muss immer weiter verfeinert werden, ohne jedoch jemals eine Art Vervollkommnung erreichen zu können. Man ist nie perfekt genug. Immer wieder müssen Tänzerinnen und Tänzer ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen, insbesondere dann, wenn sie in Auditions vortanzen. Damit geht zudem die Ansicht einher, dass Tänzerinnen und Tänzer sehr diszipliniert und beherrscht sein sollten, schon alleine, um die alltäglichen Anforderungen und den Tanz konfliktfrei miteinander zu vereinbaren. Das verdeutlicht sich auch in den Fällen des Samples. Alle vier untersuchten Tänzerinnen und Tänzer sind leistungsstarke Schülerinnen und Schüler und absolvieren ihren Abiturabschluss mit Bestleistungen, was in Anbetracht der wenigen Zeit, die ihnen für Hausaufgaben und Lernen bleibt, sehr beachtlich ist. Die sehr guten schulischen Leistungen zeigen nicht zuletzt auf, dass die Tänzerinnen und Tänzer diszipliniert und organisiert sind. Für das Feld der Tanzkunst an sich sind jedoch formale Bildungsabschlüsse nicht von allzu großer Bedeutung (vgl. 3.2). Bewerbungsverfahren laufen über die spezifische Praxis des Vorführens im Rahmen von Auditions statt. Ferner wird das Können maßgeblich dadurch bestimmt, mit welchen Personen man in der Tanzszene bereits zusammengearbeitet hat. Netzwerken in

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

der ­Fachcommunity und auch ein Sichtbarwerden als erfolgreiche Tänzerin und erfolgreicher Tänzer sind hochbedeutsam. Sich einen Namen zu machen, aus der Masse herauszustechen, und stets zu den Besten zu gehören, ist erforderlich, um sich gegen die große Konkurrenz durchzusetzen; dies gilt in besonderem Maße für Tänzerinnen. Eine Profilbildung funktioniert in erster Linie darüber, aufzuzeigen, wer, wann, wo, mit wem zusammengearbeitet hat. Für Tänzerinnen und Tänzer spielt es auf dem Arbeitsmarkt eine große Rolle, mit welchen Choreographen sie bereits kooperiert haben. In den offiziellen Lebensläufen schlägt sich die in einem regelrechten „name dropping“ nieder (vgl. Pfaff 2018). Der Beruf der professionellen Bühnentänzerin und des professionellen Bühnentänzers und die Phase der Tanzausbildung erfordern von den Akteurinnen und Akteuren eine leidenschaftliche Hingabe an die Sache. Es ist vergleichbar mit dem, was Weber (1995) für den Beruf der Wissenschaftlerin und des Wissenschaftlers formuliert hat (ebd.). Der Beruf der Bühnentänzerin und des Bühnentänzers ist nicht nur eine Tätigkeit, mit der man sein Geld verdient; er ist Passion, er ist innere Berufung mit idealistischem Wert. Und er wirkt im höchsten Maße identifikatorisch. Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben sind fluide und kaum zu bestimmen. Insbesondere die Phase der Tanzausbildung ist zeitlich enorm intensiv. Für Freizeit oder Aktivitäten außerhalb des Tanzes oder auch altersspezifische Beschäftigungen oder auch jugendkultureller Praktiken, wie Party machen, mit Freunden zusammen sein oder auch den Führerschein zu absolvieren, gibt es für junge Tänzerinnen und Tänzer kaum Gelegenheiten. Die Einmündung bzw. Sozialisation in das Feld der Tanzkunst und der Beginn der Ausbildungsphase beginnt bereits im frühen Alter; in erster Linie damit der Körper optimal geformt werden kann. Das Alter spielt in dem Feld generell eine entscheidende Rolle, da der Beruf der Tänzerin und des Tänzers keiner ist, der sich bis zum Ruhestand ausführen ließe. Mit in der Regel spätestens Mitte 30 endet die Tanzkarriere auf der Bühne. Somit ist die ausführende Berufstätigkeit zeitlich begrenzt auf circa 15 bis 17 Jahren (vgl. Langsdorf 2004). Das ist ungefähr auch die Zeit, die man für die Tanzausbildung braucht, um dann (eventuell) in den Beruf zu münden. Die tänzerische Ausbildungsphase ist eng verwoben mit der schulischen Bildungskarriere, was feldintern für strukturellen Handlungsbedarf sorgt (vgl. 3.2). Junge Tänzerinnen und Tänzer stehen vor der Herausforderung, die Tanz- und die Schulkarriere gleichzeitig erfolgreich zu absolvieren.

8.1  Kontrastierungen und der Weg zur Abstraktion

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Den darüber hinaus beachtlichen körperlichen und seelischen Anforderungen kann nicht Jeder auf Dauer standhalten. Auch die Stellen auf dem Berufsmarkt sind begrenzt und immer wieder im Verlauf der Ausbildungsphase wird ausgesiebt (Hartewig 2013). Der Drop-Out ist erheblich; ganz besonders auch wegen der immensen Verletzungsgefahr, der sich Tänzerinnen und Tänzer aussetzten (vgl. Dümcke 2008). Tänzerinnen und Tänzer müssen mit biographischen Unsicherheiten umgehen können bzw. über Strategien verfügen, diese zu nivellieren oder für sich positiv zu deuten (vgl. Pfaff 2018). Weiterhin werden ausgeprägte körperliche Normen und Ideale im Feld der Tanzkunst wirkmächtig, die nicht zuletzt eng mit ästhetischen Vorstellungen zusammenhängen. Die Arbeit am Körper, oder genauer die Arbeit an einer technischen Perfektionierung und einer größtmöglichen Beweglichkeit sowie einer schwerelosen Schönheit, ist Ziel einer jeden Tänzerin und eines jeden Tänzers (vgl. Aalten 2004; Kieser/Schneider 2009). Der Körper ist ihr Kapital, ihre Daseinsberechtigung als Tänzerin und Tänzer, ihr Instrument und Werkzeug. Um körperliche Bestleistungen zu erbringen, werden Schmerz- und Leistungsgrenzen zu überwinden versucht (vgl. Lüdemann 2016). Die Anforderungen, die Tänzerinnen und Tänzer an ihre Körper stellen, sind außerordentlich. Die hier knapp skizzierten normativen Handlungserwartungen des Feldes der professionellen Tanzkunst, die an die Jugendlichen und dann jungen Erwachsenen gestellt werden, wurden einerseits aus gegenständlicher Perspektive beleuchtet (vgl. 3), anderseits ließen sich in den Interviews auf rein thematischer Ebene Passagen identifizieren, in denen die Tänzerinnen und Tänzer derartige Anforderungen explizieren. Die empirischen Rekonstruktionen verdeutlichen jedoch, dass die diskursiv verhandelten gesellschaftlichen, normativen Handlungserwartungen von den Tänzerinnen und Tänzern ganz unterschiedlich wahrgenommen und für sich als Akteurinnen und Akteure in dem Feld individuell verhandelt und bewältigt werden. Während Julian und Freya etwa die Normen des Feldes als wenig problematisch verhandeln, werden für Elias und insbesondere Maria spezifische Normen biographisch sehr herausfordernd.

8.1.3 Die Bewältigung des (Spannungs-)Verhältnisses von Normerwartungen und impliziten feldrelevanten Wissen Während Julian immer als einer der Besten seinen Weg zum Tänzer ohne größere Hindernisse und Erschwernisse wie selbstverständlich beschreitet, quält Freya sich regelrecht auf dem Weg zur Tänzerin. Sie bringt ganz bewusst

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

Opfer und konzentriert und fokussiert sich lediglich auf den Tanz. Ein Außerhalb der Tanzwelt gibt es für sie lediglich marginal. Freya kämpft für ihr Fortkommen und vernachlässigt dafür weitestgehend ihr Privatleben. Julian und Freya grenzen sich stark von einem „normalen Leben“ oder auch den „NullAcht-Fünfzehn-Leuten“ ab und nehmen sich und ihr Leben als besonders und geradezu extrem war. Dem Feld der Tanzkunst können sie sich opportun anpassen. Im Gegensatz dazu sehnen sich Elias und Maria nach Normalität, insbesondere in ihrem Privatleben. Elias zweifelt immer wieder im Laufe seiner klassischen Tanzvorausbildung daran, überhaupt professioneller Bühnentänzer werden zu wollen. Er unternimmt gar den Versuch, mit einem halbjährigen Auslandsaufenthalt, aus dem Feld der Tanzkunst zu entkommen. Er meint, sein Körper wäre nicht genügend geeignet für den Beruf des Bühnentänzers und er bemerkt implizit, dass er sich im klassischen Tanz nicht umfassend künstlerisch und kreativ ausleben kann. Aus einem neugierigen Ausprobieren zu Beginn der Tanzvorausbildung wurde für Elias zum Ende hin ein leidvolles Durchziehen bis zum Abitur. Für Maria wiederum bedeutet die Tanzausbildung ein ständiges aufopfern. Ihr ist sehr daran gelegen, sich in sozialen Kontexten zu integrieren und sich in einem hohen Maße für ihre Mitmenschen zu engagieren. Einerseits kann Maria nicht damit umgehen, alleinigen Erfolg zu haben, sondern ist immer daran interessiert, dass die Gruppe zusammen fortschreitet. Und anderseits ist sie sehr stark in Peerstrukturen außerhalb des Tanzumfeldes eingebunden. Immer wieder auf ihrem zunächst steilen und erfolgversprechenden Weg durch die Tanzausbildung lässt sie wichtige Freundschaften zurück und verzichtet zu Gunsten des Tanzes darauf, Zeit mit ihren Peers zu verbringen. Maria opfert ihr Privatleben für den Tanz auf, bis sie an den Punkt gerät, an dem der Tanz sie überdies körperlich und psychisch auslaugt. Sie hätte in ihrem Leben so viel für den Tanz geopfert, so Maria. Sie überlegt, wie es wäre, wenn sie nun den Tanz für ihr Leben opfert. Es ließ sich aufzeigen, dass Julian das Spannungsverhältnis zwischen normativen Handlungsanforderungen und der in dem Feld relevanten Modus Operandi der Handlungspraxis durch Lässigkeit bewältigt, Freya durch eine kämpferische Art und Weise, Elias durch Zweifel und Maria durch eine Form der Aufopferung. Die herausgearbeitete Art und Weise der Bewältigung verdeutlicht gleichzeitig, wie sich biographische Prozesse des Tänzerin-Werdens oder ­Tänzer-Werdens vollziehen. Die nachfolgenden Grafiken (Abb. 8.1 und 8.2) zeigen für jeden Fall unter dem Fokus des Analyseinstruments nach Bohnsack (2017) auf, was sich für die einzelnen Fälle rekonstruieren ließ.

8.1  Kontrastierungen und der Weg zur Abstraktion

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Abbildung 8.1   Darstellung der Fallrekonstruktionen für Elias und Maria in Anlehnung an Bohnsack (2017, S. 203)

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

Spannend ist, dass die Modi Operandi, die für Maria und Elias rekonstruiert werden konnten, sich nicht zwingend harmonisch in die normativen feldinternen Handlungserwartungen einfügen (vgl. Abbildung 8.1). Dennoch sind es jene, die aus dem empirischen Material herausgearbeitet werden konnten. Marias Orientierung an Sozialität steht durchaus im Widerspruch zu der Erwartung im Feld der vollkommenen Unabhängigkeit. Familie und Freunde sind ihr sehr wichtig. Hinzu kommt, dass Maria absolut teamorientiert ist und sich für ihre Mitmenschen einsetzt. Elias Orientierung an Kreativität ist in den Regelhaftigkeiten des Feldes nicht aufgehoben. Die wenige Zeit erlaubt es ihm nicht, kreativ zu sein und sich für andere Themen außerhalb der Tanzwelt zu interessieren. Dementsprechend bewältigen sie vergeblich diese Spannungen. Maria, in dem sie sich aufopfert und Elias, in dem er ständig zweifelt. Beide entscheiden sich, dass professionelle Tanzen aufzugeben und das Feld der professionellen Tanzkunst zu verlassen. Im Gegensatz dazu scheinen sich die feldrelevanten Modi Operandi, die für Freya und Julian rekonstruiert werden konnten, harmonisch in die normativen Handlungsanforderungen zu fügen (vgl. Abbildung 8.2). Julians Orientierung an Weiterentwicklung des Selbst und Freyas Orientierung an Rationalität entsprechen den Erwartungen an Disziplin, ständiger Optimierung und Unabhängigkeit sowie Flexibilität. Entsprechend effektiv bearbeiten sie das Verhältnis: Julian im Sinne einer absoluten Selbstverständlichkeit und Freya kämpft sich durch. Abschließend muss Erwähnung finden, dass die strukturell normativen Handlungsanforderungen, die an die (angehenden) Tänzerinnen und Tänzer gestellt werden, spezifisch je nach Modus Operandi verhandelt werden. Handlungsoptionen oder auch Bewältigungsstrategien und der feldbezogene Modus Operandi bedingen sich und stehen in absoluter Abhängigkeit zueinander. Freyas rekonstruierte feldrelevante Orientierung an Rationalität beeinflusst resp. bestimmt, wie sie die normativen Handlungsanforderungen wahrnimmt, auf sich bezieht und bearbeitet. Wiederum prägt ihre kämpferische Bewältigungsstrategie ihren Modus Operandi. Zugespitzt lässt sich formulieren, dass der Habitus (resp. Modus Operandi) und das Verständnis von Normen miteinander verwoben sind. Ließe sich etwa für einen beliebigen Fall eine herausstechende Leistungsorientierung rekonstruieren, so würde ich gedankenexperimentell vermuten, dass diese Person in einem sehr leistungsaffinen Feld die hohen Erwartungen als wenig problematisch verhandeln würde.

8.1  Kontrastierungen und der Weg zur Abstraktion

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Abbildung 8.2   Darstellung der Fallrekonstruktionen für Julian und Freya in Anlehnung an Bohnsack (2017, S. 203)

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

Für die vier Fälle dieses Samples lässt sich aufzeigen, wie verwoben Habitus und Normen sind. Die Struktur der Handlungspraxis selbst erschließt sich vornehmlich im Verhältnis zwischen den Orientierungen und dem strukturierten Feld. Erst die Synthese von implizitem und explizitem Wissen strukturiert die Handlungspraxis. Wahrgenommene Normen erhalten im Zusammenspiel mit dem Habitus ihre individuelle Bedeutung. Und anderseits erhält der Habitus seine Konturen durch die Abgrenzung zu normativen Verhaltenserwartungen (vgl. Bohnsack 2007).

8.2 Vom Tänzerinwerden und Tänzerwerden – Das Charakteristische an einer Tanzkarriere Folgend werden die gewonnen empirischen Ergebnisse in den zuvor skizzierten Forschungsstand zu Tänzerinnen und Tänzer eingebettet sowie Vergleiche zu den Bereichen Sport und Kunst angestellt (vgl. 2.2). Insbesondere durch den Vergleichsmodus wird herausgearbeitet, was das Spezifische an dem Durchleben einer professionellen Tanzausbildung ist. Es muss allerdings erwähnt werden, dass die empirischen Ergebnisse auf der Basis weniger Fälle generiert wurden, so dass ich an dieser Stelle keine allzu starke Verallgemeinerung vornehmen möchte. Um professionelle Berufstänzerin oder professioneller Berufstänzer zu werden, erfordert es weitaus mehr als die meisten klassischen Berufsambitionen verlangen. Der Weg dorthin wird sehr früh im Lebenslauf geebnet; zunächst eher spielerisch und ganz ohne Leistungsansprüche etwa im Kindertanz. Auch Freya, Maria, Elias und Julian tanzen seit dem frühen Kindesalter. Je intensiver die Tanzausbildung dann wird, desto ernster werden die Ambitionen, eine Tanzkarriere anzustreben. Die Erwartungen steigen an, das Trainingspensum erhöht sich und der Tanz wird zu einem zentralen distinktiven Persönlichkeitsmerkmal. Dies wird besonders bei Julian und Freya deutlich, die sich von den „normalen Menschen“ stark abgrenzen und ihr Leben als Tänzerin und Tänzer als besonders beschreiben, das von Höhen und Tiefen geprägt ist. Die Tanzwelt, die von den jungen Tänzerinnen und Tänzern des Samples als dynamisch und lebendig beschrieben wird, wird einer Welt außerhalb des Tanzes gegenübergestellt, die der Normalität entspricht, schablonenhaft verläuft und monoton ist. Der professionelle Tanz und deren Ausbildungsstruktur ist mehr als ein Hobby. Es ist Passion, absolute Leidenschaft, für die es wert ist, lebensalltägliche

8.2  Vom Tänzerinwerden und Tänzerwerden …

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Dinge, wie Freunde, Familie und Freizeit ein Stück weit zu opfern. Dieser Befund taucht auch in qualitativen Studien zu Sportlerinnen und Sportlern auf. Kreutzer (2006) etwa betont die Einschränkung der Peerkontakte während der Hochleistungskarriere, was sich auch deutlich bei den jungen Tänzerinnen und Tänzern zeigt. Insbesondere für Elias, der sehr gerne kreativen Hobbies, wie dem Fotografieren, nachgehen würde, und dafür einfach keine Zeit findet, stellt dies eine besondere Herausforderung dar. Freizeit ist ein seltenes Gut und Peerbeziehungen gibt es hauptsächlich nur im Kreise der Tänzer selbst. Diese sind allerdings sehr eng und kameradschaftlich, wie es auch Patrick et al. (1999) für Sportlerinnen und Sportler verzeichnen. Die Tänzerinnen und Tänzer bezeichnen sich untereinander als „Familie“ und betonen damit ihre enge strukturell bedingte Zusammengehörigkeit. Insbesondere im jugendlichen Alter, in dem maßgebliche karriererelevante Entscheidungen getroffen werden, ist der Tanz allumfassend. Er strukturiert den Alltag umfänglich. Delow (2000) konnte für Hochleistungssportlerinnen und Hochleistungssportler ähnliches resümieren. Aus einer sozialpsychologischen Perspektive beschreibt die Autorin den Sport als „totale Institution“ sowie die intensive Verankerung des Sportes in die soziale Identität. Ein Befund, der sich durchaus auch bei den Tänzerinnen und Tänzern zeigt. Hinzuzufügen ist allerdings, dass die umfängliche Identifikation mit der Rolle als Tänzerin und Tänzer während der Tanzvorausbildung und am Übergang in die Tanzvollausbildung am stärksten ist, wie sich aus der Längsschnittperspektive aufzeigen ließ. In der professionellen Tanzausbildung angekommen, findet dann zumindest bei Julian ansatzweise eine relativierende Abgrenzung statt, in dem er betont, dass seine Lebenswelt nicht nur aus Tanz besteht und er noch so viel mehr als nur ein Tänzer sei. Ferner ist die Identifikation der jungen Tänzerinnen und Tänzer mal implizit und mal explizit mit der Rolle der Künstlerin und des Künstlers interessant. Sie steht in einem engen Zusammenhang mit der Abgrenzung vom „normalen Leben“ oder von den „0815 Menschen“ sowie den vielfältigen Lebensformen der Selbstverwirklichung und Selbstbehauptungen (vgl. Röbke 2000), die die Tänzerinnen und Tänzer für sich beanspruchen. Sie sprechen sich damit selbst einen gesellschaftlichen Status abseits der Normalität bzw. der Normalbiographie zu. Immer wieder betonen insbesondere Freya und Julian, dass sie sich ein routiniertes Leben nicht vorstellen können und distinguieren sich von Menschen, deren Alltag fest eingespielt ist. Stillstand wird als negativ bewertet. Die biographische Unsicherheit wird von ihnen als Möglichkeit der Freiheit und Selbstbestimmung gefasst und stellt kein Problem für die persönliche Identität dar, sondern ist gar identitätsstiftend für die Jugendlichen und später jungen

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

Erwachsenen. Pfaff (2018) legt in ihrer Studie zu biographischen (­Un-)Sicherheiten bei Tänzerinnen und Tänzern ebenso dar, dass sie sich von Normalarbeitsverhältnissen abgrenzen und die prekären Verhältnisse nicht problematisieren. Weitaus umstrittener sind jedoch nach Pfaff für Tänzerinnen und Tänzer bestimmte Themen, wie der Körper, die Zeit und die Beziehungsdimension. Dies zeigt sich auch im Rahmen dieser Untersuchung. Von den Jugendlichen und jungen Erwachsenen werden genau diese Schwerpunkte implizit und explizit als problematisch verhandelt. Darüber hinaus deutet sich eine weitere Dimension an, die für die jungen Tänzerinnen und Tänzer von enormer Bedeutung ist: ihre Abhängigkeit von den anonymen Anforderungen des Marktes, die etwa ­Müller-Jentsch (2015) auch für Künstlerinnen und Künstler darlegt. Welcher Typ von Tänzerinnen und Tänzern gefragt ist, bestimmt der Markt. Die angehenden Tänzerinnen und Tänzer haben keinerlei Einfluss auf derartige Selektionsmechanismen. Sie können tänzerisch noch so versiert sein; wenn ihr Typ nicht gefragt ist oder sie nicht in das Konzept der Choreografin oder des Choreografen passen, werden sie nicht ausgewählt. An anderer Stelle habe ich ausführlich dargelegt, wie unklar die Kriterien und Maßstäbe sind, um erfolgreich eine Tanzausbildung zu durchlaufen und besondere dann am Ende in den Beruf einzumünden (vgl. Lüdemann 2018). Angehende Tänzerinnen und Tänzer sind frühzeitig damit konfrontiert, bestimmte Herausforderungen zu meistern. Von ihnen wird verlangt, diszipliniert, eigeninitiativ und reflektiert in Bezug auf sich selbst und andere zu handeln. Überdies erfahren sie ständig Kritik und müssen produktiv mit ihr umgehen können. Von den körperlichen Anforderungen mal ganz abgesehen, wird von den Tänzerinnen und Tänzer ein hohes Maß an Sozialkompetenz erwartet. Die Gratwanderung etwa zwischen Teamfähigkeit und Konkurrenzempfinden ist heikel. Die internen Spielregeln im Tanzfeld sind komplex und die Vorurteile, mit denen die Tanzwelt und deren Akteurinnen und Akteure zu kämpfen haben, sind beständig, was sich insbesondere bei Julian verdeutlicht, der im Kindesalter sehr stark mit dem Vorurteil des „schwulen Tänzers“ konfrontiert war. Für den Sportbereich zeigen Conzelmann et  al. (2001) auf, dass die Akteurinnen und Akteure über hohe Bildungsabschlüsse und generell über ein hohes Bildungsniveau verfügen, was sich auch für die Tänzerinnen und Tänzer dieses Samples verdeutlicht. Alle vier untersuchten Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben unter der Doppelbelastung von Schule und Tanz einen Abiturabschluss absolviert und sind in ein Studium übergegangen. Die Doppelbelastung von Bildungs- und Tanzkarriere ist wesentlich für den biographischen Werdegang, was sich auch im Sportbereich zeigt (vgl. Beckmann 2006; Güllich

8.2  Vom Tänzerinwerden und Tänzerwerden …

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et al. 1998; Reichertz/Wolf-Dietrich 1996). Ein wesentlicher Unterschied zur Sportkarriere ist jedoch, dass diese oftmals auch nach der schulischen Ausbildung parallel organisiert ist; das heißt, dass viele Sportlerinnen und Sportler, ein Studium oder eine Ausbildung absolvieren und nebenbei zum Training und zu Wettkämpfen gehen. Berufstätige Spitzensportlerinnen und Spitzensportler sind oft geplagt von Zeit-, Finanzierungs- und Passungsproblemen (vgl. Borggrefe/ Cachay 2013; 2014). Ausnahmen stellen hier etwa eine Ausbildung oder ein Studium bei der Bundeswehr oder der Polizei dar, bei denen die Sportkarriere institutionelle Unterstützung findet (vgl. Conzelmann et al. 2001). Die leistungssportliche Hochleistungsphase (mastery-phase), die direkt in die Studien- und Ausbildungszeit fällt, führt oftmals bei Sportlerinnen und Sportlern zu einer Verzögerung der Bildungskarriere (vgl. Wyllemann/Reints 2010). Bei den Tänzerinnen und Tänzern zeigt sich ein anderes Bild: Sie streben während ihrer Tanzvollausbildung (Studium oder Ausbildung) idealtypisch einen anerkannten Vollzeitberuf an und müssen in der Regel Tanz und Beruf nicht miteinander vereinen, da der Tanz ihr Beruf ist. Eine Verzögerung der Bildungskarriere lässt sich überdies bei den Tänzerinnen und Tänzern auch nicht beobachten. Ganz im Gegenteil: Sie wird recht pragmatisch und zügig absolviert; wobei pragmatisch nicht bedeutet, dass die schulischen Leistungen bedeutungslos sind. Es bedeutet vielmehr, dass ihnen im Vergleich zum Tanz wenig Geltung zugesprochen werden. Die Tänzerinnen und Tänzer sind sehr gute Schülerinnen und Schüler, was sich auch im Studium fortsetzt. Die in der Tanzausbildung zentralen Schlüsselqualifikationen wie Disziplin, Reflexivität, Kritikfähigkeit und Zielstrebigkeit scheinen sich auch auf die Bildungskarriere zu übertragen. Pointiert lässt sich darlegen, dass sich angehende Tänzerinnen und Tänzer vor dem Hintergrund einer Feldlogik zur Berufstänzerin und Berufstänzer entwickeln, die deutliche Parallelen zum Kunstbereich aufweist. Insbesondere die prekären Arbeitsmarktbedingungen für Tänzerinnen und Tänzer und spezifische Arbeitsmarktanforderungen wie Flexibilität, eine hohe intrinsische Motivation und die Weiterbildungsbereitschaft (vgl. Mayerhofer/Mokre 2007, S.  305) gelten auch für den Kunstbereich. Die Profession einer Tänzerin und eines Tänzers ist ähnlich wie die einer Künstlerin und eines Künstlers eine unsichere, die Professionalisierungsprozesse verlaufen unterschiedlich und sind vielfach autodidaktisch (vgl. Müller-Jentsch 2005). Die starke Vergleichbarkeit der Feldlogiken von Tanz und Kunst zeigt sich überdeutlich auch darin, dass beide Bereiche insbesondere im Rahmen der Ausbildungsstruktur Legitimationsprobleme haben, was nicht zuletzt mit der Anerkennung von Abschlüssen zu tun hat (vgl. 3.2.2). Die besondere künstlerische Eignung, die bei Aufnahmeverfahren geprüft wird, ist wesentlich bedeutsamer als der akademische Abschluss

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

(vgl. 3.2.1). Feldintern ist dies gängige Praxis. Feldextern ruft es oftmals Verwunderungen aus, die erklärungsbedürftig sind und eben nicht unbedingt auf gesellschaftliche Anerkennung trifft. So gelten doch überwiegend formale Abschlüsse als Eintrittskarten auf dem deutschen Arbeitsmarkt (vgl. Voss-Dahm et al. 2011). Die Nebensächlichkeit von Bildungsabschlüssen zeigt sich etwa bei Julian, der bevor er seinen Bachelorabschluss im Tanz absolviert hat, bereits als professioneller Bühnentänzer tätig ist. Im Vergleich zu der Berufsgruppe der Künstlerinnen und Künstlern, sind Tänzerinnen und Tänzer jedoch auf Grund von körperlichen Gegebenheiten dazu gezwungen, ihre aktive Tanzkarriere in der mittleren Lebensphase zu beenden (vgl. Langsdorf 2005). In Bezug auf diese Transition – in ein oftmals tanzverwandtes Berufsfeld – wird der Bildungsabschluss für die ehemaligen Tänzerinnen und Tänzer dann doch wieder relevant. Es muss allerdings erwähnt werden, dass in der Ausbildungsphase zur Tänzerin und zum Tänzer den formalen Abschlüssen weniger Bedeutung zugeschrieben, aber großen Wert auf die Allgemeinbildung gelegt wird. Darüber hinaus spielt das kulturelle Kapital eine entscheidende Rolle. Das Feld der Tanzkunst, wie ich es mit Bourdieu (2016) systematisiert habe (vgl. 3.1), verdeutlicht meines Erachtens den substanziellen Unterschied zu den Hochleistungssportlerinnen und Hochleistungssportlern: Ästhetische Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien sind beim Tanz hochgradig bedeutungsvoll. Und dennoch gibt es viele Parallelen zu einer Sportkarriere, wie bereits aufgezeigt wurde, was zentral mit den außerordentlichen körperlichen Anforderungen und der intensiven zeitlichen Beanspruchung zusammenhängt. Ferner werden Tänzerinnen sowie Tänzern und Sportlerinnen und Sportlern bestimmte Schlüsselqualifikationen zugesprochen, wie beispielhaft Disziplin und Ausdauer. Was sich zudem im empirischen Material für die Tänzerinnen und Tänzer in einem besonders hohen Maße gezeigt hat, ist eine ausgeprägte reflexive Kompetenz. Bereits auf der Ebene der formulierenden Interpretation fallen die vielen Reflexionsschleifen in den Narrationen auf. Die Tänzerinnen und Tänzer erzählen etwas und schließen daran oftmals direkt eine Reflexion des Erzählten an. Das spitzt sich bei Julian besonders im zweiten geführten Interview zu. Dort berichtet er über den internationalen Tanzwettbewerb und seinen Erfolg und blickt immer wieder selbstkritisch auf sich und sein Verhalten zurück. Auf den Punkt der reflexiv-narrativen Kompetenz wird nachfolgend noch genau eingegangen. Resümieren lässt sich darlegen, dass angehende Tänzerinnen und Tänzer im Laufe ihrer Ausbildungsphase vor ähnlichen Anforderungen stehen wie

8.3  Die Bedeutung einer professionellen Tanzausbildung für die ...

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Sportlerinnen und Sportler, entwickeln sich aber im Gegensatz in ein Feld, dessen Logik eng in Zusammenhang mit dem Kunstbereich steht. Die spezifische Herausforderung für die Tänzerinnen und Tänzern besteht darin, dem gewissen Zwischenstatus (zwischen Kunst und Sport) gerecht zu werden und in Einklang zu bringen, denn sie leisten körperlich ähnliches wie Hochleistungssportlerinnen und Hochleistungssportler, bewegen sich allerdings in einem Feld der ­kulturell-künstlerischen Produktion (vgl. ebd.). Dabei ist jedoch zu betonen, dass die Identifikation vornehmlich über den Erfahrungsraum resp. das Feld verläuft, was sich darin zeigt, dass sich die Tänzerinnen und Tänzer, wenn sie im Laufe ihrer Ausbildungsphase immer stärker in die Feldlogiken involviert sind, mit der Rolle der Künstlerin und des Künstlers identifizieren. Interessanterweise stellen sie selbst im empirischen Material keinerlei Bezüge zum Sport her, was nicht zuletzt auch dafürspricht, dass der strukturähnliche Erfahrungsraum (den ich als Feld der Tanzkunst bezeichne) wesentlich bedeutsamer für die Identitätsentwicklung ist als die Affinitäten zu Sport, wie etwa die vergleichbaren körperlichen Anforderungen.

8.3 Die Bedeutung einer professionellen Tanzausbildung für die Jugendphase In vielerlei Hinsicht wurden bereits auf empirische Befunde verwiesen, die vor dem Hintergrund einer jugendtheoretischen Perspektive interessant erscheinen. Vor allem die Tatsache, dass die jungen Tänzerinnen und Tänzer wenig frei verfügbare Zeit für etwa Peerkontakte oder für andere peerkulturelle und altersgerechte Praktiken haben, prägt ihre Lebenswelten. Sie sammeln wenige informelle Erfahrungen außerhalb des Tanzes, wenngleich ihre dortigen Erlebnisse sehr vielfältig sind und ihnen im Rahmen der Tanzausbildung ein hochreflexiver Umgang damit vermittelt wird. Ich möchte zunächst insbesondere auf zwei Aspekte verweisen, die sich in den Interviews mit den Tänzerinnen und Tänzern deutlich gezeigt haben. Interessanterweise sind es Punkte, die Hurrelmann bereits 2013 in einem Beitrag zukunftsweisend als Themen der Jugendforschung für das Jahr 2020 identifiziert hat: Erstens prognostiziert Hurrelmann unter anderem verstärkte Anforderungen an das biografische Selbstmanagement von Jugendlichen und zweitens spricht er von einer zunehmenden flexiblen Lebensführung. Den Jugendlichen und jungen Erwachsenen wird im Rahmen ihrer professionellen Tanzausbildung viel abverlangt. Sie müssen für eine lange Phase Schule und Tanz miteinander vereinbaren; sie müssen auf ihre Gesundheit und

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

ihren Körper Acht geben; sie müssen viel Zeit in ihre Tanzausbildung investieren, weshalb sie weitgehend auf Peerkontakte und Freizeit außerhalb des Tanzes verzichten müssen; sie müssen mit kulturellem Kapital ausgestattet sein und dieses weiterentwickeln, um in der Tanzkunstbranche mithalten zu können; sie müssen sich und ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten stets optimieren. Sie stehen insgesamt „vor der Herausforderung, eine Persönlichkeitsstruktur zu entwickeln, die sie in die Lage versetzt, auf die schnell wechselnden sozialen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Bedingungen mit einem hohen Ausmaß von biografischem Selbstmanagement zu reagieren“ (Hurrelmann 2013, S. 322). Dass die Tänzerinnen und Tänzer über biographisches Selbstmanagement verfügen, inszenieren sie vortrefflich in den Interviews. Ganz besonders Julian stellt sich als Akteur seiner Biographie dar, der einen eigenen Lebensstil hat und seinen Lebensplan verfolgt. Er verfügt über umfassende Bewältigungsstrategien und Verhaltensmuster, die ihm ermöglichen, „mit Widersprüchlichkeiten der sozialen Erwartungen umzugehen und die eigenen Selbstdefinitionen auf diesen schwierigen Sachverhalt auszurichten“ (ebd.). Auch Freya, Maria und Elias konstruieren sich als eigenmächtige Subjekte, die Statusinkonsistenzen aushalten und selbst bearbeiten und bewältigen können. Freya etwa, für die die strukturelle und auch biographische Unsicherheit bezüglich ihrer beruflichen Zukunft durchaus mit einer Last verbunden ist, findet für sich einen Weg, damit umzugehen. Sie stellt sich den Herausforderungen in einem kämpferischen Modus und bewältigt ihre Ungewissheit, in dem sie sich ein Stück weit selbst geißelt und teils bewusst, teils unbewusst bestimmte Dinge nicht an sich ranlässt. In den jeweils dritten Interviews mit Maria und Elias zeigt sich, dass auch sie in der Lage sind, auf widersprüchliche Handlungsanforderungen flexibel zu reagieren und diese dann für sich selbst biographisch sinnvoll zu bewältigen. Alle vier untersuchten Jugendlichen und junge Erwachsene inszenieren sich als eigenständige Persönlichkeiten, die einerseits gefestigt, stabil und gereift und anderseits anpassungsfähig, beweglich und veränderbar sind und es auch bleiben wollen. Sie können die vielfältigen biographischen und strukturellen Anforderungen bewältigen und auch Maria und Elias, die ihre Tanzkarriere jeweils nach langen Erwägungsprozessen aufgeben, gehen flexibel mit dem Wandel in ihrer Lebensführung um und finden neue Wege und Zukunftsperspektiven.

8.3  Die Bedeutung einer professionellen Tanzausbildung für die ...

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Mein Sample weist keinen Fall auf, der an den hohen psychischen, sozialen und physischen Anforderungen scheitert. Gedankenexperimentell wäre dies jedoch nicht auszuschließen, wie auch Hurrelmann (ebd.) betont: „D[en] Anforderungen können bei Weitem nicht alle Angehörigen der jungen Generation in gleichem Ausmaß gerecht werden. Die Umstrukturierung des Lebenslaufes eröffnet zwar viele neue Handlungsspielräume für die Gestaltung jeder einzelnen Lebensphase. Wer die biografischen und individuellen Kompetenzen zur Gestaltung solcher Spielräume besitzt, und das ist die Mehrheit der Bevölkerung, kann Vorteile an Lebensqualität, Gesundheitsbilanz und Lebensdauer hieraus ziehen. Für Menschen ohne solche Kompetenzen aber, und das ist eine anwachsende Minderheit der Bevölkerung gerade auch in der jüngeren Generation, ergeben sich neuartige Konstellationen von Risikofaktoren, die zu ebenso neuartigen Entwicklungsproblemen und Gesundheitsstörungen führen“ (ebd., S. 326).

Hurrelmann verweist in diesem Zusammenhang auf die ungleiche Verteilung der Belastung durch die flexible Lebensführung. Während die vier Fälle dieses Samples Familien angehören, die die Jugendlichen emotional und finanziell unterstützen, befürchtet Hurrelmann, dass Jugendliche aus relativ armen Familien nicht mithalten können und über vergleichsweise problematische Bewältigungsstrategien verfügen (ebd.). Auffällig in den Interviews mit den jugendlichen Tänzerinnen und Tänzern ist zudem, dass sie sehr früh in ihrem Lebenslauf Eigenverantwortung übernehmen und ein relativ elternunabhängiges Leben führen. So wechselt Maria beispielsweise bereits nach der 10. Klasse mit 17 Jahren auf eine renommierte Tanzhochschule. Sie wohnt nun ca. 6 Autostunden von ihren Eltern entfernt in einem Internat. Mit 19 Jahren absolviert Maria ihren Bachelorabschluss und mit 20 Jahren lebt Maria in Australien. In vielen Facetten lässt sich das Leben der jungen Tänzerinnen und Tänzer kaum noch von einem Erwachsenenleben unterscheiden und dennoch lassen sich keine Übergänge vom Jugendlichen zum Erwachsenen empirisch nachzeichnen; die Grenzen sind fließend (vgl. 4.2.2). Die professionelle Tanzausbildung, die auch die Biographie der jungen Tänzerinnen und Tänzer wesentlich prägt – darauf soll nachfolgend genauer eingegangen werden – hat wesentlichen Einfluss auf die Jugendphase der Tänzerinnen und Tänzer. Nicht zuletzt, weil der Tanz stark das Selbstkonzept der Jugendlichen bestimmt; wobei im Längsschnitt aufgezeigt werden konnte, dass die Identifikation als Tänzer und als Tänzerin in der Phase vor dem Übergang in die Tanzvollausbildung am stärksten ausgeprägt ist. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt intensiv mit dem

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

Gedanken auseinandersetzten, tatsächlich als professionelle Berufstänzerin oder professioneller Berufstänzer tätig zu sein und diese Wunschvorstellung kurz vor der in Betracht kommenden Erfüllung steht. Der zukünftige Erfahrungsraum wird von den Tänzerinnen und Tänzern mystifiziert, idealisiert und in ihr Selbstkonzept übertragen. Der Tanz ist allumfassend in ihrem Leben. Es zeigt sich, dass sich diese starke Identifikation mit der Zeit jedoch ein Stück weit aufbricht (vgl. 8.2). Insgesamt eröffnet der Erlebnis- und Erfahrungsraum des Tanzes den Jugendlichen und jungen Erwachsenen vielfältige Handlungsoptionen, die deutlich zu der Identitätsentwicklung beitragen. Er dient als Lern- und Bildungsraum, ähnlich wie Neuber et al. (2010) ihn für Sportvereine beschrieben hat. Die Tänzerinnen und Tänzer erlernen im Laufe ihrer Ausbildungsphase verschiedene Kompetenzen. Zentral dabei sind etwa der Umgang mit Druck und Belastungssituationen, Selbstbeherrschung und Disziplin, Interaktions- und Kooperationsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit. Besonders möchte ich die hohe narrative Reflexionsfähigkeit der jungen Tänzerinnen und Tänzer hervorheben, deren Erwerb ich eng im Zusammenhang mit den feldinternen Spielregeln (vgl. 3.1) und die dortige hohe Bedeutsamkeit von kultureller Bildung sehe. So sind Tänzerinnen und Tänzer nicht nur dem Bereich des Hochleistungssports zuzuschreiben, sondern ebenso dem künstlerischen Feld (vgl. 2.2). Es konnte aufgezeigt werden, dass sich die jungen Tänzerinnen und Tänzer viel stärker in Feldlogiken verorten, die künstlerisch ausgeformt sind, was damit begründet wurde, dass ihr Erfahrungsraum im höchsten Maße durch ästhetische Bewertungskriterien geprägt ist (vgl. 8.1.2). Die jungen Tänzerinnen und Tänzer finden über die kulturelle und ­künstlerisch-ästhetische Beschäftigung eigene Ausdrucksformen und arbeiten an ihrem Selbst und ihrer eigenen Identität, in dem sie sich narrativ und tänzerisch immer wieder mit ästhetischen Erfahrungen ihrer eigenen Lebenswirklichkeit auseinandersetzen. In den Interviews führen sie diese Kompetenz performativ vor, wie noch genauer aufzuzeigen ist (vgl. 8.4). An dieser Stelle soll jedoch zuvor auf einen weiteren spannenden Aspekt verwiesen werden, der eng an die Frage einer möglichen transformativen Beschaffen eines Habitus geknüpft ist. So gilt insbesondere die Jugendphase nach wie vor als der Katalysator für Wandlungsprozesse (vgl. Erikson 1974; Helsper 2014a; Wagner 2004; Oevermann 2016; King 2013). Oevermann (2004) diagnostiziert aus einer strukturtheoretischen Perspektive verschiedenen Krisenkonstellationen, aus denen heraus sich Transformationen entwickeln (können). Gerade Jugendliche verfügen über erhöhtes Potenzial sich vor dem Hintergrund einer traumatischen Krise, einer Entscheidungskrise oder einer Krise durch Muße –

8.3  Die Bedeutung einer professionellen Tanzausbildung für die ...

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zwischen diesen drei Krisen unterscheidet Oevermann (ebd., S. 165 ff.) – neu zu erfinden. Für die vier Jugendlichen und jungen Erwachsenen dieses Samples ließ sich im Längsschnitt empirisch ein weitgehend persistenter Habitus nachzeichnen. Auch andere längsschnittlich angelegte Projekte, die die Jugendphase fokussieren, verweisen auf die Dominanz von reproduktiven Momenten des Habitus (vgl. 2.1). So resümieren Helsper et al. (i.E.) für das ­exklusiv-gymnasiale Feld, dass sich trotz tendenzieller traumatischer Krisenerfahrungen in der Jugendphase keinerlei Veränderungen des Schülerhabitus zeigen. Damit ist fraglich, inwieweit die These der Adoleszenz als biographischer Zeitraum der Entstehung des Neuen haltbar bleibt. Einerseits findet das Ausbleiben von Habitustransformationen Begründung darin, dass sich die Schülerschaft der exklusiven Gymnasien nicht so stark von ihren Herkunftsfamilien abgrenzen muss, um sich biographisch entwickeln und entfalten zu können und anderseits wird argumentiert, dass für die Schülerinnen und Schüler der exklusiven Gymnasien die dominante Strukturvariante der Adoleszenzkrise die Form einer Bewahrungs- und Kontinuitätskrise annimmt (vgl. ebd.). In dieser Krisenkonstellation geht es vornehmlich darum, „bei aller äußeren Veränderung und durch Übergänge und Statuspassagen hindurch Kontinuität zu sichern und die eigenen Orientierungen zu bewahren – sich also im Prozess der adoleszenten Individuation treu zu bleiben“ (ebd., unv. Man.). Durch die ständige Arbeit an sich und mit sich selbst und durch fortwährende Reflexionsprozesse entwickeln die Jugendlichen einen angemessenen Umgang mit den vielfältigen Herausforderungen und den gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen ihrer Lebenswelten. Die Hochleistungs-, Perfektions-, und Strebensansprüche der exklusiven Schülerschaft werden in Kontinuitätslinien fortgesetzt. Können diese nicht reproduziert werden, würde dies ein biographisches Scheitern der Jugendlichen nach sich ziehen (ebd., unv. Man.). Hier verdeutlichen sich die Ambivalenzen derartiger Hochleistungsorientierungen. Die Belastungen, denen die Jugendlichen in ständigen Bewährungskrisen ausgesetzt sind, verschärfen sich zunehmend. Vor dem Hintergrund des Sogs des permanenten Mehr (Bröckling 2013, S. 191) drohen weitreichende Erschöpfungen. Die Adoleszenzkrise wird hier zu einer Krise, weil die Subjekte (krampfhaft) versuchen, Kontinuität zu bewahren und Irritationen zu vermeiden. Auch wenn individuelle Lebensführungen in Frage gestellt werden, führen Sie nicht zu Habitustransformationen (vgl. Helsper et al. i.E.). Ich finde diesen Befund und die entsprechende Theoretisierung von Helsper et al. vor dem Hintergrund, dass auch die Tänzerinnen und Tänzer dieses Samples zu Beginn der Untersuchung alle ein

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

exklusives Profilgymnasium besuchen, spannend. Denn auch für die vier Jugendlichen zeigt sich deutlich, dass sie unerlässlich an ihrem gesellschaftlichen Status und persönlichen Erfolg arbeiten und immer das Beste aus sich rausholen wollen, ähnlich wie es auch Bröckling (2013) und Reckwitz (2012) beschrieben haben. Die Bewahrungs- und Kontinuitätskrise als neuartige Strukturvariante der Adoleszenzphase ruft dennoch aus einer biographisch- sozialisationstheoretischen Perspektive Irritationen hervor: Bislang galt es, Krisen zu überwinden und durch sie bzw. an ihnen zu wachsen und so Neues hervorzubringen (vgl. Erikson 1974; Oevermann 2016). Die Bewahrungskrise scheint jedoch ein lang andauernder Zustand zu sein, von dem wir (noch) nicht wissen, wie er zu überwinden ist. Hat der Leistungs-, Perfektions-, und Optimierungszwang ein biographisches Ende? Oder kann man nur an den Herausforderungen scheitert, um die Krise letztlich bewältigen zu können? Vor dem Hintergrund der Frage nach möglichen Habitustransformationen, die bislang vermehrt in der Phase der Adoleszenz vermutet wurden, ist der Befund ebenso beirrend. Für den Schülerhabitus bzw. schulbezogener Orientierungen der Schülerinnen und Schüler exklusiver oder profilierter Gymnasien wurde empirisch nachgezeichnet, dass auf Grund der homogenen Schülerschaft und umfangreichen An- und Auswahlprozessen kaum bis keine Habitustransformationen stattfinden, sondern, dass sich vornehmlich reproduktive Prozesse vollziehen (vgl. Krüger et al. 2019; Helsper et al. i.E.). Doch vielleicht ist der Befund zuweilen gar nicht allzu irritierend und die theoretische Reichweite deutlich umfangreicher. Denn der Habitus, so wie Bourdieu (1987) ihn beschreibt, ist durch eine stabile Schale gekennzeichnet, die sich zwar sehr wohl irritieren lässt, jedoch nur vor dem Hintergrund der ursprünglichen Konditionierung (ebd., S. 103). Dieser Aspekt sei hier nur angedeutet. Eine ausführliche Auseinandersetzung ist jedoch zwingend notwendig und folgt (vgl. 8.5). Hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung einer professionellen Tanzausbildung für die Jugendphase lassen sich dennoch bereits folgende Punkte festhalten: Den jugendlichen Tänzerinnen und Tänzern werden sehr früh im Laufe ihrer Ausbildungsphase Lebenswelten vermittelt, die stark meritokratischen Prinzipien der Leistungs- und Selbstoptimierung folgen (vgl. Bröckling 2013; Helsper et al. i.E.). Die Anstrengungsbereitschaft der Tänzerinnen und Tänzer und das Streben nach Perfektion und Disziplin ist außerordentlich. Darüber hinaus wird ihnen transportiert, sie müssen als professionelle Tänzerinnen und Tänzer hochgradig flexibel und anpassungsfähig sein (vgl. 8.1.2). Vorgefestigte Zukunftsentwürfe stehen im negativen Gegenhorizont, während Planungsoffenheit und Wettkampforientierung positiv bewertet werden. Lebensentwürfe können

8.4  Zum Verhältnis von Biographie, Sozialisation …

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und müssen stets neu- und umgeschrieben werden. Im Gegensatz dazu wird eine gefestigte und stabile Identität erwartet, die die umfangreichen individuellen und gesellschaftlichen Herausforderungen sinnvoll bewältigen kann. Letztlich bewegen sich die jungen Tänzerinnen und Tänzer in einem ständigen Ambivalenzverhältnis zwischen einer Lebenswelt, die bestenfalls einen transformativen Charakter hat und eines Selbst, das stabil und gefestigt ist. Es wird von den Subjekten erwartet, gleichermaßen stabil, wie wandelbar zu sein.

8.4 Zum Verhältnis von Biographie, Sozialisation und professionellem Tanz Die empirischen Rekonstruktionen der Jugendlichen und dann jungen Erwachsenen zeigen deutlich auf, dass der Tanz einen hohen Stellenwert in deren Biographie bzw. deren biographischen Narrationen einnimmt. Obwohl die mit ihnen geführten Interviews zunächst narrativ offen angelegt sind und dann spezifische Themen wie Familie, Schule und Peers behandeln, finden sie bereits zu Beginn ihrer Erzählung zum Thema Tanz oder legen gar ihren tänzerischen Werdegang dar. Ganz besonders bei Freya und Julian fällt auf, dass die Lebensgeschichte erst in Zusammenhang mit der Tanzgeschichte erzählt wird. Alltägliche Routinen sind geprägt vom Tanz. Um den Tanz herum, so ließe sich zugespitzt formulieren, richtet sich ihr Leben aus. Das zeigt sich auch bei Elias und Maria in dem ersten Interview und ein Stück weit noch im zweiten Interview; im dritten Interview dann ist Elias Leben nicht mehr nach dem Tanz ausgerichtet und auch Marias Alltag ist nicht mehr durch den Tanz strukturiert. Gedanklich ist sie allerdings noch stark in die Tanzstrukturen eingebunden. Nur langsam findet bei ihr ein Ablösungsprozess vom Tanz statt, in dem sie Kritik an den Ausbildungs- und Berufsbedingungen übt. Bereits sehr früh im Lebensverlauf beginnt die Tanzkarriere, die im Fortgang immer mehr Zeit in Anspruch nimmt. Damit findet nicht nur eine frühzeitige Sozialisation in das Feld der Tanzkunst statt, sondern zudem eine besonders umfängliche, da der Tanz reichlich Zeit in Anspruch nimmt. Dies wird spätestens dann zum Problem, wenn die jungen Tänzerinnen und Tänzer in die Schule kommen. Damit tritt ein ähnlich leistungsaffines, zeitaufwendiges Feld resp. Erfahrungsraum als zu bewältigende Anforderung in ihr Leben hinzu. Die Parallelität oder Dualität (vgl. 3.2.1) von Schul- und Tanzausbildung gleichsam zu bewältigen, ist herausfordernd (vgl. Richartz/Wolf-Dietrich 1996). Neben einem funktionierenden Zeitmanagement ist ein Höchstmaß an Disziplin und Ehrgeiz erforderlich. Im Verlauf der Tanzkarriere lässt sich beobachten, dass diese

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

immer zeitintensiver und deutlich anstrengender wird (vgl. Brademann 2008). Es verbleibt wenig Zeit für anderweitige Beschäftigungen, die Familie oder gar Freunde oder jugendkulturelle Beschäftigungen außerhalb des Tanzes. Freya, Julian, Maria und Elias meistern die Doppelbelastung von Schule und Tanz zunächst im Grunde ohne nennenswerte Probleme. Sie sind sehr gute Schülerinnen und Schüler und meistern daneben die enormen Anforderungen im Tanzunterricht. Bei Elias deutet sich allerdings an, dass er zunehmenden Druck empfindet, den hohen Leistungsanforderungen nicht mehr gerecht zu werden. Maria, die bereits nach der 10. Klasse an eine Tanzhochschule wechselt und neben dem tänzerischen Vollzeitstudium am Abendgymnasium ihr Abitur absolviert, bewältigt die Doppelbelastung von Tanzstudium und Abendschule nur mit großen Anstrengungen und dem weitgehenden Verzicht von allem, was nicht mit Schule und Tanz zu tun hat. Eine absolute Überforderung zeigt sich dann darin, dass sie mehrmals während des Trainings zusammenbricht. Während die Doppelbelastung von Schule und Tanz von den jungen Tänzerinnen und Tänzern relativ gut bewältigt wird, zeigt sich bei Maria, dass die Doppelbelastung von Tanzstudium und Abendgymnasium nicht nur strapaziös und anstrengend ist, sondern dass dadurch ernst zu nehmende körperliche und auch seelische Grenzen erreicht werden können. Insbesondere in der Phase der institutionell gerahmten Tanzvorausbildung, so zeigen es die Rekonstruktionen, ist der Tanz ein enorm prägender Erfahrungsraum für die Jugendlichen. Sie inszenieren eine Welt des Tanzes und im Gegensatz dazu eine Welt außerhalb des Tanzes, in der sie sich mit ihren spezifischen körperlichen und seelischen Erfahrungen oftmals von Außenstehenden nicht verstanden fühlen. Die jugendlichen Tänzerinnen und Tänzer distinguieren sich verstärkt nach Außen und bilden eine – wenn auch brüchige – kohärente Einheit nach Innen. Dies verdeutlicht sich insbesondere in den Freundschaftskonstellationen der Tänzerinnen und Tänzer, die als familienartige Strukturen von ihnen beschrieben werden. Die Metapher der „Familie“, die in den Interviews benutzt wird, um über die emotionale Nähe der Tänzerinnen und Tänzer zueinander zu assoziieren, ist jedoch doppeldeutig, da sie neben der möglichen tiefen Verbundenheit auch verdeutlicht, dass die Nähe strukturell hergestellt bzw. erzwungen ist. Die Gruppe der Tänzerinnen und Tänzer konstituiert sich in erster Linie über die institutionelle Rahmung und nicht über individuelle Passförmigkeiten. Damit bleibt die Freundesgruppe immer auch ein Stück weit inkonsistent und brüchig nach Innen. Nach Außen aber stellen sie sich als starken Verbund dar, für dessen Aufnahme einzig und allein ein Kriterium erfüllt werden muss: Man muss Tänzerin oder Tänzer sein. Die strukturähnlichen Erfahrungen

8.4  Zum Verhältnis von Biographie, Sozialisation …

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schweißen die Jugendlichen zu einer zunächst künstlich hergestellten Gemeinschaft zusammen, aus der selbstverständlich auch natürliche Freundschaften erwachsen können. Die Gemeinschaft der Tänzerinnen und Tänzer ist darüber hinaus aus einem weiteren Grund eine sehr spezifische. Auf der einen Seite verbringen sie enorm viel Zeit miteinander, erfahren Ähnliches, halten zusammen und müssen im Team agieren, auf der anderen Seite sind sie Konkurrentinnen und Konkurrenten. Nur die Besten kommen weiter und wer sich nicht als strebsam und ehrgeizig positioniert, wird hinsichtlich der Aufstiegschancen kaum beachtet. Talent alleine genügt nicht, der gewisse Biss, der speziell von Freya erwähnt wird, ist genauso erforderlich. Wiederum gilt es, gegenüber anderen Tänzerinnen und Tänzern der Gruppe wertschätzend und kollegial zu sein. Die Balance zwischen Egozentrismus und Altruismus zu beherrschen, erfordert eine beachtliche Feinfühligkeit, die Fähigkeit der Perspektivübernahme und ein hochgradiges Reflexionsniveau. Im Rahmen der Tanzvorausbildung werden den jungen Tänzerinnen und Tänzer starke Werte wie Disziplin, Zuverlässigkeit, Autonomie etc. vermittelt, um eine authentische Persönlichkeit herausbilden zu können. Zentral dabei ist die Vermittlung von Reflexivität auf verschiedensten Ebenen. Die Jugendlichen reflektieren über sich und ihre Persönlichkeit, über ihre Umwelt und Umgebung, über ihre Körper und über ihre Tänze. Das Motiv des Sprechens über etwas ist hochbedeutsam für die Sozialisation als Tänzerin und als Tänzer. Sehr früh in der Tanzausbildung werden existentielle und philosophische Fragen gestellt und zu beantworten versucht. Dies zeigt sich deutlich in den empirischen Rekonstruktionen von Julian in dem zweiten Interview: Für den internationalen Tanzwettbewerb choreographiert er selbst ein sehr privates und für ihn emotionales Stück, denkt sich dafür intensiv in die Geschichte, die er tänzerisch erzählen möchte ein und gerät immer wieder an seine körperlichen und seelischen Grenzen. Er berichtet in dem Interview metaphorisch darüber, wie er am Boden zerstört war und wie er an sich selbst gearbeitet hat und daran gewachsen ist. Der hohe alltägliche Reflexionsgrad der Tänzerinnen und Tänzer wirkt sich auf ihre biographischen Narrationen aus. Straub (2000) spricht von einer biographischen Kompetenz, die es im Laufe des Sozialisationsprozesses zu erlernen gilt (ebd., S. 137). So wird das eigene Selbst „als gewordenes und temporal strukturiertes“ aufgefasst (ebd., S. 138). Die Tänzerinnen und Tänzer gestalten ihre Biographien äußerst kunstvoll aus und beherrschen vielfältige Formen der Selbstthematisierung. Sie drücken ihr Selbst in lebensgeschichtlicher Perspektive

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

aus und berücksichtigen stets eine Art kontinuierlichen Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mit Rosenthal (1995) gesprochen, sind die Tänzerinnen und Tänzer „kein ­So-Jemand ein für alle Mal, sondern [sie] präsentiere[n] sich als jemand, der sich entwickelt hat oder verändert hat“ (ebd., S. 51). Sie inszenieren sich als Akteure und Planer ihrer Biographie (vgl. Alheit 1992), die ihr Leben selbst verorten, die Weichen für die Zukunft stellen und Veränderungen eigenständig bewältigen. Erfahrungen werden in diesem Sinne als biographische Ressourcen genutzt. Erst sie ermöglichen die Konstruktion von Biographie, eben immer aus der Perspektive des bisher Erlebten heraus. Entscheidend dabei ist, dass sich bereits gemachte Erfahrungen nicht ausradieren lassen, sondern sie immer präsent bleiben und gar über die Aufnahme von neuen Erfahrungen resp. über die Reflexion der neuen Erfahrungen bestimmen (Kohli 1976, S. 320 ff.). Sozialisation ist bedeutsam für jeden noch so kleinen Wandel im Leben, sei er individuell oder gesellschaftlich, denn dank ihr wird „das bisher Bewährte bewahrt“ (Hoerning 2000, S. 7). Lediglich vor diesem Hintergrund überhaupt kann Neues – jedoch immer auf der Grundlage des Alten – stattfinden. Alheit (1992; 2000) führt dazu überzeugend folgendes Beispiel an: „Ich bleibe ein 68er, auch wenn ich mich von den Ideen von damals längst distanziert habe. Ich bin Mitglied der ›Kriegsgeneration‹, selbst wenn die Enkelkinder mich als wohlsituierte Großmutter wahrnehmen. Die Spuren der ›objektiven‹ Bedingungen, die mich geprägt haben, sind also keineswegs ausgelöscht“ (Alheit 2000, S. 247).

Damit baut die Logik des Neuen immer auf der Logik des Alten auf, so dass sich zu Recht fragen ließe, wie neu das Neue tatsächlich ist. Insbesondere vor dem Hintergrund einer sozialisationstheoretischen Perspektive ist vornehmlich davon auszugehen, dass sich Veränderungen auf der Grundlage von Vorherigem vollziehen. Das erlebte Leben lässt sich nicht ungeschehen machen, von vorne kann man nicht beginnen. Die Metapher vom Neuanfang des Lebens ist damit eine bloße Illusion. Und dennoch, die Biographie, also das erzählte Leben, gedacht als eine „individuelle Semantik, deren Performanzebene an kollektive Sprachspiele anschließbar bleibt“ (ebd., S. 276), hat theoretisch das Potential, immer wieder von vorne anzufangen (vgl. ebd.). So erfolgt die Narration beharrlich entsprechend der aktuellen Handlungssituation und damit ändern sich womöglich die subjektiven Verarbeitungen des Lebenslaufes, die jedoch vor dem Hintergrund eines (relativ) stabilen Habitus stattfindet (vgl. 8.4).

8.4  Zum Verhältnis von Biographie, Sozialisation …

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Ob gewollt oder ungewollt, der Mensch macht fortlaufend Erfahrungen, denen er sich nicht entziehen kann (vgl. Alheit/Hoerning 1989). Im Laufe des Sozialisationsprozesses sammelt er ununterbrochen Lebenserfahrungen, die in biographischer Formation subjektiv verarbeitet und im Lebensverlauf durchaus generiert und modifiziert werden (vgl. ebd.; Kohli 1991). So werden frühere Erfahrungen unter der Reflexion neuerer Erfahrungen sehr wohl möglicherweise abweichend gedeutet, was sich in der biographischen Narration widerspiegelt. Es ließe sich zudem davon ausgehen, dass mit fortschreitenden Lebenserfahrungen auch die interpretative resp. reflexive Kompetenz und damit auch die narrative Kompetenz zunimmt (Hoerning 2000, S. 7). Im Sozialisationsprozess, der lebenslang währt, verändern sich die Konstruktionen von Biographie je nach Selbstreferentialität (vgl. Alheit 2000, S. 275). Dies zeigt sich eindrücklich auch in den Rekonstruktionen der insgesamt drei geführten Interviews mit den Tänzerinnen und Tänzern. Julian beispielsweise formuliert in dem ersten Interview – nach dem er erst seit einiger Zeit das Gymnasium mit tänzerischem Profil besucht – noch sehr vorsichtig, dass er professioneller Berufstänzer werden möchte und identifiziert sich mit der Rolle des Tänzers, jedoch vornehmlich aus seinen Kindheitserfahrungen heraus. So stellt der Tanz dort in starker Abgrenzung zum Fußball und zum Tennis seine Leidenschaft dar. Er verortet sich im Rahmen des ersten Interviews nicht in feldrelevanten Strukturen. Zum Zeitpunkt des zweiten geführten Interviews, in dem Julian über erste sichtbare Erfolge als Tänzer berichtet, ist er jedoch in die Logik des Tanzfeldes und die internen Spielregeln Julian mittlerweile durchaus involviert und weiß über strukturelle Begebenheiten besser Bescheid. Nunmehr identifiziert er sich nicht mehr nur als Tänzer, sondern darüber hinaus als Künstler. Sein Leben ist zu diesem Zeitpunkt allumfassend auf den Tanz ausgerichtet. Interessanterweise bricht dies im dritten Interview ein Stück weit auf. Mitten im Tanzstudium angekommen, kurz vor dem Eintritt in die Berufswelt als professioneller Bühnentänzer, verschieben sich Julians Relevanzen. Gegenwärtig betont er, sei er nicht nur ein Tänzer, sondern so viel mehr. Damit verortet er sich nicht mehr nur zentral im Feld der Tanzkunst, sondern darüber hinaus als Jemand, für den es auch tanzunabhängige Lebensrelevanzen gibt. Hauptsache er ist glücklich mit dem, was er tut und wenn er mal nicht mehr tanzen kann, würde er sein Glück woanders finden, so Julian (vgl. 7.1). Es zeigt sich einerseits eine starke sozialisatorische Integration in das Feld bis hin zur vollständigen Inklusion und anderseits deutet sich auch eine schleichende Exklusion aus dem Feld an. Bei Maria gestaltet sich dies anders. Sie ist bereits

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

sehr früh schon durch das Kinderballett in die Strukturen des Tanzfeldes eingeführt und fühlt sich dem Feld entsprechend zugehörig. Ihr ganzes Leben ist der Tanzausbildung untergeordnet, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass sie vorzeitig das Gymnasium mit tänzerischem Profil verlässt, um auf die Tanzhochschule weit weg von zu Hause zu wechseln, und dort neben dem Vollzeitstudium ihr Abitur auf dem Abendgymnasium absolviert. Im Gegensatz zu Julian, der erst relativ spät in die Tanzvorausbildung wechselt, wächst Maria seit ihrer frühen Kindheit mit dem professionellen Tanz auf. Dementsprechend formen sich Marias Zukunftsvorstellungen von einer erfolgreichen Balletttänzerin. Bereits im ersten Interview nimmt sie sich als Tänzerin wahr und strebt ganz klar eine Tanzkarriere an. Ihr zum damaligen Zeitpunkt chancenreiches Tänzerinnendasein wird in keinerlei Hinsicht kritisch hinterfragt, sondern es wird ganz gegenteilig als regelrecht naturwüchsig von ihr verhandelt. Umso dramatischer gestaltet sich das nicht freiwillige aber absehbare Ende ihrer Tanzkarriere. Maria ist ein Stück weit orientierungslos hinsichtlich einer Zukunft ohne Tanz. Die Exklusion aus dem Feld kommt für Maria größtenteils unerwartet und ist in Anbetracht der vorherigen langjährigen und intensiven Integration in das Tanzfeld erschütternd (vgl. 7.4). Zwischen dem ersten und dem dritten Interview mit Maria durchlebt sie wiederkehrend vornehmlich negative tänzerische Erfahrungen, was unter anderem auch zu einer Modifizierung der biographischen Narration führt. Zugespitzt lässt sich formulieren, dass der Tanz im ersten Interview durchgehend positiv konnotiert ist und ihr zukünftiges Leben aussichtsvoll bestimmt. Im dritten Interview hingegen wird der Tanz als lebenseinengend von Maria beschrieben. Hier verdeutlicht sich, wie sich im Laufe der Zeit die biographische Narration über den Tanz entsprechend der Erfahrungen und der Selbstreferentialität formiert hat. Allein der Begriff der Erfahrung (er-fahren) verweist auf eine Bewegungsmetapher (Fooken 2009, S. 164) und akzentuiert ein prozessuales lebenslanges Geschehen. Der Umgang mit Einschnitten, Brüchen oder Diskontinuitäten wird auf je spezifische Weise in die Biographie eingebettet. Damit ist das gemeint, was bei all der unendlichen biographischen Beweglichkeit konstant bleibt. Diese Andeutung wird in einem nächsten Unterkapitel ausführlicher dargelegt (vgl. 8.4). Zunächst soll allerdings der Versuch unternommen werden, das Verhältnis von Sozialisation, Biographie und professionellem Tanz, wie es soeben dargelegt wurde, resümierend zusammenzufassen. Es lässt sich formulieren, dass Sozialisation einen lebenslangen, gradlinigen Prozess darstellt. Dank einer passenden Sozialisation sind wir in der Lage, einschneidende Erfahrungen so zu bewältigen, dass wir mit ihnen

8.4  Zum Verhältnis von Biographie, Sozialisation …

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weiterleben können (vgl. Fooken 2009). „Es geht um das Phänomen der Anschlussfähigkeit biographischer Problemlagen an bereits akkumulierte Erfahrungen“ (Alheit/Dausien 2000, S. 275). Aus sozialisationstheoretischer Perspektive sind insbesondere primäre Ersterfahrungen bedeutsam, denn sie entscheiden letztlich darüber, wie wir mit weiteren Erfahrungen umgehen (vgl. Bourdieu 1976). Neues entsteht nur auf der Grundlage von Vorhandenen, denn der Habitus resp. der Modus Operandi bestimmt maßgeblich über die Neuerungen (vgl. 8.4). Dennoch bleibt nichts gleich im Sinne einer sturen Wiederholung. Das Gelebte wird bewahrt und so modifiziert, dass es in die neue Zeit hineinpasst (vgl. Hoerning 2000, S. 6). Sozialisation schreibt sich ständig als Prozess fort und reproduziert bewährte Handlungsmuster dynamisch. Grundlegende Transformationen – aus einer bildungstheoretischen Perspektive heraus, gedacht als radikale Wandlungsprozesse – sind in diesem Fall nicht haltbar. Veränderungen oder auch Wandlungen sind aus sozialisationstheoretischer Perspektive durchaus denkbar, es sind aber keine (radikalen) Transformationen, sondern lediglich Relevanzverschiebungen, -verlegungen, -verzögerungen etc. im biographischen Rahmen (vgl. 8.4). Erfahrungen, die wir unabdingbar im Lebensverlauf machen, werden in der Biographie interpretiert und zu einer zusammenhängenden Lebensgeschichte formiert bzw. konstruiert (vgl. Maschke/Stecher 2009, S. 217). Das Leben wird zu einer Geschichte, zu einer rhetorischen Illusion, zu einer „kohärente[n] Erzählung einer bedeutungsvollen und gerichteten Abfolge von Ereignissen“ (Bourdieu 2000, S. 53), die narrativ stets neu sortiert werden kann. Biographische Narrationen sind flüchtige Momentaufnahmen und stellen einmalige Konstruktionsleistungen dar, die je nach Selbstreferentialität variieren. Die Variationen scheinen unendlich, und dennoch sind sie gerahmt resp. begrenzt durch einstmalige sozialisatorische Prozesse, denn es ist schließlich unsere Biographie (vgl. Alheit/Dausien 2000). Ein Aufwachsen mit einer professionellen Tanzausbildung bedeutet für die Kinder, Jugendlichen und später jungen Erwachsenen eine allumfassende Ausrichtung auf das entsprechende Feld. Für Interessen fernab vom Tanz bleibt wenig Zeit, ebenso wie für Freundschaften außerhalb der Tanzwelt. Potentiell angehende Tänzerinnen und Tänzer machen reichlich Erfahrungen mit sich selbst, ihrem Körper und ihrer Umwelt. Den Tanzpädagoginnen und Tanzpädagogen ist sehr daran gelegen, diese Erfahrungen biographisch zu verarbeiten und zu reflektieren. Aber auch in der Peergroup der Tänzerinnen und Tänzer selbst ist das reflektierte Reden eine zentrale Praxis. Im Laufe ihres

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Sozialisationsprozesses bilden sie eine hohe Reflexionsfähigkeit aus und erlernen eine umfangreiche biographisch, narrative Kompetenz. Dank dieser, so meine These, sind die Tänzerinnen und Tänzer besonders in der Lage, ihr Leben als kohärente Einheit zu beschreiben. In den biographischen Narrationen reflektieren sie sich zum Teil selbst und erläutern bestimmte sozialisatorische Zusammenhänge ihres Lebenslaufes. Auch die empirischen Rekonstruktionen verdeutlichen, dass sich selbst unter einer längsschnittlichen Perspektive und selbst bei strukturellen Veränderungen der Lebenslagen der Tänzerinnen und Tänzer, wie etwa bei Elias das Aufgeben der professionellen Tanzkarriere, keinerlei Veränderungen auf Ebene des Modus Operandi stattfinden, was im Folgenden noch mal ausführlicher beschrieben wird.

8.5 Zur Dualität von Reproduktion und Transformation – kritische Anmerkungen Eingangs wird betont, dass ich mit einer sozialisationstheoretisch orientierten Perspektive auf die Biographie der Tänzerinnen und Tänzer blicke und dementsprechend vornehmlich Prozess des Werdens fokussiere. Ferner habe ich mich von den in der qualitativen Längsschnittforschung dominierenden Konzepten der Reproduktion und Transformation abzugrenzen versucht. Daraus resultierte ein spezifisches methodisches Vorgehen, welches den Fall an sich in seiner biographischen Prozessdynamik in den Mittelpunkt stellt. In dem empirischen Material dokumentieren sich keinerlei radikale Wandlungsprozesse, wie sie als Transformationen verstanden werden (vgl. Helsper et al. 2004; Kramer 2013; Leinhos et al. 2018a, 2018b). Vielmehr dominieren Reproduktionsprozesse des feldrelevanten Teilhabitus. Qualitative Längsschnittstudien (vgl. ebd.) als auch qualitative Einfacherhebungen (vgl. Koller/Wulftange 2014; Rosenberg 2011) operieren mit Bezeichnungen wie Reproduktion (oder auch Fortschreibung) und Transformation und konstruieren einen begrifflichen Dualismus, der „deren Verwobenheit nicht mehr hinreichend in den Blick nehmen“ kann (Niestardt/Ricken 2014, S. 106). Niestardt und Ricken (ebd.) merken an, dass damit nicht berücksichtigt sei, dass jede Reproduktion in sich immer transformativ sei, da jede Wiederholung eine Differenz enthalte (Deleuze 1992) und überdies, dass jede Transformation per se auf Vorhandenes zurückgreift, denn frühere Erfahrungen

8.5  Zur Dualität von Reproduktion und Transformation …

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bestimmen die Aufnahme von neueren Erfahrungen (vgl. Bourdieu 1976). Die Autoren argumentieren weiter, dass Transformation vielmehr als „Moment des Habitus“ selbst zu denken sei (Niestradt/Ricken 2014, S. 117) und sprechen in diesem Sinne generell von einem „Transformationshabitus“ und nicht, wie etwa Kramer et al. (2008) von einer Habitustransformation oder Leinhos et al. (2018a/b) von einer Transformation einer Orientierung. An diesen Gedanken kann ich mit den Rekonstruktionsergebnissen konstruktiv anknüpfen. Für vier Tänzerinnen und Tänzer wurde im Längsschnitt der feldspezifische Teil des Modus Operandi resp. der feldbezogene Teil- oder Partialhabitus (vgl. Bourdieu 2013b) rekonstruiert. Damit wurde nur ein für diese Arbeit thematisch substanziellen Ausschnitt des gesamten biographischen Rahmens in den Blick genommen, der sich maßgeblich um verschiedenste sozialisationsrelevante Felder spannt, wie die folgende Abbildung (8.3) verdeutlicht.

Abbildung 8.3   Der biographische Rahmen

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

Diese skizziert, wie schon zuvor auch in Bezug auf das Analyseinstrument von Bohnsack (2017), den biographischen Rahmen, der als fluide, amorph und in ständiger Bewegung zu verstehen ist. Der biographische Rahmen beinhaltet sämtliche Feldbezüge, die mit Bohnsack auch als Orientierungsrahmen gefasst werden können. Innerhalb des biographischen Rahmens nehmen diese unterschiedliche Wirkmächtigkeiten ein, was in der Graphik durch die Größendifferenz zum Ausdruck gebracht wird. Das Feld der Tanzkunst etwa stellt für die Jugendlichen und später jungen Erwachsenen dieses Samples ein hochbedeutsames biographisches Feld dar, nicht zuletzt, weil sie seit früher Kindheit weitläufig in das Feld ­(rein-) sozialisiert wurden. Je nach Sozialisationsphase formiert sich der biographische Rahmen um, die Orientierungsrahmen verschieben sich, werden relevanter oder verlieren an Relevanz. Im Jugendalter beispielsweise werden die Peers oftmals im Gegensatz zur Familie bedeutungsvoller (vgl. Krüger et al. 2012). Orientierungsrahmen können sich überlagern, stehen in Verhältnissen zueinander – dies zeigt sich etwa bei Krüger et al. (2012), wenn die Autorinnen und Autoren fragen, welche Bedeutung die Peers für die Schulkarriere haben – Orientierungsrahmen, auch wenn sie an biographischer Bedeutung im Lebensverlauf verlieren, werden jedoch nicht im biographischen Rahmen ausgelöscht. Sie bleiben als „räumlich und zeitlich strukturierte Erfahrungen“ (vgl. Bourdieu 2013, S. 175) enthalten und dominieren die „Aufnahme weiterer Erfahrungen“ (ebd.). Für die weitere Biographie hat es eine Bedeutung, wenn ich etwa seit frühster Kindheit Leistungssport betreibe und dann den Entschluss treffe, die Sportkarriere zu beenden. Insbesondere die primäre Sozialisation in ein derartiges leistungsaffines Feld und die damit möglich einhergehenden gesammelten Erfahrungen prägen auch weiterhin das Selbst- und Weltverständnis: „Die gemachten Erfahrungen lassen sich nicht ausradieren, sie bleiben in der einen oder anderen Form präsent und bilden den Horizont, auf dem neue Erfahrungen interpretiert und neue Ziele antizipiert werden“ (Kohli 1976, S. 320 f.).

Die Entscheidung gegen eine Sportkarriere bedeutet mitnichten, den biographischen Rahmen – um es mit einem Bild aus der Computersprache anschaulich zu machen – zu booten und alle Anwendungsprogramme neu zu laden. Ein empirisches Beispiel kann dies schärfen. Dazu werden die Rekonstruktionsergebnisse vom Fall Philipp aus dem Projektkontext „Exklusive Bildungskarrieren von Jugendlichen und der Stellenwert von Peerkulturen“ (vgl. Krüger et al. 2016; Krüger et al. 2018) angeführt. Ich beziehe mich im Folgenden auf einen Beitrag,

8.5  Zur Dualität von Reproduktion und Transformation …

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der in der ZQF erschienen ist (vgl. Winter et al. 2019). In diesem wird unter einer Längsschnittperspektive unter anderem der Fall Philipp angeführt. Philipp beginnt im Alter von sechs Jahren mit Leichtathletik. Als er das erste Mal interviewt wird, ist er 16 Jahre alt und besucht die 10. Klasse eines Sportgymnasiums. Es wurden für Schule und Sport zwei differente Orientierungen rekonstruiert. Während sich die Orientierung an akademischer Abschlussnotwendigkeit in allen drei Interviews fortschreibt, auch nach dem Übergang auf die Hochschule, transformiert sich Philipps Orientierung an Höchstleistung und Erfolg in Bezug auf den Sport, die im ersten Interview rekonstruiert wurde. Bereits in dem zweiten Interview zeigt sich eine Verunsicherung auf Grund krisenhafter Erfahrungen mit dem Trainer sowie die zu hohen Leistungsanforderungen und im dritten Interview kann er die Orientierung an Höchstleistung und Erfolg im Sport „nicht mehr enaktieren“, weil er, so argumentieren die Forscherinnen und Forscher, den Leistungssport abgebrochen hat (vgl. ebd.). Nun enaktiert Philipp eine Orientierung an Anerkennung und Tätigsein „im Bereich des Autoschraubens“ (ebd.). Resümierend wird zusammengefasst: „Der gesamte Orientierungsrahmen transformiert sich aufgrund der neuen Situation und der biografischen Krisenhaftigkeit“ (ebd.). Den Ausführungen zur Folge kommt es bei Philipp zu einer Transformation der Orientierung an Höchstleistung und Erfolg im Sport hin zu einer Orientierung an Anerkennung und Tätigkeit beim Autoschrauben und überdies zu einer Transformation des gesamten Orientierungsrahmens, die mit den krisenhaften Erfahrungen im Sport und dem damit einhergehenden Wegbruch der Sportkarriere begründet wird. Unklar ist, warum analytisch die Bereiche Sport und Autoschrauben und die hinsichtlich dessen herausgearbeiteten Orientierungen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Handelt es sich um einen ähnlichen biographisch relevanten Bereich? Philipp übt keinen Leistungssport mehr aus und ersetzt dies mit dem Autoschrauben? Warum ist analytisch das Autoschrauben nun dermaßen in den Fokus der Forscherinnen und Forscher gerückt, geht er diesem Hobby doch schon seit langem nach, wie sich im Zitat zeigt (ebd.). Es entsteht der Eindruck, dass sich im dritten Interview keine feldspezifischen – in Bezug auf den Sport – Orientierungen rekonstruieren ließen; wie auch, wenn er die Sportkarriere beendet hat. Die Orientierung können nicht mehr enaktiert werden, wird angemerkt (ebd.). Mit Blick auf den oben beschriebenen biographischen Rahmen, dessen Grundzüge fluide Relevanzen und damit den Prozess des Werdens zulassen, stellt die von den Autorinnen und Autoren bezeichnete Transformation vielmehr eine Veränderung der Struktur dar, bedingt

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

durch eine Verschiebung der biographischen Bedeutung. Während Philipp nun dem Leistungssport nicht mehr nachgeht und vermutlich dementsprechend deutlich mehr zeitliche Ressourcen hat, wird ein schon lange verfolgtes Hobby bedeutsam, für das eine Orientierung an Anerkennung und Tätigsein rekonstruiert wurde. Diese Orientierung wurde erst im letzten Interview sichtbar. Möglicherweise aber hätte es sich bereits in den zwei Interviews davor auch dokumentiert. Oder aber die Orientierung an Anerkennung und Tätigsein ist vielleicht auch im Bereich Sport relevant (gewesen) und kann nun im Rahmen einer Freizeitbeschäftigung fortgesetzt werden. Kontrastiv dazu führen die Autorinnen und Autoren (vgl. ebd.) aus dem gleichen Forschungskontext den Fall Emma an, die ähnlich wie Philipp ihre Musikkarriere mit dem Übergang von der Schule zur Universität auf Grund beruflicher Unsicherheit und fehlender Unterstützung aus dem Elternhaus beendet (ebd.). Im Gegensatz zu Philipp wurde für Emma im ersten Interview dieselbe Orientierung für Schule und Musik rekonstruieren. Diese Orientierung an Bestleistung schreibt sich in dem zweiten und auch in dem dritten Interview fort. Im Gegensatz zu Philipp, der den Sport mit Autoschrauben zu ersetzen scheint, findet Emma für ihre Musikkarriere keinen „neuen“ Bereich. Was nun die Frage aufwirft, welche Orientierungen eigentlich ins Verhältnis gesetzt werden. Während es bei Philipp die Orientierung auf Schule und die Orientierung auf Hochschule auf der einen und die Orientierung auf Sport und Autoschrauben auf der anderen Seite sind, werden für Emma die Orientierung auf Schule und die Orientierung auf das Medizinstudium zueinander relativiert und die Orientierung auf die Musikkarriere wird im Grunde auch mit der Orientierung im Studium verglichen: „Stattdessen bleibt die Orientierung an Bestleistung im akademischen Bereich“ (ebd.). Des Weiteren unterscheiden sich die beiden darin, so die Autorinnen und Autoren, dass Philipp das Karriereende wegen Streitigkeiten mit dem Trainer und dem hohen Leistungsdruck, den er nicht erfüllen kann, als biographische Krise wahrnimmt und Emma wiederum den Abbruch ihrer Karriere nicht als biographische Krise empfindet. Ist es aber nicht eher so, dass sich bei beiden vor dem Karriereaus die Krise andeutet? Bei Emma sind es die fehlenden beruflichen Perspektiven, die sie in der Musikbranche hat, die Angst vor dem Scheitern und die wenige Unterstützung aus dem Elternhaus. Und bei Philipp sind es doch auch Erfahrungen vor dem Karriereende, die krisenhaft erscheinen, wie der Streit mit dem Trainer oder der hohe Leistungsdruck, den er nicht standhalten kann. Und ist es dann nicht eher so, dass mit der Entscheidung, die Karriere zu beenden, – dessen Zeitpunkt am Übergang von der Schule in die Hochschule und die Universität auch aus struktureller Perspektive, nicht sonderlich überraschend scheint –, die biographische Krise überwunden wird. Wenn dies so

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wäre, hat die Transformation bei Philipp einen äußeren Anreiz, nämlich die Krise. Doch welche Rolle spielt seine Orientierung vor der Transformation dabei? Mit einer Orientierung an Höchstleistung und Erfolg in eine Krise zu geraten, weil der Leistungsdruck zu hoch ist, erscheint mir wenig plausibel. Und auch der Streit mit dem Trainer wäre womöglich mit einer Höchstleistungs- und Erfolgsorientierung weniger krisenbehaftet, so hätte Philipp doch auch einem anderen Team beitreten können. Was aber wäre, wenn die Orientierung, die nach der Transformation für Philipp rekonstruiert wurde, bereits in seinen impliziten Wissensbeständen verankert war. Mit einer Orientierung an Anerkennung ließe sich doch plausibilisieren, warum er den Sport aufgegeben hat und nach neuen Handlungsfeldern sucht. Der unterschiedliche Blick auf die Fallrekonstruktionen ist größtenteils durch das differente methodische Vorgehen zu begründen. Während ich in dieser Arbeit eine Möglichkeit aufgezeigt habe, den Fall in seiner Mehrdimensionalität als fluide Einheit zu denken, verfolgen andere Forscherinnen und Forscher (vgl. Krüger et al. 2016; Krüger et al. 2018 oder auch: Helsper et al. 2004; Kramer 2013; Köhler/Thiersch 2013) eine Strategie, die den Fall in drei biographische Einzelstücke gliedert, die dann aufeinander bezogen werden. In der Rekonstruktionslogik ist ein „Zurück“ in die Analyse des ersten oder zweiten Interviews nicht angedacht, da alle Erhebungswellen (streng) getrennt voneinander analysiert werden. Für den Fall Philipp bedeutet dies nun, dass wenn auf einmal das Autoschrauben in dem dritten Interview dermaßen bedeutsam ist, man mit diesem Wissen nicht mehr zurück in das erste und zweite Interview gehen kann und komparativ danach schaut, ob das Autoschrauben bereits schon immer in einer Form relevant für Philipp war. Oder ob die nach der Transformation rekonstruierte Orientierung möglicherweise in einer Facette auch für den Sport hätte möglich sein können. Mit der in dieser Arbeit dargelegten methodischen Strategie wird genau dies möglich und ist meines Erachtens notwendig, um den Fall in gewisser Weise in seiner widersprüchlichen Konsistenz darlegen zu können. Damit versteht sich der Längsschnitt ein Stück weit als validierendes Analyseinstrument, das die Möglichkeit bietet, den Habitus, die Orientierung(en), die Identität, den Modus Operandi, das implizite Wissen, je nach theoretischer und method(olog)ischer Perspektive, umfassender zu verstehen und multiperspektivisch zu rekonstruieren. Das Wissen um den Fall wird mit jeder Erhebung umfänglicher und es werden in der gesamten Konsistenz des Falls ebenso die Widersprüchlichkeiten und Disharmonien deutlich, die jedoch nicht unabhängig voneinander zu denken sind, sondern sich aufeinander beziehen, denn, wie Bourdieu anmerkt, der Habitus

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8  Einbettung und theoretisierende Überlegungen

entscheidet, „über das, was ihn umformt“ (Bourdieu 2013, S. 191). Dementsprechend entscheidet er auch über das, was ihn irritiert. Nach Bourdieu ist der Habitus träge und veränderbar zugleich (vgl. Bourdieu 1987). Und auf die Begrifflichkeiten des Längsschnitts übertragen, bedeutet dies: reproduktiv, wie transformativ zugleich. Damit ließe sich die Annahme einer Dualität von Reproduktion und Transformation, im Sinne eines Entweder-Oders nicht stützen. Mit Blick auf die Rekonstruktionsergebnisse möchte ich im Weiteren eine Systematisierung vornehmen, die die bis hier ausgeführten Überlegungen bündelt. In Anlehnung an Bohnsack (2017) vereint der biographische Rahmen (vgl. Abbildung 8.3) alle sozialisationsrelevanten Lebensfelder resp. Erfahrungsräume. Diese stehen in verschiedensten Abhängigkeiten und Konstellationen zueinander. Mannheim (1964) etwa spricht von Überlappungen und Überwölbungen. Dementsprechend ist der biographische Rahmen in ständiger Bewegung. Im Lebensverlauf werden Felder bedeutsam, andere verlieren an Relevanz, wobei sie dennoch im biographischen Rahmen verbleiben, da sie für die Gesamtformung entscheidend sind. Der biographische Rahmen ist zwar als Einheit zu verstehen, der jedoch keineswegs konsistent sein muss, sondern durchaus auch widersprüchlich sein kann. Dass, was sich im biographischen Rahmen entwickelt, sind die Feldbezüge (Orientierungsrahmen) und folglich die entsprechenden Spannungsverhältnisse zwischen den normativen Handlungserwartungen des Feldes und dem Habitus oder dem Modus Operandi der Handlungspraxis, die wiederum durch Dauerhaftigkeit und feldspezifische Übertragbarkeit gekennzeichnet sind. Für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen dieses Samples ließ sich ein dauerhafter resp. persistenter feldspezifischer Modus Operandi rekonstruieren. Interessant ist, dass sich dieser nicht zwingend harmonisch in die Feldanforderungen fügt. Etwa die für Maria rekonstruierte Orientierung an Sozialität fügt sich nicht in erster Linie in das Feld der Tanzkunst ein, sondern steht vornehmlich im Widerspruch zu den internen Spielregeln des Feldes. Dennoch ist diese Orientierung zentral für Maria. Sie nimmt die normativen Handlungsanforderungen des Feldes zunehmend als konfliktbehaftet wahr und spürt, dass sie sich dort zukünftig nicht verwirklichen kann. Sie sucht bzw. schafft sich folglich neue Handlungsfelder, die möglichst konfliktfrei anmuten. Diese Suche ist jedoch keine „unvorhergesehene Neuschöpfung“ noch eine „simple Reproduktion ursprünglicher Konditionierungen“ (Bourdieu 1987, S. 103), sie ist Ergebnis der Genese des biographischen Rahmens. Ähnliches ließ sich für Elias rekonstruieren: Seine Orientierung an Kreativität und die Orientierung an Wohlbefinden in sozialen Kontexten ließ ihn fortwährend an der Tanzkarriere zweifeln, bis er den Entschluss fasst, diese zu

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beenden und in dem Kommunikationsdesignstudium ein Handlungsfeld findet, in dem er sich weitgehend konfliktfrei verwirklichen kann. Damit ist der Habitus resp. der Modus Operandi das, was in gewisser Weise konstant bleibt und auf verschiedenste Felder übertragbar ist. Im Lebensverlauf durchschreitet man unterschiedliche Felder, die auf ihre Konfliktfreiheit hin überprüft werden. Ob und wie lange man ein gewisses Spannungsverhältnis von normativen Feldanforderungen und Habitus aushält, bestimmt der Habitus. Teilweise durchschreitet man die Felder nicht nur, sondern begibt sich aktiv auf die Suche, sofern es eine Konfliktbelastung notwendig macht. Niestradt und Ricken (2014) sprechen von einem Transformationshabitus und meinen damit, dass der Habitus per se vielfältigen Transformationsherausforderungen ausgesetzt und somit Transformativität als Strukturmerkmal im Habitus verankert ist (ebd., S. 118). Mit diesem Verständnis findet Transformativität dem Habitus entsprechend im Kern statt und bildet die innere Widersprüchlichkeit ab, während die äußere Schale stabil bleibt. Ferner ließe sich nicht mehr von Habitustransformationen sprechen, sondern von transformativen Beschaffenheiten im Habitus. Während die empirische Forschung Instrumente hat, den Habitus zu rekonstruieren, fehlt es jedoch bislang an methodischen Herangehensweisen, die die innere per se transformative Zerrissenheit des Habitus zu analysieren vermag. Dabei ist die Unterscheidung zwischen agilem Inneren und stabilem Äußeren eine zugespitzte, denn es ist immer als ein ineinander verschränktes Verhältnis zu begreifen, so wie Bourdieu es beschreibt (vgl. Bourdieu 1976). Mit einer qualitativen Längsschnittperspektive ließe sich womöglich aufzeigen, wie stabil und transformativ zugleich der Habitus ist. Während bisherige qualitative Forschungsprojekte aufzeigen, dass entweder eine Reproduktion oder eine Transformation stattfindet, plädiere ich dafür, stärker die Verwobenheit von Stabilität und Transformativität in den Blick zu nehmen. Das Potential einer Längsschnittperspektive läge dann darin, neben der Kontinuität des Habitus im biographischen Verlauf, mögliche widersprüchliche Momentlogiken des Habitus abzubilden. Dies würde ein methodisches Vorgehen erfordern, welches den zeitund den fallzentrierten Längsschnitt, wie ich sie beschrieben habe (vgl. 6.3.2), miteinander kombiniert.

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Resümee und Ausblick

Letztendlich werden nun pointiert die zentralen Ergebnisse dargelegt und kritisch aufgezeigt, an welchen Stellen ein derartiges Forschungsvorhaben theoretisch und methodisch an ihre Grenzen gerät. Eine zentrale forschungsbezogene Erkenntnis ist diejenige, dass die Sozialisation in das Feld der Tanzkunst früh und intensiv verläuft, was dazu beiträgt, dass der Tanz aus biographischer Perspektive eine enorme Relevanz bekommt. Karriereverläufe geraten in eine Art selbstläufigen Strudel, sie werden nicht oder nur marginal hinterfragt und solange fortgeführt, bis es einen bedeutungsschweren Anreiz von außen gibt, der das bisher Selbstverständliche ins Wanken bringt. Unter einer längsschnittlichen Perspektive ließen sich biographische Wege von zwei Fällen nachzeichnen, die tatsächlich in den Beruf der Bühnentänzerin und des Bühnentänzers gemündet sind und die Wege von zwei Fällen, die die Tanzkarriere an verschiedenen Stufen aufgegeben haben. Dies sind Entscheidungen, die nicht von jetzt auf gleich getroffen wurden, sondern denen lange und auch belastende Erwägungsprozessen vorausgegangen sind. Meines Erachtens haben sich die Karriereabbrüche jedoch bereits zuvor in den Interviews, zu deren Zeitpunkt die Jugendlichen noch professionell getanzt haben, angedeutet. Beispielsweise in den für sie rekonstruierten Modi Operandi und insbesondere in der Herausarbeitung des Umgangs resp. der Bewältigung des (Spannungs-)Verhältnisses der normativen Handlungsanforderungen des Feldes der professionellen Tanzkunst. Eine weitere forschungsbezogene Erkenntnis ist, dass die Tänzerinnen und Tänzer, egal, ob sie nun in die Berufswelt einmünden oder nicht, über ein vergleichsweise hohes kritisches Selbst- und Weltreflexionsniveau verfügen, welches

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lüdemann, Der Weg zur Tänzerin und zum Tänzer, Studien zur Schul- und Bildungsforschung 84, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31344-9_9

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sie biographisch-narrativ versiert darlegen können.1 Sie biographisieren resp. konstruieren ihre Biographie als zusammenhängende Einheit, stellen Vor- und Rückbezüge her und repräsentieren weitestgehend eine chronologische Zeitlichkeit, was vermutlich sehr eng mit der hohen Kompetenz der Reflexivität der Tänzerinnen und Tänzer zusammenhängt. Im Feld der professionellen Tanzkunst, wie ich es mit Bourdieu (vgl. 3.1) beleuchtet habe, herrschen zwei gegenteilige Rationalitäten. Eine marktökonomische Logik steht einer wertfreien ästhetischen Denkweise gegenüber (vgl. Bourdieu 2016). Tänzerische Erfolge oder Misserfolge werden vor diesem Hintergrund bewertet. Die internen feldrelevanten Spielregeln zu begreifen, ist ein Prozess, der sich lediglich durch Erfahrungen im Feld selbst fortschreibt (vgl. Lüdemann 2018). Dank der Längsschnittperspektive ließ sich nachzeichnen, wie die angehenden Tänzerinnen und Tänzer Stück für Stück in das Feld der professionellen Tanzkunst hineinwachsen. Während sie zum Zeitpunkt der ersten Interviews – bildlich gesprochen – eher am Rand des Feldes agieren und über die inneren Regelhaftigkeiten kaum Bescheid wissen, verfügen die jungen Tänzerinnen und Tänzer in den zweiten Interviews bereits über deutlich mehr internes feldrelevantes Wissen. Insbesondere bei Julian, der in der Zwischenzeit erfolgreich an zahlreichen auch internationalen Tanzwettbewerben teilnahm und dort positive wie auch negative Erfahrungen gemacht hat, reflektiert verstärkt über sich selbst und seine Rolle als Tänzer. Es scheint gar, als habe er die an ihn gestellten Anforderungen verinnerlicht resp. inkorporiert. Das ist besonders auffällig hinsichtlich seines positiven Krisenmanagements, welches er im zweiten Interview betont. Julian hat Erfolg im Feld, er weiß implizit, wie er sich zu verhalten hat und überdies ist die für ihn rekonstruierte feldrelevante Orientierung an Weiterentwicklung (vgl. 7.1.2) durchaus als positiv zu bewerten, damit er sich in dem Feld zurechtfinden kann. Dementsprechend bewältigt er die normativen Handlungsanforderungen des Feldes mit Leichtigkeit und entwickelt sich gar naturwüchsig und wie selbstverständlich zum professionellen Berufstänzer (vgl. 8.1.3). Im Gegensatz dazu stellt sich das Hineinwachsen bzw. die Entwicklung in das Feld der professionellen Tanzkunst bei Maria problematischer dar. Obwohl sie bereits im frühen Kindesalter viel intensiver als Julian im professionellen Tanz verankert ist und sie den Übergang von der Tanzvor- in die Tanzvollausbildung

1Als

Vergleichshorizont dienen hier weitere Fälle des Samples aus dem Forschungsprojekt „Exklusive Bildungskarrieren von Jugendlichen und der Stellenwert der Peerkulturen“ (vgl. 6).

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sehr zeitig vollzieht und sie damit ihre Tanzkarriere frühzeitig intensiviert und immer weiter professionalisiert, dokumentiert sich, dass Maria mit Fortschreiten ihrer Karriere immer skeptischer gegenüber den internen Feldanforderungen wird. Dies spitzt sich dann im dritten Interview zu, in dem sie darlegt, wie „unmenschlich“ sie die strukturellen Bedingungen empfindet (vgl. 7). Besonders schwer fällt ihr, zu akzeptieren, dass sie sich dem Tanz vollumfänglich hingeben müsste, um erfolgreich zu sein. Ihr inneres Bedürfnis, von Peers umgeben zu sein und sich in ihrem sozialen Umfeld einzubringen und zu engagieren, kann Maria nicht mit den Regelhaftigkeiten des Feldes der professionellen Tanzkunst in Einklang bringen (vgl. 7.4.1). Schon immer hat sie implizit das Gefühl, sie müsse ihre inneren Bedürfnisse für die Tanzkarriere aufopfern (vgl. 8.1.3). Die empirischen Rekonstruktionen sollen hier beispielhaft verdeutlichen, dass die biographische Entwicklung hin zur professionellen Bühnentänzerin oder zum Bühnentänzer maßgeblich vom feldrelevanten Modus Operandi bestimmt wird und des Weiteren davon abhängt, wie das (Spannungs-)Verhältnis zu den normativen Handlungsanforderungen bewältigt wird. Julian und Freya münden letztendlich beide in den Beruf der Bühnentänzerin und des Bühnentänzers. Elias und Maria brechen ihre Tanzkarriere ab. Während Elias erleichtert über den Abbruch ist, kann Maria das Ende ihrer Tanzkarriere nur schwer akzeptieren und kritisiert die feldinternen Regelhaftigkeiten. Dieser Befund deckt sich mit den Erkenntnissen der Studie von Bona (2001), in der zwei Bewältigungsmuster des Karriereabbruchs identifiziert werden: Einige Jugendliche sind erleichtert über das Ende der Karriere und andere wiederum können nur sehr schwer akzeptieren, dass die Karriere gescheitert ist und verüben oftmals Schuldzuweisungen. Anhand einer Sekundäranalyse (vgl. 6) biographischer Narrationen von vier potentiell angehenden Tänzerinnen und Tänzern, die zu insgesamt drei verschiedenen Zeitpunkten interviewt wurden, konnte ich aufzeigen, wie sie sich vor dem Hintergrund des Feldes entwickeln. Insbesondere die Längsschnittperspektive ermöglichte es wegen der erhöhten Komplexität auch auf Auswertungsebene (vgl. Kramer 2020; Lüdemann 2020) nicht, die Sampleauswahl zu erweitern. Eine typologische Repräsentativität ließe sich zu Recht in Frage zu stellen. Daher wurden die Rekonstruktionsergebnisse nicht, wie es die Dokumentarische Methode eigentlich vorsieht (vgl. 6.3.1), in eine Typologie überführt. Stattdessen wurde auf der Grundlage einer Fallkontrastierung der Weg zur Abstraktion der Rekonstruktionsergebnisse gefunden (vgl. 8.1), die aufzeigt, wie sich das Werden in dem Tanzfeld vollzieht. Auf der Grundlage der starken Fokussierung auf die Biographie der Einzelfälle konnte zwar keine Verallgemeinerbarkeit auf gesellschaftstheoretische Kontexte

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geleistet werden, dennoch deuten sich bruchstückhaft zu theoretisierende Aspekte an. Mit einem sozialisationstheoretischen Blick und unter einem biographieanalytischen Ansatz (vgl. 4), konnte herausarbeiten werden, dass sich die Akteure im Feld entwickeln, indem sich beispielsweise bestimmte Relevanzen der Felder verschieben oder umwandeln, der feldrelevante Modus Operandi sowie die Art und Weise der Entwicklung jedoch reproduktiv stabil bleibt (vgl. 8.4). Dieses Ergebnis kann verstärkt durch das methodische Vorgehen der fallzentrierten (intraindividuellen) Längsschnittanalyse (vgl.  6.3.2) begünstigt worden sein. So wurden die pro Fall drei geführten Interviews stark einzelfallorientiert ausgewertet und im Grunde als ein Protokoll der Lebenspraxis gelesen. Die Dokumentarische Methode, die als übergeordnetes Auswertungsverfahren diente (vgl. 6.3.1), sieht nun ein sequenzanalytisches Verfahren vor, in der es darum geht, „über eine Abfolge von Handlungssequenzen oder von Erzählsequenzen zu Handlungen hinweg Kontinuität zu identifizieren“ (Nohl 2006, S. 51). Kramer (2020) verweist auf die Grundannahmen der Rekonstruktionsmethodologie der Dokumentarischen Methode, die eben von konstitutiver Kontinuität ausgeht. Unter einer Forschungsperspektive (vgl. 2.1), die theoretisch nun stärker von möglichen Transformationsprozessen ausgeht (vgl. 4.1.1), wäre an dieser Stelle zu kritisieren, dass mit der fortlaufenden Analyse der Interviews genau diese Logik weitergeführt wird und somit vornehmlich Kontinuität in den Blick gerät. Generell ist in der aktuellen Forschungslandschaft ein zweigleisiger Diskurs zu beobachten: Während einige Forscherinnen und Forscher von einer gewissen Stabilität resp. Iterabilität des Habitus ausgehen (vgl. Alheit 1993; Herzberg 2004; Niestradt/Ricken 2014), betonen andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den transformativen Gehalt des Habitus (vgl. Kramer 2018; Kramer 2020; Krüger et al. 2018; Nohl 2006; Rosenberg 2011). Hier bietet sich eine rekonstruktive Längsschnittsperspektive an, die ich als zeitzentriert und interindividuell bezeichnet habe (vgl. 6.3.2), da der Habitus resp. der Modus Operandi mit Blick auf Veränderun­ gen analysiert werden kann. Aus einer stärker sozialisatorisch-biographischen Tradition heraus, die Prozesse des Werdens in den Mittelpunkt rückt, bietet sich meines Erachtens eine Längsschnittperspektive an, die den biographischen Fortlauf zum Schwerpunkt macht und versucht, die biographische Gestalt bzw. den biographischen Rahmen zu erfassen. Im biographischen Rahmen, der fluide ist und in dem sich Feldrelevanzen verschieben, dokumentiert sich allerdings eine gewisse Stabilität, denn, so meine These, der Modus Operandi der Handlungspraxis agiert feldübergeifend und

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zeigt sich reproduktiv, obwohl er sich in verschiedenen Feldern in den unterschiedlichsten Facetten darstellen kann. Pointiert bedeutet dies, dass wenn jemand in der Schule leistungsorientiert ist, ist er das in anderen Feldern entsprechend der internen Feldspezifik auch. Wenn sich im schulischen Bereich eine Orientierung an Spaß dokumentiert, zeigt sich das entsprechend in außerschulischen Feldern ebenso. Jemand, der an Wertschätzung orientiert ist, wird nicht zufrieden sein, in einem Feld, in dem er wenig Zuspruch findet. Beispielhaft können auch die eigenen Rekonstruktionen angeführt werden: Zunächst kann Maria ihre Orientierung an Sozialität im Tanz enaktieren. Sie schätzt es sehr, dass sie im Tanzkontext viele Freundinnen hat und genießt das Miteinander im Tanz. Je weiter die Karriere voranschreitet, desto problematischer gestaltet sich ihre innere Unzufriedenheit in dem entsprechenden Feld. Maria ist erfolgreich im Tanz und wird von anderen Tänzerinnen und Tänzern ausgegrenzt. Eine Situation, mit der sie nur schlecht umgehen kann. Dennoch kämpft sie hart für ihr Ziel, professionelle Tänzerin zu werden und opfert viel dafür. Doch immer wieder macht sie aus ihrer Sicht negative Erfahrungen hauptsächlich im sozialen Bereich. Von der Tanzwelt distanziert sie sich Stück für Stück und nimmt zunehmend eine kritischere Perspektive auf die Strukturen ein. Die Orientierung an Sozialität versucht Maria im Laufe ihrer Tanzkarriere immer wieder zu enaktieren, teilweise trifft sie damit in der Tanzwelt allerdings nicht auf Entgegenkommen, was sie vermehrt irritiert. Diese Irritation spitzt sich zu und Maria reflektiert letztlich darüber, dass der „Tanz [ihr] nichts mehr gibt, sondern nur noch alles nimmt“. Es ließe sich zugespitzt formulieren, dass der Tanz Maria zu diesem Zeitpunkt ihres Lebenslaufes aus biographischer Perspektive in ihrer Entwicklung hemmt. Mit ihrer Orientierung an Sozialität ist sie in dem Feld der Tanzkunst nicht mehr konstruktiv aufgehoben, da sich die normativen Handlungsanforderungen von ihr nicht mehr konfliktfrei bewältigen lassen. Maria gibt das professionelle Tanzen letztendlich auf und studiert Psychologie. Mit diesem Wechsel, der biographisch (sicherlich) hochbedeutsam ist, verschieben sich die Relevanzen im biographischen Rahmen. Ein neues Feld und damit ein neuer Erfahrungsraum und eine neue soziale Lebenswelt (vgl. 4.2.1) tritt in Marias Leben, während der Tanz zwar weiterhin biographisch verankert bleibt, aber in den Hintergrund gerät. Um die These des feldübergreifenden dynamisch reproduktiven Modus Operandi weiter empirisch zu stützen, bräuchte es an dieser Stelle weitere Interviews mit Maria, die aufzeigen, wie sie nun, nach dem Abbruch der Tanzkarriere, ihre Biographie konstruiert. Gedankenexperimentell ist vorstellbar, dass die langjährige Tanzausbildung dennoch einen zentralen Stellenwert einnimmt, der jedoch nach und nach mit den fortlaufenden Erfahrungen außerhalb des Feldes,

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zunehmend schwinden wird. Damit ändern sich die biographischen Narrationen, die sich dahinter verborgenen impliziten und handlungsleitenden Wissensbestände setzen sich jedoch dynamisch fort. Ich verstehe diese Arbeit als einen Beitrag zur aktuellen Diskussion um den qualitativen Längsschnitt, der einen alternativen Weg aufzeigt und nicht von einem Dualismus von Reproduktion und Transformation ausgeht (vgl. 8.4), sondern viel stärker die Verwobenheit betont, die es zukünftig empirisch elaborierter zu untersuchen gilt. Mit Verwobenheit meine ich, dass sich auch die Stabilität in verschiedensten Facetten zeigen kann. Die Chance einer Längsschnittperspektive besteht darin, diese Facetten kaleidoskopartig zu einem biographischen Gesamtbild zusammenzuführen. Dafür gilt es jedoch, die in der Arbeit angedeuteten Leerstellen weitaus intensiver zu bearbeiten. Ein Thema, das bisher nur marginal systematisch beleuchtet wurde, ist etwa der Zusammenhang von Dokumentarischer Methode und Biographie sowohl bei Einmalerhebungen als auch im Längsschnitt. Eng damit verbunden, ist die Frage nach der Zeitlichkeit. Wagner (1999) merkt kritisch an, dass der Dokumentarischen Methode eine Zeittheorie gänzlich fehle. Über den Längsschnitt nun, ließe sich annehmen, könne man eine Zeitlichkeit nachzeichnen. Aber eben nur eine repräsentierte Zeitlichkeit und keine lebenszeitliche Chronik, denn Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit vermischen sich hinsichtlich der gegenwärtigen Perspektive. In diesem Zusammenhang muss weiter darüber diskutiert werden, wie sich Sozialisation und Biographie zueinander verhalten. Ich habe versucht anzudeuten (vgl. 5), dass die Verbindung der Forschungsansätze hinsichtlich einer Längsschnittperspektive gewinnbringend sein kann, um Entwicklungs- und Aneignungsdynamiken in den Blick zu nehmen. Ferner sehe ich zukünftig Klärungsbedarf bei der Frage nach der Perspektive, aus der soziale Praktiken beleuchtet werden. Für diese Arbeit wurde vornehmlich die Perspektive der Akteurinnen und Akteure untersucht. Allerdings wurden gesellschaftlichen Eigenlogiken dazu als gegenständliche Grundlage vorausgesetzt (vgl. 3). Um diese zu erarbeiten, diente einerseits Bourdieus Konzeption zum Feld der künstlerisch-kulturellen Produktion (vgl. Bourdieu 2016) und anderseits eine Recherche zu den strukturellen und kontextuellen Bedingungen einer Tanzausbildung in Deutschland, die zusätzlich durch ein Experteninterview gestützt wurde. Mittels dieser eher akteursgelösten Perspektive auf das Feld wird ermöglicht, die Akteursintentionen gesellschaftlich fundiert rekonstruieren zu können. Insbesondere mit einer praxeologischen Perspektive (vgl. Bohnsack 2017) lässt sich die Frage, wie die Akteure gesellschaftlichen Strukturen begegnen, beantworten.

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Der Längsschnitt erweitert das Erkenntnispotential um eine Entwicklungsdimension. Dabei bedeutet Entwicklung aus sozialisationstheoretisch, biographieanalytischer Perspektive zunächst einmal eine fortlaufende dynamische Reproduktion bedeutet. Die Logiken der Praxen sind im Kern iterabel, definieren sich jedoch in unterschiedlichen Erfahrungsräumen verschiedenartig aus und können sich durchaus hybride zeigen, etwa im Sinne eines „zerrissenen Habitus“ (vgl. Rieger-Ladich 2005, S. 290). Entwicklungen sind damit zeitliche und lebensgeschichtliche Fortschreibungen und stellen nicht zwingend ein Besser, ein Höher, ein Weiter dar (vgl. Wiezorek 2017). Zweifelsohne ändern sich die Praxen, die dahinterliegenden a-theoretischen Wissensbestände sind jedoch von Beharrlichkeit gekennzeichnet. Aus biographisch-sozialisationstheoretischer Perspektive ließ sich für die Jugendphase nachzeichnen, dass eben genau diese Ansprüche an die Tänzerinnen und Tänzer geltend gemacht werden: Einerseits sollen ihre Lebenswelten hochgradig flexibel und transformativ sein, während von ihnen erwartet wird, dabei ein stabiles und gefestigtes Selbst zu haben, um die strukturellen und kontextuellen Anforderungen im Feld der Tanzkunst und generell gesellschaftliche Herausforderungen bestmöglich bewältigen zu können (vgl. 8.3). Ich möchte auf das eingangs erwähnte Zitat von Bauman (1995) zurückkommen, in dem der Mensch als Wanderer beschrieben wird. Der Mensch geht fort, er wechselt die Orte, die Landschaften, wandert durch Berg- und Talgebiete, rastet zwischendurch und setzt seine Wanderroute erneut fort. Dabei erlebt er die verschiedensten Dinge, aus denen er für seine weitere Planung lernt. Aber die Intention, das, warum er wandert, das, was ihn antreibt, bleibt ungebrochen.

Literatur

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